169 42 7MB
German Pages 246 [252] Year 1998
rfïeatron
Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste
Herausgegeben von Hans-Peter Bayerdörfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele
Band 25
Joachim Becker
Nicht-Ich-Identität Ästhetische Subjektivität in Samuel Becketts Arbeiten für Theater, Radio, Film und Fernsehen
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1998
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Becker, Joachim: Nicht-Ich-Identität : ästhetische Subjektivität in Samuel Becketts Arbeiten für Theater, Radio, Film und Fernsehen / Joachim Becker. - Tübingen : Niemeyer, 1998 (Theatron ; Bd. 25) ISBN 3-484-66025-2
ISSN 0934-6252
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt. Einband: Buchbinderei Siegfried Geiger, Ammerbuch.
Inhalt
Einleitung: Vom Bauchredner der Romane zu den Charakterdummys des Theaters
1
1. En attendant Godot 1.1 Der Traum vom Erwachen 1.2 Exkurs: Becketts Ästhetik >nach< Schopenhauer 1.3 Mit den Augen eines anderen: Der auditoriale Blick 1.4 Eigendynamik des Wartens 1.5 Träumende Sprechautomaten - kurzer Exkurs zur Paradoxie ..
11 11 19 30 42 48
2. Fin de partie 2.1 Endspiele ohne Ende 2.2 Vom Theatrum mundi zum Theatrum mentis 2.3 Exkurs zu Becketts Bühnenfriesen - Acte sans paroles
59 59 70 77
3. Vom Drama zum Hörspiel 3.1 Zwischenbemerkung zur ästhetischen Subjektivität 3.2 All that fall: Stimmen in der Radiohölle 3.3 Poeten, Autopoieten und Hörspielmoderatoren 3.3.1 Embers·. Sender, Empfänger und Identitätsillusionen 3.3.2 >Hörspiele< des (filmischen) Sehens 3.3.3 Eigenwillige Worte und Musik 3.3.4 Cascando: Der Hörer als Hörspielfunktion
86 86 98 120 120 133 145 154
4. Auditoren und Moderatoren auf der Bühne 4.1 Krapps Körper- und Maschinengedächtnis 4.1.1 Nicht-/cA -Identität 4.1.2 Leibliche Erinnerung 4.1.3 Licht und Erkenntnis
161 161 162 171 180
4.2 Happy Days: Glücklich, wer wahrgenommen wird 4.2.1 Das Eigenleben der Dinge 4.2.2 Identität des Begehrtwerdens 4.3 Kunstkörper von Krapp 's Last Tape bis Not 1 4.4 Komposition des Inquisitors: Filmästhetik in Play
186 188 196 207 224
5. Schlußbetrachtung und Ausblick auf Becketts Kameraaugen
234
Bibliographie
239
Einleitung: Vom Bauchredner der Romane zu den Charakterdummys des Theaters »Gautama [...] sagte, daß man sich täuscht, wenn man behauptet, das Ich existiert, aber daß man, wenn man behauptet, es existiert nicht, sich nicht weniger täuscht.«' Samuel Beckett
Die Werkgeschichte Samuel Becketts zeigt eine enge Verflechtung seines Schreibens für Theater, Rundfunk, Film und Fernsehen: Das erste Radiostück All That Fall entstand kurz nach Fin de partie (1956), gefolgt von Krapp's Last Tape (1958) und dem zweiten Hörspiel Embers (1959). 1961 schrieb Beckett Happy Days, bevor er in kurzer Folge die Radiostücke Rough for Radio I, Words and Music und Cascando abschloß. 1963 arbeitete der irische Dichter parallel an dem Skript für seinen Film und dem Theaterstück Play. Danach schrieb er abwechselnd Dramen und Fernsehspiele. Eine Wechselwirkung zwischen seinem Schaffen für (und im) Theater, Rundfunk, Film und Fernsehen liegt also nahe. Das vorliegende Buch will serielle Gemeinsamkeiten und genrespezifische Unterschiede im Gesamtwerk zeigen. Die Beckett-Forschung hat diesen Zusammenhang bisher weitgehend vernachlässigt.2 Auf die medienspezifischen Untersuchungen von Martin Esslin, Clas Zilliacus und anderen wird besonders im dritten Kapitel näher einzugehen sein. Generell läßt sich feststellen, daß die Interpreten ihre Aufmerksamkeit meist auf das einzelne Werk im jeweiligen Genre oder Aufführungsmedium fokussieren. Um Genre- und Mediengrenzen überschreiten zu können, muß die vorliegende Arbeit eine Auswahl aus Becketts Gesamtwerk treffen. Die Untersuchung konzentriert sich deshalb auf die
1
Samuel Beckett, Vier Texte über moderne Malerei, Henri Hayden, homme peinture, in: Hartmut Engelhardt (Hrsg.), Samuel Beckett,
Frankfurt am Main 1984, S. 21, deutsch
von Dieter Mettler. Mit Gautama ist der Religionsstifter Gautama Buddha gemeint. 2
Während die Wechselwirkung
der Arbeiten für Theater, Rundfunk,
Film
und
Fernsehen wenig beachtet wurden, sind Becketts Inszenierungen seiner Stücke gut dokumentiert und untersucht: Kalb, Jonathan, Beckett
in Performance,
1989; sowie McMillan, Dougald, and Fehsenfeid, Martha, Beckett
Camebridge
in the
theatre,
Volume 1 : From Waiting for Godot to Krapp 's last tape, London/New York 1988.
1
Arbeiten für Radio und Theater (bis Not Í), berücksichtigt dabei aber Becketts Romane sowie die Texte und Inszenierungen für Film und Fernsehen. Besonderes Augenmerk gilt den Aufführungskonzeptionen, die den Texten eingeschrieben sind - und auf die sich Becketts Figuren beziehen. Viele von Becketts Figuren fallen aus ihren Rollen und denken über ihre medienspezifische Erscheinung nach. Die medialen Selbstreflexionen stören eine realistische Darstellungsillusion und erschweren die Identitätsfindung der Figuren. Dabei ist die Subjektproblematik in Becketts Stücken vertrackt genug - für die Figuren wie für die Interpreten. Die neuere Beckett-Forschung kreist um die Themen Selbstfindung und Selbstverlust der Figuren und verliert häufig die Rezipienten aus den Augen. Eine wichtige Ausnahme ist Gabriele Schwabs Untersuchung Endspiel mit der Subjektivität, die den Zuschauer/Leser zum zentralen Subjekt von Becketts Identitätsexperimenten macht.3 Auch diese wegweisende Deutung in der Nachfolge von Wolfgang Iser (s.u.) entgeht nicht immer der Gefahr, Becketts Figuren zu psychologisieren. Schwabs »Entwurf einer Psychoästhetik« setzt die dramatis personae zu schnell mit der psycho-physischen Disposition von Menschen gleich wie dezentriert diese Subjektivität auch immer sein mag. Die Verlockung ist groß, Becketts Figuren als realistische Verfallsformen >ganzer MenschenGodot zur Entspannung geschrieben, um von der scheußlichen Prosa, 9
die ich damals schrieb und von der Wildheit und Regellosigkeit der Romane wegzukommen^« 18 Die Wandlungen des Beobachtermotivs erlauben es vielmehr, die Konzeption der ästhetischen Subjektivität im Dramatischen Werk weiter zu führen, als das in den Erzählungen möglich war: Diverse Körper- und Bewußtseinsteile bevölkern die Bühne als Figuren, Erscheinungen oder in Form von technischen Prothesen - wie z.B. Krapps Tonbandgedächtnis und der Scheinwerfer in Play. Im Chaos von Gedächtnis-, Denk- und Wahrnehmungsakten bildet sich statt einer ratiozentrischen TcA-Identität ein Netz von Analogien und Differenzen zwischen den alten Ichs der Erinnerung, der Selbstwahrnehmung der Figuren und der Zuschauerperspektive. Mit Hilfe des Beobachtermotivs knüpfen Becketts Stücke diese Spaltprodukte des Bewußtseins aneinander, ohne sie zu hierarchisieren. Erst die Spielhandlung und das Wahrgenommenwerden der Figuren durch die Rezipienten kann die Identitätsfragmente zu einem relationellen Ganzen verbinden. In der Auseinandersetzung mit historischen und zukunftsweisenden Subjektivitätsmodellen führen die Stücke Konflikte und Kongruenzen von Körper und Geist vor - ohne dem Publikum die Problemlösung abzunehmen.
18
In: Bair, Deirdre, Samuel Beckett, a.a.O., S. 485. Die Dramenanalysen Bairs sind eine zu vernachlässigende Größe, da sie über gängige Klischees der Beckett-Rezeption nicht hinauskommen. Die Deutung von Widersprüchen und Paradoxien des Werks aus der Lebensgeschichte des Autors ist aber ein strukturelles Mißverständnis des ganzen Biographie-Genres: Wie kann die vergleichsweise geringe Komplexität von Stücken aus einer Vielzahl weitgehend unbekannter lebensgeschichtlicher Zusammenhänge halbwegs seriös gedeutet werden?
10
1.
En attendant Godot »We are such stuff /As dreams are made on, and our little life / Is rounded with a sleep.« William Shakespeare, The Tempest, IV, 1
1.1
Der Traum vom Erwachen
En attendant Godot handelt vom Einschlafen und Gewecktwerden. Kein Ritual wird mit solcher Beharrlichkeit wiederholt; Estragon fällt in leichten Schlummer, sobald der Dialog stockt, Lucky schläft »jedesmal, wenn er hinfällt« ein, und Pozzo sagt am Ende seines zweiten Auftritts: »Un beau jour je me suis réveillé, aveugle comme le destin. Un temps. Je me demande parfois si je ne dors pas encore.« (DDI 184).1 Angesichts der Nacht vor seinen Augen glaubt der erblindete Pozzo noch immer zu schlafen und zieht wie ein Traumwandler mit seinem Knecht und einem Koffer voll Sand durch das wüste Land von En attendant Godot. Gegen Ende des Stücks fragt sich auch Vladimir: »Est-ce que je dors en ce moment?« (DDI 196) und fürchtet, in einem Tagtraum zu leben, dessen Ereignisse am nächsten Morgen vergessen sein werden. Tatsächlich können sich weder Pozzo noch Estragon an ihre Begegnung im ersten Akt erinnern, die nach Vladimirs Worten nicht einmal das erste Zusammentreffen war. In der Abgeschiedenheit des eigenen Träumens leiden die Figuren nicht nur an grassierendem Gedächtnisschwund, sondern haben auch Schwierigkeiten, sich in Zeit und Raum verbindlich zu orientieren. In der schläfrigen Monotonie des Wartens hält Estragon die Landschaft für eine Sandwüste, aus der er Zeit seines Lebens nicht herausgekommen ist,2 wohingegen Vladimir vermutet, daß die Zeit
1
Alle Seitenangaben hinter den Zitaten, die mit dem Sigel DDI und DDII gekennzeichnet sind, beziehen sich auf: Beckett, Samuel, Dramatische
Dichtungen
in drei
Spra-
chen, Bd. I (Erstausgabe 1963) und Bd. II (Erstausgabe 1964), Deutsch von Erika und Elmar Tophoven, Frankfurt am Main 1981 (Suhrkamp), während die englische Ausgabe der Stücke, Hör- und Fernsehspiele sowie des F/Vm-Skripts als Sigel CDW erscheint: Ders., The Complete Dramatic 2
Works, London 1986 (Faber and Faber).
»Estragon: J'ai tiré ma roulure de vie au milieu des sables! Et tu veux que j'y vois des nuances! « (DDI 126).
11
stillsteht. 3 Die traumschwere Atmosphäre des Stücks fast ohne raumzeitliche Anhaltspunkte macht alle Figuren zu Schlafwandlern, die zwischen Halluzination und Wirklichkeit kaum zu unterscheiden wissen. Estragons Eingeständnis, daß seine Entdeckung möglicher Verfolger eine Illusion gewesen sein könnte, läßt auch seine allnächtliche Passion des Verprügeltwerdens als wiederkehrenden Alptraum erscheinen. 4 Inmitten des allgemeinen Bewußtseinsdämmers antwortet Estragon auf die Erkenntnisversuche Vladimirs zweimal mit einer resoluten Zurechtweisung: »Tu l'a rêvé.« (DDI 126, 195). Gogo (wie Vladimir ihn nennt) hält sowohl das plötzliche Ergrünen des Baumes als auch die Vermutung, daß der blinde Pozzo sie sehen konnte, für einen Traum Vladimirs. Aber augenscheinlich hat Estragon im Schlaf seine eigene Skepsis gegenüber Pozzos Blindheit vergessen und widerspricht weniger Didi (wie er ihn nennt) und dessen angeblichen Hirngespinsten als sich selbst. 5 Angesichts »dieser ungeheuren Verwirrung« (DDI 169) fragt sich Vladimir, ob der Verstand nicht grundsätzlich in der ewigen Nacht unergründlicher Tiefen umherirrt. 6 Im Gegensatz zu Estragon, der regelmäßig einschläft, um vom Glück zu träumen oder vor Angst zu erwachen, zweifelt Vladimir also an einer eindeutigen Trennung von Wachen und Träumen. »Mais dans tout cela qu'y aura-t-il de vrai?« (DDI 196) fragt er sich folgerichtig und benutzt dabei eine Form des Futurs, weil er den Traum als Ganzen erst nach dem Erwachen beurteilen kann. Aber einer nachträglichen Unterscheidung von Traum und Wirklichkeit steht sowohl das endlos träumende Warten auf Godot als auch die generelle Gedächtnisschwäche aller Figuren entgegen. Daher kann sich Vladimir nur fragen, ob er im Augenblick schläft (s.o.), doch diese Frage verstrickt ihn unentrinnbar in der paradoxen Traumlogik von En attendant Godot: Im Wachen ist die Frage, »Schlafe ich gerade?«, sinnlos, da sie dem
3
»Vladimir: Le temps s'est arrêté.« (DDI 72).
4
»Vladimir à Estragon: A propos, ces gens, que tu as vus, où sont-ils passés? [...] / C'était peut-être une vision. / Estragon: Une illusion. / Vladimir: Une hallucination.« (DDI 186). Estragons Verprügeltwerden erscheint auch deshalb unglaubwürdig, weil er von zehn Peinigern spricht, aber bei Vladimirs Untersuchung nur die Wunde von Luckys Fußtritt aufweist. Als Didi am Ende des zweiten Akts Gogos Schlaf bewacht, sagt er zudem: »Lui ne saura rien. Il parlera des coups qu'il a reçus [...].« (DDI 196).
5
»Vladimir: Voyons! Il est aveugle. / Estragon: Flûte! C'est vrai. Un temps. Qu'il dit.
6
»Vladimir: [...] Mais n'erre-t-elle (notre raison, Anm. J.B.) pas déjà dans la nuit
(DDI 182). permanente des grands fonds, voilà ce queje me demande parfois.« (DDI 170).
12
Wachsein widerspricht; innerhalb des Traums ist eine Aussage über denselben aber eine Paradoxie. Denn das Geträumte kann nur von einer höheren logischen Ebene aus als nicht-wirklich beurteilt werden (vgl. Kap. 1.5). Da Vladimir die wache Erfahrung aber hinterfragt, entsteht ein Teufelskreis, der die Faktizität von Traum oder Wirklichkeit aus dem nicht eindeutig Geträumten zu beweisen versucht. Das erkenntnistheoretische Oszillieren zwischen Schein und Sein oder Traum und Wirklichkeit bestimmt die gesamte Handlung von En attendant Godot. Vladimir und Pozzo schlafen zwar im Verlauf des Stückes nicht ein; dafür neigen sie gegen dessen Ende dazu, ihre gesamte Existenz für einen Traum zu halten. Pozzo nimmt die Dunkelheit vor seinen Augen als Indiz für den anhaltenden Schlaf, während Didi nach anfänglichen Zweifeln einen aufschlußreichen >Beweis< für das Leben als Traum findet. Derweil er den schlafenden Estragon betrachtet, behauptet er: »Moi aussi, un autre me regarde, en se disant, il dort, il ne sait pas, qu'il dorme.« (DDI 196). Da Vladimir die Frage nach Schlafen und Wachen nicht allein lösen kann, beruft er sich auf die Autorität eines außenstehenden Beobachters, der keinen Zweifel daran läßt, daß der Beobachtete schläft. Doch die scheinbare Gewißheit wird in der Aussage wieder dementiert: Aus der Außenperspektive des Betrachters sagt Didi über sich selbst, daß er nichts von seinem Schlaf weiß. Gleichzeitig behauptet er mit der apodiktischen Gewißheit des angeblich externen Beobachters, daß er unzweifelhaft schläft. Der Widerspruch zwischen Nicht-Wissen und Gewißheit aus ein und demselben Mund wird noch unlösbarer, wenn man bedenkt, daß Vladimir von jemandem wahrgenommen wird, den er selbst nicht zu sehen vermag. Selbst wenn er träumend seine Umgebung betrachten könnte, wäre die Bühne bis auf den schlafenden Estragon leer. Wie kann der vermeintlich Schlafende dann aber von einem Beobachter außerhalb seines Traumes wissen? Vladimirs >übersinnliche< Erkenntnisfähigkeit läßt sowohl metaphysische als auch psychologische und philosophische Deutungen zu, die aber allesamt in Aporien enden: In einer philosophischen Deutung ist Vladimir zugleich Subjekt und Objekt seiner Untersuchungen. Er kann die verschiedenen Ebenen des Beobachters und des Beobachteten jedoch logisch nicht hierarchisieren, da sie in einem letztlich unverständlichen Bewußtsein zusammenfallen. In einem psychologischen Interpretationsansatz kann das Beobachterparadoxon dagegen als eine Form von Schizophrenie verstanden werden. Vladimir fühlt sich demzufolge in der (bis auf den schlafenden Estragon) leeren Szenerie beobachtet, weil er intrapersonale 13
Selbstwahrnehmungen auf seine Umwelt projiziert. Da er im restlichen Stück jedoch keine Neigung zu Selbstgesprächen zeigt, scheitert eine Figurenpsychoanalyse aus Mangel an Beweisen. Erfolgversprechender scheint ein Verständnis des angenommenen Beobachters als metaphysischer Vision, da En attendant Godot eine Vielzahl von biblischen Anspielungen enthält. Nicht nur Vladimir bezieht sich auf einen externen Zuschauer auch Estragon fragt sich, ob er von einem transzendenten Beobachter wahrgenommen wird: »Tu crois que Dieu me voit?« (DDI 160). Die schlimmste Strafe des Christentums ist die Verbannung aus dem Wahrgenommenwerden durch Gott in die Hölle. Estragons Frage, ob Gott ihn sieht, bezweifelt eben diese Anwesenheit des göttlichen Blicks, der allein die Sandwüste des Wartens von einer Hölle unterscheiden würde. Schon im ersten Akt hatte Vladimir mit der Erzählung von Christus und den beiden Schächern seine Erlösungssehnsucht gezeigt und die Deutung nahegelegt, daß nur einer der beiden >Tramps< (wenn überhaupt) auf göttliche Gnade hoffen könne. Die Erlösungschancen stehen in der Geschichte von den beiden Schächern zwar nur eins zu eins, aber Vladimir hält das immer noch für einen guten Prozentsatz: »C'est un pourcentage honnête.« (DDI 14). Die Glücksspielwahrscheinlichkeit der Gnade scheint den Figuren noch lieber zu sein als das blinde Schicksal, von dem Pozzo spricht: »[...] aveugle comme le destin.« (s.o.). Auch in Luckys Parodie eines persönlichen Gottes hat sich eine gewisse Willkür im Wechsel zwischen göttlicher Belohnung und Apathie bzw. Strafe etabliert, aber »man weiß nicht warum«. 7 Da die Erlösung eine kontinuierliche Bewährung im >irdischen Jammert a l voraussetzt, zerstört selbst eine vorübergehende Abkehr des Allerhöchsten jede Hoffnung auf Gnade. Das Patronat des weißbärtigen Godots birgt demgegenüber weniger Risiken aber auch geringere Gewinnchancen: Der volle Bauch auf trockenem Stroh garantiert kein ewiges Leben, 8 aber das >Pennerglück< gibt wenigstens eine zeiträumliche Orientierung in der traumschweren Erkenntniswüste von En attendant Godot. Da die >Tramps< nicht einmal die Himmelsrichtungen kennen, können sie am Stand der
7
»Etant donné l'existence [...] d'un Dieu personnel [...] qui du haut de sa divine apathie sa divine athambie sa divine aphasie nous aime bien à quelques exceptions près on ne sait pourquoi [...].« (DDI 88).
8
»Vladimir: [...] Ce soir on couchera peut-être chez lui, au chaud, au sec, le ventre plein, sur la paille. Ça vaut la peine qu'on attende. Non?« (DDI 32). Diese Stelle fehlt in Becketts englischem Waiting for Godot.
14
Sonne (die zu allem Unglück auch noch stillzustehen scheint) nicht ablesen, ob es Morgen oder Abend ist. Der (paradox temporäre) Stillstand der Zeit und die unsicheren räumlichen Koordinaten in Estragons „Sandwüste" führen zu Brüchen in der Kausalität, die nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch die Erinnerung und das Denken zweifelhaft machen. Die Perspektive Godots scheint dagegen dem omnipräsenten Auge zu gleichen, als das Gott innerhalb eines Dreiecks versinnbildlicht wird. Immerhin finden >seine< Boten Vladimir und Estragon, die sich selbst hoffnungslos verirrt haben. Auch in moralischer Hinsicht scheint Godot für ein letztes Ordnungsprinzip zu stehen: Gogo fragt zweimal im zögernden Konjunktiv, ob sie Godot fallen lassen könnten, 9 worauf Didi lakonisch antwortet: »II nous punirait.« (DDI 202). Strafe und Belohnung machen potentiell die Erkenntnis von Gut und Böse möglich - wenn das >Wertesystem< nicht auf Willkür beruht. Vladi-mirs Bilanz, »Oui, dans cette immense confusion une seule chose est claire: nous attendant que Godot vienne« (DDI 168), bekräftigt auf den ersten Blick das Ordnungsprinzip Godot. Doch sicher ist nur, daß die >Tramps< auf ihn warten und sich von diesem oder einem anderen Beobachter wahrgenommen fühlen. Vor diesem Hintergrund wird sowohl Estragons Schlafsucht als auch sein Vorwurf verständlich, Vladimir lasse ihn nie schlafen: Glück scheint in En attendant Godot nur als Schmerzlosigkeit zu existieren, und da der Schlaf für Gogo das wirksamste Schmerz- und Beruhigungsmittel ist, macht er von dieser temporären Erlösungsmöglichkeit so oft wie möglich Gebrauch. Nach jedem Aufwachen wird Estragon laut Regieanweisung »in den ganzen Schrecken seiner Lage zurückversetzt«, 10 weshalb er sich wie Lucky immer wieder in die Tröstungen des Traums flüchtet: »Je rêvais que j'étais heureux.« (DDI 194).11 Vladimir gönnt Gogo die Gnade des kurzen Vergessens nicht, solange er - unerlöst - daneben wachen muß. Er weckt Estragon, um sich mit ihm ge9 10
»Estragon: Et si on le laissait tomber? Un temps. Si on le laissait tomber?« (DDI 202). »Estragon: rendu
à toute
l'horreur
de sa situation:
Je dormais. Avec
reproche:
Pourquoi tu ne me laisses jamais dormir?« (DDI 24). Die Ubersetzung des Schreckens als »schaudervolle Situation« (DDI 25) klingt zu sehr nach Landstreicherelend, anstatt die existentielle Angst ohne Erlösungshoffnung zu thematisieren. 11
Auch Schopenhauer betont die Tröstungen des Schlafs: »Was man auch sagen mag, der glücklichste Augenblick des Glücklichen ist doch der seines Einschlafens wie der Unglücklichste des Unglücklichen der seines Erwachens.« Schopenhauer, Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung,
in: Sämtliche Werke, Bd. 1, Frankfurt am Main 1986.
Im Folgenden als W I - V abgekürzt, (W I 442).
15
m e i n s a m d i e l a n g e Zeit d e s Wartens z u vertreiben: »Je m e sentais seul.« ( D D I 2 4 ) . W e n n m a n d i e H ö l l e n h a f t i g k e i t der irdischen E x i s t e n z m i t S c h o penhauer darin sieht, » d a ß einer der T e u f e l d e s anderen s e i n m u ß « (W II 7 4 0 ) , dann g l e i c h e n V l a d i m i r und E s t r a g o n armen T e u f e l n , d i e v o n e i n a n d e r nicht l a s s e n k ö n n e n , o b w o h l sie miteinander u n g l ü c k l i c h s i n d : 1 2 V l a d i m i r s A u s s a g e , » S e u l l'arbre vit.« (DDI 2 0 2 ) w e i s t auf A n a l o g i e n d e s S t ü c k s zu der V o r h ö l l e in D a n t e s Göttlicher
Komödie
hin. 1 3 Im vierten G e s a n g b e -
schreibt der Dichter d e n L i m b u s als Verbannungsort, in d e m d i e T o t e n über g r ü n e s Gras w a n d e l n - vergleichbar den o f t r e g l o s T r ä u m e n d e n unter d e m e i n z i g l e b e n d i g e n B a u m . A u c h D a n t e s H ö l l e ist ein Ort außerhalb v o n R a u m und Zeit, d e n die >Insassen< nicht verlassen k ö n n e n . D o c h V l a d i m i r und E s t r a g o n träumen in ihrer S a n d w ü s t e n o c h v o n E r l ö s u n g - und treiben ihr Pendeln
zwischen
Leid
und
Langeweile
damit
2 5 j ä h r i g e B e c k e t t griff in s e i n e m Proust-Essay
gegenseitig
an.14
Der
Schopenhauers Bild des
P e n d e l s auf u n d räumte ( w i e Schopenhauer) d e m L e i d e n d e n Vorrang vor der n u t z l o s e n L a n g e w e i l e ein: 12
Auf die immer wieder quälende Frage, wo sie gestern abend gewesen seien, antwortet Estragon: »Je ne sais pas. Ailleurs. Dans un autre compartiment. Ce ne pas le vide qui manque.« (DDI 136). Der gestrige Abend in einem anderen Abteil erinnert an Hamms Abklopfen der Wände, das er bald aufgibt, da es sich Innen und Außen um vergleichbare Höllenräume zu handeln scheint: »Au-delà c'est... l'autre enfer.« (DDI 240). Auch Lucky spricht in seinem Monolog von einem Leben in den Qualen eines Höllenfeuers, »... mais on a le temps dans le tourment dans les feux...« (DDI 90) und träumt davon, die Hölle zu sprengen und an den Himmel zu drängen, »... porteront l'enfer aux nues si bleues...« (ebd.).
13
Dante, Die Göttliche Komödie,
Das Hohelied von Sünde und Erlösung, Heidelberg
1952, IV. Gesang, S. 22. 14
Schopenhauers Zentralthese vom Leben als fortgesetztes Leiden soll hier ausführlicher zitiert werden: »Die unaufhörlichen Bemühungen, das Leiden zu verbannen, leisten nichts weiter, als daß es seine Gestalt verändert. Diese ist ursprünglich Mangel, Not, Sorge um die Erhaltung des Lebens. Ist es, was sehr schwer hält, geglückt, den Schmerz in dieser Gestalt zu verdrängen, so stellt er sogleich sich in tausend andern ein, abwechselnd nach Alter und Umständen - als Geschlechtstrieb, leidenschaftliche Liebe, Eifersucht, Neid, Haß, Angst, Ehrgeiz, Geldgeiz, Krankheit usw. usw. Kann er endlich in keiner andern Gestalt Eingang finden, so kommt er im traurigen, grauen Gewand des Überdrusses und der Langenweile, gegen welche dann mancherlei versucht wird. Gelingt es endlich, diese zu verscheuchen, so wird es schwerlich geschehen, ohne dabei den Schmerz in einer der vorigen Gestalten wieder einzulassen und so den Tanz von vorne zu beginnen; denn zwischen Schmerz und Langerweile wird jedes Menschenleben hin und her geworfen.« (W I 432).
16
»Das Pendel schwingt zwischen diesen beiden Polen: Leiden — das ein Fenster zum Realen öffnet und die Hauptbedingung der künstlerischen Erfahrung ist, und Langeweile [...], die als das erträglichste, weil dauerhafteste der menschlichen Übel betrachtet werden muß.« 15
Wieweit das Leiden in En attendant Godot ein »Fenster zum Realen« öffnen kann, also durch den Schleier der Alltagswahrnehmung zu einer dahinterliegenden Realität vorzudringen vermag, sollen die nächsten Kapitel klären. Festzuhalten bleibt hier, daß die Figuren ihre Langeweile immer wieder mit Hilfe von Spielen abzukürzen und im Schlaf zu vergessen suchen. Die Wortspiele der beiden >TrampsNunc stans< der Scholastiker.« (WI 385f.).
20
Beckett, Proust, Essay, a.a.O., S. 18. »Aber die vergiftende Findigkeit der Zeit in der Wissenschaft des Leidens beschränkt sich nicht auf ihre Einwirkung auf das Subjekt, jene Einwirkung, die, wie gezeigt wurde, eine unaufhörliche Veränderung seiner Persönlichkeit zur Folge hat, deren permanente Realität, wenn überhaupt, nur als retrospektive Hypothese verstanden werden kann.« Beckett, Proust, a.a.O., S. 12.
21
18
Die entscheidende Frage ist nun, ob und auf welche Weise der Verstand aus seiner träumerischen Blindheit herausfindet. Ulrich Pothast versucht in seinem Buch Über Schopenhauers Ästhetik und ihre Anwendung durch Samuel Beckett, »Fragmente eines metaphysischen Blicks« in En attendant Godot nachzuweisen.22 Während der 25jährige Beckett in seinem ProustEssay tatsächlich davon ausging, daß das Leiden ein »Fenster zum Realen« öffnen könne (s.o.), so scheint das Pendeln zwischen Leid und Langeweile die Figuren von En attendant Godot lediglich in den Schlaf zu wiegen. Aber damit ist weder das Paradox von Vladimirs >unbeobachtetem< Beobachter gelöst, noch die Frage beantwortet, inwieweit Vladimir den Überblick eines externen Betrachters einnehmen kann. Das Beobachterparadoxon soll daher im nächsten Kapitel vor dem Hintergrund von Schopenhauers Philosophie und der kunsttheoretischen Schriften Becketts genauer untersucht werden.
1.2
Exkurs: Becketts Ästhetische Theorie >nach< Schopenhauer
Der Titel >Ästhetische Theorie nach Schopenhauer ist bewußt doppeldeutig, denn einerseits sind Becketts frühe kunsttheoretische Schriften entscheidend von der Welt als Wille und Vorstellung geprägt. Sie folgen Schopenhauers Philosophie auf der Suche nach einem »Ding an sich« oder einer statischen Ideenwelt, die es jenseits der vergänglichen Welt der Erscheinungen zu erkennen gelte. Andererseits revidiert Beckett diesen metaphysischen Ansatz nach dem Proust-Essay zugunsten einer genuin ästhetischen Theorie. Die kunsttheoretischen Schriften wenden sich nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend vom Beglaubigungsstreben durch philosophische und literarische Autoritäten ab und werden zu immer kürzeren Aphorismensammlungen des Erkenntniszweifels. Dieser Wandel in der Kunstkonzeption zur späteren Skepsis gegenüber jeder Form von Metaphysik und philosophischer Systematik ist in der Beckett-Rezeption bisher begrifflich nicht klar genug herausgearbeitet worden.23 Die Letztbegründungen der Ästhetik 22
Pothast, Ulrich, Die eigentlich metaphysische Tätigkeit, Über Schopenhauers Ästhetik und ihre Anwendung durch Samuel Beckett, Frankfurt am Main 1989, S. 358.
23
Ulrich Pothasts Beckett-Auslegung mit Hilfe von Schopenhauers Metaphysik wird z.B. von Oliver Sturm kritiklos übernommen: »Beckett greift hier, Ulrich Pothast hat das überzeugend dargestellt, in den wesentlichen Punkten seiner Argumentation auf
19
werden häufig zur Interpretation herangezogen, obwohl Beckett seine früheren Dogmen in der szenischen Praxis einem Prozeß der Reduktion und Paradoxierung unterzieht. Vom einstigen Erkenntnisanspruch sind nur Wortspiele, Schweigen und bissige Selbstkritik Übriggeblieben. Auf den Seitenrändern eines Exemplars des /Vousi-Essays hat Beckett seine Meinung zu den ersten kunsttheoretischen Versuchen notiert: »Ich habe mein Buch in einem billigen, gefallsüchtigen Philosophenjargon geschrieben.« 24 Neben weiteren Kommentaren wie »Dog vomit« und »terrible jargon« zitiert Nicholas Zurbrugg auch folgende Passage: »>too abstract indeed. The use of mainly concrete nouns and active verbs instead of all this abstract jargon would have gone a long way to >clarify< the argument.« 25
Becketts zunehmende Abkehr von Abstraktionen vermeidet nicht nur die Widersprüche zwischen dem begrifflich-kategorialen Anspruch des ProustEssays und dessen künstlerischer Freiheit in der Auslegung philosophischer Quellen. Vielmehr läßt erst der spätere, explizit willkürliche Umgang mit Philosophemen jenen pseudophilosophischen Ideolekt entstehen, der in den Dramen eine entscheidende ästhetisch-funktionale statt einer philosophischsystematischen Rolle spielt. Die Scheinhaftigkeit der Erfahrungswelt bleibt zwar auch in den kunsttheoretischen Schriften nach dem Zweiten Weltkrieg
Schopenhauers Philosophie zurück.« Ders., Der letzte Satz der letzten Seite zum letzten Mal, Der alte Beckett, Hamburg 1994, S. 57. Der Wandel in Becketts Kunstkonzeption wird hier wie so oft in der Beckett-Rezeption übersehen, weshalb der Proust-Essay
als
stereotypes Deutungsmuster von Dramen dient, die dreißig und mehr Jahre nach Proust verfaßt wurden. Auch Karl Heinz Bohrer widerspricht der Lesart Pothasts: »Beckett geht es, wie Virginia Woolf und James Joyce, um eine Erfassung unmittelbarer Realität, um ihre schiere Präsenz. Das aber bedeutet, daß er von Beginn an auf eine Anwesenheit der Dinge aus war, die dabei außerhalb der Zeit angesiedelt sind. Der Ästhetiker und Philosoph Ulrich Pothast hat diese Zeittranszendenz hingegen als metaphysisches Projekt Becketts in unmittelbarer Nachfolge von
Schopenhauers
Ästhetik
Jörg
gedeutet.«
Wahrnehmung
von
Ders.,
Zeit
Gegenwart,
und
Imagination,
in:
Interventionen/Museum
Huber,
für Gestaltung
(Hrsg.), Zürich,
Basel/Frankfurt am Main 1992, S.88. 24
Deirdre Bair; Samuel Beckett, Eine Biographie, Hamburg 1991, S. 156 (Übersetzung verändert, J.B.).
25
Zurbrugg, Nicholas, Beckett and Proust, Buckinghamshire 1988, S. 103. Zurbrugg bezieht sich auf Notizen von Deirdre Bair, die sie ihm in einem Brief vom 3. Mai 1978 mitteilte; ebd., S. 290, Anm. 8.
20
das zentrale Thema der Beckettschen Ästhetik. Doch der irische Dichter >bezwingt< die zeitbedingten Wandlungen der Objekte nicht mehr mit dem metaphysischen Blick seines Mentors Schopenhauer, sondern reduziert dessen objektiven Erkenntnisanspruch auf den Perspektivismus des erkennenden Subjekts. Wie Nietzsche vor ihm stellt Beckett Schopenhauers Ideenlehre in Frage und macht die Prämisse, >Kein Objekt ohne konstruierenden Beobachten, zum Ausgangspunkt seiner Ästhetik. Für die vorliegende Arbeit ist dabei von besonderem Interesse, daß Beckett die Frage nach der Perspektive des Betrachters zu einem zentralen Thema seiner Stücke macht. Die Subjekt-Objekt-Problematik der Erkenntnistheorie läßt sich ohne Umstände auf die externe theatrale Kommunikation übertragen. So wie die stückinternen Beobachter keine letzten Wahrheiten garantieren, muß auch der Zuschauer immer neue Welt- und Selbstmodelle ent- und verwerfen. Die Beschränkungen der jeweiligen Perspektive machen eine objektive Erkenntnis unmöglich. Das Beobachtermotiv führt dem Rezipienten also seine eigene Rolle in Becketts Theater vor Augen - er kann sich beim Beobachten beobachten. Inwieweit ein Beobachter die Beschränkungen seiner subjektbedingten Partialperspektive überwinden kann, ist von Anfang an das zentrale Thema von Becketts kunsttheoretischen Aufsätzen. Fünfzehn Jahre nach seinem Proust-Essay steht auch in Le monde et le pantalon »jenes doppelköpfige Ungeheuer der Verdammung und Erlösung [...] - die Zeit«26 im Mittelpunkt der Erörterungen. Die verändernde Wirkung der Zeit darzustellen, ist nach Becketts Einschätzung die zentrale Schwierigkeit und »das Dilemma der bildenden Kunst schlechthin.«27 Der Dauerzerfall, der die Körperwelt wie einen »Kreisel unter der Peitsche der Sonne« antreibt,28 sei bildlich nicht zu
26
Beckett, Proust-Essay,
27
»Deux œuvres en somme qui semblent se réfuter, mais qui en fait se rejoignent au cœur
a.a.O., S. 9.
du dilemme, celui même des artes plastiques: Comment représenter le changement?« Beckett, Samuel, Le monde et le pantalon,
Cahiers d'Art, Paris 1945/46, S. 350.
Nachgedruckt und hier zitiert nach: Cohn, Ruby, (Hrsg.), Samuel Beckett,
Disjecta,
Miscellaneous Writings and a Dramatic Fragment London 1983, S. 129. Deutsch in: Beckett, Samuel, Die Malerei der Van Veldes oder die Welt und die Hose, in: Bram van Velde 1895 - 1981, Bonnefantenmuseum Maastricht und Musée National d'Art Moderne, Centre George Pompidou (Hrsg.), Paris, Bern 1989. 28
»A. van Velde peint l'étendue. G. van Velde peint la succession. Puisque, avant de pouvoir voir l'étendue à plus forte raison avant de pouvoir la représenter, il faut Γ immobilisier, celui-là se détourne de l'étendue naturelle, celle qui tourne comme une
21
zeigen - wobei Bram van Velde und die moderne Malerei aus dem Widerstand des Objekts gegen seine Darstellung einen Großteil ihrer besten Effekte bezogen habe. 29 Auch die darstellenden Künste haben nach Becketts Worten immer versucht, die Vergänglichkeit anzuhalten, indem sie die Zeit zu ihrem Thema machten. 30 Dem ruhelosen Chaos der Außenwelt stellt Beckett einen intrapsychischen Mikrokosmos gegenüber, in dem der Maler (bzw. Autor) sein Objekt »totstellt«; d.h. er versetzt sein Sujet in einen Schwebezustand außerhalb der Zeit, 31 um es zu erkennen. Auf diese Weise wird der »Zauber der Realität« sichtbar, den der Proust-Essay
beschreibt:
»Zauber der Realität« mutet paradox an. Aber wenn das Objekt als ein Einzelnes und Einzigartiges wahrgenommen wird und nicht bloß als Glied einer Familie, wenn es unabhängig von jeder allgemeinen Begrifflichkeit und befreit von der Vernünftigkeit der Ursache erscheint, isoliert und unerklärlich im Licht der Unwissenheit, dann und nur dann kann es eine Quelle des Zaubers sein.« 3 2
Becketts Romanheld Molloy
müßte die besten Aussichten haben, den
»Zauber der Realität« zu erkennen, weil er sich in einem Käfig außerhalb von Zeit und Raum wähnt. 33 Auch die »ungeheure Verwirrung« (DDI 169) von En attendant
Godot entsteht durch unsichere raumzeitliche Koordina-
ten. Da Ursache und Wirkung nur in der zeitlichen Sukzession zu unterscheiden sind, müßte ihr Stillstand zu jener »Unwissenheit« führen, die laut dem Proust-Essay
eine Erkenntnis Voraussetzung des »Zaubers der Realität«
toupie sous le fouet du soleil.« Beckett, Samuel, Le monde et le pantalon,
a.a.O.,
S. 128. 29
»Pour le peintre, la chose est impossible. C'est d'ailleurs de la représentation de cette impossibilité que la peinture moderne a tiré une bonne partie de ses meilleurs effets.« Beckett, a.a.O., S. 129.
30
»A quoi les arts représentatifs se sont-ils acharnés, depuis toujours? A vouloir arrêter le temps, en le représentant.« Beckett, a.a.O., S. 126.
31
»Mais il était peut-être temps que l'objet se rerirât, par ci par là, du monde dit visible. [...] La peinture d'A. van Velde serait donc premièrement une peinture de la chose en suspens, je dirais volontiers de la chose morte, idéalement morte, si ce terme n'avait pas de si fâcheuses associations. [...] La chose immobile dans le vide, voilà enfin la chose visible, l'objet pur. Je n'en vois d'autre. La boîte crânienne a le monopole de cet article.« Beckett, a.a.O., S. 126.
32
Beckett, Proust-Essay,
33
»[...] als ob ich, wie es die Scholasten nennen, in einem Käfig außerhalb der Zeit und
a.a.O., S. 19.
wohlverstanden auch außerhalb des Raumes eingeschlossen wäre.« Beckett, Samuel, Molloy, Frankfurt am Main 1954, S. 107.
22
ist. Aber die Zeit ist in En attendant Godot nicht aufgehoben, sondern scheint nur aufgrund von Langeweile zwischen den Auf- und Abtritten stillzustehen, die den Verlauf der Zeit markieren.34 Vladimir und Estragon müssen die »ereignislose« Zeit deshalb mit philosophischen Betrachtungen totschlagen, in denen sie das ganze Universum für ein »Beinhaus« voller Leichen halten.35 Der scheinbare Widerspruch zwischen der rasenden Vergänglichkeit und dem subjektiven Stillstand der Zeit beruht also auf unterschiedlichen Zeitmaßstäben, die nicht miteinander synchronisiert sind. Weit entfernt von der kontemplativen Unwissenheit des Proust-Essays sind sich die Figuren einfach »nicht einig, das ist alles.« (DDI 19), wie Estragon über die Evangelisten sagt. Schon der Streit über die Erlösungschancen der Schächer thematisiert einen Wechsel von der Vergänglichkeit zur transzendenten Zeitlosigkeit. Schopenhauer beschreibt dieses Umschlagen als Perspektivenwechsel vom empirischen zum metaphysischen Blick, der außerhalb von Zeit, Raum und Kausalität auf die vergängliche Welt herabblickt: »Die Erde wälzt sich vom Tage in die Nacht, das Individuum stirbt: aber die Sonne selbst brennt ohne Unterlaß ewigen Mittag. Dem Willen zum Leben ist das Leben gewiß: die Form des Lebens ist Gegenwart ohne Ende; gleichviel wie die Individuen, Erscheinungen der Idee, in der Zeit entstehen und vergehen, flüchtigen Träumen zu vergleichen.« (W I 387).
Wie Luckys Parodie eines persönlichen Gottes scheint der Wille »du haut de sa divine apathie« (vgl. Anm. 7) dem ewigen Werden und Vergehen auf der Erde teilnahmslos zuzuschauen. In Becketts Worte übersetzt, rotiert der Kreisel der Körperwelt ziellos unter der Peitsche der statischen Sonne, wobei die Figuren in En attendant Godot den »flüchtigen Träumen« gleichen, die sie antreibt. Die dramatis personae können aus ihrer >Froschperspektive< kaum zu einer höheren Erkenntnis durchdringen, doch Vladimir scheint den ewigen Kreislauf der Welt wenigstens zu ahnen: »Le fond ne change pas.« (DDI 36). Die Frage ist, ob diese Ahnung einer überzeitlichen Anschauungsform schon »das kärgliche Fragment einer metaphysischen Perspektive« darstellt, wie Ulrich Pothast meint.36 Der metaphysische Blick scheint in der Anwendung auf Becketts Figuren problematisch, weil er den dogmatischen 34
»Rien ne se passe, personne ne vient, personne ne s'en va, c'est terrible.« (DDI 86).
35
»Vladimir: D'où viennent tous ces cadavres? [...] Un charnier, un charnier. / Estragon: Il n'y a qu'à ne pas regarder. / Vladimir: Ça tire l'œil.« (DDI 132ff.).
36
Pothast, Die eigentlich metaphysische Tätigkeit, a.a.O., S. 358.
23
Erkenntnisanspruch der gesamten Willensmetaphysik enthält. Anders gesagt: Wenn Schopenhauers Begriff nicht sinnlos sein soll, müssen sich die Figuren ihrer transzendentalen Beobachterrolle bewußt werden - sonst erleben sie die Brüche in Zeit, Raum und Kausalität nur als persönlichen Wahrnehmungsfehler. Wie sollen die dramatis personae aber den >höheren< Erkenntniswert eines metaphysischen Blicks beurteilen, wenn in ihrer »ungeheuren Verwirrung« alle Maßstäbe unsicher geworden sind? Die metaphysische Perspektive beruht nicht nur auf einer Wahrnehmung, sondern auf der Gefühlssicherheit oder der intellektuellen Gewißheit des qualitativen Wechsels zu einer neuen Auffassungsart, die selbst als »Fragment« transzendentale Erkenntnis ermöglicht - oder eben kein metaphysischer Blick ist. Der metaphysische Blick bezeichnet die sinnliche Wahrnehmung und zugleich ein übersinnliches Wissen, das die Erscheinungswelt bis auf »Ideen« abstrahiert. Beckett ist in jungen Jahren offensichtlich von Schopenhauer fasziniert37 und zitiert ihn als einzigen Philosophen mehrmals namentlich im Proust-Essay. Dort bezieht er sich auch auf die Ideenlehre, die sich mit einem Sprung in die Metaphysik über Kants Aprioris von Zeit, Raum und Kausalität hinwegsetzt.38 Was Schopenhauer als die unveränderliche Idee oder mit Piaton als das wahrhaft Seiende der Welt auffaßt, ist nur einer Metaphysik zugänglich, die ein nicht-empirisches, >ideales< Reales zu erkennen glaubt. Auch Beckett zweifelt an der Verläßlichkeit sinnlicher Wahrnehmungen, da die Objekte in einem »alltäglichen, tristen Abglanz« verborgen sind.39 Der »undurchdringliche Block« (ebd.) der Dingwelt ist also nicht mit dem empirischen Blick zu durchschauen, sondern wird in Le monde et le pantalon gesprengt, um die Bruchstücke als Material der Kunst zu verwenden (ebd.). Es handelt sich bei diesem Prozeß der künstlerischen Produktion
37
A m 21.9.1937 schrieb der 31jährige Beckett: »Als ich krank war, stellte ich fest, daß das einzige, was ich lesen konnte, Schopenhauer war. Alles andere, das ich versuchte, bestärkte mich nur in dem Gefühl, krank zu sein. Es war schon sehr komisch. Als ob sich plötzlich ein Fenster im Nebel geöffnet hätte.« Bair, Deirdre, a.a.O., S. 339.
38
»Unglücklicherweise hat die Gewohnheit gegen diese Form der Wahrnehmung ihr Veto eingelegt, da ihre Tätigkeit gerade darin besteht, das Wesen - die Idee - des Objekts im Dunst von vorgefaßter Begrifflichkeit zu verbergen.« Proust-Essay,
a.a.O.,
S. 19. 39
»Ce n'est plus le composé naturel, blotti dans ses mornes chatoiements quotidiens, mais les mêmes éléments restent en presence. Confronté avec ce bloc inpénétrable, A. van Velde l'a fait sauter pour en libérer ce dont il avait besoin.« Beckett, Le monde et le pantalon,
24
a.a.O., S. 130.
um keine sinnlich unmittelbare Wahrnehmung, wie der 25jährige Beckett anläßlich des »Zaubers der Realität« meinte (s.o.). Vielmehr werden die Wahrnehmungen in der Imagination des Künstlers neu zusammengesetzt, bis sie in eruptiver Intuition zum Ausdruck kommen. Diese »Ekstase« 40 nennt der 40jährige Beckett nur im Zusammenhang mit dem Prozeß künstlerischer Produktion; sie gleicht keiner metaphysischen Vision, die in ihrer Plötzlichkeit das »Ding an sich« oder eine Ideenwelt erleuchten könnte. In der deutschen Übersetzung von Le monde et le pantalon wird »la chose seule« 41 fälschlicherweise zum »Ding an sich« 42 und assoziiert damit die Erkenntnisgewißheit der Willensmetaphysik, während das »l'objet pur« (vgl. Anm. 31) wörtlich als »reines Objekt« erscheint. 43 In der Differenz zwischen dem »Ding an sich« und dem »reinen Objekt« verbirgt sich der entscheidende Schritt Becketts von einer metaphysisch fundierten zu einer rein ästhetischen Kunsttheorie. Der Proust-Essay trennt noch nicht genau zwischen den Philosophien Schopenhauers und Nietzsches und nennt die »Ideen« (vgl. Anm. 38) kurz nach Nietzsches ethischem Imperativ »lebe gefährlich«. 44 Statt die Widersprüche zwischen der metaphysischen und der dezidiert antimetaphysischen Ästhetik zu verstehen, zitiert Beckett ausgerechnet den Metaphysiker Schopenhauer fortwährend als Kronzeugen einer genuin künstlerischen Erkenntnisform. Daher kann er die Existenz nur als Pendeln zwischen der »Langeweile zu leben« 45 und dem »Leiden zu sein« (ebd.) auffassen. Im Leiden glaubt er »für einen Augenblick« (ebd.) hinter der Scheinhaftigkeit alltäglicher Wahrnehmung das wahrhaft Seiende oder die unveränderliche Idee erkennen zu können. Während der augenblickhafte Erkenntnischarakter in die »Ekstase« (s.o.) der späteren Ästhetik eingeht, wendet sich Beckett von dem Leiden als »höherer« Existenzform ab. In der späteren Ästhetik bilden allein die faszinierenden Erscheinungen das Arbeitsmaterial des Künstlers, hinter denen es kein Wesen mehr zu entdekken gibt. 46 40
»A vrai dire, moins à un objet qu'à un processus, un processus senti avec une telle acuité qu'il en a aquis une solidité d'hallucination, ou d'extase.« Beckett, a.a.O.
41
Beckett, Le monde et le pantalon,
42
Beckett, Die Malerei der Van Veldes oder die Welt und die Hose, a.a.O., S. 49.
43
Beckett, a.a.O., S. 48.
44
Beckett, Proust-Ess&y,
45
Beckett, aa.O., S. 16.
46
a.a.O., S. 130.
a.a.O., S. 17.
Beckett muß es wie Nietzsche ergangen sein, der versuchte, Schopenhauers These von der Grausamkeit des Seins zu beweisen, und dabei bemerkte, »daß der »Schein« dieser
25
Der »neue Blick«, den Beckett Bram van Velde zuschreibt, erlaubt keine Rückschlüsse auf die tatsächliche Beschaffenheit des »Dinges an sich« oder des universalen Seins mehr. Er wendet sich vielmehr einem inneren Objekt zu, das lediglich ein Produkt des »Hirnkastens« ist (vgl. Anm. 31). Bei dieser »vision intérieure«47 herrscht laut Le monde et le pantalon »das Dunkel, das den Geist erhellt«,48 während die Rückwendung zum Makrokosmos eine Rückkehr in die »Blindheit«49 der Alltagswelt gleicht (ebd.). Auch das »Gewimmel von Fleisch, das nie tot ist« (ebd.) zitiert wie der Proust-Essay Allegorien Schopenhauers, führt diese Welt-Bilder aber auf keine Erkenntnisgewißheiten zurück. In dem Aufsatz Pour Avigdor Arikha von 1966 spricht Beckett angesichts eines »unbezwinglichen Außen« nicht einmal mehr davon, daß der Künstler den »undurchdringlichen Block« der Erscheinungswelt aufsprengen könne.50 Statt dessen hat das Fiebern des Künstlers »nach dem Nicht-Selbst« am Ende lediglich in ihm »tiefe wunde Spuren« hinterlassen. Aufgrund des »Nicht-zu-Sehenden und Nicht-zu-Schaffenden« reduziert sich der Erkenntnisanspruch auf den Gesichts- und Tastsinn. Schopenhauers Aufhebung der Individualität als Bedingung des metaphysischen Blicks scheint zwar bis auf die reine Wahrnehmungsfunktion des Auges fortgeschritten zu sein,51 aber der »vor- und zurückstoßende Blick« arbeitet sich an der Außenwelt ab, ohne sie zu durchschauen. Trotz der Wunden lebenslänglicher Erkenntnisversuche vermittelt Pour Avigdor Arikha nicht das Gefühl endgültiger Resignation, sondern definiert das menschliche Dasein grundsätzlich als ein »Gegenüber-Sein«.52 Mit der Grausamkeit genossen werden kann.« Bohrer, Karl Heinz, Plötzlichkeit, Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt am Main 1981, S. 117. 47
Beckett, Le monde et le pantalon, a.a.O., S. 130.
48
»Dans le noir qui éclaire l'esprit.« Beckett, a.a.O., S. 126.
49
»Car c'est bien de cela qu'il s'agit, de ne plus voir cette chose adorable et effrayante, de rentrer dans le temps, dans la cécité, d'aller s'ennuyer devant les tourbillons de viande jamais mort et frissonner sous les peupliers.« Beckett, a.a.O., S. 127.
50
»Siège remis devant le dehors imprenable. Fiève oeil-main dans la soif du non-soi. Oeil par la main sans cesse changé à l'instant même où sans cesse il la change. Regard ne s'arrachant à l'invisible que pour s'asséner sur l'infaisable et retour éclair. Trêve à la navette et traces de ce que c'est que d'être devant. Traces profondes.« Cohn, (Hrsg.), Disjecta, a.a.O., S. 152.
51
»Wenn daher die Ideen Objekt der Erkenntnis werden sollen, so wird dies nur unter Aufhebung der Individualität im erkennenden Subjekt geschehen« (WW I 246).
52
Beckett, Samuel, Für Avigdor Arikha, in: Engelhardt, Hartmut (Hrsg.), Samuel Beckett, Frankfurt am Main 1984, S.25.
26
kurzen »Ruhe im Hin und Her« beschreibt Beckett Momente der Kontemplation und erhebt den impliziten Anspruch von Ataraxie angesichts einer permanenten Subjekt-Objekt-Krise. 53 Da die Conditio humana vom »gemeinsamen Versagen« des clownesken Subjekts und seines Objekts als »dummer August« (ebd.) geprägt sei, bestehe die Aufgabe des Künstlers darin, an den unüberwindbaren Gegensätzen zu »[...] scheitern, wie kein anderer zu scheitern wagt.« 54 Dementsprechend setzt Beckett 1956 in einem seiner wenigen Interviews auch sein eigenes Schaffen von Schopenhauers Erkenntnisgewißheit ab: »Ich arbeite mit Nichtkönnen, Nichtwissen.« 55 Statt sich mit den Dogmen einer Metaphysik zu bequemen, bindet der irische Dichter Widriges in den Paradoxien seiner Stücke zusammen, um eine Vielzahl geistesgeschichtlicher Anspielungen auf dem schmalen Grat des Nichtwissens balancieren zu können. Während die Dramen mit philosophischen Allgemeinplätzen (in Adornos Diktum) wie mit »Kulturmüll« spielen, 56 verbirgt sich der Sinn einer Anspielung in der Bedeutungsverschiebung von der Vorlage zur Variation oder Persiflage. Estragons Heraklit-Kommentar deutet den Fluß der Zeit z.B. als abstoßende Krankheit, die alle Lebenden zu Moribunden macht: »On ne descend pas deux fois dans le même pus.« (DDI 124).57 »Pus« bezeichnet nicht den »Dreck« (DDI 125) der deutschen Übersetzung, sondern den Eiter als Fließmedium der Zeit, während Estragons Variation der verrinnenden Zeit, »Toute suinte« (ebd.), im Französischen einerseits die Assoziation des Durchsickerns einer nässenden Wunde weckt. Andererseits klingt die Aussage wie >tout de suiteFroschperspektive< des empirischen und die >Vogelperspektive< des metaphysischen Blicks im selben Moment in sich und auf sich vereint? Daß sich einige Stückmotive zu einem Bild des Lebens als »Welttheater« (vgl. Kap. 2.2) oder des »beständig brennenden Mittags der Bedürftigkeit«61 anordnen lassen, beweist zunächst nur, daß der Interpret die philosophischen Bruchstücke zu einem >sinnvollen< Gesamtbild ergänzen kann - eine Fähigkeit, die den Figuren fehlt. Der Versuch, stückinterne Erkenntnisprobleme mit einem spielexternen Wissen zu >lösenmetaphysischen Erfahrung< wird also von den Umständen seines Erscheinens in En attendant Godot wieder dementiert bzw. parodiert. Vladimir verdankt seine ungeheure Verwirrung nicht zuletzt dem Versuch, sich aus dem Blickwinkel des angenommenen Beobachters selbst zu reflektieren. Deshalb sollte eine Stückdeutung nicht ihrerseits die logischen Grenzen zwischen dem beschränkten Horizont der Dramenfiguren und Becketts kunsttheoretischen Schriften oder den darin zitierten philosophischen Systemen verwischen. Da sich die Aporien des Beobachterparadoxons nicht durch den Rückgriff auf vorgängige Theorien lösen lassen, soll En attendant Godot in den folgenden Kapiteln möglichst werkimmanent gedeutet werden.
61 62
Pothast, a.a.O., S. 355. »Warten auf Godot und Endspiel
sind mit Schopenhauer und mit Becketts früher
Ästhetik angesehen, metaphorische, in Bühnen- und Augenkonvention übersetzte Darstellungen der Sache, die ein metaphysischer Blick als das wahre Wesen des Lebens erkennen muß.« Pothast, a.a.O., S. 356.
29
1.3
Mit den Augen eines anderen: Der auditoriale Blick
Das Fehlen jeglicher Erkenntnisgewißheit in En attendant Godot macht Schopenhauers metaphysischen Blick als Erklärung für die angenommenen Beobachter unbrauchbar. Vladimir und Estragon sind nicht die bewußt kontemplierenden Subjekte einer transzendentalen Anschauungsform, sondern schwanken unentschieden zwischen ihren empirischen Wahrnehmungen und dem noch ungeklärten Wahrgenommenwerden. Da Vladimir das percipi mit den meisten anderen Dramenfiguren Becketts teilt, und die Betrachter im Gegensatz zu Godot auch szenisch präsent sein können, gleicht das Beobachterparadoxon einer Theater- oder Gerichtssituation auf dem Theater. Aufgrund einer Regieanweisung in Not I (CDW 376) soll der kritisch urteilende Zuschauer daher Auditor heißen.63 Der Begriff meint nicht nur einen Zuhörer, sondern bezeichnet auch die Vernehmungsrichter an der Rota Romana, dem höchsten päpstlichen Gerichtshof. Das Auditor-Motiv assoziiert die höchstrichterliche Judikative der zehn Gebote ebenso wie die Globalperspektive von Schopenhauers metaphysischem Blick - beschränkt deren gesetzgebende Transzendenz aber auf die unüberwindbare Immanenz einer beschränkten Figurenperspektive. Aus der Innensicht ihres Träumens können die dramatis personae weder den Sinn noch den Wahrheitsgehalt der auditorialen Auffassungsart ganz erkennen bzw. anerkennen: Vladimir kann die Bedeutung seines angenommenen Beobachters in letzter Konsequenz sowenig erfassen, wie Estragon nicht recht versteht, warum sie unter Strafandrohung endlos auf Godot warten müssen. Da der auditoriale Blick in jedem Stück Becketts erscheint, ist die Versuchung groß, ihn als Garant einer unhinterfragbaren Letztbegründung mißzuverstehen. Henner Laas zufolge ist der angenommene Beobachter, »[...] die dem Stück transzendente Instanz eines Augenzeugen, der das Geschehen sieht und seine Wirklichkeit verbürgt.«64 Diese >Objektivität< des auditorialen Urteils übersieht aber einen entscheidenden Sachverhalt: Die Auditoren erscheinen in Becketts ersten beiden Stücken bloß als Vorstellung von Figuren, die so verwirrt sind, daß es sich bei den angenommenen Beobachtern 63
Der Auditor bezeichnet in Not I eine in Kapuze und schwarzen Umhang gehüllte unbestimmte und stumme Gestalt, deren Ausdruck sich auf eine Geste hilflosen Mitleids beschränkt: »Movement: this consists in simple sideways raising of arms from sides and their falling back, in a gesture of helpless compassion.« (CDW 375).
64
30
Laas, Henner und Schröder, Wolfgang, Samuel Beckett, München 1984, S. 48.
sowohl um Fiktionen als auch um (dem Rezipienten nicht zugängliche) Wahrnehmungen handeln kann. Auch bei den szenisch agierenden Auditoren ist ihr Autoritätsanspruch unsicher, denn als Dramenfiguren unterliegen sie potentiell den gleichen Täuschungen wie alle anderen dramatis personae: Der Auditor in Not I überschaut das Geschehen weder mit einem metaphysischen Blick noch handelt es sich bei ihm um die Amtsautorität eines Doktors, Psychiaters oder Priesters, wie Katharine Worth meint.65 Denn die numinose Gestalt hebt sich durch keine berufsspezifische Kleidung von dem sprechenden Mund ab, den die hilflosen Gesten des Mitleids (vgl. Anm. 63) auch nicht als »krankhaft« aburteilen. Bei der Interpretin geht (wie so oft in der Beckett-Rezeption) mit der Aufwertung des Auditors zu einer über Krankheit und Normalität bestimmenden Richterfunktion eine Pathologisierung der auditorial beurteilten Figur einher. Aber diese eindeutige Hierarchisierung ist in Not I ebensowenig angelegt, wie Didis angenommener Beobachter irgendeine Erkenntnisgewißheit garantieren könnte. Obwohl einige Exegeten in den 50er und 60er Jahren Godot als Gott oder Hiob zu identifizieren versuchten,66 und Martin Esslin die »echte religiöse Suche unserer Zeit« beschwor,67 steht auch eine metaphysische Deutung des Auditor-Motivs unter akuter Beweisnot. Denn mit der Glaubwürdigkeit der Evangelisten sind gleichzeitig die Werte der biblischen Überlieferung in En attendant Godot fraglich geworden. Vladimir und Estragon verklären zwar Godots Autorität, aber sie verwechseln ihn auch mit dem Leuteschinder Pozzo und beschränken seinen Wissensumfang auf ein menschliches Maß.68 65
»What is the the function of the Auditor? Is it primarily a counseling figure, as it might be a doctor, nurse, psychatrist, or priest, someone whose professional buisiness is to listen, diagnose - and perhaps cure? Some such suggestion is undoubtly made by the still, watchful presence in conjunction with the symptoms discribed by Mouth, which are often overwhelmingly and terrifyingly physical; [...] Central in this shockingly vivid account of the physical organism is the sense of speech getting out of control, flowing out like an illness, beyond the power of the brain to shape, [...].« Worth, Katharine, Beckett's Auditors:
Not I to Ohio Impromptu,in:
Brater, Enoch, (Hrsg.),
Beckett at 80/Beckett in Context, N e w York/Oxford 1986, S. 170. 66
Rolf Breuer hat eine umfangreiche Liste christlicher Interpretationen zusammengestellt: Ders.: Die Kunst der Paradoxie,
Sinnsuche und Scheitern bei Samuel Beckett,
München 1976, S. 125f., Anm. 16. 67 68
Esslin, Martin, Das Theater des Absurden, Frankfurt am Main 1964, S. 414. »Vladimir: Er müsse überlegen... Mit klarem Kopf.. Seine Familie um Rat fragen... Seine Freunde... Seine Agenten... Seine Korrespondenten... Sein Register... Sein Bankkonto... Bevor er sich äußern könne.« (DDI 31).
31
Die beiden transzendental obdachlosen >Tramps< sind ohne die Gewißheiten eines religiösen oder philosophischen Systems allein auf sich selbst verwiesen. Da sie ihrem traumschweren Bewußtseinszustand aber mißtrauen, versuchen sie sich auf Godot als festen Bezugspunkt >außerhalb< der Traumlogik zu beziehen. Descartes konnte das endliche, erkennende Ich noch auf die absolute Wahrheit eines ens perfectissimum zurückführen, das dem ontologischen Gottesbeweis zufolge existieren müsse (vgl. Kap. 2.1). Da ein vollkommenes Wesen aber kein betrügerischer Gott sein könne, Schloß er eine Täuschung der Selbst- und Weltwahmehmung bei genauer Prüfung aus.69 Während Descartes mit dem sich selbst begründenden, nichtbetrügerischen Gott eine Prämisse für logische Schlußfolgerungen gefunden hatte, vermag ein Auditor ohne metaphysische Legitimation keine Erkenntnisgewißheit zu garantieren. Der Wahrheitsanspruch des auditorialen Blicks muß auf einer höheren logischen Ebene verifiziert oder falsifiziert werden. Da dieses Wissen vierter Ordnung aber ebenfalls nicht über alle Zweifel erhaben ist, entsteht ein unendlicher Regreß auf der Suche nach den unmittelbar einsichtigen Grundlagen der Erkenntnis.70 Das Beobachterparadoxon spielt auf diese Beweisnot an, denn Didi behauptet angesichts des schlafenden Estragons auf der leeren Bühne: »Moi aussi, un autre me regarde, en se disant, il dort, il ne sait pas, qu'il dorme.« (DDI 196). Die Situation enthält drei Perspektiven: Erstens Vladimirs empirische Wahrnehmung Estragons, zweitens der auditoriale Blick auf den »träumenden« Vladimir und drittens dessen Einsicht in die Gedanken des Auditors. Das Beobachterparadoxon erweckt also den Eindruck einer logischen Hierarchie, die von Estragons Schlaf über Vladimirs
69
»Denn daraus, daß Gott kein Betrüger ist, folgt jedenfalls, daß ich mich in solchen Fällen nicht täusche.« Descartes, René, Meditationen
über die Grundlagen der Philo-
sophie, Hamburg 1960, S. 80. 70
Während Schopenhauers metaphysischer Blick nicht nur die Erscheinungswelt von einer Meta-Ebene überschaut, sondern die transzendentale Anschauungsform auch von einer noch höheren logischen Ebene als wahr beurteilen kann, ist diese Form paradoxer Selbstbegründung gerade zum zentralen Problem der modernen Mengentheorie des Mathematikers Kurt Gödel geworden: Um eine Menge zu bestimmen, bedarf es einer Obermenge; ist diese nicht eindeutig definiert, dann ist der Satz über die Menge logisch unentscheidbar. Vgl.: Hofstadter, Douglas R., Gödel, Escher,
Bach,
ein
Endloses Geflochtenes Band, Stuttgart 1985. Die logisch unentscheidbaren Paradoxien erweisen sich in den folgenden Kapiteln als zentrales Stilmittel der Beckettschen Dramen erweisen.
32
Wachtraum zu dem wachen Bewußtsein des Auditors als einer objektiven Wirklichkeit fortzuschreiten scheint. In ihrer Tiefenstruktur erweisen sich die angeblichen Erkenntnisfortschritte aber als paradoxe, weil die zweite Ebene des »Träumenden« und die dritte Ebene des Auditors in Vladimirs Bewußtsein zusammenfallen. Mit anderen Worten: Vladimir stilisiert sich als Wahrnehmungsobjekt des Auditors, doch er ist sowohl das Subjekt des Wahrgenommenwerdens als auch das Subjekt des auditorialen Blicks. Die These, daß Didi zugleich mit seiner Opferrolle auch als Stellvertreter der Auditoren fungiert, ist folgenreich: Das Warten auf Godot und z.T. auch die Erkenntnisunsicherheit der Figuren beruhen auf den auditorialen Urteilen. Wenn die dramatis personae aber so wenig von ihren angenommenen Beobachtern wissen, daß sie deren Urteile selbst hervorbringen bzw. auslegen müssen, dann kann ihre Ohnmacht nur vordergründig von den Auditoren verursacht werden. Um die Rolle der angenommenen Betrachter genauer zu verstehen, soll zunächst die Tiefenstruktur des Beobachterparadoxons analysiert werden. Danach wird der performative >Ursprung< des Wartens auf Godot untersucht, um das Verhältnis von Figuren und Beobachtern in Becketts Dramen näher zu bestimmen. Die folgenden Kapitel versuchen schließlich die personifizierte Fremdbestimmung in Form von Auditoren durch die unwillkürliche und unpersönliche Eigendynamik selbstbezüglicher Prozesse zu entmystifizieren. Wie zu zeigen ist, beruht das Wahrgenommenwerden auf einer selbstverstärkenden Sinnsuche, statt auf eine übersinnliche Realität zu verweisen. Die Leitfrage des ersten Kapitels, wie der angeblich träumende Vladimir von einem Beobachter außerhalb seines Traumes zu wissen vermag, läßt sich dramenintern durch den Ausschluß unplausibler Erklärungen beantworten: Wenn es sich bei dem Auditor um eine andere Rollenfigur handelte, wäre nicht einzusehen, warum sie Einblick in Vladimirs ganzes Wesen zu haben scheint, während die Figuren füreinander sonst eher unverständlich sind. Das gleiche gilt für Vladimir, der die Gedanken des angenommenen Beobachters kennt, wohingegen er den schlafenden Estragon nur von außen beschreibt. Wäre der Auditor jedoch ein gottgleiches Wesen, könnte er zwar Vladimirs Gedanken lesen und seinen Bewußtseinsstand insgesamt beurteilen, würde aber notwendig Didis Verständnismöglichkeiten übersteigen und als eindeutige Meta-Ebene nicht die paradoxe Ebenenvermischung des Auditor-Motivs erzeugen. Daher scheidet Descartes< ens perfectissimum als Ursache des Beobachterparadoxons aus, und der Auditor kann als Vorstellung zum Zweck der Selbsterkenntnis verstanden werden. 33
Der Auditor scheint zwar einen Außenstandpunkt einzunehmen; da der Beobachter und der Beobachtete aber jeweils die Gedanken des anderen lesen können, müssen sie als Teile ein und desselben Bewußtseins zusammenfallen. Die Gleichursprünglichkeit schafft jedoch keine Identität, denn Didi und der Auditor scheinen sich fremd, wenn nicht feindselig gegenüberzustehen. Während der angenommene Beobachter ein höheres Bewußtsein jenseits des Schlafs beansprucht, ahnt Vladimir seinerseits, daß er träumt und zeigt sich so dem auditorialen Erkenntnisanspruch gewachsen. Zudem erscheint der Auditor nur in Didis Aussage, beansprucht aber, auf einer Meta-Ebene über ihm zu stehen. Da der Beobachter szenisch nicht in Erscheinung tritt, wird er von Vladimirs Aussage erst >ins Leben< gerufen, d.h. in der Vorstellung des Rezipienten evoziert. Mit einer implizit performativen Aussage stellt Didi die Existenz des Auditors fest und beglaubigt sie mit einem Zitat des Beobachters in indirekter Rede. 71 Während Vladimir mit dem Sprechakt die Vorstellung des Auditors hervorbringt, versetzt er sich durch die auditoriale Perspektive zugleich in den Bewußtseinsdämmer eines Träumenden, d.h. er derealisiert seine Existenz zu einem Erzählgegenstand in der dritten Person Singular. Der paradoxe Prozeß der Derealisation läßt Vladimirs Aussagen um so wirklichkeitsferner erscheinen, je mehr er die Existenz und die Richtigkeit des auditorialen Wahrheitsanspruchs durch seine verwirrte Reaktion verifiziert. Anders gesagt: Je glaubwürdiger Vladimir in bezug auf seinen Beobachter ist, desto unglaubwürdiger macht er sich selbst als erkenntnisschwacher Träumer. Während Vladimir erst die Traumwelt erschafft, von deren Himmel der Beobachter mit scheinbar gottgleichem Überblick auf ihn herabschaut, versetzt er sich gleichzeitig in sie hinein und unterwirft sich dem Richterspruch des Auditors. Die Beweislast, daß er nicht träumt, muß Didi selbst tragen, obwohl weder die Existenz des Beobachters noch sein Wahrheitsanspruch in irgendeiner Form gerechtfertigt wird. Die Paradoxie des Auditor-Motivs fällt daher nicht bloß zirkulär auf ihren Sprecher zurück, sondern fiktionalisiert zusätzlich ihren Ausgangspunkt, indem sie Vladimirs Bewußtseinszustand kritisiert. Je plausibler das apodiktische Urteil des Auditors erscheint,
71
Die implizit performative Aussage des Beobachterparadoxons läßt sich in eine explizit performative umformulieren, bei der die selbstbezügliche Struktur des Auditor-Motivs zutage tritt: »Ich versichere, daß ich von einem Beobachter wahrgenommen werde.« Da die Subjekte beider Teilsätze identisch sind, muß das Subjekt des Hauptsatzes die Glaubwürdigkeit des Nebensatzes als implizite Autoritätshandlung verbürgen.
34
desto abhängiger wird der hilflos träumende Vladimir von der wahrheitsverheißenden, auditorialen Perspektive. Daher dreht sich das Beobachterparadoxon nicht in einer Kreisbewegung auf der Stelle, wie es auf den ersten Blick erscheint, sondern verschiebt das Gleichgewicht gegenseitiger Dementierung potentiell zugunsten des auditorialen Geltungsanspruchs. Statt durch den Auditor Erkenntnisgewißheit zu erlangen, wird Vladimir um das letzte Vertrauen in seine Wahrnehmungsfähigkeiten gebracht und verwirrt mit dem Pendeln zwischen dem empirischen und dem auditorialen Blick die traumschwere Atmosphäre von En attendant Godot noch zusätzlich. Dieser selbstverstärkende Prozeß der Derealisation läßt sich als spiralförmige Bewegung beschreiben, die unmerklich aber stetig aus der zirkulären Bahn der Paradoxie abweicht, da sie mit jedem Durchlauf ihre Voraussetzungen verändert. Vladimir bricht den Rückkopplungsprozeß zwar augenblicklich ab, aber seine Aufregung zeigt die Furcht, in die autokatalytische Entwirklichung hineingezogen zu werden. Das Beobachterparadoxon hat die Tendenz, sich als Sinneinheit aus ihrem Sprech- und Handlungszusammenhang zu lösen und sich selbst fortzusetzen. Diese Autonomie ist u.a. möglich, weil Vladimirs Aussage keinen überprüfbaren Sachverhalt konstatiert, sondern die Realität erst hervorbringt, auf die sie sich bezieht. Als »Autoritätshandlung« kann eine performative Aussage nicht wahr oder falsch sein wie eine konstative Aussage, sondern nur glaubhaft oder unglaubwürdig erscheinen. 72 Daß der Referent der Aussage, also der Sachverhalt, auf den sich die Äußerung bezieht, erst mit dem Sprechakt selbst erscheint, wird häufig von performativen Verben wie wünschen, versprechen, urteilen etc. angezeigt. Fehlen diese expliziten Indikatoren jedoch (wie im Beobachterparadoxon), dann spricht John L. Austin von implizit performativen oder primären Äußerungen, die so »mehrdeutig«, »äquivok«, »vage« wie in der primitiven Sprache« sind. 73 In solchen Fällen muß der Kontext über die potentiell performative Funktion einer Aussage entscheiden, wobei Austin z.B. auf die Regieanweisung als ein Mittel zur Bestimmung der Betonung und damit der illokutiven Rolle eines Sprechaktes hinweist. 74 Die Regieanweisungen beanspruchen in En
72
Austin, John L., Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1972, S. 35ff.
73
»Das kann im Einzelfall von Nutzen sein; aber je differenzierter sich soziale Formen und Verfahren entwickeln, desto nötiger wird die Klärung.« Austin, a.a.O., S. 92.
74
Austin, a.a.O., S. 94 und 97. Der illokutive Akt bestimmt den Sprechakt in Hinblick auf seine kommunikative Funktion, z.B. als Frage und Aufforderung.
35
attendant Godot einen erheblichen Teil des Textes, tragen aber nicht unbedingt zur Klärung eines Handlungskontextes bei. Die abrupten Wechsel der Jahres- und Tageszeiten werden z.B. erst durch die Szenenanweisungen erzeugt, die mit ihrer scheinbaren Objektivität die akausalen Brüche in der stückinternen Zeit besonders betonen. Gegen Ende des zweiten Aktes dementiert Becketts Anweisung, »Entre à droite le garçon de la veille.« (DDI 196) sogar ausdrücklich die Beteuerung des Boten, Vladimir und Estragon nicht schon am Vorabend getroffen zu haben. Im Kontext der Regieanweisung behauptet der Junge also, sein eigener Bruder zu sein und trägt damit zur ungeheuren Verwirrung in dem Stück bei, statt sie zu klären. Da Godot wie viele andere Auditoren in Becketts Dramen szenisch nicht in Erscheinung tritt, sondern nur als implizit performative Aussage evoziert wird, hängt seine Bedeutung einzig vom Verhalten der Figuren ab. Eine performative Aussage besitzt »nur dann Realität, wenn sie als Handlung beglaubigt wird«,75 aber die zentrale Frage für En attendant Godot lautet: Wer oder was kann in der traumschweren Atmosphäre des Stücks einen plausiblen Kontext der Sprechakte garantieren? Im Gegensatz zu Austins Theorie »ernsthafter« Sprechakte können die performativen Aussagen in Becketts Dramen nicht nur nach standardisierten Fehlerquellen abgesucht werden. Die Aussagen der Figuren lassen sich nicht allein nach ihrer logischen und kontextuellen Plausibilität beurteilen, weil sie erstens tiefenpsychologische, ästhetische und religiöse etc. Diskurse parodieren, ohne sich an deren Regeln zu halten. Zweitens konstituieren die paradoxen Sprechakte erst die szenisch nicht präsenten Auditoren auf der Grenze zwischen Wirklichkeitsanspruch und Fiktion. Und drittens sind die Kausalitätsbrüche z.B. in Vladimirs Beobachterparadoxon Teil einer komplexen Wirkungsästhetik, die offensichtlich keine konventionelle Einrahmung von performativen Aussagen intendiert, sondern sowohl auf die Verunsicherung als auch auf die imaginative Koproduktion des Rezipienten abzielt. Die autoreferentielle Eigenart performativer Aussagen - sich auf eine Realität zu beziehen, die sie selbst hervorbringen - wird in En attendant
75
»Außerhalb der Umstände, die sie performativ machen, ist eine solche Aussage nichts mehr. Jeder Beliebige kann auf einem öffentlichen Platz ausrufen: >Ich verordne die allgemeine Mobilmachungendlose< Warten der >Tramps< auf eine zweifelhafte Basis. Selbst wenn eine Verabredung mit Godot existierte, wäre ihr Inhalt, Treffpunkt und Zeit so diffus (wie die Verwechslung Pozzos mit Godot zeigt), daß sich Vladimir als Sprachrohr Godots gebärden muß, um die Bedingungen des Treffens immer neu und anders hervorzubringen. Wie bei dem Spiel >Stille Postbeiden< Boten Godots verleiht dem Warten auf ihn jenen irritierenden Anschein von Objektivität, der einem reinen Gedankenspiel zu widersprechen scheint. Auch das Christentum beruht nicht auf der unmittelbaren Gottesschau jedes Gläubigen, sondern auf dem Vertrauen in Christus, die Propheten und die Kirchenväter als >Boten< Gottes. Ob Godots >Boten
esse est percipiFlucht< verkündet (»II nous punirait«, s.o.), spielt er sich als Platzhalter des obskuren Godot auf, der seinerseits als Stellvertreter Gottes fungiert - eine logische Hierarchie aus lauter Phantomen, die nur Vladimirs Autoritätsanspruch begründet. Jeder Versuch Vladimirs, sich mit seinem Wissensvorsprung als Popanz aufzuspielen, scheitert aber ironischerweise an dem Auditor selbst, der ihm im Beobachterparadoxon eine träumerische Erkenntnisblindheit attestiert. Das entscheidende Problem liegt nicht in der Absurdität des Wartens, sondern im Skeptizismus der Figuren, der sich als paradoxe Prämisse in allen Sinnstiftungen fortwährend selbst reproduziert. Die Auditoren repräsentieren sowohl ein Freiheitsversprechen als auch eine Form von Fremdherrschaft: Denn einerseits steht Godot für die Utopie eines sorglosen Lebens in einer erkennbaren Wirklichkeit. Andererseits läßt er Vladimir und Estragon in ihrem unerlösten Höllendasein ausharren. Gerade weil der >träumerische< Erkenntniszweifel das unbezwingbare Verlangen nach einer sinnvollen Einrahmung des unüberschaubaren Lebens weckt, werden die Figuren von dem apodiktischen Wahrheitsanspruch der Auditoren angezogen. Anders gesagt: Die als defizitär empfundene Existenz entwickelt eine Appellstruktur, die durch die Sinnsuche bzw. Sinnstiftung mit Hilfe von Auditoren automatisch >beantwortet< wird. Trotz seiner Ausbruchsversuche ist auch Estragon in diesem Skeptizismus gefangen, da er sein ganzes Leben als Umherirren in einer undifferenzierbaren »Sandwüste« beschreibt. Gogos Vorschlag, Godot fallen zu lassen, ist nur eine Ausflucht wie sein dauerndes Schlafbedürfnis auch, denn an jedem anderen Ort würde ihn die gleiche epistemologische >Wüste< erwarten. Die logische oder psychologische Abwertung des selbstbezüglichen Wartens als »absurd« wird deshalb En attendant Godot nicht gerecht, da sie die Erkenntnisproblematik (im Widerspruch zu Becketts kunsttheoretischen Schriften) als prinzipiell gelöst ansieht. Um die stückbestimmende Funktion der Erkenntnisproblematik treffender beschreiben zu können, soll im Folgenden die Frage der Perspektive genauer erörtert werden. Kurz vor dem Beobachterparadoxon provoziert Vladimir mit seinem unbefriedigten Wissensdrang Pozzos berühmt gewordenen Monolog über die Zeit: »[...] un jour nous sommes nés, un jour nous mour-rons, le même jour, le même instant, ça ne vous suffit pas? Plus 45
posément. Elles accouchent à cheval sur une tombe, le jour brille un instant, puis c'est la nuit à nouveau.« (DDI 194). Pozzos Allegorie der augenblickhaften Existenz vor dem Hintergrund der »galoppierenden Nacht« ist das Echo auf eine ähnliche Bemerkung aus dem ersten Akt. Angesichts des abrupten Wechsels vom Tag zur Nacht spricht Pozzo mit zitternder Stimme vom nächtlichen Dunkel, das sich wie ein wildes Tier oder der Tod auf den Menschen stürzt, wenn er es am wenigsten erwartet.88 Pozzo schwankt in seiner Bewertung der Zeit zwischen einem ängstlichen Ausgeliefertsein und einer scheinbar unbeteiligten Sachlichkeit: Aus den >Höhen< des auditorialen Überblicks konstatiert er eine ausgeglichene Bilanz des Lachens und Leidens in der Welt, als wäre er Vladimirs angenommener Beobachter in Person.89 Vladimir übernimmt nach Pozzos Abtritt dessen Bild von der Geburt rittlings über dem Grabe; aber er kann sich den angemaßten auditorialen Blick nicht dauerhaft zu eigen machen: »A cheval sur une tombe et une naissance difficile. Du fond du trou, rêveusement, le fossoyeur applique ses fers. On a le temps de vieillir. L'air est plein de nos cris.« (196).
Vladimir stellt Pozzos teilnahmslosem Herabblicken auf den Menschen eine empathische Sichtweise entgegen. Während Pozzo von den Moribunden in der dritten Person Plural redet, als gingen sie ihn nichts an, spricht Didi von »unseren Schreien« - er sieht und hört dem Sterben im »Beinhaus« (vgl. Anm. 35) aus der Perspektive eines Betroffenen zu. Demgegenüber fokussiert Pozzo das ganze Leben auf einen fernen Lichtpunkt, der im Moment von Geburt und Tod zugleich aufleuchtet. Dieser Blitz geht notwendig in der schnellen Geschlechterfolge von Lebenslichtern unter. Pozzos Allegorie der rasenden Vergänglichkeit macht aus dem unruhigen An und Aus individueller Existenzen ein gleichmäßiges Brennen der ewigen Lebensflamme. Nach dem Prinzip des Stroboskops verschmelzen die kurzlebigen Lichter zu einer »Gegenwart ohne Ende« (vgl. Kap. 1.2), die der metaphysische Blick im Werden und Vergehen zu erkennen glaubt. Vladimir und Pozzo 88
»Pozzo: [...] la nuit galope - la voix se fait plus vibrante - et viendra se jeter sur nous
89
Pozzo behauptet, daß »die Tränen der Welt unvergänglich« (DDI 65) sind: »Pour
[...] au moment où nous y attendrons le moins.« (DDI 76). chacun qui se met à pleurer, quelque part un autre s'arrête. Il en va de même du rire.« (DDI 64). Die steigende Bevölkerungszahl, »II est vrai que la population a augmenté« (ebd.) wird Lucky zufolge »mit einem glatten Verlust pro Nase seit Gottscheds Tod von zwei Finger hundert Gramm pro Nase« (DDI 93) ausgeglichen.
46
nähern sich dem Phänomen der Vergänglichkeit also von den verschiedenen Blickrichtungen des Sterbenmüssens und des unbeteiligten Sterbenlassens. Aus den Höhen göttlicher Apathie oder Schopenhauers ewigem Weltauge fällt nicht der individuelle Tod ins Gewicht, sondern nur das »Gewimmel von Fleisch, das nie tot ist« (vgl. Kap. 1.2). Aber Pozzo ist nicht wirklich zum transzendenten Auditor geworden, sondern zitiert diese Anschauungsform lediglich, während er sich selbst auf dem Weg zwischen Geburt und Tod befindet. Mit dem Kommando »En avant« (DDI 194) am Ende seines Monologs scheint er die Vergänglichkeit antreiben zu wollen, beginnt aber tatsächlich nur die nächste Runde seiner Sinnsuche. Zwei Sätze nach seiner Variation der »Geburt rittlings über dem Grabe« erscheint Vladimirs Beobachterparadoxon als Echo auf Pozzos auditorialen Blick. Auch die anderen Figuren scheinen das Los der immer gleichen Menschheitsgeschichte zu teilen: Estragon fleht, Didi solle ihn wie Abel oder »Billionen andere« erschlagen,90 und Pozzo scheint Kain und Abel in Personalunion zu verkörpern.91 Die Figuren scheinen weniger individuell zu handeln als biblischen Archetypen zu folgen. Der Wiederholungszwang gilt auch für die Sprechmuster der Figuren, wie Vladimirs Beobachterparadoxon zeigt: Eine interne Reproduktionsregel macht die Aussage scheinbar unabhängig vom Willen ihres Sprechers: 1) Bringe mittels einer Sprechhandlung einen Auditor hervor, der über Dein Erkenntnisvermögen urteilt. 2) Revidiere und reformuliere den ersten Sprechakt aufgrund der daraus resultierenden Erkenntnislage. 3) Revidiere und reformuliere den zweiten Sprechakt aufgrund seines Ergebnisses etc. Obwohl Vladimir den Rückkopplungseffekt schon im zweiten Schritt abbricht, wird die Funktion des Sprechakts als Programm deutlich, in das die Ergebnisse jedes Durchlaufs als neue Daten eingegeben werden. Der automatische Ablauf des Beobachterparadoxons wird von vier Faktoren angetrieben: Erstens urteilt der Satz, »Moi aussi, un autre me regarde, en se disant, il dort, il ne sait pas, qu'il dorme.« (DDI 196), nicht nur kritisch über Didis Erkenntnisvermögen, sondern letztendlich auch über seine Inkompe-
90
»Estragon: Pour bien faire, il faudrait me tuer, comme l'autre. / Vladimir: Quel autre? Un temps. Quel autre? / Estragon: Comme des billions d'autres.« (DDI 128)
91
»Vladimir: Je te dis qu'il s'apelle Pozzo. / Estragon: C'est que nous allons voir. Il réfléchit. Abel! Abel! / Pozzo: A moi! / Estragon: Tu vois! / Vladimir: Je commence à en avoir assez de ce motiv. / Estragon: Peutêtre l'autre s'apelle Cain. Il apelle: Caïn! Caïn! / Pozzo: A moi! / Estragon: C'est toute la humanité.« (DDI 178).
47
tenz als »schlafender« Sprecher. Geht man dem negativen Urteil nach, dann löst es einen selbstverstärkenden Prozeß der Derealisation aus, den Didi in seiner Verwirrung gerade noch unterbinden kann. Zweitens stellt das auditoriale Urteil nicht nur Vladimirs Sprecherkompetenz in Frage, sondern untergräbt damit auch die Gültigkeit der Aussage selbst. Ein Satz, der über sich selbst urteilt, ist aber paradox und entwickelt durch die unwillkürliche Rückkehr einer Paradoxie zu ihrem Ausgangspunkt eine eigene Dynamik (vgl. Kap. 1.5). Drittens hängt der Sinn eines implizit performativen Sprechakts (wie Vladimirs Aussage über seinen Auditor) von seiner aktuellen Einrahmung ab. Das Perfomativ ist extrem sensibel gegen Veränderungen der Sprechsituation, wie sie das auditoriale Urteil auslöst, und fordert daher implizit zur (immer neuen) Kontextualisierung auf. Als Traditionen sind die Sinnsuche und das Wahrgenommenwerden durch Gott/Godot unabhängig von bewußten Entscheidungen der Figuren. Sobald sie ihr geistesgeschichtliche Erbe antreten, setzt sich die Überlieferung von Sprechen, Denken und Verhalten durch die Figuren automatisch fort. Das Beobachterparadoxon zeigt die Ohnmacht in einem selbstreproduktiven System: Die Figuren büßen angesichts der übermächtigen Imperative ihren Subjektstatus ein - Vladimir kann seine Entmündigung durch den angenommenen Auditor gerade noch abwenden. Insgesamt finden die Figuren jedoch nicht zu der Entscheidungsfreiheit, ihre diversen Rückkopplungsprozesse anzuhalten. Indem sie eine Beobachterperspektive einnehmen, können die dramatis personae zwar ihre Ohnmacht und Unmündigkeit kurz reflektieren. Aber im Gegensatz zum metaphysischen Blick erhebt sie die auditoriale Perspektive nicht über ihre Zwänge. Den Figuren wird lediglich bewußt, daß sie vorgefertigte Phrasen und Verhaltensmuster wiederholen. Nur ein Wunder oder ein Wiederholungsfehler kann sie (vorübergehend) aus den Zirkeln und Spiralen erlösen.
1.5
Träumende Sprechautomaten - kurzer Exkurs zur Paradoxie
Die Figuren in En attendant Godot verhalten sich wie Schlafwandler in einem kollektiven Traum. Da Träume unwillkürlich sind, ist das Geschehen auch dann nicht zu beeinflussen, wenn man wie Vladimir ahnt, daß man 48
träumt. Die traumwandlerische Existenz schließt Wahrnehmung, Bewußtsein und Ohnmacht automatisch ein und macht den traditionellen Handlungsbegriff einer »absichtsvoll gewählte(n), nicht kausal bestimmte(n) Überführung einer Situation in eine andere«92 für En attendant Godot weitgehend hinfällig. Auch Manfred Pfisters Ansatz, das monotone Dramengeschehen als »selbstzweckhaftes Spiel« zu beschreiben, wird dem Figurenverhalten in En attendant Godot nicht gerecht.93 Denn als autonome Spieler müßten die Figuren die Regeln des Spiels oder wenigstens dessen Anfang und Ende bestimmen können - und würden damit die ihnen abgesprochene Handlungsfähigkeit beweisen. Wie das Kapitel über Fin de partie zeigen wird, macht der Spielbegriff in Anwendung auf Becketts Dramen nur Sinn, wenn man die dramatis personae als Spiel- oder Schachfiguren versteht, die nicht willentlich spielen, sondern gespielt werden - ohne grundsätzlichen Einfluß auf die Regeln zu haben. Nicht nur Didis Sinnstiftung mit Hilfe von Auditoren, sondern auch Luckys Denknummer und Pozzos Bewegungsdrang laufen automatisch ab. Während Vladimir jedoch weiß, daß er und Estragon wie Bettler auf die Erlösung von ihren Wiederholungszwängen warten (»Notre rôle? Celui du suppliant.«; DDI 30), besteht Pozzos Hybris vor allem darin, sich im ersten Akt als handlungsmächtiger Herr aufzuführen. Obwohl er sich mit seiner göttlichen Abstammung brüstet (»D'origine divine!«, DDI 40), ist er mit seinem >Knecht< in einer synchronen Such- oder Fluchtbewegung gefangen. Wie das Warten auf Godot scheint sich auch die Kreisbewegung von Herr und Knecht mit der Zeit zur Spirale zu entwickeln.94 Unverändert bleibt bei
92 93
Pfister, Manfred, Das Drama, München 1988 (7. Aufl.), S. 269. »In Waiting for Godot, Endgame
und Happy Days ist die Unveränderbarkeit der
Situation, in der sich die dramatis personae
befinden, eine ihnen schon zur Selbstver-
ständlichkeit gewordene Prämisse, und ihre permanenten verbalen und gestischen Beschäftigungen zielen von vornherein nicht mehr auf situationsveränderndes Handeln ab, sondern sind zum zeitvertreibenden Spiel verkommen. Das Geschehen nimmt hier also die Form eines Spiels an, das selbstzweckhaft und ziellos in sich kreist.« Pfister, a.a.O., S. 271. Vgl. Ders., (Hrsg.), Nachwort zu Samuel Beckett, Waiting for Godot, A Tragicomedy in two acts, Stuttgart 1987, S. 121ff. 94
Vladimir sagt nach dem Auftritt von Lucky und Pozzo im ersten Akt: »Iis ont beaucoup changé« (DDI 102). Das zwanghafte Umherirren hat kein erreichbares Ziel, sondern führt dreimal zu Vladimir und Estragon zurück. Herr und Knecht nähern sich tendenziell der Immobilität der beiden >Tramps< an, wenn man Pozzos (behauptete) Blindheit und Luckys Verstummen als Anzeichen des körperlichen Verfalls deutet.
49
allen Wandlungen jedoch die Paarbindung der Figuren. Nach dem Motto, »Nec tecum nec sine te«, 95 sind die Bühnenpaare aneinander gebunden und teilen ein Abteil oder »compartiment« (vgl. Anm. 12) im leeren Höllenraum. Die Fixierung auf den Partner erinnert an Figuren in einem Wetterhäuschen, die nicht voneinander lassen können, eben weil sie (oft) automatisch das Gegenteil voneinander tun. Der konträre Bezug auf den Partner ist stärker als die Folgerichtigkeit des individuellen Figurenverhaltens: Obwohl sich Vladimir z.B. selbst als Bittsteller bezeichnet (s.o.), empört er sich wenig später über Estragons Betteln nach ein paar Knochen aus Pozzos Mahlzeit. Wiederholt sind Becketts Bühnenpaare als Verkörperungen einer cartesianischen Körper-Geist-Dualität gedeutet worden. Horst Breuer sieht z.B. »in Pozzo und Lucky das materielle und das spirituelle Prinzip im Menschen repräsentiert«, 96 die untrennbar aneinander gekettet sind. Während Lucky in seinem Denkmonolog »immer noch den Versuch einer Formulierung der conditio humana durchschimmern läßt«, 97 erscheint Pozzo in dieser Lesart als »der wohlgenährte Tyrann, das Körperwesen« (ebd.) — er steht also für eine »conditio bestialis«. H. Breuer geht in seiner Deutung von einer Dominanz des Körpers über den Geist aus, die er in dem Herr-KnechtVerhältnis von Pozzo und Lucky verwirklicht sieht: »Die Materie wird zum führenden Prinzip.« (ebd.). Einige Kapitel zuvor hatte der Interpret allerdings Lucky als »Tier-Monster« beschrieben - »in seiner Emotionalität stumpf und verödet, in seiner Intelligenz idiotisch« 98 - das als Last- und Zugtier dient und deshalb von Pozzo zu Recht als »pig« angeredet wird. Demgegenüber versteht Martin Esslin Becketts Figuren als »Verkörperungen grundsätzlicher menschlicher Verhaltensweisen«. 99 Die wechselnden Rollen der Figuren lassen sich jedoch nicht auf Allegorien festlegen; weshalb ein funktionales Verständnis des Figurenverhaltens sinnvoller 95
Beckett schrieb 1957 an den Regisseur Alan Schneider: »Hamm as stated, and Clov as stated, together as stated, nec tecum nec sine te, in such a place, in such a world, that's all that I can manage, more than I could.« In: Cohn, Disjecta, a.a.O., S. 109.
96
Breuer, Horst, Samuel Beckett, Lernpsychologie und leibliche Determination, München
97
Breuer, H., Samuel Beckett, a.a.O., S. 167.
98
Breuer, H., Samuel Beckett, a.a.O., S. 94.
1972, S. 166.
99
» Pozzo und Lucky, Vladimir und Estragon sind keine Individuen, sondern Verkörperungen grundsätzlicher menschlicher Verhaltensweisen; man könnte sie mit den personifizierten Tugenden und Lastern in mittelalterlichen Moralitäten oder spanischen autos sacramentales
50
vergleichen.« Esslin, Das Theater des Absurden, a.a.O., S. 74.
erscheint. Esslin deutet Didi und Gogo auch als »Komikerpaar der englischen music hall mit ihrem cross talk - einem Dialog aus schnell hinund herflitzenden Repliken [...].«.100 Wenn man diese Auslegung des Paarmotivs aus dem historischen Zusammenhang löst, können Vladimir und Estragon als Verkörperungen der dramatischen Wechselrede verstanden werden. Die Figuren sind auf Wortwechsel programmiert und sind sich auch der Theatersituation bewußt, die in den Regieanweisungen von En attendant Godot konzipiert ist. Estragon läuft zum Beispiel gegen die Dekorationen, und Vladimir verschwindet in einem Klo hinter den Kulissen. Die dramatis personae agieren nicht nur als Schauspieler und Zuschauer, sondern beziehen sich direkt auf ihre theatrale Situation. »Estragon: Es ist schrecklich. / Vladimir: Wie im Theater.« 101 Um die Struktur der medialen Selbstreflexionen zu klären, ist ein kurzer Exkurs zur Paradoxie notwendig: Indem sich die dramatis personae ihre Rollen als Theaterfiguren bewußt machen, vertauschen sie vorübergehend die interne mit der externen theatralen Kommunikation. Der Perspektivenwechsel von der Rollenfigur zum Publikum ihrer selbst überschreitet nicht nur die Grenzen des Illusionstheaters, sondern auch die der Selbsterkenntnis. Am Beispiel des Beobachterparadoxons wurde schon angedeutet, daß Aussagen »über« sich selbst nicht logisch höherstehend, sondern selbstbestätigend bzw. paradox sind. Vladimir versucht, die Gleichursprünglichkeit von Beobachter und Beobachtetem oder Subjekt und Objekt zu kaschieren, indem er eine scheinbar unhinterfragbare »Quelle« des Sprechens angibt. Wie leicht sich jede Aussage durch eine diffuse Herkunftsbezeichnung beglaubigen läßt, zeigen nicht nur die angenommenen Auditoren in En attendant Godot, sondern auch ein Beispiel aus Austins Sprechakttheorie: Um die verbindliche Anwesenheit des Sprechers in seiner Unterschrift zu verdeutlichen, benutzte Austin eine ungewollt (!) paradoxe Hinweistafel als 100
Esslin, a.a.O., S. 40.
101
Schwanitz vergleicht die Spielsituation mit einer Theatersituation: »es trifft ebenso auf die realen Schauspieler wie auf die von ihnen dargestellten Figuren zu, daß sie warten müssen, daß sie die Bühne nicht vor Ende des Abends verlassen dürfen, daß sie auch am Vortage hier gewesen waren, daß sie nicht weit weggehen dürfen, weil sie am folgenden Tage wieder auf Godot warten müssen, daß sie Pozzo und Lucky auch schon vorher gesehen haben, daß sie sich neue Spiele einfallen lassen müssen, um die Zeit zu vertreiben, daß sie Angst haben, daß ihnen ihr Repertoire ausgeht, daß sie deswegen verloren wären, wenn einer den anderen verließe«. Ders., Die Wirklichkeit nierung und die Inszenierung
der Wirklichkeit,
der
Insze-
Meisenheim am Glan 1977, S. 258.
51
Vorbild für eine (eben nur scheinbar) geglückte Sprechhandlung (Abb. I). 102 Zum Vergleich steht daneben Gregory Batesons Beispiel für eine typische Paradoxie (Abb. 2), in der ein Ich »über« sich selbst spricht:103 Gefährlicher Stier
Alle Behauptungen innerhalb
gez. Hans Hansen
dieses Rahmens sind unwahr.
Abb. 1
Abb. 2
Batesons Beispiel (Abb. 2) ist wahr und falsch zugleich, da es in seiner Tiefenstruktur zwei widersprüchliche Aussagen enthält: die erste als Element innerhalb des Rahmens und die zweite als Klasse aller Äußerungen in dem Rahmen. Die zweite Aussage befindet sich auf einer logisch höheren Ebene, weil sie eine Aussage über eine andere Aussage darstellt und heißt deshalb Meta-Aussage. Nach der logischen Typenlehre von Russell und Whitehead entsteht eine Paradoxie aber genau dann, wenn eine Klasse von Elementen sich als Element selbst enthält.104 In diesem Fall heißt das, daß die MetaAussage wahr ist, wenn sie als Aussage falsch ist - und umgekehrt. Da Aussage und Meta-Aussage aber identisch sind, negiert sich der Sprechakt selbst. In Austins Beispiel (Abb. 1) liegt der Fall ähnlich: Die Unterschrift widerspricht zwar nicht der implizit performativen Aussage (die explizit umformuliert werden kann: »Ich, Hans Hansen, warne jeden vor dem gefährlichen Stier«), Als Beglaubigungsgeste müßte die Unterschrift jedoch auf einer höheren logischen Ebene stehen, da sie eine Meta-Aussage über die Glaubwürdigkeit der Warnung darstellt. Da Hans Hansens Autorität aber nicht durch eine amtliche Funktion oder einen besonderen Titel seinerseits beglaubigt wird, ist die Aussage nach den Worten Emil Benvenistes »bloße Rede [...] Geschrei, Kinderei oder Verrücktheit.« (vgl. Anm. 75). Die Unterschrift steht zu Recht nicht über, sondern in dem Rahmen, den sie als Meta-Aussage bzw. Klasse aller Aussagen innerhalb des Rahmens logisch erst definieren müßte. Da sich die Unterschrift über die Warnung zu erheben versucht, aber ohne Beleg auf deren Ebene zurückfällt, kann der Auf- und Abstieg als paradoxe Kreisbewegung beschrieben werden, die 102
Austin, Zur Theorie der Sprechakte, a.a.O., S. 82.
103
Bateson, Gregory, Ökologie des Geistes,
Anthropologische, psychologische, biologi-
sche und epistemologische Perspektiven, III. Teil, Eine Theorie des Spiels und der Phantasie, Frankfurt am Main 1983, (Original 1935 - 1972), S. 249ff. 104
Russell, Bertrand und Whitehead, Alfred North, Principia 1967 (Original 1 9 1 0 - 1 9 1 3 ) , S. 37ff.
52
Mathematica,
Camebridge
selbsttätig zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt. In En attendant Godot spielt u.a. der >running gag< des ständigen Hinfallens und erneuten Aufstehens aller Figuren mit der komischen Wirkung des ziellosen Auf und Ab. Die clowneske Pantomime parodiert besonders im zweiten Akt jeden Fortschrittsglauben, indem sie die Figuren auf der Stelle rotieren läßt. Auch die Paradoxie erweckt den Anschein einer linearen Progression innerhalb logischer Hierarchien, weist aber nur auf ihre widersprüchlichen Voraussetzungen zurück und kommt in ihrer zirkulären Struktur nicht wirklich von der Stelle. Vladimirs Lied vom Hund ist ein weiteres Beispiel für diese Kreisbewegung, an dem sich der Unterschied zum Beobachterparadoxon und dem Warten auf Godot verdeutlichen läßt: Un chien vint dans l'office
Les autres chiens ce voyant
Il
Et pris une andouillette.
Vite vite l'ensevelirent...
reprend:
s'arrête,
se
recuille,
puis
Alors à coups de louche
Les autres chiens ce voyant
Le chef le mit en miettes.
Vite vite l'ensevelirent Au pied d'une croix en bois blanc Où le passant pouvait lire:
Un chien vint dans l'office
Les autres chiens ce voyant
Il s'arrête. Même jeu.
Et pris une andouillette.
Vite vite l'ensevelirent...
Les autres chiens ce voyant
Alors à coups de louche Le chef le mit en miettes.
Vite vite l'ensevelirent... Il// s'arrête.
Même jeu.
Plus
bas: Vite vite l'ensevelirent...
Nachdem Vladimir den zweiten Durchlauf des Hundeliedes (DDI 118) kurz vor dessen Ende abgebrochen hat, geht er »in fieberhafter Eile« (DDI 119) auf der Bühne hin und her - wie schon beim Warten-Spiel zuvor und danach im Beobachterparadoxon. Didi scheint begriffen zu haben, daß das Lied seine eigene Fortsetzung gebiert, da dessen Ende implizit zur erneuten Wiedergabe auffordert. Wahrscheinlich ist es die ohnmächtige Angst vor diesem Automatismus, die ihn wenig später Estragons Vorschlag, etwas zu singen, ablehnen läßt. Vladimir nennt aber bei dieser Gelegenheit den Wiederholungsmechanismus des Liedes beim Namen: »On n'a qu'à recommencer.« (DDI 130). R. Breuer beschreibt die Liedstruktur als Kopie bzw. Kopie einer Kopie etc., die in ihrer Verschachtelung eine logische Hierarchie aufweisen soll, in der die äußere »Zwiebelschale« als Meta-Ebene alle darin
53
liegenden Elemente und weiteren Ebenen enthält: »a(a((a(((a...))) )) ).« 105 Mit jeder Wiederholung erscheint der Ausgangspunkt des Liedes immer zufälliger, da sich neue Strophen auch zu Beginn des Liedes anfügen ließen. Der Anfang des potentiell unendlichen Kreisgesangs ist durch keine Startmarkierung von anderen Durchgängen unterschieden und könnte (genau wie das erste »On attend Godot«) selbst eine Wiederholung sein. Die totale Symmetrie aller Durchläufe führt jedoch R. Breuers These der logischen Ebenenhierarchie ad absurdum, da die >Meta-Ebene< der ersten beiden Strophen in nichts von den weiteren Sequenzen differiert, die sie als Elemente einschließen soll. Wenn die Klasse der Elemente aber nicht von den Aussagen zu unterscheiden ist, die sie logisch enthalten soll, dann liegt eine typische Paradoxie wie in Austins und Batesons Beispielen vor. R. Breuer kennzeichnet die verschiedenen Durchläufe des Lieds in seiner formalisierten Wiedergabe mit Hilfe von Klammern, welche die Hierarchie der jeweiligen Verschachtelungsebene kennzeichnen. Entscheidend ist aber, daß diese Indikatoren in Vladimirs Liedtext fehlen, weshalb dessen logische Struktur im Stück genau wie das Hundelied wiederholbar und damit erwartbar ist. Dagegen verändern sich das Beobachterparadoxon und das Warten auf Godot unter dem Einfluß der Zeit und entwickeln sich potentiell unvorhersehbar. Obwohl die genannten reversiblen Strukturen und irreversiblen Prozesse unterschiedlich verlaufen, ist ihre Fortsetzung jeweils von den ausführenden Figuren abhängig. Diese sind jedoch störanfälliger als Maschinen und nur zu einer beschränkten Anzahl von halbwegs exakten Reproduktionen in der Lage. Mit Irrtümern, Irritationen und Nonsens unterlaufen sie die Wiederholungszwänge des Stücks. Luckys Denknummer kommt zum Beispiel über die Prämissen einer Weltformel nicht hinaus und enthält anstelle von Schlußfolgerungen nur sinnlose Wortreihen und Stotterlaute. Das »kwakwakwa-kwa« (DDI 89) im Anschluß an die »Existenz eines persönlichen Gottes« (ebd.) veralbert nicht nur den Gottesbeweis, sondern zeigt Luckys Unfähigkeit, die Paradoxie eines selbstbegründenden Gottes zu denken. Aufgrund der unauflösbaren Kausalitätsbrüche setzt das Denken einen Moment aus, springt aber nach wiederholtem Stammeln wieder auf kausallogischen >Normalbetrieb< zurück. Auch die Wechselreden sind störanfällig, da die Figuren vom Stichwort ihres >Gesprächspartners< abhängig sind, um weitersprechen zu können: 105
54
Breuer, R., Die Kunst der Paradoxie, a.a.O., S. 129.
»Voyons, Gogo, il faut me renvoyer la balle de temps en temps.« (DDI 16). Im Idealfall gibt ein Stichwort ein neues Thema vor, zu dem weitere sprachliche Versatzstücke abgespult werden können. Didi weiß aber selbst, daß sich »im Grunde nichts ändert« (DDI 37), weshalb seine Voraussage, daß das Repertoire des Tages bald erschöpft sei, 106 auch für die Wechselrede gilt. Die Redewendungen, die sich figurenübergreifend durch En attendant Godot ziehen, lassen die dramatis personae nicht als profilierte Charaktere, sondern als austauschbare Sprechautomaten erscheinen. In unzähligen Textechos rekapitulieren sie ihren Vorrat an weltanschaulichen Allgemeinplätzen, um den Wortwechsel wie einen Ballwechsel in Schwung zu halten. Estragon betont, daß er und Vladimir auch bei vollem Bewußtsein ihrer Wortschinderei nicht schweigen können und nennt den Sprechzwang ohne explizite Aussageabsicht »Konversation machen«. 107 Die Unfähigkeit, ruhig zu bleiben, teilen Didi und Gogo mit »all den toten Stimmen«, die sie zu hören meinen. Der unausgesetzte Sprachstrom oder das Stimmengewirr der »voix mortes« (DDI 128) entspringt deren Zwang, auch post mortem über ihr Leben zu reden. 108 Diese körperlosen Stimmen werden in den Hörspielen und späten Stücken auch für den Rezipienten hörbar und markieren als Trennung von Stimme und Körper einen entscheidenden Einschnitt in Becketts Werk (vgl. Kap. 3). Festzuhalten bleibt hier, daß die Figuren mit ihrem Sprechzwang auf Stimmenhalluzinationen reagieren, die sie selbst weder ruhen noch schweigen lassen. Die Textechos können daher potentiell auf das Stimmengewirr der »voix mortes« ausgedehnt werden, die als szenisch nicht vernehmbare Sprecher den Geisterchor der szenisch nicht wahrnehmbaren Auditoren vermehren. In diesem universalen Sprachstrom droht die Figurenrede unterschiedslos unterzugehen, weil es wenig Neues unter der Sonne zu sagen gibt. 109 106
»Vladimir: Mais ce n'est pas pour rien que j'ai vécu cette longue journée et je peux vous assurer qu'elle est presque au bout de son répertoire. A part ça, comment vous sentez-vous?« (DDI 182).
107
»Estragon: En attendant, essayons de converser sans nous exalter, puisque nous sommes incapables de nous taire.« (DDI 128).
108
»Silence / Vladimir: Que disent-elles? / Estragon: Elles parlent de leur vie. / Vladimir: Il ne leur suffit pas d'avoir vécu. / Estragon: Il faut qu'elles en parlent. / Vladimir: Il ne leur suffit pas d'être mortes. / Estragon: Ce n'est pas assez. Silence.«
109
In dem Aufsatz Peintres de L'empêchement
(DDI 130).
schreibt Beckett über das Verhältnis von
Wiederholung und Innovation: »Glücklicherweise geht es nicht darum, zu sagen, was noch nicht gesagt worden ist, sondern wiederzusagen, so oft wie möglich, auf
55
Auch wenn die immer gleichen Phrasen schon von unzähligen Vorgängern durchgekaut wurden, sind die Figuren dennoch gezwungen, wiederholend weiterzusprechen, »um nicht hören zu müssen.« (DDI 129). Der Versuch, das Stimmengewirr zu übertönen, verstärkt es jedoch. Vladimir und Estragon quälen sich durch die Wortwechsel, um sich im Rauschen der »voix mortes« als Sprecher selbst zu identifizieren. In der Reproduktion von Sprachmustern über Generationen hinweg reduziert sich das Aussagesubjekt aber auf seine reine Sprechfunktion. Eine Variation der Wiederholungsmuster scheint kaum möglich zu sein, denn Sprech- und Denkkonventionen vererben sich auch in Grammatik und Stil - obwohl diese so »hinfällig geworden« sind wie ein »Biedermeier Badeanzug«. 110 In einem deutschen Brief schrieb Beckett 1937: »Und immer mehr wie ein Schleier kommt mir meine Sprache vor, den man zerreißen muß, um an die dahinterliegenden Dinge (oder das dahinterliegende Nichts) zu kommen.« (ebd.). Die Aufgabe der modernen Literatur bestehe folglich darin, die »Schlünde von Stillschweigen« in einem »Pfad von Lauten« hörbar zu machen, um ein »Geflüster der Endmusik oder des allem zugrunde liegenden Schweigens spüren (zu) können.« 111 Damit das Schweigen hörbar wird, muß die Stimme verstummen - ein ästhetische »Programm« (ebd.), das in den Pausen von En attendant Godot realisiert ist: »Estragon: Toutes les voix mortes. Vladimir: Ça fait un bruit d'ailes. Estragon: De feuilles. Vladimir: De sable. Estragon: De feuilles. Silence« (DDI 128).
Durch Estragons >Fortsetzungsfehler< springt der Wortwechsel in die vorletzte Zeile zurück und wird dadurch zirkulär. Didi kann mit dem falschen Stichwort nichts anfangen und bricht die Wechselrede daher ab. Der Prozeß läuft so folgerichtig ab, daß er sich im Sprechen über die »voix mortes« noch zweimal wiederholt. Estragon ist jedesmal für die Pausen in der Konversation verantwortlich, da er für längere Wortwechsel offensichtlich zu
möglichst engem Raum, was schon gesagt worden ist.« Wenig später fährt er fort: »Und das beste Mittel, zu wissen, was man sagen will, ist, alle Tage dasselbe sagen zu wollen...« In: Engelhardt, Hartmut, Samuel Beckett, Frankfurt am Main 1984, S. 1 Iff. 110
Beckett, Samuel, German Letter of 1937, in: Cohn, Ruby, Disjecta,
111
Beckett, a.a.O., S. 53.
56
a.a.O., S. 52.
müde ist. Während Vladimir eifrig auf eine bruchlose Fortsetzung der Konversation bedacht ist, scheint Estragon die Pausen als Befreiungsmöglichkeit immerhin zu billigen. Auf Vladimirs Feststellung, daß das monotone Geschehen nun wirklich bedeutungslos werde, antwortet er: »Pas encore assez« (DDI 142). Weder die Lust an Nonsens, noch die >Fortsetzungsfehler< oder die Müdigkeit können allerdings etwas am Warten auf Godot ändern. Die Ohnmacht willentlicher Entscheidungen wird in En attendant Godot am Ende jeden Aktes vorgeführt, wenn sich Didi und Gogo zum Fortgehen entscheiden und dennoch dableiben. Keine entscheidungmächtigen Subjekte, sondern automatenhafte Neutra werden auch in Zukunft weiterwarten: »On attend Godot«. Doch vielleicht deutet sich die Zukunft der Sprechautomaten und des selbstbezüglichen aber nicht reversiblen Wartens in Luckys Denknummer an. Gegen Ende steigert sich sein Monolog zu einem Nonsens-Rap, der jeden logischen Fortschritt zunichte macht. Das einprogrammierte Wissen und Sprechen wird ohne sinnvolle Klassifizierung zu einem zusammenhangslosen Nebeneinander leerer Worthülsen. Pozzo versucht ordnend einzugreifen, indem er Luckys ersten Denkversuch abbricht, der antithetisch mit den Worten »Andererseits ist in Anbetracht...« (DDI 89) beginnt. Lucky setzt Pozzos Befehle »Zurück! [...] Halt!« (ebd.) in Körperbewegungen um, doch die Kommandos erinnern eher an das Zurückspulen eines Tonbands. Die Abhängigkeit von äußeren Impulsen führt das Denken als quälenden Dressurakt und monotone Reproduktion vor.112 Kurz bevor die Denknummer zum Kollaps führt, schaltet Vladimir den Sprechautomaten ab, indem er den Hut von Luckys Kopf zieht. Die Melone als Sitz des Denkvermögens siedelt Teile des Bewußtseins außerhalb ihres Trägers an und bindet das Sprechen bildhaft in eine figurenübergreifende Gesamtstruktur des Stückes ein. Die Parodie des konditionierten und fremdbestimmten Bewußtseins wird in En attendant Godot scheinbar nicht fortgeführt, da Lucky kein Wort mehr spricht, nachdem Pozzo seinen Hut zertreten hat: »Comme ça, il ne pensera plus!« (DDI 94). Der runde, steife Hut, den Lucky zum Denken gebraucht
112
Horst Breuer spricht von einer »[...] gesetzmäßig erfaßbaren Abhängigkeit der Denkvorgänge von äußeren Gegebenheiten, wie wir sie sonst nur bei Puppen oder Automaten zu erkennen geneigt sind.« Ders., Samuel Beckett,
Lernpsychologie und leibliche
Determination, a.a.O., S. 15. Er übersieht dabei aber die Abhängigkeit des Denkens von der Eigengesetzlichkeit der Sprache und den religiösen Paradoxien, wobei letztere zwangsläufig die Logik in Luckys Vortrag aufsprengen.
57
hat, ist in seiner Kopfform allerdings der Anlaß für eine weitere Varieténummer: Vladimir findet im zweiten Akt Luckys Melone und probiert sie auf, weil ihm sein eigener Hut nicht mehr paßt - und weil Luckys Kopfbedeckung vielleicht noch einen Rest des vorherigen Denkvermögens enthält. Vladimirs Neugierde löst einen hektischen Hutwechsel mit Estragon aus, der ihrem schnellen Austausch von Phrasen gleicht. Die Kreisbewegung beschleunigt sich immer mehr, bis aus dem Hutaufprobieren ein bloßes Herumreichen geworden ist. Mit dem Ergebnis, daß Vladimir seinen Hut gegen Luckys tauscht und Estragon den Anblick »gräßlich« findet - »genau so« wie immer (DDI 151). Das Spiel mit dem Hut als Denkattribut greift viele Themen der letzten Kapitel noch einmal auf: Die Weitergabe des Denk- und Sprechvermögens erscheint figurenübergreifend als automatenhafter Vorgang - der Einzelne ist nur ein auswechselbarer Träger der Sprache oder des Hutes: Luckys Verstummen wird von Vladimirs und Estragons Hutspiel und Wechselrede kompensiert. Der Einzelne lenkt weder das Geschehen noch überblickt er es (außer mit dem angemaßten auditorialen Blick), aber er ist ein notwendiger Motor der Ereignisse und ein Träger des Sprechens und Denkens, das sich in ihm reproduziert. Die Figuren erscheinen als Figurationen der Wechselrede und einer kulturellen Tradition, deren selbstbezüglicher Prozeßcharakter den Stückverlauf weitgehend bestimmt. Angesichts des übermächtigen Rahmengeschehens halten die Figuren an ihrer Paarbindung fest, da die gegenseitige Wahrnehmung einen Rest von Identität garantiert. Wie sich die theateranaloge Subjektkonstitution zwischen Spieler und Zuschauer verändert, wenn sich die Paare (vorübergehend) trennen, soll anhand von Fin de partie näher untersucht werden.
58
2. Fin de partie
»Jouer à être, pour exister un peu.« 1 Samuel Beckett
2.1 Endspiele ohne Ende Am Anfang von Fin de partie verschmilzt Hamms Körper mit den Konturen des Rollensessels. Als Clov das >alte Möbelstück< unter dem Schonbezug enthüllt, heißt es in der Regieanweisung: »[...] Hamm semble dormir.« (DDI 210). Während er auf sein Stichwort wartet, könnte sich Hamm genausogut schlafend stellen. Stummes Spiel hätte dann seinen Auftritt eingeleitet, bevor sein erster Satz mit einer Kunstpause beginnt: »... A [...] moi. Un temps. De jouer.«2 (DDI 212). Da Hamms Meditation über die Spielregeln das Endspiel beendet,3 bilden seine ersten und letzten Worte eine thematische Klammer, die zeigen, daß er ununterbrochen spielt: »La fin est dans le commencement et cependent on continue.« (DDI 292). Hamms erster Satz weist auf kein freiwilliges Spielen hin, sondern zeigt den Zwang, alte Nummern zu wiederholen.4 Da die Figuren das Endspiel weder beenden noch zu einer Außenwelt transzendieren können, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als weiterzuspielen. »Vieille fin de partie perdue« (DDI 312), nennt Hamm das Spiel, auf dessen Regeln die Figuren wenig oder keinen Einfluß haben. Das Endspiel scheint ein geschlossenes System ohne Ausweg zu sein. Clovs flehentlicher Ausbruchsversuch, »implorant: Cessons de jouer!« (DDI
1
Beckett über die Tätigkeit seiner Figuren zu Ludovic Janvier, in: Ders.: Beckett par luimême,
Paris 1969, S.173. Er wiederholte die Formel öfter während der Proben zu
Warten auf Godot am Berliner Schillertheater, vgl. Asmus, Walter D.: im Programmheft 2 3 4
der Inszenierung
Probentagebuch
(Samstag, 18.12.74).
In Fin de partie wiederholt Hamm die Spielanweisung noch zweimal (DDI 292, 312). »Puisque ça se joue comme ça [...] jouons ça comme ça... « (DDI 314). »Hamm: ...Also... er gähnt...
Ich bin wieder dran. Jetzt spiele ich!« (DDI 213) Der
auftrumpfende Sprachgestus in Elmar Tophovens Übersetzung evoziert die willentliche Entscheidung zu einem neuen Spiel, während das französische Original und Becketts sinngemäße Übersetzung ins Englische »Me - (he yawns) - to play.« (CDW 93) den schleppenden Einsatz in der x-ten Wiederholung des Spielenmiissens nahelegen.
59
304), wird von Hamm kategorisch abgelehnt: »Jamais!« (ebd.). Der Versuch, die Spielebene zu verlassen, scheitert an Hamms Veto, der die vorgeschlagene Meta-Kommunikation als Schwäche Clovs auslegt und sie in ein weiteres Machtspiel ummünzt. Der Blinde im Rollstuhl scheint den Dialog als Wettkampf aufzufassen und verbucht seine kleinen Siege als Punktgewinn.5 Die Spiellogik gibt ihm in diesem Fall Recht, denn Clovs Ausbruchsversuch scheitert an einer grundlegenden Paradoxie: Clov kann innerhalb des Spiels keine ernsthafte Aussagen über die Spielregeln machen. Regeldiskussion sind ausschließlich auf einer Meta-Ebene möglich, die nur zu erreichen ist, indem das Spiel endet. Jeder Versuch, das Endspiel zu beenden, setzt es aber automatisch fort, da die vermeintliche Regeldiskussion über das Spiel selbst als Spielzug erscheint. Wenn alle Aussagen in Fin de partie das Kommunikationssignal »Spiel« enthalten, dann wird die Rede ohne Negationsmöglichkeit differenzlos oder paradox, weil das Spiel alle gegenteiligen Begriffe wie Emst oder Realität miteinschließt.6 Clov ahnt die selbstbezügliche Logik in Fin de partie, ohne den Spielrahmen sprengen zu können.7 Nur eine höhere Macht oder ein außenstehender Betrachter kann das Endspiel scheinbar überschauen und ggf. beenden. Vorbild dieser externen Beobachterposition sind die namenlosen, gesetzgebenden und strafenden Auditoren jenseits des »Spielfelds«.8 Wie Vladimir
5
»Clov: Tu crois à la vie future? / Hamm: La mienne l'a toujours été. Clov sort en claquant la porte. Pan! Dans les gencives.« (DDI 268). Noch deutlicher in Becketts englischer Übersetzung: »CLOV: [...] Do you believe in the life to come? HAMM: Mine was always that. (Exit CLOV.) Got him that time!« (CDW 116).
6
Die Paradoxie eines Spiels ohne Differenz zur Wirklichkeit schließt einen traditionellen Spielbegriff aus, wie ihn z.B. Oliver Sturm auf das Endspiel anzuwenden versucht: »Wie jedes Spiel, so muß auch dieses (Spiel im Spiel) einen Anfang und ein Ende haben, die es gegen die Wirklichkeit abgrenzen und als Spiel ausweisen.« Ders., Der letzte Satz der letzten Seite zum letzten Mal, Der alte Beckett, Hamburg 1994, S. 32.
7
»Clov: tristement. Personne au monde n'a jamais pensé aussi tordu que nous.« (DDI 222). Die Ähnlichkeit zum double-bind ist auffällig, denn diese schizogene Kommunikationssituation darf weder verlassen noch diskutiert werden, vgl. Bateson, Gregory, Ökologie des Geistes, Anthropologische, psychologische,
biologische und epistemolo-
gische Perspektiven, Frankfurt am Main 1983, S. 353ff. 8
»Clov: Je me dis - quelquefois, Clov, il faut que tu arrives à souffrir mieux que ça, si tu veux qu'on se lasse de te punir - un jour. Je me dis - quelquefois, Clov, que tu sois là mieux que ça, si tu veux qu'on te laisse partir - un jour.« (DDI 310). Die Homophonie der beiden Sätze zeigt, daß sich Clov den angenommenen Auditoren
60
in En attendant
Godot gehen die Figuren von einem Wahrgenommenwerden
aus, ohne diese stückbestimmende Annahme weiter zu hinterfragen. In Analogie zur Herr-Knecht-Dialektik führt sich Hamm als Stellvertreter einer regieführenden, transzendenten Macht auf. 9 Er genießt seine Herrschaft in der Rolle eines Magister ludi ebenso, 1 0 wie er sich von Clov als Erzähler bewundern läßt. 11 Da Hamms Geschichte aber nur aus stilisierten Erinnerungen besteht, droht ihm in der ereignisarmen Gegenwart der Stoff auszugehen. 1 2 Der Ich-Erzähler auf dem Theater bestimmt also weder den Gang der Handlung noch die Stückperspektive, sondern ist nur eine Rolle unter anderen innerhalb der Spiellogik. Auch Hamms Veto gegen Clovs Ausbruchsversuch ist eine geschickte Affirmation des Unabänderlichen, das mit oder ohne seinen Willen automatisch weitergehen würde (und in den anderen Stücken Becketts weitergeht). Wie alle Figuren ist Hamm dem Imperativ eines Endspiels ohne Ende unterworfen: »Mais, qu'est-ce qui se passe, qu'est-ce qui se passe? / Clov: »Quelque chose suit son cours.« (DDI 224, 248). Er ist also nicht Herr der Lage, sondern bloß ein Schmierenkomödiant (ham-actor) in einem Spiel, dessen Regeln zwingend sind, ohne gänzlich bekannt zu sein. 1 3 Die Figuren nennen ihre Tätigkeit Spiel, obwohl
9
10
11 12
13
weniger reflexiv als assoziativ nähert, d.h. er kann ein Dasein außerhalb der Spiellogik weder wahrnehmen nocht kausal ergründen, sondern nur imaginieren. Hegels Herr-Knecht-Dialektik hat oft den Hintergrund für historisch-materialistisch orientierte Deutungen von Hamms und Clovs Verhältnis abgegeben, so besonders bei W. Gölter (1976) und U. Meier (1983). Alle Bühnenpaare Becketts vertreiben sich die Langeweile mit Machtspielen, so daß Günther Anders über die Herr- und Knechtrollen in Waiting for Godot sagen kann, daß sie nun den Platz einnehmen, »den im 19. Jahrhundert das Bild des Prometheus eingenommen hatte: es ist zum Bilde des Menschen überhaupt geworden«. Der mit den Göttern kämpfende Mensch sei nun durch ein Menschenpaar abgelöst worden, das miteinander um die Herrschaft kämpfe. Ders., Die Antiquiertheit des Menschen, Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1956, S. 228. Hamm beherrscht Clov als Moderator eines endlosen Dialogs, »Clov: Je te quitte. / Hamm: Non! / Clov: A quoi est-ce que je sers? / Hamm: A me donner la réplique.!...]« (DDI 280), und gibt Clov und sich selbst Regieanweisungen, z.B.: »Jeter. Il jette la gaffe [...].« (DDI 312). »Clov: admiratif. Ça alors! Tu as quand même pu l'avancer!« (DDI 280). »Hamm: Je n'en ai plus longtemps avec cette histoire. Un temps. A moins d'introduire d'autres personnages. Un temps. Mais'où les trouver?« (DDI 274). Ihre Neigung zu melodramatischen Selbstdarstellungen läßt die Figuren als derbkomische Mimen in der alltäglich improvisierten Kunst des Überleben erscheinen. Hamm 61
sie kaum Einfluß auf die Regeln haben und immer weiter spielen müssen ob sie dazu Lust haben oder nicht. Das Spiel ist als Zwangsarbeit ernst geworden und hat für die Figuren seinen Spielgeist verloren, der es als vergnüglichen und zugleich zwecklosen Zeitvertreib kennzeichnen würde.14 Aufgrund des Spielenmüssens könnte man die Figuren mit den Puppen eines Bauchredners vergleichen,15 die in einer Darbietung auftreten, welche unaufhaltsam ihren »Gang geht« (s.o.). Obwohl die Figuren wissen, daß sie spielen, können sie das >Spiel als Strafe< nicht beenden, indem sie wie Schauspieler aus ihrer Rolle treten. Auch potentielle Erinnerungen an ein Leben vor den Herr- und Knechtspielen existieren nur in Hamms Geschichte und verbleiben als fiktive Erzählung innerhalb der hermetischen Spiellogik. Indem Fin de partie das Puppenhaft-mechanische der Figuren betont, entzieht das Stück psychologischen Deutungen die Grundlage. Hamm wird in seinem Rollensessel wie ein Schachkönig hin- und hergeschoben, und Clov spielte früher als radelnder Bote Hamms Springer. Eine Ausgangsthese dieser Arbeit lautet daher, daß die Figuren nicht willentlich spielen, sondern eher wie Schachfiguren gespielt werden. Die Schachmetaphorik in Fin de partie ist oft bemerkt worden;16 die Figuren gehorchen Zug um Zug den Gesetzen eines Spiels oder Dialogs (vgl. Anm. 10), der sie auf der Bühne festhält. Entscheidend ist die Fremdbestimmtheit des Bühnengeschehens und die ohnmächtige Spielfigurenperspektive der dramatis personae: Hamm und Clov gleichen weniger Schachspielern als Schachfiguren, die weder den nächsten Zug noch das Stückgeschehen frei bestimmen können. Sie sind
parodiert sich selbst als äußerst matter Tragödienheld: »Peut-il y a... bâillements... y avoir misère plus... plus haut que la mienne?« (DDI 212). 14
Uri Rapp hat die Unterscheidung von Spielgeist und Spielstruktur näher ausgeführt: Ders., Rolle, Interaktion,
Spiel, Eine Einführung in die Theatersoziologie, Wien 1993,
S. 97. Wie in einer Anleitung für Schauspieler beschreibt Hamm den fließenden Übergang zwischen Spiel und Ernst als Rückwirkung einer scheinbar äußerlichen Körperhaltung auf das Bewußtsein: » [...] On pleure, on pleure, pour rien, pour ne pas rire, et peu à peu... une vraie tristesse vous gagne.« (DDI 292). 15
In den textes pour rien vermutet der Erzähler: »[...] was ich auch sagen mag, es wird falsch sein und es wird übrigens nicht von mir sein, ich bin hier nur eine Bauchrednerpuppe, ich fühle nichts, ich sage nichts, er hält mich in seinen Armen und bewegt meine Lippen mit einer Schnur, mit einem Angelhaken [...].« Beckett, Samuel, Texte um Nichts VIII, in: Ausgewählte Erzählungen, Berlin 1990, S. 121.
16
Hugh Kenner ging z.B. schon 1962 ausführlich auf die Schachmetaphorik in Endspiel ein: Ders., Samuel Beckett, Eine kritische Studie, München 1965, S. 145ff.
62
vom bisherigen Spielverlauf, der Figurenkonstellation und den Spielregeln in ihrem Verhalten weitgehend festgelegt. Wenn die Figuren schon »von jeher« (s.o.) in der Spiellogik gefangen sind, könnten sie eigentlich weder von einer Welt außerhalb des Spiels wissen noch ihr Dasein als Spiel reflektieren. Sie philosophieren dennoch über eine Rahmenhandlung, die paradox genug jenseits des Spiels ohne Grenzen liegen soll. Die Figuren fühlen sich von einer scheinbar externen Macht beobachtet und fremdbestimmt, obwohl sie nie aus ihrem Spiel herausgekommen sind. Aus der angenommenen Schachfigurenperspektive ist es unmöglich, einen außenstehenden Schachspieler, Spielleiter - oder christlichen Gott - zu verstehen. Hamm, Clov und Nagg versuchen trotzdem, per Gebet mit einer transzendenten Außenwelt zu kommunizieren - was wie so oft in Fin de partie nur in einem paradoxen Wortspiel endet: »Le salaud! II n'existe pas!« (DDI 276). Hamm parodiert den ontologischen Gottesbeweis, der vom Begriff Gottes als höchstem Wesen notwendig auf dessen Existenz schließt.17 Denn Hamms Beschimpfung setzt Gottes Existenz voraus, die er zugleich verneint. Obwohl metaphysische Erkenntnisversuche scheitern, gehen Hamm und Clov davon aus, daß sie beobachtet werden - und daß ihre Interaktionen wenigstens von einem Außenstandpunkt Sinn machen. Hamm versetzt sich vorübergehend in die externe Beobachterrolle und spricht für einen Moment »mit der Stimme des vernunftbegabten Wesens« (DDI 249): »Je me demande. Un temps. Une intelligence, revenue sur terre, ne serait-elle pas tenée de se faire des idées, à force de nous observer? Prenent la voix de l'intelligence:
Ah,
bon, je vois ce que c'est, oui, je vois ce qu'ils font!« (DDI 248).
Als Relikt des metaphysischen Welttheaters Schopenhauerscher Prägung oder aus anderem »Kulturmüll«18 zusammengesetzt, scheinen die Auditoren eine Fiktion der Figuren im Stil des »vernunftbegabten Wesens« zu sein: Die dramatis personae denken sich einen oder mehrere externe Beobachter als Außenwelt; doch diese Projektion ohne szenische Präsenz markiert nur eine Grenze, die selbst Teil des Spiels ist - ohne es zu einer objektiven 17
Würde Gott nur gedacht werden und nicht existieren, so ließe sich ein noch vollkommeneres Wesen denken, dem auch das Merkmal der Existenz zukäme, was aber im Widerspruch zum Gottesbegriff stünde.
18
Hamms Richard ///-Paraphrase »Mon royaume pour un boueux« (DDI 236) ruft nicht nur nach dem Müllkipper, sondern macht Shakespeares Textvorlage gleichzeitig zum parodierten »Kulturmüll«.
63
Wirklichkeit hin überschreiten zu können. Die scheinbar externen Zuschauer gehören zu den Prämissen der Spiellogik, die das Bewußtsein der Figuren gefangen halten und gerade deshalb nicht auf einer Meta-Ebene überprüft werden können. Mit dem >transzendenten< Auditor-System beruhen folglich alle daraus abgeleiteten Verhaltensvorschriften der Figuren auf einer sich selbst begründenden Paradoxie. Wie ein Ariadnefaden zieht sich die Erkenntnisproblematik durch das logische Labyrinth von Fin de partie. Hamm und Clov sind nicht nur auf der Suche nach einer Wirklichkeit außerhalb der Spiellogik, sie untersuchen ihre Umwelt auch mit empirischen Methoden, um sich in einem Koordinatensystem von Zeit und Raum zu orientieren. Hamms »tour du monde«19 (DDI 238) tastet sich an den Wänden entlang, als handle es sich bei dem Innenraum um einen geschlossenen Mikrokosmos. Zwar klopft er an die hohlen Mauern, als wolle er Kontakt mit der Außenwelt aufnehmen, doch schon bald erlischt seine Neugierde. Als wüßte er genug von der Welt hinter der Wand, behauptet er: »Au-delà c'est... l'autre enfer.« (DDI 240). Die Analogie von Innen und Außen als vergleichbare Höllenräume macht eine Untersuchung der Umwelt scheinbar überflüssig, da von ihr kaum Abwechslung in den millionenfachen Wiederholungen des Endspiels zu erwarten ist.20 Das Bild des Ariadnefadens in Fin de partie ist daher mißverständlich, denn es scheint keinen Ausgang aus der Hölle zu geben, sondern nur eine Reihe weiterer Innenräume, die sich als Labyrinth ohne Anfang, Ende und Außenwelt hermetisch ineinander verschlingen. Das Höllenmotiv erscheint wiederholt in Becketts Gesamtwerk (vgl. Kap. 1.3 + 3.2) und durchzieht in Variationen auch das Endspiel. Hamm erzählt von einem »verrückten« Maler, in dessen Bewußtsein ein Höllenfeuer die Welt zu Asche verbrannt hat.21 Nach Hamms Aussage waren die Segel der Sardinenboote und die aufgehende Saat zu sehen, während der Maler sich erschüttert abwandte, weil er allein vom allgemeinen Untergang verschont 19
»Hamm: Fais-moi faire le tour du monde! Puis ramène-moi au centre.« (DDI 238).
20
Clov: »avec lassitude:
Même réplique. Un temps.
Tu más posé ces questions des
millions de fois.« (DDI 254). 21
Bei dem »Verrückten«, von dem Hamm sagt, »Je I'amais bien.« (DDI 262) könnte es sich um eine ironische Anspielung auf den mit Beckett befreundeten Maler Bram van Velde
handeln.
Van
Veldes
Malerei
kreist
um das Problem
einer
adäquaten
Wahrnehm- und Darstellbarkeit der Welt in gleich radikaler Weise wie Becketts Werk, das sich in den kunsttheoretischen Schriften immer wieder auf ihn bezieht. Vgl. Kap. 1.2.
64
geblieben war.22 Die widersprüchlichen Wahrnehmungen der gleichen Szenerie beruhen offensichtlich auf verschiedenen Weltanschauungen; sie sind also ein philosophisches Erkenntnisproblem. Der Solipsismus des »verrückten« Malers wendet sich konsequent von der »untergegangenen« Außenwelt ab und der eigenen Innenwelt zu - ein Perspektivenwechsel, der Hamm zufolge kein Einzelfall ist und leitmotivisch die Dramenstruktur von Fin de partie bestimmt.23 Auch Clovs Saat keimt nicht mehr, und auch er scheint nichts als verbrannte Erde und ödes Meer zu sehen, wenn er wie der »verrückte« Maler aus dem Fenster schaut. Folgerichtig nennt er den Gesamteindruck »Mortibus«24 (DDI 244) und vermittelt die Vision eines Totenreiches oder einer untergegangenen Welt, von der man nicht wissen kann, ob sie bloß in den Augen der Figuren zu Asche verbrannt ist. Auch wenn das »Intérieur sans meubles« (DDI 208) im gräulichen Licht undefinierbaren Ursprungs einer Hölle gleicht, so haben die Höllenmauern dennoch »hübsche Dimensionen« (»Clov: Ce sont de jolies dimensions [...].« DDI 210) und geben den Figuren einen räumlichen Anhaltspunkt im 22
»Je le prenais par la main et le traînais devant la fenêtre. Mais regarde! Là! Tout ce blé qui lève! Et là! Regarde! Les voiles des sardiniers! Toute cette beauté! Un temps. Il m'arrachait sa main et retournait dans son coin. Epouvanté. Il nàvait vu que des cendres. Un temps. Lui seul avait été épargné. Un temps. Oublié. Un temps. Il paraît que le cas n'est... n'était pas si... si rare.« (DDI 262).
23
Der Solipsismus des »verrückten« Malers löst nicht nur die Subjekt-Objekt-Problematik in eine konsequente Binnenlogik auf, die auf eine Korrespondenz von Vorstellung und externen Gegenständen verzichtet; er umgeht auch die Frage nach dem Ursprung der Vorstellungen. Da die Außenwelt untergegangen ist, gehören differenzierte Wahrnehmungen einem nicht mehr rekonstruierbaren Bewußtseinszustand an, d.h. der Solipsismus ist temporär und kann sich ex negativo auf eine vergangene Welt beziehen, die z.B. die Existenz von Sprache plausibel macht: »Die Frage des Solipsismus entsteht lediglich als Scheinproblem oder überhaupt nicht, denn die notwendige Bedingung der Möglichkeit, überhaupt darüber zu sprechen, ist die Verfügbarkeit einer Sprache. Diese aber ist ein konsensuelles System der Interaktion in einem
subjektabhängigen
Bereich.
Allein
diese
Bedingung
widerlegt
Solipsismus.« Maturana, Humberto R., Erkennen: Die Organisation und von Wirklichkeit,
jeden
Verkörperung
Ausgewählte Arbeiten zur biologischen Epistemologie, Braun-
schweig Wiesbaden 1982, S. 310. 24
Der Dativ »den Toten« als Gesamteindruck der Welt erinnert an einen Abschnitt aus Luckys Monolog in En attendant Godot, in dem er die Erde als »gut für die Steine« beschreibt: »[...] la terre fait pour les pierres [...].« (DDI 92). »Kaputt!« (DDI 245) als deutsche Übersetzung von »Mortibus« klingt nach einem harmlosen Kinderspiel und verfehlt die existentielle Paradoxie eines Lebens nach dem Tode in einem Totenreich.
65
Erkenntnischaos des Endspiels. In der Abgeschlossenheit des Mikrokosmos kann sich Hamm als Mittelpunkt der Welt aufspielen (»Mets-moi bien au centre!« DDI 240) und gleichzeitig über Auditoren philosophieren, die über der Hölle zu thronen scheinen. Schon Dantes Limbus war eine Art karges Paradies für Philosophen, in dem sie ohne leibliche Bedürfnisse und außerhalb der Zeit vereint, unendlich miteinander diskutieren konnten. Das Höllengleichnis verbindet sich vielfältig mit dem Auditor-Motiv und erhellt auf simple Weise die handlungsarmen Szenerien und fragmentarischen Figuren in Fin de partie: Da der Limbus außerhalb von Zeit und Raum liegt, scheint die Zeit einerseits angehalten zu sein, andererseits geht irgend etwas »seinen Gang«25, weil die Handlung nicht stillsteht, sondern sich in Wiederholungen im Kreis dreht. Als Häftlinge können die Figuren weder dem Aufseherblick der Auditoren entkommen, noch ihr Strafmaß selber bestimmen bzw. das Endspiel eigenmächtig beenden. Clov träumt zwar davon, »besser leiden zu lernen« (DDI 311, vgl. Anm. 8), damit man es satt kriegt, ihn zu strafen, aber die »Sünde, geboren zu sein«26 kann nur mit dem Tod getilgt werden. Wenn sich die Figuren aber tatsächlich in einer Art Vorhölle aufhielten, wären sie gar nicht (mehr) lebendig, weshalb sie diese Sünde auch nicht mit dem Tod abbüßen könnten, sondern in einem endlosen Kreislauf der Schuld gefangen blieben. Clov zieht dem »Leben« im Totenreich daher die Nicht-Existenz als »belle époque«27 vor, während Hamm behauptet, nie existiert zu haben: »Je n'ai jamais été là.« (DDI 300). Die Paradoxien des Limbus ergänzen sich mit der existentiellen Unsicherheit der Figuren zu einem erkenntnistheoretischen Teufelskreis, aus dessen Innenperspektive das Leben extrem unwirklich erscheint - als wäre es schon immer ein Vergangenes (in der Hölle) oder Zukünftiges gewesen, wie Hamm behauptet: »Clov: Tu crois à la vie future? / Hamm: La mienne l'a toujours été.« (DDI 268). Die kongruierende Weltanschauung der beiden Figuren ist jedoch kein hinreichender Grund für eine faktische Höllenexistenz, sondern könnte auch einem gemeinsamen Wahnsystem entspringen.28 25
»Clov: Quelque chose suit son cours.« (DDI 224, 248).
26
Beckett, Samuel, Proust-Essay,
27
»Hamm: [...] Tu n'étais pas encore de ce monde. / Clov: La belle époque!« (DDI 262).
Frankfurt am Main 1989, S. 60.
Die Belle époque als Zeit des gesteigerten Lebensgefühls in Frankreich zu Ende des 19. Jahrhunderts ist als Bezeichnung der Nicht-Existenz so widersinnig-komisch wie alle anderen Identitätsdefinitionen in Fin de partie auch. 28
Versuchte Descartes seine Welt- und Selbstwahrnehmung durch Gott abzusichern, so geht die moderne Psychiatrie davon aus, daß eine »objektive Wirklichkeit« für die
66
Vielleicht führen die Figuren in ihrer »Hölle« nur eine Art von kollektivem Solipsismus auf, der wie der »verrückte« Maler die »untergegangene« Welt ignoriert, wo ein anderer Beobachter blühende Landschaften wahrnähme. Der »kollektive Solipsismus« scheint ein Widerspruch in sich zu sein, denn der Solipsist bestreitet gerade ein Dasein der Welt und d.h. der anderen Menschen außerhalb seiner Vorstellung. Doch die entscheidende Frage ist, ob die einzelnen Figuren jeweils ein autonomes (evtl. solipsistisches) Bewußtsein repräsentieren, oder ob sie bloße Figurationen einer Wechselrede bzw. einer Spiellogik sind, die sie nicht überschreiten können. Häufig löst sich der Text von festen Rollen und macht mit seinen Echos die Figuren zu austauschbaren Sprechern. Nachdem Clov z.B. zweimal betont hat, daß irgend etwas Numinoses seinen Gang geht, nimmt Hamm die Aussage variierend auf: »Je suis mon cours.« (DDI 260). Während Clov den Ablauf des Spiels meint, das weitgehend unbekannten Regeln folgt, beschreibt Hamm seine Rolle in diesem Spiel als Schmierenkomödiant oder >Sprechautomat< mit festgelegten Gängen bzw. einem vorgegebenen Rollentext. Das determinierte Dasein wird noch deutlicher, wenn man das »Je suis« in Hamms Aussage nicht als Konjugation von suivre (»Ich folge einem vorgeschriebenen Weg«), sondern von être versteht: Dann werden Subjekt und Objekt des Satzes zu austauschbaren Äquivalenten; der Sinn verschiebt sich von der Selbstbeschreibung als relativ fremdbestimmtem Subjekt (was Hamm eine minimale Selbständigkeit zugesteht) zur dramaturgischen Funktion ohne individuellen Rest. Das Aussagesubjekt hat nur noch grammatikalische Bedeutung, ohne die Sicht auf das Objekt zu bestimmen es verfällt im Gegenteil selbst dem austauschbaren Objektstatus. Auch an einer anderen Textstelle scheint Hamm zu realisieren, daß er und Clov nur Figurationen der Wechselrede sind. »Clov: Je te quitte. / Hamm: Non! / Clov: A quoi est-ce que je sers? / Hamm: A me donner la réplique.« (DDI 280). In der englischen Übersetzung wird noch deutlicher, daß Clov nicht nur in seiner Eigenschaft als Diener antworten muß, sondern >Herr und Knecht< dem gleichen Sprechzwang unterstehen: »CLOV: I'll leave you. /
Bildung von Weltanschauungen gar nicht nötig ist: »Es besteht guter Grund zu der Annahme, daß es recht gleichgültig ist, worin dieses Weltbild besteht, solange es nur eine sinnvolle Prämisse für unsere Existenz bietet. Das Wahnsystem eines Paranoiden scheint seinen Zweck als Sinnerklärung für die Welt des Patienten genauso zu erfüllen wie eine >normale< Weltsicht für jemand anders.« Watzlawick, Menschliche
Kommuni-
kation, Formen, Störungen, Paradoxien, Bern/GöttingenfToronto, 1992, S. 243.
67
HAMM: No! / CLOV: What is there to keep me here? / HAMM: The dialoge.« (CDW 120f.). Hamm und Clov folgen den Vorgaben der Wechselrede wie Schachfiguren den Zugzwängen einer Endspielkonstellation, die sie nicht beenden können. In ihrer ausweglosen Patt-Situation beginnen die Figuren (Theater-) Rollen zu spielen: Hamm z.B. als matter Tragödienheld, Magister ludi und Erzähler, Clov als buffoneske Dienerfigur und Beobachter der Außenwelt, etc. Clov (Nomen est Omen) fällt auch gestisch ins Rollenfach des Clowns, da er sich mit steifen, wankenden Schritten (»Démarche raide et vacillante« DDI 208) automatenhaft bewegt. Alle diese Funktionen haben kaum charakterisierende Kraft, denn sie zitieren das Typenarsenal der Theatergeschichte, ohne auf individuelle Eigenschaften zu verweisen. 29 Während Hamm und Clov zwischen verschiedenen Rollen schwanken und sich an paradoxen Selbstdefinitionen wie Hamms »Ich bin nie dagewesen« (DDI 301) versuchen, vermitteln sie den Eindruck einer konstanten Identitätskrise. Um sich in der reizarmen Umwelt und den Paradoxien der Spiellogik dennoch orientieren zu können, sind die dezentrierten Figuren aufeinander angewiesen. Als einzige Alternative zu dem dialogähnlichen Sprecher-Hörer-Wechsel sieht Hamm die Schreckensvision der totalen Isolation: »Tu seras assis quelque part, petit plein perdu dans le vide, pour toujours, dans le noir.« (DDI 252). Ohne Bezugspunkt verliert sich der Einzelne in einem schwarzen Loch jenseits von Raum und Zeit oder schrumpft auf die Größe eines unbelebten Kiesels in der Wüste: "(...) tu y seras un petit gravier au milieu de la steppe." (ebd.). Die fragmentarische Kommunikation und gegenseitige Wahrnehmung der Figuren scheint diesem Absturz ins Nichts bzw. in den Selbstverlust entgegenzuwirken. Auch die symbiotische Interaktion der Figuren hält das Endspiel in Gang: Der blinde Hamm kann sich z.B. nicht allein fortbewegen und die Welt nur mit den Augen seines Dieners sehen oder besser: Mithilfe der Beschreibungen Clovs imaginieren. Denn die berichtete Veränderungslosigkeit der Außenwelt jenseits der Fenster könnte bloßes Spiel oder Fiktion sein. 30 Da Clov seine Wahrnehmungen 29
Eine Vielzahl intertextueller Anspielungen in Fin de partie Lichte nach: Geschichte
des Dramas,
weist z.B. Erika Fischer-
Epochen der Identität auf dem Theater von der
Antike bis zur Gegenwart, Bd. 2, Tübingen 1990, S. 243 ff. Im Gegensatz zu den Boten Godots erscheint der Junge am Ende von Fin de nicht szenisch, sondern nur in Clovs Berichten: Verglichen mit En attendant
partie
Godot ist
die Spiellogik von Fin de partie weitaus hermetischer. Die Rezipienten des Stücks sind Clovs Darstellung - wie Hamms Erzählung vom »verrückten Maler« - auf Treu und Glauben ausgeliefert, da sie den Außenraum vor den Fenstern nicht erkennen können.
68
selektiert und in Sprache übersetzt, mißtraut der blinde Empfänger im Rollensessel den so evozierten Vorstellungen. Als Clov mit dem Femrohr einen Jungen zu entdecken glaubt, beginnt Hamfn deshalb ein »Verhör«, 31 das die Wahrnehmungen seines Dieners auf Plausibilität und Folgen untersucht: »S'il existe il viendra ici ou il mourra là. Et s'il n'existe pas ce n'est pas la peine.« (DDI 308). Während sich Clov des Mißtrauens bewußt wird, zieht Hamm die Konsequenz aus seinen skeptischen Reflexionen und entläßt ihn. 32 In diesem Sinne kann die Trennung von Hamm und Clov auch als Scheidung der >blinden< Reflexion von der (Ap-) Perzeption als wirklichkeitsgetreuem Spiegel der Außenwelt gedeutet werden. Das Zusammenspiel der Figuren als komplementäre Bewußtseins- und Wahrnehmungsfunktionen läßt sich auch an anderen Endspielpassagen belegen: Clov schaut nach Nagg in seiner Mülltonne und sagt, »II pleure.« (DDI 284), woraus Hamm folgert: »Donc il vit.« (ebd.). Clovs Wahrnehmung und Hamms Reflexion parodieren auf aufschlußreiche Weise Descartes Selbstdefinition »Cogito ergo sum« (die im Denken das Sein schon voraussetzt, das sie vorgeblich erschließt). Einerseits löst der körperliche Existenzbeweis des Weinens die cartesianische Selbstreflexion ab, andererseits steht das Beobachtetwerden durch andere an Stelle der reflexiven Selbsterkenntnis. Schon das Minimalkriterium des Weinens reicht aus, um Nagg als eine Form von (Selbst-) Bewußtsein zu identifizieren, über das Hamm und Clov in der dritten Person Singular reden. Dieser Identifikationsreflex wurde von Teilen der Beckett-Rezeption imitiert, welche die Endspielfiguren als realistische Menschendarstellungen gedeutet hat. 33 Die projizierten Selbstbilder der Rezipienten werden im Stückverlauf allerdings so gründlich in Frage
31
»Clov: Pourquoi tout cet interrogatoire?« (DDI 306).
32
»Clov: Tu ne me crois pas? Tu crois que j'invente? / Hamm: C'est fini, Clov, nous avons fini. Je n'ai plus besoin de toi.« (DDI 308) Am Ende einigen sich Hamm und Clov darauf, sich gegenseitig zu entlassen (»Hamm: C'est nous qui nous remercions.« DDI 312) und verwandeln (verbal) ihr komplementäres Herr-Knecht-Verhältnis in die symmetrische Interaktion von Spielpartnern.
33
Die Beckett-Rezeption der 60er und 70er Jahre ist meist in die Identifizierungsfalle gegangen, ohne die eigenen Selbstbilder zu hinterfragen: »Anders als in Waiting Godot gibt es für die Menschen des Endgame
for
keine Sehnsüchte, kein Suchen, keine
Erwartung mehr;« Breuer, Rolf, Die Kunst der Paradoxie,
Sinnsuche und Scheitern bei
Samuel Beckett, München 1976, S. 137. Dagegen spricht Adorno von den Figuren als »[...] leeren personae, durch die es wahrhaft nur noch hindurchtönt.« Ders., Versuch, das Endspiel zu verstehen, a.a.O., S. 202.
69
gestellt, daß im Idealfall der Prozeß permanenter Bedeutungsprojektionen in Gang kommt, den Wolfgang Iser beschrieben hat (vgl. Einleitung, Anm. 9). Schon Hamms »vernunftbegabtes Wesen« (s.o.), das auf die Endspielsituation herabblickte, sollte die Figuren nicht nur sehen, sondern erkennen, also ihr Verhalten deuten und verstehen: »Ah, bon, je vois ce que c'est, oui, je vois ce qu'ils font!« (DDI 248). Genau dieses unmittelbare Verstehen der Endspielkonstellation kann aber in der Regel nur auf ein Mißverständnis hinauslaufen, da sich die Identitätsfrage in Fin de partie nicht ohne weiteres mit herkömmlichen Subjektmodellen beantworten läßt. Das theateranaloge Subjektmodell, das in allen Stücken Becketts auf externen Identitätszuschreibungen beruht, soll im nächsten Kapitel anhand der Paradoxien des Vorsokratikers Zenon genauer erörtert werden.
2.2 Vom Theatrum mundi zum Theatrum mentis Wenn Clov von mindestens einem Auditor spricht, vor dem er sich bewähren müsse, um aus dem Endspiel entlassen zu werden (vgl. Anm. 8), dann erinnert er damit an ein vormodernes Theatrum mundi, bei dem der göttliche Zuschauer zugleich als höchster Richter fungiert.34 Dieser absolute Auditor kann jedem Spieler in die Seele blicken - sein göttlicher Blick ist also urteilend und identitätsstiftend zugleich. Auch Hamm verwendet Theatervokabular, als ob er davon ausginge, daß er sich auf einer Bühne befindet: »Un aparté! Con! C'est la première fois que tu entends un aparté? Un temps. J'amorce mon dernier soliloque.« (DDI 304). Doch Hamm begnügt sich bei seinen Selbstdarstellungen zur Not auch mit seinem alten Vater als Auditor: Nachdem sich Clov geweigert hat, seine Geschichte anzuhören, läßt er Nagg aus dem Schlaf rütteln. Der gezwungene Zuhörer revanchiert sich mit der letzten Bosheit, welche die Selbstdarsteller im Endspiel treffen kann: »D'ailleurs, je ne t'ai pas écouté.« (DDI 278). Damit vereitelt er Hamms Versuch, seine Rollenidentität durch ein auditoriales Urteil zu bestätigen. 34
Bei Calderón thront der Theatergott über dem Spielgeschehen: »Es eröffnen sich zwei Bühnen übereinander, auf der oberen erblickt man einen von Glorien umgebenen Thron, auf welchem der Meister sitzt; die untere Bühne hat zwei Türen, von denen die eine mit einer Wiege, die andere mit einem Sarge bezeichnet ist.« Calderón de la Barca, Pedro, Das große Welttheater, Stuttgart 1989, S.22.
70
Die gegenseitige Auditorfunktion ist wie alle anderen Wahrnehmungen störanfällig und verbürgt im Gegensatz zum Wahrgenommenwerden durch Gott keine dauerhafte Identität. Fin de partie thematisiert die Relativität der Wahrnehmung anhand der Paradoxien des Vorsokratikers Zenon.35 Zenons Haufen von Hirsekörnern, der je nach Blickwinkel eine Einheit oder Vielheit von Körnern bildet, zieht sich als Textecho durch das ganze Stück. Clov eröffnet das Endspiel mit einer Variation über Zenon und die Zeit, indem er deren Lauf mit Körnern in einer Sanduhr vergleicht, die unmerklich einen Haufen bilden: »Les grains s'ajoutent aux grains, un à un, et un jour, soudain, c'est un tas, un petit tas, l'impossible tas.« (DDI 210). Der Haufen in der Sanduhr steht für das abgelaufene Leben, das nur im Rückblick, also post mortem, ein Ganzes ergibt. Auch Hamm kann dem gegenwärtigen Verrinnen von Augenblicken keine Identität abgewinnen, da sie für ihn »gleich null« sind und sich erst im Exitus summieren: »damit die Rechnung aufgeht und die Geschichte endet« (DDI 315). In diesem Sinne wird Hamms Aussage über sein Leben, das schon immer ein zukünftiges gewesen sei (vgl. Kap. 2.1) verständlich: In der Diskontinuität zusammenhangsloser Augenblicke warten die Figuren darauf, daß a posteriori »ein Leben daraus werde«.36 Der Lebensrückblick von einem vorweggenommenen Ende her bleibt eine logisch unerreichbare Utopie, weil die Figuren das Andere des Todes gar nicht denken können.37 Aufgrund der Gedächtnisschwäche aller Figuren würde der Lebensrückblick keine biographische Identität bilden, da er über dem abstrakten Ganzen die individuellen Details aus dem Blick verlöre. 35
Um die Harmonie des Seienden als Einheit des Alls vor der Zersplitterung zu bewahren, beschränkte Zenon Mensch und Natur auf ein Dasein als unselbständige Teile (oder »Hirsekörner«) des Kosmos. Mit Paradoxien wie der des Pfeils, der in der Luft stillsteht, beschrieb Zenon die Mangelhaftigkeit endlicher Teile »Das Bewegte besitzt weder Bewegung an dem Ort, an dem es sich gerade befindet, noch bewegt es sich an dem Ort, wo es sich nicht befindet.« in: Hoenn, Karl, (Hrsg.), Die Anfänge der ländischen Philosophie,
36
abend-
Zürich 1949, S. 82.
»Hamm: Instants sur instants, plouff, plouff, comme les grains de mil de... il
cherche...
ce vieux Grec, et toute la vie on attend que ça vous fasse une vie.« (DDI 294). 37
Die Reflexion des Lebendigen in der Spiegelfunktion des Endes versucht, den Überblick der externen Auditoren durch systematisches Denken zu ersetzen, um auf einer Meta-Ebene die biographischen Bruchstücke im Zusammenhang verstehen zu können. Die denkschwachen und dennoch dauerreflektierenden Figuren scheitern allerdings an der Systematik: Da sie fortwährend logische Ebenen verwechseln, drehen sie sich mit ihren Paradoxien im Kreis und landen wieder am Ausgangspunkt der Überlegungen, statt das Ende als Fix- und Zielpunkt zu erreichen.
71
Obwohl der Tod eine unerreichbar Erlösungsutopie wie Godot in En attendant Godot bleibt, gibt er den Figuren dennoch Lebenswillen bzw. die Kraft, auf dem Weg zur ersehnten Finalität weiterzumachen. Trotz der Aporien des vorweggenommenen Lebensrückblicks gibt Hamm das Projekt der Selbsterkundung nicht auf. Er träumt davon, sich in mehrere Sprecher zu spalten: »Hamm: Puis parler, vite, des mots, comme l'enfant solitaire qui se met en plusieurs, deux, trois, pour être ensemble, et parler ensemble, dans la nuit. Un temps. Instants sur instants, plouff, plouff, comme les grains de mil de... il cherche... ce vieux Grec, et toute la vie on attend que ça vous fasse une vie.« (DDI 294).
Hatten Zenons Hirsekörner je nach Blickwinkel einen Haufen gebildet oder nicht, so stellt sich auch Hamm als Einheit oder Vielheit von Stimmen dar. Seine >Selbstspaltung< nach dem Vorbild des »einsamen Kindes« wirft die Frage auf, wo sich das Ich während der Desintegration befände: als Springer im jeweiligen Sprecher oder als Auditor über den Stimmen - ähnlich dem Gott und wichtigsten Zuschauer des vormodernen Theatrum mundi? Vielleicht ist der Begriff >Selbstspaltung< aber auch irreführend, weil er von einer zu teilenden /cA-Identität ausgeht, die sich in den paradoxen Selbstdefinitionsversuchen der Figuren gar nicht erst finden ließ. Angesicht der Rollenvielfalt der Figuren ohne eine gesicherte biographische Identität und ihrer weitgehend austauschbaren Sprecherfunktion kann man Hamm daher als Maske (Persona) all der Stimmen oder des »Kulturmülls« beschreiben, die er reproduziert. Roland Barthes Diktum über das Lesen als Konstruktion verschiedener Textvarianten gilt auch für Hamm, der sich in seinen Selbstauslegungen erst konstituiert: »Dieses »Ich«, das sich dem Text annähert, ist selber schon eine Pluralität anderer Texte, unendlicher Codes, oder genauer: verlorener Codes (deren Ursprung verloren geht).« 38 Da die Figuren paradoxerweise ahnen, daß sie Rollen in einem Theaterstück sind und ihre Verkörperung durch Schauspieler akzidentiell bleibt,39 macht es auf der Ebene der Figurenrede keinen erheblichen Unterschied, ob sich Hamm in weitere Sprecher teilt. Wenn er als Rollenfigur nicht (wie z.B. im bürgerlichen Illusionstheater) auf die gesamte psycho-physische Einheit >Mensch< verweist, dann stellt die >Selbstspaltung< keine personale Desinte38 39
Roland Barthes, S/Z, Frankfurt am Main 1987, S.14. Unter der Vielzahl von medialen Selbstreflexionen in Fin de parti sei hier nur Clovs Wendung zum Publikum genannt: »II descend de L'escabeau,
ramasse la lunette,
l'examine, la braque sur la salle. Je vois... une foule en délire.« (DDI 244).
72
gration dar, sondern führt eine theateranaloge Konstitution von Subjektivität vor. Entscheidend ist dabei die distanzierte Auditor-Position, die Hamm zu allen Vorstellungen und Selbstdefinitionen einnimmt - entscheidend auch deshalb, weil der Auditor kein konstantes, ratiozentrisches Selbst ist, sondern als prozeßhaftes Ich seinen permanenten Modifikationen zuschaut.40 Auf Hamms fiktive Selbstspaltung nach Art »des einsamen Kindes« folgt nicht zufällig eine Anspielung auf Zenons Hirsekörner: Beides sind Bilder für ein diskontinuierliches Bewußtsein, das sich mit jeder Vorstellung oder Aussage wandelt. Dieses Subjektmodell, bei dem sowohl die Akteure auf der Bewußtseinsbühne als auch die Betrachter im Zuschauerraum ständig wechseln, soll in Abwandlung des Theatrum-mundi-Begriffs Theatrum mentis heißen. Bei dem Mentaltheater scheint der Auditor zwar (wie der Gott des vormodernen Theatrum mundi) auf einer Meta-Ebene über der Folge von Bewußtseins-Augenblicken zu thronen. Da der Beobachter jedoch dem gleichen Bewußtsein entspringt wie die Vorstellungen, fällt es paradox auf ihre Ebene zurück. Zenons Hirsekörner als Metapher für das verrinnende Bewußtsein einerseits und (als Haufen) für das Lebensganze bzw. eine aktuelle /cA-Identität andererseits >existiert< nicht als stabiler Zustand, sondern entsteht lediglich als qualitatives Urteil über Einheit oder Vielheit. Letztlich entscheidet der Rezipient über die Identität der Figuren — und darüber auf welcher Repräsentationsebene er die dramatis personae ansiedelt. Schon 1962 schrieb Hugh Kenner, »[...] daß wir uns die Bühne mit ihren hohen Gucklöchern als das Innere eines riesigen Schädels vorstellen.«41 Zeitgleich klassifizierte Martin Esslin das Endspiel als »Monodrama«, in dem die Figuren den konstanten Teil eines Bewußtseins verkörpern.42 Doch die dramatis personae 40
Der /c/i-Erzähler des Namenlosen
beschreibt sich u.a. als Zuschauer einer (Theater-)
Vorstellung: [...] c'est ça le spectacle, il ne coûte rien, attendre seul, aveugle, sourd, on ne sait pas où, on ne sait pas quoi [...].« Beckett, L'Innommable,
a.a.O., S. 158. Der
Unnennbare ist als Zuschauer bezeichnenderweise genauso blind wie Hamm. Da er zudem noch taub ist, kann er sich nicht wie Hamm auf die Berichte eines anderen stützen, sondern erlebt das Mentaltheater als Projektion seiner inneren Vorstellungen ohne etwas über die interne Projektionsfläche oder den Ort des Spektakels zu wissen. 41
Kenner Hugh, Samuel Beckett, Eine kritische Studie, a.a.O., S. 145 (engl. Orig. 1962).
42
»Immerhin spricht doch aber vieles für die Annahme, es könne sich auch bei
Endspiel
um ein Monodrama handeln. Der eng umgrenzte Raum mit den beiden winzigen Fenstern, durch die Clov die Außenwelt beobachtet; [...]; der blinde und emotionale Hamm; Clov der die Sinnesfunktionen für ihn ausüben muß - das alles scheint darauf
73
führen weder ein rein interpersonales Spiel auf, noch lassen sie sich allegorisch auf bestimmte Bewußtseinsfunktionen festlegen. Je nach Betrachterperspektive wird ihr Oszillieren zugunsten von profilierten Charakteren oder Figurationen der Subjektivität entschieden. Auch das >Personenverzeichnis< des Endspiels bietet im Kontext der Ästhetischen Moderne keine Entscheidungshilfe. Denn in Acte sans paroles II wird z.B. ein personal agierender Stachel (»Aigullion« DDI 330) aufgeführt, der die Rollenzuschreibungen des bürgerlichen Illusionstheaters ad absurdum führt (vgl. Kap. 2.3). 43 Gabriele Schwab versuchte 1981 die heikle Subjektproblematik zu lösen, indem sie wie Wolfgang Iser die Rezipienten aufgrund ihrer Projektionen und Reflexionen zu den Hauptakteuren von Fin de partie erklärte: »Durch die ständig geforderte Rücknahme von Sinnfragmenten entfaltet sich an Stelle des dramatischen Konflikts im Stück ein Konflikt zwischen Stück und Zuschauer. In ihm geht es darum, wessen Sinnormen die Kommunikation bestimmen. In seinen Versuchen, diesen Konflikt zu lösen, macht sich der Zuschauer selbst zu einer Figur des aufgeführten Dramas.« 4 4
Schwabs Interpretation unterstellt allen Rezipienten ein ratiozentrisches Selbstbild und Sinnnormen, die sich am abendländischen Vernunftdiskurs orientieren. >Der Zuschauen kann aber nicht derart typisiert werden, sondern variiert zwischen verschiedenen Individuen, Kulturkreisen und historischen
hinzuweisen, daß die verschiedenen Personen des Stückes in Wirklichkeit nur verschiedene Aspekte ein und derselben Persönlichkeit darstellen. Nagg und Neil würden dann die ins Unterbewußtsein verdrängten Erinnerungen verkörpern, Hamm die emotionalen Kräfte des Menschen. Und vielleicht steht Clov für den Intellekt, der gezwungen ist, den Emotionen, Instinkten und Trieben zu dienen [,..].«Esslin, Martin, Das Theater des Absurden,
Frankfurt am Main 1964, S. 62f. Esslins Verständnis des
Monodramas bleibt unplausibel: Clov übt für Hamm nicht die Sinnesfunktionen aus, sondern allein den Augensinn und repräsentiert damit eher die (Ap-) Perzeption als den Intellekt oder den reflexiven Teil des Bewußtseins - den der angeblich »emotionale« Hamm mitunter recht gut beherrscht. Zur Esslin-Kritik vgl. Kap. 3.1. 43
Die Parallelen zwischen der historischen Avantgarde und Becketts Stücken zeigt Herta Schmid am Beispiel des Bauhaus, insbesondere an den Bühnenexperimenten Oskar Schlemmers und den Ästhetischen Schriften Wassily Kandinskys: Dies., Beckett's
Samuel
Play, Quad: An Abstract Synthesis of the Theatre, in: Canadian-American
Slavic Studies, Vol. 22, Bakersfield 1988, S. 263 ff. 44
Schwab, Gabriele, Endspiel mit der Subjektivität. modernen Theaters, Stuttgart 1981, S. 116.
74
Entwurf einer Psychoästhetik
des
Horizonten. Die Aufführung von En attendant Godot durch den Actor's Workshop im Zuchthaus San Quentin zeigte z.B., daß die Gefängnisinsassen viel weniger Probleme hatten, das Stück zu akzeptieren als das Premierenpublikum der Pariser Uraufführung vier Jahre zuvor.45 Im Gegensatz zu Schwabs Ansicht muß auch der durch Sinnfragen verwirrte Leser/Zuschauer nicht notwendig »zu einer Figur des aufgeführten Dramas« werden. Denn im Scheitern von Sinnerwartungen kann er sich seines projektiven Anteils an der Visualisierung des Stücks sehr wohl bewußt werden.46 Indem Schwab die Endspielfiguren zu Vorbildern einer postmodernen Patchwork-Identität stilisiert, legt sie die dramatis personae auf eine psychologische Repräsentationsfunktion fest. Die personalen Eigenschaften werden aber sowohl von automatenhaften Sprech- und Bewegungsmustern als auch von animalischen Verhaltensweisen, wie z.B. Luckys »Bissigkeit« (DDI 39), konterkariert. Pozzo sagt in En attendant Godot, »Je suis sans doute peu humaine, mais est-ce une raison?« (DDI 54), und weist implizit darauf hin, daß sich die Figuren nur unter einem bestimmten Blickwinkel als profilierte Charaktere deuten lassen. Auch Hamms und Clovs Spiele des »Sich-selbst-erfindens«47 sind keine kreative Leistung, sondern wiederholen Rollenklischees der Theatergeschichte und parodieren die Erkenntnisphilosophie - was nicht »den Anschein erwecken könnte, als verfügten sie über die Wahl ihrer imaginären Manifestationen von Subjektivität.«48 Schwab geht von einer Appellstruktur aus, die »[...] durch die Strategie gestützt (wird), die Subjektivität, die kommuniziert werden soll, nicht darzustellen, sondern im Modus der Negativität zu halten.«49 Wenn Fin de partie aber keine neue Form von Subjektivität explizit kommuniziert, sondern das
45
Zur Aufführung von En attendant
Godot durch den Actor's Workshop im Zuchthaus
San Quentin 1957 vergleiche: Esslin, Das Theater des Absurden, Pariser Gorfoi-Premiere und ihr succès de scandale
a.a.O., S. 11 ff. Die
wird beschrieben in: Bair, Samuel
Beckett, Eine Biographie, a.a.O., S. 542ff. 46
In einem 1984 verfaßten Aufsatz zur Wirkungsästhetik von Fin de partie
differenziert
Schwab ihre Dissertationsthesen: »There are, however, a number of clues in the play indicating that the way to get out of the trap is by shifting to a metalevel and reflecting on one's own interpretive acts.« Dies., On the Dialectic Endgame,
in: Connor, Steven (Hrsg.), New
of Closing and Opening
Casebooks,
in
Waiting for Godot and
Endgame, Houndsmills/Basingstoke/ Hampshire 1992, S. 95. 47
Schwab, a.a.O., S. 103.
48
Schwab, Endspiel mit der Subjektivität,
49
Schwab, a.a.O., S. 130.
a.a.O., S. 103.
75
Gegenteil von dem zeigt, was es bewirken will, dann gilt dies potentiell auch für die »Lust der Figuren, viele(s) zu sein« (s.o.). Schwabs Deutung gerät hier in den Teufelskreis ihrer eigenen Umwertungen und kann mangels unzweideutiger Textbelege die »latenten« Identifikationsangebote in Fin de partie nicht überzeugend begründen. Zudem lassen sich mit dem »Modus der Negativität« alle Widersprüche, Dementis und Paradoxien des Stücks in positive Sinnangebote umdeuten. Damit würde die skeptische Grundhaltung der Dramenfiguren ihres epistemologischen Ernstes beraubt, und das weltanschauliche Vakuum der Stücke könnte mit Ideologien aller Art aufgefüllt werden. Weder ein prä- noch postmodernes Diskursuniversum kann aber den einzelnen Rezipienten von seiner Verantwortung bei einer individuellen Auslegung des Stückgeschehens befreien. Die Provokation des Skeptizismus und die Anstiftung zur Sinnstiftung sind daher zentrale Wirkungsstrategien von Becketts Dramen. Die entwicklungsgeschichtlichen Kriterien von Lacans Psychoanalyse verfehlen Theaterfiguren, welche die »Erfahrung der eigenen Dezentriertheit« gerade nicht produktiv verwerten können.50 Statt die Figuren zum positiven Modell für Selbstidentifizierungen der Rezipienten zu machen, soll hier die genuin ästhetische Konstruktion der Subjektivität untersucht werden. Kurz vor Ende des Endspiels nimmt Hamm andächtig seine Kappe ab, um eine Art letzten Wunsch auszusprechen, »Paix à nos... «, er zögert und fährt dann fort: »... fesses.« (DDI 312). Der Friedenswunsch gilt nicht wie üblich den Seelen der Gläubigen (pax vobiscum), sondern den »Gesäßhälften«. Hamm ersetzt die Seele als das genuin Menschliche im traditionellen Segen durch die Afterseite der leiblichen Existenz. Bedeutete die Inkarnation für die unsterbliche Seele nur einen kurzen Auftritt im vormodernen Theatrum mundi, so ist die >Unsterblichkeit< zum paradoxen Hauptproblem der Endspielfiguren ohne Ende geworden. Im Gegensatz zur Liturgie, in welcher der Geistliche den Segen kraft seines Amtes den Gläubigen spendet, segnet sich Hamm mitsamt seinen Leidensgenossen selbst: Im Wechsel von der zweiten zur ersten Person plural wird der Segen ohne Transzendenz heillos selbstreferentiell. Obwohl die Figuren zu ahnen scheinen, daß sie von Schauspielern verkörpert werden, fühlen sie sich paradoxerweise in den Fesseln der physischen Notdurft gefangen. Körper und Geist koexistieren in 50
»Der Schritt von der Vermittlung des Problems über die dargestellte dezentrierte Subjektivität zu der unmittelbaren Erfahrung der eigenen Dezentriertheit ist die historische Leistung der Wirkungsstrategie
76
des Endgame.«
Schwab, a.a.O., S. 131.
ihrer Vorstellung als ein merkwürdiges Hybridwesen, das Hugh Kenner den Kartesianischen Kentauer nennt: »Der kartesianische Mensch, seines Fahrrads beraubt, ist nichts als ein Verstand, gefesselt an ein sterbendes Tier.« 51 Hamms parodierter Segen deutet die Ohnmacht des erkennenden Ichs angesichts eines Chaos körperlicher Phänomene an. Der cartesianische Dualismus bleibt für die Definition der Beckettschen Hybridwesen jedoch zu allgemein. Becketts Dramen setzen weder das Primat des Geistes voraus, noch schreiben sie die »Dominanz des Körpers über den Geist« fest, wie es Horst Breuer unterstellt.52 Die Entmachtung des Ichs zu einem Bewußtseinsteil unter anderen läßt die Konflikte einer leiblichen Vernunft deutlicher hervortreten, ohne die Rationalität ganz abzulösen. Zudem ist die ästhetische Subjektivität in Fin de partie nicht an die Körpergrenzen der dargestellten Figuren gebunden, wie die komplementären (Bewußtseins-) Funktionen von Hamm und Clov gezeigt haben. Insoweit der Begriff des Mentaltheaters auf einer Einheit eines (wenn auch diskontinuierlichen) Bewußtseins beruht, ist er deshalb für die Figuren problematisch. Letztlich kann nur der Theaterzuschauer die Wechselwirkung von Körpern, Stimmen, Tonbändern, Licht und Bühnenbildern etc. im Endspiel immer neu zusammensetzen. Wie Becketts Dramen in die Grenzbereiche der Subjektivität vordringen und dabei neue Darstellungsmöglichkeiten für das Theater (er-) finden, soll in den folgenden Kapiteln untersucht werden. Anhand von Acte sans paroles IUI steht zunächst die Frage im Vordergrund, wie sich das Verhältnis von Körper und Geist im stummen Spiel verändert. Der Exkurs zu den Pantomimen weist zugleich auf die sprachlosen Körper vor dem Kamerauge in Becketts Film und Femsehspielen voraus (Kapitel 5).
2.3 Exkurs zu Becketts Bühnenfriesen: Acte sans paroles Acte sans paroles IUI folgt auf Fin de partie wie ein körperorientierter Kommentar und burleskes Nachspiel zugleich. Wegen der kurzen Aufführungsdauer des Endspiels von weniger als zwei Stunden wurde Acte sans paroles I am 3. April 1957 im Anschluß an die Uraufführung von Fin de partie (in französischer Sprache!) am Royal Court Theatre in London als 51
Kenner, Hugh, Samuel Beckett, Eine kritische Studie, München 1965, S. 116.
52
Breuer, Horst, Samuel Beckett, a.a.O., S. 90.
77
szenische Zugabe gezeigt, die Endspiel-Motive aufgreift und pointiert.53 Die Pantomime verfremdet menschliches Handeln zu typisierten Verhaltensritualen und reduziert das Denken ohne die Selbstoffenbarungen der Rede auf signifikante Körperhaltungen: In Acte sans paroles I wiederholt sich die Regieanweisung »(il) réfléchit« dreißigmal, wobei der Inhalt der Überlegungen weitgehend dunkel bleibt. Die Handlungen des nicht näher bestimmten »Manns« geben zwar einen vagen Aufschluß über seine permanenten Reflektionen, aber deren Bilanz fällt mager aus: Dem Protagonisten gelingt es z.B. erst im zweiten Versuch, unterschiedlich große Kisten aufeinander zu stellen, um eine Wasserkaraffe zu erreichen. Horst Breuer hat daher auf die Ähnlichkeit der Bühnenhandlung mit Lemexperimenten hingewiesen, die Wolfgang Köhler 1914 mit Affen auf Teneriffa durchführte.54 Aus dieser Analogie folgert er die »conditio bestialis« als eine »strukturelle Übereinstimmung menschlichen und tierischen Verhaltens«, die sich z.B. bei dem Protagonisten von Acte sans paroles I zeige.55 Die Frage ist nur, ob mit Wolfgang Köhlers Definition des Denkens als »Ganzheit von Zielwahrnehmung, Mittelbenutzung und Denkumweg«56 wesentlich zum Verständnis der Pantomime beiträgt. Die Einsicht von Schimpansen oder Ratten in einfache kausallogische Zusammenhänge gibt trotz aller behaviouristischen Deutungsversuche des menschlichen Verhaltens keine sinnvolle Erklärung für Subjektivität ab. Erst auf einer logisch höheren Ebene werden die einzelnen Einsichten zu einem Selbstbewußtsein und den Maximen einer Weltanschauung ausdifferenziert.
53
Die Regieanweisungen zu Acte sans paroles I beginnen mit der Anfangs- und Schlußgeste Hamms: »Un homme. Geste familier: il plie et déplie son mouchoir.« (DDI 320). Die Pantomime wurde bei der Uraufführung von der Musik John Becketts, dem Vetter des Autors, begleitet und von dem Tänzer Deryk Mendel getanzt. Vgl. Bair, Deirdre, Samuel Beckett, a.a.O., S. 574. Es handelt sich also um keine klassische Pantomime, mit deren Kriterien Konrad Schoell Acte sans paroles I/ll erfolglos zu beschreiben versucht. Ders., Das Theater Samuel Becketts, München 1967.
54
Breuer, Horst, Samuel Beckett, a.a.O., S. 37ff.
55
Breuer, H., alle Zitate: a.a.O., S. 40. Nach einem Zitat des Lernforschers Ernest R. Hilgard über die Vergleichbarkeit von tierischem und menschlichem Lernen schreibt H. Breuer: »Für Beckett, der seine Menschen in Situationen stellt, die Tierexperimenten nachempfunden sind, und der seine Menschen tierisch-einfaches Verhalten demonstrieren läßt, gilt diese Feststellung in ebendemselben Maße.« (ebd.). Man beachte, daß Breuer die Figuren fortwährend als Menschen bezeichnet.
56
78
Breuer, H., Samuel Beckett, a.a.O., S. 41.
Dieses intellektuelle Niveau macht das bewußte Abwägen divergierender Motive und damit einen Triebverzicht möglich, wie ihn der Mann am Ende von Acte sans paroles I vorführt. Das Stück beruht zwar größtenteils auf simplen Reiz-Reaktionszirkeln, in denen die Reflexion als ein bloßer Reflex auf das jeweilige Bühnengeschehen erscheint. Aber bei noch so zögerlichen oder beschränkten Lemleistungen des Protagonisten weist das Ende der Pantomime auf den entscheidenden Unterschied zur Conditio bestialis hin: Trotz erneuter Stimulation durch einen »Pfiff von oben« (DDI 329), reagiert der Mann nicht mehr auf die Reize seiner Umwelt und schaut statt dessen unausgesetzt seine Hand an. Die Betrachtung seiner Hand-lungsmächtigkeit (sie) geht über bloße Resignation hinaus, denn der Protagonist erweckt in seiner entschiedenen Haltung zum ersten Mal den Eindruck von Selbstbeherrschung. 57 Mit Schopenhauer kann diese Kontemplation als Vollendung des Menschen verstanden werden, da sie ihn aus der Knechtschaft des Individualwillens und der körperlichen Bedürftigkeit befreit. Eine mögliche Schlußfolgerung aus der Pantomime wäre daher, daß die Figur am vernünftigsten ist, wenn sie nicht mehr »denkt«, sondern in meditativer Anschauung erstarrt ist. Ein auditoriales Urteil muß entweder dem Stehaufmännchen oder der ruhenden Gestalt mehr (Selbst-) Bewußtsein zuerkennen. Daß sich der Protagonist von der Außenwelt abwendet, obwohl die Wasserkaraffe vor seiner Nase herumtanzt, zeigt einen bemerkenswerten Rollentausch: Der Mann erstarrt zur Statue, derweil die Gegenstände um ihn herum geistige Charakteristika aufweisen und zu handelnden Figuren werden. Während der Mann seinen Individualwillen verneint, schließen und öffnen sich z.B. die Palmblätter, als wären sie von einem autonomen Willen beseelt. Die Dingwelt verselbständigt sich zum eigentlichen Protagonisten, auf dessen Stimulationen der Mann nur reagiert. In der Verkörperung personaler Kräfte durch die Dinge sieht Herta Schmid eine Grundstruktur des »absurden Theaters«: »Ist im traditionellen Theater die Sache Instrument 57
Wenn der Mann vollkommen apathisch wäre, dann würde er nicht seine Hände betrachten: »II regarde ses mains.« (DDI 328). Der »starre Blick« nach dem letzten Umfallen, »II reste allongé sur le flanc, face à la salle, le regard fixe.« (ebd.), ist also einer Form von Aufmerksamkeit gewichen, obwohl der Körper noch immer auf der Seite ruht. Der Mann wird also durch die Pfiffe nicht »völlig beherrscht und [...] zu ihrem Objekt herabgewürdigt«, wie Hans Hoppe in Das Theater der
Gegenstände
(Bensberg-Frankenforst 1971, S. 143) schreibt. Hoppe deutet den Blick des Protagonisten in seine Hände als Resignation - aber durch die Entscheidung zum Nicht-Handeln gewinnt der Mann den Anschein eines selbstbestimmten Subjekts zurück.
79
des Handelns, so zeigt das absurde Theater die Tendenz, den Menschen zum passiven Instrument der Handlungskraft von Sachen zu machen. Die Sachen werden das Bewirkende, das Verhalten von Menschen das Bewirkte.«58 Bei der scheinbaren Umkehrung der Kausalität stellt sich allerdings die Frage, wie die belebte Dingwelt zu verstehen ist. Die Pfiffe und das Herablassen von Gegenständen sowie das Zurückschleudern des Manns auf die Bühne wirken wie Eingriffe einer intelligenten Macht, die außerhalb des Bühnenraums existiert. H. Breuer deutet das Geschehen entsprechend als Eingreifen eines Versuchsleiters, der mit den Figuren Lernexperimente durchführt.59 Im Kontext der anderen Stücke würde das bedeuten, daß auch den Auditoren, von denen Didi, Gogo, Hamm und Clov sprechen, reale Existenz zukäme. Die Frage des Wahrgenommenwerdens erweist sich hier wie auch anhand der anderen Dramen als zentrales Problem der Stückrezeption: Wenn den angenommenen Auditoren eine reale Existenz zugestanden wird, liegt die Annahme eines deus malignus oder »pervertierten christlichen Gottes« nahe.60 Die bisherigen Kapitel haben dagegen zu zeigen versucht, daß den Figuren einzelne Köper- und Bewußtseinsteile als eigenständige Wesen interpersonal gegenübertreten. Wie Becketts frühe Dramen thematisiert auch Acte sans paroles I die Aussichtslosigkeit des Wunsches nach materieller Befriedigung. Während der Mime erstarrt, verschwinden die Würfel und anderen Gegenstände von der Bühne und lassen die leere Wüste vom Stückbeginn zurück. Da die Ruhe aufgrund der unstörbaren Meditation einkehrt, bekommen die Dinge einen engen Bezug zu den Bedürfnissen bzw. zur Geisteshaltung der Figur - die leere Bühne spiegelt ihr leeres Bewußtsein. Das Begehren bestimmt die Wahrnehmung so weitgehend, daß auf die Annahme einer transzendenten Macht zur Erklärung des Bühnengeschehens verzichtet werden kann: Es bleibt unerheblich, ob ein deus malignus oder das >blinde Schicksal< die Bedürfnisbefriedigung immer wieder vereitelt. Entscheidend ist, daß die Figur das Geschehen bestimmt, sobald sie ihren reflexartigen Denk- und Handlungsautomatismus beherrscht. Die Wahrnehmung des Manns bestimmt nicht nur den Ablauf des Stückgeschehens, sondern auch die Darstellungsperspektive von Acte sans paroles I: Wenn das Spiel und schließliche Verschwinden der Requisiten als 58
Schmid, Herta, >Zwei zu einsc Eine charakteristische
Dialogkonstellation
Theater, in: Forum Modernes Theater, Bd. 1/2, Tübingen 1986, S.159. 59
Breuer, H., Samuel Beckett, a.a.O., S. 107ff.
60
Breuer, H„ Samuel Beckett, a.a.O., S. 111.
80
im
absurden
Halluzination des Protagonisten verstanden wird, übernimmt der Rezipient zwangsläufig dessen Auffassungsart. In einem seltenen Fall von Perspektivenverschränkung sieht er den Mann von außen und nimmt die Ereignisse gleichzeitig durch die Augen bzw. die Einbildungskraft der Figur wahr.61 Das Vexierspiel zwischen der personalen Figurenperpektive und der autonomen Darstellungsperspektive wird (wenn überhaupt) kurz vor Ende der Pantomime angesichts der leeren Bühne deutlich. Erst in diesem Moment kann der Zuschauer retrospektiv erschließen, daß er das Gaukelspiel der Gegenstände womöglich nur vom Standpunkt des Protagonisten aus gesehen hat. Acte sans paroles I bildet ein Grenzphänomen der Darstellungsperspektiven im Drama, das Horst Spittlers Theorie nicht adäquat erfaßt, da sie von einer Perspektivenklärung zu Beginn der jeweiligen Handlung ausgeht.62 Der Sturz des Manns auf die Bühne bildet zwar den Auftakt des folgenden Geschehens, trägt aber kaum als Rahmenhandlung zur Klärung der personalen Figurenperpektive bei - im Unterschied z.B. zum Auftritt des Glasermeisters und Indras Tochter in August Strindbergs Traumspiel.63 Im Gegensatz zu Becketts anderen Stücken zeigt die (mentale) Reglosigkeit in Acte sans paroles I eine Form beschränkter Autonomie - um den Preis, daß der Protagonist am Ende des Stücks zum Bühnenfries erstarrt. In Acte sans paroles II legt eine Regieanweisung den »Frieze effect« (DDI 515) dagegen von Anfang an fest. Die Tiefenwirkung der Szene reduziert 61
Horst Spittler beschreibt die Doppelperspektive u.a. am Beispiel Macbeths (III, 4): Auf einem Bankett nach Banquos Ermordung erscheint dessen Geist für Macbeth und die Theaterzuschauer sichtbar auf der Bühne, ohne daß die anderen Figuren ihn wahrnehmen können. Der Zuschauer hat »Teil an der individuellen Erlebniswirklichkeit des Macbeth« und sieht die Szene zugleich »von einem autonomen Standpunkt aus« den Macbeth nicht einnehmen kann. Ders., Darstellungsperspektiven im Drama, Ein Beitrag zu Theorie und Technik dramatischer Gestaltung, Frankfurt am Main 1979, S.46.
62
»Dabei ist zu bedenken, daß ein Drama ja niemals mit einer personalen Darstellung einsetzen kann. Bevor eine Figurenperspektive zur Darstellungsperpektive werden kann, muß die sie bestimmende Figur zunächst einmal Gegenstand der Darstellung, also Darstellungsaspekt sein.« Spittler, a.a.O., S. 44.
63
Zu Beginn von August Strindbergs Traumspiel treten der Glasermeister und Indras Tochter vor einer Schloßkulisse mit Blütenknospen auf, die offensichtlich einen Traum der Tochter bebildert. Der Glasermeister weist (wie der Stücktitel) auf den Charakter eines Traumspiels hin, »beiseite: Ich habe das Schloß früher nie gesehen... habe nie gehört, daß ein Schloß wächst... aber - Zur Tochter mit fester Überzeugung ja, es ist um zwei Ellen gewachsen [...].« Ders., Werke, Bd. 2, München 1955, S. 301.
81
sich auf einen schmalen beleuchteten Streifen im Bühnenhintergrund, in dem sich das Geschehen abspielt. Dem reliefartigen »Eindruck eines Frieses« stehen die Körper und Bewegungen zweier Figuren gegenüber, die abwechselnd agieren: A und Β wechseln sich in ihrem >Tagesablauf< und beim Tragen derselben Kleider ab, wobei der sorgsam zusammengelegte Kleiderhaufen am Anfang des Stücks auf einen früheren Durchlauf mit dem »lebhaften, flinken, exakten« (DDI 333) Β hinweist. Die Pantomime beginnt mit dem Wecken von A durch einen personal agierenden Pfeil, der im Personenverzeichnis angegeben wird (»Pour deux personnages et un Aiguillon«, DDI 330). Der Pfeil führt das Aufstehen als >äußeren< Reiz vor und ist als Taktgeber jedes neuen Durchlaufs auch Sinnbild der verrinnenden Zeit. Der Zeitpfeil symbolisiert weniger externe Zwänge, sondern weist auf die leibliche Bedingtheit der Figuren hin: Ihr Lebensrhythmus wird durch Essen, Arbeit und Schlaf reglementiert; ihre Individualität beschränkt sich auf Temperamentsunterschiede im Umgang mit dem monotonen Dasein. Während die Ereignisse in Acte sans paroles I durch die Meditation des Manns zum Erliegen kommen, erzeugen die zyklischen Wiederholungen und der ziellose Aktionismus in der zweiten Pantomime für einen tiefenstrukturellen Stillstand des Geschehens.64 A schleppt sich als verträumter Phlegmatiker durch den Tag und findet offensichtlich weder Geschmack an seiner Mohrrübe noch an seinem Leben insgesamt — das er betend zu transzendieren versucht. Β erscheint dagegen als Hektiker, der während eines Durchlaufs elfmal auf seine Uhr schaut und am Ende der Sequenz doch nicht mehr erreicht hat als sein melancholisches Alter ego. Acte sans paroles II führt die Vergeblichkeit beider Lebenshaltungen vor, denn übereinstimmend tun die Figuren wenig mehr, als einander im Sack über die Bühne zu schleppen. Das Wechselspiel der beiden Mimen läßt sich als Clownsnummer mit verschiedenen Typen verstehen. A ist ein dummer August, der bei den einfachsten Tätigkeiten linkisch und ungewollt komisch wirkt: »Gags beim Anziehen und Ausziehen.« (DDI 333). Im Kontrast zu A erscheint Β als
64
Der »Eindruck eines Frieses« nähert den Bühnenraum nicht nur der Bildfläche an, sondern bezeichnet auch die statische Tiefenstruktur des Stücks. »So finden sich häufig im Drama Becketts Szenen, in denen [...] die Figuren in permanent geschäftiger Bewegung sind, während die Situation unverändert bleibt. Ein hohes oberflächenstrukturelles Tempo kontrastiert hier also mit einer tiefenstrukturellen Stasis als dem minimalen Grenzwert des Tempos.« Pfister, Manfred, Das Drama, München 1977, S. 379.
82
übertrieben aktiver und ernster Weißclown, der mit Landkarte und Uhr einen unverhältnismäßigen Aufwand für die paar Meter treibt, die er sich fortbewegt. Das clowneske Zwangsverhalten der beiden Figuren entspricht wie dasjenige des Manns in Acte sans paroles de partie.
I dem Spielenmüssen in Fin
Bei ihrem Auf und Ab von Wachen und Schlafen gibt der
agierende Zeitpfeil die horizontale Richtung auf der Bühne vor, in der sich die Clowns fortbewegen. Sie rotieren also nicht vollständig auf der Stelle, sondern schrauben sich dem >Fortschritt< der Entropie folgend vorwärts. 65 Vor dem Bewegungszwang finden die Figuren nur vorübergehend Ruhe in dem höhlenartigen Schutzraum ihrer Säcke. Während sich die Mimen aus ihrem Alltag zurückziehen, schaffen sie neue Auftrittsmöglichkeiten für das Theater: Genau wie die eingesackten Figuren in Acte sans paroles
II sind
auch Nagg und Neil in ihren Mülltonnen sowie Hamm unter seinem Schonbezug immer schon auf der Bühne anwesend - was die Gänge zum Auf- und Abtritt verzichtbar macht. 66 Der Sack verfremdet die menschliche Gestalt zur uniformen Dinghaftigkeit und macht so die ontogenetische Katastrophe der Geburt vorübergehend rückgängig - um mit jedem Aufstehen das Zurweltkommen zu wiederholen. 67 Der Schlaf des Selbstbewußtseins wird vom
65
66
In ihrem beständigen Auf und Ab rollen A und Β wie zwei Teile eines Lebensrads über die Bühne. Die Kreisbewegung spiegelt nicht nur die Vergeblichkeit ihres Tuns, sondern läßt sich mit Schopenhauer auch als Sinnbild des ewigen Werdens und Vergehens verstehen. Aus der Perspektive des metaphysischen Blicks kommt das Lebensrad trotz seiner Umdrehungen nicht von der Stelle, derweil es immer neue Generationen von Lebewesen >zermalmtKörperhöhle< des Sacks erneut >geboren< und hat damit im Zeitraffer die Entwicklung von der Zelle zum Bewußtsein oder vom Objekt zum Subjekt vollzogen. Die Erweckung des Sacks zum Leben weist andererseits Analogien zum christlichen Schöpfungsmythos auf, demzufolge Gott den Menschen aus Lehm formte.
83
Verschwinden des menschlichen Körpers begleitet - der als unpersönliches Wesen vom Pfeil wieder ins Leben gerufen wird: »Le sac bouge. L'aiguilon sort.« (DDI 332). Der personal agierende Pfeil und der agile Sack führen im Niemandsland von Mensch und Dingwelt ein Wechselspiel dynamischer Kunstwesen auf. Indem die Figuren ihre Sequenzen jeweils wie Programme abspulen, gleichen sie Automaten, während die Dinge aufgrund autonomer Handlungen Subjektstatus erlangen. Das Paradox der spontan agierenden Dinge erscheint leitmotivisch in Becketts Stücken und wird z.B. von Winnie in Happy Days wie selbstverständlich festgestellt: »Ah yes, things have their life, that's what I always say, things have a life.« (CDW 162). Das Theater der personal agierenden Gegenstände bewegt sich im angestammten Terrain des Teufels. Traditionell entstammen alle Kunstwesen mit einem rudimentären (Selbst-) Bewußtsein, die nicht Gottes Geschöpfe sind, der Hölle.68 Folgerichtig hat Satan als sadistischer Versuchsleiter oder deus malignus Eingang in die BeckettRezeption gefunden (vgl. z.B. H. Breuer, Anm. 60). Konrad Schoell bemüht einen >deus in machinaEntichunghöheren< Macht noch mit simplen Uhrwerksmodellen erklären. In seinem Buch Das Theater der Gegenstände versucht auch Hans Hoppe, das Figurenverhalten auf ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis zu reduzieren.71 Wahrnehmung und Reaktion lassen sich aber bei den Figuren nicht wie ein Billardspiel mit einfachen Kausalitätsbeziehungen beschreiben,72 da Β im Gegensatz zu A schon auf den ersten Weckreiz reagiert und im Folgenden anders agiert. Auch wenn die Figuren ihre Verhaltensschritte automatenhaft abspulen, bedarf dieses Handeln doch einer größeren (künstlichen) Intelligenz als sie dem mechanischen Ablauf eines Uhrwerks innewohnt. Die Figuren wirken trotz ihrer Verhaltensrituale menschenähnlich und werfen in der Grauzone von Mensch und Maschine die Frage auf, was denn typisch humanoid ist: Wenn geistige Charakteristika sich in Form flexibler Reaktion und Reflektion zeigen, dann können auch Dinge wie der Pfeil personal agieren. Wenn sich der Mensch dagegen über seine gattungstypische Gestalt definiert, dann erkunden die Figuren in ihren Säcken, wie weit von diesem Ideal abstrahiert werden kann, um noch einen humanoiden Eindruck hervorzurufen. In der folgenden Zwischenbemerkung sollen die Analogien von ästhetischen und kybernetischen Identitätsstrukturen untersucht werden, um die ästhetische Subjektivität in Becketts Dramen und Hörspielen genauer deuten zu können.
archimedischer Punkt mehr, von dem aus er seine Person als sinnvolles Ganzes begreifen könnte.« (a.a.O., S. 159). Die Dramen werfen aber die Frage auf, ob es eines archimedischen Punkts überhaupt bedarf, um Subjektivität als Interaktion szenisch vorzuführen. 71
Hans Hoppe beschreibt die Interaktion in Acte sans paroles
II als monokausale Ereig-
nisfolge: »Das szenische Verhältnis von Stachel und Figuren ist keine dialektische Wechselbeziehung, sondern die einseitige Beziehung von Ursache und Wirkung.« Ders., Das Theater der Gegenstände,
a.a.O., S. 147. Wenig später schränkt er seinen
Befund ein, da er der »Aktion des Stachels« einen »Rest der szenischen Spontanität« zugesteht (ebd.). 72
»Wenn eine Billardkugel eine andere anstößt, findet eine Energieübertragung statt, so daß die Bewegung der zweiten Kugel durch die Einwirkung der ersten mit Energie gespeist wird. In Kommunikationssystemen
dagegen entstammt die Energie der
Reaktion gewöhnlich vom reagierenden Teil.« Bateson, Gregory, Ökologie des
Geistes,
Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt am Main 1983, S. 520.
85
3.
Vom Drama zum Hörspiel
»Kybernetik ist die Wissenschaft von Kontrolle und Information, gleichgültig, ob es sich um lebende Wesen oder um Maschinen handelt.« 1 Norbert Wiener
3.1
Zwischenbemerkung zur ästhetischen Subjektivität
Der Titel von Becketts erstem Hörspiel All That Fall (1956) klingt wie eine boshafte Charakterisierung seiner bisherigen Dramenfiguren:
Vladimir,
Estragon, Pozzo und Lucky gehen unzählige Male zu Boden, während Clov seinen Absturz von der Leiter knapp verhindern kann und sich sonst mit Mühe aufrecht hält. Der Mann in Actes sans paroles
I verliert dauernd sein
Gleichgewicht und macht das Fallen zum >running gag< der Pantomime. Der aufrechte Gang als Kennzeichen des Menschen und Sinnbild seiner überlegenen Vernunft wird auch in Krapp 's last tape parodiert. Krapp deutet die alte Clownsnummer vom Fallen zum letzten Mal an, indem er beinahe auf einer Bananenschale ausrutscht. Als erster sprechender Protagonist Becketts ist der alte Mann mit seinen (elektroakustischen) Erinnerungen auf der Bühne allein und führt mit den Tonbändern ein Hör- und Schauspiel widerstreitender Bewußtseinsteile auf. 1
Norbert Wieners 1948 in New York erschienes Buch Cybernetics - or control and Communication Wissenschaft.
in the animal and the machine begründete die Kybernetik als eigene Der
Begriff
Kybernetik
enstammt
dem
griechischen
Steuermann >kybernos< und bezeichnet die interdisziplinären
Wort
für
Grenzgebiete von
Nachrichten- und Regeltechnik sowie der Informationstheorie. Die Frage, wie sich Steuerungs- und Kommunikationsstrukturen beschreiben lassen, stellt sich bei allen lebenden Wesen und im Kontext der vorliegenden Arbeit insbesondere anhand des menschlichen Bewußtseins. Unter dem Namen Systemtheorie ist die Kybernetik in Deutschland als Erklärungsmodell für komplexe Maschinen (von der Dampfmaschine bis zum Computer) und für soziale Systeme bekannt geworden (vgl. Luhmann, Niklas, Soziale Systeme,
Frankfurt am Main 1984). Das Zitat Norbert Wieners stammt aus
Flechtner, Hans-Joachim, Grundbegriffe der Kybernetik, 1984, S. 9.
86
Eine Einführung, München
Schon die früheren Figuren Becketts hatten einander wenig zu sagen und neigten zu Monologen. Doch Krapp und seine Nachfolger führen die Selbstgespräche als akustische/visuelle Interaktion diverser Stimmen oder TeilIchs aktuell vor, anstatt wie Hamm von der Selbstspaltung nur zu reden. In den Stücken nach Fin de partie treten die gegenwärtigen Konflikte zwischen den Figuren hinter lebensgeschichtlichen Rekonstruktionsversuchen zurück - aber haben die Figuren überhaupt eine rekonstruierbare Biographie? Widersprüchliche Aussagen und unsichere zeiträumliche Koordinaten trennen die behauptete Vergangenheit vom gegenwärtigen Bühnengeschehen. 2 Aufgrund der unsicheren Rückbindung an eine biographische Tiefendimension erweisen sich die Figuren als Sprechmasken oder Personae, die ihre Selbstbilder wechseln können. Becketts Figuren können sich weder über leibliche, noch lebensgeschichtliche Aspekte oder ihr diskontinuierliches Bewußtsein dauerhaft identifizieren. Körper, Stimmen und Verhaltensweisen konnotieren zwar menschliche Charakteristika - durchsetzen sie aber gleichzeitig
mit tierischen, geister-
und maschinenhaften
Merkmalen.
Becketts Stücke lösen Bewußtsein, Körper und Figurenrede aus kulturellen Codes wie philosophischen, religiösen und psychologischen etc. Sinn- oder Subjektmodellen sowie von vormodernen Theaterdiskursen. 3 Wenn die
2
Sowohl das erste Treffen mit Godot als auch der >Weltuntergang< im Endspiel liegen weit zurück - wenn sie überhaupt stattgefunden haben. Die Erinnerungen gleichen Fiktionen, da weder die Gedächtnisleistungen noch die Glaubwürdigkeit der Figuren ihren Wahrheitsgehalt garantieren können. Hamm und Clov streiten genauso über die Stilisierungen der Vergangenheit wie Didi und Gogo.
3
Im Gegensatz zu dem von Esslin vorgeschlagenen Begriff eines Theaters des Absurden wird in der vorliegenden Arbeit kein Sinnmodell - und sei es in Form pauschaler Sinnlosigkeit - für alle Dramen vorausgesetzt. »Gerade aus der Opposition der Begriffe >Sinn< und >Bedeutung< ließe sich beispielsweise evtl. das Absurde erfassen: das Subjekt muß der Welt Bedeutung attribuieren, ohne ihr indes einen Sinn zusprechen zu können. Sinn setzt Bedeutung voraus, Bedeutung läßt sich jedoch ohne Rekurs auf Sinn konstituieren.« Fischer-Lichte, Erika, Bedeutung,
Probleme einer semiotischen
Hermeneutik und Ästhetik, München 1979, S. 15. Becketts Stücke skizzieren über ihre Formsprache einen jeweils eigenen Bedeutungshorizont, innerhalb dessen der Rezipient verschiedene Lesarten ausprobieren kann. Vgl. Roland Barthes Unterscheidung zwischen »klassischen« Texten mit einer eindeutig denotierten Aussage und den pluralen Texten der ästhetischen Moderne, die in vielfältigen Konnotationen »Nebelschwaden von Signifikaten« bilden: »Je pluraler ein Text ist, desto weniger ist er geschrieben, bevor ich ihn lese.« Ders., S/Z, Frankfurt am Main 1987, S. 14.
87
zentrifugalen Kräfte der Desintegration die zentripetale Kohäsion eines Bewußtseins übertreffen, dann kann von den Figuren als Repräsentanten eines individuellen und konstanten Erkenntnissubjekts nicht mehr sinnvoll gesprochen werden. Die vorliegende Arbeit geht davon aus, daß Becketts Stücke die Funktion profilierter Charaktere durch eine figurenübergreifende Form ästhetischer Subjektivität ersetzen. Die Figuren suchen zwar permantent nach einem konstanten Wesenskern, finden aber nur psychologische Klischees und/oder erfinden zusätzliche Stimmen und Figuren (wie die Auditoren), welche die existentielle Unsicherheit noch erhöhen. Die Interaktion mit den angenommenen Beobachtern steht exemplarisch für die strukturelle Identitätsschwäche in Becketts Dramen: Durch den Verlust traditioneller Sinn- oder Subjektmodelle und ohne klar umrissene Identität müssen sich die Figuren per Selbstbeobachtung und Abgrenzung von der Umwelt fortwährend neu definieren.4 Dieser Prozeß endloser Selbstidentifikation erfolgt jedoch nicht als Face-to-face-Kommunikation mit charakteristisch handelnden Personen wie in der Repräsentationsästhetik. Statt dessen wird die Selbstsuche von angenommenen Beobachtern bzw. vom Gefühl des Wahrgenommenwerdens bestimmt, weshalb die Figuren ohne diese Paarbindung, bzw. außerhalb des logischen Spielrahmens unvorstellbar sind. Sie können als Bewußtseinssegmente bzw. Teil -Ichs verstanden werden, die einander im konfliktreichen Zusammenspiel ergänzen, konterkarieren und indirekt charakterisieren. Im Verlauf von Becketts Werkgeschichte erweisen sich die Figuren immer deutlicher als Figurationen ästhetischer Subjektivität, die den ratiozentrischen Autonomieanspruch des bürgerlichen Individuums negieren, bzw. durch neue Identifikationsmuster ersetzen. Die radikale Abkehr von der Individualkategorie wurde in großen Teilen der Beckett-Rezeption nicht mit der wünschenswerten Klarheit realisiert. Auch Martin Esslins Ansatz, die Figuren als »Aspekte« eines Monodrams zu beschreiben, verlagert die Funktion von selbstgewissen Erkenntnissubjekten aus dem Figurenbewußtsein lediglich auf die Ebene des Stückganzen: »In Rough for Radio (II, Anm. J.B.) his basic concept of splitting the consciousness into dinstinct portions and making them into characters in a 4
88
Der »modus vivendi alltäglicher Selbstvergewisserung« ist für Helmut Wilke zum Paradigma der »heutigen Situation« und zum »funktionalen Äquivalent für die verloren gegangenen äußeren Gewißheiten geworden.« Ders., Systemtheorie: eine Einführung in die Grundprobleme der Theorie sozialer Systeme, Stuttgart/New York 1991, S. 134.
metaphorical monodrama of the m i n d in c o n f l i c t with itself is most clearly displayed. Here w e have, I feel, the key for understanding of m u c h that is mysterious and difficult in B e c k e t t ' s other works.« 5 Esslin deutet F o x als » S t i m m e aus d e m U n b e w u ß t e n « und den Animator als »kritische Fähigkeit, dieser S t i m m e Gestalt zu geben«. D a s U n b e w u ß t e und die r e f l e x i v e IchInstanz agieren d e m z u f o l g e in e i n e m » M o n o d r a m über den künstlerischen Prozeß«, »in d e m j e d e Figur einen A s p e k t im Geist des Künstlers repräsentiert« (alle Zitate A n m . 5). Esslins Versuch, die Individualkategorie
als
identitätsstiftende Metaebene zu retten, i n d e m er den Geist e i n e s idealtypis c h e n »Künstlers« zur personalen Einheit aller Hörspielstimmen erklärt, beruht auf p s y c h o l o g i s c h e n Klischees: D a s Verständnis der Figuren als A l l e g o r i e n d e s Freudschen Instanzenmodells legt sie auf ein unhinterfragtes historisches Subjektmodell fest, o h n e das kritische/parodistische Potential der Stücke in B e z u g auf tradierte D e n k m u s t e r zu berücksichtigen. 6 A l s fiktionale S t i m m e n und Gestalten sind d i e Figuren v o m neuzeitlichen Individualdiskurs w e i t g e h e n d unabhängig, d.h. s i e setzen ihn nicht n o t w e n dig durch e i n n e u e s integrales M e n s c h e n b i l d fort. D e r Fragmentcharakter der Figuren grenzt sich deutlich g e g e n p s y c h i s c h e und physische Einheits-
5
Esslin, Martin, Samuel Beckett and the Art of Broadcasting, in: Mediations, Essays on Brecht, Beckett and the Media, London 1980, S. 150. »Generalschlüssel« zu Becketts Werk verleiten zu simplifizierenden Entschlüsselungsversuchen: »If we see Rough for Radio as a monodrama about the artistic process in which each of the characters represents one aspect of the artist's mind, we must regard the Animator as the critical faculty trying to shape the utterances of the voice that emerges from the subconcious, while the stenographer is the recording faculty and, also, in her distress about the spurious sentence the Animator inserts in the text, the artist's conscience; Dick the torturer, is the artist's determination to stimulate his subsconcious by suffering; the stenographer's disrobing and kissing of Fox represents analoguous attempts to stimulate the subconscious by erotic fantasies.« A.a.O., S. 148f. (vgl. Anm. 6).
6
Wenn man Fox wie Esslin als »Stimme des kreativen Unbewußten« versteht, dann fällt zuerst der grotesk-komische Deutungsaufwand für die wenigen Worte auf, die diese angebliche Es-Instanz von sich gibt. Rough for Radio II parodiert das Unverständnis der Exegeten, das sich in den Umdichtungen des Animateurs zeigt. Als letztes Mittel läßt er Fox von der Stenographin wie von einer >Muse< küssen, um dessen Wortproduktion anzutreiben - woraufhin die »Stimme des kreativen Unbewußten« in Ohnmacht fällt. Die z.T. komischen Konflikte und Nicht-Kommunikation zwischen den verschiedenen Figurationen betonen deren Nicht-Identität - die sich nicht durch Esslins Verweis auf den umfassenden »Geist des Künstlers« in eine personale Einheit umdeuten läßt.
89
Vorstellungen ab, indem er nicht die Identität, sondern die Identitätskrise zur Norm der Subjektivität (in Becketts Werk) erhebt. Die Figurationen des Mentaltheaters sind also nicht notwendig wie Esslins »Aspekte« eines Monodrams durch ihre Integration im Bewußtsein eines übergeordneten Individuums verbunden. Die Auditoren fungieren noch am ehesten als >höheres Bewußtseinda< ist, nur weil es sich um einen Menschen handelt. Wenn dies aber das Kriterium für Subjekthaftigkeit ist, dann gerät die Einzigartigkeit personaler und personennah gedachter Identität ins Wanken.« Wilke, Systemtheorie, a.a.O., S. 141.
wird also einerseits durch die konstitutiven Elemente des jeweiligen Regelkreises und andererseits von der Eigendynamik der Interaktion bestimmt. Die unter c) genannten Diskurse sowie Kommunikationsformen und -kanäle sind für die folgenden Untersuchungen besonders bedeutsam, da sie die lebensgeschichtlich und körperlich entgrenzte Subjektivität in Becketts Werk medial und motivisch koppeln - ohne sie auf ein Subjektmodell festzulegen. Im Gegenteil: Obwohl die Stücke nach Fin de partie auf wenige Figuren, Themen und Requisiten beschränkt sind, werden die Deutungsmöglichkeiten der szenischen und radiophonen Interaktionen größer: Die Identitätsfragmente besitzen einerseits einen hohen Informationswert (vgl. Anm. 8), da sie sich implizit kommentierend auf eine Vielzahl traditioneller Selbst- und Weltbilder beziehen. Andererseits lassen sich die bruchstückhaften und multivalenten Identitätsstrukturen nicht auf eine verbindliche Stückaussage festlegen, sondern müssen innerhalb des vorgegebenen formalen Rahmens zu einem individuellen Bedeutungsgefüge ergänzt werden (vgl. Anm. 3).11 Das »Fragmentarische der dramatischen Menschengestaltung« wird also vom genretypischen Mangel zum impliziten poetologischen Programm, das ästhetische Subjektivität aus traditionellen Identifikationsmustern befreit.12 Die statische Identität ratiozentrischer Erkenntnissubjekte wird durch den Prozeßcharakter von Körper und Bewußtsein radikal verzeitlicht, die hierarchische Gliederung zwischen
11
Mit der These, daß die wenigen Elemente des Bühnengeschehens durch den Verlust eines eindeutigen Sinnzusammenhangs ihre Kombinationsmöglichkeiten und damit ihre
Bedeutungsviefalt
potenzieren,
widerspricht
die
vorliegende
Arbeit
den
Ausführungen Hartmut Engelhardts: »Je weniger Elemente, desto durchschaubarer das Spiel, je durchschaubarer all deren Kombinationen, desto durchsichtiger das Spiel als solches.« Über einige Spielstücke,
in: Ders. (Hrsg.), Samuel Beckett,
Frankfurt am
Main 1984, S. 319. 12
Auf der Figurenebene kann das »Fragmentarische der dramatischen Menschengestaltung« (Pfister, Manfred, Das Drama,
München 1977, S. 222) Becketts Protagonisten
nicht als Mangel ausgelegt werden, da sie den Repräsentationsanspruch, Figur = (oberflächlich) dargestellter Mensch, gar nicht verkörpern, sondern diesen Realismus parodieren. Auf der Ebene des Figurenensembles werden die »medial beschränkteren Möglichkeiten, eine(r) Innenschau, eine(r) vision du dedans«
(ebd.) des Dramas z.T.
dadurch kompensiert, daß die Figuren als Figurationen der Subjektivität um einen angenommenen lebensgeschichtlichen Zusammenhang kreisen. Durch die Fokussierung auf wenige Bewußtseinsprozesse kann Becketts Mentaltheater eine dem Roman vergleichbare psychische Vielschichtigkeit szenisch vorführen.
93
Cogito und Körper oder gegenwärtigen und vergangenen Bewußtseinszuständen wird in Becketts Stücken weitgehend aufgehoben. Weder der vernünftige Gebrauch von Sprache noch die menschliche Gestalt oder Stimme weisen a priori auf eine individuelle Identität hin. Schon in Fin de partie vollzog sich der Wechsel von der cartesianischen Innenperspektive eines »cogito ergo sum« zum externen Existenzbeweis eines Wahrgenommenwerdens durch andere. Das Oszillieren zwischen Innen- und Außenperspektive wird zum konstitutiven Bestandteil von Figurationen der Subjektivität, die getrennt voneinander erscheinen, aber nicht allein, sondern erst in ihrer Interaktion sinnvoll zu verstehen sind. Das Verhältnis der verschiedenen Teil -Ichs kann nach dem Modell der beiden (Kamera-) Augen verstanden werden, die sich am Ende von Film anblicken, als hätten sich die beiden Retinae eines Menschen einander zugewandt und könnten sich gegenseitig wahrnehmen (vgl. Anm. 104). Auch Krapps Tonbandgerät läßt sich als externer Mund des Protagonisten verstehen, während seine Ohren den fremdvertrauten Stimmen lauschen. Die Struktur der szenischen Aufteilung von Sehen, Sprechen und Hören auf verschiedene Figuren ist mit dem Verweis auf die Biographie oder personale Einheit z.B. Krapps nicht adäquat erfaßt. Statt aus Stimmen und Körperausschnitten einen fragwürdigen lebensgeschichtlichen Zusammenhang zu (re-) konstruieren, müssen die visuellen und akustischen Zeichen in ihrem jeweiligen Wechselspiel untersucht werden.13 Nicht die individuelle Figurenperspektive oder die Einheit der Handlung ist Ausgangspunkt der folgenden Untersuchungen, sondern ein Geflecht eigengesetzlicher Regelkreise, die auf der (personenunabhängigen) Erzeugung und dem Austausch von Informationen basieren. Gregory Bateson stellt dem cartesianischen Dualismus in großen Teilen der traditionellen Erkenntnistheorie ein holistisches Paradigma entgegen: Der Gegensatz von Geist und Materie wird in einen Datenverbund des psychosomatischen Bewußtseins aufgelöst, der den Leib zugleich in seine Umwelt entgrenzt - oder wie Bateson sagt: »ohne Kontext keine Kommunikation.«14 Das bedeutet für das individuelle Bewußtsein, daß es durch Infor-
13
In Becketts Hörspiele werden die Stimmen im Kontext anderer Laute in bezug auf ihre klangliche und rhythmische Qualität analysiert, statt in ihnen den Ausdruck profilierter Charaktere zu suchen. Zur Zeichentheorie: Fischer-Lichte,
Erika, Semiotik
des
Theaters, Band I: Das System der theatralen Zeichen, Tübingen 1983, 3.Auflage 1994. 14
Bateson, Kybernetische
Erklärung, a.a.O., S. 519. An anderer Stelle gibt Bateson ein
einfaches Beispiel für sein holistisches Menschenbild im Kontext der Informations-
94
mationen aus seinem sozialen und körperlichen Umfeld kontrolliert wird und »seine eigenen Maßnahmen an deren Zeitcharakteristika und an die Auswirkungen seiner eigenen vergangenen Handlungen anpassen« muß. 15 Aus diesen Überlegungen zieht Bateson den Schluß, daß »die geistigen Charakteristika des Systems [...] nicht einem Teil immanent (sind), sondern dem System als ganzem.« 16 Der systemische Deutungsansatz der Subjektivität läßt sich auf Becketts Dramen übertragen, da die Figuren nur Träger von residualen Bewußtseinsfunktionen sind und erst im System interner und externer theatraler Kommunikation einen adäquaten Sinnzusammenhang bilden, der sich als Modell dezentrierter Subjektivität verstehen läßt. Weder Aussagen noch Handlungen der Figuren sind aus dem jeweiligen stückumspannenden Spielkontext und der stückimmanenten Appellstruktur an den Rezipienten sinnvoll herauszulösen. Auf der Ebene des synästhetischen Stückganzen wird auch die figurentypische Spaltung zwischen Körper und Bewußtsein transzendiert; d.h. der cartesianische Dualismus wird im systemischen Kontext von einer Vielzahl informationsvermittelnder Sender/ Empfänger abgelöst. Trotz ihrer medialen Selbstreflexionen haben die Figuren allerdings zuwenig Einblick in ihren systemischen Zusammenhang und kreisen daher immer weiter um ihre jeweiligen Identitätskonflikte. Die drei o.g. Aspekte der Identitätsfrage a) Körper b) (Selbst-) Bewußtsein und c) Kommunikationsformen lassen sich anhand der stückübergreifenden Charakteristika in Becketts Dramen, Hör- und Fernsehspielen vorläufig als 1) Handlungsspielraum, 2) Erkenntnisperspektiven, 3) Materialität der Kommunikation spezifizieren. Die unterschiedlichen Themenkreise sollen an Beispielen in ihrer Wechselwirkung näher bestimmt werden, um den Deutungshorizont der folgenden Stückinterpretationen abzustecken.
theorie: »Oder man denke an einen Blinden mit einem Stock. Wo beginnt das Selbst des Blinden? An der Spitze des Stocks? Am Griff des Stocks? [...] Diese Fragen sind unsinnig, weil der Stock ein Weg ist, auf dem Unterschiede übermittelt werden und dabei eine Transformation durchmachen, so daß die Grenzlinie durch diesen Weg zu ziehen bedeutet, einen Teil des systemischen Kreislaufs abzuschneiden, der die Fortbewegung des Blinden bestimmt.« Ders., Die Kybernetik des »Selbst«, Eine Theorie des Alkoholismus, in: Ökologie des Geistes, a.a.O., S. 411. 15 16
Bateson, Die Kybernetik des »Selbst«, a.a.O., S. 409. Bateson, Die Kybernetik des »Selbst«, a.a.O.. Die geistigen Charakteristika des Leibes beschreibt Bateson u.a. über immunologische Funktionen sowie das vegetative Nervensystem und schließt daraus: »In keinem System, das geistige Charakterstika aufweist, kann also irgendein Teil einseitige Kontrolle über das Ganze haben.« (ebd.).
95
1) Handlungspielraum: An seiner Hundeleine ist Pozzos Knecht Lucky der Vorläufer einer Reihe von Figuren, die auf immer kleinere Bewegungsradien festgelegt werden. Während sich Hamm in seinem Rollstuhl noch mit Clovs Hilfe fortbewegen konnte, sind seine beinamputierten Eltern an immobile Mülltonnen gebunden. Mit den körperlichen Einschränkungen ändert sich auch die Raumkonzeption in den Dramen: Die Wüsten und weitgehend leeren Innenräume werden häufig zu Körperlandschaften, die wie Winnis Sandhügel in Happy Days die Figuren immer enger einfassen. Das statische Geschehen erstarrt zu Bühnentableaus, die weniger einen spezifischen Ort als eine Befindlichkeit der dramatis personae bezeichnen - und/oder einen ästhetisch motivierten Körperausschnitt wie den Mund in Play zeigen. Der Handlungsspielraum der Figuren beschränkt sich in der Regel auf wenige Requisiten und die damit verbundenen Assoziationen. Die imaginäre Fülle in den Erzählungen steht im Kontrast zur szenischen Kargheit - die übriggebliebenen Objekte verweisen ex negativo auch auf all das, was es nicht mehr gibt. Hamms Rollensessel ist z.B. das Rudiment aller fahrbaren Untersätze, nachdem mit Clovs Fahrrad auch alle größeren Räder aus dem Endspielkosmos verschwunden sind. Die geringe Mobilität und der veränderungsarme Ort des Geschehens stellen einen räumlichen Zusammenhang zwischen den divergierenden Körper- und Bewußtseinsteilen her, ohne deren Einheit als integrale Leiblichkeit zu präjudizieren. In den frühen Stücken sind die Handlungsrestriktionen der Figuren eher von verinnerlichten Zwängen als von körperlichen Einschränkungen bedingt: Didi und Gogo müssen auf Godot warten, während Hamm und Clov ihr endloses Spiel nicht einseitig beenden können. Die Verhaltensvorschriften binden die Figuren an einen Ort und lähmen die potentiell handlungsfähigen dramatis personae durch Routine und Resignation. Die personal agierenden Dinge engen die Handlungsmöglichkeiten der Figuren weiter ein und lassen sie auf das fremdbestimmte Geschehen weitgehend passiv reagieren. Fast alle Figuren beziehen sich auf Auditoren und/oder sind >externen< Reizen ausgesetzt, deren penetrante Aufdringlichkeit und zugleich Bedingtheit durch die Figuren Actes sans paroles I vorführte. Die Betrachterperspektive und bühnenbaulichen Besonderheiten des Guckkastentheaters - auf die sich Becketts Stücke bzw. Bühnenfriese offensichtlich beziehen (vgl. z.B. Kap. 2.3) - sind dagegen dem Einfluß der dramatis personae entzogen. Nicht nur in En attendant Godot parodiert das Aus-der-Rolle-fallen der Figuren die Darstellungskonventionen des bürgerlichen Illusionstheaters. Die Stücke weisen in medialen Selbstreflektionen häufig auf die spezifischen Bedingun96
gen von Theater, Radio, Film und Fernsehen hin und versuchen, die jeweils gängigen Spielregeln bewußt zu machen und ggf. zu verändern. 2) Erkenntnisperspektiven: Die Beschränkungen ihrer (Selbst-) Wahrnehmungsmöglichkeiten zwingt die Figuren zu einem Perspektivenwechsel von der Innensicht des erkennenden Ichs zu einer auditorialen Anschauungsform. Das diskuntinuierliche Bewußtsein fällt als Bezugspunkt für homogene Selbst- und Weltbilder aus. Wenn sich das temporäre Ich seiner Identität aktuell nicht gewiß sein kann, dann besteht seine letzte Hoffnung darin, für andere zu sein, die als Auditoren a posteriori oder von außen eine Identifizierung vornehmen können. Didi, Gogo, Hamm und Clov beziehen sich in ihrer Sinn- und Selbstsuche auf scheinbar externe Beobachter, um ihr beschränktes Erkenntnisvermögen zu transzendieren. In den Stücken nach Fin de partie wird aufgrund des dominanten Vergangenheitsbezugs die Weltund Selbstentfremdung derart akut, daß der Verweis auf den auditorialen Standpunkt die Selbstgewißheit immer weiter ersetzt: »Ich weiß zwar nicht, wer ich bin, aber ich nehme an, daß ein anderer mich momentan oder später als bewußtes Wesen wahrnimmt.« Das percipi durch einen - wie auch immer gearteten - Zeitgenossen oder Nachfolger wird zu einem der letzten Bindeglieder der »zahllosen Subjekte, die das Individuum konstituieren«.17 An die Stelle eines Für-michs, das eine grundlegende Vertrautheit der Figuren mit sich selbst voraussetzen würde, tritt das Für-andere. Das Erkenntnisproblem wird an die angenommenen Auditoren delegiert, deren imaginäres Dasein in der Vorstellung der Figuren für diese unzweifelhafter ist als die Existenz einer empirischen Außenwelt.18 In den Augen eines angenommenen anderen wird allerdings auch das Ich immer ein anderer, aber niemals jemand bestimmtes, da sowohl das erkennende (auditoriale) als auch das erkannte Subjekt einer ständigen Veränderung unterliegen. 3) Materialität der Kommunikation: Die Reduktion des Bewegungsradius engt nicht nur den Handlungsspielraum der Figuren ein, sondern verstärkt 17
»Die Erschaffung der Welt hat nicht ein für allemal stattgefunden, sie findet jeden Tag statt. Gewohnheit ist also der allgemeine Ausdruck für die zahllosen Verträge, die zwischen den zahllosen Subjekten, die das Individuum konstituieren, und ihren zahllosen korrelierenden Objekten geschlossen werden.« Beckett, Proust, a.a.O, S. 16.
18
Wenn der Auditor nicht in der Vorstellung der Figuren, sondern auch in deren Wahrnehmung existierend gedacht würde, dann träte die paradoxe Situation ein, daß das sinnlich unmittelbare Gewahrsein von Gegenständen (als Wissen erster Ordnung) in den Stücken weniger Realitätsgehalt hätte als das Wahrgenommenwerden oder Wissen zweiter Ordnung - das sich auf die Sinneswahrnehmung erster Ordnung bezieht.
97
zugleich die Wirkung ihrer Stimme und des sprachlichen Ausdrucks. Die relative Ereignisarmut auf der Ebene der visuellen Zeichen steht im Kontrast zu den schnellen Wechseln in der Figurenrede - und den von ihr evozierten Assoziationsräumen. Während die Bühnenszenarien weitgehend unverändert bleiben, treten in den Erinnerungen der Figuren verschiedene Personen in zum Teil detailliert beschriebenen Situationen und Dekorationen auf. Der Nuancenreichtum und die unterschiedlichen Stimmen, z.B. der Sprecher auf Krapps Tonbändern, verschwinden allerdings so schnell, wie sie erschienen sind. Durch die Entkoppelung der Stimme von einer lebensgeschichtlichen und körperlichen Identität haben die stückbestimmenden Erinnerungen einen zweifelhaften und transitorischen Charakter. Die Aussagen können auf keine Sprecherpersönlichkeit bezogen bzw. von ihr verifiziert werden und lassen sich in den späteren Hörspielen z.T. überhaupt keiner eindeutigen Tonquelle oder Kommunikationssituation mehr zuordnen (vgl. Kap. 3.3). Die klangliche Organisation immer kahlerer Wortgruppen durch Leitmotive, Wiederholungen und Echobildungen erweist sich als Grenzerkundung sprachlicher Identität. Der Sinngehalt dominiert nicht mehr notwendig die Sprachstruktur und fügt die Stimme als gleichwertigen szenischen Bestandteil in die Synästhetik von Licht, Ton und Bewegung etc. ein. Der Akzent liegt also nicht auf der Plausibilität lebensweltlicher Repräsentation, sondern verlagert sich auf die Materialität der Kommunikation, mit der Stimmen, Körper und nicht-anthropomorphe Akteure bzw. Gegenstände interagieren. Anhand von Becketts Radiostücken soll das Zusammenspiel akustischer Zeichen nun einerseits auf (leit-) thematische und musikalische Regelkreise untersucht werden. Andererseits bieten die Hörspiele eine Möglichkeit, die radiophone Illusionswirkung von Stimmen und Geräuschen zu analysieren und dabei die Unterschiede zur theatralen Aufführungssituation zu zeigen.
3.2 All That Fall: Stimmen in der Radiohölle In All That Fall herrscht ein Höllenlärm: Tierstimmen krähen, blöken und muhen durcheinander; alte Schallplattenaufnahmen spielen den ganzen Tag; Geräusche von Füßen, Karren, Fahrrädern, Autos und Eisenbahnen erzeugen den jeweils typischen Lautpegel, und menschliche Stimmen reden, schreien, seufzen, fluchen einzeln und im Chor. In der Göttlichen Komödie beschreibt
98
Dante die Hölle als »Reich des Lärms« 19 und der rastlosen Qualen: »So war das Volk hier ewig in Bewegung.« 20 Der gleiche ruhelose Bewegungsdrang herrscht auch m All That Fall - und bildete die akustische Ausgangsidee zu dem Radiostück: »»Habe nie über Hörspieltechnik nachgedacht«, schrieb Beckett an Nancy Cunard, »aber neulich ist mir mitten in der Nacht eine hübsch gruselige Idee gekommen, in der es um Karrenräder und schlurfende Füße, um Gekeuch und Gestöhn geht und aus der etwas werden könnte oder auch nicht.« 21 Die Geräusche von einer »hellish road« (wie es die Stimme Dan Rooney nennt, CDW 190)22 sind keinem irdischen oder jenseitigen Ort eindeutig zuzuordnen, sondern ziehen sich durch einen Klangraum, in dem Stimmen, Musik und Lärm aller Art unterschiedliche Vorstellungen evozieren. Dieser radiophone Limbus Iäßt sich im Vergleich mit Dantes Unterwelt deuten: Die Stimme Dan Rooney zitiert z.B. die Göttliche Komödie, um mit grotesken Gestalten eine tanzähnliche Bewegungsform zu beschreiben: »Or you forwards and I backwards. The perfect pair. Like Dante's damned, with their faces arsy-versy. Our tears will water our bottoms.« (CDW 191). Der Scherz über die verdrehten Körper bezieht sich auf die Seher und Propheten, die im untersten Kreis der Hölle für ihre Weissagungen büßen. 23 Obwohl die Beschreibungen von Dans Gestalt dem blinden Tiresias mit dem »Seherstabe« gleicht, kann die Stimme nur die »horrors of homelife« (CDW 193) nach der Pensionierung voraussehen. Die Stimmen stellen daher keine Dante-Figuren dar, gleichen den höllischen Kunstwesen jedoch insofern, als sie nicht den biologischen, psychologischen etc. Gesetzmäßigkeiten einer abgebildeten Lebenswelt unterstehen. Wie einige Radioproduktionen von Beckettts Hörspielen gezeigt haben, bilden Stimmen und Bewegungsgeräu-
19
Dante, Die Göttliche
Komödie,
Das Hohelied von Sünde und Erlösung, Heidelberg
1952, Inferno IV. Gesang 150, S. 26. 20
Dante, Die Göttliche Komödie,
21
Bair, Deirdre, Samuel Beckett, Eine Biographie, Hamburg 1991, S. 598.
22
Unter dem Sigel CDW erscheint die englische Gesamtausgabe der Stücke, Hör- und
23
Dante, Die Göttliche Komödie,
Inferno VII. Gesang 23, a.a.O., S. 35.
Fernsehspiele: Beckett, Samuel, The Complete Dramatic
Works, London 1986.
Inferno XX. Gesang 9ff., a.a.O., S. 89:
»Und als noch tiefer drang mein Blick zu ihnen, Da kam's mir vor, als ob ein jeder sei Vom Kinn zur Brust gar wundersam verrenkt, Denn schulterwärts war ihr Gesicht gewendet, Und alle mußten so nach rückwärts schreiten, Dieweil sie nicht nach vorne schauen durften.«
99
sehe wechselnde akustische Einheiten bzw. gemeinsame >Klangkörper< in einem eigengesetzlichen Klangkosmos.24 Eine zweite Höllenanalogie liegt in der Fixierung des Geschehens auf die (fiktive) Vergangenheit: Auf den radiophonen Stationen zum Bahnhof Boghill spricht die Stimme Maddy Rooney immer wieder von den Erinnerungen an ihre (tote) Tochter Minnie, während die Stimme Dan im zweiten Teil des Hörspiels an die Bahnfahrt denkt, bei der ein Kind unter den Zug kam. Alle Stücke Becketts nach Fin de partie werden von Lebensrückblicken bestimmt, wobei das Hörspielfragment Rough for Radio II explizit auf die permanente Retrospektion in der Göttlichen Komödie hinweist: »Have you read the purgatory, miss, of the divine Florentine? [...] There all sigh, I was, I was. It's like a knell. Strange, is it not? [...] Why one would have rather expected, I shall be. No?« (CDW 278). Selbst im Purgatorium sinnen die Toten ihren Lebenserinnerungen nach, statt sich einer erlösten Zukunft zuzuwenden.25 Die ontologische Unsicherheit im Limbus und im Fegefeuer als Zwischenreiche von Verbannung und Erlösung bildet die dritte Analogie zur Rundfunkhölle von All That Fall. Die Geschichte eines kleinen Mädchens, welche die Stimme Maddy Rooney erzählt, steht exemplarisch für die Existenzweise im radiophonen Limbus: »The trouble with her was she had never been really born!« (CDW 196). Das »Nicht-richtig-geboren-sein« spielt auf eine der Tavistock-Vorlesungen Carl Gustav Jungs an, die Beckett 1935 in London hörte.26 Entscheidend ist aber nicht der biographische Hintergrund, 24
Die Höreindrücke von All That Fall beziehen sich auf eine Aufzeichnung der englischen Uraufführung des Hörspiels durch die BBC vom 13.1.57 unter der Regie von Donald McWhinnie mit Mary O'Farrell als Maddy Rooney und J.G. Devlin als Dan sowie auf die amerikanische Erstaufführung zu Becketts 80. Geburtstag vom 13.04.86 durch American Public Radio (APR) - die teilweise erheblich von dem »stilisierten Realismus« der englischen Uraufführung abweicht. Regie: Everett C. Frost; Maddy Rooney wurde von Billie Whitelaw und Dan von David Warrilow gesprochen.
25
Die Passage in Rough for Radio II erinnert an »all die toten Stimmen« in En attendant Godot: »Vladimir: Elles parlent toutes en même temps. / Estragon: Chacune à part soi. / Silence / Vladimir: Plutôt elles chuchotent. / Estragon: Elles murmurent. / Vladimir: Elles bruissent. / Estragon: Elles murmurent. / Silence / Vladimir Que disent-elles? / Estragon: Elles parlent de leur vie. / Vladimir: Il ne leur suffit pas d'avoir vécu. / Estragon: Il faut qu'elles en parlent. / Vladimir: Il ne leur suffit pas d'être mortes. / Estragon: Ce n'est pas assez. Silence« (DDI 130).
26
Vgl. Bair, Deirdre, Samuel Beckett, Eine Biographie, a.a.O., S. . 275. Das »nie richtig geboren zu sein« wird in der Addenda von Becketts zweitem Roman Watt genannt. Der Autor gibt ein parodiertes christliches Dogma als Quelle an: »die Seele des Fötus ist
100
sondern die Funktion der Textstelle als mediale Selbstreflexion: Das JungZitat beschreibt treffend die Zwischenexistenz von Hörspielfiguren, die sich auf eine scheinbar bekannte Lebens- bzw. Unterwelt beziehen, aber mediengemäß auf den akustischen Kanal beschränkt sind. Für die Radiostimmen gilt Berkeleys erkenntnisphilosophische Prämisse »esse est percipi« in besonderer Weise: Ohne sichtbare Gestalt sind die Stimmen im Verstummen immer auch vom Verschwinden bedroht und hängen daher von
ihrer
permanenten Lautproduktion ab. Was unter die Hörschwelle sinkt, wird aus der Wahrnehmung des Rezipienten in die Erinnerung verbannt und verblaßt, obwohl das Sprechen jederzeit einsetzen könnte. Die Stimme Maddy wendet sich daher nach kurzem Schweigen an die Hörer und macht sie auf ihre >anwesende Abwesenheit aufmerksam: » D o not imagine, because I am silent, that I am not present, and alive, to all that is going on.« (CDW 185). 2 7 Die direkte Höreradresse durchbricht die Illusionswirkung des Hörspiels, und reflektiert über die Bedingungen des Rundfunks. Gleichzeitig versucht sie paradoxerweise die Illusion von leibhaftig anwesenden Menschen in einer realistischen Situation hervorzurufen. Die Stimmen
verschwinden
jedoch im Schweigen oder bei dem Monolog einer anderen Figur unweigerlich in einem radiophonen Limbus. Dieses Zwischenreich ist nicht den Gesetzen der Körper und ihren räumlichen Auf- und Abtritten unterworfen, sondern existiert allein in der Zeit bzw. im Auf- und Abblenden der Stimmen. 2 8 Der Rezipient erliegt leicht der suggestiven Kraft von Stimmen, die erwachsen (s. die heilige Embriologie
von Cangiamila und De Synodo Diocesana,
7.
Buch, 4,Kapitel, 6. Abschnitt von Papst Benedikt XIV.)« Ders., Watt, Frankfurt am Main 1970, S. 264. Das »Nicht-richtig-geboren-sein« befreit Figuren wie Hamm (»Je n'ai jamais été là.«, DDI 300), Maddy und Miss Fitt wenigstens teilweise von der »ewigen Sünde, der Sünde geboren zu sein.« Beckett, Proust, a.a.O., S. 60. 27
Die mediale Selbstreflexion zeigt die Abhängigkeit vom Wahrgenommenwerden durch einen Auditor, was nicht auf ein pseudo-cartesianisches Subjekt schließen läßt, wie Shimon Levy nahelegt: »Beckett develops the idea of space in radio in a pseudoCartesian manner, implying >1 emit noises ergo I am.« Ders., Samuel Beckett's SelfReferential Drama, The three I's, New York 1990, S. 61.
28
Im Zusammenhang mit den hörbaren »Auf- und Abtritten« der Figuren wirft Clas Zilliacus Beckett einen schülerhaften, antiquierten Realismus vor: »This kind of realism, which was necessary at a stage when radio had not yet developed a grammer tolerant of ellipses, could be taken as a sign of apprenticeship.« Ders., Beckett and Broadcasting, A Study Of The Works Of Samuel Beckett For And In Radio And Television, Acta Academiae Aboensis, Ser. Α. Humaniora Vol. 51 Nr. 2; Abo 1976, S. 58. Die vielfältigen Bewegungsgeräusche unterliegen jedoch klanglichen Gesetzmäßigkeiten,
101
mit ihrer lautlichen Präsenz auch eine leibliche Gestalt akustisch evozieren; da die Figuren aber nicht leibhaftig in einer szenischen Situation erscheinen, können sie allenfalls Assoziationsräume beim Hörer hervorrufen: »Im Laut manifestiert sich die Körperlichkeit der Stimme und zugleich löst sie sich mit ihm vom Körper los, zu dem sie dann über das Ohr zurückkehrt.« 29 Die Ablösung der Stimme von einem eindeutig identifizierbaren Ursprung, sei es von der Sprecherpersönlichkeit oder deren leiblicher Einheit, ist ein zentrales Thema von Becketts Hörspielen, das die Illusionswirkung der Stimmen und Geräusche immer wieder kontrastiert. Als Kunstwesen ohne sichtbaren Körper sind die Stimmen im biologischen Sinne »nicht richtig geboren« und verdanken ihre Existenz der Zuhörerphantasie, den Gesetzen der Rundfunktechnik und der stückumfassenden Klangkomposition. Was Beckett in einem Interview über die musikalische Wiederholungsstruktur von Bewegungen sagte, gilt auch für die Stimmen in seinen Hörspielen: »Producers don't seem to have any sense of form in movement. This kind of form one finds in music, for instance, where themes keep recurring. When, in a text, actions are repeated; they ought to be made unusual the first time, so that when they happen again — in exactly the same way — an audience will recognize them from before.« 3 0
Wie die Tierstimmen und Bewegungsgeräusche in All That Fall ist auch die Figurenrede von leitmotivischen Wiederholungen geprägt: Die menschlichen Stimmen versuchen das Fehlen einer Physiognomie scheinbar zu kompensieren, indem sie fortwährend über alle Facetten der Körperlichkeit reden. Die Gespräche drehen sich um Zeugung, Geburt, Krankheit und Tod, und die einzelnen Figuren variieren diese Themen nach stereotypen Mustern: Einerseits erinnern sie in ihren Verhaltensweisen an traditionelle und das plötzliche Erscheinen und Verschwinden der Stimmen verweist auf keine raumgebundene oder realistische Darstellungsweise in All That Fall. 29
Fischer-Lichte, Erika, Kurze Geschichte des deutschen
Theaters, Tübingen/Basel 1993,
S. 429. 30
Interview mit Charles Marowitz (o.J.) in: Levy Shimon, Samuel Beckett's tial Drama,
Self-Referen-
a.a.O., S. 26. In einem Brief an den amerikanischen Regisseur Alan
Schneider schrieb Beckett über die musikalische Gesamtwirkung der Stimmen und Geräusche in seinen Stücken: »My work is a matter of fundamental sounds (no joke intended) made as fully as possible, and I accept responsibility for nothing else. If people want to have headaches among the overtones, let them and provide their own aspirin.« In: Cohn, Ruby (Ed.), Disjecta: London 1983, S. 109.
102
Miscellaneous
Writings and a Dramatic
Fragment,
Theatertypen, wie z.B. der alternde Frauenheld Mr. Slocum, die frömmelnde Jungfrau Miss Fitt und der Menschenfeind Dan Rooney. Andererseits beschränken sich die Unterschiede in der Figurenrede hauptsächlich auf eine plakativ optimistische oder pessimistische Attitüde - die manchmal groteskkomischen Wendungen unterliegt: Während ein platter Reifen für die Stimme Mr. Tyler Anlaß genug ist, um Gott, die Menschen und den Samstagnachmittag seiner Zeugung zu verfluchen, 31 läßt sie schon ein wenig Sonne zum anfänglichen Optimismus zurückkehren: »Ah in spite of all it is a blessed thing to be alive in such weather«, (CDW 176). Die gute Laune provoziert eine paradox-pessimistische Antwort der Stimme Maddy: »I am not half alive nor anything approaching it.« (CDW 176). Wie die Äußerung der Stimme Dan, die preist, in seinem Büro »lebendig begraben zu sein«, 32 variiert auch Maddys Aussage das Thema des »Nicht-richtig-geboren-seins« im radiophonen Limbus. Die paradoxen psychologischen Klischees ergeben keine profilierten Charaktere,33 und es zeugt von veralteten Identifikationsgewohnheiten, aus ihnen trotzdem eine verborgene biographische Tiefendimension bzw. Innerlichkeit herauszuhören: »Hören wir im Dunkel eine artikulierte Stimme und ein vernünftiges Gespräch, sind wir der Anwesenheit einer Person gewiß. Weshalb? Weil sie Auswirkungen menschlicher Beschaffenheit und Struktur und eng mit ihr verbunden sind.« (sie) 34
31
»Nothing, Mrs. Rooney, nothing, I was merely cursing under my breath, God and man, under my breath, and the wet Saturday afternoon of my conception.« (CDW 175).
32
»Mr. Rooney: And I fell to thinking of my silent backstreet basement office, with its obliterated plate, rest couch and velvet hangings and what it means to be burried there alive, if only from ten to five [...]. Nothing, I said, not even fully certified death, can ever take the place of it.« (CDW 194).
33
Die psychologischen Klischees sowie der figurenübergreifende Diskurs über Krankheit und körperlichen Verfall widersprechen der These Germaine Barils, welche die von Wolfgang Iser analysierte Ablösung der Rede von den (Endspiel-) Figuren zitiert, aber für All That Fall ausschließt: »No such bluring of identities occurs in All That Fall, and the various statements are most definitely atrributable to a specific character.« Dies., From Characters to Disccrete Events: The Evolving Concept of Dramatis Personae in Beckett's Radio Plays, The Review of Contemporary Fiction 7, 2 (Sommer 1987), S. 113. Sie sagt über die Raumkonzeption des Hörspiels: »Thus, in All That Fall, the various sign systems are decoded visually, creating the illusion of a specific spacial dimension, representive of the real world, in which the characters function.« A.a.O., S. 114.
34
Hume, David, Untersuchung über den menschlichen
Verstand, Stuttgart 1967, S. 43.
103
Die Sätze David Humes von 1748 können exemplarisch für Rezipientenerwartungen stehen, die tief in der abendländischen Denktradition verwurzelt sind - und mit dem Sprecher vernünftiger Wortfolgen notwendigerweise einen Menschen identifizieren. Becketts Hörspiele und die Kybernetik bewiederlegten in der Nachkriegszeit zeitgleich und unabhängig voneinander Humes Aussage, da sie die (Re-) Produktion künstlicher Sprech- und Denkformeln vorführten. Die Stimmen als >Sprechautomaten< aus dem (theater-) historischen Typenarsenal verweisen weniger auf ein individuelles Bewußtsein als auf eine Ordnung des Sprechens nach figurenübergreifenden Gesetzmäßigkeiten: Becketts Hörspiele sind als kybernetische Konzerte keiner Wirklichkeitsillusion untergeordnet, sondern kombinieren die Klangquellen nach vorgefertigten Diskursen, motivischen Echos, der Materialität ihrer Laute und dem Rhythmus der Kommunikation bzw. des Stückverlaufs: Die Ouvertüre von All That Fall beginnt mit »ländlichen Geräuschen«, gefolgt von schlurfenden Schritten und Schuberts Streichquartett d-Moll (Der Tod und das Mädchen, D 810, bzw. die Liedfassung des Stücks, op. 7 Nr. 3 von 1817, D 531 s.u.) - bevor die Stimme Maddy sprechend und singend als eine Tonquelle unter anderen einsetzt. Die vier Klangformen: a) Tier- und Naturlaute, b) akustisch evozierte Körper, c) musikalisches Thema und d) menschliche Stimmen folgen nur auf den ersten Eindruck einem psychologisch motivierten Handlungsablauf in einem realistischen Ambiente. Die vier akustischen Regelkreise rufen einander z.T. widersprechende Assoziationsräume hervor und sollen deshalb nach einem kurzen Exkurs zur Sekundärliteratur anhand ihres musikalischen Organisationsprinzips näher untersucht werden. Die omnipräsente Physis in der Figurenrede (auch als Resonanzkörper der Stimmen) und die Landschaftsbeschreibungen in All That Fall haben zahlreiche Interpreten veranlaßt, von einem Darstellungsrealismus zu sprechen (vgl. Anm. 28, 33, 37, 40). Martin Esslin geht von einer »akustischen Perspektive« aus,35 die sich eng am Augensinn orientiert, und schreibt über 35
»Durch den Gebrauch akustischer Perspektiven kann der Rundfunkautor und -regisseur dem Hörer eindeutig mitteilen, mit wessen Ohren und aus welchem subjektiven Blickwinkel heraus er die Handlung sieht und in wessen Bewußtsein er sich gerade befinden soll.« Esslins Aufsatz über Becketts Hörspiele wurde in Anm. 5 im englischen Original zitiert, um die epistemologische Begrifflichkeit exakt wiederzugeben. Zum leichteren Verständnis wird hier und im folgenden die deutsche Übersetzung verwendet: Ders., Samuel Beckett und die Kunst des Rundfunks, in: Engelhardt, Hartmut (Hrsg.), Samuel Beckett, Frankfurt am Main 1984, S. 169.
104
den Ort des Hörspiels, »[...] daß wir ihn objektiv sehen, wiewohl durch Maddy Rooneys Augen.« 36 Esslins These, der Hörer erfahre »die Handlung von Alle, die da fallen [...] subjektiv von Maddy Rooneys Perspektive aus«, wird erstens durch die objektiv-subjektive Verwirrung von Erkenntnisperspektiven fragwürdig. 37 Zweitens sieht der Hörer nicht mit Maddys Augen, sondern hört Worte, die in der Art einer Teichoskopie eine verborgene Landschaft schildern. Diese Beschreibung kann genau wie Clovs Berichte vom Fenster teilweise oder ganz erfunden sein und gibt daher keinen sicheren Anhaltspunkt darüber, was Maddy >wirklich< wahrnimmt. Drittens läßt sich die These der »akustischen Perspektive« rundfunktechnisch widerlegen: Der Stereorundfunk wurde 1963, also sieben Jahre nach der BBCUraufführung von All That Fall (auf die sich Esslin bezieht) eingeführt. Bis eine verbesserte Sendequalität (High Fidelity) tatsächlich eine realistische Klangillusion möglich machte, und die notwendigen Empfangsgeräte verbreitet waren, vergingen nochmals mehr als zehn Jahre. Der monaurale Empfang von All That Fall durch ein verrauschtes Röhrenradio gab dem Hörer nur bei viel Phantasie das Gefühl, die Welt aus Maddy Rooneys Perspektive zu erleben. Monophonie kann räumliches Hören nur schlecht mit dem Auf- und Abblenden von sich nähernden bzw. entfernenden Dingen simulieren. Daher ist es ein Widerspruch in sich selbst, wenn Esslin schreibt: »Das (singuläre!, J.B.) Mikrophon wird zu den Ohren des Hörers selbst.« 38 Es mag noch angehen, wenn die visuelle Perspektive auf einen zyklopisch-einäugigen Fluchtpunkt verkürzt wird, da die differierenden Bilder der beiden Retinae im Hirn zur räumlichen Wahrnehmung überlagert werden. Aber die akustische Wahrnehmung bezieht sich auf zwei Ohren an gegenüberliegenden Seiten des Kopfs, die keinen zentralen Fluchtpunkt, sondern einen Hörraum mit zwei Polen erzeugen. Bei der monauralen 36
Esslin, Samuel Beckett und die Kunst des Rundfunks, a.a.O., S. 170.
37
Esslin, a.a.O., S. 168. Das Zusammenfallen von subjektiver Perspektive und objektiver Wahrnehmung wird von Esslin nicht näher erläutert und ist in der nachidealistischen Erkenntnistheorie ein Widerspruch in sich selbst. Shimon Levy folgt zwar nicht Esslins These der »akustischen Perpektiven«, stimmt aber mit dessen Objektivitätsbehauptung überein: »Whereas in All That Fall reality is conceived as objective and external, Embers presents an exclusively inner world.« Ders., Samuel Beckett's
Self-Referential
Drama, a.a.O., S. 67. Auch Michael Issacharoff spricht anhand von All That Fall von »mimetic space«, der anhand von Toneffekten hervorgerufen werde. Ders., Stage Codes, in: Ders. (Hrsg.), Performing Textes, Philadelphia 1988, S. 67f. 38
Esslin, Samuel Beckett und die Kunst des Rundfunks, a.a.O., S. 169.
105
Übertragung eines Hörspiels ist also der Verfremdungseffekt technisch impliziert und relativiert jeden potentiellen Darstellungsrealismus. Viertens erscheint Esslins These der »akustischen Perspektive« fragwürdig, weil sie sich auf die Innensicht eines Bewußtseins bezieht. Aber die stark typisierten Figuren widersprechen jeder Innerlichkeit - und es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, daß >Maddys Wahrnehmung< die Darstellung im Sinne einer personalen Figurenperspektive bestimmt, im Gegenteil: Die angeblich intrapsychischen Gedanken erscheinen nur in (Selbst-) Gesprächen und sind für andere Figuren genauso zu hören wie für den Rezipienten. 39 Die vermeintlich personale akustische Perpektive oder »Innenseite des Geschehens« ist also nur eine autonome Darstellungsperspektive, die von außen auf die Stimme Maddy fokussiert wird.40 Die im Überblick gezeigten Probleme der Beckett-Rezeption legen den Schluß nahe, All That Fall weder auf die Perspektive einer Figur festzulegen noch das Hörspielgeschehen auf eine realistische Handlung zu beschränken. Sowohl die subjektivistische als auch die objektivistische Deutung mißverstehen die Stimme(n) als profilierte(n) Charakter(e) - egal ob sie die Innensicht eines dominanten Bewußtseins oder alle Figuren als realistisch dargestellte Menschen zugrunde legen. Eine Vielzahl von dramaturgischen Details, wie die mediale Selbstreflexion der Stimme Maddy (s.o.), stellen die Illusionswirkung und unwillkürliche Identifikation der menschlichen Stimme mit einem dargestellten Menschen aber wieder in Frage. Die Sprecherin Maddys in der amerikanischen Erstaufführung von All That Fall, Billie 39
Die Stimme Maddy entschuldigt sich bei Dan für ihre Marotte, dauernd vor sich hinzuplappern: »Do not mind me dear, I am just talking to myself.« (CDW 196).
40
Trotz ihrer selbst eingestandener Neigung zu Selbstgesprächen (vgl. Anm. 39) schreibt Donald McWhinnie von einer inneren Gedankenstimme: »Mrs. Rooney says, >Pour woman. All alone in that ruinous old house.' But she doesn't say it, rather she thinks it; the effect we want is of an unspoken thought, magically overheard, [...] it draws us into the mind of the character, it is almost as though it had been spoken in our own head.« Ders., The Art of Radio, London 1969, S. 134 f. Henner Laas zitiert McWhinnie zustimmend und schreibt: »Unmerklich öffnet sich dem Hörer durch die Möglichkeiten des Mediums Rundfunk die Innenseite des Geschehens: er durchdringt die Oberfläche und wird Zeuge seines Gegebenseins im Bewußtsein der Figur.« Ders., Samuel
Beckett,
Dramatische Form als Medium der Reflexion, Bonn 1978, S. 107. Laas nennt auch einige bisher nicht aufgeführte Interpreten, die All That Fall als Rückkehr Becketts zum Realismus mißverstehen. Ders., a.a.O., S. 105, Anm. 9 und 10. Nur Katharine Worth schreibt über All That Fall·. »It is farce rather than realism.« Dies., Beckett and the radio medium, in: Drakakis, John, British radio drama, Cambridge 1981, S. 198.
106
Whitelaw, bestätigte in einem Interview die nicht-psychologische Lesart der Figuren aus ihren Arbeitserfahrungen mit Beckett: »There are certain things, that I've done in this play, All That Fall, which have come out of a shorthand — out of years of working with him. And I have now in my little Beckett box what I call a scream button and I have also a laugh button. And I think when Beckett writes a laugh, certainly with the ladies I seem to play, it's usually a laugh that comes piercing into the air out of nothing and stops dead. And it's the same with the scream — the scream just comes out of nothing. And — he spoke to me at the telephone just before I left to come here — I said I'm just assuming that when Mrs. Rooney laughs it's the laugh button and when she screams it's the scream button, and he said, yes yes the scream button and the laugh button, that's it. 41
Der mechanische Wechsel von Ausdrucksformen wiederholt sich u.a. in Winnies Verhalten in Happy Days (»smile - smile off«), im Öffnen und Schließen der Sender in Rough for Radio / und Cascando (vgl. Kap. 3.3.4) sowie in Krapps An- und Ausschalten der Tonbandstimmen. Obwohl die abrupten bzw. kaum motivierten Verhaltensänderungen einer Innensicht des Geschehens durch die Augen der Figur widerspricht, geht auch der Regisseur der amerikanischen Erstaufführung von All That Fall, Everett C. Frost, von einer personalen Darstellungsperspektive Maddy Rooneys aus - kurz bevor er seine Protagonistin Billie Whitelaw mit ihrer zitierten Aussage über die Schrei- und Lachknöpfe zitiert. 42 Die Fragen des Darstellungsrealismus und der -perspektive lassen sich mit einer Untersuchung des figurenübergreifende Kompositionsprinzip von All That Fall beantworten. Deshalb sollen a) Tier- und Naturlaute, b) akustisch evozierte Körper, c) musikalisches Thema und d) menschliche Stimmen anhand ihrer Funktion in der Lautcollage des Hörspiels analysiert werden: a) Tier- und Naturlaute: \nAll That Fall ertönen zahlreiche Tierstimmen, die z.B. als »herzzerreißendes Blöken« an eine Landidylle denken lassen: »Oh, the pretty woolly lamb, crying to suck his mother! Theirs (the animal's language, Anm. J.B.) has not changed since Arcady.« (CDW 194). Diese 41
Billie Whitelaw zitiert in: Frost, Everett C., Fundamental
sounds: Recording
Samuel
Beckett's Radio Plays, Theatre Journal 43 (1991), S. 367f. 42
»After some considerable effort, I could find no other approach to the play that accounted for everything in it than to understand it not as the main character's journey to and from the Boghill Railway station but as that journey as it is perceived
by Maddy
Rooney from within the mind of Maddy Rooney as she is in the process of experiencing it.« (Kursiv i.O.). Frost, Fundamental
sounds, a.a.O., S. 367.
107
natürliche Sprache erinnert an Johann Gottfried Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache von 1772: »Der Schall des Blökens von einer menschlichen Seele als Kennzeichen des Schafs wahrgenommen, ward [...] Name des Schafs [...] - die Sprache ist erfunden! Ebenso natürlich und dem Menschen notwendig erfunden, als der Mensch ein Mensch war.«43 Der Mensch ist nach Herder mit allen anderen empfindenden Wesen besonders über den Laut verbunden, weil er diesen nicht nur mitfühlend vernimmt, sondern seine Empfindungen spontan wieder in Laute umsetzt: »Empfinde nicht für dich allein, sondern dein Gefühl töne!«44 Die Stimme Maddy spielt offensichtlich auf die Sprache der Empfindung an, »die unmittelbares Naturgesetz ist« (ebd.) und sich deshalb seit arkadischen Zeiten nicht geändert habe. Die emotionale Äußerung über das »süße wollige Lämmchen« scheint Herders »Naturgesetz« des Hörens und spontanen Wiedergebens zu bestätigen. All that fall instrumentalisiert den Emotions-Expressions-Mechanismus jedoch, um den Hörer in eine weitere Identifikationsfalle zu locken. Die >spontane< sprachliche Reaktion der Stimme Maddy weist sie nach Herder notwendig als menschliches Wesen aus. Die solcherart beglaubigte Beobachterin würde zugleich die reale Existenz des Lämmchens und der pastoralen Landschaft bestätigen. Die Schäferidylle ist als intertextuelles Zitat jedoch Teil einer Hörspielinszenierung, welche die Stimme Maddy als Regisseurin beeinflussen kann. Die Tier- und Naturlaute gehen der Sprache zwar zu Beginn von All that fall voran: »Rural sounds. Sheep, bird, cow, cock, severally, than together. Silence.« (CDW 172). Aber diese >Natursprache< ist in der Sukzession von Tierstimmen so präzise durchkomponiert, daß sie in der BBC-Uraufführung von Stimmenimitatoren erzeugt werden mußte. Während der Hörspielproduktion 1956 schien es unmöglich, »mit realistischen Effekten das richtige Timing und Gleichgewicht zu erhalten.«45 Aufgrund der fortgeschrittenen Studiotechnik konnten bei der amerikanischen Erstaufführung von All that fall 20 Jahre später natürliche statt menschlich erzeugte Tierstimmen in eine genau rhythmisierte Abfolge montiert werden (vgl. Anm. 24). Die >Naturlaute< sind also nicht ursprünglich, sondern stilisiert und setzen eine vorangegangene Komposition, bzw. ein komponierendes Bewußtsein voraus. Wie in Becketts anderen Stücken
43
44 45
108
Herder, Johann G., Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Stuttgart 1993, S. 33f. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, a.a.O., S. 6. Esslin, Samuel Beckett und die Kunst des Rundfunks, a.a.O., S. 167.
weist auch der Beginn des Hörspiels auf vorangegangene Spielrunden hin, die ähnlich abgelaufen sein könnten. Eine spätere Hörspielpassage führt die Komposition von Tierstimmen explizit vor und läßt die >Naturlaute< auf die Sprache folgen: »Mrs. Rooney: The world is feeding. The wind -brief wind - scarcely stirs the leaves and the birds - brief chiep - are tired singing. The cows - brief moo - and sheep - brief baa - ruminate in silence.« (CDW 192). Sprache und Naturlaute scheinen dasselbe Signifikat in Form verschiedener Zeichen zu wiederholen. Bei genauer Betrachtung des Zitats erweist sich die scheinbare Redundanz jedoch als Widerspruch: Der letzte Satzteil »ruminate in silence« negiert die vorangegangenen Elemente (sprachliche Bedeutung und Wiederholung als Tierstimme bzw. Naturlaut). Maddy nennt Schaf und Kuh beim Namen und evoziert ihre Stimmen, um paradoxerweise zu zeigen, daß sie in Schweigen verharren. Sprache und Naturlaute konterkarieren einander regelmäßig in All That Fall, wobei die Tierstimmen oft wie ein versteckter Kommentar wirken also logisch auf einer höheren Stufe zu stehen scheinen als die Stimmen. Das »herzzerreißende Blöken« nach den Worten über »our own poor dear Gaelic« (CDW 194) bringt z.B. das Gälische mit dem Paradiesmythos der arkadisch-unveränderlichen Tiersprache in Verbindung. Gleichzeitig wird die Verklärung der Vergangenheit, in der das Gälische noch die Hauptsprache Irlands war, mit dem geistlosen Blöken lautlich verknüpft und damit als unkultivierte Zivilisationsform parodiert. Die unmerklichen Kommentare durch Tierstimmen wiederholen sich auch anhand der Themen Liebe und Kinderlosigkeit, die vom Gurren der Turteltauben begleitet werden.46 Das Beispiel der >Liebesvögel< zeigt, wie sich die Funktion eines Klangmotivs in All That Fall wandelt: Dem ersten Gurren folgt die Rede über die tote Minnie und führt damit das Thema des toten Mädchens in den Dialog ein. Wenig später wirkt das wiederholte Gurren wie ein höhnischer Kommentar auf hysterische Desintegrationsphantasien: »Mrs. Rooney: Oh let me just flop down flat on the road like a big fat jelly out of a bowl and never move again.« (CDW 174). »oh to be in atoms, in atoms! (Frenziedly.) ATOMS! {Silence. Cooing.)« (CDW 177). Das erneute Gurren kontrastiert den Schrei in der Lautstärke und in Form eines gewissen Gleichmuts, der die menschliche Stimme unvernünftig und damit tierähnlich wirken läßt. Der Schrei bietet sich für Billie Whitelaws »scream button« an (s.o.): Tatsächlich 46
Auch das Gurren der Turteltauben ist eines von Herders ausgewählten Beispielen für Klänge, die »tief in die Seele tönen«, Ders., a.a.O., S. 44f.
109
schreit sie in der amerikanischen Erstaufführung von All That Fall so schrill, daß Schrei und nachfolgendes Schweigen einen dramaturgischen Einschnitt markieren, mit dem das Minnie-Thema endet und die akustische Vereinigung mit Mr. Slocum ihren radiophonen Lauf nimmt (nächster Abschnitt). b) akustisch evozierte Körper: Im Gegensatz zu den eingeschränkten Bewegungsradien in Becketts Dramen herrscht in seinem ersten Hörspiel eine atemberaubende Dynamik: Vielfältige Fortbewegungsgeräusche evozieren den Weg von Figuren und Transportmitteln zum Bahnhof Boghill. Den Stimmen lassen sich meist typische Fortbewegungsgeräusche zuordnen, die zusammen mit dem Klang der Stimme ein akustisches Erkennungsmuster erzeugen. Die Stimme Maddy wird z.B. mit einem Schlurfen als schwere und behäbige Körpermasse typisiert, die immer wieder im Schritt innehält, um sich auszuruhen und Gedanken nachzuhängen. Dagegen wird die Stimme Dan von einem häufigen Keuchen und Aufstoßen des Blindenstocks begleitet. Die Geräusche des Paares verschmelzen in den stummen Momenten der evozierten Fortbewegung zur radiophonen Schimäre eines klappernden, keuchenden und schlurfenden Kunstwesens. Die Laute bilden einen Klangkörper, der an keine individuelle menschliche Gestalt gebunden ist, sondern sich variabel aus (Tier-) Stimmen und Fortbewegungsgeräuschen zusammensetzen kann. Zur klanglichen Einheit fusionieren auch die Schritte und das Knarren eines Eselkarrens, welche die Stimme Maddy als Christy identifiziert. Sie redet wie eine Radiohörerin, die den Führer des Gespanns aufgrund typischer Fortbewegungsgeräusche wahrnimmt bzw. erkennt. 47 In ähnlicher Weise lassen sich viele Stimmen in All That Fall mit einer markanten Bewegungsform bzw. mit einem Transportmittel in Verbindung bringen: Mr. Tyler mit einem Fahrrad, 48 Mr. Slocum mit dem Auto und Mr. 47
»Mrs. Rooney: Sound of approching
cartwheels.
The cart stops. The steps slow
down,
stop. Is that you, Christy? / Christy: It is, Ma'am. / Mrs. Rooney: I thought the hinny was familiar.« (CDW 172). Die ganze Komik wird erst im Kontext des folgenden Dialogs deutlich: »Why are you on your feet down on the road? Why do you not climb up on the crest of your manure and let yourself be carried along? Is it that you have no head for heights?« (CDW 173). Die Stimme Maddy setzt Christy mit dem Esel auf die gleiche Ebene - auf der er sich als Fußgänger ja auch bewegen würde. 48
Nachdem Mr. Tylors Fahhrradklingel die Stimme Maddy erschreckt hat, sagt sie: »Your Bell is one thing and you are another.« (CDW 174). Während sie die Klangkörper von Fahrrad und Fahrer auseinanderzudividieren scheint, klassifiziert sie beide gleichzeitig als »Dinge« und betont damit in Wirklichkeit deren Zusammengehörigkeit.
110
Barrel mit der Eisenbahn. Die signifikanten Geräusche bilden aber nicht nur akustische Ersatzkörper, sondern täuschen auch Bewegungsformen bzw. ambivalente Bedeutungen vor, die der Augensinn sofort widerlegen würde. Die Stimme Maddy erwidert z.B. das Stöhnen »ihres alten Verehrers« Mr. Slocum (slow-come) mit doppeldeutigen Anspielungen: »Oh!... Lower!... Don't be afraid!... We're past the age when... There!... Now!... Get your shoulder under it... Oh!... {Giggles.) Oh glory!... Up!... Up!... Ah!... I'm in!« (CDW 178). Aus Art und Zahl ihrer Schreckensrufe entsteht nicht nur der Eindruck eines unförmigen und ungelenken Frauenkörpers; vielmehr trägt die akustische Wagenbesteigung auch Züge eines unwillentlichen Geschlechtsakts. Der Medienwechsel vom Theater zum Hörspiel in Becketts Werk vergrößert also den Deutungsspielraum sowohl im Hinblick auf Art und Ort des Geschehens als auch in bezug auf die Klangkörper. Die ländlichen Impressionen in All That Fall sind von einem Hörer abhängig, der die Tierstimmen und Geräusche in seiner Vorstellung ausmalt. Da die Naturlaute in ihrer Dauer und Anordnung musikähnlich komponiert sind (s.o.) und von der Stimme Maddy z.T. evoziert werden, ist ihre Illuisionswirkung gestört. Die Geräuschcollage oder »bruitage« 49 repräsentiert eine Kunstwelt, die den Körperraum in einen Assoziationsraum des Hörers auflöst und ihn zum Koproduzenten des Spielgeschehens macht. Während Bewegungsgeräusche wie das Schlurfen den immerwährenden Kampf aller Körper mit der Schwerkraft und der Massenträgheit akustisch evozieren, enthält All That Fall auch eine Vielzahl von sprachlich hervorgerufenen Körperfiktionen, welche die realistische Raumgebundenheit der evozierten Körper parodieren bzw. transzendieren. Die Stimme Maddy imaginiert sich z.B. in einzelnen Atomen und als ausgegossener Pudding auf der Straße (s.o.) oder bezeichnet sich schlicht als »Ballen«. 50 Dagegen sieht die Stimme Miss Fitt in Maddy zunächst einen »großen, blassen Fleck«, 51 49
Die von Beckett selbst als »bruitage« bezeichneten Lauteffekte (vgl. Esslin, Samuel Beckett und die Kunst des Rundfunks, a.a.O., S. 165f.) ironisieren das Klischee einer ländlichen Geräuschkulisse und finden ihre Vorläufer in der Frühzeit des Hörspiels, in der dadaistische und futuristische Künstler in der Literatur, auf dem Theater und in der Musik kompositorisch mit Geräuschen experimentierten.
50
Auf die Frage, wie Maddy in den Wagen zu helfen sei, antwortet die Stimme: »As if I were a bale, Mr. Slocum, don't be afraid.« (CDW 178). Nach dem Aussteigen spricht sie von der ersehnten Daseinsform als Brett im Bett: »[...] till in the end you wouldn't see me under the blankets any more than a board.« (CDW 181).
51
»Miss Fitt: AU I saw was a big pale blur, just another big pale blur.« (CDW 183).
Ill
worauf sich die Stimme Maddy mit den Worten bedankt: »Thank you [...] just prop me against the wall like a roll of tarpaulin and that will be all, for the moment.« (CDW 185).52 Der aufgerollte Teppich wirkt so dinghaft wie die maschinenhaften Klangkörper der männlichen Stimmen. Im Gegensatz zu den technischen Bewegungsprothesen sind die weiblichen Körperfiktionen als Pudding, Atome, Fleck und Teppich aber stiller und statischer Natur - was im Hörspiel das Verschwinden der evozierten Dinge bedeuten würde. Die weiblichen Körperfiktionen müssen also benannt werden, um dem Hörer bewußt zu werden. Die Frauenstimmen in All That Fall neigen grundsätzlich zum Verschwinden, da sie (wie Hamm in Fin de partie) behaupten, nicht da zu sein. Die Stimme Maddy sagt: »Don't mind me. Don't take any notice of me. I do not exist. The fact is well known.« (CDW 179). Wenig später meint auch die Stimme Miss Fitt: »I suppose the truth is I am not there, Mrs. Rooney, just not really there at all.« (CDW 182f). Das paradoxe Dementi der eigenen Existenz paßt zu der Erzählung vom nicht-richtig-geborenen Mädchen, der anwesenden Abwesenheit der toten Tochter Minnie und dem Schubert-Motiv des toten Mädchens. Während das verunglückte Kind in der letzten Fassung des Hörspieltexts ein Neutrum bleibt, zitiert Rosemary Pountney einen Entwurf, in dem die Stimme eines Mr. Kennedy alias Dan sagt: »I should like to kill a child before I die. A little girl.«53 Schon im musikalischen Leitmotiv ist der personifizierte Tod männlich konnotiert, der über die Nicht-Existenz des Mädchens entscheidet (vgl. Anm. 60). Dem Zerstörungsdrang entspricht die Identifikation der männlichen Stimmen mit >ihren< Fortbewegungsmitteln als technischen IchProthesen oder Junggesellenmaschinen.54 Im zölibatären Mechanismus entwickeln sich die Junggesellenmaschinen aus der Imagination und können
52
In den Augen der anderen erscheint auch Watt als unbelebter Gegenstand: »Tetty fragte sich, ob es ein Mann oder eine Frau sei. Mr. Hackett fragte sich, ob es nicht ein Paket sei, zum Beispiel ein Teppich oder eine in dunkles Papier gewickelte und mit einem Bindfaden in der Mitte verschnürte Zeltbahn.« Ders., Watt, Frankfurt a. M. 1995, S. 16.
53
Pountney, Rosemary, Theatre of Shadows:
Samuel Beckett's drama 1956 - 1976, From
All that fall to Footfalls (with commentaries on the latest plays), Totowa/New Jersey 1988, S. 105. Trotz des unbestimmten Geschlechts des Kindes in der letzten Textfassung schreibt Shimon Levy: »did Mr. Rooney murder the boy by pushing him under the wheels?« Ders., Samuel Beckett's Self-Referential 54
Drama, a.a.O., S. 61.
Vgl.: Szeemann, Harald und Clair, Jean (Edd.), Junggesellenmaschinen, katalog, Venedig 1975.
112
Ausstellungs-
jeden Klangkörper annehmen, da sie an keinen organischen Leib gebunden sind. In Becketts späteren Hörspielen steigert sich das Autonomiestreben der Dichterfiguren bis zur akustischen Selbst- und Welterzeugung in einem imaginären Mikrokosmos, der ohne Außenweltbezug auszukommen scheint (vgl. Kap. 3.3.1). Der (akustische) Ausfall von Fahrrad und Auto treibt die Stimmen Mr. Tyler und Mr. Slocum in Verzweiflung, da die Transportmittel als Ersatzkörper und zweite Natur vom Stillstand als Sinnbild des (akustischen) Todes bedroht sind. Anders als moribunde Menschenkörper lassen sich die technischen Prothesen jedoch reparieren oder komplett erneuern - weshalb die Maschinenkörper eine Affinität zur »Unsterblicheit in technischer Positivität« haben, wie Friedrich Kittler es nennt.55 Auf dem evozierten Weg zum Bahnhof erscheinen die männlichen Stimmen mit immer schnelleren Transportmitteln (Eselkarren, Fahrrad, Auto, Zug) - als ob sie nicht nur zu ewiger Bewegung, sondern auch zur Beschleunigung verdammt wären. Auch die Endlosschleife zur Stadt und zurück, von der die Stimme Dan berichtet, findet ihre Entsprechung in dem Pferderennen, von dem alle Stimmen reden: Doch statt der Tiere hetzen in All That Fall die Figuren imaginär im Kreis. Der Bahnhof Boghill ist nur eine Etappe eines radiophonen Kreislaufs, der sein eigenes Ziel ist. Die akustischen evozierten Bewegungen werden weniger von einem Individualwillen initiiert, sondern von der Notwendigkeit angetrieben, Geräusche zu produzieren, um im Hörspiel akustisch präsent zu bleiben. Die im Vergleich zu den Theaterstücken größere Dynamik in All That Fall läßt sich also als parodistisch übersteigerter Sachzwang des Rundfunkmediums erklären: Die >Tramps< in En attendant Godot konnten auf der Landstraße stehenbleiben, weil sie für den Zuschauer sichtbar blieben, wohingegen die Landstraße in All That Fall überhaupt erst durch die ständigen Bewegungsgeräusche in der Vorstellung des Zuhörers entsteht. Daher versucht auch die Stimme Christy nach dem Wortwechsel mit Maddy das Gefährt weiterzubewegen - wie Mr. Tyler und Mr. Slocum zunächst erfolglos: »Yep wiyya to hell owwa that« (CDW 173). Es ist keine Reaktion auf den Höllenfluch hören - zu Recht, denn ohne Seele kann kein
55
Friedrich Kittler spricht von der Unsterblichkeit in Siliziumchips: »Hauptsache, Information zirkuliert als Präsenz/Absenz von Absenz/Präsenz. Und das ist, bei hinreichenden Speicherkapazitäten, Unsterblicheit in technischer Positivität.« Ders., Draculas Vermächtnis, Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 78. Zur Affinität der Maschinenkörper zu Descartes dualistischem Menschenbild vgl. Anm. 19.
113
Tier in den Himmel oder in die Hölle kommen. All That Fall betont schon im Titel die vertikale Fallrichtung eines Höllensturzes, während das Hörspiel im Entwurf noch »Lovely Day for the Races« hieß und damit den horizontalen Bewegungszwang des Rennplatzes hervorhob. 56 c) musikalisches Thema: Noch bevor die Stimme Maddy den ersten Satz spricht, nimmt das Schubert-Lied als Vorspiel und mise en abyme ihre Charakterisierung vorweg: 57 Der Tod und das Mädchen wird zum Leitmotiv der von ihr berichteten Familienchronik, die sich von dem verlorenen Kind, über die eigene eingebüßte Jugend bis zu >ihrem Mann< als potentiellem Kindsmörder erstreckt. Das musikalische Zitat und das Hörspielgeschehen kontrastieren und verstärken einander in ihrer Wechselwirkung: Nach dem ersten Anklingen des Schubert-Lieds zu Beginn von All That Fall wird das Todesthema in der Figurenrede aufgegriffen. Der Wiederholung des Schubert-Lieds folgt die Repetition des Liedthemas durch den Bericht vom Kindsmord. Die paarige Anordnung kehrt in der Figurenkonstellation und in der Zweiteilung des Hörspiels wieder: In der Mitte von All That Fall schlägt mit dem akustisch evozierten Wetter auch die Behandlung des Todesmotivs um, als eine weibliche Stimme zu einem Kind sagt: »Give me your hand and hold me tight, one can be sucked under.« (CDW 185). Die Bahnhofsszene bildet den Scheitelpunkt zwischen dem akustisch evozierten Hin- und Rückweg und kündigt das Zugunglück an, das die retrospektive Trauer in den aktuellen Schrecken des konnotierten Mordes überführt. Während das Schubert-Lied potentiell in Permanenz gespielt wird, 58 stoppt das Schweigen und Innehalten der Bewegungsgeräusche den angenommenen Zirkel des Hin- und Rückwegs. Schließlich scheint der Kindsmord auch die Zyklen des Lebensrads abzubrechen, denn am Schluß von All That Fall ist von der arkadischen Lebensfülle nur noch Regen und Sturm zu hören. 59 Nach dem evozierten Weglaufen des Jungen besiegelt die finale 56
Pountney, Rosemary, Theatre of Shadows, a.a.O., S. 104. Nach dem titelgebenden 145. Bibelpsalms, »The Lord upholdeth all that fall and raiseth up all those that be bowed down.« (CDW 198), brechen die Stimmen Dan und Maddy in »wildes Gelächter« aus.
57
Der Begriff mise en abyme stammt ursprünglich aus der Heraldik und bezeichnet das Herzstück eines Wappens, in dem das ganze Wappen en miniature wiederholt wird.
58 59
»Mrs. Rooney: All day the same old record.« (CDW 197). Das Fruchtbarkeitsmotiv setzt sich in All That Fall nicht gegen das dominante Todesthema durch, da die Kinder von einem gewaltsamen Tod bedroht, und die Frauen meistens kinderlos bzw. gebärunfähig sind: Die Stimmen Miss Fitt (misfit - unpassend) und Maddy berichten von keinem lebenden Nachwuchs, während von Mr. Tylers
114
Stille das akustische Verschwinden aller angenommenen Figuren. Schon zuvor löste sich das artikulierte Sprechen in Schluchzen oder in den rauhen Klang der Stimme auf: In der amerikanischen Erstaufführung führt Maddys Variation des Schubert-Lieds den Spielraum der Stimme im Kontrast zur artikulierten Liedstimme aus dem Grammophon vor: Einerseits erinnert ihr brummender >Gesang< an die Anwesenheit einer vernunftbegabten Person, von der David Hume spricht (vgl. Anm. 34); andererseits klingt es wie ein Echo auf die Tierstimmen, die kurz zuvor ertönen. Beim zweiten Anklingen des Schubert-Lieds murmelt die Stimme Dan undeutlich dessen Titel, bevor das Sprechen in unartikuliertes Schluchzen übergeht - und abermals den Liedtext überdeckt. Auch in den vielen unverständlichen Flüchen nähert sich die Sprache als begriffloser Klang den Tier- und Naturlauten an. Wenn man die Liedfassung des Streichquartetts mit dem Text von Matthias Claudius zugrunde legt,60 dann fällt der grotesk-komische Unterschied zu All That Fall in der Behandlung des Liebes- und Todesthemas auf: Dem erotisch eingefärbten Dialog des »schönen und zarten« Mädchens mit dem »wilden Knochenmann« stehen die evozierten Klangkörper einer fetten, alten Frau und ihres mürrischen, impotenten Ehemanns von fast hundert Jahren gegenüber. 61 Der komödiantische Einschlag der >alten Liebe< wird im Hörspiel vom Schrecken des Kindsmords kontrastiert, der nicht den erotischen Unterton von Matthias Claudius' Textvorlage besitzt. Dans Rolle des Menschenfeinds und potentiellen Kindsmörders ist eher philosophisch als sexuell motiviert und folgt dem mythologischen Vorbild des Sartyrs Silenos. Als pessimistischer (und unsterblicher) Betrachter des leidenden menschlichen Daseins sagte er über die Sterblichen, »daß es das Beste sei,
Tochter erzählt wird, sie habe ihre Fruchtbarkeit bei einer Unterleibsoperation einbüßt: »Mr. Tyler: They removed everything, you know, the whole... er... bag of tricks. Now I am grandchildless.« (CDW 174). 60
Der Liedtext von Matthias Claudius lautet wie folgt: Das Mädchen:
Vorüber, ach, vorüber! Geh wilder Knochenmann! Ich bin noch jung, geh, Lieber! Und rühre mich nicht an.
Der Tod:
Gib deine Hand, du schön und zart Gebild! Bin Freund und komme nicht zu strafen. Sei guten Muts! Ich bin nicht wild, Sollst sanft in meinen Armen schlafen!
61
Die Stimme Dan fragt: »Am I a hundred, Maddy?« (CDW 192).
115
niemals geboren zu sein und das Zweitbeste, so bald wie möglich zu sterben.«62 Die Frage der Stimme Dan, »Did you ever wish to kill a child? Pause. Nip some young doom in the bud.« (CDW 191), zieht eine zynische Bilanz aus dem Kreislauf von Zeugung, Geburt und Tod: Der Kindsmord erscheint als paradoxer Akt der Nächstenliebe, denn er erlöst das »junge Unglück« sowohl von der >Sünde< der Fortpflanzung als auch von der >Strafe< eines sinnlosen Lebens - das in All That Fall als Krankheit zum Tode wirkt. d) Stimmen: Die Wortwechsel in Becketts erstem Hörspiel dienen meist dem Austausch belangloser Allgemeinplätze, die aus Begrüßungsformeln und Banalitäten wie dem Gerede über das Wetter und das Wettrennen bestehen. Die stehenden Wendungen werden von den meisten Figuren automatisch verwendet und fallen zunächst nicht weiter auf. Aber schon Mr. Tylers Aufmunterungsfloskeln (»Ah in spite of all it is a blessed thing to be alive in such weather«, s.o.) werden von der Stimme Maddy als Verallgemeinerung abqualifiziert: »Speak for yourself Mr. Tyler. I am not half alive nor anything approaching it.« (CDW 176). Ihre unhinterfragten Sprachkonventionen werden wiederum von der Stimme Dan bloßgestellt, die kurz vor dem Satz über die Unveränderlichkeit der Tiersprache (s.o.) sagt: »Never pause... save to haven... Do you know, Maddy, sometimes one would think you are struggling with a dead language.« (CDW 194). Die Stimme Maddy fragt sich selbst, ob ihre Art zu reden irgendwie »bizarr« sei.63 Merkwürdig ist vor allem das theatralische Pathos ihrer Rede, das sie mit Anachronismen und Bibelzitaten verstärkt, ohne den religiösen Dogmen zu glauben (vgl. Anm. 56). In All That Fall erscheinen christliche Anspielungen meist, um die göttliche Gerechtigkeit zu parodieren: »That is what you get for a good deed.« (Mr. Slocum, CDW 178), »And that's the thanks you get for a Christian act.« (Tommy, CDW 180). Die Stimme Maddy spendet Miss Fitt den zwiespältigen Trost: »I have little doubt your maker would requite you, if no one else.« (CDW 183). Wenig später erzählt sie, daß die Passagiere auf der sinkenden Titanic christliche Choräle sangen - und läßt durchblicken, daß es ihnen wenig genützt hat. Auf das Zugeständnis der Stimme Miss Fitt, Maddy zu helfen, »Well I suppose it is the Protestant thing to do.« (CDW
62 63
Grant, Michael, Lexikon der antiken Mythen und Gestalten, München 1980, S. 374. »Do you find anything...bizarre about my way of speaking? (Pause.) I do not mean the voice. (Pause.) No, I mean the words. (Pause. More to herself.) I use none but the simpliest words, I hope, and yet I find my way of speaking very... bizarre.« (CDW 173).
116
183), entgegnet letztere, daß auch Tiere das >christliche< Verhalten zeigen: »Pismires do it one for another. (Pause.) I have seen slugs dot it.« (ebd.). Die parodierten christlichen Dogmen setzen sich wie Echos von Stimme zu Stimme fort und beschränken das individuelle Sprechen auf die jeweilige Akzentuierung des vorgegebenen Textes. In der Bahnhofsszene ergehen sich die Stimmen z.B. in Spekulationen über den Grund der Verspätung: Was die Stimme Mr. Tyler als Frage formuliert (»Not a collusion surely?« CDW 186), wird bei der Stimme Maddy zur bejahenden Antizipation der Katastrophe (»Enthusiastically. A collusion! Oh that would be wonderful!« Ebd.), um bei der Stimme Miss Fitt schließlich Entsetzen auszulösen: »(Horrified.) A collusion! I knew it!« (ebd.). Das unterschiedlich konnotierte Kollisionsgerücht bestätigt sich mit jedem Sprecherwechsel mehr, führt jedoch zu keiner Wirklichkeitsaussage, sondern endet in Mr. Barrells Bekenntnis totaler Unwissenheit. Der Mangel an überprüfbarer Realität gibt Raum für neue Mutmaßungen - auch seitens des Rezipienten: Wie bei einem Kriminalfall kann der Zuhörer verschiedene Deutungen des Zugunglücks und des Kindstodes abwägen, ohne am Stückende (im Gegensatz zum konventionellen Kriminalstück) eine Auflösung zu erhalten. Wie die bisherigen Untersuchungen gezeigt haben, ist die Erkenntnisunsicherheit der Figuren und Rezipienten von zentraler Bedeutung für die Dramaturgie in Becketts Stücken. Im radiophonen Dunkel der Hörspiele verstärkt sich dieses Nichtwissen weiter. Eine Aufführung von Fin de partie und En attendant Godot beschränkt die >Blindheit< des Zuschauers auf außerszenische >VorgängeTramps< vornübergebeugt zu erlauschen suchen - aber statt des Uhrtickens hören sie nur Pozzos Herzschlag.
117
Dagegen werden die akustischen Halluzinationen besonders in den späteren Hörspielen zum konstitutiven Bestandteil der Stiickdramaturgie, da die Stimmen und Geräusche keiner eindeutigen Tonquelle bzw. Repräsentationsfunktion mehr zuzuordnen sind. Bei Maddys Evokationen von Tier- und Naturlauten (»The world is feeding.«, s.o.) liegen Geräuschhalluzinationen so nahe wie im vermeintlichen Hören des Zugs: »Heavens, there is that upmail again, what will become of me!« (CDW 174). Da an dieser Stelle keine Zuggeräusche zu hören sind, kann der Rezipient wahlweise an seiner oder der genannten Wahrnehmung zweifeln. Die verspätete Einfahrt des Zugs erweist die Höreindrücke nachträglich als Halluzinationen, während die Evokationen der Tier- und Naturlaute in ihrem Realitätsgehalt ungeklärt bleiben. Da die evozierten Laute weder Maddys personaler Innenperspektive noch einer autonomen Darstellungsperspektive eindeutig zugeordnet werden können, entscheidet der Rezipient als letzte Instanz über die Illusionswirkung von Stimmen und Geräuschen - der Hörer ist also aufgefordert, den Realitätsgehalt des Gehörten ständig neu zu bestimmen. Die radiophonen Etappen zum Bahnhof und der Lärm bei der Zugeinfahrt wiederholen den Aufbau der »bruitage« (vgl. Anm. 49) vom Beginn des Hörspiels, bei der die Tierstimmen erst einzeln vorgestellt und dann überlagert wurden. Die Illusionserzeugung wird auf diese Weise in analytische Schritte zerlegt, die den Produktionsprozeß des Kunstwerks und den Aufbau der Illusion ins Bewußtsein des Hörers rücken. Die vorgefertigten Tonquellen lassen sich zu immer neuen Klangszenarien kombinieren, die im Aufund Abblenden radiophonen Gesetzmäßigkeiten und stückspezifischen Kompositionsregeln gehorchen. Das Schubert-Lied aus dem Grammophon steigert sich z.B. mit der evozierten Annäherung und verklingt bald wieder. Das Schlurfen, das die Stimme Maddy begleitet, erweckt den Eindruck, sie bewege sich durch realistische Klangräume. Das erste Schubert-Lied wird jedoch lauter, nachdem die Schritte aufgehört haben (also keine weitere Annäherung evoziert wird), weshalb das Auf- und Abblenden keine lebensweltliche Erfahrung repräsentiert. Da Stimmen und Geräusche weit häufiger wechseln als die evozierten Orte, entsteht trotz der thematisierten Mobilität ein Gefühl der Stasis: Die schleppenden Bewegungsgeräusche, die Maddys Stimme meist begleiten, lassen sie (u.a.) als immobile Stellvertreterin der Hörer erscheinen, vor der die dynamischen Tonquellen sukzessive ertönen. Nicht nur die Perspektivenverwirrung, auch die Überlagerung und das Ausbleiben erwartbarer Laute macht den Rezipienten zum Koproduzenten des Hörspielgeschehens. Nachdem diverse Stimmen und Geräusche auf den 118
radiophonen Stationen zum Bahnhof eingeführt wurden, addieren sich diese und bilden mit »plötzlich übertriebenen« Bahnhofsgeräuschen die akustische Klimax des Hörspiels. Im Gegensatz zu einer Theateraufführung, die diverse Bewegungen und Klangeffekte auf der Szene räumlich trennen kann, ist das monaurale Radiostück auf die lineare Sukzession des akustischen Kanals beschränkt. Die Gleichzeitigkeit diverser Stimmen und Geräusche bei der Zugankunft erzeugt daher notwendig eine Interferenz, in der die Tonquellen ihre je eigene Materialität zu verlieren drohen: »Immediately exaggerated station sounds. Falling signals. Bells. Whistles. Crescendo of train whistle approaching. Sound of train rushing through station. « (CD W 187). Der Hörer kann versuchen, die Herkunft und Klangkonturen einzelner Laute im Bahnhofslärm zu unterscheiden. Oder er läßt das kakophone Chaos, das von den Stimmen vermehrt wird, als Geräuschmontage auf sich wirken. Vergleichbar mit Maddys gellendem Schrei »ATOMS!« (s.o.) wirkt die Zugeinfahrt als Zäsur, die das Abklingen der Stimmen und Geräusche bis zum finalen Schweigen in All That Fall ankündigt. Die Klangkonturen der einzelnen Tonquellen lösen sich im Lärm zu vieler oder zu lauter Stimmen und Geräusche automatisch auf. Die permanente Addition der Klangquellen schlägt also in die Nivellierung ihrer akustischen Identität um und trennt mit diesem >Klangvorhang< die folgende Szene von der vorherigen ab. Nach den übertriebenen Bahnhofsgeräuschen sind die vorigen Stimmen bis auf Tommy und Maddy nicht mehr zu hören so entstehen freie >Sendekapazitäten< für den Auftritt der Stimme Dan. Ein weiteres Interferenzproblem, das sich aus der Überlagerung der Wechselrede und der Bewegungsgeräusche ergibt, soll eine Verhaltensregel »ein für alle Mal« lösen: »Dan: Once and for all, do not ask me to speak and move at the same time. I shall not say this in life again.« (CDW 189). Die Trennung von Stimmen und anderen Lauten wird zum zentralen Strukturprinzip der weiteren Wortwechsel, weshalb beim Hörer die Erwartung entsteht, daß die Stimmen immer etwas zu sagen haben, wenn die Bewegungslaute enden. Die kaum merkliche Konditionierung macht das Ausbleiben der Rede zum Kommunikationssignal: das Schweigen beginnt zu sprechen. Der Stille folgen in der Regel Bewegungs- und Naturgeräusche, bis eine der Stimmen dieses >Zwischenspiel< meist mit einer Frage anhält: »Mrs. Rooney: Why do you stop? Do you want to say something?« (CDW 197). Die Frage kurz vor dem Finale von All That Fall macht auf den entscheidenden Zusammenhang von Stehenbleiben und sprechendem Schweigen aufmerksam, denn am Ende >redet< ihr Schweigen über den Kindsmord 119
und das Grauen, das nicht mehr adäquat in Worte zu fassen ist. Die Pausen gliedern also den Sprechtakt im letzten Dialog von Dan und Maddy und lassen die Bedeutung des zuletzt Gesagten im Schweigen nachklingen. Die Stille in einem spannungsgeladenen Dialog bildet akustische Leerstellen, die den Rezipienten auffordern, sie mit Bedeutung zu füllen. Zum Stückende wird die Spannung so groß, daß sich der Hörer kaum noch der Appellstruktur des Schweigens entziehen kann: Der bei ihm evozierte Gedanken- und Bilderfluß bleibt auch ohne weitere Stimulation in Bewegung und läßt sich mit minimalen Lauteffekten lenken. In den Pausen hört der Rezipient seine eigene Gedankenstimme sprechen, die als fünfte Geräuschquelle in die stillen Momente des Hörspiels einkomponiert ist. Das Ausbleiben von Worten mitten im Dialog war schon in Becketts ersten beiden Dramen ein wichtiges Stilmittel und wurde in Kapitel 1.5 als plötzliches Innewerden von Paradoxien gedeutet. Die Pausen in All That Fall zeigen darüber hinaus, wie sich die Echos der letzen Worte mit einer Ahnung des Ungesagten verbinden. Die unvermittelte Stille enthält in allen Stücken Becketts zentrale >Aussagen< und löst die bedeutungsarme Sprache durch das sprechende Schweigen in entscheidenden Momenten ab. Die zentralen Zusammenhänge der Stücke muß der sinnsuchende Rezipient also selbst formulieren und produziert in seiner Vorstellung ein je eigenes Stück, zu dem Becketts Vorlagen - wie die folgenden Untersuchungen zeigen immer kargeres Assoziationsmaterial liefern.
3.3
Poeten, Autopoieten und Hörspiel-Moderatoren
3.3.1 Embers: Sender, Empfänger und Identitätsillusionen Während die Stimmen in All That Fall vordergründig den Eindruck lebensweltlich handelnder Figuren vermitteln, ersetzen Becketts spätere Hörspiele die Wirklichkeitsillusion immer deutlicher durch die Moderation von Klangeffekten und Erzählungsfragmenten. Schon in All That Fall fungierte Maddy als Stimme und Moderatorin von permanent abrufbaren Tierstimmen. Diese Naturlaute treten in den Hintergrund oder verschwinden in Cascando ganz, während sich die Aktivität der Protagonisten auf die Programmauswahl und
120
den Kommentar konzentriert. Die Moderatoren wechseln häufig die Kanäle und interagieren mit den jeweiligen Tonquellen, wenn diese Sender und Empfänger zugleich sind. Die abrupten Kanalwechsel schneiden kurze Programmsequenzen hart aneinander, meist ohne die Abfolge instrumentaler und vokaler Sender mit Auf- und Abtritten von Figuren zeiträumlich festzulegen oder psychologisch zu motivieren. Das selektierende Zuhören der Moderatoren steht im Radiostück stellvertretend für die Funktion der Rezipienten, die aus dem akustischen und assoziierten Material diverse Sinnund Klangcollagen konstruieren können. Im Gegensatz zum Hörer stellen die Moderatoren keine personale, leibliche oder lebensgeschichtliche Einheit dar, sondern sind auf ihre Auditor- und/oder Sprecherfunktion beschränkt. Die Protagonisten versuchen trotzdem, sich aus Erzählungen und evozierten Stimmen eine Biographie zu erschaffen. Da die akustische Selbsterzeugung aber aus Klischees besteht, mit denen sich die Moderatoren nicht identifizieren können, stellen sie ihre Selbststilisierung regelmäßig wieder in Frage: »Henry: Stories, stories, years and years of stories, till the need came on me for someone, to be with me, anyone, a stranger, to talk to, imagine he hears me, years of that, and then, now, for someone who... knew me, in the old days, anyone to be with me, imagine he hears me, what I am now. (Pause.) No good either. (Pause.) Not there either. (Pause.) Try again.« (CDW 255).
Das Zitat entstammt Becketts zweitem Hörspiel Embers (1959), das sich aus alten Geschichten zusammensetzt, die nicht mal mehr ihren Erzähler interessieren. Früher war die Stimme Henry ihr eigener und einziger Zuhörer; aber seitdem sie Geschichten wie die von Bolton und Holloway immer wieder und immer schlechter erzählt, langweilt sie damit sich und andere. Da sie nichts Neues zu sagen hat, sorgt die Stimme Henry mit >unverbrauchten< Ansprechpartnern für Abwechslung und evoziert zuerst den toten Vater als Zuhörer, um sich dann an Ada als Stichwortgeberin der Erinnerung zu wenden.65 In der x-ten Wiederholung verlieren auch die Familiengeschichten ihren ästhetischen Reiz sowie Erkenntniswert und nähern sich dem indifferenten Meeresrauschen an, das in den Pausen von Embers zu hören ist: »Sea, still faint, audible throughout what follows whenever Pause indicated.« 65
Die Stimme Henry gleicht als langweiliger Erzähler u.a. Nagg und Hamm in Fin de partie. Nagg sagt trübsinnig mitten in einem oft wiederholten Witz, »Je raconte cette histoire de plus en plus mal.« (DDI 234). Hamm muß Nagg seinerseits mit einer Praline bestechen, damit dieser dem Vortrag aus seinem »Roman« zuhört.
121
(CDW 253). Das gleichmäßige Grundrauschen der >Brandung< bildet den akustischen Gegenpol zum Stakkato der Programme, die einander im Wechsel der evozierten oder erzählten Schauplätze und Figuren folgen: Am Anfang von Embers pendelt die Stimme Henry z.B. fünfmal zwischen der Anrede des Vaters und der Erzählung von Bolton und Holloway hin und her - nur um jedesmal festzustellen, daß sie keine Sprechhaltung zufriedenstellt: »No good either. (Pause.) Not there either. (Pause.) Try again.« (s.o.). Die radiophone Suche nach einem imaginierten Individuum mit dem Namen Henry reproduziert sich fortwährend selbst, da die Identifikationsergebnisse unvollständig bzw. unbefriedigend bleiben. Jedes aufgerufene Programm teilt den transitorischen Charakter seiner Vorgänger und erhöht das radiophone Chaos konkurrierender (Lebens-) Geschichten: »[...] I never finished anything, everything always went on for ever.« (CDW 254). Der Versuch, den Eindruck eines profilierten Charakters in der Vorstellung der Hörer zu erzeugen, wird durch die hektischen Programmwechsel konterkariert: Stückinterne und externe Zuhörer müssen den Zusammenhang der akustischen Bruchstücke fortwährend neu bestimmen und werden im Verlauf des Hörspiels von Widersprüchen verwirrt, statt sich ein klares Bild von Henry machen zu können. Auch die Anwesenheit eines Auditors über einen längeren Zeitraum garantiert keinen biographischen Zusammenhang - was die Stimme Henry zeitweise anzunehmen scheint: »someone who... knew me, in the old days,« (s.o.). Sie erkennt ihren Irrtum (»No good either.«, s.o.) und gibt wenig später den Vater als potentiell lebenslangen Auditor auf: »Father! (Pause.) Tired of talking to you.« (CDW 256) Ohne Rückmeldung des »stummen« Vaters beschränkt sich das angestrebte esse est percipi auf Henrys Wahrgenommenwerden als Sender: Die Stimme nimmt an, daß sie gehört wird, ohne ihre Wirkung abschätzen zu können. Um den Eindruck eines leibhaftig anwesenden Menschen zu erhöhen, evoziert die Stimme Henry einen Strandspaziergang als realistische Rahmenhandlung von Embers: »I say that sound you hear is the sea, we are sitting on the strand. (Pause.) I mention it because the sound is so strange, so unlike the sound of the sea, that if you didn't see what it was you wouldn't know what it was.« (CDW 253). »Strange sound« (ebd.) betont die Fremdheit des Rauschens, und auch »stränge place« (ebd.) wirkt einer realistischen Ortsbestimmung entgegen. Die selbstdementierende Beschreibung einer außersprachlichen Wirklichkeit erweist sich als mediale Selbstreflexion über das Verhältnis von Sehen und Hören im Hörspiel: »if you didn't see what it was you wouldn't know what 122
it was.« (s.o.) Embers thematisiert mit dem Wortspiel sea-see das Pendeln des Rezipienten zwischen Naturlauten und deren sprachlicher Evokation, wobei die Laute jeweils von der Vorstellung in ein szenisches Ambiente bzw. in einen Handlungszusammenhang gestellt werden können.66 Meditationen über die >Brandung< lassen die evozierte Meereslandschaft nicht glaubwürdiger erscheinen, sondern wirken in der Redundanz von Rauschen, Bewegungsgeräuschen und Erklärungen irritierend: Genau wie bei Maddys Evokationen von Tier- und Naturlauten wird die Unmittelbarkeit des Höreindrucks durch die Beschreibung reflexiv vermittelt und verliert dabei die unhinterfragte Illusionswirkung. Die Differenz von Klangeffekt und Worten weckt die Aufmerksamkeit des Rezipienten für die Materialität der Zeichen und für das Verhältnis von Rauschen, Figurenrede und anderen Lauten. Gleich zu Beginn des Hörspiels erzeugt die Diskrepanz von Rauschverstärkungen und Bewegungsgeräuschen eine antiillusionistische Wirkung: »Henry's Boots on shingle. He halts. Sea a little louder.« (CDW 253). Drei weitere Regieanweisungen wiederholen die >Bewegung auf das Meer zuBrandung< erinnert z.B. an den Ozean »all der toten Stimmen«, die sich in En attendant Godot zu einem diffusen Rauschen überlagern.68 Die 66
Die Geschichte von Adas (Nicht-) Begegnung mit Henrys Vater führt den Gegensatz von äußerer und innerer Wahrnehmung exemplarisch vor: »Left soon afterwards, passed you on the road, didn't see her, looking out to... (Pause.)
Can't have been
looking out to sea.« (CDW 263). Das letzte Wort steht kursiv im Original und bezeichnet mit dem Wortspiel sowohl die Blickrichtung des Vaters (der nicht aufs Meer schaut) als auch dessen Abkehr von jeder äußeren Wahrnehmung. Der Rezipient kann wie der Vater »zu Stein« erstarren, um sich auf den »Film der Vorstellungen zu konzentrieren - der allerdings nur bruchlos abläuft kann, wenn die Höreindrücke widerspruchsfrei sind. 67
Henrys Kommandos »On.«, »Stop.« und »Down.« (alle CDW 253), die den Bewegungsgeräuschen vorangehen, können als Befehle des Moderators an einen Sender verstanden werden, die entsprechenden Laute zu produzieren. Der konventionelle Ablauf von Bewegungsgeräuschen wird in eine Sequenz einzelner Laute zerlegt, die in ihren Unterbrechungen die radiophone Illusionserzeugung bewußt machen.
68
»Estragon: Toutes les voix mortes. [...] Vladimir: Elles parlent toutes en même temps./ Estragon: Chacune à part soi. [...] Vladimir: Elles bruissent. [...] Ça fait comme un
123
Stimme Henry versucht das Rauschen mit Konversationsphrasen zu übertönen, weil von ihm die Gefahr ausgeht, alle Laute zu nivellieren. Der akustische Tod durch Interferenz läßt das Meer als verschlingende Bestie erscheinen. »Henry: Listen to it! {Pause.) Lips and claws!« (CDW 258). Der Mund der personalisierten >Brandung< ist aber zugleich ein lauterzeugendes Organ, das im Rauschen verschiedene Assoziationsräume öffnen kann. Als ironisches Echo auf die Figurenrede kann die >Brandung< z.B. die Klangkulisse der Toilette bezeichnen, in der sich Henry (in Adas Erzählung) einschloß, um ungestört mit sich selbst zu reden.69 In den Pausen der Geschichte von Bolton und Holloway können die Klingel, das Knistern des Feuers und das Geräusch der hin- und hergezogenen Vorhänge in der Vorstellung des Hörers ebenso nachklingen wie die gespannte Stille zwischen den beiden erzählten Figuren: »sound of dying [...] white world not a sound.« (CDW 255). Erst das leise Hintergrundrauschen macht die Stille als Fehlen einer identifizierbaren Tonquelle hörbar - wie die absolute Ruhe vom Rauschen des Blutes im Ohr angezeigt wird. Das Pausenrauschen in Embers bezeichnet also nicht nur die >Brandung< oder Tonquellen mit ähnlichem Klang, sondern markiert auch eine akustische Leerstelle als Ausbleiben von identifizierbaren Lauten. Die Stimme Henry erkundet die Grenzen des Hör- und Vorstellungsvermögens, indem sie im Pausenrauschen fiktive Laute heraufbeschwört: Sie fordert ihren Hörer auf, aus dem evozierten Geräusch von Pferdehufen den Lärm eisenbeschlagener Mammuts akustisch abzuleiten (»Listen to it! (Pause.)«, CDW 253), um schließlich das kaum vorstellbare Geräusch des Lichts zu hören: »Listen to light now,« (ebd.). Die 228 Pausen70 schaffen einen regelmäßig wiederkehrenden Freiraum für die Gedankenstimme bzw. akustische Einbildungskraft des Hörers und machen dieses >Programm< mindestens so präsent wie jede andere Tonquelle in Embers (vgl. Kap. 3.2). Die narrativen Abschnitte in allen Hörspielen Becketts gleichen daher Regieanweisungen für das Mentaltheater im Kopf des Rezipienten - das sich dort besonders in den Pausen abspielt. bruit de plumes. Estragon: De feuilles. Vladimir: De cendres./Estragon: De feuilles. Silence.« (DDI 130). Hamm sagt am Ende von Fin de partie·. »Avec le reste, à la fin, les ombres, les murmures, tout le mal« (DDI 308). 69
»Ada: You should see a doctor about your talking, it's worse, what must it be for Addie? (Pause.) Do you know what she said to me once, when she was still quite small, 7she said, Mummy, why does Daddy keep on talking all the time? She heard you in the lavatory.« (CDW 260).
70
Clas Zilliacus hat die Pausen gezählt. Ders. Beckett and Broadcasting, a.a.O., S. 91.
124
Die Stimme Henry bleibt von der Imagination der Zuhörer jedoch ausgeschlossen und lauscht in den Pausen vergeblich nach einem Feedback ihrer Selbstdarstellungen. In der ersten Sequenz des Radiostücks fungiert der imaginäre Vater (»old man, blind and foolish«, CDW 253) als Stellvertreter des >blinden< und >stummen< Rezipienten, der die Szene nur aufgrund ambivalenter Aussagen und Geräusche imaginieren kann. Die Anrede des Vaters in der zweiten Person Singular und die Ortsbeschreibungen (s.o.) gelten daher immer dem >Erzeuger< und Radiohörer zugleich - denn der Rezipient ist durch sein Vorstellungsvermögen der potentielle Erzeuger von Henrys Gestalt und personaler Einheit. Nach der ersten Erzählsequenz verdeutlicht die Stimme Henry mit einem Selbstwiderspruch, daß der Vater alle möglichen Hörer substituiert: »Close your eyes and listen to it, what would you think it was?« (CDW 255). Warum der blinde Vater seine Augen schließen soll, um sich auf seinen Hörsinn zu konzentrieren, bleibt Henrys Geheimnis. Sinn macht die Aussage nur, wenn sie sehende Rezipienten zum genaueren Hören auffordert. Wie Becketts Bühnenfiguren kann die Stimme Henry mit ihren Auditoren nicht kommunizieren und geht dennoch davon aus, von ihnen wahrgenommen zu werden: Wenn man die >Brandung< als Grundrauschen im akustischen Kanal zwischen Henry und seiner Umwelt versteht, dann besagt das monotone Geräusch, daß der Kanal nicht abgeschaltet und Henry sowie sein Vater potentiell empfangsbereit sind: »Henry: Can he hear me? {Pause.) Yes, he must hear me.« (CDW 253). Das (Pausen-) Rauschen bildet den Auftakt und die Grundfrequenz aller Nachrichtenkanäle in Embers und endet erst nach dem letzten Satz: »Not a sound.« (CDW 264). Die Worte wirken wie ein Befehl des Moderators zur radiophonen Selbstauslöschung, denn die Tonquellen einschließlich Henrys Stimme schweigen nicht nur vorübergehend, sondern sind als Sender abgeschaltet - da sonst das stückspezifische Grundrauschen zu hören wäre.71 Das Fehlen des permanenten Grundtons macht die Regieanweisung »Silence« wie am Ende von Cascando (DDI 360) überflüssig, denn die Stille wird dem Hörer allein durch das Wegfallen des erwarteten Pausenrauschens bewußt.
71
Ein leises Grundrauschen wird der Hörer je nach Rauschfilter seines Empfangsgeräts weiterhin hören, solange dieses in Betrieb ist. Dieses Kanalrauschen läßt sich aufgrund der geringen Lautstärke von dem viermal verstärkten (Meeres-) Rauschen in Embers deutlich unterscheiden. Das finale Verlöschen der >Brandung< weist darauf hin, daß das Geräusch keine realistische Rahmenhandlung, sondern eine Tonquelle bezeichnet, die an- sowie abgeschaltet und deren Lautstärke geregelt werden kann.
125
Der Sendeschluß am Hörspielende läßt (mindestens) zwei Deutungen zu, von denen die eine hier und die andere weiter unten vorgestellt werden soll. Erstens kann das plötzliche Verstummen aller Kanäle als Klimax einer Entwicklung verstanden werden, die sich aus der viermaligen Verstärkung des Grundrauschens ableiten läßt: Die Interferenz der einzelnen Stimmen und Geräusche verstärkt das anschwellende Rauschen mit jeder neuen Tonquelle weiter und wird diese in absehbarer Zeit übertönen. Der potentielle >LärmtodLeereBrandung< zu hören ist: »[...] I often hear it above in the house and walking the roads and start talking, oh just loud enough to drown it, nobody notices.« (CDW 254). Der sinnleere 72
Die Stimme Henry läßt anklingen, daß sie das Tropfen permanent hört, doch für den Rezipienten ist es nur kurz vor und während der Lautverstärkungen zu vernehmen. Das Tropfen bezeichnet in Fin de partie auch eine innere Lebensuhr, die im Gleichklang mit dem Herzen schlägt. »Hamm: Nature! Un Temps. Il y a une goutte d'eau dans ma tête. Un Temps. Un coeur, un coeur dans ma tête.« (DDI 230).
73
»(Galloping hooves, >Now Miss< and Addie's wail amplified to paroxysm, then suddenly cut o f f . Pause.)« (CDW 259). »(Rough sea. Ada cries out. Cry and sea amplified, cut o f f . End of evocation. Pause.)« (CDW 260). Die Rückkopplung des Tropfens, (Sound of drip, rapidly amplified, suddenly cut off.)« (CDW 255), widerspricht der These von Clas Zilliacus, die Geräuschverstärkungen würden auf vergangene Situationen verweisen: »The formal technique used by Beckett to signal the past tense is that of amplification.« Ders., Beckett and Broadcasting, a.a.O., S. 84.
126
Sprechzwang wird zur zweiten Geräuschkulisse und erzeugt genau das, was die Stimme Henry am meisten abschreckt: »There is a levelling going on.« (CDW 261). Die Nivellierung betrifft nicht nur die Löcher am Strand, sondern erstreckt sich auch auf die Stimmen und Geräusche, die sich überlagern, ohne vom Moderator abgeschaltet bzw. gelöscht zu werden: »[...] I never finished anything, everything always went on for ever.« (s.o.). Die Stimme Henry trägt entscheidend zum Bedeutungsverlust der Sprache bei, da sie andere Stimmen Konversationspartnerin instrumentalisiert, ohne an ihren Aussagen interessiert zu sein, wie ein verachtender Kommentar über Adas Interessen zeigt: »(With solemn indignation.) Price of margerine fifty years ago. {Pause.) And now.« (CDW 256). Die nichtssagende Figurenrede nähert sich einem Gleichklang an, der von keinem Sinn mehr belastet ist — und zum Zweck der Dauerbeschallung auch gegen ein Grammophon ausgetauscht werden kann: »Now I walk with a grammophone. But I forgot it today.« (CDW 261). Ais reine Sender spulen die Figuren ihre Sprach- und Denkklischees wie Plattenaufnahmen ab und bleiben indifferent gegeneinander - auch wenn sie wie Henry und Ada zu kommunizieren scheinen: »Ada too, conversation with her, that was something, that's what hell will be like, small chat to the babbling of Lethe about the good old days when we wished we were dead.« (CDW 256).
Die Stimme Henry stilisiert die stereotype Wechselrede zur Hölle der Sinnlosigkeit und stellt die Konversationsphrasen in Analogie zum Rauschen der Lethe - dem Unterweltsfluß, der in der griechischen Mythologie die Gefilde der Seeligen umfließt. Die Formulierung ist doppeldeutig, denn einerseits kann »small chat to the babbling of Lethe« bedeuten, daß die Stimme Henry einen Schwatz mit dem Totenstrom hält, der früher oder später erstirbt, weil die Unterhaltung mit einem Fluß notwendig einseitig ist - wie Henrys Ansprechen gegen die >Brandung< auch. Das einsame Reden zum Rauschen des Unterweltflusses macht Henry zu einer der toten Stimmen, von denen Vladimir und Estragon sprechen (s.u.). Andererseits weist die Konversation vor der Klangkulisse der Lethe darauf hin, daß von dem unaufmerksamen und inhaltsleeren Plätschern des Redeflusses kaum noch Erinnerungen übriggeblieben sind. Denn die Lethe ist der Strom des Vergessens, aus dem die Verstorbenen trinken, um das Gedächtnis an ihr irdisches Dasein abzustreifen. Die Aussage über die Lebenserinnerungen am Ufer der Lethe dementiert sich also selbst und enthält mit den »guten alten Tagen« eines
127
der informationsarmen Klischees, die auch die Konversationsversuche mit Ada auszeichneten. Der sprachliche Allgemeinplatz wird aber umgehend ironisiert: Der vorweggenommene Rückblick post mortem verklärt das Leben zur »guten alten Zeit« und dementiert das Gesagte zugleich mit dem Nachsatz, daß der Tod damals willkommen war. Die Sehnsucht der Lebenden nach dem Tod und der Toten nach dem Leben führt zu einem fiktiven Kreislauf, der von einer unstillbaren Sehnsucht angetrieben wird und nichts weiter als Worte produziert. Das Bild vom Unterweltsstrom verbindet die Endlosschleife zwischen Leben und Tod mit der >Brandung< in Embers, denn der sinnleere Wortfluß mündet in das Meer der reinen Laute, nachdem er durch einen Kopf tropfte und im Höllenstrom zusammenfloß. Obwohl Henry die Bedeutungslosigkeit der Wortwechsel erkennt, fleht er Ada an, sie möge weiterreden - und nennt dabei implizit die Reproduktionsregel der radiophonen Selbsterzeugung: »Keep it going, Ada, every syllable is a second gained.« (CDW 262). Wie Shimon Levy gezeigt hat, steht »second« sowohl für die Sekunde des Weitersprechens, die dem Schweigen abgewonnen wurde, als auch für eine weitere (zweite) Silbe, die aus der vorigen automatisch folgt.74 Der Sprechzwang setzt die Existenz des artifiziellen Wort- und Klanggebäudes fort, das der Moderator Henry mit Erzählungen, Evokationen und Moderationen permanent erzeugt. Ada zufolge scheint sich das Rauschen als Programm des Moderators verselbständigt zu haben: »I don't think you are hearing it. And if you are, what's wrong with it, it's a lovely peaceful gentle soothing sound, why do you hate it?« (CDW 260). Das saugende Geräusch der zurückflutenden >Brandung< läßt sich genau wie das Tropfen nur übertönen, aber nicht >abschaltenHenrys Biographie< ausgestaltet, sind allerdings von zweifelhaftem Erinnerungswert. Nach einer Episode aus der Familiengeschichte fragt sie, »Is this rubbish a help to you, Henry?« (CDW 263), aber der Angesprochene verzichtet mit vielsagendem Schweigen auf eine Fortsetzung des Berichts. Gegen Ende des Hörspiels sind trotz erneuter 74
Levy, Shimon, Samuel Beckett's Self-Referential Drama, a.a.O., S. 69.
128
Beschwörungsversuche weder Adas Stimme noch die Pferdehufe zu hören, was auf die nachlassende Evokationskraft des Moderators schließen läßt. Der Moderator hat keinen Einfluß auf die Sendestärke der Programme (wie u.a. die »anfallartigen« Verstärkungen zeigen) und kontrolliert kaum ihre Sendedauer, da er z.B. Adas Verschwinden nicht verhindern kann. Die Abhängigkeit von den Programmen läßt eine zweite Erklärung für das finale Verstummen aller Tonquellen zu, denn der Moderator kann verklingende Stimmen und Geräusche anscheindend nicht durch neue ersetzen. Die Stimme Ada prophezeit ihm kurz vor ihrem Verstummen: »You will be quite alone with your voice, there will be no other voice in the world but yours.« (CDW 262). Weder Gesprächspartner noch das Notizbuch bieten Aussicht auf Abwechslung, und am Ende scheint sich der Moderator seinem radiophonen Verschwinden zu ergeben: »All day all night nothing. (Pause.) Not a sound.« (CDW 264). Ohne die Möglichkeit zur Programmauswahl wird der Moderator zu einer der »toten Stimmen«, die nur zu sich selbst sprechen kann, ohne zu wissen, ob sie von anderen gehört wird. Im Gegensatz zu Vladimir und Estragon in En attendant Godot fürchtet er sich weder vor »all den toten Stimmen« noch redet er, um diese »nicht hören zu müssen« (DDI 129). Die Stimme Henry ist vielmehr auf Stimmen und klar konturierte Geräusche angewiesen, um als Moderator nicht funktionslos zu werden, bzw. um nicht permanent selbst mit Worten, Evokationen und Taktschlägen gegen das Rauschen ankämpfen zu müssen.75 Jeder Sender könnte zudem interaktiv sein und den Moderator seinerseits Gehör schenken. Als eine »tote Stimme« im radiophonen Limbus unterscheidet sich Henry von Ada nur durch geringe klangliche Differenzen, aber nicht durch seinen ontologischen Status. Ada erscheint zwar als »low remote voice throughout.« (CDW 257) und macht wie ein Geist keine Geräusche beim Hinsetzen im Strandkies (»No sounds as she sits«, ebd.). Aber die Bewegungsgeräusche sind einerseits nicht widerspruchsfrei an die Illusionswirkung einer leiblichen Einheit gekoppelt, wie die o.g. Ungleichzeitigkeit von Schritten
75
Der Taktschlag von Addies Musiklehrer und die Hufschläge geben einen Rhythmus vor, den die Stimme Henry durch das Geräusch zusammenschlagender Steine noch zu verstärken sucht: »That's life! (He throws the other stone away. Sound of its fall.) Not this... (Pause.)... sucking!« (CDW 261). Ada genießt das Geräusch der >Brandung< und berichtet fasziniert von der Ruhe unter der Meeresoberfläche: »Underneath all is as quiet as the grave. Not a sound. All day, all night, not a sound.« (ebd.).
129
und Rauschverstärkungen gezeigt hat; und andererseits ist Ada nicht eindeutig Henrys Halluzinationen zuzuordnen: Ihre Stimme ist zwar erst nach Henrys Herbeizitieren zu hören, »Ada. (Pause. Louder.) Ada!« (CDW 256), aber sie behauptet, schon länger dagewesen zu sein. 76 Durch die selbstbestimmte Anwesenheit wirkt Ada nicht als intrapsychische Stimme Henrys, sondern erscheint unabhängig von seinem Bewußtsein. Im Gegensatz zum Rezipienten kann sie auch die »Addie«-Evokationen nicht hören und fungiert daher als eigenständige Figur, die sich mit dem Moderator interpersonal unterhält.77 Der Unterschied zwischen Henry und Ada oder zwischen >lebenden< und >toten< Stimmen in Embers läßt sich nicht nach dem dargestellten Realitätsgehalt der Figuren bemessen, wie es in der Sekundärliteratur versucht wird.78 Die Differenz der Stimmen reduziert sich vielmehr
76
»Henry: Have you been there long? / Ada: Some little time.« (CDW 256). In einem Interview läßt Beckett den ontologischen Status der Hörspielfiguren in der Schwebe: Embers »repose sur une ambiguïté: le personnage a-t-il une hallucination ou est-il en présence de la réalité?« In: Zilliacus, Clas, Beckett and Broadcasting,
77
a.a.O., S. 83.
Die Stimme Ada legt die Evokationen von Addies Klavier- und Reitstunden (die sie offensichtlich nicht gehört hat) als absichtliches Schweigen Henrys aus und sagt daher: »You are silent today. / [...] / What are you thinking of?« (CDW 259). Ohne eine eindeutige logische Zuordnung ist die Stimme Ada vom Rezipientenurteil abhängig, das darüber entscheidet, ob sie als Geist oder als leibhaftige Figur vorgestellt wird.
78
Die Sekundärliteratur zu Embers geht unisono von einer personalen Darstellungsperspektive aus. Die Fokussierung auf >Henrys Bewußtsein< läßt ihn als übergreifende, personale Meta-Ebene der anderen Stimmen und Geräusche erscheinen - statt den Moderator funktional von den anderen Tonquellen zu unterscheiden. Katherine Worth schreibt z.B. in Beckett and the radio medium·. »Henry's is the one voice we can depend on, the voice all the other voices depend on.« (A.a.O., S. 203). Paul Lawley spricht von Ada und Addie als »projections of his own mind« (Ders., >Embers'; an interpretation,
in: Journal of Beckett Studies, Number 6, London 1981, S. 20) und
unternimmt eine umfangreiche Individualanalyse Henrys (vgl. Anm. 92). Auch Clas Zilliacus geht von einem profilierten Charakter in einer realistischen Rahmenhandlung aus: »apart from the sea-shore setting identified for us as being real, the only presence that may be taken for granted is Henry's own.« Ders., Beckett and
Broadcasting,
a.a.O., S. 82. Wie Martin Esslin verortet Shimon Levy das Mentaltheater in Henrys Kopf, betont aber die Funktion des Hörers als Koproduzent des Hörspiels. »Henri becomes not just the only auditive foothold of the piece, but the built-in director, sound effect manipulator and listener of the radioplay of his own life. The real listener is hence invited to crawl through the radio receiver into the inside of Henry's theatre in the skull and co-create the visual counterparts of the story together with him.« Ders., Samuel Beckett's Self-Referential Drama, a.a.O., S. 67.
130
neben Klangunterschieden auf dramaturgische und tontechnische Details: 1) Interaktionsfähigkeit als Sender und/oder Empfänger, 2) Sendestärke und dauer sowie 3) Funktion als Erzähler, Auditor und/oder Moderator. Die bisherigen Untersuchungen haben gezeigt, daß Henry die Stimmen, Geräusche und >Rahmenhandlung< moderiert, um sich selbst den Anschein eines profilierten Charakters zu geben. Er ist in diesem Sinne nicht nur ein Moderator der Tonquellen, sondern auch ein Autopoiet, d.h. ein Wesen, das sich paradoxerweise selbst hervorbringt. Autopoiese meint einen Prozeß der Selbsterzeugung und Selbststeuerung, der ab einer gewissen Komplexitätsstufe plötzlich Eigenschaften aufweist, die in keinem seiner Teile vorher vorhanden waren. Da die Stimme Henry darauf abziehlt, in der Vorstellung des Hörers um Eigenschaften ergänzt zu werden, die ihr als unsichtbarer Hörspielfigur nicht zu eigen sind, kann man von einer Form von Autopoiese sprechen. Das >Repräsentationsdefizit< der akustischen Versatzstücke fordert den Hörer auf, ihnen Bedeutung zuzuweisen, bzw. sie in ein subjektives Sinngefüge einzuordnen. Der Rezipient wird dadurch zur Meta-Ebene, auf der die Programme in ihrer Wechselwirkung Eigenschaften entfalten, die sie isoliert nicht besitzen.79 Das (Meeres-) Rauschen enthüllt seine Bedeutungsvielfalt z.B. erst im kontextuellen Bezug zur Rede und anderen Geräuschen, weshalb der Moderator in den Anreden des Vaters/Erzeugers/stellvertretenden Hörers explizit auf die ergänzende Phantasie und Identifikationskraft der Auditoren/Rezipienten anspielt. Alle Moderatoren in Becketts Radiostücken scheinen paradoxerweise zu wissen, daß sie Hörspielfiguren sind, die von der Stimme eines Sprechers erzeugt und von einem Hörer wahrgenommen werden. Mit ihren direkten Höreradressen durchbrechen Maddy Rooney in All That Fall·, Henry in Embers und der Ouvreur in Cascando (vgl. Kap. 3.3.3f.) die stückinterne 79
Rolf Breuers Einschränkung, »Natürlich gibt es Selbsterzeugung in der Natur - und das heißt: in der Wirklichkeit - nicht, aber Künstler können so tun als ob.«, betrifft in Becketts Hörspielen nur noch den organischen Rest der Stimme, der die Figuren in ihren Selbsterfindungen beschränkt. Wenn man die Stimmen in Cascando jedoch als hörbare Geräuschhalluzinationen des Moderators versteht, dann bringt sich dieser mit immer neuen Stimmen selbst hervor - ohne viel sprechen zu müssen. Die späten Hörspiele nähern sich einem Aufgehen der Moderatoren in ihrer dramaturgischen Funktion an, die nur noch von tontechnischen Kommandos und Kommentaren vermerkt wird und eine komplette Selbsterzeugung denkbar macht. Breuer, Rolf, Paradoxie Samuel Beckett, in: Geyer, Paul, Hagenbüchle, Roland (Edd.), Das Paradox,
bei Eine
Herausforderung des abendländischen Denkens, Tübingen 1992, S. 560f.
131
Kommunikationssituation und versetzen sich potentiell in die Position des angenommenen externen Zuhörers. Das Rezipientenbewußtsein ist sowohl das Medium zur Selbsterzeugung der Figuren als auch ein entscheidendes Programm in Becketts Hörspielen, dessen Koproduktion die Stücke dramaturgisch konzipieren - ohne sie völlig kalkulieren zu können. Denn je bruchstückhafter und widersprüchlicher die akustischen Versatzstücke sind, desto pluraler ist die Klangcollage in ihrer Auslegung - desto unvorhersehbarer sind also die Resultate des autopoietischen Prozesses. Das Paradox der Selbsthervorbringung zieht sich leitmotivisch durch die Erzählungen sowie Dramen Becketts und wird vom Erzähler in Gesellschaft auf den Punkt gebracht: »Sich selbst erfindet er ebenfalls, um sich Gesellschaft zu leisten.«80 In En attendant Godot und Fin de Partie wurden die Möglichkeiten zur Selbsterzeugung durch die körperliche Präsenz und das paarweise Auftreten der Figuren auf zumeist interaktive Rollenspiele beschränkt. Dagegen lassen sich die diskreten Stimmen und Geräusche der Radiostücke zu potentiell unendlich vielen Klangkörpern und (Lebens-) Geschichten kombinieren, da sie an keine verbindliche Rahmenhandlung gekoppelt sind. Die folgenden Untersuchungen sollen u.a. zeigen, wie sich die Deutungsvarianz in den späteren Hörspielen und Krapp's Last Tape vergrößert, während sich die Anzahl, der Umfang und die Interaktionsfähigkeit der Programme reduzieren. Krapp's Last Tape wird nicht nur zur Deutung mit herangezogen, weil das Theaterstück 1958 zwischen All That Fall und Embers entstand, sondern weil es eine Vielzahl von thematischen und dramaturgischen Analogien zu den untersuchten Hörspielen aufweist.81 Die entscheidende Übereinstimmung besteht darin, daß Krapp wie die Radiomoderatoren vokale Programme öffnet und schließt, die als Tonbandstimmen genauso gestaltlos erklingen wie die Sprecher in den Hörspielen. Krapp 's Last Tape überträgt aber nicht nur Elemente der Radioästhetik auf das Theater, sondern übernimmt in den Narrationen filmische Stilmittel wie die Hörspiele nach All That Fall auch. 80 81
Beckett, Samuel, Gesellschaft, Frankfurt am Main 1981, S. 27. Deirdre Bair zufolge entstand Krapp 's Last Tape aus der Idee Becketts, ein Hörspiel für die Stimme Patrick Magees zu schreiben. Dies., Samuel Beckett, a.a.O., S. 617 f (Bair irrt darin, Krapp 's Last Tape statt All That Fall als »Becketts erstes in englischer Sprache geschriebenes Nachkriegswerk« zu bezeichnen, a.a.O., S. 619). Martin Esslin schreibt dagegen, daß George Devine, der Regisseur der englischensprachigen Premiere von Endgame, Beckett direkt den Vorschlag zu einem Bühnenmonolog für Magee machte. Ders,. Samuel Beckett und die Kunst des Rundfunks, a.a.O., S. 172.
132
3.3.2 >Hörspiele< des (filmischen) Sehens Der Erzählzwang der Stimme Henry in Embers me in Cascando
gleicht demjenigen der Stim-
(1961), 8 2 die auf der Suche nach >der richtigem Geschichte
schon »tausend-und-eine« erzählt hat und doch keuchend vor Anstrengung weiterspricht - paradoxerweise u m irgendwann schweigen zu können. 8 3 Fast alle männlichen Protagonisten in den Hörspielen und in Krapp 's Last
Tape84
gerieren sich als Poeten - und stehen damit in der N a c h f o l g e von Pozzos »lyrischem Ton« und von H a m m s Erzählerrolle: D i e Stimme Dan Rooney äußerst sich im »narrative tone« ( C D W 194), die Stimme Henry erzählt die Bolton-und-Holloway-Fortsetzungsgeschichte
und
eine
Tonbandstimme
Krapps spricht v o m »opus magnum« ( C D W 218). Croak interagiert in Words and Music (1961 vgl. Anm. 82) w i e P o z z o in En attendant einem dichtenden »Hofnarren«, 8 5 während der Öffner in Cascando
Godot
mit
s o w i e He
in Rough for Radio I (1961) einen Literaturkanal moderieren. D i e Poeten in Becketts Stücken sorgen für die schnellen Wechsel zwischen sprachlichen Assoziationsräumen, die nicht v o m Handlungszusammenhang leibhaftiger Figuren abhängig sind. A m Ende von Words and Music singt z.B. die Words
82
Die Jahreszahl in der Parenthese gibt nicht das Veröffentlichungs- sondern Entstehungsjahr des jeweiligen Stücks an, um die Zusammenhänge in Becketts Arbeitsbiographie zu erhellen. Clas Zilliacus hat nach dem Studium der Manu- und Typoskripte das Dunkel um die Entstehungsgeschichte von Becketts späten Hörspielen gelichtet: »The writing of Cascando followed close on the heels of Words and Music, which was written during the later half of November 1961; Cascando was written in December. [...] Even if Beckett did not regard his Esquisse (radiophonique - in den Complete Dramatic Works als Rough for Radio I, Anm. J.B.) as part of the progress of Cascando [...] it was none the less composed immediately before Cascando, and abandoned overnight for this project.« Ders., Beckett and Broadcasting, a.a.O., S. 118ff. Nach Zilliacus muß die Jahresangabe zu Cascando in den Complete Dramatic Works, »Written in French in 1962« (CDW 296), ein Jahr zurückdatiert werden.
83
»Voix: (bas, haletant.) - histoire... si tu pouvais la finir... tu serais tranquille... pourrais dormir... pas avant... oh je sais... 'en ai fini... des milles et des une... fait que ça... ça ma vie... en me disant... fini celle-ci... c'est la bonne... après tu serais tranquille... pourrais dormir... plus d'histoires... plus de mots...« (Cascando, DDI 340). Krapp 's Last Tape rubriziert im Folgenden unter der Kategorie >Hörspiel< (in Anführungszeichen) nur in Hinblick auf die gestaltlosen Tonbandstimmen - deren Erzählungen mit denen der Radiostücke nach All That Fall verglichen werden. Pozzo sagt über seine Stellung zu Lucky: »Autrefois on avait des bouffons. Maintenant on a des knouks. Ceux qui peuvent se le permettre.« (DDI 66).
84
85
133
genannte Stimme von einer gestaltlosen Welt, die sich im Blick einer jungen Frau auftut: »Then down a little way / Through the trash / Towards where / All dark no begging / N o giving no words / N o sense no need / Through the scum / Down a little way / to whence one glimpse / Of that wellhead.« (CDW 293f). 8 6 Der »Quellpunkt« in den Mädchenaugen erinnert an die visuelle Vereinigung in Krapp's
Last Tape und nimmt intertextuell auf
Theodor Fontanes Effie Briest Bezug. 8 7 Krapps Name erinnert an Major Krampas, Effies Liebhaber in Kessin, und die sentimentale Fontane-Lektüre prägt auch seinen Lebensrückblick. 88 Krapps revozierte Jugendliebe trägt nicht nur den Vornamen der Romanheldin, sondern teilt mit dieser auch den bedeutsamen Ostseeaufenthalt: »Effie... {Pause.) Could have been happy with her up there on the Baltic, and the pines and the dunes.« (CDW 222). Indem Krapp dreimal zum EffieThema zurückkehrt, betont er die Bedeutung der Tonbandpassage gegenüber einer ereignisarmen Gegenwart: »Nothing to say, not a squeak.« (ebd.). Auch in Words and Music scheint eine längst vergangene Liebesgeschichte im Zentrum von Croaks Moderationen zu stehen, die sich über die Themen-
86
Elmar Tophoven übersetzt »Through the scum« als »durch den Feim« (DDI 290) Scum bedeutet aber Abschaum und nicht Feim als geschichteter Getreidehaufen.
87
Die visuelle Vereinigung der Liebenden erscheint in Krapp's Last Tape wie folgt: »I said again, I thought it was hopeless and no good going on and she agreed, without opening her eyes. (Pause.) I asked her to look at me and after a few moments (Pause.) - after a few moments she did, but the eyes just slits, because of the glare. I bent over to get them in the shadow and they opened. (Pause. Low)
Let me in.
(Pause.) We drifted in among the flags and stuck. The way they went down, sighing, before the stem! (Pause.) I lay down across her with my face in her breasts and my hand on her. We lay there without moving. But under us all moved and moved us, gently, up and down, and from side to side.« (CDW 223). 88
»Krapp: Scalded the eyes out of my reading Effie again, a page a day, with tears again.« (CDW 222). In All That Fall spricht die Stimme Dan davon, vor dem Kaminfeuer zu sitzen und E f f i Briest zu lauschen: »Mr. Rooney: Let us hasten home and sit before the fire. We shall draw the blinds. You will read to me. I think Effie is going to commit adultery with the Major.« (CDW 189). Zum Verhältnis von Fontanes Romanvorlage zu Krapp's Speicher,
Last Tape vgl.: Kittler, Wolf, Digitale
und
analoge
Zum Begriff der Memoria in der Literatur des 20. Jahrhunderts, in:
Haverkamp, Anselm, und Lachmann, Renate, (Edd.) Gedächtniskunst·.
Raum-Bild-
Schrift, Studien zur Mnemotechnik, Frankfurt am Main 1991 S. 387ff.; sowie Erfurth, Eric, Bananen und Stachelbeeren sphänomene,
134
oder Krapp, Fontane, Beckett und die
Bibliothek-
in: Forum Modernes Theater, Bd. 7 Heft 1, Tübingen 1992, S. 37ff.
v o r g a b e n L i e b e und Alter d e m revozierten M ä d c h e n g e s i c h t nähern. Motiv
der v i s u e l l e n
Vereinigung
verbindet
in der
Das
stückübergreifenden
W i e d e r h o l u n g d i e l e i t m o t i v i s c h e n O p p o s i t i o n e n Mann/Frau, Alter/Jugend, Feuer/Wasser, Erinnerung/Fiktion und S e h e n / H ö r e n . D i e L i e b e s g e s c h i c h t e n f u n g i e r e n als t h e m a t i s c h e Schnittstellen der M e d i t a t i o n e n und M o d e r a t i o nen, d i e z.T. g e g e n s ä t z l i c h e B e d e u t u n g e n a n n e h m e n . Krapps R o m a n l e k t ü r e verknüpft s e i n e L i e b e s e r i n n e r u n g e n und damit s e i n e B i o g r a p h i e untrennbar mit d e m K a n o n der Liebesliteratur, während s i c h d i e Stilisierung der M ä d c h e n z u m L e b e n s q u e l l auf d i e M i n n e d i c h t u n g b e z i e h e n läßt. 8 9 D i e j u n g e n Frauen w e r d e n nicht als Individuen, sondern als ideale P r o j e k t i o n s f l ä c h e n d e s B e g e h r e n s b e s c h r i e b e n (vgl. Kap. 3 . 3 . 3 ) , die w i r k u n g s ä s t h e t i s c h nicht d e n A n s p r u c h auf e i n e außerliterarische E x i s t e n z b z w .
gar
unstilisierte
Erinnerung vertreten. 9 0
89
Jean-Jaques Mayoux und Clas Zilliacus deuten Words and Music in der Tradition mittelalterlicher Moralitäten: »a drama without reference to external reality, an episode in the adventures of the split of mind: so very modern.« Mayoux zitiert in: Zilliacus, Beckett and Broadcasting,
a.a.O., S. 105 In diese Lesart paßt Kraks Turm als Bestand-
teil eines »Gothic setting, suggestive of a castle« (ebd, S. 106) und der Gesang von Words als niedere Minne (ebd, S. 107). Die Schlußfolgerung, »The play is obviously unstageable:« (ebd, S. 105), weil es eine »cosa mentale«, (ebd.) sei, kann aber angesichts von Becketts späteren Dramen nicht überzeugen. Schon Krapp 's Last Tape führt verschiedene Bewußtseinsteile in Form von Krapps Maschinengedächtnis technischkörperlich vor und widerlegt damit die These: »The split mind, in Mayoux's phrase, cannot be represented by bodies« (ebd.). 90
In der Verbindung von Worten und süßlicher Musik können die »Lily«-Evokationen in Words and Music kurzzeitig als multimedialer Kitsch wirken, der an die Trivialliteratur und tränendrückenden Effekte in Hollywood-Filmen erinnert. Während der Deklamator Words vom Gesicht in der Asche und dem Quellpunkt in den Augen phantasiert, schreibt die Regieanweisung der Musik einen sentimentalen Ton vor: »Music: Rap of baton and warmely sentimental, about one minute.« (CDW 291). In der Produktion des Bayerischen Rundfunks von 1995 (Regie und Musik: Stephan Hardt, Worte: Otto Sander und Peter Fitz als Krak) basiert die Musik auf dem Stück Nacht und Träume von Franz Schubert - die von der krächzenden und betont unsentimentalen Stimme Otto Sanders kontrastiert wird. Das Zusammenspiel von Worten und Musik wirkt hier als radiophone Clownsnummer und steht damit im Gegensatz zu der Produktion von Katharine Worth (University of London 1973, Regie: David Clark, Words: Patrick Magee, Croat. Denis Hawthorne, Musik von Humphrey Searle), welche die zitierte Hörspielszene als eine Entwicklung zur Authentizität interpretiert: »[...] when Words and Music begin to abandon their sterile fluency for more broken and genuine expressions of feeling.« Dies., Beckett and the radio medium, a.a.O., S. 195.
135
Der erotische Subtext in den revozierten Jugendlieben wandelt sich vom assoziierten Geschlechtsakt (»sighing, before the stem!«, vgl. Anm. 87) zum ekstatischen Blickkontakt, der den Mindestabstand des klar konturierten Sehens unterschreitet. Die evozierte Wahrnehmung dringt im Augenblick intensivster Konzentration durch den »Dreck« der täuschenden Körperwelt bzw. durch den »Schleier der Maja«, wie es Schopenhauer nannte (vgl. Kap 1.2): »Then down a little way / Through the trash / [...] / Through the scum / Down a little way / to whence one glimpse / Of that wellhead.« (s.o.). Während sich die Liebenden im genannten Dunkel auflösen (»All dark«, s.o.), erscheint der »Quellpunkt« als Lichtmetapher der Erkenntnis - das Sehen wird zur Einsicht. Die beschriebene Wahrnehmung wendet sich von der Außenwelt ab und transzendiert die principia individuationis Zeit, Raum und Kausalität; sie überschreitet im >inneren Sehen< also die Beschränkungen der Individualperspektive.91 Die nachträgliche poetische Reflexion erhebt die >Erleuchtung< zum epistemologischen Programm, das die Auflösung von Körper- und /cA-Grenzen im visuellen Verschmelzen beschreibt: Das Ich und der andere, percipere und percipi fallen in einer nahezu differenzlosen Identität zusammen, die nur noch durch einen schwachen Gegensatz von Hell und Dunkel gekennzeichnet ist. Das sprachlose Glück (»no words / No sense«, s.o.) kontrastiert den Sprechzwang und läßt die Selbstsuche der Erzähler/Stimmen/Poeten für einen Augen-Blick zur Ruhe kommen. Der »Quellpunkt« macht nicht nur erkenntnistheoretisch Sinn, sondern kann entwicklungspsychologisch als Ursprungsmythos verstanden werden, der die Regression in präreflexive, symbiotische Einheitsgefühle markiert. Paul Lawley hat die Wasser-»Symbolik« auf Freuds »ozeanische Gefühle« bezogen (vgl. Anm. 92) und versteht das evozierte Meer als verschlingenden Mutterleib: »No doubt we have here another version of that obsessive Beckett image, the imperfect birth, with Henry striving to free himself completely from the devouring womb of the mother-sea which will not let 91
Schopenhauer beschreibt das erkennende Wesen im »Zustand der reinen Kontemplation« als »ungetrübten Spiegel der Welt«, dessen Individualwillen sich bis auf jenen »glimmenden Funken« reduziert hat, der dem kurzen Blick auf den »Quellpunkts« in Words and Music gleicht: »Hieraus können wir abnehmen, wie selig das Leben eines Menschen sein muß, dessen Wille nicht auf Augenblicke wie beim Genuß des Schönen, sondern auf immer beschwichtigt ist, ja gänzlich erloschen bis auf jenen letzten glimmenden Funken, der den Leib erhält und mit diesem erlöschen wird.« Ders., Die Welt als Wille und Vorstellung, Frankfurt 1986, S. 530.
136
him go.« 92 Die Deutung der Stimme Henry anhand des (Meeres-) Rauschens und der Mutterbeziehung bleibt aber Spekulation, da die Typisierungen in den erzählten biographischen Bruchstücken keine kohärente Individualanalyse erlauben. Das Wassermotiv und visuelle Verschmelzen negiert gerade jede personale und leibliche Einheit und versinnbildlicht mediale Bedingungen des Hörspiels, die eine potentielle Identität der Figuren auf den Klang der Stimme reduzieren. Sowohl die Lebensgeschichten der Dichterfiguren als auch die evozierten >Klangkörper< sind austauschbar und lösen sich im Rauschen der Interferenzen auf. Das Verschmelzen der sprachlich erzeugten Blicke, Körper und Identitäten wird in den Hörspielen von beschriebenen Flüssigkeiten sinnfällig gemacht - wie die Auflösungsphantasie der Stimme Maddy als ausgegossener Pudding auf der Straße zeig. Auch die berichtete Liebesszene in Krapp 's Last Tape wird von einem Seeambiente eingerahmt (Anm. 87), während die O-Ton-Liebelei in Embers von Rauschen und den Reden über ein bedrohliches Meer der Stimme Henry begleitet wird.93 Weder die erzählte Regression bzw. Selbstauflösung noch der befürchtete Selbstverlust werden lautlich ausgeführt, sondern bleiben Phantasien wie Hamms vorgestellte Selbstteilung in mehrere Sprecher. Hier wie dort setzt die Desintegration eine personale Einheit voraus, die den Figuren/Stimmen 92
Lawley, Paul, >Embersunterzugehen< - die Gestalt aller Körper löst sich für das bezeichnete Wahrnehmungssubjekt auf.94 Zweitens versinken Boitons Pupillen vom beschriebenen Betrachter aus in den »überfließenden Augen« und konnotieren so den leiblichen Untergang.95 Das vermittelte Bild der schmelzenden Kerze, mit der Bolton Holloways Augen beleuchtet, verstärkt die assoziierte Auflösung.96 Drittens werden die Sicht- und Verhaltensweisen aus einer auditorialen Perspektive beschrieben, die in Henrys Erzählfunktion enthalten ist. Die Erzählung fordert die Hörer auf, jede der drei Sichtweisen in ihrer Vorstellung einnehmen - was an die freie Perspektivenwahl im Theater erinnert. Die 94
Die Deutung ist nicht unproblematisch, denn Boitons >glasige Augen< scheinen im Blick aus dem Fenster nicht nur die Kirchturmspitze, sondern auch den Stern Wega am Nachthimmel zu sehen (s.u.). Die Erzählung der Henry läßt aber auch die Deutung zu, daß die nächtliche Szenerie aus einer figurenübergreifenden Beobachterperspektive beschrieben wird, die Boitons Blick aus dem Fenster folgt.
95
Die Untergangsstimmung wird von beschriebenen Geräuschen verstärkt: »not a sound, only the embers, sound of dying, dying glow, Holloway, Bolton, Bolton, Holloway« (CDW 255).
96
»Then he suddenly strikes a match, Bolton does, lights a candle, catches it up above his head, walks over and looks Holloway full in the eye.« (CDW 264).
138
Beschreibung von Bolton aus nächster Nähe (»the old blue eye, very glassy, lids worn thin, lashes gone«, CDW 264) nimmt dagegen die Anfangs- und Schlußeinstellung aus Becketts Film (1963) vorweg, bei der die Kamera das unverdeckte, glasige Auge des Beobachters als Nahaufnahme zeigt. 97 In Embers ist das gegenseitige Fixieren von Boitons und Holloways Augen ein kurz evozierter Bildausschnitt in einer schnellen Folge von erzählten Wahrnehmungswechseln: Die Geschichte der beiden alten Männer beginnt mit einer genauen Beschreibung von Boitons Position im dunklen Raum vor dem brennenden Kamin. Die stehende Gestalt evoziert durch ihre Nähe zur einzigen Lichtquelle einen überlebensgroßen Schatten - der wie die Lichtstimmungen in Film an die Beleuchtungsdramaturgie expressionistischer Stummfilme erinnert.98 Auch die starken Hell-Dunkel-Kontraste, von denen die Stimme Henry erzählt, greifen die Schwarzweißästhetik des Stummfilms als zentrales Motiv auf. Im Gegensatz zum Zuschauer, der die Farblosigkeit in Becketts Film als deutliches Verfremdungsmittel in der Epoche des Farbfilms erlebt, wird der Hörer der genannten Stücke durch narrative Wiederholungen auf die Schwarzweißästhetik hingewiesen: Das beschriebene
97
In der Verfilmung des F/Ym-Skripts durch Alan Schneider (unter ständiger Mitwirkung von Beckett) in New York 1964 spielte Buster Keaton die Hauptrolle, d.h. sein Auge verkörperte in der Anfangs- und Schlußeinstellung die Beobachterperspektive E (= eye) - und Keaton stellte das Objekt O dar, das von E verfolgt wird. Schon der Unnennbare in Becketts gleichnamigen Roman fragte sich, ob die beiden Retinae seiner Augen nicht einander gegenüberliegen: »Je m e demands quelquefois, si les deux rétines ne se font pas face.« Beckett, Samuel, L'Innommable,
98
Paris 1953, S. 24.
Beispielhaft sind die Lichtstimmungen in den Filmen von Fritz Lang (z.B.:
Dr.Mabuse,
1922; Metropolis,
1926), Vsevolod I. Pudovkin (Das Ende von St. Petersburg,
1927;
Sturm über Asien,
1928, u.a.) und Sergej Eisenstein (Panzerkreuzer
1925;
Potemkin,
Oktober, 1927). Beckett bewarb sich 1936 bei Eisenstein um eine Stelle als unbezahlter Assistent,
um
die
Montagetechniken
des
formalistischen
Films
zu
studieren:
»Eisenstein antwortete nicht, woraufhin Beckett seine Aufmerksamkeit Pudowkin zuwandte. Von ihm hoffte er die Endbearbeitung eines Films und die Zoom-Technik zu erlernen. Er schrieb ihm einen langen Brief, in dem er erklärte, er wolle gern den naturalistischen, zweidimensionalen Stummfilm wiederbeleben, von dem er meine, er sei zu Unrecht vor der Zeit in Vergessenheit geraten. Obwohl es beim Film zu einschneidenden
Fortschritten
in bezug
auf
Farbe
und
Ton
gekommen
war,
interessierte Beckett sich für diese Neuerungen nur mäßig; er konzentrierte sich lieber auf die Techniken des rudimentären Stummfilms, der zweifellos einen bedeutenden Einfluß sowohl auf seine eigene dramatische Technik als auch auf sein eigenes Filmskript hatte.« Bair, Deirdre, Samuel Beckett, a.a.O., S. 271.
139
Dunkel in Boitons Kaminzimmer wird von einem evozierten Blick aus dem Fenster kontrastiert, der dem relativ engen >Bildausschnitt des Raums< die Betrachtung eines kaltweißen Winterlandschaftspanorama gegenüberstellt: »bright winter's night, snow erverywhere, bitter cold, white world« (CDW 254). Die assoziierte Totale wird bis in den Sternenhimmel verlängert, »Vega in the Lyre very green.« (CDW 255), wobei der grüne Lichtpunkt erst vor einem monochromen Hintergrund deutlich sichtbar wäre. Der isolierte und temporäre Farbeffekt wird genau wie Boitons roter Schlafrock und seine blauen Augen zweimal genannt, um die dominante Schwarzweißästhetik durch wiederholte Kontrastwirkungen bewußt zu machen. Vor der Beschreibung des grünen Sternenlichts wird ein weiterer HellDunkel-Kontrast genannt, der die präzisen Bezüge verdeutlicht, mit denen die Schwarzweißästhetik sprachlich inszeniert wird: »Holloway with his black bag, not a sound, bitter cold, full moon, small and white« (ebd.). Der evozierte kleine, weiße Vollmond vor dem Hintergrund des Nachthimmels wirkt wie ein Fotonegativ der bauchigen, schwarzen Arztasche inmitten der weißen Winterlandschaft: Die Tasche hätte von Boitons Standpunkt aus eine ähnliche Form und Größe wie der Mond - bei einem entgegengesetzten Helligkeitswert. Die Passage zeigt darüber hinaus, wie die Erzählung durch die genannten Wechsel des Lichts, der Perspektiven und des Perzeptionskanals in Sequenzen gegliedert wird: Eine Lautangabe löst den beschriebenen Blick auf die Tasche ab, dem eine erzählte Temperaturempfindung und der genannte Anblick des Mondes folgen. Die Montage unterschiedlichster Wahmehmungsformen zu einer kurzen Erzählsequenz dynamisiert die oberflächenstrukturelle Ereignislosigkeit durch die assoziierten Sinneseindrücke und Kontraste. Die Laut- und Temperaturangaben trennen zudem die beiden Beschreibungen des Gesichtssinns und fokussieren die Aufmerksamkeit auf die Materialität und Bedeutung des jeweiligen Zeichensystems bzw. seiner einzelnen Effekte." Schon die >Eingangsszene< der Narration führt die 99
In den Endspiel-Proben
am Berliner Schiller-Theater hat Beckett 1967 die Eigenstän-
digkeit von sprachlichen und gestischen Zeichen in vergleichbarer Weise betont: »Becketts Regie folgt einem Ordnungsprinzip, das man zunächst für bühnenfremd halten möchte: entscheidende Trennung von Spiel und Wort. Als hielte er einen Mechanikerlehrgang ab, doziert er etwa: >Lassen Sie nie Haltungswechsel und Stimmwechsel zusammenfallen. Erst kommt a) die veränderte Körperhaltung oder Geste; ihr folgt nach einem Päuschen b) die entsprechende Stimmgebung.Bild-EinstellungI< - hence the ambiguous >eyes drowned< which could apply to either character but which of course applies to them both: >I's drowned. One might say that
141
lapidar den Hell-Dunkel-Kontrast (»white, black, white, black«, vgl. Anm. 100) und überläßt es dem Zuhörer, sich die Lichtstimmungen detailliert auszumalen. Im Verlauf der Narration pendelt der erzählte Bildausschnitt immer wieder zwischen dem dunklen Innenraum und Boitons Blick durch einen Vorhangspalt - und deutet so den Stroboskopeffekt an, der durch das Spiel mit der Gardine beschleunigt wird. Der schnelle Hell-Dunkel-Wechsel lockert wie alle beschriebenen Lichteffekte die Stasis der erzählten Situation oberflächenstrukturell auf: Die evozierte innere Spannung Boitons überträgt sich auf die von ihm initiierten Lichtwechsel und bewirkt damit das unruhestiftende Flackern idealiter auch in der Vorstellung des Rezipienten. Tiefenstrukturell erzeugt der Stroboskopeffekt aber genau die entgegengesetzte Wirkung: Während das Dunkel in einer niedrigen Wiederholungsfrequenz als Bildstörung wirkt, die den Handlungsablauf immer wieder unterbricht, hält ein hochfrequenter Stroboskopeffekt das Geschehen an. Der Hell-Dunkel-Wechsel gliedert jede Situation in eine Sequenz von >StandaufnahmenAppendixLebensIicht< in die Augen und leuchtet immer stärker hervor, bis es seinen Zenit (Kerze in Augenhöhe) überschritten hat und langsam verlischt. Die Augen gehen also nicht nur in Boitons glasigem Blick, sondern letztlich im Dunkel unter (»eyes drowned«). Die Erzählung endet entsprechend mit der Beschreibung Holloways, der seinerseits die Augen >verdunkelt< (»Holloway covers his face«, s.o.): Der Arzt hat die Lichtzeichen offensichtlich verstanden. Er bedeckt die Augen, um Boitons wechselnde Erscheinung als Lebender und Toter nicht länger ansehen zu müssen. Im Gegensatz zum geringen Informationswert der Figurenrede in der Erzählung erzeugen die beschriebenen Lichtwechsel eine dichte Sequenz von ikonischen Zeichen. Die Dominanz der visuellen gegenüber der auditiven Wahrnehmung in der Narration, »Not a word, just the look« (CDW 264), verkehrt sich auf den nächsthöheren logischen Ebenen des Erzählers und des Radiohörers in das genaue Gegenteil. Denn der Rezipient hört die Stimme Henry reden, die eine »sprachlose« Szene beschreibt, und kann ihre Worte erst in der Vorstellung in die ikonischen Zeichen der Beleuchtungseffekte übersetzen. Die Vorstellung des Hörers wird idealiter zum Schauplatz dramatischer Beleuchtungseffekte, während Boitons monotones Bitten »Please! (Pause.) Please!« (CDW 264) das Hörerinteresse durch den Rätselcharakter steigert, statt die Situation zu klären. Wenn Bolton und Holloway in Embers reden, dann sprechen sie nicht selbst, sondern durch die Erzählerstimme Henry, welche die direkte Rede in Anführungszeichen zitiert und ihr die Namensangabe des jeweiligen Sprechers voranstellt: »Henry: [...] Holloway: >If you want a shot say so and let me get to hell out of here.< (Pause.).« (CDW 264) Die Stimme Henry trägt die Dialogfetzen vor, als ob sie einen Text ablesen würde, den sie mit wechselnden Rollen ohne charakterisierende Betonung spricht. Die Zitate in der Erzählung wirken wie die spärlichen Einblendungen von Dialogen in Stummfilmen, die den Bilderfluß kurz unterbrechen. Die Aufführung zusammen mit Musik ist eine weitere charakteristische Erscheinungsform des Stummfilms neben den eingeblendeten Dialogen und >sprechenden< Lichtstimungen. Die Wechselwirkung von instrumentalen und vokalen Sendern wird in den Hörspielen nach Embers zum zentralen Stilmittel. Deshalb sollen im folgenden Words and Music sowie Cascando sowohl auf den Gebrauch von (sprachlich vermittelten) visuellen Zeichen als auch auf den Einsatz der Musik untersucht werden.
144
3.3.3 Eigenwillige Worte und Musik Im Gegensatz zum Titel Words and Music beruht Becketts drittes Hörspiel nicht auf dem Einklang, sondern dem Konflikt zwischen der Musik eines »kleinen Orchesters« und den Wortbeiträgen der Words genannten Stimme. Der Moderator Croak versucht, durch Themenvorgaben, Flüche und Schlaglaute die disharmonischen Sender zu synchronisieren. Words weigert sich zunächst, seinen Text zur Musik zu singen und stört deren Vortrag durch Zwischenrufe: »»Nof« »Please!« »Peace!« etc.« (CDW 289). Das unkoordinierte Nebeneinander des beiden Programme wird zur kakophonen Interferenz und droht wie beim Stimmen des Orchesters die Stimme bzw. die Aussagen zu übertönen. Die Verflechtung einer instrumentalen und vokalen Linie sorgt bis zum Schluß des Hörspiels für Spannung, während die Programme zunächst nur Trivialitäten zu Gehör bringen: Words leiert mit »hochtrabendem Ton« und scholastischer Rhetorik eine mechanistische Affektenlehre herunter, in der die Seele durch »todsündige Leidenschaften« bewegt wird.102 Die Musik produziert Melodien und Rhythmen »worthy of foregoing« (CDW 288, vgl. Anm. 103) und wechselt auf Croaks Befehl, »Louder!« (ebd.), abrupt von »great expression« zu »fortissimo, all expression gone« (ebd.).103 Dem An- und Ausschalten des gefühlvollen Ausdrucks 102
»Words: (Orotund.) By passion we are to understand a movement of the mind pursuing or fleeing real or imagined pleasure or pain. [...] Of all these movements then and who can number them and they are legion sloth is the LOVE is the most urgent and indeed by no manner of movement is the soul more urged than by this, to and - (Violant thump of club.)« (CDW 288). Mit der gleichen Rhetorik wurde die Trägheit als Beweger der Seele in den Stimmübungen zu Beginn von Words and Music durchgenommen - die Themen der feststehenden sprachlichen Form sind austauschbar. Eine Inventarisierung der Affekte findet sich bei Descartes in Die Leidenschaften der Seele, Hamburg 1984.
103
Den hier vorgelegten Untersuchungen liegen die Produktion von Worten und Musik des Bayerischen Rundfunks von 1995 (Regie und Musik: Stephan Hardt, Worte: Otto Sander und Peter Fitz als Krak) und die Gemeinschaftsproduktion von Voices, N.Y.C, mit dem Westdeutschen Rundfunk von 1987 (Regie: Everett Frost, Musik von Morton Feldman, Words: David Warrilow, Croak: Alvin Epstein) zugrunde. Die letztgenannte Aufnahme wurde im Rahmen des »Beckett Festival of Radio Plays« am 16.05.89 als amerikanische Uraufführung gesendet und folgt mit Feldmans Komposition für Flöte, Piano, Violine, Cello und Percussion der Anweisung Becketts für ein »kleines Orchester«. Die Programmmusik wechselt an der angegebenen Stelle von einer melodischsentimentalen Xylophonstimme zum »fortissimo«., bei dem sich die Instrumente poli-
145
entspricht der abrupte Wechsel zwischen »Love and soul music« und »age music« (CDW 289). Croak moderiert den musikalischen Ausdruck mittels Themen, Tempo und Intonation, bis sich die Programme verselbständigen. Die Schwierigkeiten der vokalen und instrumentalen Sender, sich auf einen gemeinsamen Vortrag einzustellen, weisen darauf hin, daß die rhetorischen Phrasen und Musikprogramme zwar >Iive< produziert werden, aber anfangs keine originären Beiträge sind. Worte und Musik wiederholen zunächst einstudierte Nummern - wie das Schlagen eines Dirigentenstocks vor jedem neuen musikalischen Thema signalisiert. Auch für den Sprecher sind Liebe und Trägheit austauschbare Variablen, die von Words in der Routine vorgefertigter Argumuntationsmuster prompt verwechselt werden (vgl. Anm. 103). Words und Music sind aber nicht auf die stereotype Wiedergabe beschränkt, sondern weisen darüber hinaus personale Eigenschaften auf: Sie werden von Croak mit den Namen Joe und Bob angeredet und unterscheiden sich von Radioprogrammen durch ihre Interaktionsfähigkeit und Gefühlsäußerungen: Music reagiert am Ende des Hörspiels mit einem »Brief rude retort« (CDW 294) auf die Bitte von Words, das eben gespielte Thema zu wiederholen und zeigt sich seinem Herrn Croak gegenüber genauso unterwürfig wie der vokale Sender: »Humble muted adsum.« (CDW 287). Words widerspricht der Bevormundung durch den Moderator allerdings schon am Ende des ersten Vortrags und unterbricht die Litanei mit Ansätzen zu einer eigenständigen Reflexion: »Words: (Very rhetorical.)
[...] Do we mean love, when we say love? (Pause. Dito.)
Soul when we say soul? Croak: (Anguished.) Oh! (Pause.) Bob dear. Words·. (With sudden gravitiy.) Or dont't we?« (CDW 289).
Trotz Croaks ängstlichem Widerstand und seinem versuchten Wechsel zur Musik (Bob) stellt Words ein konventionelles Verständnis von Liebe und Seele grundsätzlich in Frage. Der Deklamator bereitet damit das visuelle
phonisch von einer leitenden Liedstimme lösen und typische Tonfolgen wiederholen. In der Produktion des Bayerischen Rundfunks basiert die Musik dagegen auf dem Strophenlied Nacht und Träume von Franz Schubert (op. 43, Nr.l). Die Eingangsmelodie aus Schuberts erster Strophe wird von einem Cello schleppend wiederholt und im >)fortissimo« von einem gezupften Rhythmus des gleichen Instruments begleitet. Mit Nacht und Träume greift Music auf ein bekanntes Repertoirestück zurück, das durch den monotonen Vortrag in Analogie zu den rhetorischen Floskeln von Words steht.
146
Verschmelzen im letzten Gedicht des Hörspiels thematisch vor (vgl. Kap. 3.3.2). Vorerst übergeht Croak zwar die Fragestellung und zwingt Words (ungeachtet dessen Protests) zum Wechsel in den »lyrischen Ton«. Aber der Sprecher läßt sich formal nicht festlegen und verändert (mindestens) viermal seine Sprechhaltung, während er sich über die Themen Trägheit, Liebe und Alter Croaks Evokationsziel des Gesichts nähert: Die rhetorische Souveränität im Vortrag über die Liebe weicht stammelnden Erörterungen über das Alter, die sich zögerlich zu Versen formen und mit der Musik zu einem Lied verbinden. In einem narrativen Intermezzo übernimmt Words danach die kurzen (Teil-) Sätze der lyrischen Form und jagt im Stakkato durch den Vortrag, ohne sein Tempo an die getragen-sentimentale Musik (»warmely sentimental, about one minute.«, CDW 291) anzupassen: »But how often it has, in recent months, how often, at all hours, under all angles, in cloud and shine, been seen I mean.« (CDW 292). Die epische >Parforcejagd< wird von Wiederholungen, Binnenreimen, Chiasmen (»And there is, is there not,« ebd.) und Alliterationen zusätzlich rhythmisiert und beschleunigt,104 bevor Words im Gedicht vom visuellen Verschmelzen zum gedämpften, lyrischen Ton zurückkehrt: »Change to poetic tone. Low.« (CDW 293). Nach den philosophischen Allgemeinplätzen über Trägheit und Liebe sowie den vieldeutigen Beschreibungen der Erzählung (s.u.) löst sich der Objektzusammenhang im letzten Gedicht vollends auf. Croak gebärdet sich zwar mit seinem Stöhnen, den Ausrufen und seiner >Fluchtein Schimmer/von jenem Quellpunkt< Krak in völliger Verzweiflung verstummen ließ.«105 Doch das visuelle Verschmel104
In der Narration häufen sich die Alliterationen: »Words: simply concentration more likely all things considered on some consummate inner process, the eyes of course closed in keeping with this« (CDW 292). In der Produktion des Bayerischen Rundfunks von 1995 beschleunigt sich das lethargische Grundtempo in der narrativen Passage nicht wesentlich, während in der Fassung des Westdeutschen Rundfunks mit Voices New York 1989 die Erzählung fast atemlos vorgetragen wird (vgl. Anm. 103).
105
Martin Esslin sieht in Words und Music »den Hofdichter und den Hofmusiker in einem herrschaftlichen Haushalt«, die wie in einem Kasperletheater zum Schweigen gebracht werden, »indem er (Croak, Anm. J.B.) sie mit seinem Stock auf den Kopf schlägt.« Ders., Samuel Beckett und die Kunst des Rundfunks,
a.a.O., S. 174f. Dieses Ambiente
legt die Identifikation von Croaks Erinnerungen mit der Narration nahe: »Der schok-
147
zen negiert jede Individualität und der Hörer muß die Ursache von Croaks evozierter Reaktion ohne sicheren Anhaltspunkt mutmaßen. Words fungiert hier nur als Deklamator und Croak repräsentiert aufgrund mangelnder Charakteristika kein eindeutig identifizierbares Ich, dessen Individualperspektive die Vorträge bestimmt. Wie zu zeigen ist, lassen die >Affekte< des Moderators gegensätzliche Deutungen zu und liefern keinen stichhaltigen Beweis dafür, daß Words tatsächlich Croaks Erinnerungen wiedergibt. Der psychologische Kurzschluß zwischen dem Vortrag und Croaks evozierter Reaktion legt die epischen und poetischen Versatzstücke auf die Evokation eines bestimmten Gesichts fest. Aber Words beschreibt nicht »Lilys« Gesichtszüge (auch wenn der Moderator darauf abzuzielen scheint), sondern skizziert nur Mimik und Augen - die potentiell zu mehreren Gesichtern gehören, welche einander in einem steten Fluß von Verwandlungen ablösen. Nachdem Words in seinem ersten Gedicht einen alten Mann am Kamin beschrieben hat,106 versetzt er sich von der Außenansicht unvermittelt in dessen Innenperspektive und deutet die >Vision< eines Frauengesichts in der Asche an: »She comes in the ashes / Who loved could not be won / Or won not loved« (vgl. Anm. 106). Das Gesicht in der Asche wird nicht näher beschrieben, während Words in der Erzählung auf den Beobachter und seinen Blickpunkt genauer eingeht: »Seen from above at such close quaters in that radiance so cold and faint with eyes so dimmed by... what had passed,« (ebd.). Die Passage läßt sich sowohl auf das Gedicht als auch auf die folgende Erzählung beziehen und bezeichnet daher ein sprachlich evoziertes Vexierbild, das zwischen dem alten Mann und einem jüngeren Alter ego oszilliert: Die Augen können einerseits durch das Alter getrübt sein (»eyes so dimmed by... what had passed,« ebd.); andererseits läßt sich der Blick als
kierte Ausruf von Worte: >Mein Herr!ein Schimmer/von jenem Quellpunkt< Krak in völliger Verzweiflung verstummen ließ.« Ders., a.a.O., S.175. Auch Katherine Worth spricht von einer »true evocation«, deren Intensität den Moderator »überwältigt« und zur Flucht zwingt: »But Words gets there in the end, and so does Croak, although the experience overwhelms him in the end and he leaves them in disorder.« Worth, Katharine, Beckett and the radio medium, a.a.O., S. 209f. 106
»Age is when to a man / Huddled o'er the ingle / Shivering for the hag / To put the pan in the bed / And bring the toddy / She comes in the ashes / Who loved could not be won / Or won not loved / Or some other trouble / Comes in the ashes / Like in that old light / The face in the ashes / That old starlight / On the earth again« (CDW 291).
148
temporäre Erschöpfung des jüngeren Protagonisten in der evozierten Situation deuten. 107 Denn nach einer kurzen Unterbrechung heißt es: »Some moments later however, such are the powers of recuperation at this age« (CDW 292). Der Satz wirkt als Kommentar des alten Manns am Kaminfeuer - wie auch die Beschreibung eines geschlechtsneutralen Kopfs (»the head is drawn back to a distance of two or three feet«, ebd.) vor dem Hintergrund des Gedichts als Erinnerung an ein jüngeres Alter ego erscheint. Nur durch eine Kontextualisiserung anhand von Croaks Themenvorgabe »Liebe« und der im Gedicht angedeuteten Liebesgeschichte, lassen sich die Erzählfragmente auf eine nächtliche Liebesszene beziehen. Die Narration liefert keine umfassende Orts- und Personenbestimmung, sondern nur eine schnelle Folge von erzählten Blickpunkten und Gesichtsfragmenten sowie von Licht- und Bewegungseffekten: Mit der Distanzierung vom Objekt (»the head is drawn back«, s.o.) klärt sich der getrübte Blick (»dimmed by«, s.o.), und die extreme Detailansicht (»Seen from above at such close quaters«, s.o.) vergrößert sich zur >Nahaufnahme< vom Scheitel bis zur Hüfte. Die Vogelperspektive wird von einem Blick in die Sterne kontrastiert, 108 bevor sich der evozierte Beobachter wieder dem liegenden Objekt zuwendet und in dessen Augen versinkt. Den detailliert beschriebenen Perspektivenwechseln steht in der ersten Hälfte der Erzählung die anwesende Abwesenheit des beobachteten Gesichts gegenüber, das nicht als Subjekt, sondern als Spiegel verschiedener Lichtstimmungen erscheint: Das im Gedicht genannte Sternenlicht (»That old starlight / On the earth again.«, s.o.) kehrt als kalter Glanz auf dem Gesicht wieder (»in that radiance so cold and faint... «, CDW 291), dessen schattenloses Leuchten (»that clarity of silver«, ebd.) sich aus zahllosen (Sternen-) Lichtquellen zu speisen scheint.
107
Katharine Worth sagt zu Lilys Gesicht »seen by the moonlight at a moment of ecstasy.« und fährt auf der nächsten Seite fort: »Words has managed to take them a step on the way - Croak is greatly affected and Music had been inspired - but the episode has been only partially realised, is still in danger of seeming no more than what might be described as postcoital recuperation', to borrow Zilliacus's dry phrase.« Dies., Beckett and the radio medium, a.a.O., S. 209f. Die Interpretin führt aus, daß Words die Lily-Evokation durch den Wechsel zum lyrischen Ton in eine Welt jenseits der Sprache und körperlicher Gegensätze transzendiert. Aber sie übersieht, daß schon die Erzählung viel mehr enthält als nur eine Liebesszene im Kornfeld.
108 »Words: I resume so wan and still and so ravished away that it seems no more of the earth than Mira in the Whale, at her tentht and greatest magnitude on this particular night shining coldly down - as we say looking up.« (CDW 292)
149
In der Vorstellung des Hörers wird die überirdische Beleuchtung von Schatteneffekten des Roggens im Mondlicht verstärkt und als evozierter HellDunkel-Gegensatz zugleich kontrastiert. 109 Das Schwanken der Ähren im Wind ist eine der wenigen Bewegungsangaben, die das beschriebene Bild beleben: Während das beobachtete Gesicht unverändert bleibt, erzeugen die Blickpunktänderungen des evozierten Betrachters und die genannten Lichtwechsel für Dynamik: »But how often it has, in recent months, how often, at all hours, under all angles, in cloud and shine, been seen I mean.« (s.o.). Das beschriebene Gesicht hat eine derart leblose Aura, »that it seems no more of the earth« (vgl. Anm. 108) und erscheint im kalten Licht blaß und reglos wie eine Wasserleiche, deren Haare umeinanderfließen (»flare of the black disordered hair as though spread wide on water«, CDW 292). 1,0 Die langen schwarzen Haare und die schwellenden Brüste 111 bleiben die einzigen weiblichen Merkmale der ganzen Erzählung und rahmen eine ansonsten geschlechtsneutrale Beschreibung des Gesichts ein: »the brows knitted in a groove suggesting pain but simply concentration more likely all things considered on some consumate inner process, the eyes of course closed in keeping with this, the lashes... (Pause.)... the nose... (Pause.)... nothing, a little pinched perhaps, the lips... « (ebd.). Der Erzähler listet unspezifische Stichworte auf, die dazu auffordern, in der Vorstellung des Hörers ergänzt zu werden. Da die Versatzstücke auf den Kontext des ersten Gedichts bezogen werden können, läßt sich die abstrakte Beschreibung auch als kurzer Perspektivenwechsel zu dem dort beschriebenen alten Mann verstehen. Die Versenkung in einen »vollendeten inneren Vorgang« kann dessen Gesicht beim Evokationsversuch der nächtlichen Szene beschreiben - was ein zweites Vexierbild zwischen dem alten Mann und der Geliebten erzeugen würde. Ein dritter Vexiereffekt entsteht zwischen den Gesichtern der Liebespartner, wenn Words die Gesichtszüge allgemein benennt - nachdem er die Augen des Beobachters beschrieben hat (»the eyes widen to a stare«, ebd.) und danach die »Welle schwarzen Haars« als weibliches Attribut nennt. 112 "-19 »Words: Now and then the rye, swayed by a little wind, casts and withdraws ists shadow.« (CDW 292). 110
Der Ausdruck »spread wide on water« legt klanglich die Assoziation »white on water« nahe, und kontrastiert durch den Hell-Dunkel-Gegensatz die »Welle schwarzen Haars«.
111
»the whole so blanched and still that were it not for the great white rise and fall of the breasts, spreading as they mount and then subsiding to their natural... aperture« (ebd.).
112
»Croak: Groans. / Words: Leaving aside the features or lineaments proper, matchless severally and in their ordonance - / Croak: Groans.« (CDW 292).
150
In den Vexierbildern und den geschlechtsneutralen Beschreibungen des Gesichts/der Gesichter deutet sich die Auflösung der identifizierbaren Züge im visuellen Verschmelzen des letzten Gedichts an.113 Die Gesichtsfragmente verdichten sich also nur transitorisch und durch die identifizierende Koproduktion des Rezipienten zu Individuen - und fokussieren die A u f merksamkeit letztendlich auf die Augen, die als Medium für die Auflösung aller leiblichen und personalen Gegensätze dienen. Die weiblichen Attribute und Croaks Ausruf » L i l y ! « können wirkungsästhetisch als Identifikationsköder verstanden werden, um oberflächenstrukturell eine Realitätsillusion zu erzeugen, die tiefenstrukturell gerade negiert und als Konstrukt des Rezipienten vorgeführt wird. Die langen schwarzen Haare und die schwellenden Brüste haben nur eine marginale Stellung bei den Gesichtsbeschreibungen, die ihren Ausgangspunkt in den Visionen aus der Aschenglut und dem assoziierten Sternenlicht haben - und zum Blick in die Sterne zurückkehren (vgl. A n m . 108). Genau wie verschiedene Kulturen in den Himmelslichtern unterschiedliche Sternbilder sahen - also die Lichtpunkte zu den Konturen der ihnen geläufigen Gestalten verbanden - so ist auch der Hörer aufgefordert, die Stichworte und sprachlich evozierten Lichteffekte in Vorstellungsbilder umzusetzen. Je länger die Erzählung das zu beobachtende Objekt umkreist, ohne es eindeutig zu identifizieren, desto mehr zieht die Leerstelle die Imaginationen auf sich - bei steigender Spannung wird das Bildvakuum zur idealen Projektionsfläche für Croak, die Musik und den Rezipienten. 114
113
Zur Erinnerung noch einmal der T e x t des Versinkens in den A u g e n einer jungen Frau: » T h e n d o w n a little way / Through the trash / T o w a r d s where / A l l dark no b e g g i n g / N o g i v i n g no words / N o sense no need / Through the scum / D o w n a little w a y / to whence one glimpse / Of that w e l l h e a d . « ( C D W 293f.).
1,4
Croaks Laute suggerieren ein Erkennen des beschriebenen Gesichts, aber sie können auch als Ausdruck gespannter Erwartung gedeutet werden, die sich bei der Nennung einer » s c h w a r z e n W e l l e von H a a r « in dem Ausruf » L i l y ! « entlädt. Das Evokationsbedürfnis ist demnach so groß, daß ein austauschbares Detail genügt, um die Vorstellung eines ganzen Gesichts hervorzurufen. D e r Objektzusammenhang der epischen und poetischen Versatzstücke ist (für den Hörer) nicht so klar, w i e Croaks identifizierende Vereinnahmung glauben macht. D i e meisten A n g a b e n von Perspektivenwechseln und L i c h t e f f e k t e n (z.B.: »the head is drawn b a c k « und » B u t how often it has, in recent months, h o w often, at all hours, under all angles, in cloud and shine, been seen I mean.«, s.o.) dirigieren als implizite Regieanweisungen mehr die Hörerimagination, als das zu beobachtende Objekt selbst zu präzisieren. Z u Beginn der Narration wiederholt Croak viermal » T h e f a c e « ( C D W 291) und unterbricht sein Murmeln jedesmal durch eine Pause. Die Aussage läßt sich nicht nur als repetitive Beschwörung ein- und des-
151
Wenn man den Bogen von der ersten Reflexion des Deklamators bis zum Ende des Hörspiels spannt, erscheint Croaks Verhalten in einem anderen Licht, als es die individualpsychologische Deutung Esslins (s.o.) suggeriert: Zu Beginn von Words and Music erreicht Croak durch Schlaggeräusche und Stöhnen, daß Words die Abstraktion der scholastischen Affektenlehre zu einer Interaktion menschlicher Gestalten konkretisiert: »Love of woman, I mean, if that is what my Lord means. / Croak: Alas!« (CDW 289). Croak ignoriert allerdings den Versuch des vokalen Senders, sein Vokabular und Darstellungsstil der veränderten Auffassungsart des Liebesthemas anzupassen (»Do we mean love, when we say love? (Pause. Dito.) Soul when we say soul?«, s.o.). Der Moderator fordert (als Stellvertreter des Hörers) eine präzise Beschreibung der Liebesszene. Durch die narrativen Wechsel von Beobachterperspektiven und Vexierbildern droht den evozierten Körpern aber die Atomisierung in Wahrnehmungsfragmente. Croak ergreift demnach die Flucht, da ihm das visuelle Verschmelzens im letzten Gedicht endgültig klar macht, daß seine sentimentalen Evokationsziele von der Auflösung der Geschlechterdifferenz und /cA-Identitäten konterkariert werden. Der Moderator bestimmt durch seine Themenstellung zwar den Ausgangspunkt der Vorträge, aber Words entwickelt die Vorgaben künstlerisch und erkenntnistheoretisch weiter. Der entscheidende Konflikt entsteht weniger zwischen Worten und Musik, sondern (im Hörspielverlauf zunehmend) zwischen ihnen und dem Moderator bzw. einer Rezipientenerwartung, welche die Programme auf konventionelle Repräsentationsfunktionen festzulegen versucht. Der musikalische Ausbruch (»Irrepressible burst of spreading and subsiding music with vain protestation [...] Triumph and conclusion.«, vgl. Anm. 114) zeigt, daß sich auch der instrumentale Sender von den Vorgaben des Moderators sowie des evozierten Dirigenten und von der Unterdrückung durch den vokalen Konkurrenten löst. Beckett hat über den Konflikt zwischen Worten und Musik zu Katharine Worth gesagt, »Music always wins«;115 aber deren »Triumph« (s.o.) liegt zunächst nur in der kurzen Unselben Gesichts verstehen, sondern kann auch die Abfolge verschiedener Gesichter bedeuten. Die Spannung in der Erzählung ohne ein absehbares Evokationsziel verleitet nicht nur Croak zu wiederholtem Stöhnen, sondern auch die Musik zum >orgiastischen< Ausbruch: »Irrepressible burst of spreading and subsiding music with vain protestation -»No!« »Please!« »Peace!« etc. -from Words. Triumph and conclusion.« (CDW 292). 115
Worth, Katharine, Beckett and the radio medium, a.a.O., S. 210. Die Interpretin spricht der Musik eine Führungsrolle zu: »For, as ever, Music is in the lead, offering Words suggestions which he struggles painfully and hesitantly to follow.« (A.a.O., S. 209)
152
terbrechung einer langen narrativen Passage. 1 1 6 Becketts Aussage betont die Rivalität der beiden Künste (um Croaks Gunst) und lenkt davon ab, daß die Sender im Vortrag über das visuelle Verschmelzen nicht nur im Takt, sondern auch in der Zielsetzung übereinstimmen. Schopenhauer zufolge ist die Musik an kein Erkenntnissubjekt gebunden und vermag das Wesen der Welt hinter ihren Erscheinungen, bzw. hinter den principia
invidividuationis
Raum, Zeit und Kausalität zu erfassen, »was von den anderen Künsten sich nicht sagen läßt.« 117 Aber im Gegensatz zur Meinung des Philosophen strebt auch Words nach einer transzendentalen Anschauungsform und reduziert als gestaltlose Aussagefunktion seine personalen Eigenschaften - die jedoch an den leiblichen Rest der Stimme gebunden bleibt. Beide Sender lassen sich nur widerwillig auf die Darstellung sprachlich-literarischer Inhalte festlegen und nähern sich in ihrem Autonomiestreben der absoluten Musik an. Diese kann weder als Tonmalerei außermusikalischer Stimmungs- und Klangphänomene bestimmt noch auf sprachliche Bedeutungen reduziert werden, sondern evoziert im Hörer mit ihren spezifischen künstlerischen Mitteln je eigene Impressionen.
Aber sie fügt hinzu, daß Words am Ende aufholt: »At last he is singing with increasing confidence, has caught up with Music: they are completely together; the play becomes a little opera.« (A.a.O., S. 210). Words ungezwungener Wechsel zum Gesang betont die außerordentliche Bedeutung dieser Stelle und dient nicht nur wie in der Oper oder im Musiktheater als paralinguistisches Zeichen: »Während in der Oper das Singen zur Definition der Gattung gehört und insofern das Faktum des Singens selbst nicht als bedeutungstragendes Element gelten kann, muß es im dramatischen Theater als solches bewertet werden.« Fischer-Lichte, Erika, Semiotik des Theaters, Bd. 1. Das System der theatralischen Zeichen, Tübingen 1983, S. 174. 116
117
In Words and Music dominiert die Musik nur die ersten Gesangsversuche des Deklamators, in denen die Worte widerstrebend und holpernd den instrumentalen Vorschlägen folgen. Dagegen trägt der vokale Sender alle neuen Themen zuerst vor und initiiert das abschließende Motiv des Gesichts mit seinem Gedicht über das Alter. Schopenhauer, Artur, Die Welt als Wille und Vorstellung, a.a.O., S. 359. Er führt weiter aus: »Die Musik ist also keineswegs gleich den anderen Künsten das Abbild der Ideen; sondern Abbild des Willens selbst, dessen Objektivität auch die Ideen sind: deshalb eben ist die Wirkung der Musik so sehr viel mächtiger und eindringlicher als die der anderen Künste: denn sie reden nur von Schatten, sie aber vom Wesen.« Ders., a.a.O. Schopenhauer bezieht sich hier auf Piatons Ideenlehre und dessen Höhlengleichnis, bei dem der Beobachter in den weltlichen Erscheinungen nur Schatten der göttlichen Ideen sieht: »daher sagt Piaton, die Zeit sei das bewegte Bild der Ewigkeit.« A.a.O., S. 254.
153
Die lyrische Form, die Words im letzten Vortrag spontan wählt, befreit die Sprache von ihrer Fixierung auf ein Aussagesubjekt und den Vortrag von einem kausalen Objektzusammenhang. Der vokale Sender nähert sich formal und inhaltlich den Grenzen der sprachlichen Bedeutung an, um eine Ahnung von jenem »Quellpunkt« zu erzeugen, der sich der Rationalität entzieht: »Towards where [...] no words / No sense« (vgl. Anm. 113). Die Worte bleiben aber trotz der klanglichen und rhythmischen Experimente in Words and Music an ihre Bezeichnungsfunktion gebunden und erreichen nicht als konkrete Poesie die Unmittelbarkeit der musikalischen Wirkung. Words and Music dokumentiert das spiralförmige Kreisen der Künste um das Unsagbare und Iäßt sich nicht auf die Darstellung eines dualistischen Bewußtseinsmodells verengen - wie es Martin Esslin in der Spaltung zwischen Emotion/Musik und Intellekt/Sprache nahelegt: »In den Künsten ist, wie vielleicht Schopenhauer als erster zeigte, dieser Strom des nichtsprachlichen Bewußtseins des Lebens, der Lebens-Kraft oder des Willens, der Gegenstand der Musik, die Ebbe und Flut der Emotionen abbildet und repräsentiert. Um eine adäquate Darstellung von Becketts Erforschung der Erfahrung des Selbst von sich geben zu können, mußte dem sprachlichen Bewußtseinsstrom Musik hinzugefügt werden. Das ist genau das, was Bekkett in zwei seiner späteren Hörspiele (Words and Music sowie Cascando, Anm. J.B.) versucht.«118 In Schopenhauers Philosophie ist die Musik aber ein »Abbild des Willens selbst« (vgl. Anm. 117) und symbolisiert nicht die »Ebbe und Flut« der individuellen Emotionen in der Erscheinungswelt. Darin besteht der Unterschied zu den narrativ-symbolischen Ausführungen der Musik zu Beginn des Hörspiels, den Esslins Deutung genauso verkennt wie das zunehmende Bestreben der Worte, sich aus dem Zwang von Kausalität und Repräsentation zu befreien.
3.3.4 Cascando:
Der Hörer als Hörspielfunktion
Auch Cascando wird von der Frage nach dem Verhältnis der Tonquellen zueinander und zu ihrem Moderator bestimmt. Dem Ouvreur wird von seinen Hörern immer wieder eine Identität mit den Sendern unterstellt: »On dit, C'est dans sa tête. / Mais non, j'ouvre.« (DDI 346). Nach einem Vortrag des vokalen Senders betont der Moderator, »Aucune ressemblance.« (DDI 118
Esslin, Martin, Samuel Beckett und die Kunst des Rundfunks, a.a.O., S. 174.
154
355), und stellt nach einem kurzen Musikeinsatz auch seine Verbindung zur Musik in Frage: »... c'est de moi aussi?« (ebd.). Trotzdem stehen die Sender in einer engen Beziehung zum Moderator, der für das Öffnen und Schließen sorgt, »J'en ai vécu... assez vieux.« (DDI 348), und dem Öffnen seinen Namen verdankt. Ernst Jandl nannte seine Frankfurter Poetik-Vorlesungen 1985 »Das Öffnen und Schließen des Mundes«. Das sei schließlich das »Generalthema des Dichters. Und sonst gar nichts.«119 Jandl zufolge verweist der Name des Ouvreurs auf eine poetische Grundfunktion, die vom Öffnen und Schließen des Mundes auf die Moderation von Wort- und Musikkanälen medial erweitert wurde. Der Ouvreur fragt wiederholt, was es mit den Programmen auf sich hat und »manchmal« antwortet er sich: »C'est la promenade. / Puis le retour. / Où? / Au village. / A l'auberge. / Deux promenades, puis enfin le retour, ensemble, au village, l'auberge, par le seul chemin qui y mène. / Une image comme une autre.« (DDI 357ff.). Die beiden Ausflüge kann man als Reise von Worten und Musik im >radiophonen Äther< verstehen, deren Anfangsund Ausgangspunkt identisch sind, denn es handelt sich um eine Rückkehr. Die Klänge gehen demnach von einer Tonquelle aus, zu der sie über das Hören zurückkehren, da es sich zugleich um einen Sender und Empfänger handelt. Die »Herberge« der Töne ist kein Individuum, sondern eine Speicherfunktion, die alle entsprechenden Moderatoren ausüben können. Der Ouvreur beschreibt die Austauschbarkeit zeiträumlicher Identifizierungen (»Une image comme une autre.« s.o.), nachdem er den Wort- und Musikkanal zugleich geöffnet hat: »D'un astre à l'autre, on dirait qu'ils tombent d'accord.« (DDI 352). Die räumliche Vorstellung eines Kosmos suggeriert eine gegensätzliche Bewegung der beiden Tonquellen, denn Voix und Musique werden schwächer, was der Ouvreur hilflos registriert, »Je donne le maximum.« (DDI 350) und schließlich fatalistisch kommentiert: »Nous n'en avons plus pour longtemps.« (DDI 352).120 Die zweite Person Plural im letzten Zitat unterstreicht die Zugehörigkeit des Ouvreurs zu den anderen Tonquellen: Die Stimme ist den Programmen nicht als höheres Bewußtsein übergeordnet, sondern als interaktive Funktion untrennber mit diesen verbunden: »J'ai peur d'ouvrir. / Mais je dois ouvrir.« 119 120
Zitiert nach: DER SPIEGEL Nr. 19, Hamburg 1995, S. 211. Der Titel Cascando kann einerseits die abfallende Sendeleistung der Programme meinen und sich andererseits auf Maunus beschriebenen Weg zum Meer beziehen, der von fortwährenden Stürzen gegliedert wird - vgl. den Titel All That Fall.
155
(DDI 355). Die diffuse Angst vor dem Öffnen weist darauf hin, daß der Ouvreur weder Inhalt noch Sendestärke der Tonquellen beeinflussen kann. Statt die Programme als Bewußtseinssplitter zu einer personalen Identität zu verbinden, kann der Ouvreur die Tonquellen nur kurzfristig synchronisieren: »Ouvreur avec Voix et Musique: On dirait qu'ils se donnent le bras.« (DDI 358). Während der Ouvreur vom gemeinsamen Weg »Arm in Arm« spricht, vereinen sich die beiden Stimmen und die Musik zum ersten von drei Trios. Im Gegensatz zu Croak, der Words und Music durch Flüche und Schlaglaute in einem gesungenen Lied verbinden konnte, versucht der Ouvreur jedoch erfolglos, sie im Zusammenspiel zu harmonisieren. Als reine Sender laufen die Programme Voix und Musique potentiell in Permanenz und werden vom Ouvreur
nur auf- und abgeblendet. 121 Das Altemieren der Tonquellen
erzeugt den Eindruck einer Wechselrede, doch die simultanen Wort- und Musikströme interagieren weder miteinander noch mit dem Moderator. Der Ouvreur besitzt statt einer Persönlichkeit nur ein Minimum signifikanter Eigenschaften wie Tonhöhe, Sprechrhythmus und die Moderatorenfunktion. Er kann wie Voix zwar einerseits als Aussagesubjekt verstanden werden, das über sein Sprechen reflektiert. Andererseits gehen Voix und der Ouvreur ohne interaktive Mitspieler 122 und ohne individuellen Rest in ihrer
121
In Rough for Radio I fragt eine weibliche Stimme den Mann nach der Bedienungweise des Senders und nach dem Ursprung der Laute: »She: Just push? (Pause.) Is it live? (Pause.) I ask you is it live. / He: No, you must twist. (Pause.) To the right.« (CDW 268). Das »No« bezieht sich, zunächst auf die Bedienungweise, kann aber auch die Frage, ob es live ist, verneinen. Auf den Kanälen wird potentiell Tag und Nacht gesendet, »Without cease.« (CDW 267), was als Simultanität von Produktion und Übertragung live wäre. Das Drehen von Knöpfen und Öffnen von Kanälen stellt die Programme in einen technischen Kontext, welcher der Bedeutung von live als lebendig durch die maschinenhafte Wirkung widerspricht.
122
Obwohl alle Stimmen in Cascando denkfähig sind, wirken sie auf ihren jeweiligen Zuhörer als Automaten, die nur ihr Programm abspulen: Voix verhält sich gegenüber dem Ouvreur als reiner Sender, während er gegenüber seinem eigenen Erzählzwang eine reflexive Auditorfunktion einnimmt. Der Ouvreur spricht seinerseits von früheren Kommunikationversuchen mit Außenstehenden, die ergebnislos endeten - denn mangels plausibler Antworten des Ouvreurs »hat man das Weite gesucht«: »Ouvreur: Mais je ne réponds plus. / D'ailleurs on ne dit plus rien. / On s'est sauvé.« (DDI 354). Zwischen
dem
Ouvreur
und
seinen
Zuhörern
herrschten
die
gleichen
Interak-
tionsschwierigkeiten wie zwischen ihm und seinen Programmen: Aufgrund ihrer Verständnislosigkeit wirken frühere Hörer als reine Sender, die den Ouvreur
156
mit
spezifischen Funktion auf: Während der Ouvreur als Schließmuskel des Gehörs agiert, wird Voix im Erzählen zum Verlautbarungsorgan, das Maunus Geschichte vermittelt. Persönliche Charakteristika der Stimmen beschränken sich auf wenige Kommentare, die zeigen, daß sie das Ende ihrer Funktion erwarten: »Ouvreur: J'en ai vécu... assez vieux. / Suffisamment.« (DDI 348).123 Auch Voix wartet auf das finale Schweigen (vgl. Anm. 83), was aber nichts an der Nicht-Kommunikation der beiden Tonquellen ändert. Die Sender in Cascando repräsentieren lediglich die jeweilige Ausdrucksform des Erzählens, Zuhörens, Musizierens und Kommentierens. Voix kann Maunus Geschichte nicht gleichzeitig erzählen und als Auditor kommentieren, weil die Stimme jeweils nur eine Funktion ausüben kann. Eine Identität zwischen den beiden Ausdrucksformen läßt sich ohne eine übergeordnete Instanz nicht herstellen. Cascando kann als Verfolgungsjagd, verstanden werden, bei der Voix immer neue Geschichten erfindet und sie kommentierend reflektiert - ohne die beiden Funktionen fusionieren zu können. Auch die Distanz zu den anderen Tonquellen bleibt »sternenweit«, denn die Stimmen und Musique nehmen einander entweder gar nicht oder nicht als Subjekte wahr (für den Ouvreur haben die Programme Objektstatus). Die Synchronisation der Stimmen und Musik kann also keine Identität, sondern nur einen Assoziationsraum erzeugen, in dem die Tonquellen einander indirekt charakterisieren. Die Programme lassen sich als Bruchstücke eines Monodrams verstehen, die sich nach dem Baukastenprinzip variabel zusammensetzen lassen und immer neue Facetten der Subjektivität zeigen. Worte und Musik nähern sich in einem potentiell unabschließbaren Prozeß der Identifikation dem Moderator asymptotisch an, ohne ihn als Ich-Origo dingfest machen zu können (vgl. Anm. 127). Je mehr die verschiedenen Aussagen und musikalischen Evokationen divergieren, desto mehr hängt das Hörspielgeschehen von den Deutungs- und Identifikationsversuchen des Rezipienten ab. Die Hörer sind stereotypen Unterstellungen (»On dit, C'est dans sa tête.«; s.o.) traktierten, bis er nicht mehr antwortete. 123
Kurz vor Ende treibt der Ouvreur den Schußworten der Stimme
Voix zum Finale an: »Allez! Allez! (DDI 356). In erscheint ein kraftloses Echo dieser Stimulation,
»Maunu... il s'agrippe... allons... allons... / Silence«
(DDI 360), das auf den verpaßten
Schluß und auf das absehbare Weitermachen hinweist. Mit der ersten Person Plural beschreibt Voix treffend die Lage aller beteiligten Tonquellen, denn der Ouvreur kann das Öffnen und Schließen offensichtlich nicht beenden, bevor seine Programme zur Ruhe gekommen sind.
157
aufgefordert, die motivischen Echos in den verschiedenen Fiktionsebenen immer neu in Beziehung zu setzen, da diese durch den Handlungszusammenhang des Öffnens nicht kausal verbunden sind. Die funktionale Ähnlichkeit des Ouvreurs mit Voix provoziert den Analogieschluß, die Stimme sei seine verstellte eigene, die anhand von Maunus evozierter nächtlicher Odyssee die eigene Situation beschreibt. Der Ouvreur wehrt sich zwar gegen eine Identifikation mit den Programmen, aber er stellt selbst eine motivische Verbindung zur Narration her, indem er über eine Promenade spricht (s.o.), kurz nachdem Voix von Maunus Gang durch einen Hohlweg mit riesigen Espen berichtet hatte. Die Erzählung stiftet jedoch keine Identität zwischen den Stimmen, denn die scheinbare Authentizität der Beschreibungen ist nur Geschichtenerfinden: »Une image comme une autre.« (s.o.). In der Produktion des Bayerischen Rundfunks von 1995 (Regie und Musik: Stephan Hardt) werden Öffner und Stimme von Otto Sander gesprochen, die nur in der Betonung variiert und daher eine Identität der Figuren/Sender nahelegt. Die Widersprüche zwischen den Distanzierungsversuchen des Ouvreurs von anderen Tonquellen und der impliziten Appellstruktur des Hörspiels, die zur Analogisierung der Programme auffordert, verlegt den dramatischen Konflikt in die Vorstellung des Rezipienten: Je unvermittelter Narration, Evokation und Musik in den Hörspielen aufeinander folgen, desto größer wird die Interpretationsvarianz und Eigenverantwortung des Hörers für seine Situierungsversuche des Geschehens in Zeit und Raum. Im Duett von Voix und Musique muß er sich zudem entscheiden, ob er sich mehr auf sprachliche Bedeutungen oder den Klang von Worten und Musik konzentriert was ihn die Aussagen weitgehend überhören ließe. Cascando reduziert die Auswirkungen der Interferenzen, indem Voix solo mit der Erzählung fortfährt, während er mit Musique lediglich die stereotype Eingangsmeditation paraphrasiert. In der Produktion des Hörspiels durch den Westdeutschen Rundfunk mit Voices New York City (Regie: Everett Frost, Erstsendung am 16.5.89) ist die Musik so laut und die Melodie so wechselhaft, daß ein gemeinsames Verstehen der beiden Tonquellen ausgeschlossen wird. In der Fassung des Bayerischen Rundfunks von 1995 ist die Stimme dagegen vor dem Geräuschhintergrund der ruhigen Saxophonklänge gut zu verstehen. Indem der Hörer das akustische Material in seiner Vorstellung koproduziert bzw. moderiert, nimmt er die Position des Ouvreurs ein und wird
158
insoweit selbst zu einer Funktion von Cascando J24 Wie die Stimme Maddy Rooney wendet sich der Ouvreur direkt an die Zuhörer (»J'en ai vécu... assez vieux. / Suffisamment. / Ecoutez.«, DDI 348) und führt in der Exposition des Hörspiels die Konstruktion des Geschehens exemplarisch vor: »Moi je suis au mois de mai.« (DDI 340).125 Nachdem Hamm in Fin de partie noch nach einer objektiven zeitlichen Orientierung gesucht hatte (»On est quel mois?«, DDI 288),126 unterwirft der Ouvreur alle Maßstäbe seinem persönlichen Empfinden. Dieser Subjektivismus negiert eine autonome Darstellungsperspektive, ohne daß der Öffner genügend Persönlichkeit für eine personale Darstellungsperspektive aufweist. Während der Ouvreur durch seine Moderationen eine Interaktion der Programme nur simuliert, fordert er den Rezipienten auf, die fehlenden Beziehungen herzustellen. Indem der Zuhörer dem Vorbild des Ouvreurs folgt und die Tonquellen in seiner Vorstellung moderiert, beantwortet er zugleich die leitmotivische Identitätsfrage des Hörspiels: Da sich die Individualität des Ouvreurs auf wenige personale Eigenschaften und den Körperrest der Stimme reduziert, trifft seine Aussage »On dit, C'est dans sa tête.« (s.o.) nicht auf diesen zu wohl aber auf den Rezipienten als dessen Stellvertreter. Am Ende von Cascando wird der scheinbare Wirklichkeitsbericht von Maunas Weg zum Meer als epische Fiktion entlarvt, indem das Erzählen unvermittelt vom Präsens zum Imperfekt wechselt: »Maunu... c'est lui... c'était lui« (DDI 358). Das Präteritum drückt einerseits die verlorene Hoffnung aus, mit dieser Geschichte auch den Erzählzwang beenden zu können. Andererseits verwandelt sich Voix durch den Tempuswechsel vom berichtenden Aussagesubjekt zur epischen Erzählfunktion.127 Auf diese Weise
124
Gabriele Schwab meinte anhand von Fin de partie, daß »der Zuschauer zur Figur des aufgeführten Dramas« werde (vgl. Kap. 2.3). Aber erst die weitgehende Reduktion des Ouvreurs
auf die Moderatorenfunktion nivelliert alle individuellen Unterschiede
soweit, daß der Rezipient die Rolle des Öffners differenzlos übernehmen kann. 125
Die Annomination »Moi je suis au mois de mai.« läßt bei entsprechender Aussprache die Unterschiede zwischen den Worten verschwinden, was auf die Klangfolge, »Moi je suis au moi de moi.«, hinausläuft. Demnach bestätigt sich eine leere Identität selbst (»Oui, c'est juste«, DDI 340), was das Subjekt zur grammatischen Funktion reduziert.
126
Hamms »On est quel mois?« läßt sich auch als »On est quel moi?« verstehen - d.h. als
127
Käte Hamburger deutet einen vergleichbaren Tempuswechsel vom Präsens zum Präte-
ein weiterer Hinweis auf die leitmotivische Identitätsproblematik. ritum (u.a. in Adalbert Stifters Hochwald) als Perspektivenwechsel vom Wirklichkeitsbericht eines realen Aussagesubjekts zur epischen Fiktion, in der eine Erzählfunktion
159
wird er in die Fiktionswelt des Erzählten hineingezogen und vergrößert den Abstand zu der kommentierenden Auditorfunktion. Nach dem Scheitern der Erzählung müßte Voix, seiner eigenen Logik zufolge, eine neue Geschichte beginnen - der Rezipient hat einen Durchlauf des Programms gehört. Da die »tausend-und-zweite« Geschichte (vgl. Anm. 83) keine Veränderung der Erzählsituation brachte, braucht auch von den folgenden keine erwartet zu werden. Den Wiederholungen in der Narration entspricht die Monotonie in der Moderation und die absehbare Selbstreproduktion aller Tonquellen in Becketts Radiostücken nach All That Fall. Nachdem der Repetitionsmechanismus und die Charakteristik des Sender/Empfänger klar geworden ist, werden die Hörspiele zu Echos ihrer selbst und können auch nach dem Verstummen des Rundfunkkanals im Bewußtsein des Hörers weiterklingen. In Becketts Gesamtwerk weisen die reinen Sender der Hörspiele auf die beschränkten Interaktionsmöglichkeiten der späten Dramenfiguren hin. Cascando geht entstehungsgeschichtlich Play voraus, dessen Tonquellen M, W1 und W2 nicht miteinander, sondern nur mit einem Scheinwerfer kommunizieren, der als Auditor auch ihre Sprecheinsätze moderiert. Das Wechselspiel der Stimmen, Dinge und Körper soll im nächsten Kapitel anhand der Theaterstücke nach Fin de partie näher untersucht werden.
das Geschehen darstellt. Hamburger ersetzt den Begriff des Aussagesubjekts durch den »mehr erkenntnistheoretisch gefärbten Begriff« einer Ich-Origo und führt weiter aus, »[...] daß von nun an das Geschehen, und damit die Zeit des Geschehens, nicht mehr auf den Erzähler, sondern auf diese Gestalten (in Stifters Roman, Anm. J.B.) bezogen ist. Eine Versetzung der Ich-Origo aus dem Wirklichkeitssystem in ein anderes, das Fiktionssystem, oder wie wir auch sagen können, in das Fiktionsfeld, hat stattgefunden [...].« Dies., Die Logik der Dichtung, a.a.O., S. 70. Voix war allerdings schon vor dem Tempuswechsel kein »reales Aussagesubjekt«, sondern nur eine fiktive Figur mit äußerst geringen personalen Eigenschaften.
160
4. Moderatoren und Auditoren auf der Bühne »dieses Leben also das er gehabt hätte erfunden erinnert von beidem etwas wie soll man es wissen« 1 Samuel Beckett, Wie es ist
4.1 Krapps Körper- und Maschinengedächtnis Das Geschehen von Krapp 's Last Tape läßt sich genauer datieren, als es die Regieanweisung »A late evening in the future.« (CDW 215) zu Beginn des Stücks glauben macht: Alljährlich hört Krapp alte Tonbandaufnahmen ab, um sich von den konservierten Stimmen zu einer neuen Jahresbilanz inspirieren zu lassen. Eine Tonbandstimme auf der Spule fünf in Schachtel drei beginnt ihren Monolog mit den Worten, »Thirty-nine today« (CDW 217), und wird von Krapp sarkastisch kommentiert: »Just been listening to the stupid bastard I took myself for thirty years ago.« (CDW 222). Der alte Mann begeht demnach seinen 69. Geburtstag und führt die akustischen Annalen seit seinem vierundzwanzigsten Lebensjahr.2 Denn das Tonbandarsenal umfaßt insgesamt fünfundvierzig Jahrgänge, die auf neun Schachteln zu fünf Spulen mit jeweils einem Jahresbericht verteilt sind: »Box thrree... thrree... four... two... (with surprise) nine!« (CDW 216). Erst die Entwicklung der elektromagnetischen Aufnahme- und Wiedergabetechnik durch die AEG im Zweiten Weltkrieg ermöglichte die Herstellung von Tonbandgeräten als allgemein zugängliches Massenmedium in den fünfziger Jahren.3 Die Geburtstagsfeier des 69jährigen Krapp kann also frühestens 1
Beckett, Samuel, Wie es ist, in: Werke III 4, Frankfurt am Main 1976, S. 635.
2
Die These Eric Erfurths, Krapp habe »auf jenem Band seine Stimme als 24jähriger kommentiert« ist nicht belegbar, da sich der 39jährige durch die Bandaufnahme in die Zeit vor »zehn oder zwölf Jahren« zurückversetzt fühlt: »I did not check in the book, but it must be at least ten or twelve years ago.« (CDW 218). Ders., Bananen und Stachelbeeren
oder Krapp, Fontane,
Beckett und die Bibliotheksphänomene,
in: Forum
Modernes Theater, Bd. 7 Heft 1, Tübingen 1992, S. 38. 3
Beckett hatte die Tonbandtechnik während der Produktion und Uraufführung von All That Fall (13.1.1957) durch die BBC kennengelemt. In einem Brief vom 26. Februar 1958 bat er den damaligen Leiter der Hörspielabteilung der BBC, Donald McWhinnie,
161
kurz nach der Jahrtausendwende spielen - aber schon im Computerzeitalter der digitalen Speicher und erst recht nach der Jahrtausendwende wirkt der Einsatz des Tonbandgeräts antiquiert. Je mehr Jahre zwischen der Entstehung und Aufführung von Krapp's Last Tape liegen, desto augenfälliger spielt das Stück in der Vergangenheit - und widerspricht insofern der Regieanweisung »A late evening in the future.« (s.o.).4 Wenn sich die Zeitangabe nicht an der medientechnologischen Entwicklung orientiert, dann scheint sich die >Zukunft< auf die jeweilige Gegenwart dessen zu beziehen, der die Regieanweisung gerade liest. Aber das Stückgeschehen bemißt sich nicht wirklich am einzelnen Leser, sondern bleibt konstant >zukünftighier und jetzt< eine paradoxe Leerstelle im zeiträumlichen Koordinatensystem auf, die für Krapp's Last Tape von programmatischer Bedeutung ist. Die folgenden Untersuchungen nähern sich der Zeit- und Identitätsproblematik in Krapp's Last Tape in den Abschnitten über Nicht-/c/j-Identität, leibliche Erinnerung sowie Licht und Erkenntnis.
4.1.1 Nicht-TcA-Identität Die relative Unbestimmtheit der Gegenwart gründet sich auf die autobiographische Eigengesetzlichkeit und die medienspezifische Reproduzierbarkeit der akustischen Annalen, die den Stückverlauf bis kurz vor dem Ende dominieren. Die Jahresberichte fordern nach ihrer Initiierung zur kontinuierlichen
um eine Gebrauchsanweisung für ein Tonbandgerät, um es in Krapp's
last
tape
verwenden zu können. Esslin, Martin, Samuel Beckett und die Kunst des Rundfunks, in: Engelhardt, Hartmut (Hrsg.), Samuel Beckett, Frankfurt am Main 1984, S. 172. 4
Krapps Clownsuniform mit kurzer Hose, zu großen weißen Schuhen und Taschenuhr gleicht den Charlie-Chaplin-Typen mit Bowler-Hüten in En attendant
162
Godot.
Fortsetzung auf und zwingen Krapp zum Weitersprechen, obwohl er den Tonbandstimmen keine neuen Erlebnisse hinzuzufügen hat: »Nothing to say, not a squeak. What's a year now? The sour cud and the iron stool.« (CDW 222). Der Abbruch der letzten Aufnahme ist gleichermaßen durch Krapps Sprachlosigkeit und die Spielregeln des autobiographischen Automatismus bedingt: Aufgrund von Todesahnungen realisiert der alte Krapp, daß an seinem nächsten Geburtstag niemand mehr das letzte Band abhören wird - und seine Aufnahme daher sinnlos ist.5 Ohne einen Auditor, der die Jahresberichte in (s)einen Lebenszusammenhang einordnet bzw. deren Identität über alle Verwandlungen hinweg sichtbar verkörpert, gleichen die >Gedächtnisstimmen< nur den »voix mortes« in En attendant Godot, die monologisieren, ohne einander wahrzunehmen oder miteinander zu kommunizieren. Die Tonbandprotokolle sind von Anfang an durch die Spannung zwischen der selektierten Vergangenheit und der vorweggenommen Zukunft bestimmt, weil sie einen zukünftigen Auditor als zeitlichen Fixpunkt und höchstrichterliche Urteilsinstanz voraussetzen: »When I look - (Krapp switches o f f , broods, looks at his watch, [...]) - back on the year that is gone with what I hope is perhaps a glint of the old eyes to come,« (CDW 218f.). Mit der imaginären Retrospektion aus zukünftigen, alten Augen führt der 39jährige Krapp exemplarisch die Selbstentmündigung eines Erkenntnissubjekts vor. Statt einer biographisch fundierten, gegenwärtigen /cA-Identität erzeugt das Sprachspiel ein Spiegelkabinett der Selbstentwürfe, Perspektiven und Zeitebenen: Der Blick des alten Krapp auf seine Uhr bezieht die
5
Im Oktober 1969 führte Beckett bei der Produktion von Krapp's Last Tape am Schillertheater Berlin selbst Regie und ließ Martin Held in der Titelrolle dreimal über seine linke Schulter in den dunklen Bühnenhintergrund blicken. Krapp schaut sich nach >Freund Hain< als Verkörperung des Todes um, wie Beckett erklärt: »The scyteman was not in my mind, only Freund Hain with open arms. Difficult to define K's (i.e. Krapp's) feelings at these points. Dread no doubt - with perhaps a leaven of relief.« Zitiert nach: Knowlson, James, The Theatrical Notebooks of Samuel Beckett, Vol. Ill: Krapp's Last Tape, London 1980, Anmerkungen S. xxi. Beckett übernahm die Schulterblicke in seiner Regie zu La dernière bande am Théâtre Récamier in Paris, Mai 1970 mit Jean Martin in der Titelrolle. Auch die Abendhymne von Sabine BaringGould (1834-1924), die Krapp zweimal anstimmt, konnotiert (bedingt auch durch Krapps Husten und sein kaum hörbares Weitersingen) sein baldiges Lebensende: »Now the day is over, / Night is drawing nigh-igh, / Shadows - (coughing, then almost inaudible) - of the evening / Steal across the sky.« (CDW 222, 219).
163
präsentische Aussage vom Tonband (»When I look -«, s.o.) auf das aktuelle Bühnengeschehen. Den ersten Worten folgt ein stummes Zwischenspiel, in dem sich der alte Mann im Dunkel der Hinterbühne betrinkt und damit die asketischen Vorsätze seiner Vorgänger ad absurdum führt (s.u.). Mit dem erneuten Anschalten des Tonbandgeräts wendet sich Krapp dem Jahresrückblick des 39jährigen und der Vorvergangenheit einer noch früheren Aufnahme zu, die der >mittlere< Krapp kommentiert. Durch ihre kritischen Anmerkungen beziehen der 39- und 69jährige die abgehörten Annalen auf ihre jeweilige Situation, d.h. die Erinnerungen erhalten im Kontext verschiedener Lebensabschnitte unterschiedliche Bedeutungen. Die Jahresberichte werden aber nicht nur nachträglich kontextualisiert, sondern von den jeweiligen Sprechern schon vorausschauend in einen angenommenen Lebenszusammenhang eingeordnet. Die prospektive Tendenz aller Bandaufnahmen zeigt sich u.a. im antizipierten Lebensrückblick aus den »zukünftigen, alten Augen« und in Krapps Abbruch der letzten Aufnahme - die sinnlos ist, wenn der Auditor seinen nächsten Geburtstag nicht mehr erlebt (vgl. Anm. 5). Der antizipierte Rückblick »of the old eyes to come« (s.o.) gleicht Hamms Suche nach einem Ende in Fin de partie, von dem aus das Lebensganze sich überblicken läßt.6 Auch das Warten auf Godot und Winnies Gebrauch des Futur II in Happy Days (»This will have been another happy day!« CDW 159) zeigt die Sehnsucht nach einer auditorialen Anschauungsform. Die Figuren versuchen sich am eigenen Schöpf aus dem Sumpf ihrer Erkenntnisunsicherheit zu ziehen, indem sie eine ideale Auffassungsart außerhalb des Zeitabschnitts annehmen, den sie zu überblicken versuchen. Krapps Abhängigkeit vom erhellenden Glanz der zukünftigen Augen zeigt beispielhaft den Teufelskreis auf dem die >prospektive Retrospektion< basiert: Die Entscheidung über den größeren Wahrheitswert zukünftiger Erkenntnisse beruht auf einer aktuellen Urteilsfähigkeit, die sich aufgrund des größeren Wahrheitswerts zukünftiger Erkenntnisse aber selbst negiert oder zumindest stark relativiert. Der paradoxe Zirkel entwirklicht das Gegenwartserleben und macht das empirische >hier und jetzt< eines Erkenntnissubjekts und seines Objekts zu einem abstrakten Knotenpunkt diverser pround retrospektiver Bezüge. Obwohl der 39jährige Krapp vom Blick aus den »zukünftigen, alten Augen« spricht, handelt es sich dabei um keine Sinneswahrnehmung, sondern um die projektive Verlängerung der eigenen Audi6
»Hamm: Instants sur instants, plouff, plouff, comme les grains de mil de... il cherche... ce vieux Grec, et toute la vie on attend que ça vous fasse une vie.« (DDI 294).
164
torposition in eine vorgestellte Zukunft - d.h. um eine induktive Schlußfolgerung, die sich als Erkenntnisprämisse ausgibt und mit ihren Paradoxien selbst dementiert. Die Fiktion eines vorweggenommenen Rückblicks basiert entgegen Krapps Formulierung auf keinem zukünftigen Fixpunkt, sondern auf einem Regreß ins Unendliche: 7 Da die antizipierte Retrospektion einer zeitlichen Distanz zu den Ereignissen den epistemologischen Vorzug gibt, muß sich jede zukünftige Gegenwart auf der Suche nach Erkenntnissicherheit ihrerseits auf einen späteren Auditoren beziehen - ad infinitum. Die Jahresberichte vom Band erzeugen durch ihre konstante Reihenfolge die Illusion eines biographischen Kontinuums. Aber die Sukzession einzelner Annalen ergibt so wenig ein Lebensganzes wie der prospektive Bezug aller Tonbandprotokolle auf einen zukünftigen Auditor. Denn der alte Krapp setzt bei seinem Rückblick völlig andere Prioritäten, als sein Vorgänger (und dessen >überzeitliche< Beobachterperspektive aus den »zukünftigen, alten Augen«) erwartet hatte. Der Kommentar des 69jährigen anläßlich von Effies Augen zeigt, daß er die Vergangenheit nicht mehr allein an der schriftstellerischen Entwicklung bemißt: »Let that go! Jesus! Take his mind off his homework!« (CDW 222). Krapps Vorgänger versicherten sich ihrer lebensgeschichtlichen Identität dagegen durch den Bezug auf das literarische Lebenswerk: Schon eines der ersten Bänder vermeldet stolz »Shadows of the opus... magnum« (CDW 218), und der 39jährige fühlt sich auf der Höhe seiner Schaffenskraft:
»I have now every reason to suspect at the...
{hesitates)... crest of the wave - or thereabouts.« (CDW 217). Krapps letzter Jahresrückblick wird zur Lebensbilanz,
d.h. zur Abrechnung
mit den
früheren Plänen und Illusionen: »Seventeen copies sold, of which eleven at trade price to free circulating libraries beyond the seas. Getting known.« (CDW 222). Mit dem selbstironischen Nachsatz gesteht sich Krapp das Scheitern seiner Wirkungsabsicht und des materiellen Erfolgs als Schriftsteller ein. Indem er das opus magnum fortan nicht mehr erwähnt, deklassiert Krapp den bisherigen teleologischen Leitfaden und finalen Grund seines Handelns zur Marginalie der Lebensbilanz und entzieht damit auch den biographischen Bruchstücken den sinnstiftenden Zusammenhang.
7
Das Fortschreiten in die Zukunft stellt keinen logischen Progreß dar, weil sich die Entwicklung nicht von den Ursachen zu den Wirkungen vollzieht, sondern die Bedingung der Erkenntnis aposteriori in den »zukünftigen, alten Augen« gesucht wird. Die zeitliche Abfolge von Ursache und Wirkung wird insoweit umgekehrt, und der Regreß zu den Grundlagen der Erkenntnis vollzieht sich als Progreß in der Zeit.
165
Die projektierte Arbeitsbiographie des jungen Künstlers richtet die Gegenwart auf eine ideale Zukunft bzw. das anvisierte Ziel eines dichterischen Hauptwerks aus, das Krapp als willensschwachen Statisten seiner eigenen Lebensinszenierung agieren läßt. Die anwesende Abwesenheit des dichterischen Werks begründet nicht nur Krapps Isolation, sondern bildet auch ein wesentliches Auswahlkriterium für die in die Annalen aufgenommenen Ereignisse. Die Entscheidung für die Künstlerlaufbahn setzt den autobiographischen Automatismus in Gang, der neben den schriftstellerischen auch die lebensweltlichen Kämpfe und Fortschritte in den Annalen festhalten soll. Statt des geplanten geradlinigen Lebenslaufs dokumentieren die Aufnahmen allerdings den Zirkel von Krapps wiederkehrenden Lastern. Während sich der 39jährige in seiner Aufnahme als aufopferungsvoller Künstler stilisiert und mit feierlichem Ton (»Strong voice, rather pompous«, CDW 217) seinen Glücksverzicht zelebriert (»Flagging pursuit of happiness.« CDW 218), zeigt das Verhalten des alten Krapp, daß er der Sinnenslust nicht entsagt hat.8 Seine ungebremste Gier nach Bananen, Alkohol und Frauen bestimmt das Bühnengeschehen: Das Stück beginnt mit einer Pantomime des Bananenessens und wird von Krapps Gängen in die Hinterbühne gegliedert, von wo das Knallen der Flaschenkorken und das Geräusch eines Syphons für Whiskey zu hören ist.9 Die versuchte Weltentsagung des jungen Krapp und seine rigide Bemerkung über das Bananenessen (»Vehemently. 8
Krapps Vorsätze zeigen die Mühsal seiner Weltentsagung, insbesondere im Kampf gegen Bananensucht, Alkohol (»And the resolutions! [...] To drink less, in particular.« CDW 218) und gegen sexuelle Begierde: »Plans for a less...
(hesitates)...
engrossing
sexual life.« (ebd.). Die Erzählung des 69jährigen von seinen groteskkomischen Kopulationsversuchen mit der alten Hure Fanny weisen darauf hin, daß seine sexuelle Gier nur quantitativ aber nicht qualitativ nachgelassen hat: »Fanny came in a couple of times. Bony old ghost of a whore. Couldn't do much, but I suppose better than a kick in the crutch. The last time wasn't so bad. How do you manage it, she said, at your age? I told her I'd been saving up for her all my life.« (CDW 222). 9
Die sportliche Komponente von Krapps Trunksucht zeigt sich nicht nur in seinem dreimaligen Gang in das »Kämmerchen« auf der Hinterbühne, sondern auch in der schnellen Folge knallender Korken, die von dort zu hören sind. Krapp öffnet beim erste Mal eine Weinflasche und braucht nur fünfzehn Sekunden, um ein Glas zu trinken, die Flasche wieder zu verkorken und auf die Bühne zurückzukehren (CDW 216). Beim zweiten Abstecher ins Dunkel der Hinterbühne ist das Korkenknallen jeweils im 10-Sekunden-Abstand dreimal zu hören (CDW 219), während beim dritten Mal das Geräusch des Syphons auf den Genuß eines verdünnten Whiskeys schließen läßt, dem nach zehn Sekunden ein zweiter unverdünnter folgt (CDW 221).
166
Cut >em out!« CDW 217) zeigen, daß er die leibbezogene Lebensgeschichte gegen eine >geistige< Arbeitsbiographie eintauschen möchte. 10 Eine Aussage des 39jährigen zeugt von dem selbstauferlegten Zwang zur Produktivität - der sich vom opus magnum auf die akustischen Paralipomena der Annalen überträgt: »Sat there before the fire with closed eyes, separating the grain from the husks.« (CDW 217). Das Bild der (Getreide-) Körner reduziert das vorangegangene Jahr auf eine summarische Erntebilanz und erinnert damit an das Zenon-Paradoxon des Haufens von Hirsekörnern in Fin de partie. Übertragen auf Krapp's Last Tape bedeutet das ZenonParadoxon, daß das zurückliegende Jahr oder Leben in wenige Werke und nennenswerte Erlebnisse zerfällt. Der 39jährige bezieht die Körner explizit auf einen lebensgeschichtlichen Überblick: »The grain, now what I wonder do I mean by that, I mean...(/iesistores)...I suppose things worth having when all the dust has - when all my dust has settled.« (ebd.). Wenn sich der Staub, den der >mittlere< Krapp mit seinen Selbstinszenierungen aufwirbelt, gelegt hat, hofft dieser von den »zukünftigen, alten« Augen in seinen Wertungen bestätigt zu werden. Aber nach der Berechnung seines Verkaufsertrags aus den Büchern 11 bricht der alte Krapp die Statistiken mit seiner letzten Aufnahme endgültig ab. Bilanzen und Annalen können seine lebensgeschichtliche und personale Einheit so wenig verbürgen wie die prospektive Größenphantasie des opus magnum - die in das regressive Glück einer altersinfantilen Lautmalerei umschlägt: »Spooool! Happiest moment of the past half million.« (CDW 222). Das Lallwort vergegenwärtigt Krapp die Klangqualitäten seines sprachlichen Materials unterhalb der
10
Dem Unwillen des 39jährigen bezüglich seiner Bananensucht »Vehemently.
Cut 'em
out!« entspricht eine Aussage des alten Krapp in seiner letzter Aufnahme: »Last fancies. Vehemently.
Keep 'em under! (CDW 222). Der Imperativ leiblicher Enthalt-
samkeit wird auf die Psyche erweitert, die sich der vorgestellten Leidenschaften enthalten soll. Das Abtöten der Lust tendiert zur Selbstauslöschung wie die vorangegangene Aussage zeigt: »Sat shivering in the park, drowned in dreams and burning to be gone.« (ebd.). 11
Krapps Lust, sein Leben statistisch zu erfassen, erinnert an Dan Ronneys Zählleidenschaft in All That Fall·. »Not count! One of the few satisfactions in life!« (CDW 190). Der 39jährige Krapp sagt in seiner Aufnahme: »Statistics. Seventeen hundred hours, out of the preceding eight thousands odd, consumed on licensed premises alone. More than 20 per cent, say 40 per cent of the waking life.« (CDW 218). Auch der alte Krapp zählt seine verkauften Bücher zusammen und errechnet den Gesamtgewinn: »One pound six and something, eight I have little doubt.« (CDW 222).
167
Sinnebene und bildet damit die letzte Verbindung zur lustvollen Seite seiner dichterischen Passion.12 Vergleichbar mit dem zwanghaften Warten in En attendant Godot und dem Spielenmüssen in Fin de partie bildet das jährliche Erinnerungs- und Selbstbestätigungsritual die zirkuläre Handlungslogik bis zur letzten Aufnahme. Die überheblichen Anmerkungen des alten Krapp unterstellen zwar dessen lebensgeschichtliche Weiterentwicklung gegenüber »the stupid bastard I took myself for thirty years ago.« (s.o.). Er erhebt sich aber trotz seiner Auditorfunktion nicht wirklich als Meta-Ebene über sein jüngeres Alter ego, sondern widerruft die behauptete Hierarchie umgehend wieder: »Ah well, maybe he was right.« (CDW 222). 13 Bei einer Aufführung des Stücks ist die Stimme des 39jährigen aufgrund der exakten elektroakustischen Reproduktion genauso gegenwärtig wie die des 69jährigen, d.h. die sprachlichen Kommentare des alten und des jüngeren Krapp stehen einander
12
Krapps Lautmalei zeigt die assoziative Verknüpfung von Aussagen, die im letzten Jahresrückblick nicht nur vom Sinnzusammenhang, sondern von klanglichen Echos bestimmt wird: »Spooool!« folgt als Endreim der bilanzierten Verstopfung im Satz zuvor: »The sour cud and the iron stool.« (CDW 222). Die Homophonie von »stool« und »Spooool!« verleiht den Bändern eine exkrementale Konnotation und läßt die wiederkehrende Beschäftigung mit der gespeicherten Vergangenheit als >Verstopfung< des gegenwartsorientierten Erlebens erscheinen. Krapps Uberbetonung der »Spuuuule« und die probende Wiederholung des Wortes »viduity« (CDW 219) beziehen ihre Faszination aus der leiblichen Resonanz des Klangs, von dem ausgehend der Sprecher nach Sinn forscht. Die Lautmaleien erinnern an den »unmittelbaren Ausdruck«, den Beckett in seinem Essay Dante...Bruno. Vico-Joyce
(1929) anhand von James Joyces'
Work in Porgress (1939 als Finnegans Wake erschienen) beschrieben hat: »Hier haben wir Seiten und Seiten unmittelbaren Ausdrucks. [...] Hier ist die Form der Inhalt, und der Inhalt ist die Form [...] Es schreibt nicht über etwas; sein Schreiben ist dieses etwas selbst.« (a.a.O., Ders., Auswahl in einem Band, Frankfurt am Main 1967, S.19f.). 13
Solange Krapp seine Tonbanstimmen besserwisserisch kommentiert, unterliegt er dem gleichen normativen Irrtum wie diese, die einzig richtige Erkenntnis- und Lebensweise zu besitzen. In dem Moment, in dem er sich aber mit seinem Vorgänger solidarisiert (»Maybe he was right.«), unterscheidet er sich von diesem durch seine Einsichtsfähigkeit. Rolf Breuers Definitionsversuch des alten Krapps als »Meta-Krapp, der über Krapp reflektiert« stellt eine lineare logische Hierarchie auf - die aber durch Krapps Kommentare zu einer paradoxen Schleife >umgebogen< wird: Solange der 69jährige seinen Vorgänger abkanzelt, maßt er sich die übergeordnete Position nur an, gehört aber tatsächlich noch zur Klasse der Elemente, die er kommentiert. Ders., Die Kunst der Paradoxie, Sinnsuche und Scheitern bei Samuel Beckett, München 1976, S. 140.
168
mit d e m
gleichen
Wahrheitsanspruch
gegenüber.14
Die
B r u c h s t ü c k e w e r d e n a l s o nicht aus d e m R ü c k b l i c k eines
biographischen
Erinnernden w i e -
d e r g e b e n , d e s s e n Vortrag die v e r g a n g e n e n E r l e b n i s s e nach s e i n e m aktuellen E m p f i n d e n filtert oder verändert. V i e l m e h r teilt s i c h die A u d i t o r f u n k t i o n z w i s c h e n d e m 69jährigen Moderator und d e m 39jährigen Erzähler a u f , 1 5 d i e mit P a n t o m i m e n und Vorträgen über w e i t e S t r e c k e n d e s Stücks s i m u l t a n agieren b z w . erklingen. Statt des Fortschritts zu e i n e m i d e a l e n Ü b e r b l i c k über das L e b e n s g a n z e bildet d i e A b f o l g e der antizipierten und tatsächlichen A u d i t o r e n auf d e m T o n b a n d o d e r der B ü h n e nur e i n e n k a k o p h o n e n Chor v o n S t i m m e n , d i e einander u n d in den Paradoxien s i c h s e l b s t w i d e r s p r e c h e n (s.o.). D a b e i hebt sich das »krächzende«
Organ d e s 6 9 j ä h r i g e n klar v o n der
S t i m m e d e s 39jährigen Krapp a b ( » s o u n d as a b e l l « ,
16
»kräftigen«
C D W 2 1 7 ) , d i e ihrer-
seits d i e k l a n g l i c h e Veränderung zu einer z e h n oder z w ö l f Jahre zurücklieg e n d e n A u f n a h m e betont: »Hard to b e l i e v e I w a s ever that y o u n g w h e l p . T h e v o i c e ! [...] C l o s i n g w i t h a - ( b r i e f laugh) 14
- y e l p to p r o v i d e n c e . « ( C D W
Die Frage, »Is it live?« (CDW 268), die eine Stimme m Rough for Radio / stellt, ist für die Klangqualität bei einer avancierten Aufnahme- und Wiedergabetechnik belanglos. Nicht die Simultanität von Produktion und Übertragung macht den Unterschied zur abgehörten Bandaufnahme aus, sondern die körperliche Präsenz des Sprechers, die das Gesagte durch Mimik und Gestik kontextualisieren und die Wirkung verstärken kann.
15
Die Rollen des Moderators und Erzählers sind nicht jeweils dem alten und dem >mittleren< Krapp strikt vorbehalten: Obwohl der alte Mann angeblich nichts mehr zu sagen hat (s.o.), erzählt er dennoch die Anekdote mit der Hure Fanny (vgl. Anm. 8), während der 39jährige Krapp seine Aufnahmen offensichtlich in ähnlicher Weise moderiert wie der 69jährige. Im Stückverlauf überwiegt die Moderatorenfunktion des alten Krapp, während sein jüngeres Alter ego nur als Erzähler akustisch in Erscheinung tritt. Die Rollenverteilung nimmt die Reduktion der Stimmen auf eine typische Funktion in den folgenden Hörspielen vorweg: In Embers wechselt Henry zwischen der Erzähler- und Moderatorenrolle, die in Words and Music auf Words und Croak sowie in Cascando auf die Stimme und den Öffner verteilt sind (Kap. 3.3.1 - 3.3.4).
16
Der Klang »sound as a bell« des 39jährigen als Beweis seiner Lebenskraft wird im Hörspielfragment Rough for Radio II als Totenglocke motivisch weitergeführt »There all sigh, I was, I was. It's like a knell.« (CDW 278). Glockenklang und Grabgeläute reimen sich im Englischen nicht nur (bell-knell), sondern deuten Krapps Verfall schon in seinem Lebenszenit an. Im Kontext des Bühnengeschehens steht der Glockenklang des jüngeren im komischen Kontrast zu den rauhen Flüchen des älteren Krapp. Denn nach den Worten »sound as a -« geht die Bandpassage im Lärm herabfallender Bänder und Schachteln sowie der Schimpfworte Krapps unter. Nach dem kakophonen Intermezzo spult er zum Anfang der Passage zurück und hört vom Glockenklang sprechen.
169
218). Der junge Krapp erscheint dem älteren als Welpe, der unruhig kläffend seine schriftstellerische Entwicklung beschwört und mit einem falschem Klang in der Stimme das Ende seiner Jugend feiert: »Sneers at what he calls his youth and thanks God that it's over. (Pause.) False ring there« (ebd.). Die Passage klingt in Krapps letzter Bandaufnahme nach, als er sich über den 39jährigen »Bastard« mokiert (s.o.) und fortfährt: »hard to believe I was ever as bad as that. Thank God that's all done with anyway.« (CDW 222). Der alte Mann und sein jüngeres Alter ego verurteilen sich gegenseitig, denn der 39jährige kommentiert indirekt auch die vergangenheitsverachtende Attitüde seines Nachfolgers als »False ring« (s.o.). Die Bandaufnahmen erzeugen beim alten Krapp nicht die unmittelbare Gewißheit seiner lebensgeschichtlichen Einheit, sondern bilden zugleich ein Identitäts- und Differenzkriterium des versuchten Lebensrückblicks. Denn seine früheren Aussagen befremden den 69jährigen, obwohl seine aktuellen Abwertungen der Vergangenheit den pauschalen Kommentaren des knapp 30jährigen gleichen. Während sich die verschiedenen Krapps von ihren früheren Ichs abzusetzen versuchen, ähneln sie einander gerade darin, daß sie von ihrem jeweiligen Alter ego in der distanzierenden dritten Person reden. Auch die charakteristische Klangfärbung der Stimme(n) verbindet Krapp mit seinen Vorgängern: »Strong voice [...] clearly Krapp 's at a much earlier time.« (CDW 217). Allen altersbedingten Veränderungen, unterschiedlichen Selbstbildern und abwertenden Äußerungen (»that young whelp«, »the stupid bastard«, s.o.) zum Trotz bildet die Körperlichkeit von Krapps Stimmein) zusammen mit der Kontinuität seiner Begierden und Verstopfung17 seine zentralen Identitätsmerkmale (neben der leibgebundene Erinnerung s.u.). Da sich Krapp und seine Vorgänger aber mit den Aussagen ihrer Alter egos nicht identifizieren können, stellen die körperlichen Phänomene nur eine Νicht-TcÄ-Identität dar. D.h. dem interpersonalen Verhältnis divergierender Te\\-Ichs steht eine leibliche Identität als kleinster gemeinsamer Nenner der lebensgeschichtlichen Einheit gegenüber. Ohne die personale Identität ihrer Sprecher ist die Konvergenz der Stimmen und der anderen
17
Der 39jährige Krapp hält die Verbesserung seines Stuhlgangs für bemerkenswert genug, um sie im Register festzuhalten: »Slight improvement in bowel condition.« (CDW 217). In seinem Jahresrückblick spricht er dagegen von »unattainable laxation« (CDW 218) und beichtet eine Mahlzeit von drei Bananen mit den verstopfenden Folgen: »Fatal things for a man with my condition.« (CDW 217). Der alte Krapp definiert sich über Körperdefekte, »What's a year now? The sour cud and the iron stool.« (s.o.).
170
körperlichen Erscheinungsformen nicht über jeden Zweifel erhaben, sondern muß über den Zeitabstand (und die Klangunterschiede) hinweg beim Abhören der Tonbänder von einem Auditor immer neu festgestellt werden. Die Widersprüche der Nicht-/c/¡-Identität werden von dem Erinnerungsmechanismus in Krapp 's Last Tape noch verstärkt, denn das Tonbandgerät kontrastiert die Erscheinung des alten Krapp, statt eine leibliche Einheit der Tonquellen zu visualisieren: Während der 69jährige durch seine Schwerhörigkeit, Kurzsichtigkeit und den mühsamen Gang überdeutlich als alter Mann typisiert wird, ertönt die »glockenklare« und energetische Stimme des 39jährigen aus dem scheinbar unermüdlichen und unsterblichen >Maschinenkörperda< sind, aber erst mit dem Abspielen akustisch in Erscheinung treten. Zum anderen überbrücken die Annalen nicht nur den zeitlichen Abstand zur Vergangenheit, sondern erscheinen im Hinblick auf ihre unbegrenzte Wiederholbarkeit prinzipiell zeitlos. Da die Tonbandstimmen nicht altern, stehen sie monolithisch außerhalb des organischen und biographischen Zusammenhangs, den der alte Krapp auf der Bühne verkörpert. Im Gleichklang mit diesem legen die Aufnahmen also einerseits die leibliche Identität der Stimmen nahe; andererseits droht der schnelle Wechsel von Sprechern verschiedenen Alters eine lebensgeschichtliche Kontinuität in akustische Versatzstücke und klangliche Kontraste aufzulösen. Wenn sich Krapp am Ende des Stücks über das Tonbandgerät wie über eine Frau beugt (Stimme des 39jährigen: »Lie down across her. Long pause. He suddenly bends over machine,« CDW 223), bleibt der geschlechtsneutrale >Maschinenkörper< doch immer das unnahbare Andere, das allen Vereinigungssehnsüchten (auch mit der Leiblichkeit seiner früheren Stimmen) passiven Widerstand leistet.
4.1.2 Leibliche Erinnerung Mit dem Abbruch seiner letzten Aufnahme bricht Krapp nicht aus dem Binnenkosmos der akustischen Annalen aus, denn er ersetzt die prospektive Teleologie nur durch eine retrospektive: Die literarischen Hoffnungen schlagen in eine Verherrlichung der Vergangenheit um und machen den alten
171
Mann zum Sinnbild der unglücklichen Erinnerung - von der Wladimir sagt: »Memoria praeteritum bonorum - ça doit être pénible.« (DDI 184).18 Bei seinen Erinnerungen an Bianca sagt der 39jährige Krapp selbst: »These old P.M.s are gruesome, but I often find them [...] a help before embarking on a new... (hesitates)... retrospect.« (CDW 218). Die Revokationsversuche verstärken die schmerzhafte Diskrepanz zwischen einstiger Lust und jetzigem Leid und löschen - wie zu zeigen ist - die Authentizität und Intensität vergangener Erlebnisse durch deren willkürliche Wiederholungen aus. Indem Krapp das Tonbandgedächtnis immer wieder zu der Effie-Passage zurückkehren läßt, verweist er nur auf die Austauschbarkeit der elektroakustischen >GedächtnisstimmendarkeHörspiel< im dunklen Hintergrund fokussiert die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf die akustischen Zeichen von Krapps Körperlichkeit im Unterschied zu seiner Gestalt, Mimik und Gestik, die vom Licht betont werden. Der Gegensatz von Ton und Erscheinung wiederholt sich sowohl in der Nicht-/cA-Idenität der 39jährigen Stimme mit dem alten Krapp auf der Bühne als auch im Kontrast der erzählten Farbeffekte zur schwarzweißen Szene. Durch die Kontraste verstärken sich die diskreten Zeichen wechselseitig in ihrer Wirkung - und es bleibt dem Rezipienten überlassen, die Vorgänge zwischen den abgehörten Annalen sowie zwischen Krapps Auftritten im Licht zu erschließen. Der Bericht des 39jährigen von seiner neuen Beleuchtung legt eine Zuordnung von Licht und Schatten zu einem dualistischen Selbstbild nahe: »The new light above my table is a great improvement. With all this darkness round me I feel less alone. (Pause.) In a way. I love to get up and move about in it, then back here to... (hesitates)... me. (Pause) Krapp.« (CDW 217). Da nur der Tisch und die unmittelbare Umgebung im Licht erscheinen (vgl. Anm. 28), taucht schon der >mittlere< Krapp ins Dunkel ein und kehrt »zu sich« ins Licht zurück. Die zitierte Bandpassage liegt zwischen zwei Gängen des 69jährigen auf die Hinterbühne, wo er die Korken knallen läßt und sich betrinkt: Das Verschwinden in der Dunkelheit wirkt als Dissoziation in einer amorphen Umgebung, als Auflösung der starren /cA-Grenzen im Rausch. Schon der junge Krapp ertränkt seine Leistungsanforderungen im Alkohol - aber für den 69jährigen stellt der Suff die letzte Möglichkeit dar, sein aktuelles Ego zu transzendieren, da ihm ein Sichverlieren in den Erinnerungen nicht mehr möglich ist. Im Gegensatz zu Krapp gelingt es dem Titelhelden von Becketts Romanerstling Murphy, auch ohne Alkohol in seinen 28
»Table and immediately adjactent area in strong white light. Rest of stage in darkness.« (CDW 215).
181
Binnenkosmos einzutauchen. Es ist für Murphy eine »Notwendigkeit«, zwischen verschiedenen intrapsychischen Licht- und (Halb-) Dunkelzonen zu wechseln: » E r war gespalten, ein Teil von ihm verließ nie diese geistige Kammer, die sich selbst als eine Sphäre voller Licht vorstellte, das ins Dunkel überging, weil es keinen Ausweg g a b . « 2 9 Die Ausweglosigkeit liegt in der unabänderlichen Abhängigkeit der »Lichtkammer« von der empirischen Welt begründet, die sie widerspiegelt und nur imaginär umarrangieren kann: »In der ersten (Lichtzone, J . B . ) gab es die Formen mit Parallelen, ein herrlicher Abriß des Hundelebens, die für eine neue Anordnung verfügbaren Elemente physischer Erfahrung. [...] Hier wurde das ganze physische Fiasko zu einem tollen E r f o l g . « 3 0 Um sich in einem Dreischritt durch interne Lichtund (Halb-) Dunkelzonen von den Zwängen der Außenwelt zu befreien, schnallt sich Murphy auf einen Schaukelstuhl und wippt sich in Trance: »Die dritte, die dunkle Zone, bestand aus einer Flut von Formen, einem ständigen Zusammenkommen und Auseinanderfallen von Formen. Das Licht enthielt die fügsamen Elemente einer neuen Vielfältigkeit, die körperliche, wie in Spielzeugteile zerbrochene Welt; das Halbdunkel, Zustände des Friedens. Aber das Dunkel enthielt weder Elemente noch Zustände, sondern nur Formen, aber werdende und zu Fragmenten eines neuen Werdens zerfallende Formen, ohne Liebe oder Haß oder irgendein erkennbares Wandlungsprinzip. Hier gab es nur Aufruhr und die reinen Formen des Aufruhrs. Hier war er nicht frei, sondern ein Stäubchen im Dunkel absoluter Freiheit. Er bewegte sich nicht, er war ein Punkt in dem unaufhörlichen, bedingungslosen Werden und Vergehen der Linien. Gebärmutter des Irrationalen.«·51
Während das Halbdunkel noch von einem Subjekt-Objekt-Gegensatz geprägt ist (»Hier bestand das Vergnügen in der Kontemplation.« 3 2 ) gleicht das erkennende Subjekt im Dunkel unterschiedslos den anderen Gegenständen, die sich ohne »irgendein erkennbares Wandlungsprinzip«
(s.o.),
d.h. unabhängig von Kausalität und Indivdualwillen permanent verändern. In der »Gebärmutter des Irrationalen« ist die Anschauung nicht nur frei von den Zwängen
der Außenwelt
und
körperlicher
Bedürftigkeit,
sondern
transzendiert auch eine leibliche und personale Identität: »Hier war er nicht
29
Beckett, Samuel, Murphy, Hamburg 1959, S. 65.
30
Beckett, Murphy, a.a.O., S. 66.
31
Beckett, Murphy, a.a.O., S. 66f.
32
Beckett, Murphy, a.a.O., S. 66.
182
frei, sondern ein Stäubchen im Dunkel absoluter Freiheit.« (s.o.). Als Punkt im ruhelosen Chaos ist der Anschauende nicht mehr von der Anschauung zu trennen, das Bewußtsein wird zur willenlosen Wahrnehmung - »im Dunkel, in der Willenlosigkeit«33 - oder wie es der Sprecher M in Play nennt: »Mere eye. No mind.« (CDW 317). Diese reine Anschauung ist nicht mehr sinnvoll auf ein Individuum zu beziehen, was der Erzähler in Murphy nicht zu bemerken scheint, denn er spricht anhand der dezentrierten Erfahrungen weiter von Murphy in der männlichen dritten Person. Die Selbstatomisierung wird aus der reflexiven Distanz eines Erzählers beschrieben, der einerseits Einblick in Murphys Desintegration hat und andererseits von dem /cA-Verlust nicht betroffen ist. Der Erzähler steht sowohl als konstantes Aussagesubjekt als auch mit seinen Reflexions- und Systematisierungsversuchen des »Irrationalen« im Widerspruch zur skizzierten apersonalen und akausalen Erfahrungsweise. Obwohl der Erzähler einen rationalen, philosophischen Jargon parodiert und den cartesianischen Geist-Körper-Dualismus anhand der unlösbaren Verbindung der beiden Substanzen problematisiert, bleibt er dennoch dem Denken in den Dichotomien von Geist und Körper sowie Rationalität versus Irrationales verpflichtet.34 Auch das Selbstbild des 39jährigen Krapp ist von dem Schisma gekennzeichnet, das sich zwischen dem beobachtenden Ich (»back here to... {hesitates)... me. {Pause.) Krapp.« s.o.) und einem angedeuteten sprachlosen, amorphen und irrationalen Selbst im Dunkel auftut. In euphorischen Worten 33
Beckett, Murphy, a.a.O., S. 67. Karl Heinz Bohrer beschreibt den Begriff der Willenlosigkeit wie folgt: »Willenlosigkeit meint, daß sich in die Wahrnehmung des Gegenstands keine intentionalen, teleologischen oder psychologischen Akte mehr mischen. In dieser absoluten Präsenz des gegenständlichen Bildes ist denn auch seine Geschichtlichkeit aufgehoben.« Ders., Zeit und Imagination,
in: Huber, Jörg (Hrsg.), Wahrneh-
mung von Gegenwart, Interventionen/Museum für Gestaltung Zürich, Basel/Frankfurt am Main 1992, S. 92. Bohrers kontemplierendes Subjekt kann wie Schopenhauers »Weltauge« (vgl. Kap. 1.2) auf seine leibliche Konstanz vertrauen, derweil es sich der »nicht-ich-geleiteten Vergegenwärtigung« (a.a.O., S. 91) überläßt. In den Stücken nach Krapp 's Last Tape wird die Körperlichkeit der Theaterfiguren aber bis auf den Mund in Not I oder den Schrei der Stimme in Breath reduziert, was die Identitätsfrage radikal zuspitzt - vgl. die einleitende Diskussion in Kap. 4.3. 34
»So fühlte sich Murphy in zwei gespalten, in einen Körper und einen Geist. Sie hatten anscheinend Verkehr, sonst hätte er nicht wissen können, daß sie irgend etwas gemeinsam hatten. Aber er fühlte seinen Geist als etwas Körperdichtes und begriff weder, durch welchen Kanal der Verkehr stattfand noch wie die beiden Erfahrungen sich überlagern konnten.« Beckett, Murphy, a.a.O., S. 64.
183
beschreibt er eine »Vision« am Leuchtturm, die eine versuchte Aneignung des innerpsychischen Dunkels zeigt: »clear to me at last that the dark I have always struggled to keep under is in reality my most - « (CDW 220). Der alte Krapp teilt die Emphase seines Vorgängers unter entgegengesetzten Vorzeichen und spult fluchend weiter - denn der behauptete Überblick über die Gesamtpersönlichkeit (»when suddenly I saw the whole thing.« ebd.) zeigt nichts anderes als eben »the dark«, das bis zum Stückende unbestimmt bleibt. Die scheinbar überzeitliche Erleuchtung »light of the understanding and the fire« (ebd.) ist nur eine weitere behauptete Auditorposition, die nicht das Ganze des Lebens und der Person überblickt, sondern bloß eine Projektion der beschränkten und zeitlich determinierten Individualperspektive darstellt. Das gefeierte »Äquinoktikum« 35 bildet zusammen mit dem Surren des Windrads und der Gischt im Gesicht nur ein intensives Augenblickserlebnis (wie der Tod von Krapps Mutter, s.o.), das der 69jährige in seiner leiblichen Erinnerung nicht mehr nachvollziehen kann. Von dem inneren Feuer bleibt durch Krapps Verlust seiner leiblichen Erinnerung ein Zitat übrig 36 - und das »brennende« Verlangen, zu enden: »burning to be gone.« (CDW 222). Beckett übernahm die Schwarzweißmalerei des 39jährigen Krapp 1969 bei den Proben zu Das letzte Band am Schillertheater in Berlin insofern, als er drei Seiten seines Notizbuchs auf die manichäistische Lichtreligion verwendete. 37 In einer zentralen Theoriepassage überträgt Beckett Licht und 35
Das Äquinoktikum bezeichnet die Tagundnachtgleiche, d.h. den Zeitpunkt im Frühjahr und Herbst, an dem die Sonnenbahn den Himmelsäquator schneidet und für alle Orte auf der Erde Tag und Nacht gleich lang sind: Sonnenaufgang um 6 Uhr, Sonnenuntergang um 18 Uhr. Entgegen diesem prinzipiell ausgeglichenen Verhältnis von Licht und Schatten spielt sich Krapps »Vision« in der Nacht ab: »that memorable night in march« (CDW 220). Die primäre Dunkelheit kann also nur von Krapps »Licht der Erkenntnis« (wie von dem Leuchturmlicht) partiell erhellt werden - was den Begriff Äquinoktikum als einen Euphemismus bzw. Überbewertung des Helligkeitsanteils erscheinen läßt.
36
Das Stück endet mit den Worten vom Band: »Perhaps my best years are gone. When there was a chance of happiness. But I wouldn't want them back. Not with the fire in me now« (CDW 223). Diese Passage folgt den Lichtmetaphern, mit denen der mittlere* Krapp seine >Erleuchtung< beschreibt: »for the fire that set it alight.« (CDW 220).
37
In dem Schiller-Notizbuch listet Beckett unter der Überschrift »XV Mani« Embleme des Lichts und der Dunkelheit in Krapp 's Last Tape auf und notiert manichäistische Glaubensätze sowie Verhaltensweisen: »Man created by Satan. Cain and Abel sons not of Adam but of Satan and Eve. / Ascetic ethics, particularity abstinence from sensual enjoyement, sexual desire, marriage, forbidden (signaculum sinus). / Worshipper turned towards sun, or moon, or north (seat of light) >da oben an der Ostseesein Lebenslauf< als ein Vorrat von diskreten Speichersegmenten. Die Diskrepanz zwischen willent-
39
Knowlson, James, The Theatrical Notebooks of Samuel Beckett, a.a.O., Anmerkung S. xxii. In den Anmerkungen zur revidierten Textfassung der Schillertheaterinszenierung zitiert Knowlson Beckett wörtlich: »>I'm afraid I overstated (in the production notebook) the Manichaen analogy.< (Note to James Knowlson, 8. September 1986)«. A.a.O., (Anmerkung 174) S. 32. Ein Beispiel für die Übernahme des Manichäismus als Deutungsmuster in der Sekundärliteratur gibt das Buch Condemned to life von Alice und Kenneth Hamilton, in dem die Autoren schreiben: »But Manichean dualism, being religious, makes contact, as Cartesianism does not, with Beckett's convictions about the sinfulness of bodily existence.« (a.a.O., Grand Rapids 1976, S. 52) Becketts Überzeugungen sind anhand seiner Werke nicht eindeutig zu erschließen. In Krapp's
last
tape steht dem lebenslangen Kampf gegen körperliche Begierden die leibliche Erinnerung gegenüber, die auf einem emphatischen Körperverständnis und nicht auf dem christlich-gnostischen Leib-Seele-Dualismus beruht.
186
lichen Erinnerungsversuchen und dem synästhetischen Körpergedächtnis führt den alten Mann als reaktiven Schnittpunkt eigendynamischer Regelkreise vor. Indem Krapp seine überhebliche Auditorhaltung während der letzten Aufnahme revidiert, ergibt er sich seiner Rolle als bloßer Operator des autobiographischen Automatismus. Das höchste gegenwärtige Glück, das der 69jährige erreichen kann, besteht darin, zum Resonanzkörper der leiblichen Erinnerung zu werden. Je reizärmer sein Alltag ist, desto stärker wird die Sehnsucht nach den Sensationen der Vergangenheit — die er jedoch vergeblich zu revozieren versucht. Das Bewegtwerden durch die Erinnerung entzieht sich dem Einfluß der dramatis personae genauso wie das Erlöstwerden in En attendant Godot, das Gespieltwerden in Fin de partie und - wie zu zeigen ist - das Begehrtwerden in Happy Days (1961). Einerseits erleiden die Figuren ohnmächtig ihren Objektstatus und versuchen, der Fremdbestimmung in unbeeinflußbaren Prozessen zu entfliehen. Andererseits neigen sie zur Unterordnung unter die vorgegebenen Spielregeln, denn die Abhängigkeit kommt ihrem Erinnerungsvoyeurismus, der Erlösungshoffnung und ihrem Selbstdarstellungsbedürfnis entgegen. Während sich die Bühnenpaare Didi und Gogo, Hamm und Clov etc. das determinierte Dasein mit gemeinsamen Konversationsund Clownsnummern vertreiben, ist Winnie in Happy Days auf Erzählungen und einen Sack angewiesen ist, um sich die Zeit zu vertreiben. Das Stück kehrt nur eingeschränkt zur Paardynamik der ersten beiden Dramen zurück, obwohl Winnie den Hügel zusammen mit »ihrem Willie« bewohnt. 40 Die Protagonistin führt mit wenigen Unterbrechungen einen Monolog auf, für dessen Fortkommen der Sack als Stichwortgeber ebenso wichtig ist wie ihr maulfauler Ehemann. Obwohl Winnie fast permanent redet und (im ersten Akt) hektisch herumhantiert, stellt sie kein handelndes Subjekt dar, sondern gleicht mehr als alle genannten Theaterfiguren einem Objekt, dessen Verhalten weitgehend von Bedingungen abhängig ist, die sich einem Individualwillen entziehen. Wie zu zeigen ist, stilisiert sich Becketts erste Heroine als Handlungsträgerin, obwohl sie in der szenischen Anordnung gefangen ist und das Wahr-
40
Bei der Inventur ihrer Glieder und Besitztümer zu Beginn des II. Aktes sagt Winnie: What arms? (Pause.) What breasts? (Pause.) Willie. (Pause.) What Willie? [Sudden vehement affirmation.) My Willie!« (CDW 161). Willie wird im Englischen umgangssprachlich auch als Synonym für das männliche Glied verwendet, was den Ehemann als körperliches Anhängsel und (ehemaliges) Lustobjekt Winnies erscheinen läßt.
187
genommenwerden zu ihrer Selbstidentifizierung benötigt. Um Winnies Objektstatus zu belegen, wird zunächst ihr Verhältnis zur Dingwelt, d.h. zum Sack, ihrem Kunstkörper und dem szenischen Ambiente erläutert. Danach können die Aspekte des Wahrgenommenwerdens
zusammenfassend
vor
dem Hintergrund der Identitätsproblematik gedeutet werden.
4.2.1 Das Eigenleben der Dinge Der S a c k wirkt zunächst als überdimensionierte Handtasche, die scheinbar Alltägliches für Winnies Schönheitspflege enthält. Aber schon die Zahnbürste ist ein ungewöhnliches Requisit für den öffentlichen Auftritt einer perlenbehängten Dame, die auf Manieren und Bildung achtet. Obwohl Winnie obdachlos in einer (bis auf Willie) menschenleeren, »versengten Grasebene« lebt, ist der Platz öffentlich, da sie in beiden Akten das Gefühl hat, permanent wahrgenommen zu werden: » S o m e o n e is looking at me still.« ( C D W 161). Der Erdhügel ist ihr Zuhause und der Sack birgt Winnies ganzen Besitzstand, d.h. die angehäuften Sedimente ihrer Vergangenheit, die im Gegensatz
zu Krapps
Annalen
nicht
chronologisch,
sondern
räumlich
>geordnet< sind. Winnie findet im Sack die gesuchten Dinge - die damit verbundenen Erinnerungen stellen sich aber nur zufällig, zusammenhangslos und bruchstückhaft ein und müssen vom Zuhörer selbst datiert werden. Die Objekte helfen Winnie trotzdem durch den Tag, denn als ihr Monolog zu verlöschen droht, zieht sie wie eine Lottofee mit geschlossenen Augen einen neuen Stichwortgeber aus dem S a c k : Zum zweiten Mal hält sie den Revolver in Händen, der immer oben im S a c k liegt, statt von seinem Gewicht bzw. der Schwerkraft hinabgezogen zu werden: 4 1 »Is gravity what it was, Willie, I fancy not.« ( C D W 151). Der S a c k wirkt als unberechenbare Wundertüte, denn sein Inhalt erscheint und verschwindet nach eigenen Gesetzen - selbst die täglich gebrauchte Zahnbürste offenbart unvermittelt die Aufschrift »Barchborsten«, die für Winnie bis dahin anwesend abwesend war.
41
»Perhaps one quick dip. (She turns back front, closes eyes, throws out left arm, plunges hand in bag and brings out revolver. Disgusted.) You again! (She opens eyes, brings revolver front and contemplates it. She weighs it in her palm.) You'd think the weight of this thing would bring it down among the... last rounds. But no. It doesn't. Ever upmost, like Browning.« (CDW 151) An dieser Stelle folgen die Erinnerungen an Willies frühere Selbstmordwünsche, die der Revolver in Winnie auslöst (vgl. Anm. 69).
188
Winnie geht soweit, den Dingen ein geheimes Leben zu unterstellen, das keinen verbindlichen (Natur-) Gesetzen gehorcht: »Ah yes things have their life, that is what I always say, things have a life.« (CDW 162). Die Objekte scheinen autonom zu sein, während Winnie von ihnen abhängig ist, wenn ihre Logorrhöe ins Stocken gerät: »Take my looking-glass, it doesn't need me.« (ebd.). Als ihr Sonnenschirm plötzlich Feuer fängt, sieht Winnie darin ein Menetekel, d.h. sie deutet den Vorgang nicht als kausale Verknüpfung von (Natur-) Gesetzen, sondern als freie Entscheidung eines Subjekts (»spontaneous like« CDW 154). Sie beschwört den Geist der schöpferischen und zerstörenden Dingwelt (»Ah earth you old extinguisher.« CDW 153), um deren numinoses Bewußtsein gnädig zu stimmen - und sich zu schützen: »The bell. {Pause.) It hurts like a knife.« (CDW 162). Daß der abgebrannte Sonnenschirm und der zerbrochene Spiegel am nächsten »Tag« wieder intakt an ihrem vertrauten Platz sein werden, bildet den Höhepunkt des Theaterzaubers.42 Die behauptete Reversibilität der Ereignisse hebt die Kausalität auf, der zufolge die Dinge durch ihre Abnutzung im Gebrauch bzw. durch den Verbrauch der Zahnpasta und Medizin den linearen Zeitverlauf festhalten müßten. Die Zeit scheint in Happy Days nicht nur reversibel zu sein, sondern auch stillzustehen, denn Winnie ist in der Glut eines ewigen Mittags gefangen, die ihren Worten zufolge nur von einer ewigen Nacht abgelöst werden könnte: »It might be the eternal dark. (Pause.) Black night without end.« (CDW 166). Das perennierende Licht scheint ein Leben lang, während die ewige Nacht zum Todessymbol wird. Der »alte Stil«, den Winnie fortwährend beschwöhrt, steht für eine Zeitrechnung in Tagen, die angesichts der unveränderlich brennenden Beleuchtung antiquiert wirkt: »[...] at the end of the day. (Smile.) To speak in the old style.« (CDW 146). Im endlosen Mittag von Happy Days kann Winnie die Zeit nicht am Stand der Sonne messen, sondern muß den >Tagesverlauf< anhand der Anzahl ausgepackter Dinge erschließen. Um ihren >Zeitanzeiger< wieder auf Null zu stellen, räumt sie ihre Sachen vor dem >Abendklingeln< in den Sack zurück. In demselben Zeitsegment darf sie aber ihre Objekte nicht erneut hervorholen, weil sonst ihre Eigenzeitrechnung durcheinanderkäme: »I say I used to think - that all these things - put back into the bag 42
»The sunshade will be there again tomorrow, beside me on this mound, to help me through the day. (Pause. She takes up mirror.) I take up this little glass, I shiver it on a stone - (does so) - I throw it away - (does so far behind her) - it will be in the bag tomorrow, without a scratch to help me through the day.« (CDW 154).
189
if too soon - put back to soon - could be taken out again - if necessary - if needed - and so on - indefinitely - back into the bag - back out of the bag until the bell - went. (Stops tidying, head up. smile.) But no.« (CDW 157). Winnie weist der Lichtquelle ohne irdischen Tag- und Nachtwechsel mit gleicher Überzeugung wahlweise einen höllischen (»blaze of hellish light«, CDW 140) und einen himmlischen Ursprung zu: »Hail, holy light.« (CDW 160). Das »heilige Licht« zitiert die erste Zeile aus dem dritten Buch von John Miltons Paradise Lost: »Hail, holy light, offspring of heav'n firstborn / Or of th< Eternal co-eternal beam«. 43 Winnies Vergeßlichkeit läßt von »ihren Klassikern« nur bruchstückhafte Spruchweisheiten übrig, die nicht nur von der Sprache, sondern auch vom kausalen Denken und der Zeitrechnung her einem »alten Stil« zugehören: »One loses one's classics. (Pause.) Oh not all. {Pause.) A part. (Pause.) A part remains.« (CDW 164). In Happy Days scheinen die Naturgesetze genauso zu zerfallen wie Winnies einstige Bildung - nur die Dinge bleiben vermeintlich vom Verfall verschont. Da die wundersame Wiederherstellung von Sonnenschirm und Spiegel nur behauptet, aber nicht szenisch vorgeführt wird, ist zu prüfen, ob die Reversibilität nur Winnies Wahrnehmung bzw. Bewußtsein entspringt. Zunächst fällt ihre Gedächtnisschwäche auf, denn nachdem der Schirm Feuer gefangen hat, sagt sie: »I presume this has occured before, though I cannot recall it.« (CDW 153). Die diffuse Erinnerung steigert sich im zweiten Akt zur zeitlichen Orientierungslosigkeit, welche die Kausalität der (erzählten) Ereignisse in Happy Days aufhebt: »Then... now... what difficulties here, for the mind.« (CDW 161). Winnies Koordinationsprobleme gehen mit einer allgemeinen Konfusion ihres Denkens einher: Ihre eklektizistische Privatphilosophie besteht aus Resten des »jugendlichen Irrglaubens« an die Naturgesetze, dem Kategorien der christlichen Schöpfungsmythologie und ein radikaler Subjektivismus unvermittelt gegenüberstehen: »Ah well, natural laws, natural laws, I suppose it's like everything else, it all depends on the creature you happen to be. All I can say is for my part is that for me they are not what they were when I was young and... foolish« (CDW 152). Winnies Aussage ist ein Widerspruch in sich selbst, denn wenn sie sich als Kreatur Gottes versteht, müßte sie an eine allgemeingültige Heilsgeschichte glauben - die ihr skeptischer Subjektivismus jedoch implizit dementiert. Die christ43
Dieses und Winnies andere Klassikerzitate hat Beckett in seinem Produktionsnotizbuch aufgelistet, vgl. Knowlson, James, Happy Days - The Production Beckett, London 1985, S. 61 und 147.
190
Notebook
of Samuel
liehe Weltordnung steht auf dem Kopf, denn nicht die immaterielle SeeleWüsteUnterwelt< wird nicht nur durch die Analogie zum Inferno nahegelegt. Auch das erzählte Vorhaben des Shower/Cooker-Manns, ihren Unterleib auszugraben, erzeugt beim Rezipienten die Vorstellung, daß sie ihre Beine noch besitzt: »Does she feel her legs? he says. {Pause.) Is there any life in her legs? he says.« (CDW 165). Zweitens läßt sich das Bühnenbild als Zeichen der Verdammnis einer christlichen Seele in die Welt der Materie deuten - einem Gefängnis, dem Winnie am liebsten in den Himmel entschweben würde.50 In Becketts Inszenierung von Happy Days 1971 am Berliner Schillertheater beschrieb er Winnie als »creature of the air, opposed to Willie, who belongs to the earth.«51 48
Vgl. Dante, Die Göttliche Komödie, Das Hohelied von Sünde und Erlösung, Heidelberg 1952, Inferno XXXIV. Gesang 29ff„ S. 153.
49
Wie in Dantes Inferno bleibt allen Lebenden (außer dem Erzähler) der Zugang zur Unterwelt verwehrt. Der Zuschauer von Happy Days kann die Existenz von Winnies unteren Gliedmaßen aufgrund des Bühnenbilds und ihrer Erzählungen nur vermuten.
50
»Yes the feeling more and more that if I were not held - (gesture) - in this way, I would simply float up into the blue. (Pause.) And that perhaps some day the earth will yield and let me go [...].« (CDW 151).
51
Knowlson, James, Happy Days - The Production Notebook of Samuel Beckett, a.a.O., S. 127. Wörtlich sagte Beckett zu Frau Schulz, der Souffleuse der Schillertheaterpro-
193
Die dritte Deutungsmöglichkeit besteht darin, daß Winnie als beinamputierter Torso mit dem Erdhügel und der Grasebene eine widerstreitende leibliche Einheit bildet. 52 Nach dem Vorbild des »Nec tecum nec sine te« (vgl. Kap. 1.5, Anm. 95) weist besonders die szenische Anordnung im zweiten Akt auf eine Entfremdung zwischen Winnies Kopf als Sitz des Bewußtseins und ihrem >Kunstkörper< hin. Winnie wirkt um so mehr als Hybridwesen, weil der Hügel keine unbelebte Natur darstellt, sondern wie die gesamte Dingwelt in Happy Days ein Bewußtsein oder zumindest eine eigene Vitalität besitzt: Winnie streichelt die Erde, als ob sie ein lebendiges Wesen berühre bzw. die Schmerzen in ihrem Kunstkörper lindern wolle - denn der Boden dehnt sich ihren Worten zufolge aus: »(Starts to pat and stroke ground.) All things expanding, some more than others.« (CDW 149). Das Tätscheln hält erst inne, als Winnie eine »lebende Emse« entdeckt, die weiße Eier in den Hügel trägt. Die »Emse« entstammt dem Wortschatz der Göttlichen Komödie und ist dort der Ausgangspunkt allen neuen Lebens, nachdem die »alten Griechenstämme« von Seuchen ausgerottet wurden. 53 In Happy Days ist die Emse Winnies einziger Besuch und wird zugleich zum Bestandteil ihres Leibes, wie Willies Wortspiel »Formication« (CDW 150) nahelegt: Die Wortschöpfung setzt sich aus der Bezeichnung für Ameisensäure (engl.: formic) und für außerehelichen Geschlechtsverkehr (engl.: fornication) zusammen. Winnie brütet den tierischen Nachwuchs als Leihmutter aus und nivelliert mit der unehelichen Emsenbrut in ihrem Kunstkörper die Grenzen zwischen Mensch, Tier und Dingwelt. 54 duktion: »Winnie has something bird-like about her, something that belongs to the air. She is weightless.« (ebd. S. 136). »Beckett described Winnie to Marta Fehsenfeld as >a bird with oil on his feathersMitspielern< nivelliert die Grenzen zwischen Mensch und Dingwelt. Der Sack scheint als Winnies Ansprechpartner, eigengesetzlicher Stichwortgeber und als Zufallsgenerator unvorhersehbarer Ereignisse Subjekt-
194
Der Erdhügel vereinigt nicht nur Winnie und die Emse, sondern auch die Eheleute in einem gemeinsamen Leib: Nach dem kurzen Erscheinen seines Hinterkopfs zieht sich Willie in seine Höhle zurück, d.h. seine Gestalt verschwindet, während seine Stimme ab und zu aus dem Hügel ertönt. Als janusköpfiges Mischwesen oder Kunstkörper mit zwei Stimmen führt das Ehepaar eine neue Variante der grotesken Gestalten vor, die schon Dan Rooney anhand von Dantes Inferno heraufbeschwor.55 Winnie paraphrasiert die Bibel, um ihre Situation Hintern an Hintern (wenn sie einen hat) mit Willie in demselben Hügel zu beschreiben: »Oh I know it does not follow when two are gathered together - (faltering) - in this way - (normal) - that because one sees the other the other sees the one« (CDW149). In der Lutherbibel lautet die Passage aus dem Matthäus-Evangelium (Kapitel 18, 20) wie folgt: »Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.« Winnie und Willie sind zwar als Ehepaar im Namen Gottes vereinigt, aber Winnie wird von ihrem angenommenen Beobachter weder aus ihrem schmerzenden Kunstkörper noch von der Ehehölle erlöst: Während die abwesende Anwesenheit Gottes ein Wahrgenommenwerden der Gläubigen garantiert, zeugt Willies anwesende Abwesenheit von Apathie und Ignoranz. Das Mysterium der Ehe, von dem das MatthäusEvangelium im 19. Kapitel sagt, »So sind sie nun nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch.«, erweist sich in Happy Days als Martyrium: Als gemeinsamer Leib (bis kurz vor Ende des Stücks) kontrastiert der Hügel die physische Nähe des Ehepaars mit ihrer psychischen Distanz. Die weitgehend unbewegliche Stellung der Eheleute Hintern an Hintern schließt ihr gegenseitiges »Erkennen« in der geschlechtlichen Bedeutung aus, wie sie die Bibel verwendet56 - und erlaubt ihren Augenkontakt nur, wenn sich Winnie den Hals verrenkt: »Crick in my neck admiring you.« status zu besitzen, der von Willies rudimentären Bewußtseinsäußerungen allenfalls durch dessen Sprachgebrauch übertroffen wird. Am Ende des II. Akts fragt Winnie, »Have you gone off your head, Willie? (Pause. Dito.) Out of your pour old wits, Willie?« (CDW 167), nachdem sie ihren Mann am Ende des ersten Akts als »Kriecher« mit einem Tier gleichsetzte: »Not the crawler you were, poor darling.« (CDW 158). 55
Zur Erinnerung nochmals die Anspielung auf die höllischen Kunstkörper in All That Fall·. »Or you forwards and I backwards. The perfect pair. Like Dante's damned, with their faces arsy-versy. Our tears will water our bottoms.« (CDW 191, vgl. Kap. 3.2).
56
Ober den ersten Geschlechtsverkehr von Adam und Eva heißt es im ersten Buch Mose (4, Iff.): »Und Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mit Hilfe des HERRN.«
195
(CDW 158). Im Folgenden soll der Zusammenhang von Wahrnehmen und Begehren untersucht werden, um Winnies Identitätsproblematik genauer bestimmen zu können.
4.2.2 Identität des Begehrtwerdens Zu Beginn des zweiten Akts kann sich Winnie nicht mehr nach Willie umschauen, da sie ihren Kopf, der allein noch dem Hügel entragt, nicht mehr zu drehen vermag. Der zweite Körperausschnitt in Happy Days bedeutet also nicht nur eine Reduktion ihrer Gestalt für andere, sondern eine entscheidende Verengung ihrer eigenen Perspektive. Auch Winnies Unterhaltungsmöglichkeiten sind im Vergleich zum ersten Akt weitgehend beschränkt: Willie scheidet bis zum Ende des zweiten Akts als (maulfauler) Dialogpartner aus, und ohne das Zutun ihrer Gliedmaßen bleibt auch Winnies Sack als Stichwortgeber stumm. Das Beten kann keinen Trost mehr spenden, denn das religiöse Ritual ist offensichtlich auf die gefalteten Hände und die Abkehr von der Außenwahmehmung angewiesen.57 Aber sobald Winnie ihre Augen schließt, holt sie die Klingel in eine endlose Gegenwart zurück. Sie ist dem akustischen Stimulus wehrlos ausgeliefert, denn ohne Hände kann sie sich weder die Ohren zuhalten noch ihre zwangsweise geöffneten Augen bedecken. Im zweiten Akt reagiert Winnie schon beim ersten von vier Klingelzeichen so schnell, als hätte sie nicht geträumt, sondern nur kurz die Lider gesenkt. Die Klingel raubt ihr die »wunderbare Gabe« des Schlafs, den Schopenhauer die »verbreitetste Form partieller Weltverneinung« nennt.58 Eine Introversion ist auch deshalb unmöglich, weil sich die akustische Folter mit Schreien in Winnies Kopf fortsetzt: Die Stimmenhalluzinationen
57
Winnie weist angesichts der Kürze des zweiten Akts erstaunlich ausführlich auf den Unterschied zum ersten Akt hin, der mit ihrem Morgengebet begann: »I used to pray. (Pause)
I say I used to pray. (Pause.)
Yes I must confess I did. (Smile.) Not now.
(Smile.) No no. (Smile o f f . Pause.)« (CDW 161). 58
»der glücklichste Augenblick des Glücklichen ist doch der seines Einschlafens wie der unglücklichste des Unglücklichen der seines Erwachens.« Schopenhauer, Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung,
in: Sämtliche Werke, Bd. 1, Frankfurt am Main 1986,
S. 740. Winnie kann dem Hohelied auf den Schlaf nur bedingt beipflichten, denn er beraubt sie ihres Auditors, weshalb sie ihn nach den folgenden Sätzen weckt: »poor dear Willie - (lays down case) - sleep for ever - (opens spectacles) (puts on spectacles)
196
- nothing to touch it« (CDW 139).
- marvellous gift -
reißen sie nicht nur aus ihren sentimentalen Erinnerungen, 59 sondern mischen sich auch in ihre Erzählung von »Milly and the dolly« - und lassen Winnie zwischen agierter Erzählhandlung und aktueller Qual aufschreien. Wenn man das Klingeln wie Horst Breuer als Werk eines »sadistischen Versuchsleiters« versteht, der mit den Figuren Lernexperimente durchführt, verlagert man die Funktion eines handlungsmächtigen Subjekts nur auf die Meta-Ebene eines transzendenten Ideal -Ichs oder »pervertierten christlichen Gottes«. 60 Trotz des Klingeins nennt Winnie alle Geräusche eine »Wohltat«, denn sie gehören zu den letzten Ablenkungen in ihrem minimierten Handlungsspielraum: »sounds are a boon, they help me... through the day« (CDW 162). Ihre Folter liegt weniger im Klingeln und Schreien als in der völligen Fokussierung auf die Selbstwahrnehmung: Auch Winnies Schlafentzug kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie angesichts der immer gleichen Grasebene nicht an Reizüberflutung, sondern an radikalem Reizentzug leidet. 61 Aufgrund der Isolationsfolter ist Winnie ihren angsterfüllten Vorstellungen ausgeliefert, die von einer imaginären Geräuschkulisse des Berstens und Auseinanderfallens begleitet werden. 62 Die assoziierte Auflösung ist für den
59
»The pink fizz. (Pause.) The flute glasses. (Pause.) The last guest gone. (Pause.) The last bumper with the bodies nearly touching. (Pause.) The look. (Long pause.) day? (Longpause)
60
What look? (Longpause)
What
I hear cries.« (CDW 166).
Breuer, Horst, Samuel Beckett, Lernpsychologie
und leibliche Determination,
München
1972, S. 107ff. Die Instanz eines außenstehenden Beobachters wird in der BeckettRezeption häufig transzendental gedeutet: Henner Laas nennt den Beobachter »[...] die dem Stück transzendente Instanz eines Augenzeugen, der das Geschehen sieht und seine Wirklichkeit verbürgt.« Laas, Henner und Schröder, Wolfgang, Samuel
Beckett,
München 1984, S. 48. Oliver Sturm schreibt: »Sicherlich wird der analytisch geschulte Blick in der Dramaturgie dieser Stücke immer auch die steuernde Instanz eines »epischen Ich« entdecken, die Abhängigkeit der szenischen Vorgänge vom Imaginierenden, Außenstehenden oder »Erträumer«, wie er in Gesellschaft heißt.« Sturm, Oliver, Tritte - Episierung des Dramas, in: Engelhardt, Hartmut, Samuel Beckett, a.a.O., S. 142. Vgl. meine Rezension von Sturm, Oliver: Der letzte Satz der letzten Seite zum letzten Mal·, der alte Beckett, Hamburg 1994, in: Forum Modernes Theater 2/95. 61
Winnie wartet zwar auf das Klingelzeichen zum Schlafen, aber dieses Signal erweckt angesichts der fast versunkenen Figur die Assoziation einer Totenglocke, die Winnie zwingt, ihre Augen für immer zu schließen: »Then you may close your eyes, then you must close your eyes.« (CDW 165, kursiv i.O.).
62
»Yes those are happy days, when there are sounds. [...] I say I used to think they were in my head. (Smile.) But no. (Smile broader.) No no. (Smile off.) That was just logic. (Pause) Reason. (Pause.) I have not lost my reason. (Pause.) Not yet. (Pause.) Not all.
197
Rezipienten nicht wahrzunehmen, es sei denn, er deutet Winnies Parforcejagd durch Satzfragmente und angerissene Themenwiederholungen des ersten Akts als Zeichen ihrer mentalen Desintegration. Atemlos inventarisiert Winnie die verfügbaren, d.h. noch ansprechbaren Objekte und residualen Selbstidentifizierungsmuster. Da eine Ordnung der eigengesetzlichen Dinge nicht zu fixieren ist, versucht sie, eine Ordnung der Begriffe aufzustellen - aber das Unterfangen ist schon im ersten Akt zum Scheitern verurteilt: »Words fail, there are times when even they fail.« (CDW 147). Die Aussage ist doppelsinnig, denn »fail« meint neben dem Ausbleiben der Worte auch das Versagen ihrer Repräsentationsfunktion. 63 Zudem ist die sprachliche Ordnung ihrer Erinnerungen und Gedanken zweifelhaft (vgl. Anm. 63), so daß Winnie eine skeptische Bilanz zieht: »And no truth in it anywhere.« (CDW 161). Die Absage an jeden Wahrheitsanspruch steht als Quintessenz am Ende einer Meditation über ihre biographische Identität, die Winnie vor gravierende Erkenntnisprobleme stellt: »Then... now... what difficulties here, for the mind. (Pause.) - to have been always what I am and so changed from what I was.« (ebd.). Obwohl Winnie ihre (kontinuierliche) Veränderung unter dem Einfluß der Zeit nicht leugnet, behauptet sie einen Stillstand im Wandel, um ein statisches Selbstbild zu wahren. Statt zur erhofften Seinsgewißheit führt dieser Widerspruch aber geradewegs in Zenons Paradoxien (s.u.) und wird deshalb von Winnie nicht weitergeführt. Im nächsten Satz geht sie von den Seinsbegriffen zur rein sprachlichen Bindung zwischen einem Aussagesubjekt und seinen Objekten über: »I am the one, I say the one, then the other.« (ebd.). Am Ende der Selbstsuche bleibt nur eine Erzählerrolle bezüglich der entfremdeten TeilIchs übrig, die keine personale Einheit mehr verbürgen kann. Daher gibt Winnie den Anspruch einer /cA-Identität endgültig auf und geht im folgenden Satz von der ersten Person Singular zum neutralen Pronomen »man« über — das als Platzhalter für die gesamte menschliche Gattung steht: »There is so little one can say, one says it all.« (ebd.). (Pause.)
Some remains. (Pause.) Sounds. (Pause)
Like little sunderings, little falls...
apart.« (CDW 162). 63
Winnie versucht, sich an die Zeit zu erinnern, »when I was not yet caught - in this way - and had my legs and had the use of my legs,« (CDW 154), aber die Erzählungen aus der Vergangenheit sind bloß leere Worte: »and they are all empty words.« (ebd.). Erfahrungen sind nur dann sprachlich plausibel zu vermitteln, wenn sie leibhaftig nachzuvollziehen sind - weshalb das Gerede vom früherem Gebrauch ihrer Beine, Winnie aktuell nichts mehr sagt, bzw. leere Rede bleibt.
198
Wie im Satzkommentar angedeutet, weisen Winnies Reflexionsversuche auf Zenons Zeit- und Bewegungsparadoxien hin, die sie wenig später unvermittelt paraphrasiert: »Winnie, you are changeless, there is never any difference between one fraction of a second and the next.« (CDW 165). Zenons Paradoxien über Identität und Wandel bzw. Einheit und Vielheit machten schon Hamm in Fin de partie bei seinen Selbsterkenntnisversuchen zu schaffen. Winnie überträgt Zenons Paradoxie des ruhelosen Stillstands (Kap. 2.2, Anm. 51) auf das menschliche Bewußtsein, um den scheinbaren Widerspruch einer Identität im Wandel zu erfassen. Der Stillstand in den Sekundenbruchteilen sprengt jedoch die behauptete Konstanz ihrer Person in eine Vielzahl temporärer und zusammenhangsloser TeiU/cfe, die einander so übergangslos folgen wie die Geschichten und Handlungen in Happy Days.64 Während Winnie vom Stillstand im Wandel philosophiert, wird sie von ihrer Hyperaktivität Lügen gestraft: Sie kann die temporäre Rumpfidentität nur aufrechterhalten, indem sie sich mit permanentem Reden und Hantieren vor dem Verschwinden ins Schweigen bzw. vor ihrem Verschmelzen mit der Landschaft schützt: »the bell goes, and little or nothing said, little or nothing done. (Raising parasol.) That is the danger.« (CDW 152). Winnies Inventarisierung der noch ansprechbaren Objekte und Selbstidentifizierungsmuster wird im zweiten Akt zugleich zu deren Falsifikation: Alles was gesagt wird, dementiert sich entweder selbst oder verfällt sogleich Winnies Skepsis. Die Substraktion vertrauter Selbst- und Weltbilder nimmt zwar Motive aus Becketts früheren Stücken auf, aber der (Selbst-) Erkenntniszweifel wird in Happy Days weiter getrieben als zuvor: Winnie überschreitet die Grenze eines zentripetalen Fürsichseins. Sie zergliedert ihre Subjektivität soweit, daß die Bruchstücke von keinem halbwegs kohärenten Selbstbild oder Selbstgefühl mehr zusammengehalten werden. Aufgrund
64
In seinem Regienotizbuch für die Produktion von Happy Days 1979 am Royal Court Theatre London hielt Beckett Winnies Selbstunterbrechungen akribisch fest, um sie als Drehpunkte der Diktion, Stimmlage und des Sprechrhythmus mit der Schauspielerin Billie Whitelaw herauszuarbeiten. Beckett sagte über Winnies >stop-and-gopermanenten Ausnahmezustand< zu konservieren, profanisiert sie das Wahrgenommenwerden als einen Identitätsfaktor der mystischen Ekstase: Winnie kann ihre Bewußtseinsfragmente weder wie Schopenhauer in einen metaphysischen Kontext einordnen noch als körperliche Ekstase genießen. Da sie weder auf die seelische Einheit des Mystikers noch auf die leibliche Identität des ästhetisch Imaginierenden vertraut, wird der angenommene Beobachter zum letzten Kontinuum in ihrer lustlosen >DauerEkstasec »Strange? (Pause.) No, here all is strange.« (CDW 155).88
86
Bohrer, Zeit und Imagination, a.a.O., S. 100.
87
Bohrer, Zeit und Imagination, a.a.O., S. 94.
88
Von >Dauer-Ekstase< kann insofern gesprochen werden, als sich Winnie permanent außerhalb eines kontinuierlichen Zeitverlaufs vorstellt - ohne den Widerspruch eines
211
Obwohl der angenommene Beobachter keiner Glaubens- oder Erkenntnissicherheit, sondern Winnies ästhetischer Imagination entspringt, verbürgt sein identifizierender Blick scheinbar ihre (nicht notwendig individuelle, sondern gattungstypische) psychische und physische Disposition. Mit dem Perspektivenwechsel vom Für-sich zum Für-andere versucht sich Winnie gegen die Selbstzweifel der /cA-losen Anschaungsform jenseits von Zeit, Raum und Kausalität zu schützten - aber sie verdinglicht sich zugleich und beraubt sich ihrer Verwandlungsmöglichkeiten. 89 Bohrer beschwört Winnies Augenblicksbewußtsein, aber ihr glücklicher Gesichtsausdruck am Ende des zweiten Akts wird von Willies Wort »Win« ausgelöst und führt statt der gegenwärtigen Ekstase eine Erinnerung an die weltanschauliche Geborgenheit des »alten Stils« und die Liebesklischees aus der »Lustigen Witwe« vor. Bohrer kritisiert zu Recht die »psychologische Naturalistik« in der Figurendeutung, 90 aber Winnie hält selbst an konventionellen Geschlechterrollen fest: Das Phantasma der unvergänglichen Liebe bzw. des empathischen Blicks bilden die residualen Ich-Prothesen inmitten ihrer psychischen und physischen Desintegration. Das »Glück eines ewig ungeheuerlich Gleichen«, das Bohrer in der Schußszene realisiert sieht, entspringt Winnies stereotypen Zitaten aus ihrem Vorrat an Konversationsphrasen und Spruchweisheiten: 91 Am Ende des zweiten Akts ist weder ihre Rede über den glücklichen Tag noch die Spieldosenmusik neu, nur der Gesang wirkt als spontaner Ausdruck ihres Empfindens. 92 Das Walzerrfi/eii aus der Lustigen Stillstands im Wandel zu lösen. Das ekstatische Zeitbewußtsein wird vom stroboskopisch flackernden Körperbild Winnies in der intermittierenden Apperzeption des angenommenen Beobachters ergänzt, das auch die räumliche Kontinuität zersplittert. Der Beobachter erscheint jedoch unveränderlich, so daß die Ekstase auf Dauer gestellt ist und deshalb ihren rauschartigen, »emphatischen« Ereignischarakter verliert. 89
Jean-Paul Sartre beschreibt die Festlegung auf einen status quo durch den Blick des anderem: »Ich erfasse den Blick des anderen gerade innerhalb meiner Handlung als Verhärtung und Entfremdung meiner Möglichkeiten.« Ders., Das Sein und Das
Nichts,
Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbeck bei Hamburg, 1993, S.474. 90
»Happy Days etwa als Entlarvung banal gewordener Ehebeziehungen zu verstehen, hieße in die Falle der naturalistischen Kopie laufen, die Beckett von Beginn an ausschloß.« Bohrer, Zeit und Imagination,
91
a.a.O., S. 90.
»>Happy DaysHappy Days are here again*.« Knowlson, James, Happy Days - The
Production
Notebook of Samuel Beckett, London 1985, S. 140. 92
Im ersten Akt von Happy Days hält Winnie einen Vortrag über den Gesang als unmittelbaren Ausdruck ihres innersten Gefühls, das sie nicht willkürlich zur Erbauung
212
Witwe ist um so bemerkenswerter, weil es von Winnie allein gesungen wird - und weil der Liedtext die Leibthematik als mise en abyme in sich birgt:93 »Though I say not / What I may not / Let you hear, / Yet the swaying / Dance is saying / Love me dear! / Every touch of fingers / Tells me what I know, / Says for you, / It's true, it's true, / You love me so!« (CDW 168)
Winnies Gesang bildet die Schlußworte und zugleich die Bilanz des Stücks, denn die Bühnenfiguren können ihre Gefühle sprachlich ebenso wenig vermitteln wie das tanzende Liebespaar in der Lustigen Witwe: Willies einziges Wort »Win« gleicht frühkindlichen Sprechversuchen und ist von einem subtilen Austausch verbaler Liebesbotschaften weit entfernt. Im Liedtext wird der Wechsel von unzulänglichen und/oder unaussprechbaren Worten zu einer dialogischen Körperkommunikation beschrieben: Während das aussagende Ich die Sprache der Liebe durch das Schwingen im Walzerrhythmus vermittelt, antwortet der Tanzpartner mit Tastsignalen. Die Intimität und Beweglichkeit des beschriebenen Tanzes kontrastiert die vorangegangenen, erfolglosen Annäherungsversuche Willies auf Winnies abweisendem Kunstkörper. Seine frühkindlichen Kriechbewegungen scheitern nicht nur am aufrechten Gang, sondern schon an der leichten Steigung des Hügels. Willie wirkt daher in seiner Motorik fast so beschränkt wie seine Frau - die bei
anderer oder ihrer selbst reproduzieren kann: »One cannot just sing to please someone, however much one loves them, no, song must come from the heart, that is what I always say, pour out from the inmost, like a trush. (Pause.) How often I have said, in evil hours, Sing now, Winnie, sing your song, there is nothing else for it, and did not. (Pause.) Could not. (Pause.) No, like the trush, or the bird of dawning, with no thought of benefit, to oneself or anyone else.« (CDW 155). Der Gesang als Selbstzweck wird mit dem instinkthaften Verhalten der Vögel gleichgesetzt und tatsächlich kann Winnie am Ende des ersten Akts noch nicht singen, obwohl sie es versucht: »Sing your song, Winnie. (Pause.) No? (Pause.) Then pray.« (CDW 159). Erst Willies Erscheinen vor dem Hügel und sein Wort »Win« sind am Ende des zweiten Akts Stimulans genug, um den >Gesangsreflex< auszulösen. 93
Beckett hat die englische Übersetzung des Librettos von dem österreichischen Bühnenschriftsteller und Dramaturgen Viktor Léon ohne Veränderungen übernommen: Im dritten Akt der Lustigen
Witwe wird Winnies Ausschnitt aus dem Walzer-Intermezzo
von dem Frauenhelden und Kavallerieleutnant der Reserve, Graf Danilo Danilowitsch gesungen: »Lippen schweigen, / s'flüstem Geigen: / Hab mich lieb! / All die Schritte / Sagen: Bitte, / Hab mich lieb! / Jeder Druck der Hände / Deutlich mir's beschrieb, / Er sagt klar: s' ist wahr, s' ist wahr, / Du hast mich lieb!«
213
seinem Anblick am Ende des ersten Akts jede Mobilität verdammt (»What a curse, mobility!« CDW 158), während sie am Ende des zweiten Akts vom Gleichklang der Körper im Tanz singt. Die residualen Kommunikationsmöglichkeiten zwischen dem Ehepaar beruhen auf Blicken und Worten wobei letztere im Liedtext zur Gefühlsvermittlung ausgeschlossen werden und erstere überhaupt nicht genannt sind. Die Mittlerfunktion des empathischen Blicks, dem Winnie bis zuletzt eine entscheidende Bedeutung für ihr Selbstgefühl einräumte, wird durch sein Fehlen im Liedvokabular der Liebessignale entwertet. Wenn das finale (Er-) Starren der Figuren {»Smile o f f . They look at each other. Long pause.« CDW 168) als Körpersprache verstanden wird, dann drückt es das Versagen des auditorialen bzw. identifizierenden Blicks im bloßen Starren aus. Die Trennung der Liebespartner trotz ihrer scheinbaren Nähe wird in Play absolut, da die sprechenden Köpfe M, W1 und W2, die nebeneinander in Urnen stecken, einander weder sehen noch hören können: Die Figuren sind weder in der Lage, ihre Köpfe zu drehen, um Blicke zu tauschen, noch können sie einander im Augenwinkel wahrnehmen, da der menschliche Sehwinkel nur 160a beträgt. Obwohl sich ihre Urnen berühren, sind die statischen Köpfe in Eigenräumen schalldicht gegeneinander isoliert, die sich akustisch wie optisch nur dem Scheinwerfer oder »inquisitor« (CDW 318) sowie zum Rezipienten öffnen. Die Totenbehältnisse stehen zwar in einem direkten szenischen Zusammenhang; sie werden aber von der Lichtregie in diskontinuierlichen Lichträumen abwechselnd assoziiert und voneinander getrennt (vgl. Kap. 4.4). Der Scheinwerfer bringt sowohl die Gestalt als auch die Geschichten der Figuren erst hervor, indem er sie aus dem schwachen Grundlicht heraushebt und mit dem Lichtstimulus zum Sprechen animiert. Obwohl alle drei Köpfe in den chorischen Einlagen simultan erhellt werden, bleiben sie durch das szenische Dunkel dazwischen optisch voneinander getrennt. In der Zuspitzung des Kommunikationsnotstands von Happy Days können sich die sprechenden Köpfe in Play weder mit Berührungen noch mit Blicken oder Worten verständigen und reden daher statt mit- nur übereinander. Die höllenartige Verhörsituation in Play (»W1: Hellish half-light.« CDW 312) spiegelt die Beziehungshölle, die sich aus den Erzählfragmenten der Figuren (re-) konstruieren läßt. Die Dreiecksgeschichte vereinigt in komprimierter Form alle Rollenklischees der bürgerlichen Doppelmoral: Ehebruch und Leugnen der Tat, Einsatz eines Privatdetektivs, Beichte des Manns, Versöhnung, erneuter Ehebruch etc... Durch ihr standardisiertes 214
Verhaltens entsprechen die erzählten Figuren dem Typenarsenal der Trivialliteratur. Indem sie bis auf die >gesichtlose< Dienerfigur Erskine namenlos bleiben, wird die normierte Illusionserzeugung bewußt macht. Die bunt ausstaffierte Lebenswelt der Narration steht im Kontrast zur szenischen Kargheit und körperlichen Reduktion, der die Erzähler unterworfen sind. Obwohl die sprechenden Köpfe in der identifizierenden ersten Person Singular von >ihrer< Vergangenheit berichten, fehlt ihnen jene Körperlichkeit, die für die erzählte Dreiecksgeschichte entscheidend ist. W2 zitiert den Liebhaber, »[...] what do you take me for, a something machine?« (CDW 309), und fügt bejahend hinzu: »And of course with him no danger of the... spiritual thing.« (ebd.). Kurz zuvor bestätigte auch W1 »his horror of the merely Platonic thing« (CDW 308) und betont wie die anderen Erzähler mit ihrer sexualisierten Wortwahl die geschlechtliche Seite des Ehebruchs. Der triebgesteuerten und entindividualisierten »something (fuck) machine« entspricht auf der Ebene der Erzählung die automatenhafte Wiederholung von Chor, Narration und Meditation. 94 Die statischen und flächigen Gesichtsansichten der Figuren unterscheiden sich kaum von den Urnen und voneinander (»Faces so lost to age and aspect as to seem almost part of the urns.« CDW 307) und lassen sich daher nur stimmlich differenzieren: Bei seiner Inszenierung von Spiel 1978 am Schillertheater in Berlin besetzte Beckett die Frauenrollen u.a. aufgrund der Stimmlage der Schauspielerinnen: »Für »Spiel« sollten sie stimmlich verschieden sein: Sopran und Contra-Alt.« 95 Statt die Identität eines Individualnamens tragen die sprechenden Köpfe kurze Gattungs- und Geschlechtsbezeichnungen (M=man, women), wobei die Frauen in der Reihenfolge ihres lebensgeschichtlichen Zusammentreffens mit dem Mann numeriert sind (W7=Ehefrau, H/2=spätere Geliebte). Im Stückverlauf spulen die Bühnenfiguren ihre Rede zweimal in exakt der gleichen Form ab »(Repeat 94
Im Verlauf einer Radiobearbeitung von Play für den BBC (die am 11.Oktober 1966 gesendet wurde) erläuterte Beckett die dreigliedrige Struktur des Stücks: »Dann fuhr er fort zu erklären, daß der Text in drei Teile zerfiele: Chorus (in dem alle Figuren gleichzeitig sprechen); Narration ( in der die Figuren über die Ereignisse sprechen, die zu der Katastrophe führten); und Meditation (in der sie über ihren Zustand, endlos in der Vorhölle in der Schwebe gelassen zu sein, reflektieren).« Esslin, Martin, Samuel
Beckett
und die Kunst des Rundfunks, in: Engelhardt, Hartmut (Hrsg.), Samuel Beckett, Frankfurt am Main 1984, S. 177f. 95
Beckett inszeniert sein Spiel, Aus dem Probentagebuch von Walter D. Asmus, in: Völker, Klaus, (Ed.), Beckett in Berlin, zum 80. Geburtstag, Berlin 1986, S. 145.
215
play.)« (CDW 317); im abschließend angedeuteten dritten Durchlauf ändert sich die Reihenfolge der Sprecher, während ihre Aussagen gleich bleiben. Aufgrund ihres verdinglichten und geschlechtsneutralen Aussehens als Teil der Urnen und angesichts der ausdruckslosen Gesichter (»Faces impassive throughout.« CDW 307) sowie der tonlosen Stimmen unterscheiden sich die reproduzierenden >Tonköpfe< nur durch unwillkürliche leibliche Resonanzen von Maschinen: »Voices toneless except where an expression is indicated.« (ebd.). Das schnelle Redetempo (»Rapid tempo throughout.« ebd.) wird vom gelegentlichen Schluckauf des Manns unterbrochen, während W2 am Anfang und Ende des Durchlaufs in wildes Lachen ausbricht. Selbst die scheinbar authentischen körperlichen Ausdrucksweisen können von einer intelligenten Maschine simuliert werden, wie die Worte von W1 in Play nahelegen: Ihre Stimme zeigt während des monotonen Vortrags keine unkontrollierten Abweichungen, weshalb sie sich überlegt, ob sie mimische Effekte einsetzen soll, um vom Scheinwerfer fortan in Ruhe gelassen zu werden: »Is it something I should do with my face? Weep?« (CDW 314). Die Tränen werden zum willentlich einsetzbaren, schauspielerischen Stilmittel - genau wie die bloß rhethorischen Drohungen des erzählten Alter egos von Wl, sich aus Eifersucht die Kehle durchzuschneiden. Während die Erzählerin ihre Gefühlseffekte nüchtern kalkuliert, gehen die Agierenden des Ehedramas davon aus, spontan zu handeln - obwohl der Mann implizit zugibt, daß viele seiner exaltierten Sprachgesten nur Stereotypen sind: »So I took her in my arms and swore I could not live without her. I meant it, what is more.« (CDW 309). Im Rückblick erkennt er, daß die Dreiecksgeschichte weniger von Individuen als von vorgegebenen Geschlechterrollen bestimmt wurde: Das Spiel lief nach eigenen Regeln ab und läßt sich mit austauschbaren Spielern jederzeit wiederholen: »I know now, all that was just...play.« (CDW 313). Oliver Sturm beschwört den Verfall von Individuen in Play, aber weder die erzählten Figuren noch die sprechenden Köpfe haben je den »Charakter des einmaligen, unverwechselbaren Subjekts« gezeigt, um ihn dann einbüßen zu können.96 Daher werden die Urnenköpfe zunächst anhand
96
Oliver Sturm zitiert in seinem Buch Der letzte Satz der letzten Seite zum letzten Mal·, der alte Beckett, a.a.O., S. 72ff. (Anm. 1, 30). Hans-Georg Gadamers Spieltheorie, um das Gespieltwerden in Play zu erläutern: »Es ist das Spiel, das gespielt wird oder sich abspielt - es ist kein Subjekt festgehalten, das da spielt. [...] Alles Spielen ist ein Gespieltwerden.« (Gadamer, Wahrheit und Methode, Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1965, S. 99ff.) Schon in Kap. 2.1 wurde darauf hingewiesen,
216
ihrer Funktion als Erzähler gedeutet, die literarische Klischees wiedergeben - und denen der Scheinwerfer als Moderatorfunktion gegenübersteht. Da sich die eigengesetzlichen Spielregeln erst auf einer Meta-Ebene hinreichend erkennen und verändern lassen (vgl. das Gespieltwerden in Fin de partie, Kap. 2.1), gelingt es den Figuren erst nach dem »Wechsel« aus der (erzählten) Lebenswelt in die höllenartige Verhörsituation, sich der erzählten Rollen ansatzweise bewußt zu werden. Die isolierende Einbettung in den Urnen verbürgt jedoch keine unbedingte Selbsterkenntnis, sondern unterliegt wie die Dreiecksgeschichte (angenommenen) Spielregeln - die paradoxerweise ernst wirken, solange die Köpfe ihnen gehorchen: »M: All this, when will all this have been... just play?« (ebd.). Auf ineinander verschachtelten Spielebenen arbeiten sich die sprechenden Köpfe sukzessive an ihren Illusionen und den Täuschungen der Erscheinungswelt ab, ohne jedoch die vertrauten Formen der Selbst- und Sinnsuche ganz aufgeben zu können: » W2: No doubt I make the same mistake as when it was the sun that shone, of looking for sense where possibly there is none.« (CDW 313f). Besonders im letzten Hauptteil des Stücks, der Meditation, kreist die Rede der Figuren um die möglichen Spielregeln, denen sie sich unterwerfen, um irgendwann im Dunkel schweigen zu können. Obwohl der Scheinwerfer den Sprechtakt vorgibt, bestimmt er nur scheinbar die Spielregeln und bleibt selbst in der Situation gefangen, solange er die Köpfe >erhellen< muß.97 Als daß die Paradoxie eines endlosen Spiels ohne begrifflichen Gegensatz oder Differenz zur Wirklichkeit einen traditionellen Spielbegriff in Frage stellt. Zudem wird Sturm der apersonalen Spiellogik Gadamers nicht gerecht, denn er schreibt von der »Existenz eines alles bestimmenden Regelapparates« (s.u.), widerspricht sich aber selbst, indem er in der Nachfolge von Henner Laas einen komponierenden magister ludi als spielbestimmendes Subjekt einführt. Sturm versteht die sprechenden Köpfe als Personen, die im Stück dezentriert werden: »Die Reproduzierbarkeit eines komplizierten Mechanismus wie der von Spiel beweist die Existenz eines alles bestimmenden Regelapparates, der den Figuren die Ganzheit psychologisch vollständiger Charaktere nimmt und sie zu Spielfiguren degradiert. Die Personen verlieren den Charakter des einmaligen, unverwechselbaren Subjekts.« (a.a.O., S. 87f.). 97
In einem Brief an den Regisseur George Devine schrieb Beckett über die Abhängigkeit des Inquisitors von der Spielsituation in Play. »The inquirer (light) begins to emerge as no less a victim of his inquiry than they and as needing to be free, within narrow limits, literally to act the part, i.e. to vary if only slightly his speeds and intensities.« In: Cohn, Ruby, (Ed.), Samuel Beckett, Disjecta, Miscellaneous Writings and a Dramatic Fragment, London 1983, S. 112. Henner Laas sieht in dem Scheinwerfer eine »sinnliche Verkörperung des Kompositionsvorgangs«: »Seine Allgegenwart verweist auf eine
217
Moderator besitzt der Inquisitor personale Eigenschaften und wird dementsprechend von den Köpfen in der zweiten Person Singular angesprochen: »But I have said all I can. All you let me.« (CDW 313). Auf den Mann wirkt der Inquisitor als eine kontemplative Anschauungsform, die Körperlichkeit und Indidualität (aber nicht die Spielsituation) transzendiert hat: »Mere eye. No mind.« (CDW 317). Im scheinbaren Widerspruch zu seiner Erscheinung als immaterielles Lichtwesen bringt der Inquisitor die Körperwelt der Figuren und Urnen erst hervor. Der spielgenerierenden Funktion des Theaterlichts steht die Passivität der Figuren gegenüber, die auf den Lichtstimulus nur reagieren und ihre Litanei automatenhaft wiederholen. Die Reversibilität der Erzählungen und Meditationen hebt die Zeit und Kausalität auf, während die Beleuchtung durch Fußlichter die Raumdimensionen zu flächigen Bühnenfriesen verkürzt. Die Gesichter haben aufgrund ihrer Minimal-Mimik eine leblose Wirkung, die von ihrer Ähnlichkeit mit den Totengefäßen noch verstärkt wird. Die Köpfe sind wie Sprachrohre dem »urn's mouth« (CDW 307) aufgepfropft und fusionieren mit diesem zum Mund in Not I, der wie das Urnenmaul keine sichtbaren Wahrnehmungsorgane besitzt. In ihrer lust- und leblosen Dauerekstase jenseits von Zeit, Raum und Kausalität übertreffen die sprechenden Köpfe Winnies Verdinglichung durch ihre Einbettung im Hügel. Während Winnie im ersten Akt von Happy Days noch eine charakteristische Gestalt und Motorik besitzt, reduziert sich die menschliche Physis über die Gesichtsansichten bis zum Mund in Not I. Die Lippen und kaum sichtbaren Zähne unterscheiden sich als hominide Gattungsmerkmale vom Maul eines Primaten sowohl durch die Form und den aufgetragenen roten Lippenstift als auch durch den Gebrauch zur Spracherzeugung.
Instanz hinter den Kulissen: den magister
ludi.«
Ders. und Schröder, Wolfgang,
Samuel Beckett, a.a.O., S. 76. Laas untersucht zwar sehr detailliert die Spielregeln des Scheinwerfers, kann aber keine »Instanz hinter den Kulissen« oder einen magister
ludi
auf einer spielbestimmenden Meta-Ebene nachweisen: »Die Struktur von Play bleibt hinsichtlich einer erkennbaren Regelhaftigkeit mehrdeutig.« (a.a.O., S. 79). Die einzige eindeutige Spielregel besteht in dem »darkness is silence and light is language« (a.a.O., S. 80, zitiert nach: Cohn, Ruby, Currents in Contemporary
Drama, S.75). Der Konnex
von Licht und Sprechen verweist aber weder auf den Vorgang der Sinnkonstitution noch auf den Autor - was Laas jeweils zur Deutung anbietet - sondern auf den »Vorgang des Wahrnehmens im Bewußtsein des Zuschauers«, wie er abschließend bemerkt (a.a.O., S. 81). Daher steht statt des Inquisitors nur der Rezipient außerhalb der Spielregeln - und selbst dessen Wahrnehmung wird manipuliert (vgl. Kap. 4.4).
218
Die Erzählung des Mundes divergiert von denen in Play durch die Aufgabe der ersten Person Singular: Vergeblich versucht der »Auditor« (CDW 376), den Mund zum Wechsel von der dritten Person Singular zur identifizierenden Ich-Erzählung zu bewegen. Die in Kapuze und Umhang gehüllte, geschlechtsneutrale Gestalt des Auditors ersetzt den Scheinwerfer in Play, der seinerseits Winnies Ausgeliefertsein an die Klingel ablöst. Der stumme Auditor kommuniziert mit dem >blinden< Mund weder über akustische noch visuelle Kanäle, sondern stört dessen Redefluß offensichtlich durch Gedankenübertragung und beschränkt seinen sichtbaren Ausdruck auf Gesten hilflosen Mitleids. 98 Im Titel Not I ist einerseits die vom Mund abgelehnte Identifikation mit der erzählten Geschichte angelegt - was auf eine nichtIch-geleitete Subjektivität verweist. Aufgrund der Homophonie kann der Titel andererseits körperbezogen als Not Eye verstanden werden, was auf die Blindheit des Mundes hindeutet. Die erzählte Frauenfigur im Stück beginnt endlos zu reden, nachdem sich ihre Sprechhemmung durch eine ekstatische Erfahrung gelöst hat. Das Not Eye verweist daher auf eine Abkehr vom Gesichtssinn bzw. von der Erscheinungswelt und eine Hinwendung zur >Binnenwahrnehmung< bzw. zu einer Anschauungsform außerhalb von Zeit, Raum und Kausalität - die als Ich-lose Form der Vorstellung auch mit dem Titel Noti übereinstimmt. Seit Actes sans paroles II wird das Geschehen in Becketts Stücken von szenisch agierenden Moderatoren bestimmt, denen seit Krapps Maschinengedächtnis verdinglichte Sprecher wie Winnie in ihrem Kunstkörper und die Urnenköpfe gegenüberstehen. Nicht erst in Play zeichnen sich »die Konturen einer grundlegend neuen Dramturgie ab«, wie Oliver Sturm meint."
98
»Movement: this consists in simple sideways raising of arms from sides and their falling back, in a gesture of helpless compassion.« (CDW 375).
99
Sturm, Oliver, Der letzte Satz der letzten Seite zum letzten Mal·, der alte Beckett, a.a.O., S. 44. Sturm macht den Wendepunkt in Becketts Stücken irrtümlich an einer Krise der Repräsentation fest: »In Das letzte Band (1958) stellt er (Beckett, Anm. J.B.) mit Hilfe eines Tonbandgeräts die Gleichzeitigkeit verschiedener Zeitebenen her, in Glückliche Tage (1961) erprobt er die Reduktion des Körpers und die Wirkung eines permanenten Monologs. In beiden Stücken aber bleibt das Raum-Zeit-Kontinuum unversehrt, behält die dargestellte Wirklichkeit noch das Siegel der Illusion einer realen Außenwelt - wie fremd jene versengte Grasebene aus Glückliche Tage auch anmuten mag. Erst in Spiel (1963) zeichnen sich die Konturen einer grundlegend neuen Dramaturgie ab. Beckett zieht aus der in Endspiel sichtbar gewordenen Krise der Repräsentation mit der ihm eigenen Logik seine Konsequenzen [...], indem er eine Kontraktion nach innen
219
Schon in Happy Days ist die Selbstentfremdung durch die Einbuße des leiblichen Selbstgefühls soweit fortgeschritten, daß Winnie ihr Für-sich dem Primat des Wahrgenommenwerdens durch den Auditor/Moderator unterordnet. Die immer bruchstückhafteren, anthropomorphen Figuren verlieren ihren Subjektstatus auch deshalb, weil von der Subjektivität ohne die Ausdrucksmöglichkeiten des Körpers nur die Stereotypen der Figurenrede übrigbleiben. Ohne leibliche Resonanzen hat die Sprache auch ihre Funktion zur Selbstverständigung weitgehend eingebüßt: Vergleichbar mit Winnies Versuch, sich an die Zeit zu erinnern, »when I was not yet caught - in this way - and had my legs and had the use of my legs« (CDW 154), bleiben auch die Erzählungen von der Dreiecksgeschichte zwischen M, W1 und W2 ohne die körperliche Entsprechungen bzw. Gefühle nur leere Worte: »and they are all empty words.« (Happy Days, ebd.). Erfahrungen sind nur dann sprachlich plausibel zu vermitteln, wenn sie vom Sprecher und Hörer leibhaftig nachzuvollziehen sind - weshalb die rumpflosen Köpfe vom immateriellen Lichtwesen des Inquisitors bis in alle Ewigkeit verhört werden. Ohne leibliche Resonanz können die Figuren die Erfahrungen von Ehebruch und Eifersucht nicht mit Sinn(en)gehalt füllen und leiern das für sie nun unverständliche Geschehen daher teilnahmslos herunter. Auch in Not I steht den Sensationen der Erzählung eine ereignisarme Bühnensituation gegenüber, die nur von vier Bewegungen des Auditors und dem Lachen sowie Schreien des Mundes unterbrochen wird. Durch die wiederholte Bezeichnung des beschriebenen Körpers als Maschine, die nicht in der Lage ist, auf Gehirnimpulse oder Affekte zu reagieren, thematisiert der Mund implizit seine eigene Verdinglichung zum bloßen Sprechwerkzeug: »more likely the machine... so disconnected... never got the message... or powerless to respond... like numbed« (CDW 378). Die Narration in Not I kreist um die plötzliche und unwillkürliche Wiederinbetriebnahme der gefühllosen Körvollzieht und auf die naturalistische Abbildung von Wirklichkeit [...] verzichtet.« (ebd.). Im Kapitel 4.1.3 der vorliegenden Arbeit wurden die Besonderheiten von Krapps Lichtraum behandelt und die Abschnitte unter 4.2 haben gezeigt, daß Winnies Vergeßlichkeit das Zeitkontinuum genauso aufhebt, wie ihr Kunstkörper und das »sehr kitschige Trompe-l'oeil-Panorama« eine dargestellte Wirklichkeit grundlegend in Frage stellen. Die »Krise der Repräsentation« zieht sich leitmotivisch durch Becketts Stücke und führt zu keiner »grundlegend neuen Dramaturgie« in Play. Zur Einteilung von Becketts Stücken bieten sich die Medienwechsel und ihre Einflüsse auf die Dramen an. Der Perspektivenwechsel vom Für-sich zu dem dominanten Exterioritätsbezug in Happy Days bildet einen Wendepunkt in der Identitätsthematik des Gesamtwerks.
220
permaschine: »feeling coming back!... staying at the top... then working down... the whole machine... but no... spared that... the mouth alone« (CDW 379f). Obwohl die erzählte Figur in Not I noch über alle Bewegungsmöglichkeiten des menschlichen Körpers verfügt, beschränkt sich ihre bewußte Wahrnehmung auf ihre Sprechwerkzeuge - was der szenischen Reduktion auf den Mund entspricht: »the tongue in the mouth... all those contortions without which... no speech possible... and yet in the ordinary way... not felt at all... so intent one is... on what one is saying... the whole being... hanging on its words.« (CDW 379). Nach langer Sprechpause erkundet die erzählte Figur mit kindlichem Erstaunen (zum zweiten Mal in ihrem Leben) die körperlichen Aspekte und Ausdrucksmöglichkeiten der Stimme. Während sie sich auf die organische Seite der Lauterzeugung konzentriert, entzieht sich der erzählten Figur weitgehend die Bedeutung ihrer überfließenden Rede: »and now this stream... not catching the half of it... not the quater... no idea... what she was saying... imagine!... no idea what she was saying!« (ebd.). Die Wiederholung betont die Entfremdung zwischen dem unzulänglichen Zuhören und dem unwillentlichen Sprechen, das nicht mehr als Ausdruck eines Individualwillens zu verstehen ist. Der Sprachstrom erscheint der erzählten Figur weitgehend als begriffsloser Klang und wirkt wie das Summen in ihrem Kopf als Ausfluß einer Naturgewalt: »all the time the buzzing... dull roar like falls« (CDW 381). Auch die ruhelose Hirntätigkeit untersteht keiner Rationalität (mehr), weshalb die Erzählerin zweimal »so it reasoned« (CDW 378) sagt: Das »es denkt« löst das Cogito ab, während die unkontrollierte Sprachflut als »es spricht« erscheint. Die beiden Erscheinungsformen des Bewußtseins sind weder miteinander, noch mit der Körpermaschine eng genug vernetzt, um sich als personale und leibliche Einheit zu verstehen: »so disconnected... never got the message« (s.o.). Durch die Dezentrierung des sprechenden >Subjekts< hängt dessen ganze Existenz tatsächlich an der Sprache (»the whole being... hanging on its words.« s.o.) und zwar auf drei Ebenen: Erstens erscheint die erzählte Gestalt nur im Widerschein der Erzählung; zweitens erhält der Mund durch seine impliziten Kommentare eine personale Eigenständigkeit. 100 Wenn man die erzählende
100
Der Mund redet wie die erzählte Figur scheinbar endlos über etwas, mit dem er sich nicht identifizieren kann, aber im Gegensatz zu dieser reflektiert er darüber. Indem er sich weigert, von der distanzierenden dritten Person Singular abzuweichen, beweist der Mund trotz seiner weitgehenden Beschränkung auf die Erzählerfunktion Spontaneität, Denk- und Interaktionsvermögen.
221
Frauenstimme mit der erzählten Frauengestalt identifiziert, lassen sich die beschriebenen Wahrnehmungen und Handlungen zudem zu einem Ersatzkörper des Mundes zusammensetzen (s.u.). Trotzdem weigert sich der Mund, die Erzählung als die eigene Lebensgeschichte zu identifizieren und überläßt es drittens dem Zuhörer, sich zum Subjekt des herrenlosen Diskurses zu machen. Inmitten der /c/z-losen Anschaungs- und Erzählformen kann allein die identifizierende Wahrnehmung des Rezipienten den Zusammenhang zwischen den erzählten biographischen Bruchstücken und der Rumpfidentität des Erzählers herstellen. Auch die Restkörper müssen von der Zuschauerphantasie koproduziert werden: Die fehlenden Glieder der Figuren in Play werden wie bei Radiostimmen durch Selbst- und Fremdbeschreibungen sprachlich erzeugt - doch die imaginären Gestalten wandeln sich von Sprecher zu Sprecher: Während sich die Geliebte in Play z.B. abfällig über die Ehefrau äußert, »Seeing her now for the first time full length in the flesh I understood why he preferred me.« (CDW 308), evoziert die Gescholtene wenig später eine Karrikatur des »Kebsweibs«: »Pudding face, puffy, spots, blubber mouth, jowls, no neck, dugs you could-« (CDW 311). In Not I werden die antropomorphen Beschreibungen z.T. von Maschinenassoziationen ersetzt, die mit dem Verschwinden des Körpers (»whole body like gone«, CDW 382) in Klang- und Lichteffekten alternieren: »when suddenly... gradually... all went out... all the early April morning light [...] and a ray of light came and went... came and went [...] feeling so dulled... she did not know... what position she was in... imagine!... what position she was in!« (CDW 377). Die Wiederholung weist auf die Bedeutung des Abschnitts hin, in dem die erzählte Figur ihre räumliche Orientierung verliert und als erstes an ein himmlisches Strafgericht denkt: »that notion of punishment« (ebd.). Die Idee der Strafe wird als »vain reasonings« (ebd.) wieder aufgegeben, weil die Figur, dem Mund zufolge, nie weniger gelitten hat als in dem emphathisch erlebten Augenblick: »indeed could not remember... off hand... when she had suffered less« (CDW 377). Die Klänge im Kopf (»dull roar in the skull«, CDW 378) und die stroboskopischen Lichteffekte (»and a ray of light came and went«, s.o.) verweisen weder auf das Jüngste Gericht noch auf einen Schlaganfall oder eine Vergewaltigung, wie Enoch Brater vermutet,101 sondern beschreiben eine profane ekstatische Anschauungsform. 101
Enoch Brater rätselt »whatever-it-was that took place in the field« und schreibt dann: »With >her face in the grassshe< has been raped.« Ders. Beyond minimalism.
222
Während in Winnies Augenblickserleben noch eine (wenn auch standartisierte) Zeitreflexion möglich ist (»O dies ist ein glücklicher Tag, dies wird wieder ein glücklicher Tag gewesen sein«, CDW 168), hat die erzählte Figur in Not I sowohl ihre zeiträumliche Orientierung als auch das Denkvermögen vorübergehend eingebüßt. Die Figur versucht vergeblich das Erlebte nachträglich in das christliches Weltbild einzuordnen, das ihr seit der Kindheit eingeprägt worden ist: »but the brain still... still... in a way... for her first thought was... oh long after... sudden flash... brought up as she had been to believe... with the other waifs... in a merciful... {Brief laugh.)... laugh.)«
God...
(Good
(CDW 377). Durch den Verlust vertrauter Deutungsmuster sendet
das hilflose Gehirn nur noch einzelne Gedankenblitze, die in der ekstatischen Flut anderer Apperzeptionen untergehen - oder es verstummt ganz, wie die Doppelbedeutung von »the brain still« (s.o.) als »noch (arbeitendes)« oder schweigendes Gehirn nahelegt. Die Rationalität verliert ihre Konstanz sowie Dominanz, weshalb jede /C/Î-Identität wie eine Nußschale im Strom der unkontrollierbaren Bewußtseinsprozesse fortgerissen wird. Die beschriebene Ich-lose Anschauungsform ist ein entscheidender Grund, warum der Mund in Not I von der Figur in der dritten Person Singular erzählt und sie trotz des auditorialen Drängens nicht als Ich identifizieren kann. Die erzählte Figur wirkt phasenweise als »Mere eye. No mind.«
(Play,
s.o.) und der augenlose Erzähler kann als eine nach innen gewendete, visonäre Wahmehmungform verstanden werden. Aber seine distanzierte Sprechhaltung weist auf die Unmöglichkeit hin, die ekstatische Erfahrung nachträglich nachzuvollziehen. Wie bei der leiblichen Erinnerung ist eine Unmit-
Beckett's late style in the theater, Oxford 1987, S. 32. Wenig später schlägt er einen Schlaganfall als weitere Deutungsmöglichkeit vor: »Did she suffer a »stroke«, a seizure Beckett mentions in The Unnamablel«.
(a.a.O., S. 34). Beide Hypothesen sind
aus dem Text nicht stichhaltig zu belegen; dagegen zieht sich die Fallsucht der Figuren leitmotivisch durch Becketts Stücke und bildet den >running gag< von En
attendant
Godot über die Pantomimen bis zu Krapp 's Last Tape. In der Erzählung von Maunu in Cascando
fällt der große Mann regelmäßig vornüber und liegt mit dem Gesicht im
Sand oder auf den Planken seines Boots: »il descend... tombe... retombe / [...] / tête basse« (DDI 350). Die Körperhaltung drückt die Abkehr von der visuellen Wahrnehmung und eine Hinwendung zur Binnenschau aus, wie die erzählende Stimme Cascando
in
nahelegt: »plus de terre... sa tête... voir dans sa tête... Maunu« (DDI 356).
Die liegende Position mit dem Kopf nach unten deutet auf eine kontemplative Anschauungsform hin (Priesterweihe!), die sich in der Haltung und im Augenblickserleben der erzählten Figur wiederholt.
223
telbarkeit des Erlebens notwendig, um den emphatischen Augenblick zu verstehen und von der »kulturkritschen Allegorie« unterscheiden zu können, die Bohrer in Winnies Fall als Deutungsmöglichkeit gerade ausschließen wollte (vgl. Anm. 81). Aus der Perspektive des Rezipienten ist nicht zu unterscheiden, ob der absolute Augenblick eine leibliche Resonanz ist oder nur ein literarisches Zitat. In Play wird die körperliche Unmittelbarkeit des Schluckaufs von M und des wilden Lachens von W2 durch die exakte Wiederholung des Geschehens im zweiten Durchlauf entweder zur schauspielerischen Technik - oder zum Hinweis auf mediale Reproduktionstechniken, die im nächsten Kapitel erkundet werden sollen.
4.4 Komposition des Inquisitors: Filmästhetik in Play Obwohl sich Winnie in Happy Days auf einen angenommenen Beobachter bezieht, um ihre leibliche Identität über den identifizierenden Blick eines anderen zu sichern, kann der Auditor keine körperliche Konstanz verbürgen, da Winnies Erscheinung vor seinem (inneren) Auge stroboskopisch flackert: »I am clear, then dim, then gone, then dim again, then clear again, and so on, back and forth, in and out of someone's eye.« (CDW 155). Dieser Wechsel von Licht und Dunkel ist in den Regieanweisungen von Play konzipiert, da die einzelnen Figuren (außerhalb der chorischen Abschnitte) immer nur kurz aus dem schwachen Grundlicht aufleuchten. Der Scheinwerfer erzeugt isolierte und temporäre Lichträume, wobei sich das Flackern in der Meditation beschleunigt und tendenziell auf das schnelle Oszillieren von Licht und Dunkel im Stroboskopeffekt hindeutet. Der HellDunkel-Wechsel zerhackt das Bühnengeschehen in einzelne Seinsmomente der Figuren — wie z.B. das Mundöffnen von Μ, das als diskreter mimischer Ausdruck aufblitzt: »Spot from W1 to M. He opens his mouth to speak. Spot from M to W2.)« (CDW 309). Die angedeutete Wirkung eines stroboskopischen Stillstands im Wandel wird von der exakten Wiederholung des Stücks bis kurz vor dessen Ende verstärkt. Auch die Schlußsequenz stellt nur eine Umgruppierung des Eingangschors dar, was auf eine unendliche Repetition der Inquisition schließen läßt, d.h. das Stück zeigt eine Fortsetzung früherer Durchläufe. Winnies Zeitparadoxon in der Nachfolge Zenons wird in Play szenisch vorgeführt, denn im zirkulären Spiel-Kosmos steht die Zeit in der Bewegung still. 224
Während das sukzessive Fortschreiten der Figurenrede und die scheinbar spontanen Reflexionsversuche eine zeitliche Abfolge simulieren, entlarvt die genaue Reproduktion von Chor, Narration und Meditation den Progreß als Illusion. Kurz nach der Uraufführung von Spiel 1963 am Ulmer Theater stellte Hugh Kenner das Stück in den Kontext der späten Hörspiele Becketts und schrieb über das zirkuläre Geschehen: »Wir brauchen diese Wiederholung, die wie eine zweite Vorführung eines Films oder ein zweites Abspielen einer Schallplatte ist, um ganz genau zu wissen, was geschieht oder geschehen ist.«102 Während das Satzende auf einen linearen Handlungszusammenhang in einem zeiträumlichen Kontinuum abzielt, blitzt im ersten Teil der Aussage die Vorbildfunktion von technischen Speichermedien für die Dramarturgie von Play auf. Kenner nähert sich den Schnitt- und Montagetechniken vom Rundfunk aus, ohne die Verfahrensweisen aus dem akustischen Medium zu lösen und konsequent auf den Film zu übertragen: »Wie Tonbänder, die ein- und ausgeschaltet werden, scheinen sie (die Figuren, Anm. J.B.) bis zur Mitte jedes Zyklus nicht zu wissen, daß sie angehalten und wieder laufengelassen werden; sie fahren einfach fort und hören auf.«103 Auch Oliver Sturm bemerkt assoziativ den »wie ein(en) Cutter agierende(n) Scheinwerfer«,104 ohne sich der Implikationen des Filmvokabulars bewußt zu werden. Beckett selbst gab bei einer Radiobearbeitung von Play den Hinweis, sich den Formprinzipien des Filmmediums zu bedienen: »Beckett schlug vor, die Rolle jeder Figur getrennt aufzunehmen und die Permutation vollkommen identischer, in genau derselben Art gesprochener Worte dadurch zu errreichen, daß man das Band zusammenschnitt wie takes eines Films.« 105
102
Kenner, Hugh, Samuel Beckett, Eine kritische Studie, München 1965, S. 203. Über den Zusammenhang von Play mit Words and Music und Cascando schreibt er kurz zuvor: »Im Spiel [...] ist der Krak des einen Hörspiels, der Öffner des anderen, in einen Scheinwerfer verwandelt.« (ebd.).
103
Kenner, Samuel Beckett, a.a.O., S. 204. Kenners Strukturanalyse hält hier inne und geht zu Figurennamen und Narrationsthemen über, nachdem er zuvor von einem »Maschinen-Universum« gesprochen hatte, »das gegen Zeit, Veränderung, Erfahrung, Erinnerung oder Kommunikation gefeit ist.« (ebd.).
104
Sturm, Oliver, Der letzte Satz der letzten Seite zum letzten Mal, a.a.O., S. 92. Zuvor bemerkte er, daß »die Satzscherben hart gegeneinander« geschnitten sind (ebd. S. 79).
105
Esslin, Martin, Samuel Beckett und die Kunst des Rundfunks,
a.a.O., S. 178. Esslin
fahrt fort: »Diese bemerkenswerte Inszenierung von Play wurde zuerst im Dritten Programm (der BBC, Anm. J.B.) am 11. Oktober 1966 gesendet.« (ebd.).
225
Maurice Blackman zeigt in seiner Untersuchung zur Genese von Play, daß Beckett 1963 parallel an dem Theaterstück und dem Skript für seinen Film gearbeitet hat.106 Im sechsten von zehn nachweisbaren Entwürfen zu Play fügte Beckett Ende 1962/Anfang 1963 die Regieanweisung »(Repeat play.)« (CDW 317) zum ersten Mal in den Text ein.107 Spätestens seit diesem Zeitpunkt ist die filmische Schnitt- und Montagetechnik im Stück unübersehbar; denn die exakte Wiederholung des Durchlaufs gleicht keiner realistischen Verhörsituation, sondern einer speichermedialen Reproduktion. Wenn man die Figuren als lemunfähige (d.h. nicht als kybernetische) Sprechautomaten versteht, wie es Kenners »Maschinen-Universum« nahelegt (vgl. Anm. 103), dann wird zwar die genaue Reprise des ersten Durchlaufs erklärbar. Aber als stupide Maschinen würden die sprechenden Köpfe das Lachen und den Schluckauf bloß als Nummemkunststücke nachahmen, ohne über eine Parodie der menschlichen Leiblichkeit und der zirkulären Erkenntnisversuche hinauszugelangen. Die mechanistischen Deutungsansätze können die Art und Weise der szenischen Darstellung in Play nur oberflächlich erhellen und schlagen im Falle Kenners und Horst Breuers in eine metaphysische Weltsicht bzw. ein Menschenbild auf der Grundlage einer integralen Seele um.108 Statt sich im romantischen Grauen vor unbeseelten Maschinen-
106
»Beckett seems to have worked on Play over a period of at least two years. The early version known as Before Play [...] almost certainly dates from the latter half of 1961. [...] Indeed, apart from writing the scenario of Film in April-May, Beckett evidently worked on nothing else but Play and Comédie for almost the whole of 1963«. Blackman, Maurice, The shaping of a Beckett text: >PlayRepeat playPlayWo nichts von Wert ist, dort will ich nichts. < In einem Brief an Sigle Kennedy bezeichnete Beckett 1967 das Geulincx-Zitat als einen von zwei favorisierten Ausgangspunkten für eine Deutung seiner Werke: »If I were in the unenviable position of having to study my work, my points of departure would be the >Naught is more real...< and the >Ubi nihil vales...< both already in Murphy and neither very rational.« In: Cohn, Ruby, (Ed.), Samuel Beckett, Disjecta, Miscellaneous Writings and a Dramatic Fragment, a.a.O., S. 113.
232
Identität genauso wenig erfassen wie die medialen Selbstreflexionen der Figuren, die den Bereich der Kausalität überschreiten: Die Köpfe in Play wissen nicht nur, daß sie vom Scheinwerfer aus dem Dunkel herausgehoben werden, sondern auch, daß sie im Dunkel schweigen: »W1: Silence and darkness were all I craved. Well I get a certain amount of both. They being one.« (CDW 316). Nicht nur Schweigen und Dunkelheit sind eins, sie verschmelzen auch mit der Bewußtlosigkeit außerhalb des Lichtkegels zu einem bewegungslosen Zeitpunkt oder freeze- Effekt. Um so erstaunlicher ist es, daß die Köpfe ein Wissen von ihrem Zustand im Dunkel haben, als ob sie die Rezipientenperspektive teilen könnten. Die medialen Selbstreflexionen der Urnenköpfe gleichen denen früherer Figuren wie Wladimir und Estragon oder Hamm und Clov, die sich über ihr Theaterpublikum lustig machen, obwohl sie von ihm nichts wissen können. Diese unauflösbaren Paradoxien im Denken unterscheiden die Figuren auch nach ihrer leiblichen Reduktion von kybernetischen Maschinen. Zudem zeigen die medialen Selbstreflexionen, daß sich die Figuren mit »technischen Standards« nicht hinreichend identifizieren lassen, sondern ihre Subjektivität in der Interaktion mit Beobachtern variabel hervorbringen. Figur und Rezipient sind die beiden Pole einer permanenten Sinn- und Selbstsuche, die in Becketts Stücken an keinem medial oder technologisch geprägten Selbstoder Weltbild stehen bleibt. Auch wenn die Umenköpfe in Play dem Standard filmischer Reproduktionstechniken entsprechen, bleiben sie doch endlosen Verwandlungen unterworfen, solange ihre Rumpfidentität Ergänzungen in der Vorstellung des Rezipienten provoziert.
233
5. Schlußbetrachtung und Ausblick auf Becketts Kameraaugen »Nichts soll man verwerfen, ohne angestrengte
Versuche,
Lebendes zu entdecken« ' Wassily Kandinsky
Die verändernde Wirkung der Zeit darzustellen, ist Becketts ästhetischen Schriften zufolge die zentrale Aufgabe und Schwierigkeit der Kunst (vgl. Kap. 1.2). Die Stücke des irischen Dichters folgen der programmatischen Vorgabe, indem sie eine radikale Verzeitlichung der Subjektivität vorführen. Sie ersetzen eine ratiozentrische Identität oder statische Seeleneinheit durch eine diskontinuierliche Abfolge von divergierenden Bewußtseinszuständen bzw. von sprachlichen Versatzstücken. Das Subjekt als Prozeß zeichnet sich auch in seiner leiblichen Bedingtheit durch einen Dauerzerfall aus, den die erkenntnis- und gedächtnisschwachen Figuren zu keiner linearen Lebensgeschichte verbinden können. Die leitmotivische Deszentriertheit wird seit En attendant Godot von Spielen und Erzählungen kontrastiert, mit denen die Figuren ihr beschränktes Rollenrepertoire um immer neue Selbstbilder erweitern. In den Hörspielen nach All That Fall werden die Selbsterfindungen zum zentralen Thema der Autopoieten: Die Moderation von vokalen sowie instrumentalen Sendern und anderen Geräuschquellen steht an der Stelle einer Interaktion von profilierten Charakteren. Im Radiomedium ersetzen die Stücke immer deutlicher die Destruktion tradierter Subjektmodelle durch die Produktion genuin ästhetischer Formen von Subjektivität. In den Dramen und Hörspielen der fünfziger Jahre gelingt also der Versuch »to get out of the attitude of disintegration«, 2 der in den Textes pour rien (entstanden ab 1952) gescheitert war (vgl. die Einleitung). In Krapp 's Last Tape wird die Moderation von gestaltlosen (Tonband-) Stimmen auf die Bühne übertragen, während Winnie in Happy Days die Interaktion mit ihrem Kunstkörper szenisch vorführt. Auch das reversible Geschehen in den diskontinuierlichen Lichträumen von Play zeigt deutlich, daß die variablen Kombinationen von Stimmen und Gestaltfragmenten der
1 2
Kandinsky, Wassily, Essays über Kunst und Künstler, Bern 1955, S. 46. Samuel Beckett im Gespräch mit Israel Shenker: Moody Man of Letters, The New York Times 6.5.1956, See. 2, S. 3.
234
Eigengesetzlichkeit des jeweiligen Spiels folgen, statt einer lebensweltlichen Repräsentation von Zeit, Raum und Kausalität verpflichtet zu sein. Die Entkopplung des Sprechens von einem identifizierbaren Aussagesubjekt macht die Figuren von einem Wahrgenommen- bzw. Identifiziertwerden durch einen Beobachter bzw. Auditor abhängig. Das Auditor-Motiv zieht sich leitmotivisch durch Becketts Dramen, Film, Hör- sowie Fernsehspiele und thematisiert die Rolle des Rezipienten als Koproduzenten. Der Versuch, die akustischen und visuellen Versatzstücke zusammenzufügen, stößt bei Figuren wie Hamm, Winnie etc. auf eine Vielzahl von divergierenden und paradoxen Selbstbildern, die eine Identifikation erschweren: Hamm behauptet z.B. ungerührt, »Je n'ai jamais été là.« (DDI 300), obwohl seine Aussage die Existenz eines Sprechers voraussetzt. Winnies Stillstand im Wandel (»Winnie, you are changeless, there is never any difference between one fraction of a second and the next.« CDW 165) zergliedert ihr Dasein in vereinzelte Augenblicke. Dagegen schließt Krapps Nicht-/cA-Identität eine personale Selbstdefinition grundsätzlich aus und beschränkt die Rolle des Bewußtseins auf die Wahrnehmung unkontrollierbarer leiblicher Resonanzen. Die Eigenmodelle in der Figurenrede paraphrasieren und parodieren oft »all die toten Stimmen« der Geistesgeschichte, die im pseudophilosophischen Jargon mitklingen. Auch das Augenblickserleben bzw. das artikulierte Selbstgefühl verbürgt keine individuelle Innerlichkeit in Becketts Stücken. Denn in Krapp's Last Tape bleibt von der mémoire involontaire nur eine verblassende Erinnerung an Erinnerungen übrig, und in Happy Days hat die alltägliche Dauerekstase ihre Intensität eingebüßt. Aus der Perspektive des Rezipienten läßt sich zudem nicht unterscheiden, ob der absolute Augenblick, der in der Figurenrede aufscheint, auf eine leibliche Resonanz oder ein literarisches Zitat verweist. Die scheinbare Authentizität des Erlebens wird von der exakten Reproduzierbarkeit des Geschehens in Play ad absurdum geführt - und auch die anderen Stücke werden von einer Spiellogik eingerahmt, die keiner realistischen Repräsentationsästhetik folgt. Das Verwirrende an Becketts Stücken ist, daß die >leidenden< Figuren sich durch die Einfühlung des Rezipienten eine mumanoide Identität verschaffen und diese empathische Nähe als komödien- und klischeehafte Theatertypen zugleich parodieren. Wenn Komik wirkungsästhetisch als eine Form von Distanz zwischen dem (auch schadenfroh) lachenden Rezipienten und der verlachten Figur verstanden werden kann, dann drückt Neils berühmt-berüchtigter Satz, 235
»Nichts ist komischer als das Unglück.« (DDI 231), die größtmögliche Feme der Figuren zu sich selbst und zum Rezipienten aus. Wer die Spiele trotz einer Vielzahl von Illusionsbrüchen ernst nimmt, begegnet aufgrund der undurchdringlichen Außenansicht aller Figuren (nur) den eigenen Projektionen und Identifikationsmustern. Nach Abzug des Spielanteils bleiben von den Stücken weder eine dargestellte Wirklichkeit noch die authentischen Gefühle der Figuren, sondern nur das Erleben des Rezipienten übrig. Die Bruchstücke ästhetischer Subjektivität lassen sich zu keinem allgemeinverbindlichen Menschenbild abstrahieren, sondern nur strukturell beschreiben und in ihrer Wirkung individuell erfahren, d.h. auf eine relationelle Einheit beziehen. Daher haben die kybernetischen Denkansätze in der vorliegenden Arbeit keine normative, sondern lediglich eine deskriptive Funktion, indem sie den Prozeßcharakter in der Interaktion zwischen Stimmen, Geräuschen und/oder Licht, Gestalten, Bühnenbild etc. zeigen. Die Befreiung vom Identitätszwang der Rationalität und von der lebensgeschichtlichen Determination macht die Figuren zu Figurationen des >Dialogs< oder Erzählern ihrer selbst, die sich immer neu und anders hervorbringen. Wenn man die Sprecher nicht am Anspruch des bürgerlichen Subjekts auf Autonomie, Identität und Charakter bemißt, sondern an ihrem Einfallsreichtum bei der Selbsterkundung und/oder Selbsterfindung, dann wird das Innovationspotential der Stücke zur Frage der Subjektivität deutlich. Auch Becketts Film und die Fernsehspiele folgen keinen traditionellen Identifikationsmustern, sondern machen die stummen Protagonisten zum Objekt einer auditorialen Erforschung durch die Kamera. Der alte Mann in Film wird als O (object) bezeichnet, während die verfolgende Kamera bzw. das Auge E (eye) Subjektstatus besitzt. Das Kameraauge steht jedoch für keine bestimmte Person, sondern ist ein Platzhalter für alle möglichen Beobachter: Deren Spektrum reicht vom Goldfischauge über das Abbild der archaischen Gottheit bis zu dem alten Mann, der sich bei seiner Selbstsuche oder -flucht in ein Subjekt und Objekt spalten könnte. Die Kamera ist darüber hinaus der Agent eines voyeuristischen Rezipienteninteresses, das O verfolgt und ihm anhand der alten Fotos potentiell eine lebensgeschichtliche Identität zuschreibt. Der auditoriale Blick bezeugt nicht nur die Existenz des alten Manns, wie das vielzitierte »esse est percipi« (CDW 323) als logischer Rahmen des Films besagt, sondern versucht ihn auch als Subjekt dingfest zu machen. Identifizierung ist nicht nur eine erkenntnistheoretische Gewohnheit, sondern immer auch eine erkennungsdienstliche Maßnahme. Der Schrecken, den der finale Anblick von E bei O auslöst, beruht darauf, daß O 236
dem auditorialen Blick ausgeliefert ist und sich zugleich in dem verfolgenden Subjekt wiedererkennt. Das Doppelgängermotiv macht das Oszillieren der Teil -Ichs zwischen Einheit und Vielheit für den Rezipienten unmittelbar anschaulich und unterscheidet sich damit z.B. von Hamm und Clov als divergierenden Figurationen desselben Monodramas. Während die Hörspiele thematisch häufig um das Sehen kreisen (vgl. Kap. 3.3.2), kann Eh Joe (1965) u.a. als Fernsehspiel des Hörens verstanden werden: Der Protagonist sucht zu Beginn des Stücks seine Umgebung vergebens nach anderen Beobachtern und Sprechern ab und muß danach trotzdem einer weiblichen Stimme zuhören: »Face: Practically motionless throughout, eyes unblinking during paragraphs, impassive except in so far as it reflects mounting tension of listening.« (CDW 362, kursiv i. O.). Der Betrachter sieht Joes Reaktionen auf die Stimme aus dem Off und kann die Figur anhand ihrer leiblichen Resonanzen mit den erzählten (Lebens-) Geschichten identifizieren. Aber Joes Mimik spiegelt nur indirekt die Wirkung der Narration wieder, und der Rezipient kann bloß vermuten, daß die Figur vor ihrem inneren Auge eine Entsprechung dessen sieht, was in seiner eigenen Vorstellung aufscheint. Der Zuschauer ist also aufgefordert, sich in Joes Hörerrolle zu versetzen und sieht ihm und sich beim stummen Zuhören zugleich zu. Die Stimme verweist auch auf das (frühere) Vorhandensein von anderen unsichtbaren Beobachtern (»Look up, Joe, we're watching you«, CDW 363), die als unwillkürliche Halluzinationen erscheinen: »On and off... Behind the eyes.« (CDW 363). Im Gegensatz zu O in Film kann Joe die Auditoren aber per »Mentalmord« auslöschen: Am Ende von Eh Joe werden Stimme und Bild langsam aus- bzw. abgeblendet - Joe verschwindet für den Fernsehzuschauer, weil er offensichtlich seine auditoriale Selbstwahmehmung beenden konnte. Da die Kamera wie in Film eine Perspektivenverschränkung vorführt, die Joes Außenansicht mit seiner personalen Eigenperspektive verbindet, kann sie die Selbstauslöschung des Subjekts zeigen, indem sie die Szene verdunkelt und verstummen läßt. Mit dem percipere endet auch die Selbstwahrnehmung bzw. das percipi der Figur - Subjekt und Objekt fallen auf dem dunklen Bildschirm zu einer differenzlosen Einheit zusammen. Durch die medienspezifische Aufnahme-, Speicher- und Wiedergabetechnik können Becketts Film und Fernsehspiele den Akt der (Selbst-) Wahrnehmung auf neue Weise erkunden und darstellen. Die Kamera wird z.B. in Eh Joe zum Moderator, der zwischen Gestalt- und Gesichtsausschnitten des alten Manns wechselt. In Becketts Fernsehbearbeitung von Not I entfällt folgerichtig der 237
Auditor als eigenständige Figur und wird durch das Kameraauge ersetzt, das den Mund, der auf der Bühne klein und fem erscheint, in der Nahaufnahme zu einem übernatürlichen und bedrohlichen Kunstwesen vergrößert. 3 Wenn Sein Wahrgenommenwerden heißt, dann ändert sich das Aufscheinen des Subjekts nicht nur in der Vorstellung jedes einzelnen Rezipienten, sondern auch mit jeder medialen Innovation.
3
In der Fernsehadaption von Not I wurde der Mund von Billie Whitelaw gespielt, wärend Beckett die »feste Kontrolle« über die Produktion hatte, obwohl der Regisseur Donald Mc Whinnie offiziell verantwortlich war. Vgl. Esslin, Martin, Samuel Beckett und die Kunst des Rundfunks, in: Engelhardt, Hartmut (Hrsg.), Samuel Beckett, Frankfurt am Main 1984, S. 192. Die Femsehfassung von Not I wurde zusammen mit Eh Joe unter dem Titel Shades am 17. April 1977 von der BBC zum ersten Mal gesendet.
238
Bibliographie
Abel, Lionel, Metatheatre, A New View of Dramatic Form, New York 1969. Adorno, Theodor W., Noten zur Literatur I-IV, Frankfurt am Main 1961ff. - und Horkheimer, Max, Dialektik der Aufklärung, Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 1969. - Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1970. Anders, Günther, Die Antiquiertheit des Menschen, Uber die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1956. Anz, Thomas, Gesund oder krank: Medizin, Moral und Ästhetik in der deutschen Gegenwartsliteratur, Stuttgart 1989. Asmus, Walter D., Probentagebuch zu Becketts Inszenierung von Warten auf Godot, Programmheft des Berliner Schillertheaters 1975. - All Gimmicks gone?: Beckett inszeniert Was Wo fürs Fernsehen, in: Theater heute, Zürich 1986, Nummer 4. Austin, John L., Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words), Stuttgart 1972. Bachelard, Gaston, Poetik des Raumes, Frankfurt am Main 1987. Bair, Deirdre, Samuel Beckett, Eine Biographie, Hamburg 1991. Baril, Germaine, From Characters to Disccrete Events: The Evolving Concept of Dramatis Personae in Beckett's Radio Plays, in: The Review of Contemporary Fiction 7/2, 1987. Bartes, Roland, Was singt mir, der ich höre in meinem Körper das Lied, Berlin 1979. - S/Z, Frankfurt am Main 1987. Bateson, Gregory, Ökologie des Geistes, Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt am Main 1983. - Geist und Natur, Eine notwendige Einheit, Frankfurt am Main 1993. Beckett, Samuel, L'Innommable, Paris 1953. - Molloy, Frankfurt am Main 1954. - Malone stirbt, Frankfurt am Main 1958. - Gedichte, Wiesbaden 1959. - Der Namenlose, Frankfurt am Main 1959. - Murphy, Reinbeck 1959. - Interview mit Tom Driver, Beckett by the Madeleine, in: Columbia University Forum, 4.3,1961. - Erzählungen und Texte um Nichts, Frankfurt am Main 1962. - Proust-Essay, London 1965. - Auswahl in einem Band, Frankfurt am Main 1967.
239
-
Film, He Joe, Frankfurt am Main 1968. Watt, Frankfurt am Main 1970. Wie es ist, Frankfurt am Main 1977. Dramatische Dichtungen in drei Sprachen, Frankfurt am Main 1981. Vier Texte über moderne Malerei, in: Hartmut Engelhardt (Ed.), Samuel Beckett, Frankfurt am Main 1984. The Complete Dramatic Works, London 1986. Proust, Essay, Überarbeitet und teilweise neu übersetzt von K. Raabe, Frankfurt am Main 1989. Die Malerei der Van Veldes oder die Welt und die Hose, in: Bram van Velde 18951981, Herausgegeben zur Ausstellung »Bram van Velde, Retrospektive«, organisiert vom Bonnefantenmuseum Maastricht und dem Musée National d'Art Moderne, Centre George Pompidou, Paris, Bern 1989.
- Eleutheria, Paris 1995. Benveniste, Émil, Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, Frankfurt am Main 1977. Ben-Zvi, Linda, Beckett's media plays, in: Modern Drama, Number 1, Toronto 1985. - (Ed.), Women in Beckett·, performance and critical perspective, Illinois 1990. Birkenhauer, Klaus, Samuel Beckett in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbeck 1971. Blackman, Maurice, The shaping of a Beckett text: >PlayMolloyMalone stirbt< und >Der Namenloset, Frankfurt am Main 1976. - (Ed.), Samuel Beckett, Frankfurt am Main 1984. Esslin, Martin, Das Theater des Absurden, Frankfurt am Main 1964. - Mediations, Essays on Brecht, Beckett and the Media, London 1980. - Samuel Beckett und die Kunst des Rundfunks, in: Engelhardt, Hartmut, (Ed.), Samuel Beckett, Frankfurt am Main 1984. - Die Zeichen des Dramas, Theater, Film, Femsehen, Reinbeck bei Hamburg 1989. - Telling it how it is, Beckett and the Mass Media, in: Smith, Joseph H., The world of Samuel Beckett, Baltimore and London 1990. Erfurth, Eric, Bananen und Stachelbeeren oder Krapp, Fontane, Beckett und die Bibliotheksphänomene, in: Forum Modernes Theater 7/1, Tübingen 1992. Fletcher, John, Samuel Beckett's art, London 1967. Foucault, Michel, Wahnsinn und Gesellschaft, Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt am Main 1969. - Die Ordnung der Dinge, Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1971. - Die Geburt der Klinik, Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, München 1973. - Schriften zur Literatur, Frankfurt am Main 1988.
241
-
Sexualität und Wahrheit, zweiter Band, Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt am Main 1989. Frank, Manfred, Die Unhintergehbarkeit von Individualität, Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlaß ihrer >postmodemen< Toterklärung, Frankfurt am Main 1986. - Das Sagbare und das Unsagbare, Studien zur deutsch-französischen Hermeneutik, Frankfurt am Main 1989. Frost, Everett C , Fundamental sounds: Recording Samuel Beckett's Radio Plays, Theatre Journal 43 (1991). Fischer-Lichte, Erika, Bedeutung, Probleme einer semiotischen Hermeneutik und Ästhetik, München 1979. - Semiotikdes Theaters, 3 Bände, Tübingen 1983. - Geschichte des Dramas, Epochen der Identität auf dem Theater von der Antike bis zur Gegenwart, 2 Bände, Tübingen 1990. - Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen/Basel 1993. Flechtner, Hans-Joachim, Grundbegriffe der Kybernetik, Eine Einführung, München 1984. Fletcher, John, Samuel Beckett's Art, London 1967. v. Foerster, Heinz, Sicht und Einsicht, Braunschweig/Wiesbaden 1985. Freud, Sigmund, Studienausgabe Band IX, Fragen der Gesellschaft / Ursprünge der Religion, Frankfurt am Main 1974. Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode, Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1965. - Die Aktualität des Schönen, Kunst als Spiel, Symbol und Fest, Stuttgart 1977. Gölter, Waltraud, Entfremdung als Konstituens bürgerlicher Literatur, dargestellt am Beispiel Samuel Becketts, Versuch einer Vermittlung von Soziologie und Psycho-analyse als Interpretationsmodell, Heidelberg 1976. Grant, Michael, und Hazel, John, Lexikon der antiken Mythen und Gestalten, München 1980. Grätzel, Stephan, Die philosophische Entdeckung des Leibes, Stuttgart/Wiesbaden 1989. - Organische Zeit, Zur Einheit von Erinnerung und Vergessen, Freiburg/München 1993. Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt am Main 1988. - Der philosophische Diskurs der Moderne, Zwölf Vorlesungen, Frankfurt am Main 1989. Haerdter, Michael, Samuel Beckett inszeniert das Endspiel, Bericht von den Proben der Berliner Inszenierung, in: Materialien zu Becketts Endspiel, Frankfurt am Main 1968. Hamburger, Käte, Die Logik der Dichtung, 4. Auflage, Stuttgart 1994. Hamilton, Alice und Kenneth, Condemned to life, Grand Rapids 1976. Hegel, G.W.F., Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1952. - Einleitung in die Ästhetik, München 1985. Heidsiek, Arnold, Das Groteske und das Absurde im modernen Drama, Stuttgart 1969. Hensel, Georg, Samuel Beckett, Velber bei Hannover 1968. Herder, Johann Gottfried, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Stuttgart 1993. Hildebrandt, Hans-Hagen, Becketts Proust-Bilder, Stuttgart 1980.
242
Hoenn, Karl, (Ed.), Die Anfänge der abendländischen Philosophie, Zürich 1949. Hoffmeister, Johannes, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 1955. Hofstadter, Douglas R.: Godei, Escher, Bach, ein Endloses Geflochtenes Band, Stuttgart 1985. Hoppe, Hans, Das Theater der Gegenstände, Bensberg-Frankenforst 1971. Hume, David, Traktat über die menschliche Natur. Ein Versuch die Methode der Erfahrung in die Geisteswissenschaft einzuführen, Leipzig/Hamburg 1912. - Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Stuttgart 1967. Ionesco, Eugène, Bekenntnisse, Nach Gesprächen aufgezeichnet von Claude Bonnefoy, Zürich 1969. Iser, Wolfgang, Der implizite Leser, Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, München 1972. - Samuel Becketts Dramatische Sprache, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, Neue Folge Bd. XI, Heidelberg 1961. Issacharoff, Michael, Stage Codes, in: Ders. (Ed.), Performing Textes, Philadelphia 1988. Janvier, Ludov ic, Beckett par lui-même, Paris 1969. Jung, Carl-Gustav (Ed.), Der Mensch und seine Symbole, Ölten 1968. Kalb, Jonathan, Beckett in Performance, Camebridge 1989. - The mediated Quixote: the radio and television plays, and Film, in: Pilling, John, The Camebridge Companion to Beckett, Camebridge 1994. Kandinsky, Wassily, Essays über Kunst und Künstler, Bern 1955. Kenner, Hugh, Samuel Beckett, Eine kritische Studie, München 1965. - Die Trilogie, in: Engelhardt, Hartmut, (Ed.), Samuel Beckett, Frankfurt am Main 1984. - The Mechanic Muse, New York/Oxford 1987. Kittler, Friedrich Α., Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1985. Ders. (Ed.), Arsenale der Seele, Literatur- und Medienanalyse seit 1870, München 1989. - Anmerkungen zum Volksempfang, in: Die Geometrie des Schweigens, Ein Symposion zu Theorie und Praxis einer Kunst im elektronischen Raum: Am Beispiel der Radiokunst, Museum moderner Kunst - Stiftung Ludwig, Wien 1991. - Draculas Vermächtnis, Technischen Schriften, Leipzig 1993. Kittler, Wolf, Digitale und analoge Speicher, Zum Begriff der Memoria in der Literatur des 20. Jahrhunderts, in: Haverkamp, Anselm, und Lachmann, Renate, (Edd.) Gedächtniskunst: Raum-Bild-Schrift, Studien zur Mnemotechnik, Frankfurt am Main 1991. Knowlson, James, The Theatrical Notebooks of Samuel Beckett, Vol. III: Krapp's Last Tape, London 1980. - Happy Days - The Production Notebook of Samuel Beckett, London 1985. Kott, Jan, Shakespeare heute, Frankfurt am Main 1964. Krüger, Perspektivenwechsel, Autopoiese, Moderne und Postmoderne im kommunikationsorientierten Vergleich, Berlin 1993. Laas, Henner, Samuel Beckett, Dramatische Form als Medium der Reflexion, Bonn 1978. - Ders. und Schröder, Wolfgang, Samuel Beckett, München 1984. Laing, Ronald D., Das Selbst und die Anderen, Köln 1973.
243
-
Das geteilte Selbst. Eine existentielle Studie über geistige Gesundheit und Wahnsinn, München 1987. Laplanche, J„ J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1973. Lawley, Paul, Embers; an interpretation, in: Journal of Beckett Studies, Number 6, New York 1981. - Beckett's dramatic counterpoint: a reading of >PlayZwei zu einsc Eine charakteristische Dialogkonstellation im Absurden Theater, in: Forum Modernes Theater, Bd. 1/2, Tübingen 1986. - Samuel Beckett's Play, Quad: An Abstract Synthesis of the Theatre, in: CanadianAmerican Slavic Studies, Vol. 22, Bakersfield 1988. Schmidt, Siegfried J. (Ed.), Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, Frankfurt am Main 1992. - (Ed.), Kognition und Gesellschaft, Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus 2, Frankfurt am Main 1992. - (Ed.), Gedächtnis, Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung, Frankfurt am Main 1992. Schoell, Konrad, Das Theater Samuel Becketts, München 1967. Schopenhauer, Arthur, Sämtliche Werke, Frankfurt am Main 1986. Shakespeare, William, The complete works, London 1984. Strindberg, Augsut, Werke, München 1955. Schwab, Gabriele, Samuel Becketts Endspiel mit der Subjektivität, Entwurf einer Psychoästhetik des modernen Theaters, Stuttgart 1981. - Entgrenzungen und Entgrenzungsmythen, Zur Subjektivität im modernen Roman, Stuttgart 1987. - On the Dialectic of Closing and Opening in Endgame, in: Connor, Steven (Ed.), New Casebooks - Waiting for Godot and Endgame, Houndmills/London 1992. Schwanitz, Dietrich, Systemtheorie und Literatur, Ein neues Paradigma, Opladen 1990. - Die Wirklichkeit der Inszenierung und die Inszenierung der Wirklichkeit, Meisenheim am Glan 1977. Spittler, Horst, Darstellungsperspektiven im Drama, Ein Beitrag zu Theorie und Technik dramatischer Gestaltung, Frankfurt am Main 1979.
245
Sturm, Oliver, Tritte - Episierung des Dramas, in: Engelhardt, Hartmut, (Ed.), Samuel Beckett, Frankfurt am Main 1984. - Der letzte Satz der letzten Seite zum letzten Mal, Der alte Beckett, Hamburg 1994. Szeemann, Harald und Clair, Jean (Edd.), Junggesellenmaschinen, Venedig 1975. Völker, Klaus, (Ed.), Beckett in Berlin, zum 80. Geburtstag, Berlin 1986. Watzlawick, Paul, (Ed.), Die erfundene Wirklichkeit, Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben, Beiträge zum Konstruktivismus, München 1985. - Janet H. Beavin, Don D. Jackson, Menschliche Kommunikation, Formen, Störungen, Paradoxien, Bern/Göttingen/Toronto, 1992. - John H. Weakland, Richard Fisch, Lösungen, Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels, Bern/Göttingen/Toronto, 1992. Wilke, Helmut, Systemtheorie. Eine Einführung in die Grundprobleme sozialer Systeme, Stuttgart/New York 1991. Wittgenstein, Ludwig, Tractatus Logico-Philosophicus, Frankfurt am Main 1963. Worth, Katharine, Beckett and the radio medium, in: Drakakis, John, British radiodrama, Cambridge 1981. - Beckett's Auditors: Not I to Ohio Impromptu, in: Brater, Enoch, (Ed.), Beckett at 80/ Beckett in Context, New York/Oxford 1986. - Enigmatic influences, Yeats, Beckett and Noh, in: Sekine, Masaru und Murray, Christopher, Yeats and the Noh: A Comparative study, Buckinghamshire 1990. Zilliacus, Clas, Beckett and Broadcasting, A Study Of The Works Of Samuel Beckett For And In Radio And Television, Acta Academiae Aboensis, Ser. Α. Humaniora Vol. 51 Nr. 2; Abo 1976. Zurbrugg, Nicholas, Beckett and Proust, Buckinghamshire 1988.
246