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German Pages [152] Year 1985
BÖHLAU-STUDIEN-BÜCHER QUELLEN · DOKUMENTE · MATERIALIEN NIBELUNGENLIED U N D NIBELUNGENSAGE
HERMANN REICHERT
NIBELUNGENLIED UND
NIBELUNGENSAGE
1985
HERMANN BÖHLAUS NACHF. · WIEN · KÖLN
Gefördert durch das Bundesministerium fur Wissenschaft und Forschung in Wien
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Hermann Reichert: Nibelungenlied und Nibelungensage / Hermann Reichert Wien, Köln, Böhlau, 1985 (Böhlau-Studien-Bücher) I S B N 3-205-08376-8
ISBN 3-205-08376-8 (br.) ISBN 3-205-98376-9 (geb.) Copyright © 1985 by Hermann Böhlaus Nachf. Ges.m.b.H., Graz Alle Rechte vorbehalten Die Texterstellung erfolgte durch den Autor mit Programmen des Autors auf einem Kiemcomputer der Fa. Wiesldata Druck: Becvar, Wien
INHALT
Vorwort Zur Einfuhrung Der Text Die Entstehung Die Anonymität des Nibelungenliedes Der politische Umkreis Eine „Dichterwerkstatt" am Passauer Bischofshof?
Der Vortrag - Metrik und Melodie Die Nibelungenstrophe Die Melodie
Die ersten drei Aventiuren 1. Aventiure 2. Aventiure 3. Aventiure
7 9 11 17 24 25 28
37 37 40
44 44 46 55
Ein Textproblem
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Macht und Reichtum
66
Siegfried und der Mythos
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Nibelungensage außerhalb des Nibelungenliedes
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Zeugnisse vor 1200 Snorra Edda Liederedda Thidreks saga Vçlsunga saga
Die historischen Grundlagen Die Burgunder Wraja Attila
84 88 93 101 110
118 118 121 125
Die Funktion der Zeit
128
Dem ersten ähnlich
132
Freude und Leid
135
Die Ehre
144
Ursache und Schuld
Literaturverzeichnis
6
146
148
VORWORT Dieses Buch enthält den Text einer Vorlesung v o m Sommersemester 1985, die gleichermaßen für Studienanfänger ohne Vorkenntnisse geeignet sein wie auch Studenten höherer Semester noch Anregungen bieten sollte. Die Konventionen und Forderungen, die die literarische Gattung der in erster Linie für den Vortrag bestimmten Vorlesung an den Verfasser stellt, sind streng, und die Druckfassung sollte nicht oder jedenfalls kaum v o m Manuskript abweichen. Der mündliche Vortrag tat es dagegen des öfteren, und was man im Hörsaal spricht, ist sehr oft nicht das, was man auf dem Manuskript vor sich stehen hat. Mit Mischformen mündlicher und schriftlicher Dichtung haben wir aber bei der Interpretation des Nibelungenliedes ständig zu tun, und ich hoffe, daß das Buch dadurch an Lesbarkeit gewinnt, daß es sich an Hörer und nicht nur an Leser wendet. Die Literatur über das W e r k füllt Bibliographien. Im Anhang wurde einiges zusammengestellt, was dem Interessierten zum ersten Einstieg dienen mag und gleichzeitig meinen Studenten als Lektüreliste dienen soll. W e r sich ein genaues Bild über die Forschung machen will, m u ß zu den Forschungsberichten greifen, die es zum Nibelungenlied zum Glück in ausgezeichneter Qualität gibt - auf das wichtigste weise ich im Anhang hin. Vor allem die Bändchen von Werner H O F F M A N N ermöglichen es mir, die Bibliographie kurz zu halten. Des öfteren glaubte ich zu Spezialthemen im Text auf Literatur hinweisen zu müssen, die ich mich nicht in den Anhang aufzunehmen entschloß. In diesen Fällen setzte ich dort genaue bibliographische Angaben. Doch Werke, die im Literaturverzeichnis aufscheinen, werden im Text nur abgekürzt (Autor, Titel) zitiert. Ein Buch über das Nibelungenlied zu schreiben, ist eine Herausforderung, aber auch ein hartes Stück Arbeit. Leichter war es, den Vorsatz dazu zu fassen, als ihn auch bis zum Schluß durchzuhalten. Dazu ermutigte mich das Interesse der Studenten und befähigte mich die engelhafte Geduld meiner Frau. Wien, im Juni 1985
Hermann Reichert 7
ZUR EINFÜHRUNG Das Nibelungenlied gehört zu den wenigen Werken der mittelhochdeutschen Blütezeit, von denen wir zahlreiche Handschriften erhalten haben (einschließlich der nur fragmentarisch erhaltenen sind es 34). Es stand damit in der Beliebtheit bei den Zeitgenossen allerdings unter anderem hinter Wolframs Parzival zurück (von dem wir über 80 kennen). In den letzten beiden Jahrhunderten wurde es dagegen noch mehr gelesen und auch öfter nachgestaltet als der Parzival und liegt, was den Bekanntheitsgrad mittelhochdeutscher Literatur betrifft, heute unangefochten an erster Stelle. Daß Wolfram dahinter zurückgefallen ist, mag darauf beruhen, daß nur wirklich ausgezeichnete Kenner des Mittelhochdeutschen sich an die Lektüre seiner Werke in der Originalsprache wagen können, und solche sind heute leider selten. Vielleicht aber wurde das Nibelungenlied weitgehend mündlich tradiert, und daher kann die Zahl der Handschriften im Vergleich zu einem „Buchepos" geringer sein, obwohl es möglicherweise einem größeren Publikum bekannt war. Es mag aber auch sein, daß die Gegenwart aufgeschlossener ist für tragische Dichtung als das 13. Jahrhundert. Es ist sicher kein Zufall, daß eine Fassung des Nibelungenliedes (wir nennen sie * C , siehe unten) die Tragik etwas zu mildern versucht. Auch das Jüngere Hildebrandslied, das vermutlich im 13. Jahrhundert entstanden ist, bekommt einen glücklichen Ausgang (wir wissen, daß das alte Hildebrandslied tragisch endete: der Vater erschlug den Sohn), und in der groß teils wohl ebenfalls im 13. Jahrhundert entstandenen Dietrichepik - den Epen um Dietrich von Bern, dem Sagenhelden, der aus dem historischen Ostgotenkönig Theoderich (f 526) hervorgegangen ist gibt es zwar Unmassen von Toten, doch dieser Dietrich ist zwar klagend, aber nicht heroisch-tragisch. Man hat auf ihn den Modeausdruck „depressiv" angewandt, vor allem in bezug auf die Epen von der „Rabenschlacht". Echte Tragik scheint die Menschen des dreizehnten Jahrhunderts überfordert zu haben, während wir bereit sind, auch eine Literatur der Hoffnungslosigkeit in uns aufzunehmen und zu verarbeiten. 9
Es handelt sich im Nibelungenlied nicht nur um militärischen Untergang und um ein einmaliges historisches Ereignis, das uns vielleicht zum warnenden Exempel dienen könnte: Liebe gibt am Schluß immer Leid (Str. 2378) ist das Resümee des Dichters, und das ist, vor allem wenn die Heldin am Anfang wie eine Märchenprinzessin in die Geschichte eingetreten ist, schwer zu ertragen. Und sinnlos sterben auch die anderen Figuren, die sich teils aus Schwäche, teils aus unverständigem Heldenmut mit in den T o d ziehen lassen - manche von ihnen, aber beileibe nicht alle, aus sogenannter Nibelungentreue. Sinnlos ist ihr Tod, weil sie nicht etwa im Kampf gegen irgendein Böses fallen, sondern fur eine Ehre, die sie als ein höchstes Gut absolut setzen. Was sie aber für ihren T o d ernten, ist nicht Nachruhm, sondern nur die Klage der Überlebenden. W o Leidenschaften aufeinandertreffen, ist allen Beteiligten der Untergang sicher, und die weise und stark genug sind, sich heraushalten zu können, retten gerade das eigene Leben. Zu dieser harten Aussage scheint die bekannte Eingangsstrophe des Nibelungenliedes wenig zu passen, die uns Geschichten aus alten Zeiten verheißt: Freude und Feste, Weinen und Klagen stehen in ihr wie gleichberechtigt nebeneinander. Das Wunderbare der kommenden Erzählung wird zweimal genannt und damit über das andere hervorgehoben. Wenn Sie solches empfinden, hat Ihr Gefühl Sie nicht getrogen. In der Handschrift B , der die meisten Ausgaben folgen und die dem Original wahrscheinlich doch am nächsten steht, findet sich diese Einleitungsstrophe nicht. Es ist zu vermuten, daß sie aus der Fassung * C stammt, aber die hat unter anderem auch aus dem gibt immer Leid der vorletzten Strophe ein gibt gerne ( = oft) Leid gemacht und schließt auch nicht wie Β daz ist der Nibelunge not, sondern daz ist der Nibelunge liet, und * C ist auch innerhalb des Werkes bemüht, bittere Tränen durch eine Art romantisierende Tränenseligkeit zu ersetzen oder zumindest durch einige gemütlich-heitere Einlagen zu mildern. Β beginnt direkt mit der Vorstellung Kriemhilds und ist ein Kriemhildepos; keine schön-schaurige Vorzeitgeschichte, sondern die tragische Geschichte einer ihre Liebe über alles stellenden Frau, die nach den zitierten Worten des Autors zeitlos gültig sein soll. Schon diesen einleitenden Worten haben Sie entnommen, daß das Nibelungenlied ein Text ist, zu dessen Interpretation eine gute Kenntnis der Überlieferungssituation notwendig ist, und noch mehrere Dinge werden hinzukommen, die nicht nur zur Vertiefung des Verständnisses, sondern zu sinnvollem Verstehen überhaupt als Vorwissen nötig sind. Es sind dies außer dem schon genannten Punkt (1) Bearbei-
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tungen beziehungsweise Handschriften: (2) die Beschäftigung mit den Parallelüberlieferungen - die zahlreichen Nibelungendichtungen des 13. Jahrhunderts zeigen, daß nicht nur die künstlerische Gestaltung, sondern der Stoff an sich interessierte -, weiters (3) die Frage, wie dieser Stoff neben der schriftlichen Fassung lebte und inwieweit der Dichter Gestaltungselemente mündlicher Dichtung für ein Buchepos anwandte oder ob er tatsächlich mündliche Dichtung aufzeichnete all das, was man in den letzten beiden Jahrzehnten als Oral Poetry im Nibelungenlied diskutiert hat. Schließlich (4) ist es noch sehr die Frage, ob uns die Untersuchung der Herkunft einzelner Motive wirklich den Blick aufs Ganze verstellt, wie man eine Zeitlang angen o m m e n hat. Bei der Rekonstruktion früherer Stufen der Dichtung m u ß man wirklich oft aus bedeutenden Dichtungen einzelne Motive, die man für seine Untersuchung braucht, herausreißen wie aus einem Steinbruch, ohne primäres Interesse für das überlieferte W e r k . Aber das Steinbruch-Gleichnis, mit dem man eine Zeitlang die Heldensagenforschung zu diffamieren versuchte, stimmt ja nicht. Man zerstört das W e r k nicht, wenn man es aus einem bestimmten Grund auf ein spezielles Motiv hin liest, wie der Steinbruch ein irreversibler Eingriff in den Berg ist. Jederzeit kann man die Lektüre wieder aufnehmen mit dem Ziel, dieses W e r k als Ganzes auf sich wirken zu lassen. DER TEXT
Unser erstes Thema ist die Überlieferung. Die Ausgaben, die Sie benutzen können, die Handschriften, auf denen sie beruhen und die Probleme, mit denen man konfrontiert ist, wenn man einigermaßen sinnvolle Kriterien zur Texterstellung finden will. W i e von fast allen mittelalterlichen Dichtungen, besitzen wir die Originalhandschrift des Autors nicht. Die drei ältesten vollständig erhaltenen Exemplare unterscheiden sich nicht nur durch irgendwelche unwesentliche Kleinigkeiten, Schreibfehler und dergleichen, sondern sie gehen auf verschiedene Bearbeitungen des uns nicht erhaltenen Originals zurück. Sie sind auch unterschiedlich lang: A hat 2316 Strophen, Β 2376 und C hatte, bevor ein paar Blätter verlorengingen, wahrscheinlich 2439 Strophen. Die längste der Haupthandschriften (C) hat insgesamt über 100 Strophen mehr als die kürzeste (A), aber anderseits besitzt auch diese Strophen, die die längeren nicht haben. Im Jahre 1826 hat Karl LACHMANN die erste kritische Ausgabe des Nibelungenliedes besorgt und ging dabei davon aus, daß die kürzeste Version die ursprüngliche sein müsse und die längeren durch Hinzudichten einzelner Strophen entstanden seien. Von ihm stammt auch die Bezeichnung der kürzesten als A, der mittleren als Β und der
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längsten als C. Die älteste vollständige Handschrift ist sicherlich C (aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts); die Hohenems-Donaueschinger (so genannt nach dem Fundort im 18. Jahrhundert und dem derzeitigen Aufbewahrungsort). Daß der in ihr gebotene Text kaum jünger ist als die anderen, zeigt ein leider nur kurzes Bruchstück einer fast ganz zerstörten Handschrift (Z) - das älteste, das wir vom Nibelungenlied überhaupt besitzen -, das in einer Schrift geschrieben ist, die vor und um 1200 gebräuchlich war, und das den selben Text bietet wie C (auch in der zufallig auch in Ζ erhaltenen Überschrift einer Aventiure!). Sie steht jedoch, obwohl sie älter als A und Β ist, durchaus nicht dem mutmaßlichen Original besonders nahe. Das Nibelungenlied ist nicht zufällig anonym überliefert; die Heldendichtung war im wesentlichen mündlich tradiert worden. Wenn auch die Fassung durch einen großen Dichter um 1200 die Erinnerung an die bestehende Nibelungentradition nicht ausgelöscht hat, so hat sie doch zu einer gewissen Kanonisierung eines Gemeintextes geführt. Das hat aber die Abschreiber nicht daran gehindert, von sich aus Neuerungen einzuführen sowie alte Elemente von Nibelungentraditionen, die der Dichter ausgeschieden oder verändert hatte, wieder herzustellen. Diese Redakteure sind aber sicher nicht mit den Schreibern von Α, Β und C identisch; alle drei Handschriften sind, wie der Fehlervergleich zeigt, Abschriften von Vorlagen, die uns nicht mehr erhalten sind. Wir unterscheiden also Fassungen des Nibelungenliedes *B, *C (und eventuell auch *A), die bald nach 1200 anzusetzen sind, von den Handschriften A B C usw. Wolfram von Eschenbach wird wohl, als er 1205 oder knapp danach im Parzival (420,25 ff.) zwei Figuren (in einem Wortgefecht) aus dem Nibelungenlied zitieren läßt, eine *CStrophe gekannt haben: Wolfram: (Liddamus:) „ich tœte ê als Rûmolt, der kiinec Gunthere riet, do er von Wormz gein Hiunert schiet: er bat in lange sniten bœn und inme kezzel umbe drcen."
(Kingrimursel:) „ir rät mir dar ich wolt iedoch, und sprecht, ir tcet als riet ein koch den küenen Nibelungen, die sich unbetwungen uz huoben dà man an in räch daz Sivride da vor geschach. "
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„Ich würde eher wie Rumold handeln, der König Gunther riet, als er von Worms ins Hunnenland aufbrach: er bat ihn, lange Schnitten zu bähen und im Kessel zu wenden." - „Ihr rät mir zwar genau zu dem, was ich wollte, aber ihr sagt, ihr würdet nach einem Rat handeln, den ein Koch den kühnen Nibelungen gab, die noch unbesiegt waren, als sie dorthin aufbrachen, wo man an ihnen rächte, was an Siegfried geschehen war."
Nibelungenlied
Β
(de
BOOR
1466 ff.):
„Welt ir niht volgeri Hagene, iu rcetet Rümolt, wand ich iu bin mit triuwen vil dienestlíchen holt, daz ir suit hie beltben durch den willen min, und lât den künec Etzel dort bi Kriemhilde sin. Wie künde iu in der werlde immer sanfter wesen? ir muget vor iuwern vi"enden harte wol genesen, ir suit mit guoten kleidern zieren wol den lip: trinket win den besten unt minnet wxtlichiu wip. Dar zuo git man iu spise, die besten di ie gewan in der Werlte künec deheiner. ob des niht möht ergân, ir soldet noch beltben durch iuwer schoene wip, ê ir so kintliche soldet wagen den Up. Des rat ich iu beltben. rieh sint iuwer lant. man mac iu baz erlcesen hie heime diu pfant danne dà zen Hiunen. wer wetz wie iz da gestât? ir suit beltben, herren: daz ist der Rümoldes rät. "
„Wenn ihr nicht Hagen folgen wollt, so rät euch Rumold, denn ich bin euch in treuen Diensten gewogen, daß ihr um meinetwillen hier bleiben sollt und den König Etzel dort bei Kriemhild sein läßt. Könnte es euch irgendwo auf der Welt besser gehen als hier? Ihr könnt vor euren Feinden sehr wohl bestehen. Zieht euch mit schönen Kleidern gefällig an, trinkt den besten Wein und minnt hübsche Frauen. Dazu reicht man euch das beste Essen, das je ein König bekam. Und wenn das nicht Grund genug ist, dann bleibt wenigstens wegen eurer schönen Ehefrauen, bevor ihr so kindisch das Leben wagt. Deswegen rate ich euch, bleibt. Eure Lande sind reich. Man kann euch hier zu Hause leichter die Pfänder auslösen als dort im Hunnenland. Wer weiß, wie es dort ergeht? Ihr sollt bleiben, Herren: Das ist der Rat Rumolds."
Nibelungenlied *C hat zusätzlich zu den B-Strophen (Orthographie leicht normalisiert): Ob ir niht anders hiete daz ir möhte geieben, ich wolde iu ein spise den vollen immer geben: sieden in öl gebrouwen; daz ist Rümoldes rat. so ist ez sust angestlichen erheben da zen Heunen
stat.
Wenn ihr nichts anderes hättet, dessentwegen ihr weiterleben wollt, so würde ich euch von einer Speise immer so viel machen, wie ihr wollt: In Öl herausgebackene Pofesen. Das ist Rumolds Rat. Sonst kommt es dort bei den Hunnen zu etwas Schrecklichem. 13
Wer der Meinung ist, *C sei eine sehr junge Redaktion (um 1220), benötigt die komplizierte Hypothese, Wolfram habe nur *B gekannt und die Geschichte von den „Schnitten" (heutigen Köchen als Pofesen bekannt) hinzuerfunden, die vom Redaktor *C aus Wolfram wieder erweiternd übernommen worden sei. Diese Konstruktion ist aber überflüssig. Erstens hat die Stelle bei Wolfram als genaues Zitat den besseren Witz, und zweitens ist ja seit der Auffindung des Fragmentes Ζ das hohe Alter von *C ohnehin gesichert. Entlehnungen des Nibelungenliedes aus Wolfram scheint es auf keiner Stufe gegeben zu haben, Wolfram zitiert es hingegen mehrfach, vielleicht auch in den ersten Büchern des Parzival, die er aber wahrscheinlich nicht als erste gedichtet hat; die Ortsnamen Zazamanc und Azagouc muß Wolfram nicht ausgerechnet aus dem Nibelungenlied haben, doch der umgekehrte Weg ist kaum möglich: hier sind sie Herkunftsorte von Seidenstoffen, ein Fach, in dem unser Dichter gute Kenntnisse besaß; bei Wolfram Königreiche. Für die Annahme, daß Wolfram nicht das Nibelungenlied gekannt hätte, sondern eine ältere Nibelungendichtung, die *C ähnlicher gewesen sei, gibt es keine Hinweise. Alles, was er über das Nibelungenlied weiß, kann er aus *C haben, und das ist wohl die wahrscheinlichste Lösung. *C seinerseits hat freilich mit den Pofesen und anderen humoristischen Einschüben nicht unbedingt geneuert, sondern wohl fallweise auf ältere, burleske Gestaltungen des Stoffes zurückgegriffen. Die Fassung *B, in der St. Gallener Handschrift Β (um 1250) und in einigen weiteren sehr guten Exemplaren erhalten, hat lange Zeit für die „Originalfassung" gegolten, und auch heute nimmt man sie noch am ehesten als Textgrundlage - sowohl was den Wortlaut im einzelnen betrifft, als auch den Strophenbestand: Die gebräuchlichsten modernen Ausgaben bieten 2379 Strophen, das sind nur um drei mehr als in Β stehen. Da fragt man sich, ob es nicht besser wäre, auf diese drei Strophen zu verzichten, das sind außer den uns liebgewordenen Strophen 1 und 3 noch die ganz unnötige Strophe 523,4 bis 524,3 (Zählung nach de BOOR), die weder A noch Β bieten. Der Geschlossenheit würde eine solche Ausgabe besser tun. Die Liebe zu einzelnen besonders gefälligen Strophen aus *C hat allerdings schon im Mittelalter dazu gefuhrt, daß Handschriften der *B-Gruppe sie aufnahmen; ζ. B. d (die Abschrift im Ambraser Heldenbuch, sie erfolgte erst unter Kaiser Maximilian um 1500, aber sehr sorgfältig und von einer sehr guten Vorlage), d bietet in den Strophen, die beiden Redaktionen gemeinsam sind, meist den Wortlaut von B, enthält aber etwa 20 „Plusstrophen" aus *C (darunter auch die oben besprochene Str. 14
523,4 bis 524,3). Sogar A enthält einige Strophen aus * C , die Β fehlen; darunter die Einleitungsstrophe. Dies gilt als Rechtfertigung für ein ähnliches Vorgehen heutzutage. In welcher Ausgabe können Sie nun das Nibelungenlied am besten lesen? Für wissenschaftliche Textvergleiche ist am besten eine, die die drei Haupthandschriften parallel nebeneinander abdruckt und zudem die Lesarten der anderen am Rand angibt. So ist die Ausgabe von Michael S. B A T T S angelegt. Für Straßenbahnlektüre ist sie allerdings unhandlich. Die Rekonstruktion der Fassung * B nach den Handschriften Β und d stellt den am häufigsten gelesenen Text dar, am besten zugänglich in der Ausgabe von Helmut de B O O R , die seit 1956 in zahlreichen Auflagen erschienen ist. Helmut BRACKERT, dem wir die derzeit im wesentlichen gültige Anschauung über die Handschriftenverhältnisse des Nibelungenliedes verdanken, weicht im Text seiner Ausgabe nur in unwesentlichen Kleinigkeiten von de B O O R ab. Der Unterschied liegt in der pädagogischen Gestaltung: BRACKERT druckt parallel zum mittelhochdeutschen Text eine Übersetzung, de B O O R gibt statt einer Übersetzung unter dem Text Wort- und Sacherklärungen, die auch dem Anfänger das selbständige Übersetzen ohne Schwierigkeiten ermöglichen und das Original oft besser verstehen lehren als BRACKERTS neuhochdeutsche Version, die zudem stilistisch etwas trocken geraten ist. Die künstlerisch höchststehende poetische Übertragung des Nibelungenliedes stammt von Felix GENZMER (Reclam), geht aber von C aus. GENZMER war, wie manche andere auch, der Meinung, daß * B und * C das Werk desselben Dichters seien. Dieser hätte einige Jahre nach dem Erscheinen seines Werkes, das einerseits gut aufgenommen worden sei, anderseits aber auch Kritik gefunden hätte, weil es sich von der mündlichen Nibelungenüberlieferung der Zeit grundlegend unterschied, nicht nur in Handlungsdetails, sondern vor allem im Weltbild, eine neue Fassung niedergeschrieben, eben * C . In einigen Punkten hätte er der Kritik stattgegeben, in anderen seinen eigenen Standpunkt noch mehr ausgebaut, insgesamt geglättet, verfeinert und einiges hinzugedichtet. * C sei die Fassung letzter Hand des Dichters. Nun ist tatsächlich der Unterschied im Sprachgebrauch zwischen Β und C nicht so groß, daß diese These unmöglich wäre; die grundsätzlich geänderte Weltanschauung und die Milderung der Tragik könnten auch durch Änderung der Persönlichkeit eines Individuums von einem Lebensabschnitt zum anderen erklärt werden. Doch ist durchaus damit zu rechnen, daß der kunstsinnige Bischof Wolfger von Passau (über den wir später sprechen werden) mehr als einen begabten 15
Epiker an seinen H o f zog, und gleich, ob der zweite Aufguß v o m selben Dichter stammt oder der Bischof einen anderen Mann mit der Umarbeitung betraute: das großartigere Kunstwerk ist für uns doch die frühere Fassung. G E N Z M E R war aber im Gegensatz zu anderen wenigstens konsequent, indem er v o m Anfang bis zum Ende bei C blieb und nicht verschiedene Quellen mischte. Genaueres zur Hss.- bzw. Fassungsfrage finden Sie bei Helmut B R A C K E R T , Beiträge zur Handschriftenkritik des Nibelungenliedes, Berlin 1963; dort ist die ältere Literatur angegeben. Von den Reaktionen auf B R A C K E R T nenne ich nur Fr. N E U M A N N , Handschriftenkritik am Nibelungenlied. Wenn Sie eine Übersetzung zu Rate ziehen wollen, müssen Sie auch immer bedenken, daß sich die Weltanschauung des Übersetzers in ihr spiegelt. Versucht er so weit wie möglich objektiv zu bleiben, wie B R A C K E R T , wird sein neuhochdeutsches Produkt farblos; gestaltet er freier, kann die Aussage der Dichtung geradezu umgekehrt werden. Als Beispiel dafür stehe die Übersetzung der ersten und der letzten Strophe durch B R A C K E R T und durch Ulrich PRETZEL (Stuttgart 1973): BRACKERT:
In alten Geschichten wird uns vieles Wunderbare berichtet: von ruhmreichen Helden, von hartem Streit, von glücklichen Tagen und Festen, von Schmerz und Klage, vom Kampf tapferer Recken: Davon könnt auch Ihr jetzt Wunderbares berichten hören. Ich kann Euch nicht sagen, was danach geschah, nur soviel kann ich sagen, daß man sah, wie Ritter, Frauen und edle Knappen den Tod ihrer treuen Freunde beweinten. Hier findet die Geschichte ihr Ende. Das ist „Der Nibelunge Not". PRETZEL:
Uns ist in alten Geschichten viel Herrliches erzählt worden: von ruhmvollen Helden und ihren schweren Kämpfen, von höchstem Glück, von tiefstem Schmerz und von dem Heldenkampf der tapferen Burgunden könnt Ihr jetzt eine herrliche Geschichte vernehmen. Das ist schon ganz schön dick aufgetragen; für Leute, die HerzSchmerz-Dichtung lieben. Die letzte Strophe hingegen wirkt heutzutage geradezu unerträglich: Ich weiß euch nicht mehr zu berichten, was dann später noch geschah, nur daß alle Ritter und Edelfrauen und alle Knappen den Tod ihrer lieben Verwandten und Freunde beweinten. Und damit ist unsere Geschichte zu Ende: es ist der Heldenkampf der Nibelungen. 16
Der Nibelungendichter spricht hier von keinem Heldenkampf, sondern von einer not. Diese wurde unter anderem durch den übermuot ( = Hochmut) der Burgunden verschuldet (Str. 1865, eine Strophe, die allerdings in PRETZELS Fassung fehlt, obwohl sie in Α, Β und C steht). Der Leser kann es kaum fassen, daß diese fälschende Ubersetzung 1973 entstand und nicht etwa 1909, als Fürst Bülow in einer Berliner Reichstagsrede das Schlagwort von der „Nibelungentreue" aufgebracht haben soll. DIE
ENTSTEHUNG
Chrétien de Troyes war der erste Verfasser eines Artusromans; die Geschichten, die ζ. B . seinem Erec zugrunde lagen, hatten in uns teilweise unbekannter, aber jedenfalls ganz anderer künstlerischer Form gelebt. Bei der Neuerzählung einer Fabel in neuer dichterischer Form - hier schriftliche Reimpaarverse - kann der Künstler, sofern er es vermag, ein einheitliches Ganzes schaffen. Im Falle des Nibelungenliedes existierten aber wahrscheinlich schon Dichtungen in derselben Strophenform, und das Publikum erwartete vom Sänger einen (mündlichen) Neuvortrag eines bekannten Liedes; bei mündlichem Vortrag an einem Abend natürlich nur von Teilen desselben, und die Persönlichkeit des letzten Dichters konnte sich nur in „Modernisierungen" auswirken. Daher wird man im Falle des Heldenepos mit einem anderen Ganzheitsbegriff arbeiten müssen als im Roman. Nun ging der Dichter zwar mit der Tradition sicher recht frei um (in welchem Ausmaß, ist sehr umstritten), doch sind stilistische Unterschiede und Unterschiede der Baupläne der einzelnen Elemente nicht zu verdecken gewesen. Für den werkimmanenten Interpreten der fünfziger- bis siebziger Jahre war ein Mangel an Geschlossenheit eben einfach ein künstlerischer Mangel, und das Nibelungenlied bekam in jüngerer Zeit auch nicht nur aus politischen Gründen schlechte Zensuren. W i r dürfen jedoch unterstellen, daß der Dichter durchaus ein großes Stilgefühl und Gefühl für Geschlossenheit besaß. Falls er trotzdem auf eine völlige Neugestaltung bewußt verzichtete, könnte dies zeigen, daß es für ihn noch ein höheres Prinzip als das der Geschlossenheit gab. W e r die Sekundärliteratur über das Nibelungenlied kennt, erwartet jetzt den Hinweis auf altiu mcere, die um ihretwillen tradiert wurden, deren Tradierung auch von Bischof Wolfger in Auftrag gegeben wurde, und diesen Hinweis gebe ich hiemit auch. Doch haben wir nicht gerade die erste Strophe aus dem Werk unseres Dichters eskamotiert?
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Zirka hundert Jahre vor dem Nibelungenlied ist das Annolied entstanden, eine religiöse Geschichtsdichtung. Es beginnt: Wir horten ie dikke singen Von alten dingen, Wi snelle helide vuhten, Wi si veste bürge brechen, Wi sich liebin winiscefte schieden, Wi riche Kiinege al zegiengen. Nu ist ziht daz wir dencken Wi wir selve sülin enden. Crist der unser hero güt Wi manige zeichen her uns vure düt, Aiser uffin Sigeberg havit gedan Durch den diurlichen man Den heiligen bischof Annen Wir hörten immer wieder singen von alten Begebenheiten, wie tapfere Helden kämpften, wie sie feste Burgen brechen, wie sich Geliebten Liebschaften schieden, wie mächtige Könige ihre ganze Herrschaft verloren. Nun ist es Zeit, daß wir daran denken sollen, wie wir selbst enden werden. Christus, unser guter Herr, wie viele Zeichen gibt er uns, wie er es auf dem Sigeberg getan hat, durch den würdigen Mann, den heiligen Bischof Anno!
Dies kann wohl nichts anders bedeuten, als daß schon hundert Jahre vor dem Nibelungendichter die Sänger historischer Lieder ihren Vortrag mit einer invariablen Einleitungsstrophe beginnen ließen, die noch nicht eigentlich zum Gedicht gehörte, sondern nur dem Zuhörer den beginnenden Vortrag eines Heldenliedes signalisierte. In dieser Form nicht einmal einem prologus ante rem (das ist ein allgemeines Vorwort an den Leser, das noch nicht auf den speziellen Inhalt des Werkes eingeht) der schriftlichen Dichtung vergleichbar, sondern die Kontaktaufnahme mit dem Publikum. Die zweite Strophe scheint dann den eigentlichen „Titel" gebracht zu haben, das heißt die Mitteilung ans Publikum, heute wird ein Lied über . . . (zum Beispiel Kriemhild) vorgetragen. Und diese Heldendichtungen müssen fur wahr gehalten worden sein, jedenfalls vom Dichter des Annoliedes, sonst hätte er die Geschichte seines Heiligen nicht als Gegenkonzept, als Absage an diese Lieder aufgebaut. Bei ihm ist es ein echter Prolog ad rem (der schon zum Thema gehört), denn durch das „wir hörten 18
immer wieder" wird schon die Gegenposition bezogen. Man hat diskutiert, ob dem Verfasser des Annoliedes schon eine frühe Nibelungendichtung das Vorbild für seinen Prolog abgegeben haben kann; das „Brechen fester Burgen", das im Nibelungenlied nirgends vorkommt, macht dies aber unwahrscheinlich. Diese Strophe muß wohl vor jeder Heldendichtung haben stehen können, und solcher Dichtungen gab es schon hundert Jahre vor dem Nibelungenlied viele, jeder kannte sie, und man hielt sie für wahr - das sind die wahrscheinlichsten Annahmen, die sich aus dem Annolied ergeben. Das „Neuerzählen" einer Geschichte wird nicht nur in der Volksdichtung, sondern auch im höfischen Roman, in Deutschland wie in Frankreich, zu einer Standardformel in der Einleitung. Doch fehlen dort die weiteren Bestimmungsstücke, die Nibelungenlied und Annolied gemeinsam haben. Ein Zeitgenosse unseres Dichters, Wolfram von Eschenbach, läßt den eigentlichen Text des Parzival (nach dem Prolog) beginnen: (3,28 - 4,1 und 4,9/10) nu hœrt dine âventiure site, diu lát iuch wizzen beide von liebe und von leide: fröud und angest vert dà hi... ein mœre ich iu wil niuwen, daz seit von grózen triuwen Nun hört den Plan dieser Erzählung: die berichtet euch sowohl von Liebe als auch von Leid, Freude und Angst kommen darin vor . . . Eine Geschichte will ich euch neu erzählen, die berichtet von großer Treue . . .
Das „neu erzählen" ist natürlich eine geschickte Variation von altiu mœre. Trotzdem ist diese Einleitung ganz selbständig, und das Modell scheint kaum durch. Im Roman hat die selbständige Dichterpersönlichkeit eben einen höheren Stellenwert als im Heldenepos. Zwar zeigt im Nibelungenlied der Caesurreim mœren -(lobe)bceren und (hóchge)zñen - stríten, daß es sich um eine relativ junge Formulierung handelt - Caesurreime wurden nach fast allgemeiner Ansicht erst im 13. Jahrhundert modern, wenn auch Einleitungsstrophen besonders früh eine besondere Verzierung bekommen haben könnten -, doch waren die Anpassung an die Strophenform des gerade vorzutragenden Gedichtes und der formale Schmuck eben nur eine geringfügige Variation durch den augenblicklichen Sänger. Sollen wir nun - oder besser: wie können wir überhaupt - die uns nicht erhaltene mündliche Tradition berücksichtigen, um das uns schriftlich überlieferte Nibelungenlied besser zu verstehen? 19
Zu einfach macht es sich, wer folgenden Standpunkt einnimmt: mündliche Dichtung hört auf, es zu sein, sobald sie schriftlich aufgezeichnet wird; wenn sie anderseits nicht aufgezeichnet wurde, ist sie uns nicht erhalten. Wer so denkt, braucht sich die Frage nach mündlicher Dichtung vergangener Epochen gar nicht erst zu stellen. Scherz beiseite, das Problem liegt tiefer: Es gibt eine Reihe von Mischformen mündlicher und schriftlicher Dichtung. 1. Rein mündliche Dichtung, die vom Aussterben bedroht ist und von einem interessierten Angehörigen einer schriftkundigen Sozialschicht aufgezeichnet wird, um sie der Nachwelt zu erhalten. Für diese Dichtung ist die schriftliche Form ein „künstliches" Konservierungsmittel (heute ist der Völkerkundler mit dem ebenso künstlich konservierenden Tonbandgerät unterwegs). 2. Schriftliche Dichtung, das heißt der Autor ist schriftkundig und nutzt von Anfang an. die Möglichkeit, seine Gedanken dauerhaft festzuhalten, aber die Dichtung ist für den mündlichen Vortrag bestimmt und nimmt auf den Aufmerksamkeitsverlauf bei zuhörendem und nicht bei lesendem Publikum Rücksicht. 3. Schriftliche Dichtung im Stil mündlicher Dichtung. Der Dichter ist sowohl schriftkundig als auch mit rein mündlicher Dichtung vertraut. Er schreibt entweder für lesendes Publikum oder auch für Vorleser, doch in der Absicht, den Eindruck zu erwecken, das Original gehöre einer Gattung mündlicher Dichtung an. Für das Nibelungenlied kommen vor allem Form 1 und 3 sowie Mischformen aus diesen beiden in Frage. Welche Schwierigkeiten sprechen gegen Möglichkeit 1 (rein mündliche Dichtung)? Es gibt auch im 20. Jahrhundert noch Völker, die eine rein mündliche Heldenepik besitzen, die von Berufssängern tradiert und bei Festen und anderen Gelegenheiten vorgetragen wird. Maurice B O W R A hat eine Reihe solcher Uberlieferungen untersucht und mit der uns schriftlich überlieferten Heldendichtung vergangener Kulturen, vom Gilgameschepos und Homer bis zum angelsächsischen Beowulf und zur altnordischen Nibelungenüberlieferung, verglichen. Sein Hauptwerk „Heroic Poetry" erschien auch in deutscher Übersetzung: Maurice BOWRA, Heldendichtung, Stuttgart 1964.
Besonders lehrreich für die Nibelungenforschung waren die Untersuchungen von Milman PARRY und Α . B. L O R D an serbokroatischen Heldengedichten. Ich zitiere aus B O W R A (Seite 386, gekürzt): 20
Die mohammedanischen Sänger Jugoslawiens haben viele Gedichte zwischen 3.000 und 4.000 Zeilen geschaffen, aber in einigen wenigen Fällen haben sie es nachweisbar bis auf 12.000 Zeilen gebracht. Im Jahre 1934 begegnete Milman PARRY im südlichen Serbien einem Sänger, einem etwa sechzigjährigen Moslem mit Namen Avdo Mededovic, der morgens zwei Stunden und abends zwei Stunden vorsang und nach jeder halben Stunde eine Pause von fünf oder zehn Minuten einlegte. U m ein langes Lied vorzutragen, benötigte er zwei Wochen, mit einer Pause von einer Woche dazwischen, um seine Stimme zu erholen. Das Ergebnis war ein episches Gedicht, das etwa 12.000 Zeilen umfaßte. Der Sänger konnte im vorliegenden Fall weder lesen noch schreiben und scheint das Gedicht bei seinem Vortrag fortschreitend gedichtet zu haben. Zweifellos hatte er sich bestimmte Pläne im Kopf vorher zurechtgelegt und wurde er bei der Ausführung dieser Pläne von den formelhaften Elementen, die ein Bestandteil seiner Kunst sind und die das Gedicht im Überfluß enthält, unterstützt. Das Ergebnis aber ist ein Gedicht mit einer komplexen Fabel, einer Vielfalt von Ereignissen und Gestalten und breit ausgeführten Beschreibungen und Gesprächen. Andere jugoslawische Gedichte, die PARRY aufgezeichnet hat, haben die gleiche Kompositionsform, obwohl zumindest eines von ihnen in der Konstruktion viel episodischer ist als das vorliegende lange Gedicht. In allen Fällen kam der Impuls zur Komposition eines langen Gedichts von außen, aus der Aufforderung PARRYS nämlich. Aber nachdem man ihn einmal gebeten hatte, schien der Dichter keine großen Schwierigkeiten bei der Ausführung zu haben. Der psychologische Vorgang des Dichtens muß ein Geheimnis bleiben, aber wir wissen zumindest jetzt, daß Dichter, wenn sie sich an eine gewisse Routine des Wechsels zwischen Vortrag und Ruhepause halten, sehr wohl in der Lage sind, Gedichte von der Länge der Odyssee zu produzieren. B O W R A erwähnt hier nur nebenbei, daß der Anstoß zu längeren Gedichten stets v o n P A R R Y ausging. D i e v o n den Sängern v o n sich aus vorgetragenen serbokroatischen Epen überschritten aber nie 3.000 bis 4.000 Verse, während die Ilias über 15.000 sechshebige Langzeilen und das Nibelungenlied immerhin über 9.000 sieben- bis achthebige L a n g zeilen umfaßt. O h n e es auch nur in der Genese mit den homerischen Epen vergleichen zu wollen, m u ß hier wie da der E i n w a n d ernst g e n o m m e n werden, daß es nicht sonderlich wahrscheinlich ist, daß diese Großepen in der später schriftlich niedergelegten F o r m rein mündlich tradiert wurden. Es ist vorstellbar, daß die Sänger i m allgemeinen kurze Fassungen v o r t r u g e n oder nur Teilstücke in F o r m von „Heldenliedern". S o optimistisch wie L A C H M A N N , der etwa z w a n zig kurze Heldenlieder aus d e m Nibelungenlied rekonstruieren wollte, oder spätere Forscher, die diese Zahl a u f etwa sieben reduzierten, ist m a n heute nicht mehr; vor allem, weil wir uns nicht sicher sind, daß alle diese Lieder als Einzelwerke separat tradiert wurden, sondern auch mit der Möglichkeit rechnen, daß die A b g r e n z u n g
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einzelner Teillieder aus der Überlieferung j e nach der zur Verfügung stehenden Zeit und dem Interesse der Zuhörer variierte. Einige Einschnitte lassen sich aber mit Sicherheit feststellen; vor allem die deutliche Änderung des Aufbaus von Teil 1 zu Teil 2 (die Grenze liegt am Ende der 19. Aventiure). Würde man unsere Form 1 (rein mündliche Dichtung) auf das Nibelungenlied anwenden, wären gewisse Stilschwankungen durch die Technik des Sängers erklärbar, ein Epos nicht nur aus verschiedenen Teilen, die meist unabhängig voneinander gesungen wurden, zusammenzusetzen, sondern auch eigene Strophen zur längenmäßigen Auffüllung unterzumischen. Mit viel Phantasie könnte man eine Aufforderung Bischof Wolfgers an einen Fahrenden, ein ganzes langes Epos zu singen (in der Art wie PARRY die serbokroatischen Sänger, wohl gegen gute Belohnung, dazu brachte) als Anlaß zur Entstehung des Nibelungenliedes denken, und der Schreiber des Bischofs hätte eine untergeordnete Funktion gehabt wie PARRYS Assistent L O R D , der die Aufzeichnungen durchführte. Man könnte dann damit rechnen, daß das Lob des Passauer Bischofs Pilgrim vom Sänger zum Lobe seines Gastgebers für diese eine Aufführung eingefügt worden sei (Kriemhilds Mutter wird in Strophe 1298 zu seiner Schwester gemacht; in Wirklichkeit war Pilgrim im 10. Jahrhundert - er starb 981 -, nur gut 200 Jahre vor Wolfger, Bischof von Passau gewesen; allerdings war Pilgrim einer der bedeutendsten Passauer Bischöfe überhaupt). Dann wurden wohl auch die Passauer Bürger und Kaufleute (Str. 1298) deshalb im Nibelungenlied verewigt, weil sie unter den Zuhörern zahlreich vertreten waren. Die gängigere Meinung war, daß ein schriftkundiger Mann am Hofe Wolfgers (etwa ein Schreiber namens Konrad? - darüber später), der einige Lieder aus dem Nibelungen-Kreis kannte und die Form der mündlichen Dichtung beherrschte (d. h. er „konnte Nibelungisch", wie man heute von den Sängern sagt, die zum stilgerechten Extemporieren von Nibelungenstrophen fähig waren), als Dichter des uns nicht erhaltenen Originals anzusehen sei. Die Oral Poetry-Forschung ist durch die Untersuchungen von PARRY und seinen Nachfolgern, die zu einem guten Teil auf modernem serbokroatischem Material beruhen, von dieser Vorstellung eher abgekommen und sieht im Nibelungenlied eine typisch mündliche Dichtung, in einer kulturellen Umgebung, die vom Serbien zu Beginn unseres Jahrhunderts nur graduell, nicht prinzipiell durch geringere Schriftlichkeit unterschieden war. Wir haben es nicht mit ( B Ä U M L , Hohenemser Studien S. 115) „mündlicher Tradition innerhalb einer vor-schriftlichen Kultur, sondern vielmehr mit dem Analphabetismus einer Majorität innerhalb der Schriftlich-
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keit einer gesellschaftlichen Minorität" zu tun. Diese Majorität war um 1200 nicht so groß wie zur Zeit Homers, zur Zeit der serbokroatischen Epen sogar schon Minderheit, aber prinzipiell kann man sich den Vorgang der Verschriftlichung der Epen in all diesen Fällen ähnlich denken - doch man muß es nicht. So interessant die PARRY-LoRD-Denfeu/ewe auch ist, wenn wir Möglichkeiten der Entstehung des Nibelungenliedes durchdenken, so unbrauchbar ist sie als PASRY-LoRD-Methode, zur Lösung der Frage, ob ein Werk nun schriftlich oder mündlich verfaßt wurde. Es ist sicher aufschlußreich, daß eine an Formeln reiche Sprache das fortschreitende Dichten während des Vortrags erleichtert, doch sind Ausnahmen in beiden Richtungen denkbar: Daß auch weniger formelhafte Stücke mündlich konzipiert und vorgetragen werden - der Dichter/ Sänger braucht dann eben mehr Zeit zum Memorieren - und anderseits die schon mehrfach angesprochene Nachahmung des mündlichen Stils in der Schriftlichkeit. Es geht sicher nicht an, das Nibelungenlied abschnittsweise nach der Prozentzahl an formelhaften Wendungen zu untersuchen und dann zu glauben, man habe hiemit ältere, mündlich gedichtete Teile mit hohem Formelgehalt von jüngeren, schriftlich hinzugedichteten mit geringem Formelgehalt getrennt. - Abgesehen davon ist an diesen Versuchen zu kritisieren, daß sie, in Ermangelung klarer Kriterien dafür, was eine Formel ist und was nicht, einfach identische Halbverse zählen. Und wortwörtliche Wiederholungen sind sicher kein besonderes Kennzeichen mündlicher Dichtung. In schriftlicher Dichtung ist wortwörtliche Wiederholung einerseits in der Lyrik, anderseits in lehrhafter Merkdichtung häufiges Stilmittel. „Formelhaftigkeit" ist in metrischen, ungereimten Dichtungen (was alle von PARRY und L O R D untersuchten Werke waren) vor allem eine dem Rhythmus nach für eine bestimmte Stelle des Verses geeignete Gruppe von Beiwörtern, auf die dann das gerade benötigte Substantiv folgen konnte. Ζ. B. eignet sich im Serbokroatischen die Verbindung „und im" für eine bestimmte Position im Metrum des Zehnsilblers: und im Haus und im Schloß und im Turm Beispiele nach Edward R .
HAYMES,
Das mündliche Epos, Stuttgart (Metzler)
1977.
Die Sonderbedingungen von Formelhaftigkeit in rhythmisch relativ freien, dafür aber durch Endreim gebundenen Dichtungen, wie dem Nibelungenlied, müßten jedenfalls untersucht werden, bevor man 23
überhaupt Aussagen über die Formelhaftigkeit des Nibelungenliedes macht - aber auch dann wohl nicht, u m Schlüsse auf seine Entstehung zu ziehen. Trotz seiner Schwächen k o m m t das Oral-Poetry-Modell den tatsächlichen Verhältnissen, was die „Vorgeschichte" des Nibelungenliedes betrifft, sicher noch näher als Modelle, die mit sehr wenigen Neuformungen zwischen der Völkerwanderungszeit und dem H o c h mittelalter rechneten und davon ausgingen, daß diese durch mehrere Generationen wortwörtlich tradiert wurden. Solche sind das „Aufschwellungsmodell" von Andreas HEUSLER, der annimmt, daß es sich auf den älteren Stufen u m recht kurze Lieder gehandelt hat, die erst zu Beginn der Schriftlichkeit durch breitere Erzählweise und Hereinnahme zusätzlicher Motive zu Epen anschwollen, oder die verschiedenen „Aufreihungsmodelle", die statt des Prinzips der Inkorporierung das der Addition verwenden. Vor allem im HEusLERschen Modell wurde stark zwischen Dichtern, deren Werk das Lied war, und Sängern, die diese Lieder auswendig lernten und rezitierten, getrennt. Es gibt sicher Kulturen, in denen das Auswendiglernen eine große Rolle spielt. Im alten Irland mußten die fili, die höchste Stufe der Barden, Hunderttausende von Versen auswendig lernen; ähnliches wissen wir von den indischen Gurus. In Irland wie in Indien standen diese Leute in hohem Ansehen, und die Anforderungen, daß jemand diesen Titel zugesprochen erhielt, waren nach einer Art Schulsystem geregelt. Von den Spielleuten der alt- und mittelhochdeutschen Zeit wird jedoch nirgends davon berichtet. W i r müssen daher annehmen, daß für die deutsche Heldendichtung das „serbische Modell" noch eher vergleichbar ist als das „irische Modell".
DIE A N O N Y M I T Ä T DES N I B E L U N G E N L I E D E S
Hartmann von Aue, W o l f r a m von Eschenbach, Gottfried von Straßburg und viele andere Dichter der mittelhochdeutschen Blütezeit nennen sich in ihren Werken als Übersetzer oder Autoren selbst. Daß der mit diesen gleichrangige Dichter des Nibelungenliedes auf eine Selbstnennung verzichtet, hat zu unterschiedlichen Kommentaren geführt. Die Romantik sah das Volksepos gleichsam als ein „Kollektivwerk" an und stellte daher gar nicht erst die Frage nach dem N a m e n einer einzelnen Dichterpersönlichkeit. HEUSLER, der gegen diese Position stark die Leistung der Einzelperson herausstellte, meinte, „wäre sein Urheber ein Ritter oder ein Pfaffe gewesen, dann wäre auch sein N a m e berühmt geworden. Als Spielmann - als Banause - hat
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er nicht einmal sich selbst der Nennung gewürdigt." Er suchte den Grund fur die Anonymität in der niedrigen sozialen Stellung des Spielmanns, den er als Verfasser ansah. Otto HÖFLER hat dann den Grundstein zur heute gültigen Auffassung gelegt: Die gesamte germanische Heldendichtung von der Völkerwanderungszeit bis ins 13. Jahrhundert ist anonym überliefert. W i r haben es mit einem Gattungsphänomen zu tun, das dem Dichter verbietet, seinen Namen zu nennen. Es scheint Zeichen dafür zu geben, daß auch Dichter, die sich in Dichtungen, die anderen Gattungen angehören, selbst nennen, in die Anonymität zurücktreten, wenn sie eine Heldendichtung verfassen. Dies erklärt HÖFLER aus der Funktion der Heldendichtung und dem Glauben an die Wirklichkeit der alten mœre. Damit ist ein Ausgleich zwischen der romantischen und der HEUSLERSchen Position geschaffen, dem auch die erst nach HÖFLER aufgekommene Anwendung der Oral Poetry-Prinzipien auf das Nibelungenlied keine wesentlichen Aspekte mehr hinzuzufügen vermochte. Auch diese Ansicht könnte noch insofern zu modifizieren sein, daß der Dichter und sein Auftraggeber nicht mehr unbedingt an die Überlieferung im HöFLERSchen Sinn „geglaubt" haben muß, daß er sofern wir mit bewußter Nachahmung einer volkstümlichen Dichtungsgattung durch einen „Gebildeten" rechnen - aber das entsprechende Gattungsprinzip gewahrt hat. Nachdem uns die Person des Dichters unbekannt bleibt, interessiert uns um so mehr, was wir über den kulturellen Umkreis der Entstehung des Werkes ermitteln können.
DER POLITISCHE
UMKREIS
So wenig wir über den Dichter wissen, so gut sind wir über seinen Mäzen informiert. Wolfger von Erla war von 1191 bis 1204 Bischof von Passau. In diesem Jahr wurde er zum Patriarchen von Aquileia ernannt, wo er 1218 starb. Wolfger war einer der bedeutendsten Anhänger der staufischen Partei in Deutschland und hat politisch sowohl gegen die Weifen als auch, soweit ihm dies sein Amt erlaubte, gegen den Papst agiert. Es ist sicher kein Zufall, daß der stets aufseiten der anti-päpstlichen Partei stehende Walther von der Vogelweide nicht nur im Jahre 1203 von Wolfger, damals Bischof von Passau, ein größeres Geschenk erhalten hat, sondern noch in späteren Jahren den Patriarchen von Aquileia, dieselbe Person (ein Bezug auf Wolfgers Nachfolger ist zeitlich unmöglich), als einen seiner drei Hauptgönner nennt. Die politische Situation im Reich war verworren: 1198 wurden
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zwei deutsche Könige gewählt: die staufische Partei wählte Philipp v o n Schwaben, der mit den echten Reichsinsignien gekrönt w u r d e , aber nicht a m „richtigen" O r t , der Aachen gewesen wäre, sondern in W o r m s . Seine K r ö n u n g war daher nach mittelalterlicher Vorstellung nicht rechtskräftig. Aachen war aber in der H a n d der Gegenpartei, der Weifen, die dort ihren Kandidaten krönten: O t t o IV., den Sohn Heinrichs des Löwen; freilich ohne die Insignien u n d daher genauso wenig rechtskräftig. O t t o IV. genoß die Gunst des Papstes, in Deutschland stützte er sich vor allem auf seine Stammlande Bayern u n d Sachsen. Philipp hatte eine große Zahl der deutschen Fürsten hinter sich, darunter auch W o l f g e r u n d den österreichischen Herzog. W o l f g e r nutzte seine Freundschaft mit Philipp einerseits und sein kirchliches A m t anderseits, u m als Vermittler zwischen d e m Staufer u n d d e m Papst aufzutreten. W e g e n der bedeutenden Rolle, die i h m zukam, sollte auch sein Rang in der kirchlichen Hierarchie aufgewertet werden. Eine Möglichkeit sah er zunächst darin, die Diözese Passau, die der Erzdiözese Salzburg unterstand (in richtiger T e r m i n o logie: Passau war ein Suffraganbistum v o n Salzburg), zu einer eigenen Erzdiözese zu machen, d e m ein weiteres, neu zu gründendes Bistum als Suffraganbistum unterstellt w e r d e n könnte. Als neues Suffraganbistum b o t sich W i e n an, da die Babenberger in ihrer i m m e r bedeutender w e r d e n d e n Residenz auch gerne einen eigenen Bischof gesehen hätten. W i e n gehörte aber zur Diözese Passau. Die Interessen des Herzogs gingen so eine Zeitlang k o n f o r m ; besonders 1203, als diese Pläne fast verwirklicht w o r d e n wären. Allerdings bot sich für den Babenberger auch eine andere Möglichkeit, nach W i e n einen Suffraganbischof zu b e k o m m e n : w e n n das Bistum Passau in zwei Diözesen, Passau u n d W i e n , geteilt würde, und beide d e m Erzbischof v o n Salzburg unterstanden. Für den Augenblick w u r d e keiner dieser Pläne verwirklicht, aber W o l f g e r gelang ein geradezu kometenhafter A u f stieg: Er w u r d e v o m Papst z u m Patriarchen v o n Aquileia ernannt, d e m siebzehn Bistümer unterstanden - eine der wichtigsten Positionen in der Kirche überhaupt. Dies zeigt, wie wichtig d e m Papst die Vermittlertätigkeit dieses Mannes erschien. Der Gehorsamseid, den W o l f g e r d e m Papst ablegen mußte, enthielt den Passus, daß er auch Gehorsam in Angelegenheiten des Reiches zu üben habe. Diesen Gehorsam leistete er jedoch wesentlich weniger, als es Papst Innozenz III. erhofft hatte: U n t e r anderem ließ er sich v o n Philipp v o n Schwaben die Investitur erteilen u n d n a h m aus dessen H a n d die Regalien (Königsrechte) der Kirche v o n Aquileia entgegen, was der Papst, weil er Wolfgers Dienste brauchte, nicht strafen, sondern n u r als temeritas (Unbedachtheit) tadeln konnte. 26
Da neben Passau auch Wien eine Rolle in den Passagen spielt, die offensichtlich der jüngsten Schicht angehören, ist die Entstehung des Nibelungenliedes zum Zeitpunkt der genannten Interessenkoalition Wolfgers mit Leopold VI. wahrscheinlich. Dazu kommt noch, daß es ganz unmotiviert die Hochzeit Etzels mit Kriemhild in Wien stattfinden läßt. Nun heiratete im Jahre 1203, vermutlich in der zweiten Jahreshälfte, Leopold VI. Theodora, die Enkelin (?) des oströmischen Kaisers Isaak II. Angelos; pompissime, wie eine Chronik vermerkt. Die Verlegung von Etzels Hochzeit nach Wien kann wohl nur diesen unmittelbaren Anlaß gehabt haben. Zu diesem Abschnitt siehe vor allem: Helmut BIRKHAN, Entstehung und Absicht des Nibelungenliedes.
Die erste Niederschrift kann, wenn wir diese Prämissen annehmen, etwa ein Jahr genau, Herbst 1203 bis Herbst 1204 (erste Urkunde Wolfgers in Aquileia) datiert werden. Eine Rolle in den Überlegungen über die Entstehung des Nibelungenliedes spielt auch der kleine Ort Zeiselmauer zwischen Tulln und Klosterneuburg in Niederösterreich: Er wird in den Handschriften Β und A als Ort an der Traisen genannt (Str. 1332 und 1336), wo Kriemhild auf ihrer Reise nach Ungarn vier Tage Rast macht. An der Traisen liegt natürlich Traismauer, wie C richtig korrigiert hat, also 30 Kilometer donauaufwärts. Einfach die Etappe zwischen Traismauer und Zeiselmauer ausgelassen haben kann der Dichter nicht, denn nach Tulln kommt Kriemhild erst später, Zeiselmauer liegt aber erst hinter Tulln. Aber das Erstaunliche ist nicht, daß der Dichter in einer Gegend, die er sonst gut kennt, ein winziges Nest wie Zeiselmauer falsch lokalisiert - auch heute wissen Leute, die nur wenige Kilometer davon wohnen, nicht, wo es liegt, und die gängigen Landkarten von Niederösterreich verschweigen es -, sondern daß er es überhaupt kennt. Ich muß gestehen, daß ich selbst in meiner Jugend ein halbes Jahr nur 15 Kilometer entfernt davon wohnte, ohne überhaupt von seiner Existenz zu wissen. Durch W o l f gers Reiserechnungen wissen wir aber, daß das Bistum Passau in Zeiselmauer ein Gut besaß, das das Gefolge des Bischofs im November 1203 beherbergen konnte, während er in Wien weilte. Einer der möglichen Schlüsse ist, daß ein Passauer den Archetypus des Nibelungenliedes schrieb, dem von der Buchhaltung her Zeiselmauer als Passauer Besitz bekannt war, Traismauer dagegen nicht. Gedankenspielereien, etwa daß der Dichter auf der Reise Wolfgers vom N o vember 1203 mit war, sind natürlich gestattet.
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EINE „DICHTERWERKSTATT" AM PASSAUER BISCHOFSHOF?
In allen alten vollständigen Handschriften des Nibelungenliedes findet sich nach diesem eine zweite Nibelungendichtung, die „Klage". Wie dieses Werk entstanden ist, sagt uns seine Vorrede: Ditze alte mare bat ein tihtcere an ein buoch schrtben. Diese alte Geschichte diktierte ein Dichter in ein Buch.
Genau so stellen wir uns auch die Entstehung der höfischen Romane vor. Und von der Form her entspricht die „Klage" auch diesen: sie ist in vierhebigen Reimpaaren abgefaßt. Inhaltlich bietet sie zuerst eine Art Resümee des Nibelungenliedes (fast nur des 2. Teils, den 1. nur so weit es zum Verständnis unbedingt nötig ist) und geht dann auf ihr eigenes Thema über: die Klage der Uberlebenden um die Verstorbenen. Etzel, Dietrich und Hildebrand vergießen beim Aufbahren jedes einzelnen Helden Ströme von Tränen, raufen sich über den Leichen die Haare, ihrejammerschreie tönen durch Hunderte von Versen in ermüdender Eintönigkeit. Endlich beschließen Etzel und Dietrich, Boten auszusenden, die den fernen Angehörigen der Erschlagenen Nachricht bringen sollen. Nach Worms werden Boten unter Führung Swämmels geschickt, des Spielmanns, der auch die verhängnisvolle Einladung an den Burgundenhof überbracht hatte. An allen Höfen, an denen die Boten ihre Nachricht überbringen, bricht unmäßige Klage aus, und mit den stärksten körperlichen Symptomen: Die Herzogin in Wien si wart so jamerk zehant und so trüric gemuot, daz ir von herzen daz bluot drœte ûz ir munde. begann da so zu jammern und wurde so traurig, daß ihr das Blut vom Herzen aus dem Munde brach.
Noch größer ist der Jammer in Pöchlarn, in den Witwe und Tochter des edlen Rüdeger ausbrechen. In Passau empfängt Bischof Pilgrim (über ihn siehe oben) die Boten. Er beklagt den Tod seiner Verwandten (die Burgunderkönige waren ja nach dem Nibelungenlied seine Neffen), trägt aber gleichzeitig allen Klagenden auf, ihren Jammer zu mäßigen. In den Worten des Bischofs kommt die viel stärker christliche Lebenshaltung der Klage zum Ausdruck, wenn auch in recht banaler Wortwahl: Auch wenn sie zu Hause geblieben wären, hätten 28
sie doch (irgendwann einmal) sterben müssen. D e r Bischof mißt auch j e d e m seinen Teil an der Schuld zu: Kriemhild wäre unbescholten, w e n n sie n u r die hätte töten lassen, die Siegfried erschlagen hatten. U n d den erschlug doch Hagen. D a ß Hagen jemals geboren wurde, sei Gott geklagt. Die B u r g u n d e r k ö n i g e hätten w o h l die Verzeihung ihrer Schwester erlangen können, w e n n sie ihr nicht den Nibelungenhort geraubt hätten. Aus ihrer eigenen Schuld u n d ihrem großen H o c h m u t sind sie gestorben. Übermüete ist i m Mittelhochdeutschen die Übersetzung v o n lat. superbia. Der H o c h m u t ist nach christlicher Moraltheologie die erste Hauptsünde, die M u t t e r aller Sünden (weil die einzelnen sündhaften H a n d l u n g e n als Folge des H o c h m u t s entstehen) und damit die schwerste Sünde überhaupt. S w ä m m e l m u ß d e m Bischof versprechen, sobald er seine Botschaft in W o r m s ausgerichtet hat, zu ihm nach Passau zurückzukehren, denn er m ö c h t e die stürme unt die grozen not aufschreiben lassen. In diesen W o r t e n sieht m a n entweder eine H u l d i g u n g an den augenblicklichen Bischof v o n Passau (wenn m a n n u r zeitgenössische mündliche Quellen annimmt) oder m a n n i m m t sie als Hinweis auf eine tatsächliche alte schriftliche Quelle. D a f ü r , daß Pilgrim eine U m s c h r e i b u n g f u r W o l f g e r sein könnte, w i r d unter anderem angeführt, daß W o l f g e r zufällig 1191, im 200. Todesj a h r Pilgrims ( t 991), sein A m t angetreten hatte, in d e m sicher in Passau besondere Gedenkfeiern stattgefunden hatten. D o c h davon später Näheres. Die Baiern sind die einzigen auf Swämmels W e g , die Schadenfreude über den T o d der B u r g u n d e n empfinden. In diesem Punkt, nämlich daß die Baiern schlechte Menschen sind, sind sich N L - D i c h t e r u n d Klage-Dichter einig. In W o r m s a n g e k o m m e n , erregt seine Nachricht die größte Klage, die lautesten Trauerschreie, das ärgste Blutweinen, das meiste Haareausreißen, Tränenströme und Händeringen. Die Trostesworte des Bischofs, die S w ä m m e l ü b e r bringt, k ö n n e n diese Klage nicht mäßigen. Brünhild ist die, die a m lautesten klagt. U t e , die M u t t e r der Könige und Kriemhilds, stirbt vor Schmerz über den Verlust all ihrer Kinder. U m die Herschaft zu sichern, wird Gunthers u n d Brünhilds j u n g e r Sohn als Herrscher eingesetzt. Die Hauptschuld an der Katastrophe geben die Klagenden Hagen und der E r m o r d u n g Siegfrieds. D e r Dichter scheint sich am ehesten mit der M e i n u n g des Küchenmeisters, R u m o l d , zu identifizieren: „Und wenn schon die beiden edlen Damen in ihrer tumpheit einander gezürnt hatten?" (tumpheit ist ein milderer Ausdruck als neuhochdeutsch „Dummheit"; es bedeutet eher „Unerfahrenheit"). Das hätte man auf sich beruhen und ihn leben lassen sollen. Und wenn dies schon so geschehen mußte, dann hätten sie wenigstens nicht die Einladung ins Hunnenland annehmen sollen." 29
Die große Trauer der Burgunden wird durch die Krönung des jungen Königs ein klein wenig getröstet. Swämmel kehrt an den Hunnenhof zurück, wo Dietrich von Etzel Abschied nimmt. Etzel wird vor Trauer wahnsinnig, daß ihn nun sein letzter Freund verläßt. Swämmel zieht mit Dietrich weiter, der in Pöchlarn Rüdegers Hinterbliebene tröstet, und von dort weiter nach Passau, um sein Versprechen an den Bischof einzulösen. Der ließ die Geschichte im Gedenken an seine Verwandten aufschreiben (Klage v. 2147): mit Latinischen buochstaben, daz manzfür wäre solde haben, swer ez dar nach erfunde, von der obersten stunde, wie ez sich huob und ouch began, und wie ez ende gewan, von der guoten recken nôt, und wie si alle gelägen tot. daz hiez er allez schrtben, ern liez sin niht beltben: wan im seit der videlœre die kiintlichiu mœre, wie ez ergienc und geschach; wan er ez horte unde sach, er und manic ander man. Daz mœr do briefen began ein schriber, meister Kuonrât. Getihtet man ez sît hat dicke in Tiuscher zungen: die alten und die jungen erkennent wol diu mœre. von freud noch von ir swœre ich IM nu niht mere sage, ditze liet heizt DIU KLAGE. In lateinischer Sprache, damit jeder ein Zeugnis fur seine Wahrheit hätte, der es später auffände, von Anfang bis zum Ende, von der not der tapferen Recken, und wie sie alle tot darniederlagen. Das befahl er alles aufzuschreiben, bis es fertig war. Denn ihm erzählte der Spielmann die bekannte Geschichte, wie es ergangen und geschehen war, und er (der Bischof) und viele Leute hörten und sahen es. Da begann ein Schreiber die Geschichte zu Papier zu bringen, Meister Konrad. Seither hat man es oft in deutscher Sprache gedichtet: alt und jung kennt die Geschichte gut. Ich sage Euch nun nicht mehr von ihrer Freude und ihrem Leid. Dieses Lied heißt „Die Klage".
In einigen Handschriften finden sich danach noch ein paar Verse darüber, daß man vom Tod Etzels nichts Genaues weiß. Ein paar kurze Kommentare zu diesem Text: Zu lateinische Sprache: Es ist schwer zu sagen, ob dabei an einen 30
chronikartigen Bericht zu denken ist oder an ein lateinisches Epos, ähnlich dem Waltharius (einer Bearbeitung der Sage von Walther und Hildegunde; möglicherweise aus der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts). zu nôt: Man nimmt daher an, daß die Schlußverse auch älterer Nibelungendichtungen auf nôt geendet hätten. zu videlœre: Daß ein Spielmann der eigentliche Dichter sei, wird im allgemeinen nicht auf eine Chronik zur Zeit Bischof Pilgrims (vor 1000) zurückgeführt, sondern mag eine Bemerkung zu Ehren des zeitgenössischen Dichters des Nibelungenliedes darstellen, der Spielmann gewesen sein und sich hinter dem Decknamen Swämmel verbergen könnte. zu briefen: ob dieses W o r t als „niederschreiben" (nach Diktat) oder „redigieren" (selbständige Tätigkeit) zu übersetzen ist, bleibt ungewiß. zu Meister Konrad: Man hat Konrade nicht nur am Hofe Pilgrims, sondern vor allem am Hofe Wolfgers gesucht, und an letzterem gleich vier gefunden (die aber nicht alle in Frage kämen). Weil aber Konrad im Mittelalter nach Heinrich der zweithäufigste Name überhaupt war, bin ich gegenüber der Suche nach einem bestimmten „Meister Konrad", den man mit dem Dichter oder Schreiber des Nibelungenliedes identifizieren könnte, prinzipiell skeptisch. Wichtiger als die persönliche Identifikation ist aber die literatursoziologisch interessante Frage, ob dieser bischöfliche Schreiber, sofern mit ihm ein Untergebener Wolfgers (und nicht etwa Pilgrims) gemeint ist, als Dichter des Nibelungenliedes anzusehen ist oder ob die Dichtung eben doch von einem Spielmann stammt und der Schreiber nur mitschrieb. Dieser könnte dann allenfalls die „Klage" selbst verfaßt haben (sehr vorsichtig äußert sich dazu Fritz Peter KNAPP, Literatur und Publikum im österreichischen Hochmittelalter, in: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich 42/1976).
zu oft in deutscher Sprache: Diese Verse zeigen uns, daß die Zuhörer beim Vortrag die Geschichte schon in anderen Fassungen kannten. Für das Nibelungenlied und ähnliche Dichtungen kann daher die Forderung der „Werkimmanenten Interpretation" nicht gelten, daß eine dem Kunstwerk angemessene Interpretation sich auf dieses Werk und nur dieses zu beschränken habe. Auf eine Reihe von Fragen werden wir ohne die Parallelüberlieferung keine Antwort finden. Gleich ob es in Passau eine Notiz in einer lateinischen Chronik aus dem 10. bis 11. Jahrhundert oder eine Handschrift einer lateinischen Nibelungendichtung gegeben hat oder nicht: Die Rolle des Spiel31
manns muß, egal wann, sekundär zur Motivierung der Geschichte, wieso der Passauer Bischof davon erfuhr, hinzuerfunden sein. Die Route Swämmels, der von Worms nicht gemäß seinem Versprechen nach Passau zurückkehrt, sondern zuerst noch einmal ohne jede Motivierung nach Ungarn und dann wieder nach Passau reist, ist wohl nur dadurch zu erklären, daß man eine „Beglaubigung" dafür brauchte, daß auch die letzten am Hunnenhof geschilderten Ereignisse (Abreise Dietrichs) auf einen Augenzeugen zurückgehen. In diesem Swämmel sahen also viele den eigentlichen Erzähler des Nibelungenliedes, und diese Ansicht halte ich zwar für nicht beweisbar, aber vielleicht doch für die wahrscheinlichste. Daß dieser Fahrende Walther von der Vogelweide gewesen sein könnte, wurde einmal behauptet (er hätte dann womöglich das „Mantelgeschenk" für den Vortrag erhalten!), doch ist diese Ansicht nicht haltbar. Der Stil Walthers ist zu verschieden, auch von den Strophen, die man für die jüngsten Elemente, sprich: die Zutat des letzten Sängers, zu halten geneigt ist. Dies scheint mir Grund genug; kein ausreichender Grund zur Ablehnung dieser absurden Theorie wäre hingegen, daß Walther nirgends als Sänger des Nibelungenliedes genannt wird (vergleiche das zur Anonymität gesagte). Die Klage könnte ein Versuch eines Angehörigen des Passauer Hofes sein, dem Heldenepos des Spielmanns eine moderne schriftliche Dichtung in Reimpaarversen entgegenzustellen - vielleicht von eben diesem Konrad, aber da können wir natürlich nur raten. In Passau selbst scheint man das Werk gut aufgenommen, dabei auch diskutiert und beim Abschreiben bearbeitet zu haben; das kann sogar binnen eines Jahres oder weniger geschehen sein. Die mit dem Nibelungenlied aufgezeichnete „Klage" ist dabei jeweils mit überarbeitet worden. Die Urfassung der Klage ist daher - vermutlich - nur unwesentlich jünger als die (verlorene) Urfassung des Nibelungenliedes und hat ihrerseits schon auf alle erhaltenen Bearbeitungen, (*A), *B und *C, eingewirkt. Zu diesem Punkt gibt es derzeit kaum zwei Forscher mit identischer Meinung. Manche halten sogar die Niederschrift der „Klage" für den Anstoß zur Aufzeichnung des Nibelungenliedes, das vorher nur in mündlicher Überlieferung existiert habe - dies nur als Beispiel für meiner Meinung nach unwahrscheinliche Ansichten. Das letzte Wort bezüglich des Verhältnisses von Nibelungenlied und „Klage" zueinander ist aber sicher noch nicht gesprochen. Ziemlich sicher ist, daß wir mit mindestens zwei Dichtern des Nibelungenstoffes an Wolfgers Hof zu rechnen haben, und daß beide ihre Werke fast zugleich, binnen weniger Monate, abgefaßt haben müssen; wenn wir außerdem die Entstehung von *C im selben Zusammenhang sehen, sind es vielleicht sogar drei. 32
Gehen wir davon aus, daß Wolfger damals bemüht war, pro-staufische und anti-welfische Propaganda zu machen, sollten wir uns nach dem politisch-gesellschaftlichen Hintergrund der Aufzeichnung fragen. Die französischen Könige hatten im 12. Jahrhundert durch das Rolandslied so etwas wie ein Nationalepos erhalten - „Nation" ist hier nicht im Sinn des 19. Jahrhunderts gemeint; die douce France, das „Hebe Frankreich", ist das Gebiet, über das der französische König nominell die Oberherrschaft besaß (tatsächlich beherrschte er viel weniger), nicht die Heimat der Franzosen. Auch der Staufer Friedrich Barbarossa war in der Literatur verherrlicht worden; am bekanntesten ist, daß die Eneit Heinrichs von Veldeke die Hochzeit von Aeneas und Lavinia nach dem Vorbild des Mainzer HofFestes Barbarossas zu Pfingsten 1184 schildert. Zwar ist der Aeneasstoff durch die Möglichkeit der Anknüpfung an die römischen Kaiser eines Kaisers würdig, doch ist er nicht geeignet, ein breites Publikum zur Identifikation mit den Helden zu veranlassen. In diesem Punkt war die französische Propaganda voraus: Karl der Große wurde als der Vorläufer der französischen Könige gesehen, seine populären zwölf „Paladine" (deren bekanntester ist Roland) konnten fur breite Massen ein Identifikationsangebot darstellen. Die deutsche Ubersetzung des Rolandsliedes wird im weifischen Raum angesiedelt, ebenso „Spielmannsepen" wie Herzog Ernst und (jedenfalls von vielen Forschern) König Rother. Man hat, sicher mit Recht, vermutet, daß das Nibelungenlied wohl in erster Linie eine Art „Nationalepos im staufischen Dienst" werden sollte. Abgesehen davon, daß die politischen Ereignisse der Folgezeit ein solches unnötig machten (Philipp von Schwaben wurde 1208 ermordet und die Krone ging an den Weifen Otto IV. über), ist die Frage zu stellen, bei welchen Schichten der Bevölkerung der Nibelungenstoff oder die Heldensage überhaupt so populär war, daß die Förderung eines Nibelungendichters dem Mäzen Ehre und politischen Vorteil bringen konnte. Der Artusroman spricht sicherlich in erster Linie die Hofgesellschaft der Residenzstädte an (eine bestimmte Gruppe, wie die Ministerialen, als „Adressaten" der höfischen Epen zu sehen, ist sicher sowohl zu eng als auch zu weit gefaßt: Einerseits ist die Hofgesellschaft heterogen nach Amt und Würden, anderseits ist es keineswegs Kennzeichen des Ministerialen, an einem Residenzort ansässig zu sein). In welchen Kreisen lebte, im Gegensatz zum höfischen Roman, die Heldendichtung? Zeugnisse für Kenntnis der Heldensage finden sich in den zwei Jahrhunderten vor der Entstehung des Nibelungenliedes an ganz disparaten Stellen:
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Im Jahre 1018 scheint in Kolbing (Diözese Halberstadt) eine Gruppe von Landleuten eine Art Tanzwut, der sogenannte „Veitstanz" befallen zu haben. Sie tanzten einen Reigen, in dem sie Dietrich von Bern und einige andere Figuren der Heldensage darstellten, und konnten nicht mehr aufhören, bis zwei von ihnen tot und der Rest fast leblos niederfielen. Unter diesen Leuten werden die Kinder des Pfarrers von Kolbing und andere Leute anscheinend niederen Standes genannt. U m 1030 wurde in Schweden auf den Gedenkstein eines Verstorbenen, dessen Sohn den Namen *Sigripr ( = Siegfried?; in der skandinavischen Dichtung ab dem 13. Jahrhundert erscheint die Namensform Sigurd, die aus einem deutschen *Sigiwart kommen könnte) getragen hatte, eine Szene eingeritzt, die eine Passage aus dem Teil der altnordischen Überlieferung zeigt, und zwar die Drachentötung und die Szenen davor und danach. Es muß sich um einen eher wohlhabenden Grundbesitzer gehandelt haben, wegen der schönen Ausführung des Grabsteins. Einige Jahrzehnte später findet sich eine chronikalische Notiz über den Bischof Gunther von Bamberg (ca. 1060), der wegen seiner Liebe zur deutschen Heldendichtung und wegen seines Langschläfertums getadelt wird. Zur Zeit der Entstehung des Nibelungenliedes und knapp danach sind in Westfalen Nibelungentraditionen im Umlauf, die durch hanseatische Kaufleute bis Norwegen, nach Bergen, weitergetragen werden (der genaue Zeitpunkt und W e g sind derzeit allerdings sehr umstritten). Die Heldensage scheint in allen Kreisen der Bevölkerung (bei einfachen Leuten, wohlhabenden Bauern, Kaufleuten und Adeligen) und in verschiedenen literarischen Gattungen lebendig gewesen zu sein. Das wäre nun kein Hindernis, in der konkreten Ausformung um 1203 doch ein bestimmtes Zielpublikum, etwa den Altadel, sehen zu wollen, doch basiert ein solcher Versuch auf irrigen Voraussetzungen, wie wir bei der Behandlung der Figur Brünhids sehen werden. Eine Personengruppe, die sehr gut im Nibelungenlied wegkommt, sind unbestritten die Spielleute. Nicht nur, weil der Dichter oder einer seiner Gewährsleute Spielmann war, sondern weil die Spielleute tatsächlich für Fürsten sehr wesentliche Vertrauensdienste wahrnehmen konnten: die des Boten. Nicht nur Richard Löwenherz wurde von seinem Sänger gesucht (an den Geschichten von Blondel in Dürnstein ist allerdings gar nichts wahr); und Bedarf an Boten bestand in großem Maß, da die Herrscher meist „auf dem Rücken des Pferdes regieren" mußten, wollten sie in ihren Landen persönlich für Ordnung sorgen; daher kamen Boten ausländischer Fürsten oft in eine Residenz, wenn der Herrscher gerade weit weg war (vielleicht 1000 Kilometer oder mehr), und wir besitzen mehr als einen Bericht, daß 34
wichtige Nachrichten ihrem Empfänger erst mit mehrwöchiger Verspätung zugestellt werden konnten, weil ihn die Boten in halb Europa vergeblich gesucht hatten. Heute lesen wir leichtfertig über die Stelle hinweg, wo Boten aus Worms Siegfried statt in Xanten schließlich in Norwegen finden; im Jahre 1203 war dieser Strophe (739) sicher ein Lacherfolg beschieden. Hat die (gelegentliche) Botenfunktion der Spielleute etwas mit der Verbreitung des Nibelungenliedes zu tun? Ein konkretes Beispiel - nicht für ein historisches Faktum, sondern dafür, wie wir unsere Phantasie einsetzen können, uns hinter den trockenen Fakten von Reiserechnungen die lebendige Wirklichkeit auszumalen: Ein Bote des Königs von Ungarn erreicht Bischof Wolfger in Göttweig (bei Melk, 250 km donauabwärts von Passau) und erhält einen höheren Botenlohn als die meisten anderen Boten sowie Geld zum Auslösen von Pfändern, für eine neue Tunika und für ein Paar neue Schuhe. Warum wissen wir nicht. W a r er vielleicht aus Ungarn, an Göttweig vorbei, nach Passau gezogen, von dort vielleicht durch eine falsche Angabe noch auf Umwegen nach Göttweig zurückgekommen? Wenn ihm dabei das vom Auftraggeber mitgegebene Zehrgeld ausgegangen war, hatte er wohl irgend ein Besitzstück, das er mitführte, versetzen müssen. Ein Swämmel in einer solchen Lage hätte sich wohl mit einem Ausschnitt aus der Geschichte der Nibelungen unterwegs die Zehrung und noch ein Viertel Wachauerwein dazu verdient. Die Aufzeichnung des Gesamtu/erfes erfordert einen mächtigen Gönner und vermutlich hochpolitische Beweggründe. Das Gesamtkonzept kann der Dichter aber schon anläßlich von Auffuhrungen vor Publikum jedes Standes fertig entwickelt haben, auch wenn er bei diesen nur Kurz- oder Teilfassungen vorgetragen hatte. Ein Indiz dafür, daß die Hauptbegabung des Dichters im Vortrag etwas kürzerer Fassungen als der aufgezeichneten bestand, könnte sein, daß wir ihn manchmal als etwas zu redselig empfinden. Aber das kann andere Gründe haben. Jedenfalls zeige ein Vergleich mit dem ersten Vers der Ilias, wie ökonomisch der (nach Meinung einiger) ähnlich arbeitende Homer im Vergleich zum Nibelungendichter die Mittel einzusetzen wußte: Den Zorn besinge, Göttin, des Peleussohnes Achilleus
In nur einem Vers wird (1) die Erzählhaltung festgelegt - die göttliche Inspiration der Muse soll durch den Mund des Sängers sprechen -, (2) Das Thema wird angegeben - der Zorn des Achill -, und (3) die in der heroischen Dichtung so wichtige genealogische Anknüpfung wird 35
gegeben. Das Nibelungenlied braucht für jeden dieser drei Schritte eine ganze Strophe, wenn nicht mehr. Doch der Vergleich mit Homer kann dem Nibelungenlied nicht gerecht werden. Trotz einiger von uns als Schwächen empfundener Eigenheiten gehört es unter die großen Dichtungen der Weltliteratur, hauptsächlich wegen der großartig gestalteten Fabel, aber auch wegen der meisterhaften Szenen in direkter Rede und einiger wunderschöner lyrischer Bilder. Diese Leistung sind wir heute eher geneigt, dem Dichter von 1203 zuzusprechen, als einem seiner Vorläufer um 1160. Die wichtigsten Handlungsteile hat unser Dichter sicher schon miteinander verknüpft, zumindest als miteinander verknüpfbar vorgefunden. Doch er, der Kriemhild zur Hauptfigur gemacht und die höfische Einkleidung durchgeführt hat (wir vermuten, daß es derselbe Mann war), hat ein ausgewogenes Ganzes geschaffen, das die menschlichen Leidenschaften in ihrer verheerenden Wirkung an den Hauptpersonen so schildert, daß der Hörer oder Leser auch heute noch davon unmittelbar betroffen ist.
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DER VORTRAG - METRIK UND MELODIE An dieser Stelle, bevor wir uns der fortlaufenden Interpretation des Nibelungenliedes zuwenden, möge ein Kapitel über die Vortragsweise stehen, d. h. die Metrik der Nibelungenstrophe und die mögliche Melodie. Es gibt einige gute Einfuhrungen in die mittelhochdeutsche Metrik, ich nenne nur Werner HOFFMANN, Altdeutsche Metrik, Stuttgart (Metzler) 2. Aufl. 1982. Was ich hier nicht behandle, sind die allgemeinen Regeln für die richtige Aussprache mittelhochdeutscher Texte und Verse; diese erwirbt man am besten durch die Teilnahme an praktischen Übungen. Trotzdem bringe ich hier einen kurzen Abriß der Grundbegriffe, die man speziell für das Lesen des Nibelungenliedes braucht.
DIE
NIBELUNGENSTROPHE
Die Nibelungenstrophe besteht aus vier Langzeilen zu j e zwei Halboder Kurzzeilen (die erste Halbzeile einer Langzeile nennt man Anvers, die zweite Ab vers). Zwischen den Halbzeilen liegt beim Vortrag eine kurze Pause, die Caesur. Je zwei Langzeilen sind durch Paarreim aneinander gebunden; manchmal findet sich auch Caesurreim; d. h. die AnVerse aufeinanderfolgender Zeilen reimen ebenfalls miteinander. Das erste und das zweite Verspaar unterscheiden sich metrisch dadurch, daß die zweite Langzeile des zweiten Paares einen um einen Takt längeren Ab vers hat. Die An verse besitzen meist vier Hebungen (betonte Silben), die Ab verse der ersten drei Zeilen sind nur dreihebig, die letzte Zeile hat einen vierhebigen Abvers. Rhythmisch unterscheidet sich der Anvers vom Abvers vor allem durch die Kadenz (Kadenz = Versschluß ab dem letzten Hauptton). Im vorletzten Takt des Anverses steht in der Regel nur eine einzige Silbe (die natürlich die Hebung trägt und gedehnt zu sprechen ist: „beschwerte Hebung"); die (ebenfalls einzige) Silbe des letzten Taktes trägt dadurch nur einen Nebenton. Der letzte Hauptton liegt im 37
vorletzten Takt, was man als klingende Kadenz bezeichnet. Der letzte Takt des Abverses enthält ebenfalls nur eine Silbe, diese trägt aber eine Haupthebung: männliche Kadenz. Die in der Metrik üblichen Zeichen sind: I Taktgrenze II Caesur χ normal lange Silbe („Viertelnote") taktfüllende Silbe („halbe N o t e " ) uu Zwei Silben auf einen Taktteil zu sprechen („Achtelnoten") Hauptton Nebenton Auftaktsilbe Pausezeichen (die Pausen werden nicht von allen Metri kern gleich gesetzt; HEUSLER und andere gehen von einem viertaktigen Grundschema aus; in den ersten drei Abversen wäre dann am Schluß jeweils ein ganzer Takt Pause zu halten!). U m nicht auf die verschiedenen metrischen „Schulen" und die „Pausenproblematik" eingehen zu müssen, verzichte ich im folgenden auf das Setzen von Pausezeichen ganz. Die Transskription der ersten Zeile sieht also folgendermaßen aus: Uns ist in alten mœren Wunders vil geseit . | χ χ I χ χ I - I χ II χ χ I χ x | x Im Versinneren sind die einzelnen Takte meist durch zwei Silben gefüllt, die erste betont, die zweite unbetont; dadurch entsteht ein mehr oder minder regelmäßiger Wechsel von Hebung und Senkung; musikalisch gesprochen ein Zweivierteltakt. Vor der ersten Hebung kann eine oder auch zwei unbetonte Silben als Auftakt stehen. Es können aber auch an anderen Stellen in der Zeile einzelne Silben einen ganzen Takt füllen oder es können drei, sogar vier Silben auf einen Takt zu sprechen sein. J e nachdem, ob auf die Note der Hebung oder die der Senkung zwei Silben zu singen sind, spricht man dann von Hebungsspaltung oder Senkungsspaltung. Als Variationsmöglichkeiten bieten sich also: a) fehlender oder längerer Auftakt vor jeder Halbzeile: (.(.)) I usw. b) beschwerte Hebungen: Ersatz von zweisilbigen Takten | χ χ | durch einsilbige | - | ; eventuell auch in mehr als einem Takt derselben Halbzeile. Extrem senkungsarme Folgen entstehen dadurch fast nur in Α; ζ. Β . A 2214,4a
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do sluoc Wolfliarten .1-1-1-1*11 entspricht Β (de B o o r 2277) do sluoc er Wolfliarten •
I *
x | - l - | i | l
c) Hebungsspaltung, m a n c h m a l auch Senkungsspaltung. D a naturgem ä ß beim Vortrag die H e b u n g etwas länger ausgehalten wird als die Senkung, ergibt sich rhythmisch eine geringere Störung, w e n n m a n auf der Hebungsnote zwei Silben rezitiert, als auf der Senkungsnote. Also notiert m a n einen Vers wie si stürben sît jœmerlîche (Str. 6) • I O u χ I χ χ I - I χ II und nicht etwa . I x w u I χ χ I - I χ II Auch in den Kadenzen k o m m t Hebungsspaltung vor. In den m ä n n lichen, einsilbigen der Abverse stehen dann statt einer „Viertelnote" zwei „Achtel": von weinen und von klagen . Iχ χ I i x I Ou In den Anversen dagegen finden sich dreisilbig klingende Kadenzen, in denen zwei „Viertel" statt einer „Halben" stehen: dar umbe muosen degene . | x x | x x | x x | x | | Die Takte sind recht unregelmäßig mit Silben gefüllt; das It- v o n jœmerlîche füllt genauso einen Zweivierteltakt wie stürben siti Im ganzen b e m ü h t sich C , im Versmaß wie in den Reimen besonders sorgfältig zu wirken. Unreine Reime (Assonanzen) k o m m e n k a u m vor, Binnenreime ( = Caesurreime) sollen die virtuose Beherrschung der Reimkunst zeigen. M a n kann nachweisen, daß dies nicht die ursprüngliche F o r m der D i c h t u n g ist, die v o n den anderen Fassungen aus Nachlässigkeit zerstört w u r d e , sondern eine Bearbeit u n g nach der M o d e des 13. Jh. Dagegen glaubte m a n lange Zeit nicht L A C H M A N N S A r g u m e n t , daß diese Feststellung auch u m k e h r b a r sei und A, das sehr viele unreine Reime, fast keine Binnenreime und sehr viele unregelmäßig gefüllte Verse enthält, deswegen als altertümlich anzusehen sei. M a n n a h m lieber die unzweifelhafte Schlamperei des Schreibers v o n A (die aber auch L A C H M A N N schon einkalkukiert hatte) als G r u n d f ü r dessen Unregelmäßigkeiten an und sah in ihnen nur Spuren eines nachlässigen Schreibers einer ansonsten v o n * B abhängigen Redaktion. Heute, v o r allem seit B R A C K E R T S Untersuchungen, ist diese Sicherheit gewichen. M a n c h e geben wieder L A C H M A N N recht oder 39
vermitteln insofern, als A zwar grundsätzlich von der *B-Fassung abhängen soll, aber aus mündlicher Tradition alte, dem Original näher stehende Formulierungen aufgenommen haben kann. DIE M E L O D I E
Heute ist man sich weitgehend einig, daß die strophischen Epen beim Vortrag nicht gesprochen, sondern gesungen wurden. Leider sind uns aber nur zu wenigen mittelalterlichen Werken die originalen Melodien durch Neumen- oder Notenaufzeichnungen überliefert, und zu diesen gehört leider nicht das Nibelungenlied. - Wahrscheinlich, weil die Schreiber die Melodie als bekannt voraussetzten. Doch wurde die beliebte Nibelungenstrophe auch von anderen Dichtern benutzt; so findet sich eine Nibelungenstrophe auch in dem spätmittelalterlichen „Spiel von den törichten Jungfrauen" ; von diesem wiederum findet sich eine Zeile in der „Trierer Marienklage" und, parallel dazu, im „Alsfelder Passionsspiel" - beide mit einer Melodie, die, wenn sie sich trotz ihrer Verzierungen zum Nibelungenlied singen ließe, sogar die originale Nibelungenmelodie sein könnte. Ich zitiere sie in der Rekonstruktion von Karl B E R T A U und Rudolf STEPHAN:
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Karl BERTAU - Rudolf STEPHAN, Z u m sanglichen Vortrag mhd. strophischer Epen, In: Nibelungenlied und Kudrun, Hg. Heiz RUPP ( = Wege der Forschung 54), Darmstadt 1976, S. 70 ff.
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Es wurden jedoch auch andere Melodien für das Nibelungenlied erwogen, ζ. T. nach überlieferten Melodien metrisch ähnlicher epischer Strophen (jüngeres Hildebrandslied, jüngerer Titurel), die alle von einer Zweiteiligkeit der Strophe ausgehen: die Melodie der 1. und 2. Zeile wird in der 3. und 4. Zeile wiederholt, nur mit einer zusätzlichen Verzierung am Strophenschluß. Eine andere Möglichkeit wäre 3 plus 1: dreimalige Wiederholung derselben Melodie plus erweiternde Variation in der Schlußzeile (dann wäre das Vorbild in französischen Formen zu suchen). In den letzten Jahren hat man mehrmals versucht, das ganze Nibelungenlied gesungen vorzutragen (meist im Hildebrandston; ich verweise auf die Schallplatte mit Ausschnitten einer Aufführung durch Eberhard KUMMER), doch auch wenn der Sänger noch so dramatischen Sprechgesang anwandte, kam nach einigen Aventiuren Langeweile beim Publikum auf. Hier erhebt sich die Frage, wie gut der Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit im Nibelungenlied gemeistert ist. Die Nibelungen-Strophe mit ihrer invariablen Caesur läßt, über Tausende Strophen hin, viel eher Eintönigkeit aufkommen als andere Formen, wie der Reimpaarvers, gar nicht zu sprechen vom Hexameter. Sie ist für kurze lyrische Gebilde, wie etwa die Gedichte des Kürenbergers, besser geeignet. Die bis auf wenige Ausnahmen strenge Übereinstimmung syntaktischer Grenzen mit Strophengrenzen (allerdings innerhalb der Strophe oft nicht mit den Zeilengrenzen; hier liegt eines der wenigen Mittel zur Variation), die wohl aus der Memoriertechnik der Sänger resultiert, verstärkt noch den Eindruck des ruckweisen Fortschreitens der Handlung. Die vielen dreihebigen Verse machen die Aufgabe, mündliche Formelhaftigkeit auch im Großepos ohne Stereotypie zu pflegen, nicht leicht, und sie ist auch nur teilweise gemeistert. Daß die Spielleute im allgemeinen nur Ausschnitte größerer Werke zum Vortrag bringen, scheint ein Gedicht des Marners (eines Fahrenden, der Anhänger Friedrichs II., des letzten staufischen Kaisers, war und nach 1260 ermordet wurde) zu bezeugen. Interessant ist an der Anlage dieses Marner-Gedichtes auch die Verteilung der Stoffe auf die beiden Strophen: die Gralssage steht unter den eher unglaubwürdigen Wundergeschichten und Märchen, ebenso der „feurige Drachenschlund", während der Verrat Kriemhilds (an ihren Brüdern), der T o d Siegfrieds und der Nibelungenhort unter den „historischen" Dichtungen stehen:
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Sing ich den liuten mtniu liet, so wil der erste daz wie Dieterich von Berne schiet, der ander wá kiinc Ruother saz: der dritte wil der Riuzen Sturm, so wil der Vierde Ekhardes not, der fünfte wen Kriemhilt verriet, dem sehsten tœte baz war komen sì der Wilzen diet, der sibende wolde eteswaz Heimen aid hêrn Witchen stürm, Sigfrides aid hêrn Eggen tôt. So wil der ahte dafei"niht wan hübschen minnesanc, dem niunden ist die wñe fei den allen lane, der zehende enweiz wie. nu sust nu sô, nu dan nu dar, nu hin nu her, nu dort nu hie. dâ bf hœte manger gerne der Nibelunge hört: der wigt min wort ringer danne ein ort: des muot ist in schaz verschort. sus gêt min sane in manges óre, als der mit blîge in marmel bort, sus singe ich unde sage iu des iu niht bt mir der künic embSt. Ich sunge ein bîspel oder ein spei, ein wârheit oder ein lüge, ich sunge ouch wol wie Titurel templeise bi dem Gräle züge, wie süeze ist Sirenen don und arc des cocatrillen zorn. Ich sunge ouch traken fiurin kel, und wie der grife flüge, wie sich des salamanders vel in heizem fiure strahte und smüge, und wie sich teilt Tschimêren lip und wie diu vipper wirt geborn. ich sunge ouch wol wie stniu eiger brüeten kan der strûz, ich sunge ouch wol wie sich der fénix junget uz: ich sunge ouch wie der lit der manigen in der wunderburc verstunden hat durch sinen git.
Singe ich den Leuten meine Lieder, so will der erste den Auszug Dietrichs aus Verona, der zweite wo König Rother herrschte, der dritte den Russenkrieg (Ortnit?), der vierte das Leid Eckharts, der fünfte wen Kriemhild verriet, dem sechsten gefiele besser das Schicksal des Wilzenvolkes, der siebente wollte vielleicht den Kampf von Heime und Witege, den Tod Siegfrieds oder Herrn Eckes. Aber da will der achte nur höfischen Minnesang, dem neunten ist bei alledem langweilig, der zehnte weiß nicht wie. Bald so, bald so, bald hin, bald her, bald dort, bald hie. Dabei hätte mancher gern den Hort der Nibelungen: der hält mein Wort nicht wert, deswegen ist der Schatz vor ihm verborgen. So geht mein Sang in vieler Ohren, wie wenn man mit Blei in Marmor bohrt. So singe und sage ich euch, was euch nicht der König durch mich entboten hat.
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Ich sänge ein „Bispel" (Art Fabel) oder eine Fabel, eine Wahrheit oder eine Lüge, ich sänge auch wohl, wie Titurel beim Gral Templeisen heranzog, wie süß der Ton der Sirenen ist und wie böse der Zorn des Krokodils. Ich sänge auch vom feurigen Rachen des Drachens und wie der Greif fliegt, wie die Haut des Salamanders in heißem Feuer glatt und elastisch wird, und wie sich der Leib der Chimäre auflöst und wie die Viper geboren wird. Ich sänge euch wohl, wie der Strauß seine Eier ausbrüten kann und wie sich der Phönix verjüngt und wie der liegt, der durch seinen Geiz viele in der Wunderburg verschlungen hat. Die vielen Heldensagenthemen der ersten Strophe sind zum Teil Ausschnitte aus größeren Sagenkreisen wie der Dietrichsage; ein ähnliches Sammelsurium wie das Repertoire des Marners haben wir aus Norwegen, in der Thidrekssaga, erhalten, die Dietrichsage, Siegfriedsage, Burgundenuntergang, den Tod Attilas, die Wilzensage und verschiedene kleinere Sagen zusammenfaßt. Jeder dieser Titel des Marners umfaßt aber nur einen kurzen Ausschnitt aus der Fabel. Das heißt, daß das Nibelungenlied die kurzen mündlichen Nibelungenüberlieferungen nicht ersetzte, wenn es sie auch sicher beeinflußte. Über die Wirkung der Eigenheiten strophischer Dichtung auf die mittelalterlichen Rezipienten können wir nichts sagen. Daß Fahrende wie der Marner Minnesang und Teile der Nibelungenüberlieferung nebeneinander beherrschten, hat man als Hinweis auf eine gleichartige Aufiuhrungspraxis, Sprechgesang, nicht Vorlesen, interpretiert (dies erscheint aber nicht zwingend. Inhaltlich sind die aufgezählten Stücke vor allem der zweiten Strophe recht disparat; da steht der .Jüngere Titurel" neben allerlei natur „wissenschaftlicher" Dichtung. Man muß daher auch von der Vortragsweise her nicht auf Einheitlichkeit schließen). Die prinzipielle Sangbarkeit der Nibelungenstrophe ist durch das Vorhandensein dazupassender Melodien erwiesen. O b man das Gesamtepos, wenn es an einem Fürstenhof, auf eine Reihe von Abenden verteilt, vorgetragen wurde, in derselben Art von einem Spielmann rezitieren ließ, oder ob es ab dem Vorhandensein als Buchepos so wie die höfischen Romane aus einem Manuskript vorgelesen zu werden pflegte, wissen wir ja nicht.
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DIE ERSTEN DREI AVENTIUREN Die Einleitung des Nibelungenliedes umfaßt die ersten drei Aventiuren, bis zu Siegfrieds Werbungsfahrt nach Worms. Sie enthalten nach allgemeiner Ansicht besonders wenig alte Traditionen und stammen auch nach Meinung derer, die unserem Dichter im ganzen nur geringfügige Erweiterungen einer älteren Dichtung und wenig Eigenleistung zugestehen, zu einem großen Teil von ihm. Sie sind daher für die Beurteilung seines Gesamtkonzepts von entscheidender Bedeutung; ich widme ihnen ein eigenes Kapitel. 1.
AVENTIURE
Die Strophen 2 und 4 bis 19 der 1. Aventiure sind in Β überliefert. Sie führen Kriemhild und ihre Familie ein und bringen eine Vorausdeutung auf das Geschehen. Str. 2, für uns der Anfang, legt den Erwartungshorizont fest: Eine Prinzessin, es gibt keine schönere auf der Welt, das erinnert an das Märchen. Aber im Gegensatz zum Märchen erfahren wir Ort und Namen. Wir erfahren auch, daß ihre Geschichte tragisch endet. Nach der Theorie der nachträglichen Aufschwellung der Einleitung (die nicht mit der auf ganze Werke und eine frühere Zeitstufe bezogenen „Aufschwellungstheorie" HEUSLERS ZU verwechseln ist) versuchte man, durch Weglassen weiterer Strophen, die angeblich erst sekundär, nach unserem Nibelungendichter, hinzugekommen sein sollen, eine ursprüngliche Form der Einleitung zu gewinnen. In der Tat ist der Hinweis Str. 5,3 da zen Bürgenden so was ir lant genant nach Str. 2 Ez wuohs in Burgonden unnötig, und die Einführung der Mutter Str. 14,1 den troum si do sagete ir muoter Uoten macht ja die ganze Str. 7 unnötig; diese wegzulassen, würde uns außerdem den Namen des in der Handlung nie auftretenden Vaters Dankrat ersparen. Auch Str. 11 erscheint überflüssig. Es ist aus der Vortrags- und Abschreibsituation leicht verständlich, daß man am ehesten am Anfang des Werkes das Bedürfnis zeigte, mit eigenen Zutaten zu glänzen. Doch sind alle Versuche einer genauen Abgrenzung des Werkes des Dichters von den jüngeren Zutaten unbefriedigend geblieben. Einig ist man sich, daß mit Str. 13 ein neuer Abschnitt beginnt. Aber sicher ist nicht erst hier der Anfang des ursprünglichen Liedes, wie LACHMANN meinte. 44
In disert hohen eren troumte Kriemhilde, wie si ziige einen valken, stare, scœn und wilde, den ir zwêne am erkrummen, daz si daz muoste sehen: ir enkunde in dirre werlde leider nimmer gescehen. In diesen hohen Ehren träumte Kriemhild, wie sie einen Falken aufzöge: stark, schön und wild. Den zerfleischten ihr zwei Adler. Ihr hätte im ganzen Leben kein größeres Leid geschehen können, als daß sie das mit ansehen mußte. U m 1 1 6 0 hatte der K ü r e n b e r g e r , an der D o n a u i m heutigen O b e r österreich, sein Falkenlied gedichtet: Ich zoch mir einen valken mere danne ein jar. Do ich in gezamete als ich in wolte hân und ich im sin gevidere mit golde wol bewant er huop sich ûf vol hohe und flouc in anderiu lant. Sit sach ich den valken schone fliegen. Er fuorte an stnem fuoze stdihe riemen und was im stn gevidere alrot guldtn. got sende si zesamene die geliep wellen gerne stn. Ich zog mir einen Falken auf, länger als ein Jahr. Als ich ihn gezähmt hatte, wie ich ihn haben wollte, und ich sein Gefieder mit Goldfäden schön verzierte schwang er sich hoch auf und flog in fremde Lande. Seither sah ich den Falken schön dahinfliegen. Er führte an seinem Fuß seidene Fesseln und sein Gefieder war ganz rot von Gold. Gott sende sie zusammen, die einander lieb sein wollen. D i e Schilderung des Geschehens aus d e m B l i c k w i n k e l der Frau, das B i l d des M a n n e s als Falken, die identische S t r o p h e n f o r m - das beweist H e r k u n f t aus derselben literarischen T r a d i t i o n , und doch sind es zwei unabhängige poetische G e d a n k e n : Hier das B i l d des Mannes, den die liebende Frau an sich zu binden versucht, er reißt sich los, ohne die Reste der zerrissenen Fesseln ganz abstreifen zu k ö n n e n , was ihrer Sehnsucht H o f f n u n g gibt. I m Nibelungenlied das T r a u m b i l d m i t unheilvollem Ausgang, eingebettet in die Schilderung des typisch pubertären Verhaltens der j u n g e n K r i e m h i l d . D e r D i c h t e r gehörte offensichtlich zu einer G r u p p e h o c h b e g a b t e r Leute i m Gebiete des oberösterreichischen Donautales, die einander dichterisch wesentlich beeinflußten. A u c h D i e t m a r v o n Aist (ebenfalls aus Oberösterreich, und zwar aus d e m M ü h l v i e r t e l ) g e h ö r t zu dieser (älteren) Gruppe, liep âne leit mac niht sin (Minnesangs Frühling 3 9 , 2 4 ) legt ein i h m zwar zu U n r e c h t zugeschriebenes, aber jedenfalls aus d e m D o n a u r a u m stam45
mendes T a g e l i e d d e m Geliebten in den M u n d (die H e r k u n f t dieses Satzes aus d e m Minnesang zeigt übrigens, daß m a n hier i m N i b e l u n genlied liep nicht mit „ F r e u d e " , sondern ganz w ö r t l i c h mit „ L i e b e " übersetzen soll). W i r sehen also, daß der D i c h t e r ganz b e w u ß t für sein W e r k einen R a h m e n aus der heimatlichen, damals gesungenen L y r i k gewählt hat. Gerade die Einsicht in die be w u ß t e B i l d u n g eines R a h mens aus Einleitungs- und Schlußaventiure lassen die U n g e s c h i c k l i c h keiten in einigen Einleitungsstrophen als Spuren derer vermuten, die zwischen d e m O r i g i n a l und d e m für uns erkennbaren Archetypus a m W e r k waren. W a s uns v o n der LACHMANN-Generation unterscheidet, ist allerdings, wie man will, ein M a n g e l an Selbstvertrauen oder die Einsicht, daß j e d e r Rekonstruktionsversuch nur eine neue E i g e n m ä c h tigkeit wäre. 2. A V E N T I U R E Parallel zur Schilderung Kriemhilds v e r n e h m e n w i r nun v o n S i e g frieds J u g e n d . Hier erfahren w i r m e h r über das Bildungsideal der Zeit. Für K r i e m h i l d hatte Β j a genügt, daß sie aus d e m H o c h a d e l stammte, und daß sie wunderschön war; A und C finden es n o c h passend, daß ihre T u g e n d e n eine Zierde für j e d e Frau gewesen wären. Siegfried m u ß seine T u g e n d e n schon genauer schildern lassen, u m als Idealbild erscheinen zu k ö n n e n : Königskind, tapfer, kräftig, ehrenwert, dann erst schön und für Frauen begehrenswert. Str. 2 3 , 1 - 2 : Man zoch in mit dem vlize als im daz wol gezam. von sines selbes muote waz fugende er an sich nam! Man erzog ihn mit der Sorgfalt, die ihm wohl zukam. Unglaublich, was er aus eigenem Antrieb dazu noch an Tugenden erwarb! Vorbildliche Erziehung und vortreffliche B e g a b u n g müssen sich v e r einen, damit das bestmögliche Resultat erzielt werden kann. A u c h fur Siegfrieds J u g e n d w i r d ein Ereignis bildhaft geschildert: das seines Ritterschlags. D i e Stationen des Festes, die genannt werden, sind: Ladung des eigenen Gefolges und Einladung fremder Herrscher mit entsprechenden B o t e n g e s c h e n k e n ; Einladung insbesondere an alle, deren Kinder nach Stand und Alter ebenfalls fur einen Ritterschlag in Frage k o m m e n , ihrer 4 0 0 sagen zu; die Frauen sind m i t d e m S c h m u c k der Kleider beschäftigt; das Fest beginnt an einem S o n n w e n d t a g ; die Feier findet in der K i r c h e i m R a h m e n eines Gottesdienstes statt; danach tjostieren die Ritter, bis der Gastgeber zu T i s c h bittet; nach T i s c h gehen die Ritterspiele weiter, an denen sich auch die Fahrenden beteiligen, die reich belohnt werden und dafür den R u h m des K ö n i g s
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verbreiten; die Lehnsträger leisten Siegfried den Lehnseid, wie einst seinem Vater; die jungen Ritter erhalten reiche Gastgeschenke; die Festlichkeiten gehen sieben Tage weiter (eine Langzeile), dabei werden die Gäste, vor allem die Fahrenden, wiederum reich beschenkt (sieben Langzeilen). Außer dem höfischen Zentralthema milte (Freigebigkeit), über dessen Bedeutung flir die höfische Welt in allen einschlägigen Werken zu lesen ist, finden sich hier auch einige Kleinigkeiten, die nicht überlesen werden dürfen: die Beherrschung der feinen höfischen Sitte zeigt sich in scheinbar nebensächlichen Bemerkungen wie: der wirt der bat ez lâzen (36,1) oder da man in sitzen riet (37,1). Es wird zu Tisch gebeten, die Sitze werden nicht angewiesen, sondern anempfohlen usw. Dies muß nicht auf Kenntnis zeitgenössischer Literatur, etwa höfischer Romane, beruhen. In diesem Punkt entspricht die Literatur der Realität; der Dichter kann auch das tatsächliche Hofzeremoniell gekannt haben. Wie heikel die Sitzordnung war, zeigt etwa der Streit auf Barbarossas Mainzer Hoftag 1184 zwischen dem Erzbischof von Köln und dem Abt von Fulda um den Ehrenplatz zur Linken des Kaisers. Der Abt mußte sich mit dem weniger ehrenvollen Platz zur Rechten begnügen (nach Arnold von Lübeck, Chronica Sclavorum). Es ist viel gerätselt worden, ob der Dichter derlei Kenntnisse aus literarischen Quellen geschöpft hat (was beweisen würde, daß er an der Schriftkultur teilhatte - ob durch Lesen und Schreiben oder Vorlesen und Diktieren, ist als rein technische Frage für uns nicht von Belang), oder ob er ein Mitglied der Hofgesellschaft in so hoher Position gewesen sei, daß er über den Ablauf von Festen Bescheid gewußt habe, und ob ein Kleriker ein derartiges Wissen hätte haben können. Doch scheinen hier falsche Vorstellungen von der Rolle eines Klerikers an einem H o f mitzuspielen. Wolfger kam nicht nur sicherlich sehr oft nach Wien, sondern eine seiner Reisen führte ihn sogar bis Rom. Die Kleriker unterschieden sich vom übrigen Hofgesinde meist dadurch, daß sie eine Klosterschule besucht hatten, das heißt Lesen und Schreiben konnten, daher wurden sie vorzugsweise als Schreiber eingesetzt, und ein Schreiber, der eine entsprechend hohe Position erreichte, war bei allen wichtigen Vertragsabschlüssen zugegen und lernte in der Begleitung des Bischofs andere Fürstenhöfe kennen; auch wenn der Bischof auf einem Reichstag des Kaisers erscheinen mußte, hatte er unter seinem Gefolge Schreiber. Ein bischöflich Passauer Schreiber konnte sicher alle bedeutenden Hoffeste der Zeit miterleben, von den Reichstagen Barbarossas (wenn der Nibelungen-Dichter für diese nicht zu jung war; sie fallen auch noch vor die Amtszeit Bischof Wolfgers) bis zur Schwertleite Leopolds VI. zu Pfingsten 1200, bei der Wolfger als zuständiger Diözesan-
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bischof Leopold mit dem Schwert umgürtete, und wahrscheinlich auch die Hochzeit Leopolds VI. in Wien 1203 und viele andere kleinere Feste, die die Chroniken übergehen. Wenn ich auch der „Spielmanntheorie" mindestens gleich große Wahrscheinlichkeit zubillige wie der Kleriker-Theorie, so ist doch festzustellen, daß ein Kleriker genau so gut das nötige Wissen gehabt haben könnte. Zu den Reisen Wolfgers vgl. Hedwig HEGER, Das Lebenszeugnis Walthers von der Vogelweide, Wien 1970 (vor allem S. 155 - 159).
Wenn es auch mit dem Nibelungenlied sicher in keinem ursächlichen Zusammenhang steht, so wirft es auf die Hofhaltung des Bischofs doch ein bezeichnendes Licht, daß er auf seiner Reise durch Österreich im November 1203 nebst vielen anderen, in seiner langen Reiserechnung aufgezeichneten kleineren Geschenken an Arme, Spielleute usw. von meist nur 6 - 1 2 Pfennig pro Person Walther von der Vogelweide 5 „lange" Solidi (à 30 Pfennig, also 150 Pfennig) für einen Pelzrock, in Bologna in der Karwoche 1204 dem Spielmann (ioculator) Flordamor immerhin ein Bologneser Pfund (nach der Tabelle bei H E G E R S. 199 entspräche das gut einem Drittel des Geschenkes an Walther) schenkte. Das Geschenk an Walther verzeichnet die Rechnung übrigens in Zeiselmauer, dem Ort, an dem das Gefolge Wolfgers Weilte, während er in Wien zu tun hatte, und der im Nibelungenlied statt Traismauer steht. Gut belohnt wurden auch Boten: Der schon einmal genannte Bote des Königs von Ungarn bekam von Wolfger fast so viel wie Walther (63 Pfennig für eine Tunika, 60 Pfennig für das Auslösen von Pfändern und 5 Pfennig für neue Schuhe). Kurz: Für die Schilderung der Schwertleite Siegfrieds brauchte der Dichter keinesfalls schriftliche Quellen, gleich ob er nun ein Fahrender war oder ein Passauer Schreiber. Am Schluß des Festes wird geschickt ein Charakterzug Siegfrieds eingeführt, der ihn besonders sympathisch macht und der gleichzeitig die Ursache seines Todes ist: er macht sich nichts aus Herrschaft und er tritt gerne höflich hinter Ältere, hier seine Eltern, zurück. Seine Aufgabe sieht er in der Bekämpfung von Unrecht. Mit diesem Satz ist die höfische Welt verlassen. Gewiß, es gab u m 1200 genug Raubgesindel, wie wir im 2. Teil hören werden (nach Meinung des Dichters vor allem im weifischen Bayern). Aber der jugendliche Held, der statt zu herrschen zur Bekämpfung von Unrecht auszieht, erinnert mehr an griechische Sagenhelden vom T y p Theseus als an einen Prinzen um 1200, wenn man in 48
den folgenden Aventiuren in Rückblende erfährt, was Siegfried in dieser Zeit erlebte: Er erschlug nicht nur Räuber und Schächer, sondern sogar einen Drachen. Nun, Herakles erwürgte schon als Säugling zwei große Schlangen, und als Dienender hat er sich dem Eurystheus nach dem Befehl des delphischen Orakels zwölf Jahre zur Verfügung zu stellen. Zu den Arbeiten, die ihm dieser aufträgt, gehören so unheroische Tätigkeiten wie die die Reinigung der Ställe des Augeias. Doch der Nibelungen-Dichter konfrontiert uns wenig mit mythischen Zügen seines Helden; das tut die altnordische Parallelüberlieferung dafür in um so reicherem Maße. Daß es sich bei diesen herkulesartigen Zügen Siegfrieds um erst im Mittelalter in die germanische Heldensage zugewanderte internationale Erzählmotive handelt, ist unwahrscheinlich, wenn wir bedenken, daß Tacitus mehrmals von einem germanischen Herkules berichtet; in der Germania Kapitel 3 erzählt er, daß ihn die Germanen, wenn sie in die Schlacht ziehen, als den größten Helden feiern. Im Rheinland stationierte römische Soldaten haben mehrere Weihinschriften für Hercules gesetzt; das ist nicht sehr auffällig, denn Hercules war eine im ganzen römischen Reich beliebte Soldatengottheit. Doch überrascht immerhin, daß am U n terrhein gleich mehrere Widmungen an einen Hercules Magusanus (den Hercules von Noviomagus, heute Nijmegen in den Niederlanden, oder einem der anderen Orte der Gegend, die das Element -magus enthielten) erhalten sind; eine davon sogar aus Xanten. Auf Münzen eines Soldatenkaisers erscheint auch ein Hercules Deusoniensis (vom Ortsnamen Deuso, heute Doesburg). Auf einer Inschrift werden Herkules und Hebe (die Göttin, die ihm nach der griechischen Mythologie nach der Aufnahme in den Olymp zuteil wird) zusammen genannt. Manche Forscher wollen im germanischen Herkules nicht einen Vorläufer der Siegfriedfigur, sondern den Gott Donar sehen, weil dessen Attribut, der Hammer, der Keule des Herkules entspricht; doch berücksichtigt diese Deutung nicht seine von Tacitus bezeugte menschliche Natur. Manche, wie Jan de VRIES, Altgermanische Religionsgeschichte, 2. Band, Berlin 3. Aufl. 1970
unterscheiden einen „menschlichen" germanischen Herkules von einer germanischen Gottheit, die mit Herkules identifiziert wurde. Diese Trennung wird der menschlich-göttlichen Natur des Heros (darüber in einem der folgenden Kapitel) aber nicht gerecht. Anscheinend hat das Germanische eine dem Herkules entsprechende Heroenfigur gekannt, und in der Heldensage sind nicht nur historische Hel49
den verschiedener Epochen ineinander verschmolzen, sondern M y thos und Geschichte, Vorzeitkunde (das „in ilio tempore" des vor, besser außerhalb der realen Zeit situierten Mythos) und Vergangenheitskunde lebten in den mündlichen Traditionen ohne strikte Trennung, wobei die Heldensagenforscher die Frage: „Historisierung des Mythos oder Mythisierung der Historie?" bewegt. Beispiele für Historisierung des Mythos finden sich vor allem in der griechischen Sage; Heroen wie Herakles und Jason werden in die Geschichte eingeordnet und eine Generation vor dem Trojanischen Krieg angesetzt. Für Mythisierung der Historie finden sich ebenfalls zahlreiche Beispiele: Der Ostgotenkönig Theoderich der Große soll nach seinem Tod im Ätna verschwunden sein; von ihm, aber auch von anderen Herrschern wird behauptet, dort im Berg zu sitzen und zu warten, bis er einmal wieder zurückkehren wird. Ähnliches, mit einem deutlichen Glauben an die Wiederkehr, wird von König Artus erzählt (der allerdings auch eine historisierte mythische Figur sein könnte). Für die Interpretation des Nibelungenliedes gibt diese Diskussion allerdings wenig her. Man hat Formulierungen gewählt, den Dichter habe das unhöfische, mythische Beiwerk der Siegfriedfigur so gestört, daß er es so weit wie möglich unterdrückt hätte; den Drachenkampf habe er nicht auslassen können, wenn er von Siegfried erzählte, doch habe er ihn nur indirekt im Bericht Hagens und Kriemhilds erwähnt - ein Kompromiß zwischen höfischer Gesinnung des Dichters und Erwartung des Publikums. Nun, ganz so kurz sind die später eingestreuten Berichte von Siegfrieds Jugendtaten gar nicht; der Horterwerb etwa, der in den skandinavischen Überlieferungen in die Drachentötung integriert ist (der Drache bewacht dort den Schatz), wird im Nibelungenlied mit dem Motivinventar des Erbteilermärchens recht ausfuhrlich geschildert. Aber eben nicht chronologisch angeordnet, und nicht vom Erzähler, sondern als eingelegte Berichte der Hauptantagonisten Kriemhild und Hagen. Dies ist für die Werkstruktur von entscheidender Bedeutung: Würde der Dichter-Erzähler die Heldentaten Siegfrieds berichten, entstünde dabei ohne Zweifel ein Siegfriedepos. Für ihn sind Siegfrieds Jugendtaten nur insoferne relevant, als sie sich auf die Beziehung zu Kriemhild auswirken. Das Durchbrechen der Chronologie durch den Erzähler ist keine Besonderheit der modernen Literatur; schon Homer läßt die Odyssee kurz vor der Heimkehr des Helden beginnen und, ein langes Heldenlied im Heldenepos, erzählt Odysseus die Geschichte seiner Irrfahrt vor Alkinoos. Im Nibelungenlied handelt es sich aber nicht nur um ein Durchbrechen der Chronologie, sondern die Verteilung von Hauptrolle und Nebenrolle wird dadurch gesteuert, daß spektakuläre Taten 50
der weniger wichtigen Figur aus dem Gesichtswinkel der Hauptfigur erzählt werden: eine anspruchsvolle, in der Heldenepik eher seltene Erzähltechnik. Ein Punkt der so „reduzierten" Jung-Siegfried-Abenteuer hat die Forschung besonders hilflos gemacht: Als Gunther den Entschluß faßt, um Brünhild zu werben, zeigt Siegfried eine bessere Kenntnis von Brünhild als sogar Hagen und weist auch mehrmals darauf hin, daß er Brünhild schon kennt. Die altnordische Uberlieferung kennt die Erweckung einer Jungfrau durch Sigurd, die in Dichtungen des 13. Jahrhunderts mit Brünhild identifiziert wird und in manchen sogar als seine ursprüngliche Braut erscheint. Also wäre es für die Sagengeschichte ungemein interessant zu wissen, ob der Dichter eine Quelle besaß, in der Siegfried und Brünhild zueinander zunächst in einem Naheverhältnis gestanden hatten, und Siegfried seine verlassene Jugendgeliebte, die auf ihn gewartet hat, kurzerhand an den zukünftigen Schwager verschenkte. Eine Eliminierung einer solchen Vorgeschichte läge ganz in der Art dessen, was man als Technik des Dichters erkannt zu haben glaubt. Wenn wir nur v o m Nibelungenlied ausgehen, hat man den Eindruck, daß die Vorbekanntschaft nur flüchtiger Natur war und ohne ein von Siegfried gebrochenes Versprechen verlief. Die Ausscheidung der „Vorverlobung" wäre aus der Sicht des Nibelungenliedes verständlich, weil sonst Brünhilds Zorn durch den ersten Betrug (Bruch des Verlöbnisses) und den zweiten (Hilfe für Gunther) doppelt motiviert wäre. Eines von beiden ist schon Grund genug, vor allem, wenn sie Nebenfigur sein soll. Während H E U S L E R in seinem Heldensagenmodell davon ausgeht, daß am Anfang immer eine einfache Fabel stand und Doppelungen immer auf späte Einschübe von strukturell ähnlich verwendbaren Motiven zurückgehen, sind wir nicht so optimistisch, eine „frühe" Form fassen zu können. Was wäre eine „ursprüngliche" Form der Erzählung? Die von Herkules bei den Germanen war sicher schon „alt", als Tacitus sie überliefert bekam. Die historischen Berichte über die Könige der Völkerwanderungs- und Merowingerzeit waren, wie echte Geschichte immer, mehrgliedrig. Freilich nicht die Heldenlieder. Das Hildebrandslied stimmt mit den altisländischen Eddaliedern darin überein, daß nur ein Ereignis geschildert wird - aber eben aus einem Sagenkreis, aus dem Dichter und Publikum mehr bekannt war (wie im Falle „Hildebrandslied" aus der Dietrichsage). Wenn wir uns auf dem Feld der Oral-Poetry-Forschung bewegen, ist ein Verweis auf Homer nicht unstatthaft: In der Odyssee singt der Sänger Demodokos zuerst ein kurzes mythologisches Lied, dann, auf die Bitte des Odysseus, ein kurzes Heldenlied vom Hölzernen Pferd, einen winzigen Ausschnitt aus den Geschehnissen vor Troja, und das ist dann der 51
Anlaß, daß Odysseus mit seiner eigenen abendfüllenden Erzählung beginnt. Epische Kurz- und Langformen stehen der mündlichen Heldendichtung gleichermaßen zur Verfügung, und die längeren sind nicht unbedingt durch „Aufschwellung" der kürzeren entstanden, wie HEUSLER meinte. Erweiterungen einer Fabel um den Typ der .Jenseitsfrau" sind auf vielen Stufen möglich, anderseits kann ein solcher Baustein, obwohl er „ursprünglich" in der Geschichte vorhanden war, weggekürzt oder durch einen anderen ersetzt werden. Ich weise auf eine italienische Variante (Märchensammlung von Giovanni Battista BASILE, T 1 6 3 2 ) des Dornröschen-Märchens hin, in der der Held die Schlafende zwar küßt und ihr auch beiwohnt, doch sie wacht, im Gegensatz zu Dornröschen, nicht auf. Er verläßt sie, die, immer noch schlafend, ihm Zwillinge gebiert, die an dem Finger saugen, in den sie sich gestochen hat. Inzwischen hat er bereits eine „irdische" Frau geheiratet („irdisch" sage ich deshalb, weil die Hindernisse, die die Schlafende im Märchen bzw. den parallelen Sagenversionen umgeben, im Mythos als Kennzeichen des Überganges zum Jenseits bekannt sind; im Bewußtsein dessen läßt das BASILE-Märchen die beiden Zwillinge „Sonne" und „Mond" sein). Es komt zur Konfrontation zwischen irdischer und Jenseitsfrau, die Siegerin bleibt. Eine typische „Jenseitsfrau"-Erzählung ist das GRiMMSche Märchen „Der König vom goldenen Berg" (GRIMM Nr. 9 2 ) , in dem auch das Erbteilermärchen (ein in vielen Ländern verbreitetes Märchenmotiv: der Held wird von streitenden Erben um die Teilung eines Schatzes gebeten, verlangt als Lohn dafür im voraus eine wunderbare Waffe, die Bestandteil des Schatzes ist; die Erben sind mit seiner Teilung nicht zufrieden und trachten ihm nach dem Leben, er erschlägt sie daher und bleibt Herr des Schatzes) in einer ähnlichen Form wie im Nibelungenlied auftritt; hier fehlt aber die zweite Frau, statt dessen tritt als irdischer Gegenspieler der Vater des Helden auf. Wichtig ist, daß der Held am Ende seines Lebens zu seiner Jenseitsfrau zurückfindet (nachdem er sie vorher verraten oder gegen ihr Verbot in sein irdisches Reich gezaubert hat). Die Tiefenpsychologie hat für die Beliebtheit und sogar für das unabhängig voneinander Entstehen solcher Erzählungstypen Erklärungsmittel parat; es gibt auch Fälle, in denen Sterbende ihre Ehefrau nicht mehr erkennen und statt dessen den Namen ihrer längst vergessenen ersten Jugendgeliebten aussprechen. Wie ist nun das Verhältnis zwischen Brünhild und Siegfried zu denken? Er gibt zunächst zu erkennen, daß er über sie Bescheid weiß (Str. 330); Hagens Bemerkung 52
So will ich Euch raten, bittet Siegfried die große Mühe mit Euch zu tragen, nachdem er sich so gut auskennt, wie es um Brünhild steht
kann boshafte Reaktion darauf sein, daß Siegfried als erster Ratgeber aufgetreten ist - sonst war das am Burgundenhof er -, aber alles weist darauf hin und es wird immer wieder betont, daß Siegfried sich wirklich besonders gut auf Isenstein auskennt (Str. 340, 344, 378, 382, 384, 393, 407, 411 und öfter). Eine „Vorbekanntschaft" Siegfrieds und Brünhilds ist nicht zu leugnen, und es stimmt auch nicht, daß der Dichter sie zu unterdrücken versucht. Was er wirklich nicht tut, ist, den Schleier über die Art der Vorbekanntschaft zu lüften. Wir müssen wieder einmal eine alte Ansicht korrigieren: es wird etwas verschwiegen, nicht, weil es nicht in die höfische Welt paßt, sondern weil es die Erzählung in ein anderes Fahrwasser lenken würde. Die direkte Erzählung des Drachenkampfes hätte ein Siegfried-Epos entstehen lassen; die Erzählung der Vorbekanntschaft ein Brünhild-Epos. Warum? Siegfried ist ein „Mann zwischen zwei Frauen". Brünhild scheint sich Hoffnungen zu machen, daß er um sie wirbt - trotz ihres Ausbruches (416): U n d ist der starke Siegfried in dieses Land gekommen, um meine Liebe zu erwerben, es geht ihm ans Leben. Ich furchte ihn nicht so sehr, daß ich seine Frau werde.
Ähnliches kennen wir von Kleists Penthesilea und anderen großen Frauenfiguren, und gerade dieser Satz zeigt uns, daß die eigentlich füreinander bestimmten Partner Siegfried und Brünhild sind. In der altisländischen „Lieder-Edda" wird im kürzeren Sigurdlied erzählt, daß Brünhild nach Siegurds Tod gebeten habe, mit Sigurd zusammen verbrannt zu werden. Dann begeht sie Selbstmord, und die nach dem Lied folgende Prosa berichtet: Nach dem Tod Brünhilds wurden zwei Scheiterhaufen errichtet, einer für Sigurd, und der brannte zuerst, und Brünhild wurde auf dem anderen verbrannt.
Das gemeinsame Verbrennen hat doch nur einen Sinn, wenn der isländische Dichter, der spätestens im 13. Jahrhundert wirkte, keinesfalls lange nach dem Nibelungenlied, Brünhild als die „richtige" Gattin Sigurds ansah, gleich ob man Berichte über Witwenverbrennung bei altgermanischen Stämmen als historisch ansieht oder nicht. Der byzantinische Geschichtsschreiber Prokopios, der am Krieg Justinians gegen die Ostgoten teilnahm, berichtet von dem altgermanischen Krieger-
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bund der Eruier allerhand Schlechtes. Diese Germanen verdingten sich gegen gutes Geld in der oströmischen Armee, um dann doch wieder abzufallen und immer wieder den Goten in die Hände zu arbeiten. Prokop als Sekretär der byzantinischen Feldherrn hatte persönlich mit den Erulern zu tun und gehörte zu ihren entschiedenen Gegnern. Man hat daher eingewandt, sein Bericht, daß es in alten Zeiten bei den Erulern vorkam, daß Witwen am Grab des Mannes erdrosselt wurden, könnte ein von Prokop in Anlehnung an Herodots Bericht über Witwentötung bei den Thrakern erfundenes Greuelmärchen sein, um die Eruier zu diskreditieren (Hermann ËNGSTER, Das Problem des Witwenselbstmordes bei den Germanen, Göttingen 1970); aber dann hätte er es doch nicht als „aus alter Zeit" erzählt. Offen bleibt nur, ob die „alte Zeit" der erulischen Erzählung, die Prokop vernahm, als historischer Begriff oder als das in ilio tempore eines Mythos zu verstehen ist. In Sagenversionen, in denen Brünhild eine v o n Siegfried Verlassene ist, hat sie die Sympathie des Publikums und wird daher die Trägerin der weiblichen Hauptrolle. D a ß Brünhild einst eine T o c h t e r v o n Sigurd empfangen haben soll, ist sicher ein erst im 13. Jahrhundert in Island hinzuerfundenes M o t i v . Jener A u t o r hat seinen Z u h ö r e r n dankenswerterweise das Herumrätseln „haben sie vorher oder haben sie nicht?" erspart. Das vorhin genannte italienische Märchen hat diese Möglichkeit, die Geschichte auszubauen, sicher unabhängig v o n der Saga genutzt. Die Struktur der Erzählung legt j a eine solche E n t w i c k lung durchaus nahe. D o c h wenn m a n sich v o n dem Vorurteil frei macht, daß jede Erweiterung jung sein müsse, finden sich im Nibelungenlied Anklänge, daß hier eine F o r m , die eine Vorverlobung enthalten hatte, rückgängig gemacht wurde. U n d zwar zu einer V o r b e kanntschaft, die sich hier so darstellt, als hätte er damals m e h r Eindruck auf sie gemacht als sie a u f ihn; Siegfried wird in einem Stadium der Pubertät v o r der ersten Liebe gezeichnet, bis er v o n Kriemhild hört. D o c h läßt seine Rückkehr Brünhild offensichtlich nicht gleichgültig. Ich habe jetzt an der chronologisch richtigen Stelle von zwei Abenteuern aus Siegfrieds J u g e n d erzählt, die der Dichter z u m Teil erst später einflicht, z u m Teil nur soweit andeutet, wie sie für die Kriemhild-Geschichte notwendig sind. Das drückt sich auch dadurch aus, daß der Erzähler nicht selbst das W o r t ergreift, sondern nur die Antagonisten Kriemhild und Hagen berichten läßt, was sie wissen. Andere Bearbeiter desselben Stoffes schmückten gerade diese A b e n teuer gerne aus. D e m Hürnen Seyfrit etwa, einem vielleicht aus dem 13. J h . stammenden, aber erst in einer Hs. des 16. J h . überlieferten W e r k , ist es mit einem D r a c h e n k a m p f gar nicht genug, es m u ß deren mehrere geben (dort ist übrigens seltsamerweise Kriemhild die v o n Drachen bewachte und v o n Siegfried befreite Jungfrau). 54
Sowenig wie wir erfährt auch Kriemhild vollständig, was Siegfried in seiner Jugend alles getan hat. Daß aber unter diese im Nibelungenlied verschwiegenen Geschichten ein Besuch bei Briinhild gehört, scheint sicher.
3. AVENTIURE Die Geschichte geht so weiter, wie sie nach einem einfachen Erzählschema, das sich in vielen Märchen findet, zu erwarten ist. Dem Zuhörer ist es keine Überraschung, wenn nun, nachdem eine Prinzessin und ein Prinz vorgestellt wurden, der Prinz um die Prinzessin werben will. Wenn hier die Worte „märchenhaft" gebraucht werden, ist das sicher richtig. Ein Motiv hingegen stimmte in der Realität damals mit dem Märchen überein: ein Fürst, der um eine Königstochter eines fremden Landes warb, hat sie in der Regel unmittelbar vor der Hochzeit zum erstenmal gesehen - jedenfalls kaum vor der Werbung. Im Nibelungenlied wird das zugunsten einer etwas volkstümlicheren, mehr den Vorstellungen von Liebe gerecht werdenden Form verändert : Siegfried macht sich zwar auf die Werbungsfahrt nach Worms, ohne Kriemhild gesehen zu haben, aber dort bringt er seine Werbung nicht gleich vor. Er bleibt mit verschiedenen Ausreden dort, bis er sie zu sehen bekommt, ohne diesen Wunsch geäußert haben zu müssen; und das dauert ein ganzes Jahr. Es wurde dem Nibelungenlied oft als Widerspruch angekreidet. Warum wirbt Siegfried nicht einfach, wie er als Königgsohn doch hätte tun können? Die einfache Antwort, daß Siegfried dies in der im Hochadel üblichen Form vielleicht gar nicht wollte, ist synchron gesehen sicher richtiger, als daß es ein dichterischer Fehler sei, der aus der Natur der Vorlage resultierte. Diese hätte noch starke Reflexe entweder einer Knechtschaft des (mythischen) Helden oder einer Märchenfassung enthalten, in der die Märchenprinzessin für Werber prinzipiell unzugänglich war und man sie erst nach Erfüllung verschiedener Aufgaben zu Gesicht bekam. Zu beachten ist das jugendpsychologisch dem Alter entsprechende „Schwärmen" von einer unbekannten Geliebten durch den Knaben, entsprechend der „Verweigerung" Kriemhilds in der 1. Aventiure. An den Hof eines bedeutenden Königs zu ziehen und dort ein Jahr im Dienst zu verbringen, ist durchaus auch im höfischen Roman für einen Königssohn angemessen. Siegfrieds jugendlicher Übermut, sein Auftreten mit einer Herausforderung zum Kampf statt einer Werbung oder dem einfachen Angebot, für die Aufnahme in die Hofgesellschaft für 55
Gunther Kriegsdienst leisten zu wollen, ist sagengeschichtlich sicher ein Überrest eines Märchenhelden mit Charakterzügen des „Starken Hans" (in den Märchensammlungen von HALTRICH Nr. 18, G R I M M Nr. 166 und andere; von der Forschung oft als „Bärensohnmärchen" bezeichnet), doch seinem Charakter im Nibelungenlied adäquat. Es macht ihm Freude, zu zeigen, daß er der Stärkere ist; wenn es jemand will, auch in einem Kampf auf Leben und Tod, aber er macht sich nichts aus faktischer Herrschaft. Die Frist von einem Jahr, die Siegfried in Worms dient, nützt der Dichter dazu, Kriemhilds seit dem Falkentraum bestehende Angst vor dem „unbekannten Mann" dadurch abzubauen, daß sie von ihrem Fenster aus Siegfried unter den Männern im Hof erkennen kann, er sie hingegen nicht. Nun braucht es einen Anstoß, die Handlung in Gang zu bringen, und den liefert der Sachsenkrieg (daß die Feinde aus dem weifischen Bereich kommen, wundert uns nicht). Durch die breite Erzählung wirkt er aber nicht nur als erregendes, sondern gleichzeitig als retardierendes Element: ein guter Kunstgriff. Von der Ausführung her ist er ganz spielmännisch gefärbte Heldendichtung. Ein Höhepunkt ist Siegfrieds Übernahme des Vorpostens, der warte. Wir wüßten gern, ob es in der mündlichen Dichtung schon Schilderungen des Helden auf der warte gegeben hat, wie wir sie ζ. B. in Alpharts Tod (einem Epos aus dem Dietrichkreis) finden, oder ob das (früher aufgezeichnete) Nibelungenlied alleiniges Vorbild für die späteren ist. In einem seltsamen Verhältnis zueinander stehen Realitätsnähe und (in der Spielmannsdichtung übliche) Übertreibung (aber nicht märchenhafte Übersteigerung - 30 Gegner auf einmal zu besiegen, ist unrealistisch spielmännisch übertrieben, aber trotzdem auf einer realitätsnäheren Ebene als die märchenhafte Hortgewinnung, anläßlich derer Siegfried auf einmal zwölfRiesen und 700 Männer besiegt). Der Übermut Siegfrieds, der hier nicht das erste Mal thematisiert wird, lebt sich ungehemmt aus, und nicht zufällig ist die gewählte Darstellungsweise die der Spielmannsdichtung. Damit durch die Massen an Leichen nicht eine zu traurige Stimmung erzeugt wird, dürfen auf der eigenen Seite nur 16 Tote zu beklagen sein - doch auch die Totenklage um diese übergeht der Dichter nicht -, und die Feinde sind einerseits durch ihren Übermut, mit dem sie ungerechtfertigt die Feindseligkeiten begonnen haben, selbst schuld an den Verlusten, anderseits werden die beiden Könige gefangen und wieder ehrenvoll freigelassen. Das Leben des einzelnen feindlichen Soldaten beklagt allerdings auch der Nibelungen-Dichter kaum. Zu wenig beachtet wurde bisher bei der Untersuchung des wichtigen Wortes „Übermut", daß dieser bei seinen ersten Erwähnungen, wie hier, noch wie ein „Kavaliersdelikt" behandelt wird, und im Fortschreiten 56
der Handlung allmählich als Ursache fur jedes Unheil, einschließlich der Schlußkatastrophe, erkennbar wird. Das ist sicher kein Zeichen dafür, daß der zweite Teil vom Dichter stärker verchristlicht wurde als der erste, sondern ein bedacht eingesetztes Kompositionsmittel. Gleich übertrieben, aber nicht ins Märchenhafte gesteigert wie Siegfrieds Leistungen im Töten ist Kriemhilds Lohn an den Boten seiner Taten: Zehn Mark hatten einen Kaufwert von - siehe oben - 480 Paar Schuhen oder 40 Tuniken (heute: ein Auto). Bei ihrem ersten Zusammentreffen, in der fünften Aventiure, haben beide schon Interesse füreinander: er wird auch entsprechend rot, als er sie begrüßen darf. Die Strophen, die die ersten Reaktionen der beiden schildern, sind in A etwas anders überliefert als in Β und C. Helmut BRACKERT hat daraufhingewiesen, daß A eine Form bietet, die eher der Minneauffassung des donauländischen Minnesangs des 12. Jahrhunderts entspricht als der höfischen Dichtung. Die Unmittelbarkeit der Strophen in A läßt uns glauben, daß A hier ausnahmsweise dem Original des Dichters näher steht als B, obwohl ein Zusammengehen von Β und C natürlich ein starkes Indiz für die Ursprünglichkeit einer Lesart ist. Die Strophen lauten (leicht normalisiert; Schreiberversehen stillschweigend verbessert; A 292/93, BC de B O O R 293/94): Er neic ir minnecltchen, genâde er ir bot. si twanc gen einander der seneden minne not. mit lieben ougen blicken ein ander sahen an der herre und ouch die frouwe; daz wart vil tougen getan. Wart da friuntltche getrutet ir vil wíziu hant von herzenlieber minne, des ist mir niht bekant. doch wil ich niht gelouben daz es wurde län. zwei minne gerndiu herze heten anders missetân. Er verneigte sich liebevoll vor ihr und dankte ihr fur den Gruß. Die Gewalt {not läßt sich k a u m ins Neuhochdeutsche übersetzen) der Minnesehnsucht zwang sie zueinander. Mit lieben Blicken sahen der Herr u n d die D a m e einander an; das geschah ganz heimlich. Ich weiß nicht, ob da ihre weiße Hand voll herzlieber Minne liebkost wurde. Doch will ich nicht glauben, daß es unterblieb. Zwei nach Minne be-
gehrende Herzen hätten sonst schlecht gehandelt. B / C (de Boor 293 Q Er neic ir fttzeclîche, bi der hende si in vie. wie rehte minnecluhe er bi der frouwen gie! mit lieben ougen blicken ein ander sahen an der herre und ouch diu frouwe; daz wart vil tougenlîch getan.
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Wart iht da friwentltche getwungen wiziu hant von herzenlieber minne, daz ist mir niht bekant. doch enkan ich niht gelouben daz ez wurde lân. si het im holden willen kunt vil schiere getan.
Er verneigte sich beflissen vor ihr; sie nahm ihn an der Hand. Wie liebevoll er neben der Dame ging! Mit lieben Blicken sahen der Herr und die Dame einander an; das geschah ganz heimlich. Ob da etwa eine weiße Hand voll herzlieber Minne gedrückt wurde, das weiß ich nicht. Doch kann ich nicht glauben, daß es unterblieb. Sie hat ihm gar bald ihre Neigung bekundet. A zeigt eine Minneauffassung, die wir für frühhöfisch halten und die die Gewalt der Minne betont, ihren Zwang und ihr Gebot. Β und C sind da unverbindlicher. Man hat daran Anstoß genommen, daß Siegfried auch jetzt noch nicht um Kriemhild wirbt, sondern erst anläßlich der Werbung Gunthers um Brünhild wagt, seine Bitte vorzubringen. Natürlich bietet sich als Erklärung an, daß Widersprüche verschiedener Vorlagen durchschimmern: Ein Siegfried, der, obwohl nicht ebenbürtig, wie der Starke Hans des Märchens eine Königstochter erringt, oder wie ein Initiand vor Aufnahme in eine Kultgemeinschaft eine Zeit dienende Funktion ausüben muß oder wie ein Heros von der Art des Herakles stehe gegen einen „Königssohn" Siegfried nach der Konzeption des Dichters. Diese Erklärungen sind im Prinzip sicher richtig. Doch gehen sie nicht darauf ein, daß der Dichter diesen Widerspruch nicht zu verwischen versucht, sondern noch mehr betont, indem er ziemlich lange Fristen für die einzelnen Schritte von Siegfrieds Ankunft in Worms bis zur Werbung setzt und Siegfrieds Zaudern vor der Werbung eigens hervorhebt. Für unseren heutigen Geschmack ist die Psychologisierung hier aber nur halb geglückt. Daß es widersprechende Berichte über Siegfrieds Jugend gegeben hat, zeigt der Hürnen Seyfrit: In ihm wird Siegfrieds Jugend gleich zweimal berichtet, einmal als Königssohn, einmal als Knecht bei einem Schmied, als würden einander widersprechende Parallellieder einfach aneinandergereiht. Dadurch entsteht zwar ein, als Ganzes betrachtet, indiskutabel heterogenes und widersprüchliches Werk, für unsere Kenntnis von Parallelüberlieferungen ist es aber ungeheuer wertvoll. Abschließend zum Problem von Siegfrieds Verhalten in Worms: Daß es ältere Überlieferungen gegeben haben muß, in denen Siegfried 58
den Burgunderkönigen nicht ebenbürtig war, sondern ein, wie der „Starke Hans" des Märchens, einem Köhler oder Schmied entlaufener Knecht, sind wir uns sicher (der kann sich nachträglich als Königssohn entpuppt haben - man denke an ausgesetzte Helden wie Moses, Romulus und Remus und andere; die Geschichte der Aussetzung von Moses hat übrigens mit der Aussetzung des neugeborenen Siegfried, die die Thidrekssaga erzählt, ein Motiv gemeinsam: Daß das Kind einem Fluß anvertraut wird; Moses in einem Papyruskörbchen, Sigurd in einem Glasgefäß für Met wie eine Flaschenpost). Daß unser Dichter Widersprüche seiner Vorlage nicht einfach unausgeglichen stehen ließ, sondern stets so in das Handlungsgefuge einbaute, daß „runde und ganze" Charaktere (WACHINGER) entstanden, stellte man immer wieder fest. O b es ihm an dieser Stelle mißlang, und wenn, warum, glaubte man mit viel zu apodiktischer Sicherheit beantworten zu können. Ich lasse es unentschieden.
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EIN TEXTPROBLEM Die 6. Aventiure beginnt nach der Ausgabe von de doppelten Neueinsatz (Str. 325):
BOOR
mit einem
Iteniuwe mcere sich huoben über Rtn. man sagte daz da wœre manee scœne magedin. der gedâht im eine erwerben Gunther der künec guot: dà von begunde dem recken vii sere hohen der muot.
Eine ganz neue Nachricht gelangte an den Rhein. Man sagte, daß es viele schöne Mädchen gebe. Deren eine gedachte der tüchtige König Gunther fur sich zu erwerben.
Darauf folgt neuerlich ein Beginn: Ez was ein küneginne gesezzen über sé, ir geltche enheine man wesse ninder me.
Eine Königin herrschte jenseits des Meeres; niemand kannte eine, die ihr gleichkäme.
Die erste dieser beiden Strophen ist nicht nur inhaltlich völlig unnötig, sondern zerstört geradezu die kunstvolle indirekte Einfuhrung Gunthers (Str. 328): daz gehörte bt dem Rine ein riter wol getan, der wände sine sinne an daz scœne wtp.
Das hörte am Rhein ein stattlicher Ritter, der richtete seine Gedanken auf die schöne Frau.
Daher bezweifelt man, daß ihr Verfasser der Mann war, den wir wegen seines kunstvollen Handlungsaufbaus schätzen. Da sich diese überflüssige Strophe aber in allen Handschriften findet, ist ihre Beurteilung interessant für die Frage, wie viele und wie geartete Entwicklungsstufen des Werkes nach dem eigentlichen Dichter anzusetzen 60
sind. D e n wichtigsten Hinweis dafür gibt uns der Neubeginn der Aventiure: Β d J h lassen sie erst mit 326 beginnen, die inkriminierten Zeilen stehen in ihnen am Ende der 5. Aventiure. Man könnte daraus schließen, es habe schon eine schriftliche Überlieferung des Nibelungenliedes gegeben, als sie jemand einfugte, da ihr Platz nicht fest war. W A C H I N G E R meint, sie sei im Archetypus eingefügt worden. Als Archetypus bezeichnen wir die (verlorene) Handschrift, die nicht das Original des Dichters darstellt, aber Grundlage aller erhaltenen Überlieferung ist. Dazu eine kurze Erläuterung: Fast so gut wie das Ideal, das Original eines Dichters zu besitzen, wäre für den Herausgeber die Situation, mehrere Abschriften zu besitzen, die direkt oder mit Zwischenstufen - unabhängig voneinander auf das Original zurückgehen. Ein Handschriftenstemma eines solchen Werkes könnte folgendermaßen aussehen: Klammern bedeuten: verloren (Original)
(X)
A
B
00
C
D
(Z)
E
(ZI)
W o die Handschriften voneinander im Text abweichen, ergäbe sich die Möglichkeit, durch Textkritik das Richtige zu ermitteln: Bietet etwa E eine andere Lesung als Α Β C D F, so muß (Z), die gemeinsame Vorlage (Subarchetypus) von E und Z I , noch denselben Text gehabt haben wie die anderen Handschriften - F hätte sonst unmöglich zu seiner Lesung kommen können. Steht A B C gegen D E F, so muß der Fehler auf X zurückgehen - wenn Y und Ζ voneinander unabhängig waren, haben sie wohl kaum unabhängig voneinander denselben Fehler begangen. Wenn - was im Falle der hier dargestellten Abhängigkeit sehr selten vorkommen wird - A B C 61
eine Lesung, D eine zweite, E F eine dritte bieten, müssen mindestens zwei oder gar alle drei Abschriften desselben Originals beim selben W o r t Fehler gemacht haben. Das kann dann nur darauf beruhen, daß das Original hier schlecht leserlich war, und man muß durch Vergleich der Buchstabenformen erschließen, welches die ursprüngliche Lesart gewesen sein könnte. Wenn eine Überlieferung so klar ist, können wir also den Wortlaut des Originals mit ziemlicher Sicherheit rekonstruieren. Fast immer aber sieht das Stemma so aus: (Original)
(Archetypus)
und so weiter. Das heißt, die ersten Abschriften vom Original erfolgten nicht unabhängig voneinander, sondern die erste Abschrift bildete die Vorlage für die zweite und so fort; erst nach einigen Handschriftengenerationen entstanden voneinander unabhängige Abschriften. Die Handschrift, die den Ausgangspunkt für voneinander unabhängige Abschriften gebildet hat, die wir also mit derselben Methode rekonstruieren können wie im ersten Beispiel das Original, nennt man den Archetypus.
W i r k ö n n e n zwar m u t m a ß e n , daß der Archetypus des N i b e l u n g e n l i e des schon zahlreiche Ä n d e r u n g e n g e g e n ü b e r d e m O r i g i n a l d u r c h g e führt hat, doch kann m a n natürlich k a u m v o n e i n e m W o r t beweisen, daß es nicht a u f den A u t o r zurückgeht. I m Fall der Strophe 3 2 5 hielt m a n einen B e w e i s , oder zumindest einen Fast-Beweis, für m ö g l i c h :
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Daß sie zwar alle Handschriften besitzen, aber manche vor, manche nach der Aventiuren-Überschrift, ist wohl der Grund für WACHINGERS Vermutung, daß jemand sie in den Archetypus hineingeschrieben hat. Denkbar wäre auch, daß dieser Mann dazu freien Raum zwischen dem Ende der fünften und dem Anfang der sechsten Aventiure benutzt hat, so daß man zweifeln könnte, ob sie zur vorhergehenden oder zur folgenden gehörte. Am ehesten ist das denkbar, wenn der Archetypus keine Aventiureniiberschriften kannte (solche besitzen A und C), sondern den Neubeginn einer Aventiure nur durch einen schön verzierten Anfangsbuchstaben (Initiale) gekennzeichnet hatte (wie B). Diese Strophe würde zeigen, daß dichterisch wertlose Zusätze nach der schriftlichen Fixierung erfolgten, und ließe außerdem vermuten, daß die Aventiurenüberschriften erst auf einer noch späteren Stufe eingeführt wurden (was, unabhängig davon, dadurch wahrscheinlich gemacht wird, daß diese Überschriften in A und C ganz verschieden lauten). Die Handschrift Β scheint hier, wie in vielen anderen Fällen auch, noch am ehesten den ursprünglichen Charakter bewahrt zu haben. Auf jeden Fall wird man, falls man 325 doch im Text stehen lassen wollte, den Aventiurenbeginn mit Β erst bei 326 ansetzen. Eine andere, leider ebenso hypothetische, Erklärung wäre, daß bei dem mündlichen Vortrag, der der ersten Aufzeichnung zugrunde gelegen sein könnte, zwischen 5. und 6. Aventiure eine große Pause (etwa vom Abend des ersten zum Morgen des zweiten Tages) stattgefunden und der Sänger nach dem Schluß der 5. Aventiure eine Art „Vorverweis" auf das Thema des nächsten Tages gegeben habe. Diese Theorie hat den Vorteil, daß man Β ganz folgen könnte, was in zweifelhaften Fällen ja immer von Vorteil ist, und sich trotzdem nicht daran stoßen müßte, daß am Ende einer Aventiure eine Strophe steht, die ihrem Inhalt nach eigentlich zur folgenden gehört. Die Vorverlegung der Aventiuregrenze hätten dann A C aus inhaltlichen Gründen durchgeführt, ähnlich wie de B O O R sich ihnen wohl nur aus inhaltlichen Gründen gegen seine Leithandschriften Β d anschloß, und wir brauchen den Archetypus nicht zu bemühen und weder den Dichter noch einen Schreiber einer derart großen Dummheit zu zeihen, wie sie die Stellung von 325 am Anfang der Aventiure wäre. Lesen wir den Beginn der 6. Aventiure versuchsweise in dieser Fassung: Es herrschte eine Königin jenseits des Meeres, nirgends kannte man eine, die ihr gleichkam. Die war über die Maßen schön, ihre Kraft war gar groß. Sie schoß mit kühnen Kämpen um den Preis ihrer Liebe mit dem Speer.
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Weithin warf sie den Stein, dem sprang sie weit nach. Wer ihre Liebe begehrte, der mußte die Dame in drei Spielen besiegen, ohne einen Fehler zu machen. Wenn er auch nur in einem unterlag, so verlor er sein Haupt. Das hatte die Jungfrau über die Maßen vielen angetan. Das hörte am Rhein ein stattlicher Ritter, der richtete sein Trachten nach der schönen Frau. Deswegen mußten später Helden ihr Leben verberen. Da sprach der Herrscher des Rheinlands: . . .
Mit den letzten Worten ist Gunther konkret bezeichnet, und die „Kamera" hat mit einer Zoombewegung von der Weitwinkelaufnahme auf ein Detailbild gewechselt: zur Beratung zwischen Gunther, Siegfried und Hagen. In dieser Reihenfolge beginnen die drei zu sprechen; daß heißt, Siegfried ist jetzt der erste Ratgeber des Königs und zeigt auch in diesem Fall die beste Sachkenntnis. Nur: den Gang der Handlung bestimmt nicht er, sondern Hagen. Siegfried rät von der Werbungsfahrt ab, Hagen rät zu unter der Bedingung, daß Siegfried hilft. Siegfried sagt gegen seine eigenen Bedenken zu, jetzt stellt er aber als Bedingung, daß Gunther ihm die Hand seiner Schwester verspricht. Hier erscheint - unausgesprochen - so etwas wie eine Forderung gewahrt, daß der älteste Bruder zuerst verheiratet sein müsse, bevor fur die anderen Geschwister Partner gesucht werden können. In Untersuchungen über „Widersprüche im Nibelungenlied" (z. B. von Bert NAGEL) wird üblicherweise hervorgehoben, daß in manchen Szenen mit Unmassen von „Statisten" gearbeitet wird, wie es dem Pracht- und Repräsentationsbedürfnis der staufischen Epoche entsprach, und die Fürsten mit zahlreichem Gefolge reisen, während die Werbungsfahrt Siegfrieds nach Worms nur zu zwölft, die um Brünhild gar nur zu viert angetreten wird. Die altnordische Überlieferung kennt durchgehend die Beschränkung auf wenige Personen. Sogar der Burgundenuntergang, der im Nibelungenlied als Massenszene komponiert ist, spielt sich im älteren Atlilied (Atli entspricht Attila) der Edda so ab, daß Gunnar und Högni (Gunther und Hagen) nur zu zweit die Einladung Atlis annehmen! In einem kurzen Heldenlied ist die Reduktion auf die Hauptfiguren ja durchaus sinnvoll. Man hat richtig gesehen, daß unser Dichter solche Unterschiede nicht verwischt, sondern zu begründen und, wo möglich, für die Struktur seines Werkes zu nutzen versucht. Dann fragt sich aber, warum im zweiten Teil ein ganzes Heer von Worms nach Ungarn aufbricht. Eine Erklärungsmöglichkeit ist, daß die Sage vom Burgundenuntergang schon stärker modernisiert war, als unser Dichter sie bearbeitete, 64
beziehungsweise daß die Sage vom Burgundenuntergang sich am Kontinent überhaupt unabhängig von der skandinavischen Tradition entwickelt hatte. Es fällt aber auf, daß überall dort, wo er aus der Heldensage stammende oder nach ihrer Art von ihm erfundene Elemente verarbeitet, das Gefolge wohl anwesend ist, wo es sich um märchen- oder mythenhafte Abschnitte handelt, das diesen entsprechende Personeninventar gewählt wird. Der Wechsel zwischen Massen- und Einzelszenen unterliegt einer planvollen Regie, und es kann durch nichts bewiesen werden, ob er die Verhältnisse in den Vorlagen spiegelt. Die Nibelungendramen sowohl Richard W A G N E R S als auch Friedrich HEBBELS haben das Fortschreiten vom Heros zum Helden als Grundelement der Handlungsstruktur genutzt; daß dies auch im Nibelungenlied schon Teil des bewußten Konzepts und nicht nur gemeisterte Schwierigkeit ist, scheint nicht unmöglich. Wir brauchen deshalb vom Dichter nicht unsere heutigen religionswissenschaftlichen oder märchenkundlichen Kenntnisse zu verlangen; eine gefühlsmäßige Einsicht in die verschiedenen Ebenen der Erzählung dürfen wir von ihm durchaus erwarten, obwohl er sicher nicht einmal wußte, was ein Mythos ist. Verlassen wir nun für einige Zeit unser Lieblingsthema, den Mythos, und sprechen wir von
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MACHT UND REICHTUM Die Rolle, die Geld und Macht im Nibelungenlied spielen, ist sowohl zentral als auch vielschichtig und erschließt sich nicht leicht der Interpretation, trotz des großen Interesses, das sie gefunden hat. Zunächst ein Beispiel, ausgehend von de B O O R (Vorwort zu seiner Ausgabe S. 33): Siegfried ist von Isenstein als Bote der glücklich verlaufenen Werbung nach Worms vorausgesandt worden. Kriemhild empfängt ihn in ihrer Kemenate. Die üblichen Formen des Botenlohnes versagen in diesem Falle. Kriemhild wagt weder Siegfried in Abwesenheit des bevormundenden Bruders durch einen Kuß zu ehren noch dem mächtigen Königssohn ein Geschenk anzubieten. Aber sie deutet an, wie gern sie es täte. Siegfried antwortet, von ihr nähme er Gabe, auch wenn er noch viel mächtiger wäre. Sie reicht ihm vierundzwanzig kostbare Armreife; er schenkt sie weiter an Kriemhilds Hofdamen. Das Bieten und Nehmen der Gabe ist das Wesentliche, in dem sich Zuneigung und Verehrung enthüllen - der Goldwert ist für das ingesinde. W i r möchten hinzufugen: Was der Dichter an Gedanken und seelischen Regungen der Figuren nur sparsam andeutet, ersetzt er durch das Mittel der Schilderung des Äußerlichen, der genauen Beschaffenheit der Kleider und Wertgegenstände. D a ß Kriemhild nicht wagt, Siegfried einen K u ß anzubieten, ist eine gute Deutung de BOORS, steht aber nicht im T e x t . D e r Wunsch nach Botenlohn wird von Siegfried selbst geäußert, der damit sogar seine Botschaft einleitet (ein gängiges literarisches Motiv; man vergleiche Walther von der Vogelweide 56,14): Ir suit sprechen willekomett: der iu mcere bringet, daz bin ich. Allez daz ir habet vernomen daz ist gar ein wint: nü vrâget mich, ich wil aber miete Ihr sollt „Willkommen" sprechen; ich bins, der euch Nachricht bringt. Alles, was ihr bisher vernommen habt, ist nichts dagegen: fragt mich also. Ich will aber Botenlohn.
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Im Nibelungenlied kennzeichnet es die naive Direktheit des Helden. A n d e m äußeren Zeichen, den Armreifen, w i r d noch einmal die Zahl angegeben: vierundzwanzig u n d das Äußere beschrieben: mit wertvollen Edelsteinen besetzt. Die Formulierung „der G o l d w e r t ist für das Ingesinde" ist vielleicht irreführend, w e n n m a n aus ihr auf eine Geringschätzung materieller W e r t e schließt. Kriemhild kennt die Macht des Goldes sehr gut, und auch Siegfried greift, w e n n auch ganz o h n e Geldgier, i m m e r wieder auf seine nibelungischen Ressourcen zurück. Was hier gezeigt werden soll, ist, daß Siegfried die Rolle des Boten ü b e r n o m m e n hat, d e m eben bestimmte Geschenke als Bezahlung f ü r seine Dienste zustehen, o b w o h l diese Rolle seiner Person unangemessen ist. In der A n n a h m e und Weitergabe des Lohnes zeigt sich, daß Siegfried Botenlohn beansprucht, weil er Botendienste ausgeführt hat, aber ihn nicht behält, weil er kein Bote ist. Die Verständnislosigkeit a m B u r g u n d e n h o f (Kriemhild eingeschlossen!) f ü r das Wesen Siegfrieds liegt darin, daß er, unabhängig v o n der Funktion, in die ihn Geburt usw. gestellt haben, bereit ist, jede Stelle einzunehmen, die die augenblickliche Situation erfordert, ohne sich in seiner herrscherlichen Funktion dadurch gemindert zu fühlen. Dagegen herrscht in W o r m s ein perfekter, aber erstarrter ordo, in d e m keine Differenz zwischen der Stellung, die j e m a n d innehat, und der Tätigkeit, die er ausübt, denkbar ist. Dieser ordo ist durch Siegfrieds Prinzip der persönlichen Leistung bedroht, wäre aber ohne es genau so verloren (Sachsenkriege). Etwas anderes als die Einhaltung des ordo ist in W o r m s undenkbar, für Siegfried eine lästige Formalität, über die m a n sich hinwegsetzen oder lustig machen kann. Sicher nicht zufällig läßt der Dichter Hagen (Str. 529) anmerken, daß er für Botendienste nicht geeignet sei, eine höfliche U m s c h r e i b u n g dafür, daß sie ihm nicht ziemen, und nicht ohne Verachtung f ü r Siegfried, der diese Rolle w o h l u m Kriemhilds willen auf sich n e h m e n wird. Die Potenzierung des Äußerlichen u n d das Setzen v o n M a ß u n d Zahl v o n materiellen W e r t e n f ü r seelische S t i m m u n g e n ist w o h l das, was d e m Nibelungenlied heutzutage als größter Fehler angekreidet wird. N A G E L ist sich hierin mit vielen anderen einig. D o c h kann m a n die Ursache für dieses Nichtgefallen darin sehen, daß w i r den Fehler begehen, uns das Geschehen viel zu wenig bildhaft vorzustellen; bei einer Inszenierung als Ausstattungsfilm w ü r d e der Regisseur unserer in diesem P u n k t ungeschulten u n d faulen Phantasie die Arbeit abnehmen; w i r wären i h m dankbar u n d v o m Stück begeistert. N u n w e n d e n wir uns einem Zentralmotiv der Nibelungensage zu: d e m Hort.
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Lange vor dem Nibelungenlied, u m 980, ist uns aus Skandinavien die Kenntnis des Hortmotivs überliefert: das W o r t „Gold" wird mit Sand des Rheins umschrieben. Man hat also am Ende des 10. Jahrhunderts in Skandinavien eine Erzählung von in den Rhein versenktem Gold gekannt. Daß es in Deutschland im 13. Jahrhundert allgemein bekannt war, ist anzunehmen. W i r haben auch ein Zeugnis bei dem schon einmal zitierten Marner, daß in der deutschen Überlieferung der Schatz am Grunde des Rheins versenkt war (und nicht etwa, wie in der Thidrekssaga, in einer Höhle in einem Wald versteckt): er kritisiert die geizigen rheinländischen Kaufleute: Ihnen dient auch der Grund des Rheins: Der Hort der Nibelungen liegt bei ihnen im Lurlenberg. Dieses Motiv ist nicht nur alt und weit bekannt, sondern es zählt zu denen, die den ersten und den zweiten Teil verbinden und daher für den Aufbau besonders wichtig sind. Er ist auch ein hervorragendes Mittel, die Entwicklung Kriemhilds nach Siegfrieds T o d zu kennzeichnen. Z u seinen Lebzeiten war für sie die Liebe an erster Stelle gestanden, wenn auch nicht in unserem Sinn: Als Brünhild ihr berichtet, daß Siegfried sich s küneges man genannt hat, antwortet sie: sô wœre mir übele geschehen; sie hätte es als Schmach empfunden, Gattin eines Gefolgsmannes zu sein, was für persönliche Vorzüge auch immer er getragen hätte. Das ist kein schlechter Charakterzug Kriemhilds, sondern entspricht der allgemeinen Auffassung der Zeit. Daß ein ihr würdiger Gatte König sein mußte, war ihr selbstverständlich, und wegen etwas Selbstverständlichem liebt man niemanden. W o v o n sie schwärmt, ist, daß er „aus der Schar der Helden hervorstrahlt wie der M o n d über die Sterne" (Str. 817). Der H o r t bedeutet ihr, die nach Siegfrieds T o d zurückgezogen lebt, nicht Mittel, sich äußeren Luxus und Macht zu leisten, sondern Mittel, sich Freunde zu schaffen, die den T o d Siegfrieds an Hagen rächen könnten. Ganz in den Bereich der bewußt gesetzten Symbole und nicht der „Widersprüche" gehört der kleine Zug, daß Hagen den „ganzen Schatz" (Str. 1137) an sich nimmt, während sie später (Str. 1271) noch Wertgegenstände von Siegfried besitzt, die immer noch so viel sind, daß Hagen darauf W e r t legt, es ihr zu nehmen. Der Haß n i m m t dem Besiegten auch noch den letzten Rest an Vermögen, an den man zuerst nicht gedacht hat. „Sie hat immer noch etwas v o m Hort über" mag den B u r g u n dern, die voll schlechten Gewissens sind, aber auch unheimlich genug sein. W e n n Siegfrieds H o r t so unermeßlich groß war, m u ß sich jetzt auch ein unbedeutender Rest als beachtliche S u m m e herausstellen. Doch möchte ich betonen, daß Kriemhilds Interesse am H o r t nie primär ist, trotz BEYSCHLAG, Das Motiv der Macht S. 206:
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Beides ist ihr an Siegfried teuer und unersetzlich: der Mann, aber auch die Macht, über die er verfugt. ... Deshalb verbindet der Dichter nach dem endgültigen Raub des Hortes beides bis zu ihrer großen Klage bis an ihren Tod: umb ir mannes ende, unt do si ir dazguot also gar genamen (Str. 1141). W e n n
am Ende der Tragödie Kriemhild mitten in dem mit entsetzlichen Opfern errungenen Triumph, Hagen in ihrer Gewalt zu haben, diesem das Leben gegen den Hort anbietet (Str. 2367), so ist das weder inkonsequent noch eine vom Dichter nicht bezwungene Doppelung der Motive; die Rückgabe des Hortes wäre dieser von ihrem ersten Auftreten an als Königin über Land und Leute denkenden und handelnden Frau die Wiedergutmachung eines ganz wesentlichen Teiles ihres Verlustes. Urteil nur leicht abändernd, konstatieren wir, daß, wenn Kriemhild, den Mörder Siegfrieds gebunden vor sich, noch an den Hort zu denken vermag, dies sicher nicht in der ehrlichen Absicht geschieht, Hagen dafür das Leben zu schenken, aber daß das eine konsequente Fortentwicklung ihres Charakters ist, keine Schwäche der Dichtung und kein funktionsloses Relikt alter Sagenstufen. Daß auch am Etzelshof der Reichtum in ihren Augen nur insoferne zählte, als er ihr die Gelegenheit geben könnte, sich an Hagen zu rächen, zeigt klar Str. 1396: BEYSCHLAGS
si gedâhte: „ich bin sô riche unt han so grôze habe daz ich minen vîenden gefüege noch ein leit. des wœre et ich von Tronege Hagenen gerne bereit. "
Sie dachte: „Ich bin so reich und so vermögend, daß ich meinen Feinden wohl noch ein Leid antun kann. Fürwahr, Hagen von Tronje gegenüber wäre ich dazu jederzeit gerne bereit." Das große Verdienst von BEYSCHLAGS zitiertem Aufsatz ist, daß der Höhepunkt des Nibelungenliedes, der Frauenzank, ins Z e n t r u m des Interesses gerückt wurde, auch wenn man mit seiner psychologischen Zeichnung der Handelnden nicht immer einverstanden ist. Im Wortlaut des Nibelungenliedes, und nur darum geht es hier, ist Kriemhild zwar die erste, die den „Männervergleich" anhebt mit den Worten: „Ich habe einen Mann (der ist so vortrefflich), daß alle diese Reiche sein sein sollten." Es ist viel diskutiert worden, ob sie dies in naivem Stolz über Siegfrieds herrliche Erscheinung oder mit einem realpolitischen Anspruch sagt. Gegen BEYSCHLAG und für Friedrich
MAURER,
Leid, München 1953
gegen den er hier polemisiert, spricht, daß Kriemhild einen halben Rückzieher macht, als Brünhild die Sache ins Lehnsrechtliche wendet: in der zweiten Wechselrede weist sie nur auf Siegfrieds glänzende Erscheinung („wie der M o n d vor den Sternen") hin. Brünhild gegen-
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über ist das freilich mindestens genau so kränkend, und auch schon die erste Bemerkung war wohl nicht ganz ohne die persönliche Spitze. Wie stark diese getroffen hatte, konnte aber Kriemhild nicht wissen, da sie von der „Vorbekanntschaft" und dem Wunsch Briinhilds, die Kampfspiele gegen Siegfried und nicht gegen Gunther auszutragen, wohl nichts wußte; ebensowenig von Siegfrieds Steigbügeldienst. Einen Herrschaftsanspruch über Teile des Wormser Reiches hat Kriemhild zwar vor der Abreise nach Xanten ausgesprochen (Str. 691), aber nach Siegfrieds Gegenrede diesen Plan nie mehr verfolgt. Gerade daß sie zunächst Hagen als Gefolgsmann nach Xanten mitnehmen möchte, gleich aber bereitwillig darauf verzichtet und zehn Jahre lang an keinen Kontakt denkt, spricht in meinen Augen eher gegen als für eine bewußte Planung einer Herrschaftsübernahme in Worms durch Kriemhild. Hagen ist durch das Ansinnen, mit ihr zu ziehen, tief beleidigt: Ein Gefolgsmann ist kein Leibeigener, dessen Besitz einfach übertragen werden kann; sein Dienst ist auf den Herren, mit dem ein Lehnsverhältnis besteht, beschränkt. Er hat das Recht, zu verweigern, daß Gunther ihn an Kriemhild abtritt. Die Einladung zu dem verhängnisvollen Fest geht schließlich ganz von Brünhilds bohrendem Wunsch aus, die Wahrheit zu erfahren. Eine Bedrohung der burgundischen Herrschaft durch Siegfried konnte auch in Worms nicht angenommen werden. Daß Kriemhild im Frauenstreit unbedachter handelt, spricht für und nicht gegen sie, soferne man ihr zielbewußtes Machtstreben unterstellt. Doch soll man in dieser Unbedachtheit auch keinen positiven Charakterzug sehen. Wie sich in der Forderung vor der Abreise nach Xanten, Hagen möge mitkommen, zeigt, ist es mehr die Unbedachtheit einer Prinzessin, die glaubt, alle Untertanen wären Zinnsoldaten - und sie nimmt hin, daß Hagen eben leider nicht ihrer, sondern nur der ihres Bruders ist. Briinhild hat den Frauenstreit schon gedanklich vorbereitet, Kriemhild war darauf nicht gefaßt und reagiert daher spontaner und auch inkonsequenter. Brünhild steuert gleich auf ihren Hauptpunkt zu: Siegfried hatte bei der Werbung gesagt, er wcere s kiineges man, Gunthers Gefolgsmann. Kriemhild, zu Recht entsetzt, zeichnet schwarzweiß: da ζ ich eigen mannes wine solde sin? „daß ich die Lebensgefährtin eines Unfreien sein sollte?" Für Kriemhild scheint es keine Stufe zwischen eigen mannes wine und Herrscherin zu geben, adelvrt ( „frei und adelig") scheint mit dem zweiten identisch zu sein. Diese (die tatsächlichen Verhältnisse vergröbernde) Sichtweise Kriemhilds ist von Gert K A I S E R ZU unrecht Brünhild zugesprochen worden, der dem Irrtum verfallen ist, Brünhild könne Siegfried für einen hochgekommenen Ministerialen Gunthers halten. Daß er König in
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X a n t e n ist, m u ß ihr doch bekannt sein. Str. 783, v o r der Ankunft Siegfrieds und Kriemhilds in W o r m s , gibt Gunther seiner Frau deutliche Anweisungen bezüglich des Empfangs: Er gie zuo „wi enpfie alsam suit „daz tuon
Prünhilde et iuch min ir enpfâhen ich", sprach
da er die sitzen vant. swester do ir kämet in min lant? daz Sîfrides wtp." si, „gerne, von schulden holt ist ir min lip."
Er suchte Briinhild auf, wo sie saß. „Wie empfing denn Euch meine Schwester, als Ihr in mein Land kamt? Genau so sollt Ihr die Frau Siegfrieds empfangen." „Das tu ich gerne", sprach sie, „ich habe Grund, ihr gewogen zu sein."
Ebenso betont die A r t der B e g r ü ß u n g Siegfrieds durch Gunther die Gleichrangigkeit. A u c h Herrscher können einem anderen Herrscher Untertan (zinspflichtig) sein, und ein derartiges Verhältnis müßte w o h l Brünhild annehmen. In letzter Konsequenz der „Lehnspyramide" (wenn auch der Vergleich des Lehnssystems mit einer Pyramide v o n den Historikern für schlecht angesehen wird) ist nur der Fürst keinem irdischen Herrn zu Dienst verpflichtet, sondern nur Gott. Aber das hat nichts mit d e m P r o b l e m unfreier „ B e a m t e r " , die sich in den niederen Adel hochdienen, zu tun. A u c h Dietrich v o n B e r n gerät j a a m Etzelsh o f nie in Gefahr, als „Ministeriale" angesehen zu werden. D o c h besteht Brünhild auf d e m Kriemhild beleidigenden eigen, und im Streit v o r dem Münster steigert sie es zu dem Schimpfwort eigen diu, „unfreie D i e n s t m a g d " . Ich glaube, w o h l das zweitärgste Schimpfw o r t , das einer adeligen D a m e gegenüber möglich war, und sie rechnete nicht damit, daß Kriemhild mit dem allerärgsten antworten konnte: mannes kebse „Beischläferin eines U n t e r g e o r d n e t e n " . D a r a u f sind alle weiteren Beteuerungen, Ehrenerklärungen und erzieherischen M a ß n a h m e n (darunter Verprügeln der Ehefrau) nutzlos. Brünhilds Beleidigung kann nur durch Siegfrieds T o d gerächt werden. Es ist auch gleichgültig, ob er Brünhild wirklich das M a g d t u m g e n o m m e n hat, poetisch gesehen der Gürtel S y m b o l der J u n g fräulichkeit ist, oder ob er die Treue gewahrt hat und der Gürtel nur das S y m b o l ihrer Kraft sein sollte. Bei j e d e m Skandal ist unwichtig, was tatsächlich vorgefallen ist, entscheidend ist, was die Leute reden. Es gehört zu den besten Kunstgriffen des Dichters, daß er manchmal seine Figuren, m a n c h m a l aber auch das Publikum, teilinformiert läßt. V o m Eid Siegfrieds, das (daß er Brünhild das M a g d t u m g e n o m m e n habe) nicht gesagt zu haben (Str. 858), w o m a n einen Eid, dieses nicht
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getan zu haben erwartet, bis zu der Art, wie Hagen vom Streit informiert wird: nämlich einseitig von Briinhild (Str. 864). Der, der die meiste Macht besitzt, Gunther, trifft sehr wenige Entscheidungen. Manche Interpreten, besonders Karl Heinz IHLENBURG, sprechen daher davon, daß zur Aussage des Nibelungenliedes mit dazu gehört, daß ein schwacher König eine Gefährdung des Reiches bedeutet. Aber: Wie schwach ist Gunther eigentlich? Körperliche Schwäche wird ihm nie nachgesagt. Daß er Brünhild gegenüber eine so klägliche Rolle spielt, vor allem in der Brautnacht (*C hat diese burleske Szene noch erweitert), wird durch ihre übernatürliche Stärke begründet. Jedem anderen außer Siegfried wäre es ebenso ergangen. Im Vergleich mit den normalen Sterblichen, ausgenommen Hagen, schlägt er sich auch am Schluß der Tragödie tapfer. Daß er nicht so oft kämpfend geschildert wird, liegt daran, daß große körperliche Kraft nicht die wichtigste Tugend eines Fürsten ist. Im Gegenteil, ein unbesonnen in vorderster Reihe kämpfender Fürst würde sein Volk im Krieg schnell fuhrerlos machen. Auch Etzel ist tapfer und wäre bereit, selbst einzugreifen, wird aber von seinen Ratgebern zurückgehalten. Je mächtiger ein Herrscher ist, desto weniger ziemt ihm der aktive Kampf. Abgesehen von diesen historischen Tatsachen erfüllt speziell in der Literatur der Fürst meist die Funktion eines ruhenden Zentrums; eine Zyklenbildung wie im Artus- und Gralsroman oder in der Dietrichepik wäre sonst nicht möglich. Von körperlicher Schwäche Gunthers kann man nicht sprechen; eher von Entscheidungsschwäche. Aber auch daß er beim ersten Auftreten Siegfrieds vor Worms erst seine Räte konsultiert, ist Herrschertugend oder zumindest der Normalfall. Auch der vorbildliche König Artus konsultiert seine Edlen, bevor er das Ansinnen des römischen Kaisers, Tribut zu zahlen, zurückweist, und den Krieg erklärt (Geoffrey of Monmouth, Historia Regum Britanniae IX,15 ff.). Durch das Erbsystem macht ein Herrscher mit durchschnittlichen Geistesgaben immer noch eine passable Figur; seine Ratgeber hingegen werden nach speziellen Fähigkeiten gewählt. Die peinliche Szene bei der Begrüßung Brünhilds auf Isenstein, wo nicht nur Siegfried, sondern auch noch Hagen vor Gunther das Wort ergreift, kann durch die Verlegenheit bei der Werbung noch halb entschuldigt werden. Auch Siegfried ist ja, als er Kriemhild das erste Mal sieht, eher unbeholfen. Gunthers Schwäche wird am auffälligsten im Mordrat: es ist wohl selten, daß ein König im Rat seine Stimme abgibt und mit ihr unterliegt. Im zweiten Teil widerholt sich etwas Ähnliches, aber nicht so kraß, wenn Dietrich Hildebrand zu den Burgunden schickt, dieser 72
aber gegen den Willen Dietrichs duldet, daß auch Wolfhart und die anderen jugendlichen Heißsporne mitgehen. Bei Gunther tritt zur Entscheidungsschwäche vor allem die Angst um die eigene Ehre, sprich: Feigheit. Daß ein starker Herrscher Garantie für den Frieden und ein schwacher eine Gefahr für das ganze Volk ist, mag der Weltanschauung des Dichters genau so entsprechen wie er sich vielleicht mit Kriemhild und Briinhild darin einig ist, daß in der Gesellschaft der entscheidende Abstand der zwischen dem Ersten und dem Zweiten ist - nicht so sehr ein Freund des Altadels, als ein Bewunderer des Herrschertums. Deswegen muß man aber nicht unbedingt den Hof eines Herrschers als den Ort sehen, für den das Nibelungenlied konzipiert wurde. Soziologische Untersuchungen zu verschiedenen Epochen zeigen, daß gerade das einfache Volk besonderen Wert auf eine intakte Spitze der Hierarchie legt, in der Literatur wie in der Politik. Hagen, der dort entscheidet, wo Gunther entscheiden sollte, hat mehr als einen Grund, Siegfried zu töten, und durch die Beleidigung seiner Herrin auch einen Anlaß. Die Gründe seien hier zusammengefaßt: Persönliche: Siegfried beleidigt durch seine Dienstbeflissenheit ihn, dessen Amt und Vorrecht der Dienst wäre, am meisten. Ein Siegfried am Wormser Hof macht einen Hagen unnötig. Nicht reinlich von den persönlichen zu trennen sind die weltanschaulichen Gründe, das Geringachten des Establishments durch Siegfried und dessen einzige objektive Charakterschwäche, das selbstgefällige und angeberische Gehabe. Die näheren Umstände des Mordes ergeben sich aus der inneren Logik der Dichtung: Der Frauenstreit war darum entbrannt, wem der Vorrang gebühre, Brünhild als der Gattin Gunthers oder Kriemhild als der Gattin Siegfrieds. Siegfrieds richtige Position muß sich dadurch offenbaren, ob er sich vor oder nach Gunther stellt. Der Lauf zur Quelle zeigt: er ist der Erste durch seine Schnelligkeit und Kraft und gewinnt den Wettlauf mit Hagen trotz einer Vorgabe, die darin besteht, daß er sich diesem zu Füßen legt (Str. 974); wie immer die Zeichenhaftigkeit dieser Handlung nicht bedenkend. Doch aus Höflichkeit vor dem König wartet er ab, bis Gunther nachgekommen ist und getrunken hat. Damit gibt er sich als Gunther nicht ranggleich zu erkennen; man sollte meinen, daß er gerade durch diese freiwillige Unterordnung die Beleidigung gutmacht, doch der tatsächliche Effekt ist eben das Gegenteil: Offenes Zur-Schau-Stellen der eigenen Überlegenheit, gepaart mit freiwilliger Unterordnung, sind für alle, die die 73
Hierarchie bejahen, die größte Störung der (ihrer Meinung nach göttlichen) Ordnung. Hagen ermordet Siegfried aus seiner Sicht trotz des Zurücktretens hinter Gunther zu Recht genau so, wie er ihn ohne Zeugen ermordet wollte, wenn er noch vor dem Eintreffen Gunthers getrunken hätte.
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SIEGFRIED UND DER MYTHOS Die letzte Jagd Siegfrieds benutzt der Dichter zu einem umfassenden Bild, das den derb-kräftigen Siegfried (wohl eine dankbare Figur, wenn es darum ging, das Publikum zum Lachen zu bringen) mit dem höfisch-schönen Siegfried (vielleich dem Liebling der älteren Damen im Publikum) vereinigen soll. Märchenprinz mit goldenem Jagdhorn und Kraftkerl, der einen Bären in der Küche ausläßt („Küchenhumor") in einem. Ob ihm das ganz gelungen ist, stehe dahin; nicht passiert sind ihm hingegen so grobe Schnitzer, wie ihm angedichtet werden, etwa daß er Siegfried in einem anderen Gewand zur Quelle laufen läßt als dem, auf das Kriemhild das Kreuzchen genäht hat. Sein prächtiges Jagdgewand legt er ja ab, als er den Wettlauf beginnt, und läuft nur mit dem weißen Leibrock bekleidet, in dem er wohl auch in den vermeintlichen Krieg gezogen war. Mit Siegfrieds Tod sind wir beim vierten der Ereignisse aus Siegfrieds Leben angelangt, denen Motive zugrunde liegen, die uns, vorsichtig formuliert, auch aus Mythen bekannt sind: Die Tötung des Drachens, die Gewinnung des Schatzes, die Bezwingung einer mit überirdischen Kräften ausgestatteten Jungfrau und eben sein Tod. Die vorsichtige Ausdrucksweise „auch aus Mythen bekannt" wähle ich deshalb, weil damit ja noch nicht gesagt ist, daß die Abhängigkeit der Sage vom Mythos direkt ist. Es gibt auch Ansichten, daß etwa die Ermordung Siegfrieds, für die man in der Tötung Balders durch den blinden Hödur eine Parallele in der altgermanischen Mythologie zu sehen geglaubt hat, eine rein literarische provenzalisch-französische Quelle besitzt, die ihrerseits auf eine in einen spätantiken Roman eingelegte Novelle zurückgeht. Dieser Roman, die „Metamorphosen" des Apuleius, ist ein Sammelsurium aus Mythen abgeleiteter Novellenstoffe. Darüber, daß viele Motive dieses Werkes direkt oder indirekt aus Mythen stammen, ist man sich einig. Dann wären wir doch wieder beim Mythos als Quelle, aber bei keinem Siegfriedmythos. Doch wie groß sind eigentlich die „Ähnlichkeiten" des angeblichen antiken Vorbilds? Ein Mädchen namens Charité wird von zwei Männern umworben, dem reichen, aber ausschweifend lebenden und 75
übel beleumundeten Thrasyllus und dem guten Tiepolemus. Tlepolemus erhält die Braut; Thrasyllus aber sinnt auf Rache. Er spielt den besten Freund, doch auf einer Jagd, als ein wilder Eber auf sie beide zustürmt, durchschneidet er von hinten dem Pferd des Tiepolemus die Sehnen, so daß dieser von dem wütenden Eber zerfleischt wird, und verletzt den Nebenbuhler auch noch mit der Lanze am Schenkel, ehe er sie gegen den Eber schleudert und diesen tötet. Thrasyllus stellt das Geschehene als Unfall dar und wirbt u m die Witwe; dieser erscheint der Geist des Tiepolemus im T r a u m und erzählt ihr den Hergang. Sie rächt ihn an dem Mörder, indem sie Thrasyllus die Augen aussticht, dann tötet sie sich selbst mit dem Schwert. Der erblindete Mörder sieht keine andere Möglichkeit, als durch Verhungern ebenfalls sein Leben auszulöschen. Die provenzalische Parallele im Daurel entspricht in etwa der antiken. Aber was außer dem Mord auf der Jagd ist gemeinsam? Wieso sollen wir dabei an Entlehnung im Hochmittelalter denken? Die Parallele ist so vage und eigentlich nur auf den O r t der E r m o r dung beschränkt, daß ich mir die „Verwandtschaft", wenn überhaupt, recht gut auch durch eine zweitausendjährige Trennung verwischt vorstellen könnte. W a r u m soll denn die Quelle der Siegfriedfigur literarisch sein? In Skandinavien begegnen uns die ältesten Z e u g nisse der Siegfriedsage auf Grabkreuzen, später auf Kirchtüren. Heißt das nicht, daß der Volksglaube, der ja in Skandinavien lange nach der Christianisierung noch von heidnischen Vorstellungen geprägt war, in der Siegfriedsage religiöse Züge sah? Man hat dagegen eingewandt, daß die Mythisierung im Norden sekundär sei. Doch haben wir an deutschen Quellen nichts vor dem Nibelungenlied, w o ein „Siegfried" erscheint. Den Beweis für diese Behauptung ist man daher bis heute schuldig geblieben. Da wir viel von Resten alter Mythen im Nibelungenlied sprechen, müssen wir uns im klaren sein, was ein Mythos überhaupt ist, oder besser, welcher der möglichen Begriffe von „Mythos" uns in diesem Falle am ehesten hilft. Franz Rolf SCHRÖDER beginnt „Mythos und Heldensage" (in: Zur germanisch-deutschen Heldensage) mit einer knappen Begriffsbestimmung: „Unter Mythos verstehen wir eine Erzählung, welche in der Götterwelt spielt oder in welcher Götter vornehmlich als Handelnde auftreten." Im weiteren differenziert er Schichten der germanischen Heldensage (S.293) die zugleich auch eine zeitliche Abfolge darstellen: 1. die mythisch-kultische Schicht; 2. die historische Schicht. U n d ihnen kann man anfügen eine 3. jüngste
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Schicht, die aus mittelalterlichem Erzählgut (Märchen, Novellen usw.) geschöpft hat. Die erste und zweite Schicht können sich wechselweise verbinden, und jede von ihnen Motive der jüngsten Schicht, insbesondere Märchen und Märchenzüge, in sich aufnehmen.
Damit hat SCHRÖDER zwar mehr geleistet als manche andere Autoren, die sich weder fragen, was Mythos ist, noch wie er zu den nichtmythischen Elementen der Heldendichtung steht, aber trotzdem ist seine Begriffsbestimmung wie Schichtentrennung unzureichend. Was er zuerst als mythisch, dann als mythisch-kultisch bezeichnet, kann nicht so hingenommen werden. Vor allem das Doppelwort mythischkultisch wirkt irreführend. Unter kultisch versteht er wohl den zum Mythos gehörigen Ritus; diese beide können aber durchaus unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Natur sein. Der Mythos, für uns eine Aussage über Göttliches, das sich im Einst abgespielt hat und als wahr geglaubt wird, ist deutlich abzugrenzen von der „ewigen Wiederkehr", wie es Mircea ELIADE (Der Mythos und die ewige Wiederkehr, 1953) formuliert hat, das heißt von den durch die gläubige Kultgemeinde in zeitlichen Abständen wiederholten Riten, die aus dem Mythos hergeleitet werden. Verdeutlichen läßt sich das Verhältnis von Mythos und Ritus am besten am Christentum: die Einsetzung des Altarsakramentes durch Christus beim Letzten Abendmahl und die Verwandlung von Wein in das Blut Christi ist Teil der für wahr geglaubten Berichte, was „damals" vor sich ging, insbesondere der Erlösung der Menschheit durch den Kreuzestod Christi, Teil des christlichen Mythos. Durch die Worte „tut dies zu meinem Andenken" wurde sie zum Kern des Ritus, nämlich der Meßfeier, in der die Verwandlung von Wein in das Blut Christi durch die Gläubigen jedesmal wiederholt wird. Nun ist an diesem Beispiel deutlich, daß nicht der ganze Mythos im Ritus wiederholt wird, sondern ein zentraler Punkt. Weiters zeigt sich, daß die in den Evangelien überlieferten Berichte vom Leben Christi sich ebenfalls auf zentrale Punkte konzentrieren, vor allem die letzte Zeit vor und um seinen Tod, während über seine Kindheit zunächst wenig bekannt war. Trotzdem gehörten schon wenige Jahrhunderte danach Geschichten wie die von den Heiligen Drei Königen zum Geglaubten, zum Mythos (wenn auch natürlich nicht zum offiziellen kirchlichen) und haben ihrerseits (ebenfalls nicht offizielle) Riten hervorgebracht. Es entsteht so unter dem zeitlos Göttlichen ein Heros (oder auch „Gott einer jüngeren Generation" - nicht nur in der griechischen Mythologie läßt sich das Phänomen beobachten, daß die Gottheiten, die direkt mit den Menschen verkehren oder ihnen die Kulturgüter bringen, Kinder von Obergott-
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heiten ohne menschenartige Biographie sind) mit Mythen über einzelne Stationen seines Lebens, die unterschiedliches Alter, unterschiedliche Auswirkung auf den Ritus und unterschiedliches Fortleben haben können. Eine gewisse Tendenz, die Stationen des Lebens des Heros sich innerhalb eines Jahres wiederholen zu lassen, scheint zu bestehen, ohne daß jede Gottheit, deren Geburt in einer und deren Tod in einer anderen Jahreszeit gefeiert wird, deshalb als Vegetationsgott anzusehen wäre. Ein Gott oder Heros, der nach dem Mythos im jugendlichen Vollbesitz seiner Kräfte stirbt, ist keineswegs eine Allegorie fiir den Frühling. Warum nehmen wir hier eine aufs erste Hinsehen kleinlich wirkende Trennung von Mythos und Ritus vor? Der Mythologe Walter F. O T T O hat doch formuliert Walter F. OTTO, Der ursprüngliche Mythos, in: Die Eröffnung des Zugangs zum Mythos, Hg. Karl Kerényi, Darmstadt (Wege der Worschung 20) 1967, S.271 ff.: daß es keinen Kultus ohne Mythos gibt und je gegeben hat ... daß es keinen echten (ursprünglichen) Mythos ohne Kultus gibt und je gegeben hat.... Die kultische Handlung ist nichts anderes als die Handlung der göttlichen Wesen in Menschengestalt. Also ist der Kultus ebendasselbe wie der Mythos.
Diese Definition von Mythos ist zwar von tiefer philosophischer Einsicht, aber fur unser Problem unbrauchbar. Mythen von einem Heros, der ein Ungeheuer tötet, sind zahlreich; im Christentum sind der Erzengel Michael (aus der Apokalypse) und der heilige Georg (seit dem 12. Jahrhundert) Drachentöter. Die Georgslegende hat, vor allem im Barock, zu szenischen Darstellungen (nicht immer am Georgstag, oft auch zu Fronleichnam) des Drachenstiches geführt, bei denen eine Blase mit Tierblut mit dem Speer durchbohrt wurde. Aus Furth im Bayrischen Wald wird berichtet, daß zum dortigen „Drachenstich" noch Ende des vorigen Jahrhunderts die Leute aus mehr als 30 Kilometer im Umkreis zu Fuß gezogen kamen, um einige Tropfen des wunderkräftigen Blutes („Drachenblut ist für alles gut") heimzutragen. Diese alljährlichen Spiele sind zu einer Art Ritus geworden, indem der Aberglaube (auch ein Glaube, und sogar ein starker) diesem „Drachenblut" besondere Wirkungen zuschrieb, die durch die Tat des Heiligen (den Mythos) begründet wurde. Nun die Anwendung auf die Siegfriedsage: In der nordischen Überlieferung (älteste erhaltene Abschrift des „Fafnirliedes" im Codex Regius der sogenannten „Liederedda", um 1275; bildlich dargestellt schon um 1030 auf dem Ramsundstein) tötet Sigurd den Drachen Fafnir nicht, wie wir erwarten würden, in einem spannenden Kampf, 78
sondern er gräbt eine Grube auf dem W e g des Drachen, in die er sich stellt, und sticht von unten dem Untier in den Bauch, so daß das Blut über ihn rinnt. Das Graben einer Grube zum Auffangen des Blutes kann wohl nicht direkt aus einem Mythos über die Tötung eines Ur-Ungeheuers stammen, sondern eher aus der Beschreibung eines Ritus, in dem dieser Mythos nachgeahmt wird. W i r werden daher besser auf einer Definition von Mythos aufbauen, die Mircea E L I A D E gegeben hat: Mircea ELIADE, Mythen, Träume und Mysterien, deutsche Übersetzung: (Reihe W o r t und Antwort 25), Salzburg 1961, S.20.
Da er wirklich und heilig ist, wird der Mythos vorbildlich und folglich wieder-
holbar, denn er dient allen menschlichen Handlungen als Modell und, damit verbunden, als Rechtfertigung. Mit anderen Worten, ein Mythos ist wahre Geschichte, die sich im Anbeginn der Zeit zugetragen hat und die das Modell menschlichen Verhaltens darstellt. Durch Nachahmung der vorbildlichen Taten eines Gottes oder mythischer Helden oder einfach durch Erzählen ihrer Abenteuer löst sich der Mensch der archaischen Gesellschaften von der profanen Zeit und tritt magischerweise in die Große Zeit, in die Heilige Zeit ein.
Für den Gläubigen einer Religionsgemeinschaft ist die „Wiederholung" und die Tat des Gottes dasselbe. Für einen unbeteiligten Zuschauer eines Ritus ist hingegen Tierblut, was für den Gläubigen Drachenblut ist. Der Dichter des Fafnirliedes hat nun keinen Drachenkampf geschildert, sondern eher einen Ritus beschrieben. Können wir die romantische Ansicht, daß die Siegfriedfigur direkt aus dem Mythos hervorgegangen sei, und daß dies gerade durch die Nähe zu einem mutmaßlichen Kultbrauch erhärtet werde, aufrecht erhalten, oder hat ein den Mythen ferne stehender Dichter von ihm beobachtete oder in Berichten über eine andere Kultur gehörte, ihm innerlich fern stehende Riten als Grundlage für seine Schilderung genommen? Auch diese Antwort trifft wohl nicht das Richtige. Es gibt auch Mythen, die vom Vollzug von Riten durch die Gottheit berichten, und zwar gerade im Bereich der Initiationsriten, deren einer unzweifelhaft hier zugrunde liegt. Die Initiation ist die Aufnahme des Initianden in den Kultverband (im Christentum die Taufe); in den meisten primitiven Gesellschaften erfolgt sie nach der Pubertät. Aus hellenistischen Mysterienreligionen, aber auch von Naturvölkern kennen wir Initiationsriten, in denen fallweise folgende Motive vorkommen, die auch in Siegfriedsagen begegnen: Riten, in denen der Initiand einen neuen Namen bekam; bei denen er Knechtsdienste leisten mußte (eventuell bei einem Schama-
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nen); bei denen er seine W a f f e bekam; bei denen er ein Tier töten m u ß t e , mit dessen Blut er Übergossen wurde; bei denen er durch eine Frau in die Weisheitslehren des Stammes eingeführt w u r d e (die i h m eventuell auch z u m ersten Beischlaf rituell zugeführt wurde). Alle diese Elemente zusammen sind jedoch in keinem einzigen überlieferten Ritus erhalten, und es ist nicht wahrscheinlich, daß es jemals einen tatsächlich praktizierten Ritus gegeben hat, der alle diese Stufen enthielt. V o n einem Einzelmotiv, d e m der Bluttaufe durch T ö t u n g des Opfertiers v o n unten aus einer künstlich ausgehobenen Grube, wissen wir, daß es i m Mithraskult ausgeübt w u r d e , der bei den römischen Soldaten im Rheinland sehr beliebt war. Kaiser Julian Apostata hat bei seinem Aufenthalt im Rheinland (vor 360) ein solches Taurobolium durchführen lassen. Da die Siegfriedsage mit dem Rheinland eng v e r k n ü p f t ist, könnte m a n annehmen, daß es sich nicht u m einen Teil eines altgermanischen M y t h o s handelt, sondern u m einen d e m Ritus der römischen Soldaten i m Rheinland e n t n o m m e n e n Z u g . Es scheint sich u m keinen „primären" Mythos, sondern u m eine recht „sekundäre" Angelegenheit zu handeln. D o c h was ist überhaupt primär? W u r d e nicht jeder i r g e n d w o greifbare M y t h o s durch irgend etwas Älteres, vielleicht mißverstandene Riten, beeinflußt? Sehen nicht einerseits die M y t h e n verwandter (etwa der indogermanischen) Völker z u m Teil recht verschieden aus, w ä h r e n d sich anderseits Religionen (nicht n u r das Christentum) binnen recht kurzer Zeit über verschiedene, nicht miteinander verwandte Völker ausbreiten? W a s „wandert" eigentlich schneller: Eine „Wanderfabel" (das ist eine Erzählung, die v o n den Erzählern in f r e m d e Länder vertragen u n d deren Strukturmuster dort vielleicht auf einheimische Helden übertragen wird) oder ein religiöser Brauch? Keine dieser Fragen k ö n n e n wir mit Sicherheit beantworten. W i r e m p f i n d e n aber, daß die Teile der „Maximalvariante" zusammenpassen u n d wir sie gerne als zusammenhängenden M y t h o s empfinden w ü r d e n . Die „Maximalvariante" ist f ü r uns in der Siegfriedsage: Heros (bzw. i m Ritus Königssohn); als Vorbereitung zur Initiation Schmiedeknechtschaft, dann D r a c h e n tötung, A n n a h m e eines neuen N a m e n s beim Eintritt in die G e m e i n schaft, E r w e r b v o n H o r t und Jenseitsfrau; später irdische Heirat, T o d durch Brechen eines Versprechens gegenüber der Jenseitsfrau. W i r begeben uns hiemit v o m Mythosbegriff der Religionswissenschaft zu d e m der Tiefenpsychologie. C. G. J U N G glaubte in den Symbolen des U n b e w u ß t e n ( T r ä u m e und Phantasien) dieselben Ausd r u c k s · u n d Gestaltungsprinzipien wie in den „urtümlichen" M y t h e n wiederfinden zu können. Dabei begegnen uns z u m Teil dieselben T e r m i n i wie in der Religionswissenschaft, doch m i t ganz anderer
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Bedeutung: Ist f ü r ELIADE der Archetypus die vorbildhafte T a t des Heros (im Gegensatz zur Wiederholung), so sind bei J U N G die m y t h i schen Bilder u n d archetypischen Symbole der Tiefenschichten des Menschen Manifestationen des kollektiven Unbewußten, Erfahrungen, die der ganzen Menschheit gemeinsam sind. Das klingt sehr schön, ist aber auch nicht ganz ohne Abstriche hinzunehmen: Für die Chinesen ist der Drache etwas Gutes; f ü r die Religionen Europas u n d des westlichen Asiens ein Chaosungeheuer, f ü r das Christentum der T e u fel. Das aus d e m kollektiven U n b e w u ß t e n gespeiste Märchen verbindet trotzdem recht o f t mehrere der hier genannten M o t i v e in einer entsprechenden Reihenfolge: D r a c h e n k a m p f , H o r t e r w e r b und Befreiu n g einer (meist v o m Drachen bewachten) J u n g f r a u gehören meist eng zusammen. T r o t z d e m ist es nicht wahrscheinlich, daß der „ m y thische" Anteil der Siegfriedsage über die Zwischenstufe des M ä r chens vermittelt wurde; die altnordische D r a c h e n k a m p f - u n d E r w e k kungsszene spricht dagegen. Das Nibelungenlied hat sie aber mit Märchenelementen ausgestaltet (das Erbteilermärchen dient als V o r bild f ü r die H o r t g e w i n n u n g ) . Die als märchenhaft e m p f u n d e n e D r a c h e n t ö t u n g scheint übrigens in verschiedenen Dichtungen weitere (unterschiedliche) M ä r c h e n m o t i v e angezogen zu haben: die keltische Tristansage hat das M ä r c h e n m o t i v v o n den ausgeschnittenen D r a chenzungen a n g e n o m m e n (der Held besitzt als Zeugnis f ü r seine T a t die Z u n g e des Drachen; der falsche Truchseß schneidet d e m toten Drachen den K o p f ab u n d verrät sich durch das Fehlen der Zunge). Mit Siegfrieds T o d u n d mit der Versenkung des Hortes haben wir die vielleicht dem M y t h o s entstammenden M o t i v e abgeschlossen. Alles, was weiterhin i m Nibelungenlied berichtet wird, ist Heldensage, Geschichtserinnerung oder deren zeitgenössische Einkleidung. M i t gewissem Recht herrscht daher heute eine D e u t u n g des N i b e l u n genliedes vor, die Alois W O L F , ausgehend v o n W . J. SCHRÖDER), folgendermaßen zusammenfaßt: Alois WOLF, Mythos und Geschichte in der Nibelungensage und im Nibelungenlied, in: Das Nibelungenlied, S. 52: Die Ansicht, daß im Nibelungenlied mythische Welt (Siegfried, Priinhilt) und höfische Welt (Worms, Gunther, Kriemhild) aufeinanderprallen, und daß darin die Grundproblematik des Epos liegen solle, wird dem Text nicht gerecht. Das Nibelungenlied sieht im Höfischen selbst die Problematik und das, was genetisch dem Mythos zuzuordnen wäre, ist als solches nicht mehr wirksam, sondern wird auf das Nebengeleise des Märchenhaften, Abenteuerlichen, Burlesken abgeschoben oder von der realen mittelalterlichen Geographie absorbiert. 81
Das Hauptanliegen des Dichters haben wir zwar in der Charakterdarstellung, nicht im Höfischen, aber auch nicht im Mythischen gesucht. Das Märchenhafte ist sicher erweitert auf Kosten des Mythischen. Der Schatz wird nicht durch den Drachenkampf erworben, sondern durch die Erbteilung. Freilich sind die in Frage kommenden Mythen auch ins Märchen eingegangen, und es fragt sich, ob der Dichter gefühlsmäßig einen Unterschied in der „Wahrheits" ebene zwischen einem durch einen Drachenkampf oder durch eine Erbteilung gewonnenen Schatz machte. Möglichkeit zur burleskeren Ausgestaltung bietet eher das Erbteilermärchen. Doch wo Elemente übrigbleiben, die tiefere Seelenschichten ansprechen, wird diesem Rechnung getragen und es zur Erzeugung einer entsprechenden Stimmung ausgenutzt. In Siegfried verliebt sich nicht nur Kriemhild, sondern auch der Leser, und daß er es tut, ist nicht wegen seines höfischen Benehmens und seiner Uneigennützigkeit, sondern wegen der Verbindung von Furchtlosigkeit, Unbekümmertheit, Frohsinn und frühem Tod; den Begriff „Mythos" so weit zu dehnen, daß alles irgendwie Irrationale darunter fallt, vielleicht auch der „Superman" der modernen Comics, hieße ihn aber unbrauchbar machen. Wenn man abe^glaubt, es tun zu können, was von der Seite der Psychologen immer öfter geschieht, dann muß man auch Siegfried als „mythisch" gelten lassen.
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NIBELUNGENSAGE AUSSERHALB DES NIBELUNGENLIEDES Vgl. J a n de VRIES, Altnordische Literaturgeschichte, 2. Aufl., Berlin, 1. B a n d 1964, 2. Band 1967. Man begegnet in Übersetzungen altnordischer Werke drei verschiedenen Schreibweisen von N a m e n und Werktiteln: Im vorigen Jahrhundert pflegte man auch die N a m e n , sofern sie der Bedeutung nach durchschaubar waren, zu übersetzen; wegen der manchmal unfreiwillig komischen Effekte dieser Methode hat man sie längst aufgegeben. A m sinnvollsten ist es sicher, die N a m e n in der originalen F o r m zu belassen. Eine Streitfrage ist nur, ob man auch die altnordische Orthographie einschließlich ihrer Sonderzeichen verwenden soll, oder eine zwar inkonsequente, aber für Nichtskandinavisten einsichtige vereinfachte deutsche Schreibung. B e i s p i e l e : 1. piöreks saga oder Thidrekssaga: th setzt man, wie im Englischen, für den interdentalen stimmlosen Reibelaut p (englisch there); d wird ohne Unterschied für „normales" d und den stimmhaften Reibelaut ö (wie englisches th in mother) gesetzt. 2. Vqïsunga saga oder Wölsungensaga: Das altnordische ν wird wie deutsch w gesprochen; ç entspricht deutschem ö; Die Kasusendungen werden im deutschen Kontext üblicherweise w e g g e lassen oder eingedeutscht. Ebenso wird die im Altnordischen übliche B e zeichnung der Vokallänge durch Akzent im deutschen Kontext meist w e g g e lassen: Fafnir gegen Fafnir. Ich verwende in den Übersetzungen altnordischer T e x t e und w o ich mich auf tatsächliche Schreibungen beziehe, die korrekte Orthographie (ähnlich verfährt auch die altnordische Literaturgeschichte von J a n de VRIES); Die Nominativendung -r (usw.), mit der auch moderne Autoren wie de VRIES inkonsequent verfahren, lasse ich weg. Im germanistischen Kontext bediene ich mich jedoch der vereinfachten Orthographie. D i e a l t n o r d i s c h e Ü b e r l i e f e r u n g der N i b e l u n g e n s a g e ist, w a s g e s c h l o s sene schriftliche T e x t e betrifft, i m D u r c h s c h n i t t u m e i n i g e J a h r z e h n t e j ü n g e r als d a s N i b e l u n g e n l i e d , d o c h g i b t es A n s p i e l u n g e n in a n d e r e n literarischen W e r k e n u n d bildliche Z e u g n i s s e , die ein h o h e s A l t e r der s k a n d i n a v i s c h e n T r a d i t i o n b e z e u g e n . C h r o n o l o g i s c h a n g e o r d n e t , erg i b t sich f o l g e n d e s B i l d : 83
ZEUGNISSE VOR 1200 8. oder 9. Jahrhundert: Im altenglischen Heldenepos Beowulf, das hauptsächlich dänische Sagentradition enthält, tritt ein Sänger auf, der ein Lied über den berühmten Drachenkampf des Wälsungen ( = „Sohn des Waise"; in altenglischer Orthographie: Waels, Waeising) Sigmund singt. In der jüngeren altnordischen Uberlieferung erscheint Sigmund als Vater des Drachentöters Sigurd; doch von Siegfried/ Sigurd weiß der Beowulf nichts. Im Beowulf tötet Sigmund den Drachen und gewinnt den Schatz nicht in jugendlichem Alter, wie Siegfried/Sigurd, denn es wird erzählt, daß er seinen Sohn Fitela (im Altnordischen Sigurds Halbbruder Sinfjçtli) vor dem Kampf fortschickt, um ihn allein zu bestehen. Beowulf selbst tötet auch einen Drachen, aber als alter Mann; er stirbt nach dem Sieg durch das Gift des Untiers. 9. Jahrhundert: Die Ragnarsdrápa, ein Preislied des norwegischen Skalden Bragi auf seinen Gönner Ragnar, ist uns fragmentarisch erhalten. Es enthält nichts aus der Nibelungensage, doch beweist ein Wort, daß Bragi sie kannte: Er beschreibt einen Schild, auf dem Szenen aus der Heldensage abgebildet sind; unter anderem vier Strophen aus der Sage von Svanhild ( = Schwanhild); die Brüder Svanhilds werden darin als „Abkömmlinge des Gjuki" bezeichnet. Und Gjuki werden wir gleich in der Nibelungensage wiederbegegnen. Darüber unten. U m 980: In einem Skaldengedicht wird die Kenning Ri'nargrjót „Sand des Rheins" für „Gold" benutzt. Zu den Charakteristika der Skaldendichtung gehört einerseits ein äußerst komplizierter formaler Aufbau der Strophen, anderseits die sogenannte Kenningtechnik, die U m schreibung eines Wortes durch einen zweigliedrigen Ausdruck; man könnte etwa statt „Schlange" sagen: „Fisch des Waldes" oder statt „Schwert" „Wundzweig" (etwas, das aussieht wie ein Zweig, aber Wunden macht). Zahlreiche Kenningar (dies der Plural von Kenning) entstammen der Mythologie oder der Heldensage, das heißt, nur wer die betreffende Sage kannte, konnte sie richtig auflösen. Wenn man sagt „ich gebe dir Sand des Rheins", muß der Hörer wissen, daß es eine Erzählung gibt, in der im Rhein nicht, wie in einem Fluß zu erwarten, nur Sand, sondern auch ein Schatz liegt. Zwischen 1020 und 1040: Ritzung auf dem Stein vom Ramsundsberg (Südschweden): Siegfried tötet den Drachen (in den Eddaliedern heißt er Fáfnir) von unten her, brät dessen Herz am Feuer, steckt den 84
verbrannten Finger in den Mund, versteht die Sprache der Vögel, schlägt dem Schmied den Kopf ab und belädt sein Pferd (wohl mit Teilen des Schatzes). Dies entspricht dem Inhalt des Fáfnirliedes der Liederedda. N u r ein auf dem Stein dargestellter Wolf (?) findet keine Entsprechung im Lied. U m dieselbe Zeit tritt das erste Mal der N a m e Fáfnir (in einem Skaldengedicht in einer Kenning für „Gold") auf. Bildliche Darstellungen dieser Szene findet man ab dem 11. Jahrhundert immer wieder auf Grabsteinen, auch auf den von Wikingern eroberten Teilen der Britischen Inseln, möglicherweise sogar darüber hinaus. Dort findet man manchmal auch die Vor- und Nachgeschichte dazu, vom Lachse fressenden Otter bis zu Gunnar in der Schlangengrube (über diese Motive siehe unten). Ab dem 12. Jahrhundert wurden solche Darstellungen auch in Kirchenportale geschnitzt. Daß diese Darstellungen zunächst fast ausschließlich auf Grabsteinen vorkommen, scheint die Deutung zuzulassen, daß man hierin nicht nur ein Motiv der Heldensage, sondern vor allem ein religiöses Motiv sah. 1043 wird die Grenze einer Gemeinde im Taunus beschrieben: et inde in montem veltberc qui vulgo dicitur lectulus Brunihildœ (und von hier auf den Feldberg [den höchsten Gipfel im Taunus], der vom Volk „Bett der Brünhild" genannt wird). Damit ist Brünhild als Heldin der Erweckungssage für das Rheinland gesichert. Das heißt, eine Sagenform, in der Brünhild nicht in Kampfspielen bezwungen werden mußte, sondern von einem Flammenwall oder einem undurchdringlichen Dickicht umgeben, allen anderen außer dem auserwählten Freier unzugänglich schlief (wie Dornröschen). Zirka 1100: Ein gewebter Bildstreifen (und ein zweiter, etwas jüngerer) von der Insel Gotland (in der Ostsee, gehört heute zu Schweden). Hier findet sich ein Mann, anscheinend Sigurd, als Drachentöter und mit einem Eber (der ihn tötet?); auf dem jüngeren Streifen Sigurd (?) zusammen mit Hirschen (auf dem Berg der Hinde?). Die beiden Streifen enthalten auch Darstellungen anderer Sagenhelden: Gunnar in der Schlangengrube (darüber unten), Hildesage, Dietrich von Bern. Diese Friese wurden beschrieben von Karl HAUCK, Brieflicher Hinweis auf eine kleine ostnordische Bilder-Edda, in: Zur germanisch-deutschen Heldensage.
1154: Der isländische Abt Nikulás von J)verá kehrte 1154 von einer längeren Auslandsreise zurück. Das Verzeichnis der Stationen seiner Reise enthält verschiedene zusätzliche Angaben; zu einem nicht näher 85
bezeichneten Ort auf der Strecke zwischen Paderborn und Mainz schreibt er: „und dort liegt die Gnitaheide, auf der Sigurd den Fáfnir tötete". A u f dieser Strecke, im Teutoburger Wald, liegt tatsächlich eine „Knetterheide" (möglicherweise zum Dialektwort knetter = Wacholder). H Ö F L E R hat dies als Beweis dafür genommen, daß im Teutoburger Wald Siegfrieds Drachenkampf lokalisiert worden und dem Isländer von den Einheimischen erzählt worden war. Doch ist auch eine andere Erklärung denkbar: In skandinavischen Dialekten bedeutet gnita „Brocken" (allerdings ohne Belege in der Flurnamengebung). Der Drachenkampf könnte im altnordischen Lied auf einer „Geröllheide", ohne Ortsangabe, gedacht worden sein, und Nikulás hätte von den Einheimischen gar nichts gehört, außer dem Ortsnamen, und nachdem er wußte, daß die Siegfriedsage in Deutschland spielte, irrtümlich gedacht, dieser Ort „Knetterheide" müßte die Stätte des Drachenkampfes sein. H Ö F L E R hat seine Argumente mit so großer Suggestivkraft vorgetragen, daß ihm viele recht geben, ohne die Schwächen in seiner Argumentation zu erkennen; anderseits formulieren gerade deshalb seine Gegner ihre Einwände schärfer als berechtigt; unmöglich ist die HöFLERSche Deutung keineswegs, und auch daß der Kriegshistoriker D E L B R Ü C K die Varusschlacht in der Gegend der Knetterheide lokalisieren zu können glaubte, gibt zu denken. Man hat seit den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts Indizien dafür oder dagegen gesammelt, daß in der Figur Siegfrieds die Erinnerung an den germanischen Freiheitshelden Arminius weiterlebe. Doch müssen die Argumente, die dafür sprechen, stark reduziert werden. Tacitus bezeugt im 2. Buch der Annalen, daß der Cherusker Arminius, der im Jahre 9 n. Chr. im Teutoburger Wald die römische Armee unter Quintilius Varus aufgerieben hatte, bei den Barbaren (gemeint sind die Germanen) „immer noch besungen wird". Tacitus schrieb die Annalen ungefähr 100 Jahre nach der Varusschlacht; seine Quelle - er selber war j a nie in Germanien gewesen - ist aber vielleicht um einiges älter. Man hat daraufhingewiesen, daß Arminius wohl ein römischer Name ist, den der Cherusker, wie üblich, während seines Dienstes in der römischen Armee angenommen hatte. Da sein Vater Segimems geheißen hatte und bereits für diese Zeit die germanische Sitte bezeugt ist, innerhalb der Familie Namen durch Variation der Namenelemente zu bilden - der jüngere Bruder des Segimerus hieß Inguiomerus -, Schloß man, daß Arminius mit seinem germanischen Namen *SegifriJ)us geheißen haben könne und gewisse gemeinsame Züge, „die kurze und unglückliche Ehe, die einem anderen bestimmte Frau, die mörderischen Verwandten (- den Cherusker ließ der Vater
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seiner Frau ermorden; in der Nibelungenüberlieferung geht der M o r d rat v o n den B r ü d e r n der Gattin aus -), dies und der frühe T o d , der g r o ß e R u h m " sollten darauf hindeuten, daß in der Sagenfigur S i e g fried der cheruskische Freiheitsheld weiterlebe. M a n hat derlei Parallelen m i t unterschiedlicher Zuversicht diskutiert; die Hauptschwierigkeit war, daß der O r t der Varusschlacht zwar ungefähr identisch zu sein schien m i t d e m O r t , an d e m Siegfrieds D r a c h e n k a m p f i m M i t t e l alter möglicherweise lokalisiert wurde, aber eben doch nicht genau. N e u belebt hat H Ö F L E R diese T h e o r i e , indem er einige Indizien b e i g e bracht hat, die gerade diesen P u n k t eher bestätigen. In diesem Z u s a m m e n h a n g ist die Frage sehr interessant, o b Arminius mit seinem germanischen N a m e n überhaupt Siegfried geheißen haben kann. N u n tritt das N a m e n s e l e m e n t fripu ( „ F r i e d e " ) erstmals i m 4. J a h r h u n d e r t auf. N e b e n d e m G o t e n Fritigernes, 375, steht FriJ)arei(kei)kis (sprich: Fritharlkls = „des F r i e d r i c h " ) i m gotischen Festkalender, dessen O r i g i n a l zirka d e m letzten Viertel des 4. Jahrhunderts entstammt, und ein G o t e Fretela ( H i e r o n y m u s , B r i e f e ) u m 4 0 0 sowie eine M a r k o m a n n e n k ö n i g i n Fritigil zirka 3 9 6 . Das heißt, dieses N a m e n s e l e m e n t k a m erst zu einem genau b e s t i m m b a r e n Z e i t p u n k t auf; sicher nicht zufällig ist, daß die frühesten T r ä g e r dieser N a m e n alle O s t g e r m a n e n sind (oder wenigstens, wie die M a r k o m a n n e n , K o n t a k t e zur östlichen G r u p p e hatten). W i r werden also a n n e h m e n , daß Arminius nicht Siegfried geheißen haben kann. Die mögliche Identität des Ortes der Varusschlacht mit der Lokalisierung von Siegfrieds Drachenkampf durch die Sage bleibt allerdings bestehen, auch andere gemeinsame Motive rund um Arminius und Siegfried (so kommt in manchen, speziell den altnordischen, Varianten der Siegfriedsage oft als Symboltier der Hirsch vor; in der Thidrekssaga wird er von einer Hirschkuh gesäugt; man denke außerdem an die Hirsche auf dem gotländischen Fries und an die Erweckung der Schlafenden auf dem „Berg der Hinde". Der Name der Cherusker, des Stammes, dem Arminius angehörte, wird mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit gedeutet als germanisch *herut-sci, „die Hirschleute", eigentlich: „Die Hirschischen"). Doch ist es für das Modell der Entstehung von Heldensage wichtig, daß wir, falls wir diese Gemeinsamkeiten nicht fiir Zufall halten, nicht mit einer unveränderten Übernahme des Namens des Helden durch die Heldensage rechnen können. D e r B e r i c h t des Abtes Nikulás zeigt aber, daß sich die Skandinavier a u f Reisen nach Deutschland sehr fur die Heldensage interessierten und daher i m m e r wieder durch m o d e r n e kontinentale Ü b e r l i e f e rungen ihre eigenen alten D i c h t u n g e n korrigierten. A u c h die L i e d e r edda beruft sich einmal a u f das Zeugnis deutscher M ä n n e r , und die J)iÖreks saga bezeichnet als ihre Gewährsleute M ä n n e r aus Soest,
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B r e m e n u n d Münster, „und das stimmt meist überein mit dem, was alte Gedichte in deutscher Sprache sagen, die gelehrte M ä n n e r verfaßt haben über die großen Begebenheiten, die sich in diesem Lande zugetragen h a b e n " . Im Original klingt dieser T e x t an die Einleitungsstrophe v o n * C an: Mit „große Begebenheiten" habe ich stortiöinde wiedergegeben, dessen S t a m m tid mittelhochdeutsch zit entspricht; das ganze W o r t entspricht in seiner Bildung hóchgezCten. U m 1200 stoßen w i r auf eine kurze N o t i z bei Saxo Grammaticus, der in seiner Historia D a n o r u m unter Ereignissen des Jahres 1131 erzählt: Einen dänischen H e r z o g namens Knut, der ein Liebhaber Saxonici et ritus et nominis, „deutscher A r t und der Deutschen" gewesen sei, habe ein cantor sächsischer (wohl für: „deutscher") A b s t a m m u n g vor einem Verrat gewarnt, speciosissimi carminis contextu notissimam Grimilde erga fratres perfidiam de industria memorare adorsus, „indem er begann, i m Kontext eines ausgezeichneten Gedichtes den allseits bekannten Verrat Kriemhilds an ihren B r ü d e r n vorzutragen". Saxo hatte als Abt des Klosters Roskilde f ü r das 12. Jahrhundert ausgezeichnete schriftliche Quellen zur V e r f ü g u n g . Als Zeugnis f ü r das Interesse Knuts an deutscher Nibelungentradition gilt dieser Beleg von ca. 1200 allemal. O b der N a m e Grimilda auf die v o n Saxo benutzten Quellen zurückgeht oder von i h m nach der i h m bekannten Sagenform eingesetzt w u r d e , ist schwieriger zu entscheiden. N a c h seinen Lebensdaten (ca. 1150 bis 1216) hätte er noch das Nibelungenlied kennenlernen können. D o c h ist w o h l klar, daß er, der n o c h dazu n u r sehr schlecht Deutsch konnte, nicht eine gerade erst a u f g e k o m m e n e Variante der Geschichte einfügte, sondern zumindest eine, wie sie in seiner J u g e n d erzählt w o r d e n war. Also kannte m a n in D ä n e m a r k spätestens in der zweiten, w a h r scheinlich aber schon in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, die deutsche F o r m der Sage: das heißt, Kriemhild rächt den T o d ihres Gatten an ihren Brüdern. Das ist interessant, weil in N o r w e g e n u n d Island noch i m 13. Jahrhundert eine andere F o r m der Sage weiterlebte, die wir in den folgenden Quellen kennenlernen werden. SNORRA EDDA Snorri Sturluson, einer der bedeutendsten Isländer des 13. J a h r hunderts, verfaßte u m 1220 ein W e r k namens „Edda", ein Lehrbuch f ü r Skalden (Dichter), das m a n nicht m i t der Liedersammlung verwechseln darf, die w i r als „Liederedda" bezeichnen, deren originaler Titel uns nicht erhalten ist. V o m 16. bis z u m 19. Jahrhundert w a r m a n der irrtümlichen Meinung, Edda heiße so viel wie „Gedichtsamm88
lung" und benutzte diesen Namen für beide Werke. Ich spreche hier der Deutlichkeit halber immer von „Snorra Edda" im Gegensatz zur „Liederedda"; sonst schreibt man einfach „Edda" und meint die Liederedda (obwohl ihr dieser N a m e von Rechts wegen nicht zukommt), weil sie die bekanntere der beiden ist. U m den Anfänger vollends zu verwirren, enthält die Snorra Edda, ein Prosawerk und Lehrbuch für Skalden (Dichter), ziemlich viele Strophen aus Skaldengedichten (aber nicht aus Heldenliedern; „Eddalied" ist daher eindeutig und kann nur Teile der Liederedda bezeichnen) als Beispiele, und die Liederedda verbindet die einzelnen Gedichte, vor allem des Nibelungenkreises, durch Prosatexte. „Prosa-Edda" steht daher bei manchen Autoren für „Snorra Edda", während „Eddaprosa" bei ihnen die „Prosa der Liederedda" bedeutet. Da Snorri in seinem Skalden-Lehrbuch Inhaltsangaben vieler Gedichte bringt, die in der Liederedda enthalten sind, hat man einst geschlossen, daß die Liederedda älter sein müsse (man vermutete einst, Saemund der Weise, ein bedeutender Isländer u m 1100, habe diese Lieder gesammelt), und sie daher als „ältere Edda" gegen die .jüngere Edda" Snorris gestellt. Heute ist man sicher, daß die Liederedda zwar viele alte Gedichte enthält, als Sammlung aber jünger als Snorri ist, also auch diese Namen eigentlich verkehrt gegeben wurden. Man nimmt an, daß Snorris Werk, der aus vielen der altbekannten Lieder zitierte, den Anstoß dazu gegeben hat, diese Lieder zu sammeln und geschlossen aufzuzeichnen. U m das terminologische Chaos voll zu machen, werden altisländische Heldenlieder, die in keinem dieser Werke überliefert sind, aber nach Alter, Stil und Inhalt in die Sammlung der Liederedda passen würden, als „eddische Gedichte" bezeichnet. N u n zur Snorra Edda: Kenningar aus dem mythologischen Bereich sind nur zu verstehen, wenn man die alten Mythen kennt. Diese Kenntnis war zu Snorris Zeit, zweihundert Jahre nach Einführung des Christentums, zwar noch weit verbreitet, aber doch nicht mehr selbstverständlich; Snorri sah sich daher genötigt, den Dichterschülern die Bedeutung zahlreicher mythologischer Kenningar zu erklären. Zur Nibelungentradition k o m m t er auf folgende Weise: „Wie k o m m t es, daß man für Gold Otterbuße sagt?" - Ich gebe eine Kurzfassung von Snorris Erklärung (den vollen Text findet man in der Ausgabe von Finnur JÓNSSON, Reykjavik 1907; in Übersetzung von Gustav NECKEL, Sammlung Thüle Bd. 20, Jena 1925, deren Wortlaut ich teilweise folge). Die Asen (Götter) OÖin, Loki und Hönir kamen zu einem Wasserfall, bei dem war ein Fischotter. Da nahm Loki einen Stein auf und erschlug ihn
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damit. Der Otter war aber der Sohn eines Zauberers gewesen, der in dieser Gestalt Fische gefangen hatte, und sein Vater und seine Brüder Regin und Fáfnir verlangten von den Göttern Lösegeld. Sie sollten den Otterbalg mit Gold füllen und ihn außen ganz damit bedecken; das solle die Buße sein. Das Gold für die Buße erwarben die Götter durch Betrag: Loki fing einen Zwerg, der große Schätze besaß, und als Fisch im Wasser lebte. U m freigelassen zu werden, mußte der Z w e r g seine Schätze ausliefern. N u r einen Zauberring wollte er verstecken, weil er mit diesem seinen Schatz wieder vermehren konnte. Loki nahm ihm auch diesen weg, und der Zwerg verfluchte seinen Ring, er solle jeden, der ihn besitze, den Kopf kosten. Die Götter stopften den Otterbalg mit Gold aus und umhüllten ihn außen mit Gold, doch ein Barthaar des Otters stand noch heraus, als der Schatz aufgebraucht war. Da mußte Oöin auch den verfluchten Ring herausrücken, den er wegen seiner Zauberkraft behalten hatte wollen. - „Jetzt ist erzählt, w a r u m man für Gold auch Otterbuße sagt." Snorri fährt aber mit der Geschichte fort: Der Fluch erfüllte sich sogleich: Der Vater des Otters wollte seinen Söhnen keinen Anteil an dem Schatz geben; Regin und Fáfnir erschlugen ihn daher. Fáfnir gönnte seinem Bruder nichts, setzte sich einen Schreckenshelm auf, stieg auf die Gnitaheide, grub sich dort eine Höhle, verwandelte sich in einen Drachen und legte sich auf das Gold. Regin dagegen wurde Schmied bei König Hjalprek (der N a m e entspricht dem fränkischen Chilperich, Snorri denkt sich sein Reich aber in Jütland). Dort nahm er den Sigurd als Pflegekind; dieser war Sohn des Sigmund, des Sohnes des Vçlsung (auszusprechen wie deutsch „Wölsung"; lautgesetzlich entspräche „Wälsung"). Regin erzählte ihm von Fáfnir und reizte ihn an, das Gold zu erwerben, und schmiedete ihm dazu ein besonderes Schwert. N u n stiegen Sigurö und Regin auf die Gnitaheide, und SigurÖ grub auf dem Wege, den Fáfnir zum Wasser kroch, eine Grube und setzte sich hinein. Als Fáfnir über die Grube kam, stieß ihm Sigurö das Schwert durch den Leib. Regin beschuldigte ihn, er habe seinen Bruder erschlagen; als Buße befahl er ihm, Fáfnirs Herz für ihn am Feuer zu braten. Regin legte sich inzwischen schlafen. Als SigurÖ das Herz briet, versuchte er mit dem Finger, wie weich es sei, verbrannte sich dabei den Finger und steckte ihn in den Mund, da vernahm er die Vogelsprache und verstand, was die Meisen sagten: diese warnten ihn, daß Regin ihn töten wolle, und rieten ihm, das Herz Fáfnirs selbst zu essen. SigurÖ handelte danach und erschlug Regin. Dann belud er sein Roß Grani mit dem Gold und ritt hinweg. - ,Jetzt ist die Geschichte dazu erzählt, daß das Gold Fáfnirs Höhle oder Bau, das Erz der Gnitaheide oder Grants Bürde heißt." SigurÖ ritt, bis er auf dem Gebirge ein Haus antraf, darin schlief eine Frau, die trug Helm und Brünne. Er zog das Schwert und schnitt ihr die Brünne vom Leib. Da erwachte sie und nannte sich Hild; sie wird Brynhild genannt und war eine Walküre. SigurÖ ritt weiter und kam zu König Gjuki; dessen Frau hieß Grimhild; ihre Kinder waren Gunnar ( = Gunther), Hçgni (Högni; = Hagen, hier Bruder Gunthers!), Guörun (der N a m e stammt aus einem anderen Sagenkreis; der im Norden anscheinend erst spät bekannt gewordene N a m e Kriemhild wurde zum N a m e n der Mutter, in vernordisierter Form, das heißt mit Änderung des Κ zu G, wodurch auch ein schöner „Stabreim" mit den anderen Familienmitgliedern entstand), Gudny (diese Schwester Kriemhilds ist den mei-
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sten Sagenversionen unbekannt); Gottorm (entspricht lautlich Godomar, einem der historisch bezeugten Burgunderkönige) war ein Stiefsohn des Gjuki. Dort weilte SigurÖ lange Zeit; dann heiratete er GuÖrün, Gjukis Tochter, und Gunnar und H ç g n i schwuren Blutsbrüderschaft mit ihm. Danach brachen SigurÖ und Gjukis Söhne auf, u m für Gunnar u m eine Frau zu werben bei Atli, Budlis Sohn, nämlich u m Brynhild, dessen Schwester. Sie saß auf dem Hindarjjall, („Berg der Hinde"; Hinde = „Hirschkuh"), u m ihre Halle lag die Waberlohe („zuckende Flammen"), und sie hatte einen Eid abgelegt, nur den zum Mann zu nehmen, der den M u t hätte, die Waberlohe zu durchreiten. Da ritten SigurÖ und die Söhne des Gjuki - sie heißen auch Nibelunge - auf den Berg, und Gunnar sollte die Waberlohe durchreiten. Doch sein Pferd wagte den Sprung ins Feuer nicht. Da tauschten SigurÖ und Gunnar die Gestalt und auch die Namen, denn Grani wollte keinen Reiter tragen als SigurÖ. SigurÖ sprang auf Granis Rücken und durchritt die Waberlohe. A m selben Abend feierte er Hochzeit mit Brynhild. Als sie aber zu Bett gingen, zog er das Schwert aus der Scheide und legte es zwischen sie. U n d am Morgen schenkte er Brynhild als Morgengabe den Goldring, den Loki dem Zwerg abgenommen hatte, und nahm von ihrer Hand einen anderen Ring als Andenken. Dann ritt SigurÖ zu seinen Gefährten zurück. Er und Gunnar tauschten wieder die Gestalten und zogen mit Brynhild heim zu Gjuki. SigurÖ hatte mit Guörun zwei Kinder, Sigmund und Svanhild. Eines Tages gingen Brynhild und Guörun zum Wasser, u m ihr Haar zu bleichen. Als sie zum Flusse kamen, watete Brynhild vom Lande in den Fluß hinaus und sagte, sie wolle an ihrem Kopfe nicht das Wasser haben, das aus GuÖruns Haar rönne, denn sie habe den mutigeren Mann. Da ging GuÖrun in den Fluß hinaus ihr nach und sagte, sie könne ihr Haar weiter oben im Flusse waschen, weil sie einen Mann habe, dem weder Gunnar noch irgend jemand sonst in der Welt gleichkäme, denn er habe Fáfnir erschlagen. Da erwiderte Brynhild: „Es hat mehr zu bedeuten, daß Gunnar die Waberlohe durchritt und SigurÖ wagte es nicht." Da lachte GuÖrun und sprach: „Du glaubst, Gunnar habe die Waberlohe durchritten? Ich sollte meinen, daß der mit dir zu Bett gegangen ist, der mir diesen Goldring geschenkt hat, den Goldring aber, den du an der Hand hast, hat nicht Gunnar auf der Gnitaheide erbeutet." Da verstummte Brynhild und ging heim. Danach reizte sie Gunnar und Hçgni an, SigurÖ zu erschlagen, aber weil sie Blutsbrüder SigurÖs waren, reizten sie Gottorm an, und dieser durchstach SigurÖ im Schlaf mit dem Schwerte, als er aber die W u n d e fühlte, schleuderte er sein Schwert hinter ihm her, so daß es den Mann in der Mitte durchschnitt; da fiel SigurÖ und sein dreijähriger Sohn Sigmund, den sie auch erschlugen. Brynhild durchstach sich darauf mit dem Schwert und wurde mit SigurÖ zusammen verbrannt. Gunnar und H ç g n i aber bemächtigten sich des Fáfnirerbes und des Ringes und herrschten nun über die Lande. König Atli, der Bruder Brynhilds, heiratete da GuÖrun, SigurÖs Witwe, und sie bekamen Kinder. König Atli lud Gunnar und H ç g n i zu sich ein, und sie folgten der Einladung. Aber ehe sie aufbrachen, versenkten sie das Gold in den Rhein, und niemand hat es wieder gefunden. König Atli aber hatte bewaffnetes Gefolge in Bereitschaft, und sie schlugen sich mit Gunnar und Hçgni, und diese wurden gefangen. Atli Heß dem Hçgni bei lebendem Leibe 91
das Herz ausschneiden, das war sein T o d , und Gunnar ließ er in einen Schlangenhof werfen, ihm wurde aber heimlich eine Harfe gereicht, und er schlug sie mit den Zehen, weil seine Hände gebunden waren. U n d er schlug die Harfe so, daß alle Schlangen einschliefen bis auf eine Natter, die glitt an ihn heran und tat einen solchen B i ß in den Knorpel unter dem Brustbein, daß sie den K o p f in die Höhlung stecken konnte und an der Leber hängen blieb, bis er starb. - „Gunnar und H ç g n i heißen Nibelunge und Gjukunge ( = „Söhne des Gjuki"), darum heißt das Gold der Nibelunge Schatz oder Erbe." Der folgende, kursiv gesetzte Text steht nicht in allen Handschriften; vielleicht ist er erst nach Snorri eingefugt worden. Danach tötete Gudrun ihre beiden Söhne und ließ aus ihren Schädeln mit Gold und Silber Becher machen, und dann wurde das Erbmahl für die Nibelungen gerüstet. Da ließ Gudrun dem König Atli aus den Schädelbechern Met einschenken, der war mit dem Blut der Knaben vermischt, und ihre Herzen ließ sie braten und dem König zum Essen reichen; und danach sagte sie ihm alles mit harten Worten. Es war reichlich Getränk angeschafft worden, sodaß die Leute einschliefen, wo sie saßen. In dieser Nacht ging Gudrun zum König, während er schlief, und mit ihr ein Sohn Hqgnis, und sie erschlugen ihn. Dann warfen sie Feuer in die Halle, und die Leute, die darin waren, verbrannten. Gudrun ging ans Meer und wollte ertrinken. Aber sie trieb in das Land des Königs Jonakr. Als der sie sah, nahm er sie zu sich und heiratete sie. Sie hatten drei Söhne; Sörli, Hamdir und Erp. Dort wuchs auch Svanhild auf, die Tochter Jung Sigurds. . . . (es folgt deren Sage) . . . Jung Sigurd hinterließ eine Tochter namens Aslaug (hier steht nicht, von welcher Mutter; in der Vqlsunga saga und anderen wird berichtet, von Brynhild bei ihrem ersten Zusammentreffen). Man erzählt, Sigmund, Vqlsungs Sohn, sei so kraftbegabt gewesen, daß er Gift trinken konnte, ohne Schaden zu nehmen. Dagegen hatten seine Söhne Sinfjqtli und Sigurd nur so harte Haut, daß Gift, das bei nacktem Leibe von außen an sie kam, ihnen nicht schadete. Die Aneinanderknüpfung so vieler Sagen mittels der Genealogie denkt man sich erst lange nach der Völkerwanderung entstanden. Die Svanhildsage war ursprünglich sicher von der Nibelungensage ganz unabhängig. Allzu jung darf man sich diese Verknüpfungen aber auch nicht denken: Die genealogische Anknüpfung von SigurÖ an Sigmund, den Vater von SinfjQtli und Helgi dem Hundingstöter, die zu Halbbrüdern Sigurds werden, bestand wohl schon vor dem 11. Jahrhundert. SinfjQtli heißt nämlich „der mit der sinterfarbenen Fessel" und ist ein Wolfsname; auf dem Ramsundsbergstein findet sich ein Wolf, der in der Überlieferung von der Drachentötung keinen Platz hat, also wohl auf eine Wolfs-Abstammung Sigurds hindeuten wird; die Verbindung mit den Vglsungen, die von Odin abstammende Wolfskrieger sind, muß mindestens auf diese Zeit zurückgehen (es sei denn, das Tier auf dem Ramsundsbergstein ist kein Wolf, sondern, wie Klaus D Ü W E L vermutet, ein Fischotter). Die Verbindung mit der Svanhildsage ist möglicherweise sogar noch älter, denn das oben erwähnte
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Gedicht des Skalden Bragi, aus dem Snorri in der Folge zitiert, erzählt die Svanhildsage und verwendet als Kenning fìir Hamdir und Sörli „Gjukistammes Helden". Eine Kenning Gift = „Trank der Vçlsungen", die Snorri zuvor aus Bragi zitiert, stand bei diesem allerdings anscheinend in anderem Zusammenhang, und wir haben daher keinen Beweis, daß schon Bragi die Verbindung von den Vçlsungen und SigurÖ kannte (in den erhaltenen Strophen der Ragnarsdrápa kommt Sigurö nie vor). Durchaus Zufall kann, aber muß nicht sein, daß hier die Burgundersage nicht mit SigurÖs Jugendtaten verbunden ist. Es könnte folgende Beziehung bestanden haben: Relativ alte Verbindung von Wälsungensage und Siegfriedsage (vielleicht durch bairische Personennamen des 8. Jahrhunderts bezeugt), davon im Nibelungenlied nur mehr der N a m e von Siegfrieds Vater Siegmund als Rest erhalten; dafür in Deutschland Verbindung mit der Sage vom Burgunderuntergang. In Skandinavien Beibehaltung der Verbindung von Vçlsungen und Sigurö, dafür Verknüpfung von Burgunderuntergang und Svanhildsage. Durch den deutschen Einfluß vor oder u m 1200 (Nibelungenlied oder Vorstufen) Verbindung der beiden Gruppen zu einem Vier-Sagen-Komplex. Da die Ragnarsdrápa aber nicht zur Gänze erhalten ist und sonst zusammenhängende Darstellungen höheren Alters fehlen, ist das absolute Alter der Zyklenbildung nicht einmal auf vier Jahrhunderte genau schätzbar. Der Beowulf kann, je nachdem ob man sich den Drachenkampf vom Vater auf den Sohn oder von einem Sagenkreis auf den anderen übertragen denkt, auf eine Verbindung der Zyklen im 8./9. Jahrhundert hinweisen oder auch nicht. Denkbar wäre auch, daß es zwei oder gar drei ursprünglich voneinander unabhängige Sagen- oder Mythenkreise u m Drachentöter gegeben hat, die erst sekundär (das heißt nach dem Beowulf) miteinander identifiziert wurden.
LIEDEREDDA Im dritten Viertel des 13. Jahrhunderts wurde auf Island der sogenannte Codex Regius aus einer wahrscheinlich nicht viel älteren Handschrift abgeschrieben; er ist die Haupthandschrift der Liederedda. Daß die Vorlage nicht sehr viel älter gewesen ist, nimmt man an, weil Snorri Sturluson die Sammlung noch nicht gekannt hat. Sie enthält, grob gesprochen, im ersten Teil mythologische, im zweiten Teil Heldenlieder. Die Inhalte der Nibelungenlieder sind weitgehend dieselben wie in dem Auszug, den Snorri entweder nach diesen Liedern selbst oder (weniger wahrscheinlich) nach einer älteren Prosafassung 93
gegeben hat. Dennoch ist es notwendig, sie einzeln zu besprechen, wegen ihres zum Teil sehr hohen dichterischen Wertes und ihrer ganz unterschiedlichen Struktur. Anknüpfend an die Geschichte der Sigmundssöhne Helgi und Sinfjçtli (und eines weiteren Helgi, dessen Geschichte wohl wegen der Namensgleichheit inkorporiert wurde) folgt die Prosaangabe, daß Sigmund, Sohn des Vç>lsung, fränkischer König, sich aus Dänemark nach Franken begab (weist das auf eine Vermischung zweier Vorstellungen von der Lokalisierung der Sage oder auf die Vermischung zweier Sagenfiguren?) und dort eine Königstochter heiratete, die ihm den SigurÖ gebar. König Sigmund fiel im Kampf gegen die Söhne des Hunding. Seine Witwe heiratete den Sohn des Königs Hjálprek (siehe oben), an dessen Hof SigurÖ aufwächst. Dann beginnt der eigentliche SigurÖteil. U m ihn übersichtlicher zu machen, hat der Sammler eine Inhaltsangabe in Gedichtform vorangestellt (eher ungeschickt eingekleidet in die Form einer Weissagung seines zukünftigen Schicksals, die der junge SigurÖ von seinem zu diesem Zweck erfundenen Oheim Gripir erhält). Diese Lied ist für uns wichtig, weil dem Codex Regius einige Blätter verlorengegangen sind, die sogenannte „Eddalücke", die genau in den Bereich der SigurÖlieder fällt. Mit Hilfe des „Gripirliedes" und der Snorra Edda, weniger zuverlässig auch der J)iöreks saga und der Vçlsunga saga, versucht man die „Lieder der Lücke" zu rekonstruieren. Ich gehe nun auf die einzelnen Lieder ein, vor allem auf inhaltliche Abweichungen von Snorri. Die ersten Liedern sind im Codex regius nicht getrennt; die Zwischentitel Reginlied, Fáfnirlied, Sigrdrífalied sind jung. Das Lied von Regin bringt in Prosa, mit eingestreuten Strophen, die mythologische Vorgeschichte mit dem Otterbalg, dann das Aufwachsen SigurÖs bei Hjalprek beziehungsweise Regin, der ihm auch hilft, den Tod seines Vaters an den Hundingssöhnen zu rächen, ihm das Wunderschwert Gram schmiedet und ihn aufreizt, Fáfnir zu töten. In diesen Liedern ist die Verteilung von Prosa und Vers so, daß die Erzählung in Prosa steht, die (zahlreichen) direkten Reden in Strophenform. Dies war der Anlaß für Forscher wie Bertha S. PHILLPOTTS, in dieser Liedergruppe Reste eines altgermanischen Dramas zu sehen. U m diese Theorie ist es aber in den letzten Jahrzehnten sehr still geworden, weil niemand mehr annimmt, daß die Texte in der uns vorliegenden Form so alt sind, wie sie es sein müßten, wenn sie auf einen heidnischen Ritus zurückgehen sollten. Der Wechsel von Prosa und Strophen ist für Sagas, die weit zurückliegende historische Ereignisse berichten (Forti94
aldasqgur), charakteristisch, und unter den zahlreichen Hypothesen, von denen keine einen solchen Grad von Wahrscheinlichkeit besitzt, daß man sie guten Gewissens vertreten könnte, ist die noch mindestens gleich wahrscheinlich, daß wir es hier mit einer Kurzfassung einer Saga von SigurÖ zu tun haben, deren Existenz uns ja durch den Nornagests páttr bezeugt wird. Auch die strophischen Teile erscheinen, wenn man von der vorgefaßten Meinung ausgeht, es handle sich u m Heldenlieder, sehr uneinheitlich: schon äußerlich durch die Verwendung zweier verschiedener Versmaße; inhaltlich durch größere Gruppen von in die Handlung eingestreuten didaktischen Strophen. Zur Veranschaulichung übersetze ich ein für diese Partie typisches und was die Interpretation betrifft besonders problematisches Stück des Fáfnirliedes: Fáfnir sprach: (Strophe): Jüngling, Jüngling, wessen Kind bist du? Mit welchen Leuten bist du verwandt? Der du in Fáfnir deine glänzende Klinge gerötet hast: Mir steht das Eisen im Herzen." (Prosa): SigurÖ verhehlte seinen Namen, weil man in alter Zeit glaubte, daß das Wort eines Todgeweihten viel vermöchte, wenn er seinen Feind namentlich verfluchte. Er sprach: (Strophen): „Glänzendes Tier heiße ich, und ich bin als mutterloser Knabe umhergewandert; Vater habe ich keinen, wie die Menschen, ich gehe immer allein." „Weißt du, wenn du keinen Vater hattest, wie die Menschen, von wem du Wunderwesen aufgezogen wurdest?" „Ich sage dir, du kennst meine Abstammung nicht, und mich selbst ebensowenig: ich heiße SigurÖ, Sigmund hieß mein Vater, der ich dich mit dem Schwert getötet habe." „Wer reizte dich auf, von wem ließest du dich aufreizen, meinem Leben nachzustellen? Jüngling mit den glänzenden Augen, du hattest einen kühnen Vater, Angeborenes zeigt sich bald." „Mein (eigener) Sinn reizte mich auf, meine Hand half mir, und mein scharfes Schwert. Wenig Tapferkeit zeigt, wenn er Schreckliches erlebt, wer schon in der Kindheit feig ist." „Ich weiß, wenn du an der Brust deiner Verwandten hättest aufwachsen können, sähe man dich als Mann tapfer kämpfen; nun bist du aber gefesselt und Kriegsgefangener, und man sagt, daß Gefangene immer zittern." „Warum wirfst du mir vor, daß ich fern meines Vaters Pflege bin? Ich bin nicht gefesselt, und wenn ich auch Kriegsgefangener wäre, so hast du verspürt, daß ich frei lebe." „Feindliche Worte antwortest du auf alles, aber ich sage dir das für wahr: das gelbe Gold und der glutrote Schatz und die Armreife bringen dir den Tod." 95
„Sein Vermögen genießen wird (auch) fiirderhin jeder (nur) bis zum Tod, weil einmal jeder Sterbliche ins Totenreich fahren muß." „Das Urteil der Nomen wirst du für ferne und für das eines Narren halten; aber wenn ein Todgeweihter bei Wind rudert, ertrinkt er im Wasser: für ihn ist alles gefährlich." „Sag mir, Fáfnir, weil man sagt, du seist weise und wissest wohl viel: Welche der Nornen sind Geburtshelferinnen und entbinden die Mütter von den Kindern?" „Ich sage, daß die Nornen verschiedener Abstammung sind, sie sind nicht verwandt miteinander. Manche stammen von den Asen ab, andere von den Elfen, andere Töchter des (Zwergen) Dvalin." Man würde dieses Konglomerat unmöglich fìir alt halten, wenn nicht der Handlungsablauf durch den Ramsundsbergstein als alt erwiesen wäre. Die eingestreuten Lehrstrophen sind vor allem von den Anhängern der mythologischen Deutung dahingehend erklärt worden, daß zu einer Initiation auch Wissenserwerb und Belehrung über religiöses Wissen gehören. W i e weit diese Art heidnischen „Firmungsunterrichts" nur Phantasie ist, sei dahingestellt. Gegen eine ganz zufällige Entstehung dieser undeutbaren äußeren Form spricht, daß der ganze Sigurö-Komplex denselben Aufbau zeigt. Was den Inhalt betrifft, ist die Kombination von Erweckung und Werbung als junge Erweiterung des Sagaalters bezeichnet worden. Sie findet sich jedoch auch in der durch den Ramsundsbergstein gesicherten Meisenweissagung (wenn auch deren zahlreiche Kenningar für eine jüngere sprachliche Überarbeitung sprechen), und zwar in unmittelbar aufeinanderfolgenden Strophen: Es führen zu Gjuki grüne Pfade, dorthin fuhrt dich Tapferen das Schicksal; dort hat der mächtige König seine Tochter aufgezogen, die wirst du, SigurÖ, um das Brautgeld kaufen. Eine Halle steht auf dem hohen Berg der Hinde, ganz ist sie außen von Feuer umgeben; die haben kunstvolle Männer aus Gold geschaffen. Ich weiß daß auf diesem Berg eine Walküre schläft, und darüber züngelt das Verderben der Linde (eine schöne Kenning für Feuer!); Odin stach sie mit dem Schlafdorn: sie hatte andere Männer gefällt, als er haben wollte. Du kannst, Knabe, die Maid unter dem Helm sehen, die auf ihrem Pferd vom Kampfe ritt; kein Königssproß ( = niemand) kann den Schlaf der Siegtreiberin gegen den Schicksalsspruch der Nornen brechen. sigrdrtfa, „Siegtreiberin", ist hier im Original klein geschrieben; kein Eigenname, sondern eine kenningartige Umschreibung für „Walkü96
re". Der Redaktor der folgenden Prosatexte hat daraus jedoch einen Personennamen „Sigrdrifa" gemacht, was ihre Identifizierung mit Brynhild unmöglich machen würde; man hätte dann gleich drei Frauen um SigurÖ, und das ist jedenfalls zu viel. Die Identität der Erweckten mit Brynhild ist außerdem durch das „Brünhildebett" im Taunus für alt erwiesen. Das „Stechen mit dem Schlafdorn" erinnert an Dornröschen; daß das Feuer vor dem Richtigen erlöscht, daran, daß auch die Dornenhecke im Märchen vor dem Prinzen zurückweicht - die Tapferkeitsprobe bleibt dem „Richtigen" erspart, beziehungsweise er hat seine Tapferkeit schon durch die Art seiner Annäherung gezeigt (im G R I M M schen Märchen ist die Erweckung außerdem an das Verstreichen einer Frist, einen bestimmten Reifezustand des Mädchens, gebunden). Die Frage, was „älter" sei, das Märchen oder die Siegfriedsage, läßt sich weder durch das Aufzeichnungsdatum (13. gegen 19. Jahrhundert) noch durch den Hinweis auf Märchenhaftes im Nibelungenlied beantworten; jede „Stammbaumtheorie" vom Mythos über das Märchen zur Sage oder umgekehrt muß wohl scheitern. SigurÖ ritt den Hindarfjall hinauf und wandte sich südwärts richtung Franken. A u f dem Berg sah er ein großes Licht, w i e w e n n ein Feuer bränne, und es leuchtete zum H i m m e l empor. Aber als er hinkam, stand dort ein Zaun aus Schilden und obenheraus eine Fahne. SigurÖ betrat die U m z ä u n u n g und sah, daß dort ein Mann lag und in voller Kriegsbewaffnung schlief. Er nahm ihm zuerst den H e l m v o m Haupt. Da sah er, daß es eine Frau war.
Er schneidet ihr mit dem Schwert die wie festgewachsene Brünne vom Leib, da erwacht sie. (Strophen kursiv, Prosa gerade): „Was zerschnitt die Brunne, wodurch erwachte ich? Wer löste die fahlen Fesseln von mir? Er antwortete: „Der Sohn Sigmunds; deinen Sarg zerschnitt das Schwert Sigurds." „Lang schlief ich, lang war ich im Schlaf, lang ist das Leid der Menschen. gebot, daß ich die Schlafrunen nicht brechen konnte."
Odin
SigurÖ setzte sich nieder und fragte sie nach ihrem Namen. Da nahm sie ein Horn voll Met und gab ihm einen Gedächtnistrank (offen ist, ob „gedächtnisstärkend" gemeint ist, w i e die meisten Kommentare mit Rücksicht auf die vielen folgenden didaktischen Strophen annehmen, oder „Andenken", was jedenfalls poetischer wäre; falsch ist sicher „Liebestrank"). „Heil Tag, Heil Söhne des Tags, heil der Nacht und ihrer Schwester! Blickt mit holden Augen hierher auf uns, und gebt uns, die wir hier sitzen, Sieg! Heil den Asen, heil den Asinnen, heil sei derfruchtbringenden Erde! Gebt uns beiden Edlen Worte und Weisheit und heilkundige Hände, solange wir leben!"
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Diese Verse gehören zu den Stellen, an denen sich Richard W A G N E R ziemlich genau an den Wortlaut der Liederedda gehalten hat (Siegfried, 3. Akt). Deswegen möchte ich besonders auf den Unterschied hinweisen, daß hier die Erweckung nicht mit einem Kuß erfolgt und daß anschließend die Erweckte SigurÖ Weisheitslehren erteilt, ähnlich wie zuvor Fáfnir. Mitten in diesem Lied beginnt die „Eddalücke", das heißt, dem Codex regius fehlen acht Blätter, deren Inhalt aus Anspielungen in den vorhergehenden und nachfolgenden Liedern, der Snorra Edda, dem Nornagests J)áttr und vor allem der Vçlsunga saga rekonstruiert wird. Maßgeblich ist Andreas HEUSLER, D i e Lieder der Lücke i m C o d e x Regius der Edda, in: Germanistische Abhandlungen Hermann Paul dargebracht, Straßburg 1902.
Auf die Liedinhalte werde ich bei der Vçlsunga saga eingehen; darüber hinausgehende Bedeutung hat die HEusLERSche Arbeit für die Frage nach der „Vorverlobung". Er war, im Gegensatz zur hier vorgetragenen Ansicht, der Meinung, daß Brünhild ursprünglich nur die Heldin der „Werbungssage" gewesen sei und erst sekundär und sehr spät mit der Erweckungssage verbunden wurde. Nach der Lücke setzt der Codex regius mitten in einem Lied mit den Vorbereitungen zum Mord an SigurÖ ein; es trägt in den Ausgaben den Titel „Bruchstück eines SigurÖliedes". Gottorm (wie wir von Snorri wissen, Stiefbruder von Gunnar und Hçgni) wird durch eine Zaüberspeise aus Wolfs- und Schlangenfleisch wild gemacht, um die Tat zu begehen. Hçgni gesteht GuÖrun offen ein: „Wir haben ihn mit dem Schwert erschlagen." Brynhild kommentiert die Tat: „Jetzt könnt ihr gut über die Waffen und die Lande herrschen; SigurÖ würde allein über alles walten, wenn der Held länger gelebt hätte." Sie nimmt also hier etwa die Haltung Hagens im Nibelungenlied ein. Nach erfüllter Rache verkündet sie jedoch Gunnar höhnisch, daß SigurÖ ihm bei der Werbung die Treue gehalten und das Schwert zwischen beide gelegt habe, er hätte seinen Blutsbruder ungerechtfertigt erschlagen. Vom Tod SigurÖs sagt das Lied: „Erschlagen ward SigurÖ südlich des Rheins"; die darauffolgende Prosa kommentiert: Hier heißt es, daß SigurÖ i m Freien erschlagen wurde. Aber manche sagen, daß sie ihn schlafend i m Bett erschlugen. Aber deutsche Männer sagen, daß sie ihn draußen im Wald erschlugen. U n d das alte Gudrunlied sagt, daß SigurÖ und Gjúkis Söhne zum Thing geritten waren, als er erschlagen wurde. Aber darin sind sich alle einig, daß sie sie ihn heimtückisch ermordeten, während er waffenlos dalag.
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Hier besitzen wir ein Zeugnis dafür, daß die Isländer nicht nur alte, „völkerwanderungszeitliche" Überlieferungen bewahrten, sondern nach den isländischen Verhältnissen ausgestalteten: die „Thingvariante" des Mordes ist nur aus skandinavischen Gewohnheiten erklärbar. Anderseits interessierte man sich fur die Berichte deutscher Erzähler, anscheinend in der naiven Vorstellung, daß in deren Land die Ereignisse gespielt hatten und sie daher die korrektere und glaubwürdigere Version überlieferten. Ein neuer Beweis dafür, daß „stammbaummäßiges" Argumentieren unmöglich ist. Man kann nicht sagen, daß all das, was die deutsche Überlieferung (Nibelungenlied) und die nordische gemeinsam haben, bereits existiert haben muß, als die Sagen nach Skandinavien kamen, weil es Einfluß aus der Zeit um 1200 sein kann. Die nächsten Lieder behandeln, jeweils mit einigen Überschneidungen, die weitere Handlung, bis über den Burgundenuntergang hinaus. Was für den Germanisten daran interessant ist, haben wir großteils schon erwähnt, außer ein Lied, auf das wir gesondert eingehen müssen: Das ältere Atlilied. Es kennt nicht den Trug GuÖruns/ Kriemhilds an ihren Brüdern, sondern Atli ist der Hortgierige, und GuÖrun versucht vergebens, ihre Brüder zu warnen, indem sie um den Ring, den ihnen der Bote als Geschenk überbringen soll, ein Wolfshaar wickelt. Zuerst, als ihnen der Bote reiche Gastgeschenke Atlis in Aussicht stellte, hatten sie die Einladung rundweg ablehnen wollen; als sie nun wissen, daß Gefahr droht, wollen sie nicht als Feiglinge gelten und nehmen an. Die Warnung hat gerade so gewirkt wie die Prophezeiungen an Hagen im Nibelungenlied. Doch herrscht auf Island noch das „heroische Zeitalter" : Der Dichter wertet diese Reaktion keineswegs als übersteigertes Ehrgefühl oder superbia, sondern als heldenhaft. Es ist gar kein Zweifel, daß der Erzähler auf Seiten Gunnars und Hçgnis steht. Die beiden ziehen zu zweit an den Hof Atlis; Gunnar wird von Atlis Knechten überwältigt und gefesselt, Hçgni gelingt es, sieben zu erschlagen, den achten wirft er ins Feuer. „So soll ein Tapferer mit den Feinden verfahren." Man kann nicht genug darauf hinweisen, daß dieser vorbildhafte Hçgni einer anderen Kultur entstammt als der Verbrecher Hagen, und wie realistisch die Zahlen der überwältigten Gegner sind: mit acht Männern auf einmal fertig geworden zu sein, ist eine Tat, die über Jahrhunderte weg erzählt zu werden verdient. Dreißig oder siebenhundert auf einmal erschlagen zu haben, ist nicht besonders auszeichnend, sondern im einen Fall unrealistisch, das heißt spielmännisch übertreibend, im anderen märchenhaft. Trotzdem enthält dieses Lied einiges, das auf deutschen Einfluß hinweist: Gunnar heißt nur hier „Freund der Burgunder"
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(was nicht heißen soll, daß er kein eigentlicher Burgunder war, sondern eine kenningartige Umschreibung fur „Burgunderkönig" darstellt), sonst ist in der altnordischen Überlieferung nirgends von den Burgundern die Rede. Man hat dies kommentiert, daß dieses zum Teil sehr altertümlich wirkende Gedicht die Erinnerung an das Volk der Burgunder bewahrt habe, die sonst im Norden ausgestorben sei. Wenn man aber davon ausgeht, daß auch im ganzen altertümlich wirkende Gedichte bis zur Aufzeichnung laufend verändert wurden, kann dieser Ausdruck auch auf junge Parallelüberlieferungen zum Nibelungenlied zurückgehen. Ähnlich ist es mit der nächsten Szene: Atli bietet dem gefangenen Gunnar an, sich für Gold loszukaufen. Er sagt zu, unter der Bedingung, daß man ihm das Herz Hçgnis bringe. Atli sucht ihn zu betrügen, indem er einem Knecht das Herz ausschneiden läßt, doch zittert es auf der Schüssel, als es Gunnar überbracht wird: das Herz des mutigen Hagen zittert auch im Tode nicht; Gunnar durchschaut den Trug, Atli läßt dem echten Hçgni das Herz ausschneiden, um von Gunnar das Versteck des Goldes zu erfahren. „Da lachte Hçgni, als sie ihm zum Herzen schnitten." Gunnar hat Hçgni nicht verraten, sondern dieser stirbt lachend, weil er weiß: wenn nur mehr einer von ihnen beiden lebt, kann Atli sie nicht wechselseitig erpressen, um des anderen willen den Hort zu verraten, und Atli um den Schatz geprellt zu haben, zählt für sie mehr als das Leben. „Lieber soll der Rhein über die Schätze aus Streiterz (das Erz, um das man streitet; eine Kenning für „Gold") herrschen, er soll das von den Asen stammende Erbe der Nibelungen im strömenden Wasser auflösen, die Goldreife, bevor das Gold den Hunnensöhnen an den Händen glänzt!" schleudert Gunnar Atli entgegen. Gunnar ist also hier in die Rolle Hagens aus dem Nibelungenlied getreten, sicher sekundär, weil man das Motiv vom „schwachen König" in Skandinavien nicht verstanden hat. Atli läßt wütend Gunnar in den Schlangenhof werfen. Auf dem gotländischen Bildfries um 1100 findet sich die Szene, wie alle anderen auch, ohne beigefugten Namen, doch zweifelt man nicht daran, daß es sich auch hier schon um Gunnar handelt. Daß Hagen als letzter getötet wird, erfordert die Erzählung nur, wenn der Burgundenuntergang als Rache für den Tod Siegfried/Sigurös erfolgt; doch weder der Name noch eine Anspielung daraufkommen in dem Gedicht vor. Man hat es daher für so altertümlich gehalten, daß es in einer Zeit entstanden sei, bevor noch die Siegfriedsage mit der Sage vom Untergang der Burgunder verbunden war, das heißt die Witwe Siegfried/Sigurös noch nicht mit der Gemahlin Attilas verschmolzen war. Da sich in diesem Lied außer der für Skandinavien auffälligen Nennung des Volksnamens der Burgunder einige Wörter finden, die 100
im Altnordischen sonst nicht beziehungsweise nicht in derselben Bedeutung vorkommen, muß man damit rechnen, daß Teile davon Übersetzung einer deutschen Vorlage sind. Daraus hat man den Schluß gezogen, daß auch in Deutschland die beiden Einzeldichtungen (im Gegensatz zur sicher älteren Vermischung der Figuren) erst sehr spät, vielleich gar erstmals im Nibelungenlied, vereinigt wurden. Vor allem HEUSLER hat diese Meinung vertreten, doch gibt es weder dafür noch dagegen handfeste Beweise. THIDREKS SAGA
Dieses Werk entstand am Hof des norwegischen Königs Hákon Hákonarsson ( t 1263), am ehesten um 1250. Neben der kritischen Ausgabe von Henrik BERTELSEN, Kopenhagen 1905 ff., wurde für die hier in Ubersetzung gegebenen Teile auch die Übertragung von Felix NIEDNER, Jena 1924 (Thüle 22), benutzt.
Vermittelt wurde der Stoff wohl durch deutsche Kaufleute; die Hanse hatte in Bergen, dem Krönungsort der norwegischen Könige, eine Niederlassung. Kaufleute kommen übrigens auch im Nibelungenlied vor, in einer Szene, die wohl zum jüngsten Bestand gehören muß. Die J)iÖreks saga ist ein Potpourri der bekanntesten deutschen Sagenstoffe, zu einer äußerlichen Einheit gefaßt durch die bei den niederdeutschen Kaufleuten beliebteste Sagenfigur, Dietrich von Bern, der ja in den meisten Heldensagen, wie auch im Nibelungenlied, zumindest eine periphere Rolle spielt. Das Repertoire der Gewährsleute des Verfassers war ähnlich dem Historien-Repertoire des Marners: Gemeinsam ist die Dietrichsage mit Heime, Witege und Ecke; aus der Nibelungensage Kriemhild, Siegfried und Nibelungenhort; und die Wilzensage. Der Marner hat außerdem den „Getreuen Eckart" (aus der uns erst im späten „Anhang" zum Heldenbuch überlieferten Harlungensage), die Ortnitsage und Rother; ob der Riuzen stürm sich auf die Ortnitsage bezieht oder einen auch in der J)iÖreks saga kurz erwähnten Russenkrieg, läßt sich nicht entscheiden. Dafür enthält die J)iÖreks saga eine ganze Reihe weiterer Sagenkreise (Wielandsage und andere). Artus kommt in ihr, sagt man üblicherweise, nicht vor; tatsächlich ist es noch schlimmer: er erscheint in zwei Nebenepisoden, in einer davon ohne Funktion, in der anderen als der Unterlegene, Gefoppte. Dafür heißt es in der großen „Heldenschau", in der die Dietrich-Helden beschrieben werden, sie alle sitzen auf einer Bank. Ich interpretiere das als bewußt aufgebautes Gegenstück zur arthurischen Tafelrunde. Wenn von literarischen Gattungsunterschieden zwischen Heldendich-
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tung und Artusdichtung, Heldenepos und höfischem Roman gesprochen wird, stößt man immer wieder auf Schwierigkeiten. Die soziologische Abgrenzung verschiedener sozialer und politischer Gruppen als Traditionsträger dürfte fast leichter sein. Die norddeutschen Kaufleute haben jedenfalls den norwegischen Königshof fur ihre Lieblingsüberlieferung, den Dietrich-Sagenkreis, begeistert. In Westfalen scheint die Nibelungensage besonders beliebt gewesen zu sein, in Soest haben sich dabei ähnliche Lokaltraditionen entwickelt wie in Österreich; der Untergang der Nibelungen wird eben nach Soest verlegt, wie im Nibelungenlied die Hochzeit Attilas nach Wien. Aber ein hunnischer Herrschaftssitz in Ungarn ist eben doch näher an der historischen Realität als einer in Westfalen. Daher haben die Forscher, die die „österreichische Variante" aus der „Soester Variante" sekundär abgeleitet wissen wollen, eine Verwechslung beziehungsweise Vermischung Attilas mit einem Soester Fürsten ähnlichen Namens annehmen müssen. Die J)iÖreks saga liefert uns speziell für den Nibelungenteil eine eigene Quellenangabe: Hier m a g m a n nun hören die Erzählungen deutscher Männer . . . und zwar v o n in Soest (im Original Susa) geborenen Leuten, w o diese Geschichten sich zugetragen haben, und oft die Stellen unverändert gesehen haben, w o diese Taten geschahen . . . Alles steht noch genau so wie damals, als die N i b e l u n g e n erschlagen wurden, auch die Stadttore: das alte T o r . . . bei d e m der K a m p f begann . . . Es haben uns aber auch Männer v o n diesen D i n g e n erzählt, die in B r e m e n und Münster geboren sind. Keiner wußte genaueres von d e m anderen. D e n n o c h erzählten alle in derselben Weise, und das stimmt meist überein mit d e m , was alte Dichtungen in deutscher Sprache sagen, die berühmte Männer über die großen Begebenheiten verfaßt haben, die sich in diesem Land zugetragen haben.
Daß die Schlußsätze möglicherweise in der Tradition der Fassung * C des Nibelungenliedes stehen, haben wir schon festgestellt. Doch ist es keineswegs so, daß alles, was die Jpiöreks saga weder mit dem Nibelungenlied noch mit der Eddaüberlieferung gemeinsam hat, niederdeutsche Lokaltraditionen sein müssen: Eine ungarische Chronik (von Simon Kéza, ca. 1285) berichtet den Nibelungen-Untergang zwar wie das Nibelungenlied in Ungarn, doch heißt dort etwa der Sohn Attilas und Kriemhilds nicht Ortliep, sondern „Aladarius", ein Name, der in der J)iÖreks saga, allerdings als Sohn Hagens, der seinen Vater an Attila rächt, in der Form „Aldrian" wiederkehrt. Ich zitiere nur dieses eine Beispiel für angebliche Gemeinsamkeiten, denn die anderen sind nicht besser: die Gemeinsamkeiten zwischen J)iöreks saga und Kézas Chronik sind sehr vage und die Verwandtschaft sicher nicht eng, aber daß 102
das Nibelungenlied nicht die einzige Quelle ist, aus der die ungarische Chronik geschöpft hat, und in ihr wie in der JpiÖreks saga auch altes deutsches Material erhalten sein kann, das das Nibelungenlied ausgeschieden hat, ist nicht zu bezweifeln. Zu den Dingen, die in unserem Zusammenhang an der J)iÖreks saga interessieren, gehören: 1. die Geschichte von SigurÖs Geburt, Aussetzung und Säugung durch eine Hinde 2. Die Schmiedeknechtschaft. Ein Schmied und Kohlenbrenner (hier heißt er Mime), dessen Bruder (hier Regin) sich in einen Drachen verwandelt hat, findet den von der Hinde aufgezogenen Knaben und nimmt ihn selbst als Pflegekind. Er nennt ihn SigurÖ. SigurÖ wird so stark, daß er die Schmiedelehrlinge verbleut und den Amboß in den Boden schlägt. Mime bekommt Angst und schickt ihn in den Wald Holz holen, wo er annimmt, daß ihn der Drache töten wird. SigurÖ erschlägt jedoch den Drachen mit einem Baumstamm, zerteilt ihn mit der Holzaxt und brät sich das Drachenfleisch zum Nachtmahl. Da versteht er die Sprache der Vögel, die verraten, daß Mime nach seinem Leben trachtet. Er bestreicht sich mit dem Drachenblut überall, wo er mit den Händen hinreicht, also nicht zwischen den Schultern, und es wird wie Horn. Mime gibt ihm eine Rüstung und ein Schwert und verspricht ihm ein Pferd aus dem Gestüt Brünhilds, doch SigurÖ erschlägt ihn nach dem Rat der Vögel. 3. Die Bekanntschaft mit Brynhild: Das Tor ihrer Burg ist mit Eisenstangen verschlossen (entspricht isenstein im Nibelungenlied?) und wird von Wächtern bewacht, die er erschlagen muß. Das Tor erbricht er mit Gewalt. Brynhild erkennt daran, daß der Ankömmling SigurÖ sein muß, heißt ihn willkommen, nennt ihm seinen Namen und die Namen seiner Eltern, die er selbst nicht wußte, und er erhält das Roß Grani. Von ihr reitet er (ohne daß an dieser Stelle eine Verlobung erwähnt wird) fort in andere Länder auf Abenteuer. 4. Hçgni ist der Sohn der Königin von Niflungaland ( = Nibelungenland) und eines Alben, der sie im Schlafe schwängert. Die ehelichen Kinder der Königin waren Gunnar, Gernot, Giselher und Grimhild. Die Familienbezeichnung „Niflungen" entspricht dem zweiten Teil des Nibelungenliedes, nicht dem ersten, wo der Name von Siegfrieds märchenhaftem Hort abgeleitet ist. 5. SigurÖ schließt sich, ebenso wie Gunnar und Hçgni, König Thidrek ( = Dietrich) an und ist dort Held einiger Episoden, die keine Entsprechung im Nibelungenlied besitzen. 6. Die Werbung. Nach einigen Episoden, in denen SigurÖ keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielt, folgt der zweite Teil des Berich103
tes: Jung Sigurö soll Grimhild heiraten und mit ihr Gunnars halbes Reich bekommen (hier ist das erhalten, was im Nibelungenlied als „Herrschaftsanspruch" durchscheint). Beim Hochzeitsfest lobt SigurÖ vor Gunnar Brynhild und empfiehlt Gunnar, um sie zu werben. Er kenne alle Wege dorthin. Die Hochzeitsgesellschaft, einschließlich Thidrek, reitet zu Brynhild. Sie nimmt Gunnar gut auf, SigurÖ aber schlecht, weil sie weiß, daß er jetzt eine Frau hat, er aber bei ihrem ersten Zusammentreffen versprochen hätte, daß er keine Frau außer ihr heiraten würde (wovon an der ersten Stelle allerdings nichts erwähnt ist). SigurÖ findet eine fadenscheinige Ausrede fiir seine Heirat mit Grimhild und sagt Brynhild offen, daß er die Werbung Gunnars eingefädelt habe, weil er ihr einen tüchtigen Mann verschaffen wolle. 7. Der Betrug in der Brautnacht. Brynhild willigt in die Heirat ein, überwältigt aber Gunnar in der Brautnacht und hängt ihn, wie im Nibelungenlied, an einen Nagel an der Wand. Gunnar weiß, daß ihre übernatürlichen Kräfte erst verschwinden, wenn ihr das Magdtum genommen wird, und bittet SigurÖ um diese Hilfe. Der versteckt sich im Finstern in Gunnars Bett, bezwingt sie und nimmt ihr nach Gunnars Willen das Magdtum, tauscht aber heimlich ihren Ring gegen einen anderen, bevor er seinen Platz Gunnar überläßt. Die märchenhaften Elemente des Nibelungenliedes sind hier stark zurückgedrängt, es gibt keine Tarnkappe, auch keine Waberlohe wie in der Edda, während in der Kindheitsgeschichte, die aus einer anderen Quelle zu stammen scheint (es gibt einige Halb-Widersprüche, auf deren einen ich hingewiesen habe), das Märchenhafte wuchert. Gerade die Kindheitsgeschichte erzählt aber das Nibelungenlied ganz anders, wir müssen daher annehmen, daß auch in anderen Quellen im Siegfriedteil mit Märchenelementen erweiterte Reste mythischer Erzählungen vorkamen. Diese Diskrepanz kann also nicht auf die jüngsten Quellenschichten zurückgehen. Nach verschiedenen anderen eingeschobenen Sagen (darunter die Walthersage) wird die Geschichte, jetzt also Abschnitt drei, weitergeführt. Doch gibt es gegen den vorhergehenden wieder Unstimmigkeiten, etwa: Hçgni ist plötzlich echter Bruder Gunnars, nicht Halbbruder wie zuvor. 8. Der Streit der Königinnen. Gunnar herrscht in der Stadt Werniza mit seinem Bruder Hggni und seinem Schwager SigurÖ. Von einem eigenen Reich SigurÖs ist nicht die Rede. In der Halle sitzt im Hochsitz der Königin (der zwei bis drei Personen Platz bot!) eines Tages Grimhild, als Brynhild hereinkommt. Brynhild wirft ihr vor, daß Grimhild nicht bei ihrem Eintritt aufsteht. Grimhild verweist nur auf 104
ihre Gleichrangigkeit, weil es der Hochsitz ihrer Mutter ist; sie will kein Vorrecht. Da beginnt Brynhild zu schmähen: „Wenn auch deine Mutter diesen Sitz und dein Vater diese Stadt und dieses Land hatten, besitze ich es jetzt und nicht du. Lauf du lieber in die Wälder und mache die Pfade der Hinde ausfindig, hinter SigurÖ, deinem Mann her." Die Hinde erinnert an Sigurds „Totemtier". Diese Beleidigung rächt Grimhild durch die Aufdeckung des Betruges in der Brautnacht; der Ring, den ihr SigurÖ geschenkt hat, ist ihr Zeugnis. 9. Der Mord. Hier sind die Parallelen mit dem Nibelungenlied sehr stark: Die Köche sollen vor der Jagd das Essen versalzen und säumig einschenken. Im Wald trinken sie aus einem Bach, Gunnar und Hçgni j e von einem Ufer aus, danach legt sich SigurÖ auf den Boden, um ebenfalls zu trinken. Da ersticht ihn Hçgni. Die Leiche tragen sie heim und werfen sie der schlafenden Grimhild ins Bett. Hçgni behauptet, ein Eber habe ihn getötet. Darauf Grimhild: „Dieser Eber bist du gewesen." Einige blinde Motive zeigen, daß es sich um eine „Reduktionsstufe" im Vergleich zum Nibelungenlied handelt. Daß der Mord im Wald geschieht, die Leiche aber dann in Grimhilds Bett geworfen wird, weist wohl auf eine Vermischung der Waldtod- und der Betttodvariante hin. Der Arbeitstechnik des Lieder Sammler s : „einige erzählen . . . andere . . . " steht hier eine Mischungstechnik gegenüber. Obwohl die doch recht abweichende Schilderung annehmen läßt, daß der Verfasser zwar eine dem Nibelungenlied verwandte Dichtung, doch nicht es selbst gekannt hat, war seine Quelle schon recht höfisiert: Als bekannt wurde, daß Jung SigurÖ erschlagen war, sagte jeder, daß nie wieder ein solcher Mann in der Welt leben und geboren werde, was Kraft und Mut, aller Art Höfischkeit, Kühnheit und Freigebigkeit betrifft. Da man sich meist das Nibelungenlied als die einzige höfisierende Bearbeitung denkt, wäre die Lösung wohl am ehesten in der Form zu suchen, daß das Nibelungenlied, wohl die Fassung * C , einen Teil der deutschen Quellen der JpiÖreks saga beeinflußt hat, aber nicht das ganze Nibelungenlied, sondern Teilepen, die sekundär, durch „Zerstückelung" beim Vortrag einzelner Episoden entstanden. 10. Grimhilds Rache. Nach einem weiteren kurzen Einschub, der nichts mit den Nibelungen zu tun hat, folgt, relativ ähnlich dem Nibelungenlied, aber, was das Interessante ist, mit gänzlich anderer Lokalisierung, der Untergang der Niflungen. Dieser lange, sehr einheitlich gestaltete Abschnitt weist trotz der Lokalisierung der Geschehnisse in Westfalen nicht nur eine genaue 105
Übereinstimmung mit dem Nibelungenlied auf, was die großen Handlungszüge betrifft, sondern hat auch viele Einzelmotive, auch solche, die wir uns erst um 1200 entstanden denken, mit ihm gemeinsam. Nibelungenlied Str. 1509 f.: Do sprach zuo zir kinden diu edel Uote: „ir soldet hie beltben, helde guote. mir ist getroumet hinte von angestlîcher not, wie allez daz gefliigele in disem lande wcere tôt. " „Swer sich an troume wendet", sprach do Hagene, „der enweiz der rehten mœre niht ze sagene, wenn ez im ze êren vollecltchen stê. ich wil daz mm herre ze hove nach urloube gê. " Da sprach die edle Ute zu ihren Kindern: „Ihr sollt hier bleiben, tapfere Helden. Mir träumte heute von einem schrecklichen Unheil: daß alle Vögel in diesem Land tot wären." „Wer sich an Träume hält", sprach da Hagen, „der weiß nicht, wie er sich richtig verhalten soll, wenn es auf seine Ehre ankommt. Ich will, daß mein Herr Euch um Urlaub bittet." Thidrekssaga Kap. 397 (362); NIEDNER S. 387: Da stand Königin Oda auf, König Gunnars und Giselhers Mutter, ging zum König und sprach zu ihm: „Herr, mir träumte ein Traum, den du hören sollst. In diesem Traum sah ich nämlich im Hunnenland so viele Vögel tot, daß unser ganzes Land von Vögeln leer war. Nun höre ich, daß ihr Niflungen beabsichtigt, ins Hunnenland zu ziehen. Ich weiß aber, daß aus dieser Fahrt großes Unheil entstehen wird, sowohl für die Niflungen als auch für die Hunnen. Am wahrscheinlichsten ist mir, daß mancher deswegen sein Leben läßt, wenn ihr aufbrecht. Sei so gut, Herr, zieh nicht. Nur Schlimmes wird für dich aus dieser Fahrt entstehen." Da antwortete Hçgni: „König Gunnar hat die Fahrt beschlossen und er will, daß es dabei bleibt. Wir scheren uns nicht um die Träume von euch alten Frauen. Ihr wisset wenig Gutes! Eure Worte können unsere Fahrt nicht hindern." In welchem Verhältnis können die beiden Texte zueinander stehen? Klar ist, daß der zweite seine Vorlage durch breites Erzählen ausschmückt, und daß seine Quelle näher dem Nibelungenlied verwandt war als die für den ersten Teil. Doch welches der beiden Werke steht näher an der gemeinsamen Quelle, oder war das Nibelungenlied die Quelle der JiiÖreks saga? Der Traum von den toten Vögeln ist im Nibelungenlied ganz allgemein ein Unheilszeichen, ohne Referenz auf die Situation. In der J)iÖreks saga sterben im Hunnenland so viele Vögel,
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daß es hier keine mehr gibt. Das heißt, der T r a u m enthält eine genaue Referenz auf die k o m m e n d e Geschichte. Trotz der Tendenz der J)iÖreks saga zur Verbreiterung könnte man annehmen, daß das Nibelungenlied das Exempel gekürzt hat. Die J)iöreks saga hätte auch in diesem, dem Nibelungenlied sehr ähnlichen Teil eine Vorlage gehabt, die ältere Elemente bewahrt hat, aber nicht das Nibelungenlied selbst. Dann könnte man sich aber auch die Frage stellen: Die Lokalisierung des Burgunderunterganges in Ungarn und des Nibelungenzuges durch Österreich ist sicher nicht ursprünglich. Könnte es sein, daß die Lokalisierung in Westfalen, in Soest, älter ist und erst v o m Nibelungenlied geändert wurde? Man hat als Argument dafür unter anderem folgende Stelle der JaiÖreks saga herangezogen: Die Niflungen zogen nun ihres Weges, bis sie an den Rhein kamen, dort, wo Rhein und Donau ineinanderfließen. Es ist dort sehr breit, wo die Ströme sich vereinen. Sie fanden aber kein Schiff und blieben die Nacht dort in ihren Zelten. . . . Hçgni kam nun an einen Teich, der heißt Möre, und erblickte einige Gestalten im Wasser. Ihre Kleider sah er am Ufer liegen. Er nahm die Kleider und versteckte sie. Die menschlichen Gestalten waren aber keine anderen als solche Wesen, die man Meerfrauen nennt (es folgt die Weissagung des Untergangs ähnlich wie im Nibelungenlied, aber ohne den Zug, daß der Kaplan zurückkehren wird) . . . Da sah er mitten auf dem Fluß ein Schiff und einen Mann darin. Der N a m e des Flusses, der im allgemeinen mit „Donau" übersetzt wird, heißt im Original duna. Dieser Flußname ist leider nicht einmalig. Der Rhein besitzt einen kleinen Nebenfluß, der in Urkunden des 12. Jahrhunderts als Duone und Dune erscheint. Der N a m e des Teiches, Möre, entspricht dem Meeringen des Nibelungenliedes (Str. 1591). Moeringen (heute Mehringen) liegt bei Ingolstadt an der Donau; der Übergang wäre hier möglich. Maar ist jedoch am Niederrhein als Flurname gut belegt; in der Soester Version und in der österreichischen hegt derselbe Ortsname vor, und wir können nicht entscheiden, in welche Richtung die Übernahme vor sich ging, ob man aus Moringen M ö r e gemacht hat oder umgekehrt. Eine Bischof Pilgrim entsprechende Figur k o m m t in der jaiÖreks saga nicht vor; wir brauchen keinen Passau entsprechenden O r t zu erwarten. W e n n man ohnehin nicht erwartet, daß die JaiÖreks saga das Nibelungenlied in der „Passauer Fassung" gekannt hat, man anderseits annimmt, daß der Bischof von Passau nur anläßlich einer „Auffuhrung" vor Wolfger eingeführt wurde, wird dies nicht verwundern. Der Ort, der am meisten über die Verwandtschaftsverhältnisse der Texte aussagen könnte, ist Bechelaren, in der J)iÖreks saga Bakalar. Markgraf Riiedeger/Rodingeir ist in beiden
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Werken eine so wichtige Figur, anderseits gehört seine Einfuhrung sicher erst der Zeit um 1200 an, weil die übrigen altnordischen Quellen nichts von ihm wissen. Die Identifizierung seines Herkunftsortes muß, wenn sie gelingt, die Frage wohl entscheiden. Ist Bakalar Pöchlarn an der Donau oder nicht? Den Anhängern der Soest-Theorie mußte es gelingen, irgendeinen Ortsnamen zwischen dem Rhein und Westfalen zu finden, der so ähnlich klang. Eine Burg am Weg vom Rhein nach Soest zu finden, ist ja nicht schwer; der Wegstrecke nach, wie sie in der JpiÖreks saga geschildert wird, käme am ehesten Burg Berg bei Altenberg in Frage. Doch liegt in ihrer Nähe eben kein Ort mit einem irgendwie passenden Namen. Das heißt, man glaubte sogar, einen gefunden zu haben: In einer Urkunde um 1300 findet sich in Altenberg ein Dietrich mit dem Beinamen Boykeler. Soll das auf einen uns nicht erhaltenen Namen eines - doch größeren! - Ortes deuten? Wir können den westfälischen Lokalforschern hierin leider nicht folgen: Boykeler erinnert zu sehr an die niederdeutschen Formen des mittelalterlichen lateinischen Wortes baccalaureus „einer, der einen niedrigen akademischen Grad erworben hat" (noch heute niederländisch beukeler, englisch bachelor, auch in der Bedeutung „Junggeselle"). Dies ist jedenfalls viel wahrscheinlicher als die Existenz eines urkundlich nicht bezeugten größeren Ortes (Markgrafenresidenz!) im 13. Jahrhundert. Pöchlarn bleibt mit Recht der einzige Ort, von dem Rüdeger hergeleitet werden kann, und damit scheint mir der Streit entschieden. Ich will hier nicht auf mögliche Zeugnisse fur eine ältere Pöchlarner Rüdiger-Tradition eingehen (darüber in einem späteren Abschnitt in anderem Zusammenhang), denn mir erscheint es immer besser, ein gutes Argument anzuführen, als mehrere schwächere. Für das Nibelungenlied, das für uns im Zentrum des Interesses bleiben soll, ist vor allem der Stellenwert, den in der JpiÖreks saga die einzelnen Figuren am Schluß genießen, und ihre moralische Wertung interessant. Wenn wir auf Elemente stoßen, die im Nibelungenlied anders dargestellt sind, aber der Edda gleichfalls widersprechen, gibt es nicht sehr viele Möglichkeiten: entweder das Nibelungenlied hat geändert, oder alte niederdeutsche Tradition, die durch Varianten des Nibelungenliedes beeinflußt wurde, hat sich in einigen Punkten als resistent erwiesen, oder es handelt sich um Neufassungen in Westfalen zwischen 1200 und 1250. Da andere Möglichkeiten kaum in Frage kommen, hat man eine gute Chanche, Indizien zu finden, welches jeweils die wahrscheinlichste Lösung ist. Uns interessieren hier die Fälle, in denen man am ehesten annnimmt, daß das Nibelungenlied geändert hat, weil sie über die Arbeitsweise unseres Dichters Aufklärung bringen. 108
Vor allem zu nennen ist hier der Tod Grimhilds: Nicht Hildebrand, der in der JaiÖreks saga ebenfalls beim Burgundenuntergang, an Thidreks Seite kämpfend, dabei ist, sondern Dietrich selbst fuhrt den Streich: König Attila sagte: „Sie ist wahrhaftig ein Teufel. Erschlag du sie! Es wäre eine gute Tat gewesen, wenn du das sieben Nächte vorher getan hättest. Dann wäre mancher edle Held gesund, der nun tot ist." Da sprang König Thidrek zu Grimhild und hieb sie mitten durch.
Daß Kriemhild ursprünglich von Dietrich getötet wurde und nicht von Hildebrand, ist dann verständlich, wenn man eine so unheldische Tat wie das Erschlagen einer Frau nicht einem vorbildlichen Helden wie Dietrich zur Last legen will. Hildebrand kommt schon eher in Frage; man hat sich vielleicht noch daran erinnert, daß er (im Hildebrandslied) seinen Sohn mit einem tückischen Schlag tötete. Da man kein Motiv sieht, umgekehrt Hildebrand durch Dietrich zu ersetzen, glaubt man hier eine Tendenz des Nibelungenliedes zur Entlastung Dietrichs zu sehen. Th
NL * C
Soester Zweig Th
österr. Zweig
NL * C
Soester Zweig
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Von der Verwandtschaft der Motive her wären beide Stammbäume denkbar; aufgrund der zeithchen Konstellation scheint mir Schema zwei oder mehr als einmaliges Nordwärtswandern „österreichischer" Formen (1 plus 2) etwas wahrscheinlicher. V Q L S U N G A SAGA
Die Vçlsunga saga ist fur die Germanistik interessant, weil sie die Hauptquelle Richard WAGNERS für den „Ring des Nibelungen" darstellte. Sie hat für einzelne Episoden Überlieferungen gekannt (vgl. PANZER, Nibelungische Ketzereien, doch hat PANZER, wie in fast allen seiner Theorien, zu weitgehende Schlüsse gezogen), die sicher schon vom Nibelungenlied beeinflußt waren, hat aber recht wenig aus der J)iÖreks saga entlehnt. Im Kern ist sie jedoch eine breiter erzählte Fassung der Eddalieder, wie sie uns im Codex regius vorhegen. Die Vorgeschichte, die Taten der von Odin abstammenden Wälsungen und der Anteil mythologischer Elemente, vor allem Odins, ist (wohl sekundär) erweitert, aber vor allem der Jung-SigurÖ-Teil folgt, wo wir die Eddalieder erhalten haben, diesen sehr genau. Sie ist daher ein gutes Mittel zur Rekonstruktion der „Lieder der Lücke", auf die ich hiemit eingehe: Die auf dem Hindarfjall Erweckte heißt Brynhild, sonst ist das Erweckungslied fast wortwörtlich gleich. Die Handlung geht weiter mit den Worten: Sigurd sprach: „Einen gescheiteren Menschen gibt es nicht. U n d das schwöre ich, daß ich dich zur Frau haben will, du bist nach meinem Herzen." Sie antwortete: „Dich will ich am liebsten haben, und hätte ich unter allen Männern zu wählen." U n d dies bekräftigten sie mit Eiden untereinander.
SigurÖ ritt fort, es folgt die Beschreibung seines Aussehens nach der J)iÖreks saga (eine der wenigen Übernahmen), dann kommt er zum Hof des Heimir, der mit Brünhilds Schwester Bekkhild („Bank-Hild" im Gegensatz zur kriegerischen „Brünnen-Hild") verheiratet war. Brynhild führt eine Art Doppelleben: einerseits ist sie Kampfjungfrau, anderseits wohnt sie bei Heimir. Vçlsunga saga hg. von Wilhelm RANISCH, Berlin 1891, Kap. 24; Übersetzung nach Paul HERRMANN, Jena 1923 (Thüle 21) Kap. 25: Sie saß im Frauengemach mit ihren Mägden, sie hatte mehr Geschicklichkeit als andere Frauen. Sie überspann ihr Gewebe mit Gold und stickte darauf die Heldentaten, die SigurÖ verrichtet hatte: den T o d des Wurmes, die Erwerbung des Hortes und den T o d Regins. U n d eines Tages, so wird erzählt, ritt SigurÖ in den Wald mit seinen Hunden und Habichten und vielem Gefolge, und als er heimkam, flog ein Habicht auf einen hohen T u r m und setzte sich an ein Fenster. SigurÖ stieg dem Habicht nach; da sah er ein schönes Weib und
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erkannte, daß es Brynhild war, und ihn dünkte beides gleich wertvoll, ihre Schönheit und die Arbeit, an der sie stickte.
SigurÖ kehrt zu Heimir zurück, der ihm die Auskunft gibt, daß die unbekannte Schöne Brynhild war. Der Sammler hat hier zwei Parallellieder einfach aneinandergereiht. Woher hat er aber die Geschichte, in der Brynhild nicht auf dem Hindarfjall, sondern in einem Turm saß? Das Falken-Motiv, die höfische Beizjagd, das klingt so höfisch, eher erinnert es an Deutschland oder gar Italien als an Skandinavien. Ein um 1200 in Deutschland entstandenes Lied? Wir haben schon einmal das italienische Dornröschen-Märchen „Sonne, Mond und Thalia" aus der Sammlung von BASILE erwähnt, das eine der Erweckungssage ähnliche Stuktur besitzt. Die Erweckungsszene lautet hier (nach der Übersetzung von Walter KELLER, Italienische Märchen, Jena 1 9 2 9 ) : Es geschah nun aber eines Tages, daß ein König auf die Jagd ging und ein Falke, der ihm von der Faust entschlüpfte, in ein Fenster jenes Schlosses flog. Da der Vogel nicht auf die Lockpfeife hörte, ließ der König an das Tor pochen, denn er glaubte, das Gebäude sei bewohnt. Nach langem und vergeblichem Klopfen jedoch ließ der König eine Winzerleiter herbeiholen, um selbst hineinzusteigen und zu schauen, wie es inwendig aussehe, und nachdem er es ganz durchwandert hatte, war er ganz außer sich vor Staunen, keine lebende Seele darin zu finden. Endlich gelangte er in das Zimmer, worin sich die verzauberte Prinzessin befand.
Direkten Einfluß der italienischen Dornröschenvariante auf die Vçlsunga saga wird man wohl nicht annehmen; noch weniger umgekehrt. Vor der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts war die Beizjagd zu wenig beliebt, als daß sich das Motiv über ganz Europa verbreitet hätte. Vorstufen des Dornröschenmärchens sind seit dem M.Jahrhundert belegt; in den beiden ältesten (katalanisch bzw. französisch) findet sich schon das Falkenmotiv. Vgl. Johannes B O L T E und Georg POLÍVKA, Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, 1. Band, Leipzig 1913, S.434 ff.
Daraus erkennen wir, daß es falsch ist, strukturell und/oder im Motivinventar ähnliche Sagen unbedingt stammbaummäßig auf eine U r form zurückfuhren zu wollen. Oft ist das Gegenteil der Fall: Im Laufe der Zeit entwickeln sich auch konvergierende Fassungen dadurch, daß einzelne Motive durch funktionsgleiche aus Erzählungen ähnlicher Struktur übernommen werden, wenn diese publikumswirksamer oder dem Zeitgeschmack entsprechender scheinen; umgekehrt wer111
den Erzählungen, in denen bestimmte Motive vorkommen, nach Vorbildern, die ein „erfolgreicheres" Strukturmuster aufweisen, umgestaltet. Der Ausdruck „Wanderfabel", den man in diesem Zusammenhang gerne gebraucht hat, ist dabei nicht ganz zutreffend. Es verbreitet sich nämlich nicht einfach eine neue Erzählung über die halbe Welt, wie es die Anhänger der „Wanderfabel"-Theorie annehmen, sondern man kann in den meisten Fällen einen einheimischen Grundstock annehmen. Das gilt nicht nur für die Auffindung Brynhilds durch SigurÖ, die sicher nicht aus einem italienischen Märchen stammt, aber sehr wohl in einem deutschen Lied um 1200, vielleicht nach romanischen Vorbildern, höfisiert worden sein könnte und bei der Übertragung nach Skandinavien Eingang in die Liedersammlung gefunden hat. Der Eddasammler hat einander ausschließende Parallellieder aufgenommen, ohne sie aneinander anzugleichen. In dieser Vorgangsweise war er konsequent; die Liederedda enthält zwei Atlilieder, drei Guörunlieder usw. Also wird man H E U S L E R gerne recht geben, daß die Eddalücke ein „Falkenlied" enthalten habe. Die Vçlsunga saga hat dann, in ihrer Tendenz, Stoff zu gewinnen, die Parallellieder aneinandergereiht, so daß gleich mehrere Begegnungen SigurÖs mit Brynhild vor der Werbung für Gunnar entstehen, eine mit einer Verlobung, eine ohne Folgen und eine mit einer Bekräftigung der Verlobung. Als Gunnar um Brynhild werben möchte, sitzt sie wieder in einer Burg hinter dem Flammenwall, wie bei Snorri. SigurÖ nimmt wieder den Gestaltentausch vor und durchreitet das Feuer, dann hält er das „keusche Beilager" : Er legt das Schwert zwischen Brynhild und sich. Darauf tauscht er mit ihr ganz offen die Ringe. Denselben Tag begab sich Brynhild heim zu ihrem Pflegevater und sagte ihm im Vertrauen, daß zu ihr ein König gekommen wäre, „er ritt durch meine Waberlohe und sagte, er käme, um mich zu heiraten, und nannte sich Gunnar - ich aber sagte, daß dies SigurÖ allein vollbringen würde, dem ich Eide schwur auf dem Berge: er ist mein erster Gatte." Heimir sagte, dabei müsse es sein Bewenden haben. Brynhild sprach: „Meine und SigurÖs Tochter Aslaug soll bei dir aufgezogen werden." Der Frauenzank entsteht wieder im Bade und durch Brynhilds Anmaßung; GuÖruns Beweismittel ist der verfluchte Ring, den SigurÖ bei der Verlobung Brynhild geschenkt, als „Gunnar" beim Ringtausch ihr wieder genommen und dann GuÖrun weitergeschenkt hatte. Guörun erscheint in der Vçlsunga saga in schlechtem Licht dadurch, daß Grimhild, die Mutter GuÖrüns, und vielleicht auch GuÖrun selbst weiß, daß SigurÖ mit Brynhild verlobt ist, und ihn durch einen 112
Zaubertrank zur Untreue bringt. So ist es verständlich, daß bei der Verbrennung der Leiche Sigurds Brynhild an seiner Seite verbrannt wird. GuÖrun verbringt die Zeit nach Sigurds Tod mit dem Weben von Bildmotiven mit Heldentaten und Kampfspielen, ähnlich wie früher Brynhild. Der Sagaschreiber hat offenbar gewebte Bildfriese wie die gotländische „Kleine Bilder-Edda" gekannt und ihre Herkunft so erklären wollen. Gudrun wird zur großen Heldin erst im zweiten Teil: sie verteidigt ihre Brüder gegen ihren hortgierigen zweiten Gatten Atli und kämpft sogar in voller Rüstung an ihrer Seite. Schließlich rächt sie den Tod der Brüder wie in den Eddaliedern, überlebt Atli und wird, wie in anderen Überlieferungen auch, Heldin der Schwanhildsage. Weiter skandinavische Gestaltungen sind die Erzählung von Nornagest (Nornagests páttr), in der die Tochter SigurÖs und Brynhilds, Aslaug, eine tragende Rolle bekommt. Der Beweggrund dafür war, seine eigene Geschichte, die Saga von Hrolf Kraki, genealogisch mit den Nibelungen in Verbindung bringen zu können. Ein dänischer Chronist um 1600 erzählt in der „Hvenschen Chronik", daß der Untergang der Burgunder auf der kleinen Insel Hven in der Ostsee (heute Ven geschrieben und zu Schweden gehörig) stattgefunden habe. Dies diene zur Warnung, die Lokalisierung von Sagengeschehen für unverrückbar· zu halten und etwa die Soester Tradition der Nibelungensage ohne klare Zeugnisse fast bis zur Völkerwanderungszeit zurückzufuhren müssen zu glauben. Der Stoff blieb in Skandinavien beliebt und wanderte in modernere Dichtungsgattungen weiter, vor allem in die Volksballade. Vor allem im vorigen Jahrhundert hat man solche Tanzlieder, besonders von den Färöern, aufgezeichnet. Die Texte sind ganz kurz, enthalten nur einen winzigen Ausschnitt aus dem Geschehen und werden im Laufe des Tanzes ständig wiederholt. Es wäre unvollständig, von den skandinavischen Dichtungen nur auf die hinzuweisen, die den Nibelungenstoff selbst behandeln. Das Strukturmuster und die Charaktere wurden so beliebt, daß auch die Isländersaga es aufnahm. Vor allem die Gisla saga (die Saga von Gisli), aber auch die Laxdoela saga (die Sage von den Leuten aus dem Lachstal): Schicksal und Verhaltensweisen der Helden der Gisla saga ähneln nicht nur jenen des ersten Teils des Nibelungenliedes, sondern der Verfasser vergleicht seine Heldin explizit mit GuÖrun. 113 8
Vergleiche Günter ZIMMERMANN, Isländersage und Heldensage, Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 21, Wien 1982. Ein Zeugnis für eine skandinavische Nibelungendichtung sieht man auch im walisischen Mabinogi von Branwen. Diese keltische Erzählung (in kymrischer Sprache; die Handschrift stammt aus dem 13. Jahrhundert, ist aber eine Kopie einer wahrscheinlich Jahrhunderte älteren Vorlage) entspricht in den Hauptzügen der Erzählung vom Burgunderuntergang ab der Werbung Etzels um Kriemhild. In Wales herrschen drei Brüder und ein grimmiger Halbbruder. U m ihre Schwester, Branwen, wirbt ein irischer König. Die Brüder sagen sie ihm zu. Der Halbbruder, der von den Brüdern nicht gefragt worden ist, beleidigt die Iren, um die Werbung zu hintertreiben. Die Brüder versöhnen jedoch die Iren, unter anderem durch das Geschenk eines Wunderkessels, der Tote lebendig macht, und die Hochzeit kommt zustande. Branwen wird in Irland trotzdem wegen der Beleidigung durch den (Halb-)schwager von ihrem Gatten erniedrigt. Sie bittet daher ihre Brüder um Hilfe; der Anlaß für den Feldzug entspricht daher keiner erhaltenen germanischen Form. Die Waliser setzen über nach Irland. Merkwürdigerweise versöhnt sich der irische König sofort beim Eintreffen des walisischen Heeres mit seiner Frau, um den Krieg zu verhindern, und lädt die Feinde, jetzt plötzlich Gäste, zu einem Fest, bei dem sein und Branwens kleiner Sohn zum zukünftigen Herrscher Irlands gekrönt werden soll. Doch sinnen die Iren beim Fest auf Verrat. Die Saalschlacht beginnt aus folgendem Anlaß: Der Knabe begrüßt den regierenden Bruder der Mutter, dann den nächsten echten Bruder, dann ruft ihn der dritte echte Bruder zu sich. Da wird der „böse Halbbruder" zornig (im erhaltenen Text steht nicht, doch wäre anzunehmen, daß das Kind dabei an ihm vorbei gehen mußte oder sonstwie er als Dritter gesessen wäre), ruft das Kind zu sich und wirft es ins Feuer. Das Unglück wird also beide Male durch die Mißachtung des Halbbruders durch die echten Brüder ausgelöst. Die Iren sind vor allem durch das Geschenk des Zauberkessels überlegen: alle ihre Toten werfen sie hinein, und am nächsten Tag kämpfen sie wieder lebendig mit. Da opfert sich der „böse Halbbruder" für sein Volk: er versteckt sich unter den toten Iren und läßt sich in den Kessel werfen; dann streckt er sich so sehr, daß der Kessel birst; doch er selbst stirbt durch diesen Kraftakt. Trotz dieses Opfers entkommt kaum einer der Waliser. Branwen überlebt das Gemetzel, stirbt aber an gebrochenem Herzen über ihre Mitschuld am Tod zweier Völker. Kurt W A I S hat diese kymrische Erzählung für eine Bearbeitung der Nibelungensage gehalten, die in der Wikingerzeit auf die briti114
sehen Inseln gelangt sei. Doch enthält das Mabinogi von Branwen so viele original keltisch anmutenden Züge nicht nur motivlicher, sondern auch struktureller Natur, daß ich lieber annehmen möchte, eine ursprünglich keltische Erzählung habe einzelne fremde, „modische" (in diesem Fall wikingische) Züge übernommen als eine „Wanderfabel" sich das Gewand des jeweiligen Volkes angelegt. Ich halte „Wanderfabeln" zwar prinzipiell fur etwas Existentes und Beweisbares; doch gerade in den Fällen verwandter Heldensagen, in denen man am meisten mit „Wanderfabeln" zu operieren versucht, für wahrscheinlich nicht zutreffend. Gleich ob es sich um die Parallelen des Mabinogi von Branwen mit der Nibelungensage oder der Tristansage mit der Nibelungensage oder den Vater-Sohn-Kampf in Dichtungen verschiedener Völker handelt: die ältesten erhaltenen Stufen (etwa der Tristansage im Vergleich zur Nibelungensage) zeigen üblicherweise größere Unterschiede, wie man es auch erwarten würde, wenn alte (etwa indogermanische) Mythen nach „Stammbaum"- oder „Substrat-Modellen mit relativ wenig gegenseitiger Beeinflussung, weil dem Volksglauben verbunden, tradiert worden wären. Die jüngeren sind jedoch einander merkwürdig ähnlich. Vereinfacht: Die „Wanderfabel"- Theorie besagt, daß die Figuren der nationalen Heldensage, in einem Vorgang, der grob gesprochen der Verbreitung von Wanderanekdoten in der Gegenwart entspricht, in internationale Erzählungen eingefügt wurden. Die Erzählung war international, der Name des Helden und das Milieu sekundär und national. Walter H A U G spricht von „Strukturmuster, über das man bestimmte historische Erfahrungen verstehen und darstellen konnte" (In: Hohenemser Studien S. 217). Dort wo wir internationale Berührungen nachweisen zu können glaubten, etwa im Falkenmotiv in der Wälsungensaga, ist es aber nie eine Erzählung, die in ein „Vakuum" einwandert, sondern immer die Beeinflussung einer schon bestehenden Erzählung. Neudichtungen nach bestehenden Strukturmustern, wie etwa die Gisla saga, pflegen dann zu entstehen, wenn das Schema in der betreffenden Kultur gut verankert ist; außerdem gehen Erfinder neuer Stoffe meist auch freier mit den etwa übernommenen Strukturmustern um. Doch läßt sich da keine Regel ableiten: genau so wenig, wie ich es wagen würde, zu behaupten, daß dieser oder jener bestimmte der Nibelungensage gemeinsame Zug des Mabinogi von Branwen auch autochthon keltisch gewesen sein muß, kann man bestimmte Einzelzüge als sicher aus der Nibelungentradition entlehnt erklären. Damit wird es aber ganz fragwürdig, aus gemeinsamen oder unterschiedlichen Motiven so etwas wie eine Chronologie der Sagenentwicklung abzuleiten. Am ehesten scheint dies noch bei kleinen Einzelzügen möglich: Das Nichtgrüßen 115
Efnisiens durch den Sohn der Branwen stammt wohl aus einer altnordischen Version der Nibelungensage; in der Thidrekssaga schlägt das Kind gar Högni ins Gesicht. O b aber der „böse Halbbruder" erst durch germanische Vermittlung in die irische Sage gekommen ist, kann wohl niemand zu wissen behaupten. Woher will man dann aber beweisen, daß zur Zeit des skandinavischen Einflusses auf den westlichen Teil der britischen Inseln die Nibelungensage in Skandinavien im Ganzen in einer der Mabinogi-Fassung entsprechenden Form tradiert wurde? W e r trennt uns die Übernahmen von den alten Gemeinsamkeiten; einige uns (subjektiv) eindeutig übernommen scheinende kleine Züge wie den genannten ausgenommen? Etwa dort, wo die irische Erzählung Ungleichmäßigkeiten enthält (wie die Erniedrigung und Wiederaufwertung Bran wens): Was ist irisch, was skandinavisch? Oder brauchen wir überhaupt kein Modell der Nibelungensage vor dem Nibelungenlied? Es ist beklagt worden, daß das Modell HEUSLERS in vielen Punkten als falsch erwiesen wurde, ohne daß jemand ein anderes an seine Stelle gestellt hätte. Prompt hat man auch den Versuch gemacht, auch diese „Marktlücke" zu schließen. Doch in diesem ernsten Beginnen hat man übersehen, was das HEusLERSche Modell sollte: „Sehr viel öfter als geschehen ist, hätten wir durch ein „wahrscheinlich" oder „man darf vermuten" den Leser daran erinnern können, daß eine solche Vorgeschichte über das Beweisbare häufig hinausmuß" (Nibelungensage und Nibelungenlied, S. 151). Nun ist es eine methodisch ganz richtige Forderung, daß ein Modell, das sich nicht anmaßt, das Richtige, sondern bestenfalls Mögliches darzustellen, das Recht hat, zu vereinfachen und die Pflicht hat, seine eigene Logik zu schaffen, wo wir mit einer Logik der „Geschichte" nicht rechnen können. Für HEUSLER (wie oben) war dies die Formel: Was man herkömmlicherweise „Heldensage" nennt, ist Heldendichtung, von Dichtern geschaffen und weitergegeben und ausgebildet. . . . Es wäre vielleicht besser gewesen, man hätte von jeher nur Heldendichtung, nicht Heldensage gesagt. . . . Sagenwandlung ist soviel wie Umdichtung durch einen Poeten. Die heute vorherrschende Meinung dazu hat treffend Alois W O L F ausgedrückt (Gestaltungskerne und Gestaltungsweisen in der altgermanischen Heldendichtung, München 1965, S. 13): Eine Ansicht, der es an bestechender Klarheit nicht fehlt, die aber zu klar ist, um der vielgestaltigen Wirklichkeit zu entsprechen. 116
Halten wir diesen Ausschluß sowohl der unkünstlerischen, prosaischen Volkssage als auch gelehrt-chronikalischer Einflüsse fur falsch, so müssen wir annehmen, daß die Wirklichkeit viel verwickelter war. In einem solchen System wären viel mehr unbelegbare Einzelannahmen notwendig, die, selbst wenn wir den Rahmen fur ein solches Modell für gerechtfertigt halten, die Wahrscheinlichkeit jeder Einzelannahme hoffnungslos niedrig werden läßt. Die erhaltenen Zeugnisse sind wie Fragmente eines Puzzlespiels, deren Bilder verblichen und deren Ränder abgewetzt sind. In diesem Sinne ist das HEUSLERSche Modell, wenn auch sicher nicht richtig, so doch auch im philosophischen und nicht nur im ästhetischen Sinne schön, und daher in seiner Existenz gerechtfertigt. Ein „Gegenmodell", das zwangsläufig dieser (nicht der sprachlich-ästhetischen, sondern der Aussage innewohnenden) Schönheit entbehren müßte, ohne uns dafür ein ausreichendes Maß an Zuverlässigkeit zu schenken, bliebe wohl besser ungeschrieben. Im Vergleich zur reichen nordischen Tradition ist es spärlich, was das deutsche Mittelalter außer dem Nibelungenlied hervorgebracht hat. Es ist aber nicht richtig, daß das Nibelungenlied eine reichere und bunte Tradition zum Absterben gebracht hat; in Deutschland fehlten im Gegensatz zu Skandinavien die Voraussetzungen, daß die m ü n d lich tradierten Lieder (Marner!) aufgezeichnet wurden. Erst im 16. Jahrhundert ist uns, in frühen Drucken, der Hürnen Seyfrit erhalten, der dann in einer Prosaauflösung als Volksbuch sehr beliebt wurde. Für die Bearbeitungen typisch zu sein scheint, daß die Namen der Figuren relativ leicht verändert werden: Im Hürnen Seyfrit, der vor allem den Drachenkampf und die Erweckungssage gestaltet, ist die Erweckte Kriemhild (Brünhild k o m m t nicht vor), in den Prosafassungen wird ihr N a m e gegen einen überhaupt sagenfremden ausgetauscht: sie heißt dort Florigundia. Daß die Tradition, in der der Hürnen Seyfrit steht, weit vor das 16. Jahrhundert zurückgehen muß, zeigen „Kriemhildensteine" des Rheinlands, die seit dem M.Jahrhundert belegt sind, die Kriemhild als „Erweckte" bezeugen.
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DIE HISTORISCHEN GRUNDLAGEN DIE BURGUNDER Eine Reihe von Figuren des Nibelungenliedes finden wir in der Geschichte des fünften bis zehnten Jahrhunderts wieder. Die Namen der Burgunderkönige Gunther, Gernot und Giselher treten zum Teil in der Lex Burgundionum auf: König Gundobad ( t 516), im lateinischen Kontext Gundobadus, hat die Gesetze der Burgunder aufzeichnen lassen und nennt sich im Prolog, und zwar als Nachkommen der Burgunderkönige Gibica, Godomar (einige Handschriften bieten statt dessen Gundomar), Gislaharius und Gundaharius. Burgundisches Gundaharius entspricht mittelhochdeutschem Gunther, Gislaharius Giselher; zwei der Brüder im Nibelungenlied sind damit identifiziert. Der Name Gibeche kommt zwar im Nibelungenlied auch vor, doch nicht als ihr Vater, wie der Gjuki der altnordischen Quellen, der Gibico entspricht, sondern als Fürst am Etzelshof. Dancrât scheint eine Erfindung der Zeit um 1200 zu sein. Daß das Altnordische die Namen besser bewahrt hat, zeigt auch Gothorm, das Godomar besser entspricht als Gemot im Nibelungenlied und in der Thidrekssaga. Daß die burgundische Königssippe „Nibelungen" geheißen habe, kann man freilich nicht einmal eine Hypothese nennen; es ist eine ganz ungesicherte Vermutung. Das Burgunderreich, über das Gundobad herrschte, lag südlich des Genfer Sees, im heutigen Frankreich. Dorthin waren die Burgunder zwangsausgesiedelt worden, nachdem sie 436 von den Römern unter deren Feldherrn Aetius und den Hunnen, freilich nicht Attila, vernichtend besiegt worden waren. Es ist auch schon die Frage gestellt worden, ob vielleicht der Name des Aetius mit dem Attilas verwechselt und Attila auf diesem Weg in die Sage vom Burgundenuntergang gekommen sei. Nach der Angabe der spätantiken Historiker lag dieses Burgunderreich am Rhein; ob die Lokalisierung der Hauptstadt in Worms, wie sie das Nibelungenlied bietet, den historischen Tatsachen entspricht, ist umstritten. Gegenüber von Worms, am rechten Rheinufer, bei Lampertheim, fand man ein älteres burgundisches Gräberfeld aus dem 4. Jahrhundert. Worms und auch Mainz gehörten jedenfalls zeitweise zum burgundischen Herrschaftsbereich. 118
Der burgundische König, unter dem es zur Katastrophe kam, wird in den Quellen (noch aus der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts: die Chronik des Prosper Tiro) Gundicharius genannt; wohl nur eine andere Schreibung für Gundaharius, den von Gundobadus genannten Vorfahren, den Gunther des Nibelungenliedes. Der Bericht bei Prosper Tiro lautet: Gundicharium Burgundionum regem intra Gallias habitantem Aetius belìo obtrivit pacetnque ei supplicanti dedit, qua non diu potitus est, siquidem illum Chuni cum populo suo ab stirpe deleverint. Aetius besiegte den Gundicharius, den K ö n i g der Burgunder, der in Gallien siedelte. Als er sich unterwarf, gewährte er ihm Frieden, dessen sich dieser nicht lange erfreute, weil nämlich die Hunnen ihn und sein Volk bis auf den letzten Mann ausrotteten.
Damit ist natürlich nicht das ganze burgundische Volk gemeint, sondern nur das Heer - das Volk war immerhin noch groß genug, daß man es zwangsweise umsiedelte, damit es nicht wieder Unfrieden stifte. Hier scheint ein Gestaltungskern vorzuliegen, der sich 800 Jahre lang in den Grundzügen unverändert erhalten hat, obwohl er nur mündlich tradiert wurde. Es scheint dem Wesen der mündlichen Überlieferung zu entsprechen, daß einige Grundtatsachen gut memoriert werden können, die Nebenhandlungen aber vergessen beziehungsweise verändert werden. Dies zeigt, trotz der Veränderungen im Laufe der mündlichen Überlieferung, daß die Absicht der Erzähler die Vermittlung historischer Wahrheit war; sonst wäre ja nicht einmal das, was das Gedächtnis zu behalten in der Lage war, über die Jahrhunderte unverändert geblieben. Diesen Wahrheitsanspruch, der sich so für die Geschichtsdichtung beweisen läßt, hat man auch für das Nibelungenlied immer wieder geltend gemacht. Doch gerade zu dem Zeitpunkt, als das Epos aufs Pergament gebracht wurde, ist dies gar nicht mehr so sicher. Schon um 1100 hatte Fruotolf von Michelsberg festgestellt, daß Ermanarich (t 375), Attila (t 453) und Theoderich (f 526) nicht Zeitgenossen gewesen sein konnten und die Sage vielleicht irre. Doch gerade das zeigt, daß er und auch andere Gelehrte, nicht etwa nur ungebildete Schichten, prinzipiell bereit waren, die Sage als Geschichtsüberlieferung anzuerkennen. Vgl. O t t o GSCHWANTLER, Die historische Glaubwürdigkeit der Nibelungensage, in: Das Nibelungenlied.
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Schon die spätantiken Chroniken des 6. Jahrhunderts haben bei der Aufzeichnung nicht i m m e r zwischen historischen Berichten und Heldensage unterscheiden können. Bei mündlichen Berichten scheinen heroisierende u n d sagenbildende Tendenzen schon unmittelbar nach d e m geschilderten Ereignis einzutreten, u n d w e n n nicht zufälligerweise ein Augenzeuge seine Erlebnisse niederschrieb, haben wir es i m m e r schon mit nach Gesetzen mündlicher Tradition g e f o r m t e n Berichten zu tun (dasselbe gilt übrigens noch bis zur Gegenwart; auch heute werden politische Ereignisse, deren Bedeutung sich erst im nachhinein herausstellt u n d die daher nicht von A n f a n g an zuverlässig d o k u m e n tiert w u r d e n , sehr schnell in einer F o r m weitererzählt, in der sie sich nicht ereignet haben, in der sie sich aber gut erzählen lassen. Dieser, w e n n m a n will, „mythische" Bericht hält sich dann besser, geht in Geschichtsbücher ein und w i r d dann kanonisiert). D o c h hatten die frühchristlichen Chroniken, ausgehend v o n Hieronymus, eines gemeinsam: sie waren zunächst vor allem zur Zählung der Jahre bestimmt. Das änderte sich zwar noch i m Laufe der Spätantike, doch blieb ein genaues chronologisches Gerüst noch längere Zeit Gattungsmerkmal. A n den Orten, an denen solche Chroniken vorhanden waren, und das waren n u r die Klöster, w ä r e ein Korrektiv vorhanden gewesen. Schon zur Karolingerzeit hätte ein Erzähler etwa im Kloster Hersfeld genug historische W e r k e vorgefunden, die sein Geschichtsbild hätten korrigieren können. Das heißt, die Träger der Heldensage lebten als Repräsentanten einer analphabetischen Mehrheit unter einer winzigen Minderheit, der schriftliche Geschichtsüberlieferung zugänglich war. T r o t z der Achtung, die m a n d e m geschriebenen lateinischen W o r t zollte, hat also bis z u m 12. J a h r h u n d e r t die Macht der mündlichen Tradition öfter auf die Autorität der schriftlichen eingewirkt und „korrigierende" Zusätze in j ü n g e r e n C h r o n i k e n bewirkt als u m g e k e h r t . So (relativ) gut der Bericht v o m B u r g u n d e n u n t e r g a n g mit den historischen Fakten übereinstimmt, so wenig faßbar ist für uns die Grundlage f ü r Siegfrieds T o d . Die N a m e n Siegfried u n d Brünhild weisen auf den merowingischen Kulturkreis. Die B u r g u n d e r haben mit d e m merowingischen Frankenreich intensive Kontakte gehabt, doch erst in ihrer neuen H e i m a t in Südwestfrankreich. D o r t stand das j ü n g e r e Burgunderreich in Nachbarschaft zu Westgoten und Franken; Berichte finden sich hauptsächlich bei fränkischen Geschichtsschreibern: Gregor v o n Tours (Ende des 6. Jahrhunderts) u n d Fredegar (7. Jahrhundert). Bei ihnen findet sich zwar auch n o c h kein Siegfried, doch eine Brunichildis, eine westgotische Prinzessin aus Spanien, die 120
den fränkischen Teilkönig Sigibert heiratete und ihn, als er v o n Chilperich und dessen Gattin Fredegunde u m g e b r a c h t w u r d e , grausam rächte. N u n stimmt ja diese H a n d l u n g nicht gerade besonders gut z u m Nibelungenlied. Schon H E U S L E R kommentierte: „Zu den Taten i m Gedicht zeigen uns die Frankenhändel keine einleuchtenden U r b i l der" (Nibelungensage und Nibelungenlied S. 9). Gemeinsam sind eigentlich nur Betrug, M o r d und Rache, u n d davon sind die Berichte aus der Merowingerzeit, v o r allem die Historia Francorum des Gregor v o n Tours, voll. W a s lockt, ist vor allem die Namensgleichung Brunichildis - Brünhild. Was zur Ablehnung rät, ist vor allem ein Fehlen eines historischen Vorbildes f u r Hagen. Kann es nicht schon die Sage früher gegeben haben u n d die Prinzessin nach einer Sagenfigur benannt w o r d e n sein? Die älteste Form, in der uns die Brünhild der Sage faßbar wird, ist ja der lectulus Brunichildae im Taunus, die E r w e k kungssage. U n d zu einer Dornröschen-Geschichte paßt Brunichildis wirklich nicht. A u ß e r d e m hatte die historische Brünhild als geborene Westgotin, verheiratete Frankin wenig Kontakt mit den B u r g u n d e r n . Die N a m e n Siegfried, Brünhild und auch Nibelungen sind i m Fränkischen, aber allesamt erst nach der Völkerwanderungszeit belegt, und Franken haben die Rhein-Main-Gegend, in der die belegten Sagenformen lokalisiert werden, b e w o h n t . D o c h ist gar nicht sicher, daß die N a m e n an den Heldensagen das am wenigsten veränderliche sind; eher ist das Gegenteil anzunehmen.
WRAJA
Läßt m a n die N a m e n außer acht und sucht nur nach ähnlichen Ereignissen in der Völkerwanderungszeit, so bietet sich viel eher die Geschichte des Ostgoten Wraja an. Dieses nach H E U S L E R (wie oben) „sehr viel nähere Gegenstück" findet sich bei d e m schon genannten byzantinischen Geschichtsschreiber Prokopios. Der berichtet i m 3. Buch des Gotenkrieges, zu den Jahren 538 bis 540, daß der gotische Feldherr und Neffe des Königs Witigis, in griechischer Schrift Uraias (das Griechische kennt kein w und gibt daher das - häufige - anlautende W germanischer N a m e n i m m e r mit ou, gesprochen als langes u, wieder; der germanische N a m e w i r d also * Wraja gelautet haben), mit einer Hilfstruppe v o n 10.000 B u r g u n d e r n Mailand den O s t r ö m e r n abgewann u n d dabei große Schätze in seine H a n d fielen. Die Goten beseitigten den unfähigen König Witigis u n d wollten W r a j a an seine Stelle setzen. Ihn gelüstete j e d o c h nicht nach der Königswürde, u m 121
nicht als Schuldiger am Tode seines Mutterbruders hingestellt zu werden, und er schlug vor, daß Hildibad König werden sollte. Wraja war aber weiterhin der beliebteste Feldherr und reichste Mann unter den Goten und ihren burgundischen Verbündeten. Außerdem nahm die Gattin des Wraja unbedingt den ersten Platz ein durch ihren Reichtum und ihre Schönheit. Einst begab sie sich ins Bad, herrlich geschmückt und von einem zahlreichen Gefolge umgeben. Dort erblickte sie Hildibads Gemahlin, mit dürftigen Gewändern angetan . . . Statt nun ihr als der Gattin des Königs die schuldige Ehrfurcht zu bezeugen, unterließ sie diese und beleidigte sie noch obendrein durch geringschätzige Blicke. Hildibads Gattin empfand die ihr angetane Schmach sehr tief, trat weinend zu ihrem Gemahl und verlangte von ihm, er solle sie an Wrajas Gattin rächen. Deswegen streute Hildibad zunächst die Verleumdung aus, Wraja wolle zu den Feinden übertreten, und bald darauf beseitigte er ihn durch Meuchelmord.
Doch Hildibad genoß den Sieg nicht lange. Die Ermordung des beliebten Wraja machte ihn verhaßt. Und als er schließlich die Braut eines Goten einem anderen zur Frau gab, schlug ihm der Beleidigte während eines Gastmahls zu Ehren der Gotenflirsten das Haupt vom Rumpf, und während der König noch die Speisen in den Fingern hielt, rollte schon sein Haupt auf den Tisch, zum Entsetzen aller Anwesenden (Übersetzung nach D. COSTE, Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit Bd. 7).
Einige dieser Parallelen sind schon früh, unter anderem von H E U S L E R , ernst genommen worden, später auch von Martin L I N T Z E L ( 1 9 3 4 ) und anderen. Nie ist jedoch die ganze Stelle von der Mitbeteiligung von Burgundern bis zur Ermordung Hildibads als Ganzes gegenübergestellt worden, weil der unterschiedliche Ort (Oberitalien) und die unterschiedlichen Namen immer gegen eine Identifikation sprachen. Vergleichen wir die Gemeinsamkeiten und Unterschiede: Gemeinsamkeiten: 1. Beliebtheit und Reichtum des Helden 2. Der Held ist von königlicher Abkunft, verzichtet jedoch freiwillig auf die Krone. 3. Der Held unterstützt den König, dessen Krone er selbst tragen dürfte und könnte. 4. Obwohl der Held freiwillig auf den ersten Rang verzichtet, kommt es zum Konflikt, weil seine Frau nicht bereit ist, ihrerseits hinter der Königin zurückzustehen. 5. Offener Streit der Königinnen im Bad. 122
6. Der König läßt den Helden wegen des Frauenzanks und aus politischen Gründen meucheln. 7. D e m seither verhaßten König wird bei einem späteren Anlaß an der Tafel gräßlich das Haupt abgeschlagen. Unterschiede: 1. Z w a r fuhrt Wraja als Nichtburgunder Burgunder an, wie auch Siegfried, doch ist auch der gegnerische König Gote und nicht Burgunder. 2. Das Gastmahl, bei dem Hildibad ermordet wird, erinnert zwar an das Gastmahl im Nibelungenlied, bei dem der Sohn Etzels ermordet wird, doch gibt es sonst keine motivliche Gemeinsamkeit im RacheTeil, und diese erfolgt auch nicht direkt wegen des ersten Mordes. 3. Ein Unterschied gegenüber dem Nibelungenlied ist zwar auch der Streit im Bade, doch ist die Turnier- und Münster- Szene im Nibelungenlied sicher jung, während Snorra Edda und Wälsungensaga den Streit im Bade beginnen lassen. Der Frauenstreit im Bade ist in meinen Augen auch das entscheidende Einzelmotiv, das für eine Verwandtschaft der Überlieferungen spricht, zusammen mit den übrigen mehr oder minder ähnlichen sonstigen Ereignissen. Oder sollten wir die Hypothese aufzustellen wagen, die Ermordung des Wraja sei schon von den Zeitgenossen in einer nicht historischen, sondern sagengemäßen Form erzählt und so und nicht in der „wahren" Form dem Geschichtsschreiber einer der am Krieg beteiligten Mächte zu Ohren gekommen?
Alle anderen Versuche, historische Vorbilder für Siegfried zu finden, haben noch weniger Ähnlichkeiten zu Tage gefordert. Grausamkeiten gab es im Merowingerreich genug, Ehebruch, Verwandtenmord und die Kombination von beidem finden sich nicht selten in der germanischen Geschichte. Solche Parallelen allein scheinen uns daher zu wenig. Die Versuche, entsprechende N a m e n aufzufinden, seien es Personennamen oder geographische Anknüpfungen - man hat versucht, den N a m e n des Ahnen Sigurds, Wälse, v o m Schweizer Kanton Wallis herzuleiten, w o auch Burgunder siedelten - haben keine wirklich schlagenden Handlungsparallelen beigebracht, und die einzig halbwegs gute Handlungsparallele kennt nur andere Namen. Außerdem ist immer im Auge zu behalten, daß, was Handlungsparallelen betrifft, die mythologischen Gegenstücke v o m T y p Jason noch näher zur Siegfried/Sigurd Erzählung stimmen als die historischen, und daß die älteste schriftliche Quelle, die uns einen der N a m e n nennt, eben der Hinweis auf den lectulus Brunihildae ist, eine dem Wesen nach 123
sagenhafte/mythologische Quelle (im Märchen ist der O r t der Erwekkung grundsätzlich nicht lokalisiert). Für Kriemhild hat man überhaupt keine Namensvetterin ausfindig machen können. Das Zweitglied des Namens, -hild, ist das häufigste Zweitglied in germanischen Frauennamen. Auch die letzte Gemahlin Attilas hieß Ildico, wenn man die Unfähigkeit der Romanen, anlautendes h auszusprechen, berücksichtigt, wohl *Hildico, „Hildchen". Unwahrscheinlich ist aber, daß sie Kriemhild geheißen habe, weil dieser N a m e sonst doch, selbst wenn er vorher selten gewesen sein sollte, wenigstens als Nachbenennung nach der berühmten AttilaGattin so häufig gegeben worden wäre, daß sich uns wenigstens ein einziger Beleg hätte erhalten müssen. Aber weder ein altgermanisches Grim- noch ein Krem- oder dergleichen treten überhaupt jemals auf, auch nicht mit anderen Zweitgliedern. Man kann getrost sagen: Ein solches germanisches Namenselement hat es nicht gegeben. Welche Form ist überhaupt ursprünglich? Die Form Grimhild der Thidrekssaga und mit ihr verwandter Quellen scheint eine „Nordisierung" oder „Verniederdeutschung" einer hochdeutschen Form zu sein, jedoch wohl als „Volksetymologie" ohne etymologische Berechtigung. Ein W o r t s t a m m grim- „Maske" existiert zwar, k o m m t aber nie in N a m e n vor und hätte, der entscheidende sprachwissenschaftliche Einwand, nie mittelhochdeutsch ie ergeben. Dieses geht kaum anders zu erklären als aus langem e entstanden. Ein origineller Kopf hat das W o r t für „Muttersau", germanisch *krëm-, als einziges lautlich passendes gefunden, und das Märchen von der „Schweineliesel" als Quelle des Namens orten wollen. Anerkannte Lösung gibt es keine. Aber w a r u m soll uns eine originelle, sprachwissenschaftlich korrekte Antwort nicht ebensolieb sein wie eine historisch passende, aber sprachlich unmögliche? Daß diese Kr(i)em-hild im Laufe der Sagenentwicklung mit der Hildico Attilas identifiziert wurde, ist beweisbar; sie erscheint ja auch in den Berichten v o m T o d Attilas. Aber diese Identifikation kann erst im Verlaufe einer konvergierenden Entwicklung der Sagen entstanden sein. Eine „historische" Kriemhild als Gattin Siegfrieds suchen wir also ebenfalls vergebens. Nach Meinung vieler stellt eine Relieftafel an der Außenmauer der Michaelskapelle am Xantener D o m , die u m 1000 entstanden ist, den hl. Viktor als Drachentöter dar; genauer: er schreitet mit erhobener Lanze über einen Drachen. Auf der anderen Seite des Eingangs befindet sich eine gleiche Tafel mit einer Figur, die über einen Löwen schreitet. PANZER hat darin wohl zu recht eine Psalmenillustration erkannt (Psalm 91,13: „Auf den Löwen und Ottern wirst du gehen 124
und treten auf den jungen Löwen und Drachen"), und daß der häufige römische N a m e Victor das Vorbild oder umgekehrt: eine Übersetzung von Siegfried sei, ist wohl auch nicht anzunehmen. Friedrich
PANZER,
Nibelungische Problematik, Heidelberg 1954.
Freilich kann es auch in Xanten Lokaltraditionen schon um 1000 gegeben haben, genau so wie um Frankfurt (lectulus Brunichildis). Bestärkt wird dies durch den Beinamen Hagens von Tronje, der dem lateinischen Namen von Xanten, Colonia Trujana, entsprechen kann. Doch haben wir keinerlei Hinweis darauf, daß es sich dabei um „ursprüngliche" Lokalisierungen, das heißt den Ort eines konkreten historischen (völkerwanderungszeitlichen) Ereignisses handeln könnte. W e n n wir berücksichtigen, daß in Kulturen mit mündlich tradierter Geschichtsüberlieferung die Biographie von Herrschern schon kurz nach den Geschehnissen in von Mythos oder Sage bestimmte Schemata eingekleidet wird, so können wir annehmen, daß verschiedene Personen, Wraja, vielleicht auch schon Arminius, von der Tradition ähnliche Biographien bekommen haben. Die nachvölkerwanderungszeitliche Dichtung hat sie vielleicht zu einer Figur vereinigt und an den Sagenkern „Burgunderuntergang", der alle kleineren Erzählungen an sich zog, angeschlossen. In der deutschen Heldensage sind ja alle miteinander Zeitgenossen: Ermanarich, Attila und Theoderich. Im 13. Jahrhundert hat die stärkste „einverleibende" Wirkung Dietrich von Bern besessen. Im Bereich der burgundischen Sagen war der Magnet, der alle anderen Erzählungen an sich zog, offensichtlich die Katastrophe von 435/36.
ATTILA V o m historischen Attila sind wir vor allem durch einen zeitgenössischen byzantinischen Geschichtsschreiber, Priskos, unterrichtet. Dieser weilte (449) als Führer einer oströmischen Gesandtschaft eine Zeit am Hofe Attilas und ist daher ein ganz ausgezeichneter Zeuge. Er berichtet v o m Zeremoniell bei feierlichen Empfängen und v o m Alltagsleben bei H o f und von Angehörigen vieler Völker, die bei ihm weilten und seine Freundschaft suchten. Was die Germanen betrifft, so waren es wohl hauptsächlich Goten, die sich unter Attilas Schutz begeben hatten, doch n i m m t man aus hunnischen Zügen der Gräberfelder in Südfrankreich, die die Archäologen den Burgundern zuweisen, an, daß auch die Burgunder zeitweise unter hunnischem Einfluß gestanden waren. In den burgundischen Gräbern findet sich die hun125
nische Sitte der Schädeldeformation: M a n deformierte die Köpfe der Säuglinge zu den charakteristischen „Turmschädeln". Joachim WERNER, Die archäologische Hinterlassenschaft der Hunnen in Südwestrußland und Mitteleuropa. In: Das Nibelungenlied. Die Schatzgier Attilas w a r unermeßlich. R o m (das heißt damals vor allem: Byzanz) und die anderen Reiche m u ß t e n ungeheure M e n g e n Goldes als T r i b u t zahlen; dadurch entstand im hunnischen Reich jedoch keine Geld Wirtschaft. M a n begnügte sich weiterhin mit einfachem Tauschhandel oder Raub. Die Schätze wanderten alle in den privaten H o r t Attilas und auch in die H ä n d e einiger weniger h u n n i scher Hochadeliger, die ihn in F o r m v o n Goldschmuck zur Schau trugen, nicht als Zahlungsmittel benutzten. Reich ausgestattete Gräber und Schatzfunde in U n g a r n und der Slowakei werden damit in Verbindung gebracht. Es ist allerdings schwer oder nicht zu unterscheiden, ob ein Schatz v o n den H u n n e n selbst oder von anderen (etwa Goten) aus Angst vor den H u n n e n vergraben w u r d e . D e n n die erste Reaktion der O s t g e r m a n e n auf den Hunneneinfall von 375 war n u r z u m Teil U n t e r w e r f u n g ; der Großteil floh in panischer Eile. U n d das mit g u t e m Grund, denn archäologisch ist der hunnische Vorstoß a m besten durch Brandspuren zerstörter Siedlungen faßbar. N a c h Aussage der Archäologen (WERNER) sind in den „Fürstengräbern" mit hunnischer Bestattungssitte v o r allem mongolische H u n n e n , iranische Alanen und O s t g e r m a n e n bestattet. W e r also nicht v o n Attila vernichtet w u r d e u n d seine Oberhoheit anerkannte, k o n n t e v o n ihm reich belohnt werden - j e nach Blickwinkel gab es also w o h l schon unter den Zeitgenossen, wie bei vielen Tyrannen, ein positives neben d e m negativen Attilabild. Priskos berichtet auch v o n den Frauen Attilas. Die H a u p t f r a u genoß fast die gleiche Verehrung wie der Herrscher selbst u n d war unantastbar; die vielen N e b e n f r a u e n hatten unterschiedlichen Rang; manche davon w u r d e n sogar den höheren Beamten der Gesandtschaft zu sexuellem U m g a n g angeboten. Eine dieser N e b e n f r a u e n war w o h l das germanische Mädchen (H)ildico, das Attila am A b e n d vor seinem T o d zugeführt bekam. Das n u r fragmentarisch erhaltene Geschichtswerk des Priskos läßt leider hier aus, doch Jordanes, ein Schriftsteller des 6. Jahrhunderts, hat ihn exzerpiert und gibt unter B e r u f u n g auf ihn folgende Schilderung (Jordanes, Getica 254): am M o r g e n nach der Hochzeit habe m a n ihn tot i m Bette aufgefunden, das weinende Mädchen neben ihm. Als Todesursache wird ein Blutsturz während des (durch den Festrausch tiefen) Schlafes angegeben, an dem Attila erstickte. 126
Attila wollte und erhielt schon zu Lebzeiten Verehrung in den Kategorien des Mythos. Er soll, wie Priskos berichtet, das Schwert des Kriegsgottes gefunden haben (genauer: ein Hirte fand es und überbrachte es ihm), welcher Fund ihm den Sieg über alle Völker verhieß. Daß sich nach seinem T o d die Heldensage seiner bemächtigte, scheint also selbstverständlich, und kaum einem Leser wird es neu sein, wenn ich darauf zu sprechen komme, daß schon bald nach Attilas T o d Chronisten (vor allem, aber nicht nur, byzantinische) wissen wollen, daß Attila ermordet wurde. Eine weitere Stufe wollte auch einen Grund dafür wissen: Hildico habe es aus Blutrache für ihre Brüder getan. Die Blutrache-Version der Chroniken und die altnordische Dichtung setzen ein negatives Attilabild voraus, das Nibelungenlied ein positives. O b es in Deutschland nie ein negatives Attilabild gegeben hat und der Norden seine Sagenform direkt von den Goten bezogen hat, ist sehr fraglich. Vgl. Helmut de BOOR, Das Attilabild in Geschichte, Legende und heroischer Dichtung, 1932 (Neudruck 1963). Die Gegenargumente sind kurz angeführt von: Otto GSCHWANTLER, Das Nibelungenlied S. 59.
Was sollen wir aus diesem historischen Überblick lernen? Sollen wir uns etwa den Gunther des Nibelungenliedes mit hunnischem T u r m schädel vorstellen? Es wäre genau so falsch, dem Nibelungenlied historisches Bewußtsein in diesem Sinn zuzusprechen wie etwa dem Illustrator des Hundeshagenschen Codex, der Siegfried in spätgotischer Ritterrüstung darstellt - oder auch uns selbst, die wir immer wieder in Versuchung fallen, unsere eigenen Denkkategorien aufs Mittelalter zu übertragen. Daher konnte der historische Teil dieses Buches exemplarisch (Theoderich als Vorbild für Dietrich von Bern hätte etwa noch behandelt werden können) und viel kürzer gehalten werden als der sagengeschichtliche, der das Nibelungenlied im Rahmen der Leistungsfähigkeit mündlicher Dichtung als Ausdrucksmittel des Geschichtsbewußtseins einer Kultur verstehen hilft.
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DIE FUNKTION DER ZEIT Das Verhältnis der Erzählzeit (der Zeit, die der Erzähler zum Vortrag beziehungsweise der Leser braucht) zur erzählten Zeit (der Zeitspanne, die in der Dichtung beschrieben wird) im zweiten Teil hat die Aufmerksamkeit der Interpreten mehrfach auf sich gelenkt: 13 Jahre werden mit einer Strophe (1142) übersprungen. Dann folgt ein Handlungsblock: von der Beratung am Etzelshof, die mit dem Entschluß, Rüdeger als Werber nach Worms zu schicken, endet, bis zur Ankunft Kriemhilds an Etzels Hof. Aus den folgenden Jahren wird ein einziges Ereignis erwähnt: die Geburt des Etzelsohnes im siebenten Ehejahr. Im 13. Ehejahr mit Etzel ergeht die Einladung Kriemhilds an ihre Brüder, und damit beginnt der zweite Handlungsblock. Dadurch wird die Handlung des zweiten Teiles auf ungefähr gleich lange Zeit verteilt wie die des ersten (nicht alle Zeiten sind im ersten Teil genau angegeben). Doch werden hier nur zwei Ereignisfolgen behandelt, während im ersten Teil neben die eine große Unterbrechung mehrere kleinere treten. Der deutliche Schwerpunkt in den letzten Aventiuren, die relativ kurze Zeiträume ausfuhrlich schildern (von der 28. bis zur 39. Aventiure werden nur zwei Nächte erwähnt), ist auch weit größer als der entsprechende im ersten Teil rund um die Ermordung Siegfrieds (nur fünf Aventiuren, von der 13. bis zur 18., und außerdem doch über ein paar Wochen verteilt zu denken, wenn auch einige Zeitangaben in diesem Bereich nur ungenau sind). Durch die Betonung der jahrzehntelangen Dauer der Gesamthandlung werden Unterschiede in der Entwicklung und Funktion der Figuren deutlich gemacht, die bei kürzeren Zwischenräumen zwischen den Episoden der Hörer oder Leser gar nicht merken würde: Kriemhild altert entsprechend der erzählten Zeit. Natürlich wird sie noch am Etzelshof als „schön" bezeichnet. Doch ist dies ein Attribut, das einer Herrscherin in jedem Lebensalter zukommt, also auch mit funfundfunfzig. Doch in der Art ihrer Reaktionen macht sie alle Entwicklungsstufen von der Pubertät bis zum Klimakterium durch. Eine andere Zeitentwicklung scheinen ihre Brüder und Hagen durchzumachen: Sie sind immer die älteren beziehungsweise jüngeren Mit128
glieder der Hofgesellschaft; ein .jüngerer Bruder" besitzt diese Eigenschaft grundsätzlich sein Leben lang. Wenn jemand aber am Schluß noch rüstig und trotzdem am Anfang schon als der bedeutend Altere dargestellt werden soll oder umgekehrt am Schluß noch bedeutend jünger und am Anfang doch schon existent, dann ergeben sich unrealistische, nicht an den normalen biologischen Vorgängen orientierte Reifungs- beziehungsweise Alterungsprozesse bei diesen Figuren. Freilich altert auch Hagen allmählich (Str. 1734): Der helt was wol gewahsen, daz ist alwâr, grSz was er zen brüsten, gemischet was stn hár mit einer grtsen varwe. diu bein wären im lane und eislich sîn gesihene. er hete hêrlîchen gane.
Der Held war fürwahr stattlich gebaut; seine Brust war breit, sein Haar war teilweise ergraut. Er besaß lange Beine und einen eisigen Blick. Herrlich schritt er einher.
Doch wenn wir ihn hier gerne als Sechziger akzeptieren, dann eben nicht in Kriemhilds Jugend als Zwanziger. Warum hat es sich der Dichter, der das doch gesehen haben muß, nicht leichter gemacht und das ganze Stück zehn Jahre kürzer dauern lassen? Mit der Änderung weniger Zahlenangaben hätten Hagen und Giselher (und auch Dankwart? - ob Str. 1924 auf einen Fehler des Redaktors oder des Dichters zurückgeht, ist umstritten) nicht ganz unrealistische Entwicklungshemmungen hinnehmen müssen und trotzdem ihre Funktion, die ganze Zeit hindurch „Jüngerer" oder „Älterer" zu sein, ausüben können. Dazu kommt, daß am Schluß anscheinend ganz unnötig, aber eben dieses Mißverhältnis deutlich machend, auf andere Heldensagenkreise angespielt wird: In der Sage von Walther und Hildegund wächst Hagen als Kind als Geisel am Etzelshof auf; sogar Hagens Vater ist schon von Etzel zum Ritter geschlagen worden. Wie alt müßte jetzt Etzel sein? Sind das triviale Fehler, die wir dem Dichter anlasten sollen oder einem Redaktor oder absichtliches Gegenüberstellen der Zeitlosigkeit der Heldensage mit der Zeitgebundenheit der vermenschlichten Protagonistin? In der Heldensage aller Völker ergeben sich Generationsprobleme, wenn man verschiedene Sagenkreise, in denen zum Teil dieselben Figuren spielen, in eine rationale Zeitfolge pressen will. Von der griechischen bis zur deutschen Klassik hat man das immer wieder gesehen. Goethe läßt Chiron, als Faust das Alter Helenas nachrechnet, eine Erklärung geben (Faust, Der Tragödie zweiter Teil, v. 7427 ff.):
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Ich seh, die Philologen, Sie haben dich so wie sich selbst betrogen. Ganz eigen ists mit mythologischer Frau. Der Dichter bringt sie, wie ers braucht, zur Schau: Nie wird sie mündig, wird nicht alt, Stets appetitlicher Gestalt, Wird jung entfuhrt, im Alter noch umfreit; Gnug, den Poeten bindet keine Zeit.
Doch gerade die Entwicklung Kriemhilds zeigt, daß die Figuren des Nibelungenliedes im Gegensatz zu Goethes Helena eben doch an die Zeit gebunden sind. Es war keine rhetorische Figur, wenn ich vorhin drei Erklärungsmöglichkeiten fur die Anspielung auf die Walthersage offen ließ, und wer jetzt erwartet, daß ich eine im nachhinein als Patentlösung offeriere, wartet vergebens. Doch will ich die Lösungsstrategien bewerten: Die bequemste ist, jemanden dafür verantwortlich zu machen, der nach dem Dichter arbeitete, der alles so wohlüberlegt zusammenkomponiert hat. Bis zur Mitte unseres Jahrhunderts hat man sich, wo immer man nicht anders aus oder ein wußte, mit solchen Erklärungen beholfen. Wenn man die Gegenüberstellung von „Dichter" und „Abschreiber" in den älteren Kommentaren einfach in eine von „gut" und „schlecht" auflöst, hat man meist doch etwas gewonnen, nämlich für unsere Wertung der Dichtung in der uns vorliegenden Gestalt, soferne uns gleichgültig ist, welche von zwei ohnehin anonymen Personen einen Fehler gemacht hat (statistisch gesehen, werden wohl die Abschreiber im Mittelalter mehr Fehler gemacht haben als die Dichter; wer will das aber im Einzelfall nachweisen?). Noch viel fragwürdiger als das Trennen von „gutem Dichter" und „schlechtem Abschreiber" ist daher die zweite Möglichkeit, alles, was die Dichtung, mit der man sich gerade beschäftigt, nach allgemeiner Meinung an Schwächen aufweist, so lange zu interpretieren, bis es einen ganz besonderen Sinn bekommt. „Liebe zum Gegenstand" darf nicht in Ehrenrettung des Werkes um jeden Preis ausarten. Die dritte M ö g lichkeit, die vermeintlichen Schwächen als wirkliche hinzunehmen und dem Dichter zuzuweisen, erfordert zumindest eine Erklärung, wieso sie ihm unterlaufen konnten. Das kann wohl nur so gehen, daß man davon ausgeht, daß Fehler dieser Art bei mündlicher Dichtung einen geringeren Stellenwert besitzen als bei schriftlicher, oder daß etwa die Zuhörer an den ersten Tagen Zwischenfragen an den Sänger gestellt hätten, etwa der Art, ob denn sein Hagen derselbe sei wie der in Walther und Hildegund, die er dann aus dem Stegreif im zweiten Teil beantwortet hätte. Doch das heißt möglicherweise das Problem 130
etwas banalisieren. Denn daß die Einfuhrung von Hagens Vater ganz unnötig Probleme schafft, hätte dem Mann, der die kunstvolle K o m position des Ganzen fertigstellte, auch auffallen müssen, wenn er beim mündlichen Vortrag einen schlechten T a g hatte. Ich habe nun die drei Lösungsmöglichkeiten inhaltlich bewertet. Welche davon ist aber die eleganteste? Selbstverständlich die vierte, Probleme aufzuzeigen, aber offen zu lassen. Nur, wer sie zu gut beherrscht, und wir benutzten sie in diesem Werk schon mehrfach, muß sich den Vorwurf gefallen lassen, die Probleme nur zu wälzen, ohne auch zu einer Meinung zu kommen. Das heißt, wir können uns aussuchen, wofür wir kritisiert werden wollen, aber daß wir kritisiert werden, ist unvermeidlich. Unter diesen Auspizien entscheide ich mich: der Kontrast ist meiner Meinung nach vom Dichter gewollt. Die Zeitlosigkeit der Heldensage (Attila, Walthersage . . . ) ist der Gegenpol zur Zeitgebundenheit der Heldin; zwischen diesen Polen stehen die Figuren, die in einer bestimmten Funktionsabhängigkeit zur Protagonistin stehen.
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DEM ERSTEN ÄHNLICH Der Dichter ist bestrebt, den Aufbau des zweiten Teiles möglichst ähnlich dem ersten zu gestalten, doch nicht ganz symmetrisch. Der parallele Aufbau mehrerer Einzelszenen, etwa des Beginnes der 20. zur 6. Aventiure, ist unübersehbar. Wir erleben ebenfalls einen Neueinsatz, der am Ende der vorhergehenden Aventiure angekündigt wird, dann die Beratung. Die Ratgeber Etzels bleiben erst anonym; dann tritt Rüdeger namentlich hervor. Beim Eintreffen Rüdegers in Worms ist es wieder Hagen, der den Ankommenden als erster erkennt, wie in der 3. Aventiure bei der Ankunft Siegfrieds. Bis zu einem gewissen Grad übernimmt jetzt Kriemhild die Rolle Brünhilds: nach dem „invertierten Brautwerbungsschema" - in der Werbungssage hat eine fremde Frau (Brünhild) in die Familie hineingeheiratet, jetzt heiratet eine Frau aus der handlungstragenden Familie hinaus und bringt dadurch den Konflikt - ist Kriemhild zuerst zwar nicht über Etzel begeistert, aber doch mit ihm zufrieden, doch je länger die Ehe dauert, desto unglücklicher wird sie. Daß auch der Religionsunterschied, spät, aber doch, von Kriemhild als störend empfunden wird, nennt de B O O R einen „törichten Einschub". Ganz so töricht kann ich ihn nicht finden; das ständige Leben Kriemhilds in der Vergangenheit läßt sie schließlich auch Äußerlichkeiten - und eine solche ist ihr die Religion - als bedrückend empfinden. Es gibt verschiedene Maßnahmen, die ein Dichter ergreifen kann, vorgegebene Teile zu einem Ganzen zu integrieren. Am wenigsten Mühe bereiten kleine Querverweise, wie daß Siegfried am Etzelshof gewesen sein soll (was wohl nichts mit der Verwandtschaft Brünhilds und Atlis bei Snorri Sturluson zu tun hat). Das Prinzip der Vorverweise auf das Kommende ist wohl aus allgemeinen Gattungsmerkmalen mündlicher Volksepik geholt, doch durch seinen konsequenten Ausbau nicht nur Integrationsmittel, sondern auch Einheit schaffendes Stilmittel. Eine größere kompositorische Überlegung braucht auch die Gruppierung der Zeitblöcke, doch auch sie ließe sich in eine schon vorhandene Dichtung mit relativ wenig neuen Strophen integrieren. Eine völlige Neufassung des Stoffes wird jedoch bezeugt, wenn ganze Szenen der beiden Teile nach demselben Muster gearbeitet sind, wie 132
etwa die zitierten Werbungsszenen. Das heißt, man kann nicht sagen, der Dichter habe Werke unterschiedlichen Alters einfach aneinandergefügt und dabei seien unterschiedliche Gestaltungsprinzipien, Stilebenen und Weltanschauungen der ursprünglichen Teile erhalten geblieben. Er hat das ganze Werk reichlich nach seinen eigenen Vorstellungen geformt. Wenn sich doch die Gestaltungsweise und auch der geistige Hintergrund zu wandeln scheinen, suchen wir den Grund dafür besser in einer geplanten Fortentwicklung. Für seine Planung machte er allerdings, soweit es ging, Gegebenheiten der Tradition nutzbar. Freilich kann es auch einem klug planenden Dichter so ergehen, daß er sich durch die Ausgestaltung einer Szene Schwierigkeiten in einer anderen schafft, wenn dadurch die Tradition berührt wird: Daß Hildebrand Kriemhild erschlägt, nicht Dietrich, und daß die Apostrophierung Kriemhilds als vâlandinne Hagen in den Mund gelegt wird, ist sicher eine gelungene Neueinfuhrung. Die ältere, mit Hilfe der Thidrekssaga rekonstruierbare Form, daß Dietrich Kriemhild vâlandinne nannte, ehe er sie erschlug, hat er nicht getilgt, sondern die Beschimpfung Kriemhilds durch Dietrich weit vorverlegt, in Str. 1748: Kriemhild will den Burgundern die Waffen abnehmen, natürlich um den waffenlosen Hagen ermorden zu können. Sie sind aber gewarnt, und sie wünscht den Tod des Warners. Der Warner war Dietrich. Darf er deswegen einer Dame gegenüber aus der Rolle des Höfischen fallen? Nun, den Teufel hat wenige Strophen vorher Hagen beschworen, und zwar Kriemhild gegenüber, der Umgangston ist rauh. Dietrich weiß, was Kriemhild will, sie wünscht ihm (freilich ohne zu wissen, daß er derjenige war) den Tod - ist hier das Wort „Teufelin" fehl am Platz? De B O O R meint, so früh verliere es an Gewicht. „Verlieren" kann aber doch höchstens die Wiederholung. Und die könnte auch gewinnen, wenn das Motiv vorher entsprechend aufgebaut wurde. Muß Doppelung immer ein Fehler sein? Denken wir an Kompositionsprinzipien in der Musik! Die kunstvolle Steigerung ist auch in der Heldenepik Stilmittel, und von nu zuo, vâlandinne,
du soit mihs niht geniezen lân
Wohlan, Teufelin, du sollst mich dafür nicht büßen lassen zu den letzten Worten Hagens kann man wohl von Steigerung sprechen. O b die Wirkung auf den Zuhörer nicht vielleicht doch noch größer wäre, wenn statt des ersten vâlandinne ein etwas schwächerer Ausdruck stünde, bleibt trotzdem erwägenswert. Es gibt Stilfehler, für die manche Gattungen als Ganzes anfällig sind, oder, wertneutraler 133
formuliert, es gibt Eigenheiten von Gattungen, die aus deren besonderer Vortragsweise und Entstehungsgeschichte resultieren, die wir bei unserer Art der Lektüre als Schwächen empfinden. Nichts zu tun hat dies jedoch mit nur oberflächlicher Verschmelzung von Werkteilen.
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FREUDE UND LEID Friedrich M A U R E R hat in mehreren Arbeiten das Nibelungenlied unter dem Gesichtspunkt des leit in der Bedeutung „Beleidigung" und dem Wunsch nach deren Wiedergutmachung interpretiert. Ehre und Entehrung, und als Symbol dafür der Hort, spielen freilich eine große Rolle. Daneben ist das W o r t leit im Nibelungenlied aber auch in der heutigen Bedeutung vorhanden, und zwar an prominenten Stellen (Str. 17 und 2378): wie liebe mit leide
ze jungest Ionen kan
mit leide was verendet des kiiniges hShgezît, als ie die liebe leide ζ aller jungiste gît. Wie Liebe zuletzt mit Leid lohnen kann - Mit Leid endete das Fest des Königs, wie die Liebe zuletzt immer Leid gibt. Es geht nicht nur, wenn auch wesentlich, um Be/eidigung, sondern auch um den daraus und aus dem Ehrstreben resultierenden Schmerz, und auch um den natürlichen Schmerz über einen Verlust. Und gerade der ist das einzige, das am Schluß überbleibt, und hat den Verfasser der Klage zu seiner Dichtung inspiriert. Insofern ist zu fragen, ob die auf der vorhergehenden Reise zum Ausdruck kommende vröide nur Ausdruck des höfischen Hochgefühls ist, also die Vergänglichkeit speziell der höfischen vröide zum Problem gemacht wird, oder ob, weniger politisch aktuell, auf schichtenunspezifische, dafür überzeitlichere Phänomene der menschlichen Seele Bezug genommen wird. Im Gegensatz zu den sonstigen vielen Reisen im Nibelungenlied werden die Fahrten Kriemhilds und ihrer Brüder von Worms ins Hunnenland ausführlich beschrieben. Richtig ist natürlich, was man immer schon gesagt hat, daß der Dichter hier die besten Ortskenntnisse besitzt. Doch ist es wichtig, daß diese Reisen eine besondere Funktion erfüllen: Sie zeigen eine Utopie des reinen Glücks auf dem W e g ins Unglück. Utopie deshalb, weil die Protagonisten in teilweiser Kenntnis des Kommenden sich der vröide hingeben; man wende nicht ein, daß Kriemhild j a auf ein Gelingen ihrer Rache hofft. D e m
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Prinzip der Steigerung folgend, m u ß die vröide vor der Schlußkata-
strophe die höchste und scheinbar reinste sein, obwohl ja alle von Hagen über das Kommende informiert wurden. Hagen ist der einzige, der in Pöchlarn die Unglücksprophezeiungen nicht verdrängt und sich nur scheinbar der vröide der anderen hingibt, sondern mit Bedacht sein Gastgeschenk wählt. Dieser Pöchlarn-Bericht hat Eingang in die Schullesebücher gefunden, wohl wegen des Schönheitsideals des Dichters, das hier zum Ausdruck kommt. Das Schönheitsideal des Nibelungenliedes ist nicht das des höfischen Romans (Str. 1654): Gevelschet frouwen varwe vil lützel man da vani, si truogen ûf ir houbte von golde liehtiu bant (daz wären schapel riche), daz in ir schœne hâr zefuorten niht die winde: daz ist an den triuwen war. Hier sah man keine Frauen mit verfälschter Gesichtsfarbe. Sie trugen (als einzigen Schmuck) auf dem Haupte goldglänzende Bänder, das waren schöne Kränze, damit ihnen die Winde nicht die Haare zerzausten: das ist wirklich wahr.
Ähnlich sprach Walther in einem Gedicht, das von Herausgebern des vorigen Jahrhunderts gerne mit „Lob der deutschen Frau" betitelt w u r d e (es ist das G e d i c h t 56,14, dessen A n f a n g : ir suit sprechen
willeko-
men wir schon einmal zitierten): Übel miieze mir geschehen, künde ich ie min herze bringen dar daz im wol gevallen wolde vremeder site. nû waz hülfe mich, ob ich unrehte strite? tiuschiu zuht gât vor in allen. Von der Elbe unz an den Rih und her wider unz an Ungerlant Mugen wol die besten sin, die ich in der Werlte hân erkant. Kan ich rehte schouwen guot gelâz und Itp, sem mir got, só swüere ich wol daz hie diu wip bezzer sint dan ander frouwen. Schlimm wäre es um mich bestellt, wenn ich mich dazu bringen könnte, daß mir fremde Sitten gefallen. Wäs würde es mir helfen, wenn ich nicht die Wahrheit sagte? Deutsche Zucht ist besser als alle anderen. Von der Elbe bis an den Rhein und wieder zurück nach Ungarn sind wohl die besten, die ich in der Welt kennengelernt habe. Wenn ich gutes Betragen und körperliche Schönheit richtig beurteilen kann, bei Gott, dann würde ich wohl schwören, daß hier die Frauen besser sind als anderswo die Damen.
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Das Nibelungenlied schätzt die natürliche Farbe der Frauen mehr als durch Schminke fälschlich vorgespiegelte Schönheit, ähnlich wie Walter die frankophilen Damen nicht gefallen. Enite wird im Erec zwar als ärmlich, aber trotz ihrer zerschlissenen Kleidung schön geschildert. Im Nibelungenlied ist die natürliche Schönheit noch mehr, nämlich etwas, das durch die Schminke verdeckt, gemindert würde. In meiner Schulzeit hat man auf diese Strophe als „moralisch" vorbildhaft hingewiesen, weil sie einem damals geschätzten, heute als kleinbürgerlich entlarvten Ideal entsprach. Noch eine Generation vorher hatte es geheißen: „Die deutsche Frau wäscht sich, aber sie schminkt sich nicht." Siebenhundertfünfzig Jahre ungebrochenes Kleinbürgertum als Wegbereiter von Katastrophen? Ich glaube, diese Strophe hat es verdient, daß man sich um eine bessere Interpretation bemüht. Was die höfische Gesellschaft, Kriemhild, Hagen, aber auch die vorhöfische Adelskultur auszeichnete, war das Nichtzeigen der Gedanken und Gefühle, die seelische Maskierung. Die Heirat Giselhers mit Rüdegers Tochter wird (Str. 1677 f.) nicht zufällig von Hagen eingefädelt, der sich des Kommenden von allen am meisten bewußt ist und für den diese Heirat seines Herrn wohl denselben Stellenwert besitzt wie der Schild, den er von Rüdegers Frau erbittet. Rüdeger und seine Leute zeigen ungeschminkt ihre Gefühle und rechnen bei ihren Gästen in keiner Weise mit Verstellung. So bereitet Rüdeger seinen eigenen Tod vor: Do gap er Gemote ein wâfen guot genuoc, daz er sit im stürme vil hérUchen truoc. der gäbe im vil wol gonde des marcgrâven wip, dà von der guote Rüedegér stt muose vliesen den Up. Da gab er Gernot ein ausgezeichnetes Schwert, das der später im Kampf ruhmreich trug. Die Gabe gönnte ihm die Gattin des Markgrafen wohl; deswegen mußte dann der wackere Rüdeger das Leben verlieren.
Der Mann, der die Figur Rüdegers gestaltete, wirkte nicht nur in der Tradition der deutschen Heldensage. Rüdegers Problem ist auch nicht nur der allgemein menschliche Konflikt des Guten zwischen zwei Bösen wie der des Max Piccolomini; er ist konkret in Fragen des hochmittelalterlichen Lehnsrechtes eingekleidet. Man hat versucht, für diese aus dem Geiste des 12. Jahrhunderts und nicht der Heldensage lebende Figur ausländischen Einfluß nachzuweisen, etwa durch Pilger, die nach Santiago de Compostela zogen und dort das spanische Nationalepos vom Cid vortragen hörten, dessen Held aus einem ähnlichen Geist geschaffen ist. Doch die spanische Epenforschung hat ihr „ro137
mantisches Zeitalter" mittlerweile schon hinter sich, und die Vorlage der erhaltenen Fassung des C i d (die Handschrift stammt aus dem 14. Jahrhundert) wird heute von kaum j e m a n d e m mehr weiter als 1207 zurückdatiert. Literatur zur Datierung des Cid verzeichnet Colin des Poema de mio Cid (jüngste Auflage 1982).
SMITH
in seiner Ausgabe
D i e Namensähnlichkeit der Helden - Rodrigo gegen Rüdeger - hat wohl eher nur Forscher des 20. Jahrhunderts als auch den Verfasser des mittelhochdeutschen Epos Biterolf und Dietleip zu Assoziationen veranlaßt, sicher nicht das Nibelungenlied oder seine Quellen. M a r k g r a f Rüdeger wird schon in einem Loblied des Metellus Tigurinus ( = von Tegernsee; u m 1160) auf den heiligen Quirinus, den Patron seines Klosters, bezeugt: (Miles agros ...) Alme Quirine, tuos rapuit, Quos orientis habet regio Flumine nobilis Erlafia, Carmine Teutonibus celebri Inclita Rogerii comitis Robore seu Tetrici veteris. Der wilde Soldat, gütiger Quirinus, plünderte deine Felder, die im Osten in der Gegend liegen, die durch den Fluß Erlauf bekannt ist, und die berühmt ist durch ein bei den Deutschen bekanntes Lied von der Kraft des Grafen Roger ( = Rüdeger) und des alten Tetricus (= Dietrich). Nicht viel j ü n g e r ist wahrscheinlich eine Spruchstrophe, die in den Liederhandschriften einem Spervogel zugewiesen wird (Minnesangs Frühling 25,33): Do der guote Wernhart an dise welt geborn wart, do begonde er teilen al sin guot. do gewan er Rüedegers muot, Der saz ze Bechelxre und pftac der marke menegen tac: der wart von stner vrumecheit so mcere. Als der edle Wernhard geboren wurde, begann er all sein Gut auszuteilen. Da nahm er die Gesinnung Rüdegers an: der hatte in Pöchlarn geherrscht und lange die Mark geschützt. Der wurde durch seine Vortrefflichkeit so berühmt. Jochen SPLETT, Rüdiger von Bechelaren, Heidelberg 1968 138
Man hat richtig gesehen, daß die Interpretation der Figur Rüdegers entscheidend fiir die Aussage des Gesamtwerks ist. Trotzdem konnte keineswegs Einhelligkeit erzielt werden. An Beobachtungen seiner Stellung im W e r k ist wohl nicht zu übersehen, daß er in einer gewissen, aber nicht sklavisch durchgeführten Parallelität zu Siegfried im ersten Teil steht. V o n all denen, die ihr Leben verlieren, sind die beiden die Sympathieträger ihres Teils. Gehen auch sie durch Schuld zugrunde? Oder unschuldig durch die Schuld anderer? An Siegfried ist leicht moralische Schuld zu finden: D e r Werbungstrug, die Ü b e r heblichkeit, die sogar aus seiner freiwilligen Unterordnung spricht, wiegen zwar schwer, doch nicht schwer genug, um den M o r d zu rechtfertigen, und vor allem hat er denen gegenüber, die den M o r d zu verantworten haben, keine Schuld auf sich geladen, sondern einzig gegenüber Brünhild. Rüdeger dagegen wird nicht heimtückisch gemordet. Heimtücke zeigte Hagen eher in Pöchlarn, als er sich und seine Herren von Rüdeger wafFnen ließ und durch die Verlobung ihn außerdem an sich band. Rüdeger fühlt sich in einem Konflikt und ist bereit, sein Leben hinzugeben, w o er keinen Ausweg sieht. Hagen ist dagegen wohl entschlossen, seine Haut teurer zu verkaufen. D e B O O R kommentiert Rüdeger: „In dem letzten Gespräch mit den Burgunden enthüllt sich noch einmal seine seelische Größe. Hagen erkennt sie an, indem er statt seines zerhauenen Schildes von Rüdeger dessen neuen erbittet und erhält." V o n einem nüchternen Standpunkt ausgehend könnte man die W o r t e „erkennt sie an" durch „nützt sie aus" ersetzen. Nun gibt es widersprechende Deutungen von Rüdegers Konflikt: die eine, daß die christliche Nächstenliebe ihn dazu verpflichten würde, auf der Seite seiner Schwäger zu kämpfen, und seine Sünde sei, daß er die formal-lehnsrechdiche Bindung an Etzel und Kriemhild höher, werte. Die andere scheint mir besser durch den T e x t und die sozialen Gegebenheiten des Mittelalters gestützt zu sein: Rüdeger hat K r i e m hild ebenso persönliche Versprechungen, die über die Lehnspflicht hinausgehen, gemacht wie ihren Brüdern. Ebenso ohne bis zuletzt zu ahnen, daß sie damals schon diese Bitte mit Hintergedanken äußerte. Rüdeger erkennt das Außere seiner Gesprächspartner nicht als Maske. Dietrich erschrickt über die Naivität Rüdegers, als er die Nibelungen begrüßt und erfährt, daß Rüdeger sie nicht gewarnt hat (Str. 1723): er wand ez weste Rüedeger,
daz erz in hête geseit.
Er hatte gewähnt, Rüdeger habe es gewußt und ihnen gesagt. Persönliche Eide hat Rüdeger also nach beiden Seiten geleistet, diese heben sich auf. Sympathie, mehr noch, angebahnte familiäre Bezie-
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hungen verbinden ihn mit den Nibelungen; lehnsrechtliche Verpflichtungen hat er gegenüber Kriemhild. Und da ist es um 1200 keine Frage, was schwerer wiegt. Auch wird er (Str. 1676 und öfters) als von Etzel abhängiger Flüchtling gezeichnet, doch ohne die Stellung, die Dietrich zukommt, der nur in einem freiwilligen Abhängigkeitsverhältnis zu Etzel steht. Rüdeger besitzt nicht die Stellung, aber auch nicht die Einsicht und die Entscheidungsgröße eines Dietrich. Seine Argumente gegenüber Kriemhild: Er habe die Gäste ins Land gebracht, seine ewige Seligkeit stehe auf dem Spiel, er sei bereit, seine Lehen zurückzugeben, helfen ihm deshalb nicht, weil er selbst nicht an die Wirkung seiner Worte glaubt. Doch kein christlicher Dichter hätte ihn für die Entscheidung, wie er sie traf, getadelt. Auch der Dichter der Klage, der in christlicherem Geist schreibt, tut dies nicht. Rüdeger geht an seiner Schwäche zugrunde, die nur durch die Schlechtigkeit seiner Umgebung einen Anstrich von Schuldhaftigkeit bekommt. U m eine Frage können wir uns hier nicht drücken: ist die Schuld Rüdegers im Sinne der christlichen Lehre zu sehen? Seine eigenen Worte könnten darauf hindeuten. Falls Rüdeger nicht schuldig ist: handelt er aus einer christlichen Lebenshaltung? Ich glaube, wir müssen abwägen, ob die Frage, die in dieser Form schon oft gestellt und verschieden beantwortet worden ist, nicht anders zu stellen ist. Wenige Sätze sind in der Nibelungenforschung so mißverstanden worden wie Goethes Äußerungen „Der christliche Cultus ohne den mindesten Einfluß. Helden und Heldinnen gehn eigentlich nur in die Kirche um Händel anzufangen", „die Motive durchaus sind grundheidnisch. Keine Spur von einer waltenden Gottheit" oder „In den Nibelungen ist ein eherner Himmel, keine Spur von Göttern, von Fatum. Es ist bloß der Mensch auf sich gestellt und seine Leidenschaften." Die Landschaft, in der das Nibelungenlied aufgezeichnet wurde, war damals seit etwa 700 Jahren christianisiert. Der Dichter konnte sich unter „Heidentum" höchstens das vorstellen, was man von den Kreuzzügen aus dem Heiligen Land berichtete. Er konnte sich einen heidnischen Herrscher, der in Kontakt mit der christlichen Welt kam, nicht wie den historischen Attila denken, auch nicht wie den ungarischen König Geiza, der zu der Zeit lebte, als möglicherweise unter Pilgrim in Passau irgendeine die Nibelungen betreffende Aufzeichnung gemacht wurde, sondern bestenfalls wie Sultan Saladin oder was von diesem in Mitteleuropa erzählt wurde. Heidnische Germanen waren dem Dichter und seiner Zeit, aber auch schon den Generationen vor ihm und den Verfassern seiner Vorlagen fremd. Es gab gar 140
keinen Anlaß, „Christliches" „Heidnischem" gegenüberzustellen. Auch am Etzelshof geschieht das nicht. Etzel wird zwar als tugendreich geschildert, obwohl Heide, aber das wird nicht etwa dadurch begründet, daß auch er als Heide ein Geschöpf Gottes ist. W i e ein religiöses Werk solche Themen behandelt, sei Wolframs Willehalm ein Beispiel: Die Heiden sollen im Kreuzzug niedergemetzelt werden; Gyburc bittet in Mitleid und christlicher Nächstenliebe um Schonung und gibt auch eine theologische Begründung: „schönt der gotes hantgetât. ein heiden was der erste man den got machen began. " „Schont die von Gott eigenhändig Geschaffenen. Der erste Mensch, den Gott formte, war kein Christ." Wenn wir die Meinung vertreten haben, daß Motive der Nibelungensage teilweise aus heidnischen Mythen herstammen, heißt das doch keinesfalls, und das haben wir immer betont, daß man sich dessen in Österreich um 1200 bewußt gewesen sein könnte (anders in Skandinavien). Und dergleichen haben auch Aussagen ernstzunehmender neuzeitlicher Intetpreten über „Heidentum" im Nibelungenlied nicht gemeint. Trotzdem ist man berechtigt, nach speziell Christlichem in einer Dichtung zu fragen, selbst wenn für die Epoche das Christentum eine Selbstverständlichkeit ist. Dabei geht es nicht um Klerusfreundlichkeit oder -feindlichkeit. Daß der Kaplan eine komische Rolle spielt, kann Klerusfeindlichkeit eines Dichters vermuten lassen - etwa Walther von der Vogelweide bekennt sich deutlich als Feind des Klerus -, sagt aber noch nichts über seine oder im Werk zum Ausdruck kommende Religiosität. Es geht auch nicht um die Frage, ob der Dichter theologische Kenntnisse besaß wie Wolfram. Christentum besteht vor allem im Glauben und im Gottvertrauen. Und Rüdeger wendet sich genau so wenig wie die anderen Figuren vertrauensvoll im Gebet an Gott. Der Name Gottes wird zwar von allen Figuren häufig im Munde geführt; am meisten von Hagen, aber die Mutigen unter ihnen vertrauen eigentlich niemandem außer sich selbst, vor allem, wenn sie befürchten, sie könnten ihre Ehre verlieren, und die Feigen suchen Hilfe bei anderen Menschen, aber weder bei Gott, wenn man es von der Seite der Religion betrachtet, noch bei ihrem Beichtvater, wenn man nach der Position des Klerus frägt. Die maschinell erstellte Konkordanz zum de B O O R - Text von Franz H. B Ä U M L und Eva-Maria FALLONE weist 82 Belege von got, gote, gotes aus; von tiuvel, valant und ihren Ableitungen nur 16. So besehen wäre das 141
Nibelungenlied ein frommer Text. Durch die dankenswerte Anordnung der Konkordanz nach Strukturformeln (die allerdings von den Autoren zum Zweck der Erforschung des Oral-Poetry-Anteils im Nibelungenlied gewählt wurde, den sie wahrscheinlich in der vorliegenden Form nicht erfüllen kann) läßt außerdem erkennen, daß es sich oft um fast identische Halbzeilen, also formelhafte Wendungen, handelt. Allein 15 mal kommt in derselben Halbzeile wie got auch Ion, der Imperativ zu „lohnen", vor; in Wendungen wie „Nun lohne Euch (ihm, dir . . . ) Gott", „Gott lohne Euch . . . " . Und wo es sich nicht nur um Konversationsfloskeln handelt, sondern die Figuren tatsächlich Gott um etwas bitten, ist das Erbetene Sünde: Kriemhild bittet ihn um Rache für Siegfried (Str. 1046) oder gar um die finanziellen Mittel, selbst die Rache vollziehen zu können (Str. 1247): Do bat si got vil dicke foiegen ir den rat, daz si ze gebene hête golt silber uttde wat Da bat sie Gott immer wieder, er möge ihr dazu verhelfen, daß sie Gold, Silber und Kleidungsstücke besäße, die sie verschenken könne.
Was Rüdeger erbittet, ist nicht Hilfe, sondern gar, in voller Verzweiflung, der Tod (Str. 2153): „Owe mir gotes armen, daz ich ditz gelebet hân. aller miner êren der muoz ich abe stdn, triuwen unde zühte, der got an mir gebot. owe got von himele, daz mihs niht wendet der tot!" „Oweh mir Gottverlassenem, daß ich das erlebte. Auf all meine Ehre muß ich verzichten, die Treue und die Rechtschaffenheit, die Gott mir geboten hat. Oweh, Gott im Himmel, schicke mir den Tod, damit er dies abwende!"
Doch keine dieser 82 Erwähnungen Gottes zeigt eine Figur in der Erfüllung christlicher Pflichten, formale ausgenommen. Keiner lebt Christentum. Manchmal steht Gott sogar an zweiter Stelle nach einem Menschen: „IM unde got von himele
klag ich unser not"
„Euch und Gott im Himmel klage ich unsere N o t "
ruft Dankwart Hagen zu. Wenn der Dichter dies thematisieren und die Katastrophe darauf zurückführen würde, wäre das Nibelungenlied eine christliche Dichtung. Doch auch er, zumindest soweit er als Erzähler für uns faßbar wird, enthält sich in dieser Hinsicht des 142
Kommentars. Und das sagt viel, wenn man bedenkt, wie ausgiebig der Erzähler sonst das Verhalten der Figuren kommentierend hervortritt. Für den Leser hat er die Sünde der religiösen Oberflächlichkeit mit seinen Figuren gemeinsam. Es wurde gefragt, ob Tragik in religiöser Dichtung möglich ist. Für den Christen ist der Tod nicht unbedingt Anlaß zur Trauer; der Priester trägt beim Begräbnis nicht Schwarz, sondern Violett. Doch der Trost der Religion wird vom Erzähler genau so wenig geboten wie von einem derer, die seinen Namen im Munde fuhren, gesucht. Nun, wenn den Figuren auch die geistige „Nabelschnur zu Gott" fehlt, so ist dies ein allgemeines Kennzeichen weltlicher im Gegensatz zu religiöser Dichtung. Man kommt nicht auf den Gedanken, einen Gutteil der Weltliteratur der letzten Jahrhunderte als „urheidnisch" zu bezeichnen. Auch Erek und Iwein sind in diesem Sinne durchaus diesseitige Figuren (anders ist es bei Wolfram von Eschenbach, der in seinen Werken immer seiner christlichen Lebenshaltung Ausdruck gibt). Doch enden diese Werke nicht tragisch, so daß sich die entscheidende Frage nach dem Trost der Religion gar nicht stellt, und vor allem wird der Name Gottes in ihnen nicht so oft benutzt, daß dem Leser die Diskrepanz zwischen Worthülsen und fehlendem gefühlsmäßigem Inhalt aufgedrängt wird. Niemandem entgeht, daß im Nibelungenlied gerade Hagen am weitaus häufigsten Redeformeln verwendet, die das W o r t „Gott" enthalten, bis zu seinen letzten Worten (Str. 2371): „den schaz den wetz nu niemen wan got unde min: der sol dich, vâlandinne, immer wol verholn sin. " „ W o der Schatz ist, weiß nun niemand außer Gott und mir. Der wird vor dir, du Teufelin, immer verborgen bleiben."
Wenn dies Absicht des Erzählers ist, dann aber nicht von der Position des Warners: „Tuet Buße und bekehret euch", sondern von der Position eines nicht im gesellschaftlichen, aber im religiösen Sinn achristlichen Menschen. Seine Zuhörer, inklusive der gemäßigt antipäpstliche Bischof Wolfger, mögen ähnliche Charakterzüge besessen haben, aber auch der Dichter, zumindestens in seiner Funktion als Erzähler, steht in der Position des nicht auf Gott vertrauenden Pessimisten. Das letztlich Bedrückende am Nibelungenlied ist also nicht, daß der Himmel nicht vorkäme, sondern daß er verschlossen ist.
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DIE EHRE Diu vil michel ère
was da gelegen tot.
beginnt die vorletzte Strophe. Dies ist der 140. und letzte Beleg von ere im Nibelungenlied. U n d ère ist hier nicht nur die bekannte Stilfigur, daß die Person durch ihre wichtigste Eigenschaft ersetzt wird (eine Form der Metonymie), also „die so außerordentlich ehrenwerten Leute lagen alle tot da", sondern gleichzeitig auch die der Personifikation: die Ehre, personifiziert gedacht, ist mit ihnen zugrunde gegangen. Eben diese Ehre, fur die sie ihr Leben geopfert haben, kann sie nicht überleben. Der einzige, der bereit scheint, auf fragwürdige Ehre zu verzichten, ist Dietrich von Bern, und er ist auch der, dessen Handlungsweise am Schluß dem Bibelwort „Stecke dein Schwert in die Scheide! Denn alle, die zum Schwert greifen, k o m m e n durch das Schwert u m " (Matth. 26,52) entspricht. Zumindest wörtlich. Aber dem Sinn nach? Dietrich hat ja zum Schwert gegriffen und auch seine Gegner damit verletzt und geschwächt. Hätte er es nicht getan, so hätten sie ihn getötet. Nachdem er, als stärkster Held, sie auch im Ringkampf, also unblutig, bezwingen kann, kann er als Stärkster sich zu dieser „christlichen", aber doch nicht ganz christlichen Handlungsweise entschließen. Einem Schwächeren bliebe gar keine Wahl. Aber auch Dietrich vollzieht sein humanes Handeln nicht aus christlichem Gebot, sondern (Str. 2351): Do daht der herre Dietrich: „du bist in not erwigen. ich hâns lützel ère, soltu tot vor mir geiigen, ich wil ez sus versuochen, ob ich ertwingen kan dich mir ze einem gtsel. " daz wart mit sorgen getan. Da dachte Herr Dietrich: „Du (Hagen) bist v o m Kampf geschwächt. Es bringt mir keine Ehre, wenn ich dich töte. Ich will versuchen, ob ich dich vielleicht bezwingen und als Geisel nehmen kann." Das vollbrachte er mit großer Mühe.
Das heißt, hier, w o eine vorbildliche Konfliktlösung gezeigt werden soll (und darin sind sich fast alle Interpreten einig; nichtsdestoweniger gibt es auch die Auffassung, daß Dietrich v o m Dichter moralisch 144
negativ bewertet werde!), w i r d nicht als Alternative Gottvertrauen gegen Gottlosigkeit gestellt, sondern ein Ehrbegriff gegen den anderen. D o c h weder der (negativ bewertete) Ehrbegriff der anderen noch der (positiv bewertete) Dietrichs (und in *B auch positiv bewertete Rumolds: er was ein helt zer hant „er war ein wackerer Held"; Str. 1518) entsprechen dem des miles christianus, d e m des „christlichen Ritters". Auch fehlt d e m Nibelungenlied das christlich humanitäre Weltbild W o l f r a m s v o n Eschenbach, f ü r den vor Gott alle Menschen gleich sind: D e m Erzähler sind ein paar hundert oder ein paar tausend K ö p f e nicht viel, w e n n es sich nicht u m Fürsten, besonders hervorragende Helden oder deren Freunde handelt. W o l f r a m v o n Eschenbach etwa hat an keiner Stelle seiner W e r k e mit so sichtlichem Vergnügen Massenabschlachtungen geschildert wie das Nibelungenlied in der 4. Aventiure, aber auch in den Schlußkämpfen. Drt widerkére „Dreimal hin u n d zurück" (Str. 206) d u r c h m i ß t Siegfried das feindliche Heer, das heißt er durchdringt die Schlachtlinie u n d bahnt sich durch die Feinde eine Gasse, i n d e m er alle vor sich, links u n d rechts von sich tötet. Drei kêre schafft auch W o l f h a r t (Str. 2292). D a n k w a r t geht, ebenfalls wie ein Schnitter durchs K o r n , zweimal hin u n d her (Str. 1947), und Rüdeger schafft es in Str. 2213 i m m e r h i n einmal: Der also dem daz
vogt von Bechelâren gie wider unde dan, der mit eilen in stürme werben kan. tet des tages Rüedeger harte wol geltch, er ein recke wcere, vil küene unt ouh vil lobelîch.
Der Herr von Pöchlarn ging einmal hin und zurück (das heißt, wie oben beschrieben, zwei Reihen Feinde niedermähend), wie einer, der kraftvoll zu kämpfen versteht. An dem Tag zeigte Rüdeger, daß er ein mutiger und rühmenswerter Held war. W e n n der Spielmann Volker wie der Teufel k ä m p f t , tut es sogar Hagen, den w i r als Vertreter der gesellschaftlichen O r d n u n g kennengelernt haben, leid, daß er den Standesunterschied zu Volker bisher beachtet hat, u n d er bietet i h m , sollten sie jemals h e i m k o m m e n , den Platz an der Tafel neben sich an. D o c h nicht nur die A u g e n Hagens sieht m a n bei diesem Lob Volkers förmlich leuchten, sondern auch die des Erzählers. W a s betrauert wird, sind nicht Menschenleben, sondern Heldenleben. D a ß Hildebrand sein Leben durch die Flucht vor Hagen rettet, scheint ihn i m m e r h i n in den A u g e n des Erzählers so abzuwerten, daß der Schlag gegen eine Frau zu seinem Charakter paßt (über den Schlag gegen den Sohn i m Hildebrandslied haben wir schon gesprochen). 145 10
Trotzdem unterscheidet sich der Ehrbegriff Dietrichs und des Erzählers von dem der übrigen: Dietrich hat nicht Angst, Nichtkämpfen würde ihm als Feigheit ausgelegt. Auch er greift zur Waffe, als Hagen ihn persönlich herausfordert. Doch tut er zuerst alles, diese Herausforderung zu vermeiden, während die jugendlichen Heißsporne unter seinen Leuten, allen voran Wolfhart, sich geradezu nach dem Heldentod gesehnt hatten und Volkers Spottreden gerne als Anlaß genommen hatten, Dietrichs Befehl, Frieden zu halten, zu brechen. URSACHE U N D SCHULD Es sind verschiedene Fragen und verschiedene Antworten, wieso es zur Katastrophe kam und welche persönliche Schuld den einzelnen zuzusprechen ist. Ab der Ermordung Siegfrieds scheint alles unaufhaltsam auf den Untergang zuzugehen. Eine Reaktion löst die andere wie automatisch aus, da alle vorherberechenbar reagieren, und zwar wie es ihnen die Angst vor dem Ehrverlust gebietet. Das System der Hetzrede, wie wir es von den Skandinaviern, aber auch von den homerischen Helden kennen und das es wahrscheinlich in ähnlicher Form in jeder Kultur gibt, in der Krieger Mann gegen Mann kämpfen müssen (auch die Gattung der Spottrede, die gefuhrt wird, um eine Wirtshausrauferei zu provozieren, gehört dazu), scheint gut zu funktionieren: Z u m Kampf sind die Gegner von vornherein bereit. Der eine beginnt mit einer ironischen Bemerkung, die die Ehre des anderen trifft, der andere repliziert (wenn die Beleidigungen geistreich sind, wird das geschätzt), und nach ein paar solchen Wechselreden sind die Gegner gereizt und wild genug, um aufeinander loszuschlagen. Daß das System funktioniert, wird dadurch sichergestellt, daß in diesen Kulturen das Erschlagen des Gegners als einzige Möglichkeit gilt, Ehrverlust zu vermeiden. Knapp vor Schluß, als freilich ein Großteil der Katastrophe sich schon vollzogen hat, scheint es durch die abweichende Haltung Dietrichs und Hildebrands noch die Möglichkeit zu geben, wenigstens die letzten Überlebenden zu retten. Doch es ist gruppendynamisch hochinteressant, wie sich die zornigen jungen Männer um Dietrich, von der Länge ihrer Rollen Nebenfiguren, zu strukturell wichtigen Figuren entwickeln, das heißt zu solchen, die in den Verlauf der Handlung entscheidend eingreifen. Der Grund dafür, daß Nebenfiguren die Entscheidungen an sich ziehen, mag Dietrichs Zaudern sein. Er verleiht seinem Befehl, Hildebrand möge allein zu den Burgundern gehen (Str. 2247) nicht den 146
nötigen Nachdruck, sondern setzt sich deprimiert in eine Fensternische. Ist Dietrich auch ein „schwacher K ö n i g " , der das U n h e i l dadurch herbeifuhrt, daß er seinen Willen nicht durchsetzt? W a s a m U n t e r g a n g der B u r g u n d e r „eigentlich" schuld sei, ist leicht beantwortet, w e n n m a n v o n ihrer superbia ausgeht. D o c h w i r d m a n das so leicht nicht beantworten, w e n n m a n differenzierter nach d e m Anteil der einzelnen an der Schuld, abgesehen v o n der Kollektivschuld, fragt. N o c h schwieriger wird es, w e n n wir den Anteil eines unvermeidbaren Schicksals bestimmen wollen, das der einzelne, besonders Hagen, vorhersieht, d e m er sich aber nicht zu entziehen versucht, sondern das er, w e n n es schon sein m u ß , noch befordert. Soll es n u n das Ziel der Interpretation sein, fiir jede Figur eine Zensur zu erarbeiten? D e r Dichter der Klage hat dies getan. Seine A n t w o r t m u t e t uns zu rationalistisch an, und m e h r als eine rationalistische A n t w o r t k ö n n t e unsere Wissenschaft auch nicht geben. Seine U n t u gend, das Geschehene i m nachhinein breitzutreten, sollten wir bei der Interpretation v o n Kunstwerken vermeiden, so gut es geht. D e r Dichter des Nibelungenliedes zeigt uns die Klage der Überlebenden, gibt aber zu ihr keinen langen K o m m e n t a r m e h r ab. D e n n die letzte Meisterschaft, die er uns zeigt, ist das rechtzeitige Verstummen.
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VERZEICHNIS DER FÜR D E N ANFÄNGER WICHTIGSTEN LITERATUR Jede wissenschaftliche Arbeit über das N L muß von der bei Werner H O F F M A N N , N L (Sammlung Metzler), Stuttgart 5. Aufl. 1982 verzeichneten Literatur ihren Ausgang nehmen; weitere ältere Spezialhteratur zu Einzelfragen erschließt die N L - Bibliographie von Willy K R O G M A N N und Ulnch PRETZEL, 4. Aufl. Berlin 1966. Ich begnüge mich daher hier mit der Angabe einiger Arbeiten, die ich zur begleitenden Lektüre neben der Vorlesung (in Auswahl) empfehle.
AUSGABEN Das N L . Paralleldruck der Handschrift Α, Β und C nebst Lesarten der übrigen Hss., Hg. Michael S. B A T T S , Tübingen 1971. Der Nibelunge Noth und die Klage, Hg. Karl L A C H M A N N . 6. Auflage (betreut von Ulrich PRETZEL), Berlin 1960. Das N L nach der Ausgabe von Karl B A R T S C H , Hg. Helmut de B O O R , 13. Auflage Wiesbaden 1956 (seither zahlreiche kaum veränderte Neuauflagen). Das N L nach der Hs. C, Hg. Ursula H E N N I N G , Tübingen 1977. Diu Klage mit den Lesarten sämtlicher Hss., Hg. Karl B A R T S C H , Leipzig 1875 (Neudruck Darmstadt 1964).
ÜBERSETZUNGEN in Versen: Karl SIMROCK (heute nur mehr rezeptionsgeschichtlich interessant), Helmut de BOOR, Felix GENZMER (nach C) in Prosa: Helmut BRACKERT DIE WICHTIGSTE LITERATUR Siegfried BEYSCHLAG, Das N L in gegenwärtiger Sicht, in: Zur germanisch-deutschen Heldensage. 148
Siegfried BEYSCHLAG, Das Motiv der Macht bei Siegfrieds Tod, in: Zur germanisch-deutschen Heldensage. Helmut BIRKHAN, Zur Entstehung und Absicht des NL, in: Österreichische Literatur zur Zeit der Babenberger (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 10), Wien 1967. Helmut de BOOR, Hat Siegfried gelebt? in: Zur Germanisch-deutschen Heldensage. Helmut de BOOR, Das Attilabild in Geschichte, Legende und heroischer Dichtung, Bern 1932 (Neudruck 1963). Helmut BRACKERT, Beiträge zur Handschriftenkritik des N L ( = Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 135 = N. F. 11), Berlin 1963. Zur GERMANISCH-DEUTSCHEN HELDENSAGE, Hg. Karl H A U C K (Wege der Forschung 14), Darmstadt 1965. Andreas HEUSLER, Nibelungensage und Nibelungenlied, 5. Aufl. 1955. Otto HÖFLER, Die Anonymität des NL, in: Zur Germanisch-deutschen Heldensage. Werner HOFFMANN, Das N L in der Literaturgeschichtsschreibung von Gervinus bis Bertau, in: Hohenemser Studien. Werner HOFFMANN, N L (Sammlung Metzler), Stuttgart 5.Aufl. 1982. Werner HOFFMANN, Das Siegfriedbild in der Forschung, Darmstadt 1972. HOHENEMSER Studien zum NL, Hg. A. MASSER u. I. ALBRECHT ( = Montfort Heft 3/4 1980), Dornbirn 1981. Karl Heinz IHLENBURG, Das N L - Problem und Gehalt, Berlin 1969. Hans K U H N , Heldensage vor und außerhalb der Dichtung, in: Zur germanisch-deutschen Heldensage. Wolfgang MOHR, Geschichtserlebnis im altgermanischen Heldenliede, in: Zur Germanisch-deutschen Heldensage. Bert NAGEL, Das NL, Stoff - Form - Ethos. 2. Aufl. 1970. N L - A U S S T E L L U N G HOHENEMS: Ausstellungskatalog des Vorarlberger Landesmuseums Nr. 86, Hg. Elmar V O N B A N K , Bregenz 1979. N L und Kudrun, Hg. Heinz RUPP (Wege der Forschung 54), Darmstadt 1976. Friedrich PANZER, Nibelungische Ketzereien, PBB 72 (1950), 73 (1951) und 75 (1953). 149
Burghart WACHINGER, Studien zum NL, Tübingen 1960. Burghart WACHINGER, Die Klage und das NL, in: Hohenemser Studien. Kurt WAIS, Frühe Epik Westeuropas und die Vorgeschichte des NL, Tübingen 1953. Gottfried WEBER, Das NL - Problem und Idee, Stuttgart 1963.
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Fabulae mediaevales, Band 4, herausgegeben von Helmut Birkhan.
Von Lieben und Hieben Altfranzösische Geschichten.
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Entstanden vom 12. bis zum 14. Jahrhundert, zeichnen diese schwankhaften Kurzerzählungen der Fabliaux mit derben Strichen ein buntes, ausgelassenes Bild von Mensch und Welt, in dem liebestolle Pfaffen, geldgierige Mönche, verführte Mädchen, listige Ehefrauen, eifersüchtige Ehemänner, rebellische Weiber, denen nur mit Prügeln beizukommen ist, ritterliche Junker, angesehene Kaufleute, kluge Handwerksmeister, Scholaren, die sich mit Verstand und Witz durchs Leben schlagen, Mägde, Knechte, tölpelhafte Bauern . . . gleichermaßen ihre Rolle spielen. Die vorliegenden Übersetzungen in neuhochdeutsche Prosa wollen diese merkwürdigen Zeugnisse aus einem gar nicht so finsteren Mittelalter einem größeren Publikumskreis zugänglich machen. Man vermag noch heute über diese Geschichten zu lachen — nicht ohne sich dabei Gedanken über eine Welt zu machen, in der Grobheit, Lüge, Betrug und animalischer Trieb triumphierten.
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