172 14 6MB
German Pages 127 [128] Year 1979
BEIHEFTE ZUR Z E I T S C H R I F T FÜR R O M A N I S C H E P H I L O L O G I E B E G R Ü N D E T VON GUSTAV
GRÖBER
F O R T G E F Ü H R T V O N WALTHER VON HERAUSGEGEBEN VON KURT
Band 173
WARTBURG
BALDINGER
VITO R. G I U S T I N I A N I
Neulateinische Dichtung in Italien 1850-1950 Ein unerforschtes Kapitel Italienischer Literatur- und Geistesgeschichte
MAX N I E M E Y E R VERLAG T Ü B I N G E N 1979
Gedruckt'mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Neulateinische Dichtung in Italien 1 8 5 0 - 1 9 ( 0 [achtzehnhundertfünfzig bis neunzehnhundertfünfzig]:
e. unerforschtes Kap. ital. Literatur- u. Geistesgesdiichte / Vito R. Giustiniani. Tübingen: Niemeyer, 1979. (Zeitschrift für romanische Philologie : Beih.; Bd. 173) ISBN 3-484-52079-5 N E : Giustiniani, Vito R. [Hrsg.]
ISBN 3-484-52079-5
ISSN 0084-5396
© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1979 Alle Redite vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten/Allgäu Einband: Heinr. Koch, Tübingen.
Inhaltsverzeichnis
Vorrede
V
Einführung 1. Neulateinische Diditung in Europa zwisdien Renaissance und Romantik 2. Aufleben neulateinischer Diditung in Europa und in Italien während der Romantik 3. Exkurs: Humanistisdie Schultradition in Italien und neue deutsche Unterrichtsmethoden 4. Anzeidien einer Wende in der neulateinischen Diditung Italiens: Diego Vitrioli j . Themen, die sich antik behandeln, modern empfinden lassen . . 6. Die neulateinische Versnovelle: Pascoli und seine Nachfolger . . 7. Gültigkeit und Grenzen der neulateinisdien Versnovelle . . . . 8. Ottocento-Diditung und nadiantike lateinische Literatur . . . . 9. Ottocento-Diditung in italienischer und lateinischer Spradie 10. Exkurs: Die semantisdie Relatinisierung der italienischen Lyrik während des Ottocento Texte I. Guido Baccelli 1. An L. Cadorna (1916) II. Anton Giulio Barrili 2. An Giosue Carducci (1883) III. Alfredo Bartoli 3. Der Sarg des Unbekannten Soldaten IV.
V. VI. VII. VIII.
ι j 9 12 18 20 27 jo 33 37 38 39 39 39 40
wird nach Rom
überfährt
(1923) Midiele Ferrucci 4. Inschriß für das im Teutoburger Wald zu errichtende Hermannsdenkmal (1840) j. An Alessandro Manzoni (1871) Luigi Galante 6. Agrippa auf Befehl von Tiberius auf Pianosa ermordet (1915) . . Vittorio Genovesi, S.J 7. Hymne zu Maria Himmelfahrt (1950) Giuseppe Giacoletti, Sch.P 8. Gefahren der Dampfmaschine (1863) Giovan Battista Giorgini 9. Epigramm (1862? 1867?) 10. Pompejanisdje Fresken (1865)
41 42 43 44 45 45 47 47 48 49 jo ji $2
V
IX.
X.
XI.
XII.
XIII.
XIV. XV. XVI.
XVII.
XVIII.
11. Seifenblasen (1872?) 12. Das Fahrrad (1897) Papst Leo XIII. (Giovacdiino Pecci) 13. Die Photographie (1867) 14. Letzter Wunsch (1897) IJ. Rätsel (?) Alessandro Manzoni 16. Gruß gefangener Vögel an die frei dahinfliegenden Enten (1868) 17. An Michele Ferrucci (1870) Nello Martineiii 18. Ovid wird seine väterliche Liebe zu Julia und Agrippa Postumus zum Verhängnis (1953) Ugo Enrico Paoli 19. Rätsel (1928) 20. An Günther Jachmann (1957) 21. Florentinische Ναώί (i9$7) Giovanni Pascoli 22. Vorabend des Martinstages (1895) 23. Gastmahl (?) 24. Christi Tod am Kreuz (1901) Giovanni Prati 2j. Schelmenstreiche eines geliebten Hundes (1867) Francesco Sofia-Alessio 26. Am Grab seiner beiden verstorbenen Kinder (1917) Niccolö Tommaseo 27. G. Barbieris Landhaus in Torreglia (1818) 28. An Enrico Rainati (1819) Diego Vitrioli 29. Die Rosen, an die junge Cypassis (?) 30. Uber zwei sich umarmende Skelette, die bei den Ausgrabungen in Pompeji unweit der Thermen aufgefunden wurden (?) 31. Epigramm gegen die deutschen Philologen (?) 32. Ubersetzung von B. Sestinis Ode An die Ναώί (?) (Ital. Text derselben) Giacomo Zanella 33. Alkäische Ode (1884)
(mittellateinische Metren) XIX. Cesare de Titta 34. Glanz des römischen Papsttums (1907) XX. Olindo Guerrini 35. Clam (O deliciae deliciarum 1878) (XIII.) Giovanni Pascoli 36. Pomposa (1910) Anhang 1: Literatur Anhang 2: Die in Amsterdam angenommenen Dichtungen Anhang 3: Lateinische Antrittsvorlesung Namensregister VI
JJ 54 55 $5 j6 J7 57 $8 59 59 60 62 62 63 63 64 65 68 69 70 71 72 72 74 7j 77 78 79 81 84 84 8$ 86 86 87 87 88 89 90 90 92 99 108 m
Vorrede Doridi uxori multos dilectae per annos ού μέν γάρ τοΰ γε κρεϊσσον και δρειον ή δθ'όμοφρονέοντε νοήμασιν οίκον Ιχητον άνήρ ήδέ γυνή Od. 5.182-184
D a s 19. Jahrhundert ist in ganz Europa eine Zeit tiefgehender Wandlungen auf allen Gebieten geistigen Schaffens und besonders in der Dichtung. K e i n Wunder, d a ß sich die Aufmerksamkeit der Forscher den Neuerungen z u wandte, in denen sie die echten Strömungen der Zeit erkannten, und eine Randerscheinung wie das Aufleben lateinischer Dichtung in Italien - wenigstens als Ganzes gesehen - unbeachtet ließen. W a r diese quantitativ auch nicht zu übersehen, mutete sie doch den Neuphilologen w i e ein alter Z o p f außerhalb der Zeit, in der sie stand, ja im Widerspruch z u dieser an. In den A u g e n der Altphilologen w a r sie wiederum so etwas wie bloße Liebhaberei und Abklatsch antiker Vorbilder, denen sie sich lieber widmeten. Der breiten Masse der Leser w a r diese lateinische Dichtung wegen der sprachlichen Schwierigkeiten wenig zugänglich, so d a ß sie nie ihr angemessenes Publikum f a n d 1 . Doch zeigt eine eingehendere Beschäftigung mit der italienischen Latinität zwischen 1850 und 1950, daß wenigstens ihre repräsentativsten Vertreter gar nicht so abseits v o m Geistesleben ihrer Zeit stehen und 1
Die Gleichgültigkeit gegenüber der zeitgenössischen lateinischen Dichtung ist in Deutschland vielleicht noch ausgeprägter als in Italien. Noch 1947 konnte ζ. B. ein Mediaevist wie Otto Schumann schreiben: «Außer H. Weller wüßte idi audi aus unserem Jahrhundert keinen lateinischen Dichter von irgendwelcher Bedeutung zu nennen» (Die lateinische Literatur als geschichtliche Gesamterscheinung, in: Romanischen Forschungen, Bd. 60, S. 605-616, S. 616). Aber auch in Italien sind außer Pascoli und allenfalls Vitrioli und Leo XIII. keine Namen allgemein bekannt. In den großen Nachschlagewerken ist kaum eine Erwähnung dieser Dichter und ihrer Schriften zu finden. Weder der Dizionario Enciclopedico della Letteratura Italiana (Verlag Laterza, Bari), noch der Dizionario Critico della Letteratura Italiana (Verlag UTET, Torino) noch die Storia della Letteratura Italiana (Verlag Garzanti, Milano) berücksichtigen die moderne Latinität. Der Dizionario Biografico degl'Italiani (soweit dessen Bände erschienen sind) führt R. Carrozzari, aber ζ. B. nicht A. Bartoli an. Im Dizionario delle Opere e dei Personaggi (Verlag Bompiani, Milano) erscheint Vitriolis Xiphias (der wiederum in Kindlers Literaturlexikon verschwunden ist), aber nicht Pascolis Pomponia Graecina oder Thaliusa. Desgleichen gibt es keine neulateinischen Texte in den großen Reihen «Scrittori d'Italia» (Verlag Laterza, Bari), «Classici UTET» (Torino), «Storia e Testi» (Verlag Ricciardi, Napoli-Milano), «Classici Rizzoli» (Milano) usw. Nur bei M a z z o n i (s. Lit.-Anh.) ist Material über die neulateinische Dichtung im 19. Jhrh. zu finden; auch der Parnaso Italiano (Bd. 10/2, Poeti dell'Ottocento, hrsgg. v. C. M u s c e t t a und E. S o r m a n i . Torino 1968, S. 1420-1459) führt einiges von D. Vitrioli und Leo XIII. an. VII
nicht nur Variationen alter Motive anbringen. Weit davon entfernt, die letzten, leblosen Epigonen einer nunmehr erschöpften Tradition zu sein, sind sie f ü r alle Anregungen der Zeit empfänglich. Ihnen ist der Versuch gelungen, ein neues Gleichgewicht zwischen Stoff und Geist, d. h. zwischen antiker, erstarrter Sprache und neuen, sich aufdrängenden Inhalten herzustellen. Somit ist diese Dichtung weder neulateinisch (die Bezeichnung wird hier der Zweckmäßigkeit halber beibehalten) noch klassizistisch im eigentlichen Sinn dieser Worte. Es ist etwas Einzigartiges, das überhaupt neue Fragen über das Verhältnis zwischen Sprache und Dichtung stellt: eine Problematik, die die Grenzen und den Rahmen dieser Forschung überschreitet. Was diese Dichtung von der Antike übernimmt, ist nur das Sprachmaterial, d. h. Wortschatz und Grammatik, die sich streng an die klassische Latinität halten. Aber die in der literarischen Diskussion des Cinquecento geheiligten und seither f ü r die neulateinische Dichtung verbindlichen Gattungen und sonstigen Formen, die diese bis dahin auf festen Bahnen geleitet hatten, werden aufgegeben. Der Stil entfaltet sich frei, die Handhabung der rhetorischen Mittel ist neu, im Geiste sind Erfahrungen und Erlebnisse lebendig, die in der modernen Dichtung zutage kommen. Mit anderen Worten, Italiens lateinische Dichtung des 19. Jahrhunderts kann, soweit sie diese Züge aufweist, als eine Stilvariante der nationalsprachigen Dichtung angesehen werden, mit dem Unterschied, daß jenes Ιξαλλάξαι vom Üblichen und Bekannten, das nach Aristoteles das Wesen der Dichtung bestimmt 2 , und das die italienischen Dichter des frühen Ottocento in einer sich ans Latein unmittelbar anlehnenden Erneuerung ihrer Sprache bei einzelnen Worten und Konstruktionen gesucht hatten, hier auf die gesamte Sprache ausgedehnt und somit ins Extreme getrieben wird. Dies ist das eigentliche Ergebnis vorliegender Forschung. Mehr als eine auf Italien übertragene Bestätigung von Goethes Bemerkung über Johannes Secundus und Balde, daß der Deutsche sich treu bleibt, gleichgültig in welcher Sprache er auch dichtet 3 , ist das Aufleben des Lateins in Italien im vorigen Jahrhundert aus einer inneren Forderung der im Ottocento an einer Krise angelangten italienischen Dichtungssprache erwachsen. Die vorliegende Arbeit ist ein erster Versuch, diese Erscheinung in ihrem Verhältnis zur früheren neulateinischen und zur modernen nationalsprachigen Dichtung zu sehen. Der Einführung folgt eine leider sehr kleine Auswahl von Texten, die zum Teil der erneuernden Richtung, zum Teil dem Fortleben traditioneller Formen (Tommaseos georgisches Stück aus den Jahren noch vor den ersten Ansätzen der Erneuerung, Papst Leos X I I I . und Paolis kleine Gelegenheitsgedichte) angehören, um den Unterschied zu veranschaulichen. Einige von ihnen sind nur wegen ihres kulturgeschichtlichen Interesses in die Auswahl aufgenommen worden (Baccelli, Barrili, Manzoni, Prati, Zanella). 2 3
Rhetorica, i404b8. Deutsche Sprache (Schriften zur Literatur, 1817), in: Werke, Artemis Verlag, Bd. 14, S. 266-267.
VIII
Längere Dichtungen wie ζ. B. Vitriolis Xiphias oder Pascolis Pomponia Graecina bzw. Thallusa mußten ausgelassen werden: sie sind leicht zugänglich, und es erschien zweckmäßig, hier die weniger geläufigen Texte zu bevorzugen. Als erster und bescheidener Versuch kann diese Arbeit keinen Anspruch auf Vollständigkeit stellen. Sie ist aus meiner Antrittsvorlesung als Privatdozent an der Universität Freiburg vor mehr als zwanzig Jahren entstanden und anschließend erweitert worden. Ich konnte mich aber von ihr all diese Zeit nicht trennen, bis ich erkannte, daß ich sie entweder in der bestehenden Form oder überhaupt nicht veröffentlichen konnte: nun ist leider Horazens Empfehlung «nonum prematur in annum» mehr als um das Doppelte überschritten worden. Ich habe nur versucht, den Literaturanhang für die moderne Epoche zu ergänzen, obwohl die einschlägige Literatur m. W. in den letzten Jahren nicht wesentlich fortgeschritten ist. Für die ältere Zeit besteht jetzt Ijsewijns ausgezeichneter Companion of Neo-Latin Studies (s. Literaturanhang), der eine ausführliche Bibliographie erübrigt. In einem weiteren Anhang folgt die vollständige Liste aller 1845-1978 im Certamen Hoeufftianum angenommenen Dichtungen: für die Übersendung dieser Liste, die eine wertvolle Ergänzung zum Literaturanhang darstellt, danke ich der Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen verbindlichst. Desgleichen danke ich auch allen Gelehrten, die mir bei meinen Nachforschungen behilflich gewesen sind: Dr. D. Pieraccioni in Florenz, den Piaristen-Patres ebenfalls in Florenz, Pater L. Pagello, S. J . in Rom, besonders aber Frl. Dr. A. Lenzuni, Bibliothekarin der Marucelliana in Florenz, Dr. R . Signorini an der Biblioteca Statale in Lucca, Frau H . von Laue an der Library of the University of Massachusetts, Harbor Campus, in Boston, Mass. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Bonn-Bad Godesberg gilt mein besonderer und aufrichtiger Dank für den Druckkostenzuschuß, der die Veröffentlichung dieser Arbeit ermöglicht hat. Die lateinische Einführung zu meiner Antrittsvorlesung im Juli 1956 füge ich als dritten Anhang in Erinnerung an jenen für mich denkwürdigen Tag bei.
IX
Einführung Et dixit ad me: fili hominis, putasne vivant ossa ista? Ez. 37.3 Et nemo mittit vinum novum in utres veteres Mk. 2.22 Men build their houses from the masonry Of ruined tombs Longfellow, Michelangelo, Dedic. i. Neulateinische Dichtung in Europa zwischen Renaissance und Romantik Das Dichten in lateinischer Sprache ist in Europa nach der Renaissance, während der es wieder einen Höhepunkt erreicht hatte, nie von der literarischen Bühne verschwunden. Die Errungenschaften jener Zeit, die Erschließung und Wiederherstellung der klassischen Latinität und die Herausbildung eines lateinischen Stils auf klassischer Grundlage hatten den Dichtern der späteren Zeit den Weg geebnet und das Zustandekommen einer sicheren «neulateinischen» Tradition in Prosa und Dichtung ermöglicht, die dann durch Jahrhunderte hindurch geblüht hat. Die durchschnittliche Handhabung der Sprache und der Metren hält in den darauffolgenden Jahrhunderten weiter ein hohes Niveau, wird sogar, auf gesamteuropäischer Ebene gesehen, immer flüssiger und müheloser. Auch die Zahl der Lateindichter bleibt in Italien, in den Niederlanden, in Deutschland überall groß oder wächst noch an, und unter diesen Dichtern finden sich immer wieder einzelne von Wert und Rang 1 . Doch 1
Zu diesen zählen ζ. B. die Engländer John Owen (1 $64-1622), der sich mit seinen Epigrammen audi im Ausland großer Beliebtheit erfreute; George Herbert (1593 bis 1633: Works, hrsgg. v. F. E. H u t c h i n s o n . Oxford 1941, S. 3840., und Latin Poetry, hrsgg. u. übersetzt v. M. M c C l o s k e y and P. R. M u r p h y . Ohio U P 1965); John Milton, der Verfasser von Paradise Lost (1608-1674); Ridiard Crashaw (1612-1649: The Poems, English, Latin and Greek, hrsgg. v. L. C. M a r i n . Oxford 1957, und The Complete Poetry, hrsgg. v. G. W a l t o n W i l l i a m s . New York 1972). Über ihn vgl. M. P r a z , R.C. Brescia 1945 (= Secentismo e Marinismo in Inghilterra. Firenze 1925, 2. Teil, mit grundlegenden Ausführungen über das Wesen des Barock-Epigramms); vgl. auch Β i n n s . Für weitere englische Dichter vgl. B r a d n e r . Unter den Deutschen verdienen erwähnt zu werden: Jakob Balde S . J . (1604-1668: Dichtungen, lt. und dt. in Auswahl, hrsgg. von M. W e h r l i . Köln und Ölten 1963); Simon Rettenbacher O . S . B . (1634-1706: Lyrische Gedichte, hrsgg. v. T. L e h n e r . Wien 1893); Michael Denis S . J . (1729-1800). Vgl. D e B o o r - N e w a l d , Geschichte der deutschen Literatur, Bd. 5 und 6/1. München 1957-59. Für Polen sei an Μ. K . Sarbiewski S . J . gedacht (1595-1640: Poemata omnia, hrsgg. v. F. I. F r i e d e m a n n . Leipzig 1840; in: Przeklady poetöw polsko-lacinskich epoki Zygmuntowskiej, t. 4-5. Wilno 1 8 5 1 ; hrsgg. v. T. W a l l . Starawiei 1892; The Odes, mit der engl. Obersetzung v. G. Hills, hrsgg. v. M. S. R o e s t v i g . Los Angeles, University of California Press 1953). Über ihn vgl. A. B a c c i , De M. C. S. Polonorum Horatio, in: Latinitas, Bd. 2 (1954), S. 9 4 - 1 0 1 . Bei den Italienern treten hervor: Papst Urban V I I I . (Maffeo Barberini, 1568-1644) und I
entbehrt diese neulateinisdie Dichtung immer mehr des Lebens und des Glanzes, die sie bei der Generation der Italiener M. Flaminio (f 1550), G. Fracastoro (t 15 53), G. Vida (f 1556) und des Niederländers Jan Everaerts (Johannes Secundus, f 1536) in so hohem Grade gekannt hatte. Die Verlagerung des Hauptanliegens auf die Form, d. h. die streng festgelegte formale Schulung, die Ausbildung immer beengender Dichtungsregeln hatten die äußere Vollkommenheit dieser Dichtung gefördert, sie aber zugleich weitgehend zum inneren Stödten gebracht. Das 17. und das 18. Jahrhundert sind in der Geschichte der nachantiken lateinischen Literatur die dritte Epoche, die auf Mittelalter und Renaissance folgt, und die dadurch gekennzeichnet wird, daß nicht nur ihre Formen erstarrt sind und sein müssen, sondern auch, daß das Latein jeden Anspruch auf literarische Allein- oder Vorherrschaft, ja auf jede Gleichberechtigung mit den Nationalsprachen endgültig verloren hat. In der Randstellung, mit der es sich jetzt abfinden muß, kann es zunächst noch eine praktische Funktion als internationales Verständigungsmittel im Staats- und Reditsleben2, wo es auf stereotype, genau festgesetzte Begriffe und Formeln ankommt, und in den für ein internationales Publikum bestimmten wissenschaftlichen Werken 3 erfüllen, dann erlischt auch diese seine letzte Verbindung mit dem Alltag, und literarisch führt es nur ein komplementäres Leben; was natürlich nicht bedeutet, daß die lateinischen Spradikenntnisse beim gelehrten Publikum geringer werden4. Im Gegenteil: das Latein bleibt in der Hauptsache Ludovico Sergardi (Quintus Sectanus, 1670-1726), vgl. audi weiter unten, Anm. 1 1 . Audi von G . B . Vico und L. A . Muratori liegen lateinische Gedichte vor und sind in modernen Ausgaben zugänglich: G. Β. V., L'autobiografia, il carteggio e le poesie varie, hrsgg. v . B. C r o c e und F. N i c o l i n i , 2. Aufl. Bari 1929 (Scrittori d'Italia, 1 1 ) ; I d e m , Versi d'occasione e scritti di scuola, hrsgg. v. F. N i c o l i n i . Bari 1941 (Scrittori d'Italia, 183); L. Α. M., Carmina, hrsgg. v. T. S o r b e I i i . Modena 1958. T. Tasso ist der letzte große Italiener der Renaissance, der sich audi in der lateinischen Dichtung versucht hat, ohne daß diese aber in seinem Gesamtwerk den Platz einnimmt, den sie ζ. B. noch bei Ariost innehat; vgl. E l l i n g e r , S. 31 j . Für das Jesuitendrama vgl. weiter unten Anm. 7. 2
3
4
Als Amtssprache behauptete sidi das Latein, außer in Polen und in Ungarn, im Reidi wohl am längsten. Der Rastätter Frieden (1714) ist der erste internationale Vertrag von Bedeutung, der nidit mehr lateinisch sondern französisdi verfaßt ist. Die letzte bedeutende wissenschaftliche Abhandlung, die auf Latein geschrieben worden ist, ist m.W. C. F. G a u s s , Intensitas vis magneticae terrestris ad mensuram absolutam revocata (1833). Es ist hier nicht der Platz, auf den Lateinunterricht in dieser Zeit einzugehen. Vgl. f ü r Deutschland F. P a u l s e n , Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den dt. Schulen und Universitäten, 2 Bde., 2. Aufl. Leipzig 1897 und P. D e t t w e i l e r - W . F r i e s , Didaktik und Methodik des lat. Unterrichts, 3. Aufl. München 1 9 1 4 , S. 3-9, sowie Pädagogisches Lexikon (hrsgg. v. H . S c h w a r t z ) , Bd. 3. Bielefeld u. Leipzig 1930, s.v. Es sei bemerkt, daß in dieser Zeit Lehrbücher entstehen, die sidbt jahrhundertelang bewähren und verbreiten werden, ζ. B. die Regia Parnassi, die ganzen Generationen das beliebteste Lateinwörterbudi und die erste Anleitung zum Verfassen lateinischer Verse wurde. Ihr Autor ist un-
2
Erziehungsmittel, eine A r t grammatische Einleitung zu den Nationalspradien, oder rhetorische Schulung zum Schreiben in diesen, oder eine «Denkgymnastik» 5 , inhaltlich wohl ein Schlüssel zum antiken Gedankengut für Theologen, Philosophen, Juristen u. ä., im ganzen eine bloße Angelegenheit der Schule. Es zieht sich auch in diese zurück. In der lateinischen Dichtung des 1 7 . und 18. Jahrhunderts spielt die Schule eine vorwiegende Rolle®. Das lateinische Drama, das sich in dieser Zeit sogar weiter entfaltet als in der Renaissance, zeugt auch von keiner stärkeren Vitalität des Lateins, es ist nur für die Jesuiteninternate bestimmt7. Erbauungs- und Erziehungszwecken wird auch die Lyrik dienstbar gemacht, die in den katholischen Ländern auch fast völlig in die Hände der Jesuiten, der Erzieher par excellence, übergeht. Die lateinische Dichtung findet jetzt keine Resonanz mehr beim breiten Publikum, kein Lateindichter steht mehr im Vordergrund des literarischen Geschehens, keiner, nur Milton vielleicht ausgenommen, zeigt sich in der lateinischen Dichtung ebenso schöpferisch wie in der muttersprachlichen, kein neulateinisches Dichtungswerk gehört mehr zu den großen literarischen Leistungen der Zeit. Nach dem noch von Goethe so bewunderten Johannes Secundus sind die Einflüsse der neulateinischen auf die nationalsprachige Dichtung spärlich8, es handelt sich allenfalls um Wechselwirkungen, die bezeugen, bekannt, war möglicherweise ein P. Vaniere S.J. oder vielmehr ein P. F. Vavasseur S.J. Ihre erste Ausgabe ist ebenfalls unbekannt, 1679 wurde sie als editio nova neu aufgelegt. Vgl. Bibliotheque de la Compagnie de Jesus (hrsgg. v. C. S o m m e r v o g e l ) , Bd. 8. Paris-Bruxelles 1898, Sp. 450. Bd. 10 dieses Werkes (1909), S p . 1 1 4 4 - 1 1 6 1 enthält eine Liste aller compositions latines, sujets religieux, Sp. 1 1 6 1 - 1 2 3 7 aller compositions latines, sujets profanes, die von Jesuiten verfaßt worden sind, Sp. 1286-1305 enthält eine Liste aller pieces de theatre. 5 Dieser Gedanke wirkt schon bei Melandithon und gestaltet später als eine Selbstverständlichkeit den ganzen Unterricht, wird aber erst am Ende des 18. Jahrhunderts ausdrücklich geprägt (F. A. Wolf, Fr. Gedicke, Α . H. Niemeyer). • Zur Dichtung im Unterricht schreibt z . B . die Ratio studiorum vom J . 1599 folgendes vor: «nullam det cuipiam, praesertim diuturnam, nisi gravi de causa, a versibus (Latinis) et Graecis discendis immunitatem» (Reg. Praef. Stud. Inf. § 3 1 ) ; «carmina poterunt initio quidem soluto solum verborum ordine, etiam verbis aliquibus immutatis, ad extremum facillimo argumento cum multa locutionum varietate dictari» (Reg. Prof. Supr. Classis Grammaticae § 7). Vgl. Ratio studiorum et institutiones scholasticae S.J., hrsgg. v. G. Μ. Ρ a c h t i e r , Bd. 2. Berlin 1887, S. 364, 432 und passim (Monum. Germ. Paedagog., Bd. 5). 7 Die beste Kurzdarstellung des Jesuitendramas liegt m. E. im Oxford Companion to the Theatre, hrsgg. v. Ph. H a r t n o l l , 2.Aufl. 1957, S . 4 1 J - 4 2 2 vor. Vgl. audi F. C o l a g r o s s o , Saverio Bettinelli e il teatro gesuitico. Firenze 1901. Ein Verzeichnis der in Deutschland aufgeführten Dramen enthält J . M ü l l e r , Das Jesuitendrama. Augsburg 1930; vgl. audi oben, Anm. 4; vgl. audi im allgemeinen G. B o z z o , Per una storia del teatro gesuitico. Bari 196$. 8 Gemeint sind hauptsächlich die Anregungen, die Gryphius und M. Rignier J . Balde bzw. L. Sergardi zu verdanken haben. Uber Goethe und Johannes Secundus, vgl. Maximen und Reflexionen, Nr. 362, in: Werke, Artemis-Ausgabe, 3
daß das Latein sich den neuen Zeiten anzupassen beginnt, eine Erscheinung, auf die noch zurückzukommen ist, und die f ü r unser Vorhaben eine entscheidende Rolle spielen wird. Zwisdien den lateinischen Dichtern besteht kein autonomer literarischer Zusammenhang mehr, sie sind isolierte Erscheinungen, die zueinander nur durch die allgemeine literarische K u l t u r in Verbindung stehen. Die Entwicklungsmöglichkeiten der lateinischen Dichtung liegen jetzt nicht mehr in ihr selbst, sondern nur noch in ihrer Fähigkeit zur A u f nahme und Verarbeitung der von den Nationalliteraturen ausgehenden Impulse. Sofern diese Neulateiner nicht auf der Stelle treten wollen, müssen sie immer wieder ein neues Gleichgewicht herstellen zwischen ihrem v o n vornherein unveränderlichen Stil und dem Inhalt, der sich außerhalb der lateinischen Tradition ändert. Somit entsteht sdion im 17. und 18. Jahrhundert eine A r t von Spannung zwisdien Form und Inhalt, die aber zunächst nidit akut w i r d und keine ausgesprochene Erneuerung der lateinischen Dichtung bewirkt. Die herkömmlichen Formen blühen weiter und genügen jeweils den neuen Interessen. In der lateinischen Dichtung der Barockzeit erscheint das Aktuelle als Streben nach Wirkung durch W i t z , Ausgefallenheit, Scharfsinn, Züge, die in der neusprachlichen Dichtung z u Hause sind, obwohl sie auch schon in den Epigrammen der damals sehr verbreiteten Anthologia Graeca (Planudea) reichlich z u m Vorschein kommen®. O b dann die Vorliebe der Barock-Zeit für das Bd. 9, S. 538 sowie oben, Vorwort, Anm. 3. Außerdem G. E l l i n g e r , Goethe und Johannes Secundus, in: Goethe-Jahrbudi, Bd. 13 (1892), S. 199-210. * Vgl. bei H. F r i e d r i c h , Epochen der italienischen Lyrik. Frankfurt 1964, S. 591-592 den italienischen Text und die deutsche Übersetzung eines in dieser Hinsicht bezeichnenden Sonetts von Maffeo Barberini (Papst Urban VIII.). Hier wird der lateinische Text angeführt (M.B. Poemata. Romae 1631, S. 154): In fontem miri artificii epigramma Largior angusta primum defertur in auras Inde magis lata subsilit unda via; Exprimit hinc patulum tenui cratera liquore: Quid gelidam sitiens non bibis hospes aquam? Nam cui lympha sitim mira non provocet arte? Ipse calix lympha est, ipsaque lympha calix. Owens und Crashaws Einfluß auf die neuspradiige Epigrammatik ist oft unterstrichen worden, und in der Tat mag die Kürze und Prägnanz des lateinischen Ausdrucks den deutschen und spanisdien Epigrammatikern als Vorbild gegolten haben. Jedenfalls kam es mehr auf die Form als auf den Inhalt an. Man vermißt eine eingehende Studie darüber. Ein einschlägiger Beitrag fehlt in der Sammlung G. Ρ f o h l , Das Epigramm. Zur Geschichte einer inschriftlichen und literarischen Gattung. Darmstadt 1969. Vgl. E. U r b a n , Owenus und die deutschen Epigrammatiker des ij. Jahrhunderts. Berlin 1900. Vgl. oben Anm. 1 und F. R. H a u s m a n n , Martial in Italien, in: Studi Medievali, 3. F., Bd. 17 (1976), S. 173-218. Was die Anthologia Graeca betrifft, so wurde sie als Planudea 1494 von Lascaris in Florenz gedruckt, als Palatina 1604 in Heidelberg entdeckt, aber eine Zeitlang nicht veröffentlicht. Schon Boccaccio hatte durch Leonzio Pilato eine Idee
4
Epigramm die Verbreitung der Anthologia Graeca gefördert hat, oder ob im Gegenteil die Anthologia Graeca das Vorbild für das nationalsprachige und neulateinische Epigramm der Barockzeit gewesen ist, bleibt zu sehen: fest steht, daß die Blüte dieser kurzen und konzentrierten Form das Kennzeichen der neulateinischen Dichtung im 17. Jhrh. bildet. Im 18. Jhrh. kommt wieder, besonders in Italien, das Lehrgedicht zu Ehren. Es wurde mit Vorliebe auf damalige Neuheiten und Errungenschaften angewendet 10 . Auch die moralische Satire zur Genesung der Gesellschaft - ein Hauptanliegen der italienischen Dichtung im 18. Jahrhundert, das in Parini seinen besten Ausdruck findet - wurde gerne in diese herkömmliche Form gekleidet 1 1 .
2. Aufleben neulateinischer Dichtung in Europa und in Italien während der Romantik A m Anfang des 19. Jahrhunderts weckt die Romantik in ganz Europa ein neues Interesse f ü r das Altertum. Das Bild der Antike ändert sich: sie wird nicht mehr mittelbar durch die Tradition der früheren Jahrhunderte, gleichsam nach dem Hörensagen, rezipiert, sondern in ihrer Wirklichkeit unmittelbar und konkret erfaßt. Diese neue Einstellung findet vornehmlich in der Entstehung einer kritischen Geschichtsschreibung, einer neuen Altertumswissenschaft und Archäologie ihren Ausdruck. Eine weitere Folge ist die tiefergehende, systematische Erforschung der klassischen Sprachen und der überlieferten Texte, die in Deutschland zur Gründung einer vergleichenden Sprachwissenschaft und einer modernen Philologie führt. A l l diese Dinge, die im Laufe des 18. Jahrhunderts allmählich reif geworden waren (in Ita-
10
11
von ihr bekommen. Petrarca muß ebenfalls etwas von ihr gewußt haben, wenn ein topos aus ihr in einem seiner am meisten rhetorisierten Sonette benutzt wird (Son. 189 Passa la nave mia, vgl. H u t t o n , S. 46). Schon im 18.Jahrhundert gibt eine lateinische Diditung über das Flugwesen: B. Z a m a g n a , S.J., Navis aeria. Roma 1768. Anregung dazu waren die Theorien P. F. L a n a s , S.J., gewesen. (Ebenfalls schreibt G. B. M a z z o l a r i , S.J., eine Abhandlung über die Elektrizität: Electricorum libri VI. Roma 1757). Auch Kakao und Chinarinde werden zum Gegenstand neuer Lehrgedichte (T. S t r o z z i , S.J., De mentis potu seu de cocolatis opificio, in: Poemata varia. Napoli 1689; vgl. C r o c e , S. 153; G. B. V i g o , Cortex Peruvianus. Torino 1773.) 1786 und 1796 veröffentlichte G. B u g a n z a , S.J., in Florenz und Verona zwei Bände mit dem Titel: Poesie latine sopra argomenti di costume moderno e familiare. Lateinische Vorläufer vonParinis Giorno waren G. L. L u c c h e s i n i , S.J., (16381712), In antimeridianas improbi iuvenis curas, in: Specimen didascalici carminis et satyrae. Roma 1672, sowie L. S e r g a r d i (Q. Sectanus), Satyrae. Napoli 1696: vgl. N a t a l i , S. 523; C r o c e , S. 157 und G. C a r d u c c i , Storia del Giorno, in: Opere, ed. naz., Bd. 14, S. 147. Die naturwissenschaftliche Dichtung auf Latein (Botanik, Astronomie usw.) ist hauptsächlich im 18. Jahrhundert entstanden. ί
lien kommen deren erste Ansätze schon bei G. B. Vico zutage), sind bekannt und brauchen hier nicht eingehender behandelt zu werden. Diese Erneuerung kommt aber audi der literarischen Pflege des Lateins in ganz Europa zugute. Auch die lateinische Dichtung erhält dadurch überall einen starken Auftrieb. Die Erneuerung der Schule, die jetzt eine prozentual zahlreichere und sozial bunter zusammengesetzte Schicht von Lernenden in Berührung mit der antiken Welt bringt, trägt auch dazu bei, die lateinische Dichtung zu neuem Leben zu erwecken. Bei ihrer Förderung spielen auch die ihr gewidmeten internationalen und nationalen Preise eine Rolle. Unter diesen ist der erste und bei weitem der wichtigste das jährliche Certamen Poeseos Latinae in Amsterdam. Dieses wurde seit seiner Gründung im Jahre 1845 immer mehr zum Sammelpunkt und zur treibenden Kraft in der Entwicklung der neulateinischen Dichtung, so daß es aus ihr nicht wegzudenken ist 12 . Seine J a h 18
Über Jacob Hendrik Hoeuffts ( 2 9 . 7 . 1 7 5 6 - 1 4 . 2 . 1 8 4 3 ) Stiftung vgl. Nieuw Nederlandsch Biografisch Woordenboek, Bd. 3. Leiden 1914, Sp. 595-596: «bij uiterste wilbesdiikking had hij aan het Kon. Ned. Instituut (thans Kon. Akad. van Wetensdiappen) bovenbed. legaat vermaakt, met het doel, daaruit jaarlijks uit te loven - tot opwekking van den toen reeds verflauwden lust voor de beoefening der latijnsdie poezie - een gouden of zilveren eereprijs voor het beste latijnsdie dicht werk». Er war selbst Lateindiditer und hatte sich um die Pflege der früheren lateinischen Dichtung in Holland verdient gemacht (vgl. Lit.-Anhang). In Italien wurden zeitweilig ein Certamen Ruspantinianum und ein Certamen Locrense abgehalten. Ersteres wurde von Teodorico Ruspantini ( 1 4 . 3 . 1 8 5 8 9. 4. 1917) gestiftet und der Philosophischen Fakultät der Universität Rom zur Verleihung anvertraut (ca. 1200 Lire jährlich). Zuletzt wurde der Preis an P. Vittorio Genovesi (vgl. § VI) 1940 vergeben. Seit dem letzten Krieg ist dieses Certamen nicht mehr ausgeschrieben worden. Das Certamen Locrense war eine Stiftung Carmelo Triumviris (1891-1956) in Locri (Gerace Marina, R C ) . Es wurde 1926 mit ähnlichen Bedingungen wie das Certamen Hoeufflianum ins Leben gerufen, ging aber bald ein. Außerdem kommt in Italien jährlich ein Certamen Capitolinum nur für lateinische Prosa zustande. In der Vatikanstadt schreibt die Zeitschrift seit 1953 einen jährlichen Preis für lateinische Dichtung und Prosa aus (vgl. Latinitas, Bd. 1 [1953], S. 243-245). Über all diese Wettbewerbe vgl. I j s e w i j n , S. 14-20. In England gibt es seit ungefähr 1769 den Chancellor's Prize for Latin Verse, vom Universitätskanzler Earl of Litchfiled (1762-1772) gestiftet (auch lateinische Prosastücke und englische Essays werden ausgezeichnet). Er ist den Studenten vorbehalten, die nicht länger als vier Jahre in Oxford immatrikuliert sind. Eine vollständige Liste der Gewinner bis 1900 ist im Oxford Historical Register erschienen, eine weitere bis 1920 in einem Ergänzungsband. Weitere gelegentliche Preise sind in den letzten Jahrzehnten immer wieder ausgeschrieben worden, so ζ. B. zum 50. Jahrestag von Italiens Einigung wurde von der Stadt Rom 1 9 1 1 eine Goldmedaille mit 1000 Goldliren für eine lateinische Dichtung gestiftet. Die sechs besten Gedichte wurden in Rom im gleichen Jahr unter dem Titel: Carmina praemiis et laudibus in certamine poetico ornata quod SPQR edidit in diem natalem Orbis anno ab Regno Italico instituto L solemniter celebrandum veröffentlicht. Audi während des Faschismus wurden immer wieder nationale und regionale Preise ausgeschrieben, so ζ. B. der Wettbewerb Dux und 1930 ein Preis zur 2. Jahrtausendfeier Vergils. Vgl. audi Text N r . 34. 6
reshefte verfolgen, heißt weitgehend, wenn auch nicht vollständig, die Geschichte der neueren lateinischen Dichtung in Europa aus erster Quelle kennenlernen. Deswegen beginnen auch unsere Aufzeichnungen mit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Eine ähnlich wichtige Rolle bei der Förderung der neulateinischen Dichtung haben audi die vielen in ganz Europa nach und nach zur Pflege des Lateinschreibens gegründeten lateinischen Zeitschriften belletristischer Prägung gespielt 18 . Auch in Italien wird jetzt ein neues Interesse für die Antike wach. Neue Zentren klassischer Bildung entstehen im bürgerlichen Milieu, so ζ. B. in der Romagna 1 4 , aber auch in Piemont 15 und Neapel, während solche früher außerhalb der gelehrten Tradition eines Priesterordens oder Priesterseminars (wie ζ. B. des berühmten Priesterseminars in Padua) kaum denkbar gewesen wären. So erfährt die lateinische Dichtung auch in Italien eine neue Blüte: quantitativ gesehen hatte sie eine solche nur in der Renaissance gekannt, und die Italiener liefern zweifelsohne den wichtigsten Beitrag zum Certamen Hoeufitianum, das ohne sie bald verkümmert wäre und jede Bedeutung verloren hätte 16 . Es wäre aber verfehlt, diesen Auftrieb der neulateinischen Dichtung in Italien und im übrigen Europa auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. In Italien hat er tiefere und spezifischere Ursachen als anderswo und wird nur bedingt und indirekt von der neuen Altertumsforschung beeinflußt. Darauf wird weiter unten zurückzukommen sein. Hier sei nur bemerkt, daß lateinische Dichter in allen Bevölkerungsschichten auftauchen. Es ist ζ. B. auch kaum bekannt, daß die meisten namhaften italienischen Autoren, darunter Manzoni, der Gründer der italienischen Romantik, und Prati, 13
14 15
18
Die mit der Goldmedaille oder mit der magna laus ausgezeichneten Gedidite wurden jährlich von der Niederländischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben. Vgl. Anhang II und Anm. 16 sowie V a l g . , S. V I I - X X I V . Vgl. V a l g . , S. X X V - X X V I I I . Vgl. M a z z . , S. 382-383, S. 1325. Die wichtigsten Vertreter der neuen Latinität waren hier: S. A. Morcelli ( 1 7 3 7 - 1 8 2 1 ) und Carlo Boudieron (1775-1838), der Gönner von M. Ferrucci (§ IV). Sowohl Morcelli wie Boudieron waren auch bekannte Philologen, letzterer leitete die großangelegte Reihe antiker Schriftsteller beim Verleger Pomba. Neben diesen seien nodi erwähnt: Tommaso Vallauri (1805—1897: vgl. M. L e n c h a n t i n , T.V. come scrittore latino, in: Atti III, Bd. 4, S. 134-137), großer Gegner der neuen, aus Deutschland eingeführten philologischen Methoden und Freund Vitriolis (dessen Resonanz in Piemont größer war als anderswo in Italien, vgl. § X V I I ) ; Stefano Grosso (1824-1903: einige Literaturangaben in M a z z . ) ; G. B. Gandino (1827-1905: vgl. P. F a b b r i , II metodo e l'opera di G.G., in: Atti III, Bd. 4, S. 106-114), Professor in Bologna und der beste Lateinkenner seiner Zeit; sowie L. Galante und G. Giacoletti, deren weiter unten ausführlich gedacht wird (Texte § V und § VII). Sprachrohr dieses Kreises war eine Zeitlang die Zeitschrift (vgl. Lit.-Anhang). Vgl. audi weiter unten Anm. 20. Vgl. G. G a b r i e l l i , Partecipazione degli Italiani al concorso poetico latino di Amsterdam, in: Roma, Rivista dell'Istituto di Studi Romani, Bd. 16 (1938), S. 4 1 5 - 4 2 6 ; G. G a r a v a n i , L'Italia e le gare di poesia latina, in: Atti IV, Bd. 4, S. 1 2 8 - 1 3 5 .
7
der wichtigste Vertreter der zweiten romantischen Generation, nicht zu verachtende lateinische Verse schrieben: die bedeutendste Ausnahme ist ausgerechnet Carducci, der Führer der antiromantischen Reaktion, der herablassend behauptete, Lateinverse habe er nie geschrieben 17 . Von diesen N a m e n abgesehen, schreiben neben Lateinlehrern auch Staatsmänner und Ärzte 1 8 lateinische Verse, dazu Romanciers wie A. G . Barrili, Volkssdiullehrer wie Francesco Sofia-Alessio und Frauen wie Luisa Anzoletti. Ein BersaglieriHauptmann, G . Petriccioli, schreibt lateinische Verse, um Ermunterung und Erholung während eines Einsatzes im K a m p f gegen süditalienische Banditen zu finden. Dabei bleiben Jesuiten, Barnabiten, Piaristen, überhaupt Vertreter katholischer Erziehungsorden mit gutem Erfolg weiter am Werke und liefern einen wesentlichen Beitrag zur erneuerten lateinischen Dichtung, die in Italien mit dem Christentum, audi bei nicht ausgesprochen christlichen Autoren wie ζ . B . Pascoli, eng verbunden bleibt. Dies alles ist weder bloßer Dilettantismus noch leere akademische Übung, sondern wird von einer Begeisterung und einem Ernst getragen, die allein den Ertrag lateinischer Verse in diesen Jahren einer Untersuchung wert machen. Man konnte sich also bis zur Jahrhundertwende und noch danach in I t a lien mit einigem Recht rühmen, das Latein sei wieder aktuell geworden und habe sich in der Dichtung nach zwei Jahrhunderten einen parallelen P l a t z zur Nationalsprache gesichert. Man wurde sich auch bald der eigenen Ü b e r legenheit auf diesem Gebiete und in der literarischen Pflege des Lateins überhaupt gegenüber der übrigen Welt bewußt, und man w a r stolz darauf 1 9 : w a r sie doch ein vollwertiger Ausgleich für die vielen Erniedrigungen, die man in dieser Zeit auf sehr verschiedenen Gebieten hatte einstecken müssen, nicht zuletzt gerade in der klassischen Philologie und Altertumsforschung, wo die Führung nunmehr trotz bedeutender italienischer Leistungen 20 an Deutschland übergegangen w a r : eine für Italiens gelehrte Welt schmerzliche Ü b e r raschung, die auf sie wartete, als sie nach dem Risorgimento mit dem geistigen 17
18
19
20
Brief an A . De Gubernatis. Lettere, ed. naz. N r . 2085 (14. 1 . 1 8 7 7 ) , Bd. 1 1 , S. 1 1 . Vgl. unten, S. 40; vgl. audi S. 57 (Manzoni und Leopardi). Vgl. Texte § 1 (G.Baccelli) und § V I I I (G.B. Giorgini). Gute Kenner lateinischer Klassiker waren audi Q. Sella und M. Minghetti. Über A . Depretis' humanistische Bildung vgl. M a r t i n i , Bd. 2, S. 202. Vgl. U. v. W i l a m o w i t z - M o e l l e n d o r f , Erinnerungen 1 8 4 8 - 1 9 1 4 . Leipzig 1928, S. 263: «die philologische Sektion wählte ihn (Bücheler) in der ersten Sitzung (1903) zum Vorsitzenden und er sprach lateinisch, was zuerst befremdete. A m nächsten Tage trat ich an seine Stelle und folgte seinem Beispiel. Italiener schlossen sich an, erfreut, ihre Beherrschung der Sprache zu zeigen: es gefällt ihnen immer, wenn ein Ausländer es dazu bringt. Ein Engländer bleibt freilich unverständlich und seine Aussprache erscheint barbarisch.» Es sei besonders an A . Mai und Mommsens Lehrer B. Borghesi gedadit. Über die italienische Philologie dieser Zeit gibt T i m p a n a r o s ausgezeichnete Arbeit guten Aufsdiluß. Vgl. audi Ρ. Τ r e ν e s, Lo studio dell'antichitä classica nell'Ottocento. Milano-Napoli 1963 und meine Besprechung dazu in: Gnomon, Bd. 38 (1966), S. 508-514.
8
Schaffen der anderen europäischen Nationen enger in Berührung kam. Wenigstens war die Überlegenheit in der literarischen Handhabung des Lateins etwas, was gegen die Überlegenheit der Fremden in der Ausarbeitung und Verfeinerung textkritischer oder ausgrabungstechnischer Methoden ausgespielt werden konnte. Um so stolzer konnte man auf diesen Vorsprung sein, weil er der nationalen Einstellung zum Latein entstammte und in der eigenen humanistischen Tradition wurzelte.
3. E X K U R S . Humanistische Schultradition in Italien und neue deutsche Unterrichtsmethoden Nebenbei gesagt, Italiens Vorsprung in der lateinischen Dichtung wird bald zu einem Element der Polemik gegen die aus Deutschland einbrechenden wissenschaftlichen Vorstellungen und Methoden, die sich etwa nach 1850 immer weiter behaupten. Einerseits müssen sie als unleugbarer Fortschritt anerkannt und angenommen werden 21 . Andererseits fühlen sich die Italiener als die Erstgeborenen der antiken Welt dadurch gekränkt und wollen ihre Vorrechte in der Bewahrung des angestammten Erbgutes nicht aus den Händen geben. Durch die Leistungen der neuen lateinischen Dichtung darf man sich wieder der eigenen Tradition rühmen. Wie zu erwarten, sind die Universitäten willig, sich den Neuerungen anzupassen, während die in Italien (wie überall) konservativen Höheren Schulen, weldie Form sie audi damals gehabt haben mögen, sich dagegen sträuben, ohne daß allerdings zwischen diesen und jenen eine sdiarfe Trennungslinie gezogen werden kann, denn Universität und Schule sind in Italien von jeher viel enger miteinander verbunden gewesen als ζ. B. in Deutschland. So hat es an den Universitäten Philologen gegeben, die auch gut auf Latein gedichtet oder in Prosa geschrieben haben und Wert darauf legten (Vallauri, Gandino, Ussani, Rasi usw.), so wie es auch auf den Höheren Schulen Lateinlehrer gab, die sich der Nachteile der reinen humanistischen Tradition (Ungenauigkeit, Reproduktion aus dem Gehör) bewußt waren. Auf der anderen Seite haben die Erneuerung des Unterrichts und die herbeigeführte größere Exaktheit der Kenntnisse in Grammatik, Wortschatz und Metrik auch der lateinischen Dichtung Vorteile gebracht. Aber zunächst und auf eine lange Zeit reagierte man bei aller Bewunderung für die deutsche Philologie bitter auf die neuen, aus dem Deutschen übersetzten lateinischen und griechischen Grammatiken und Wörter21
Deutschlands Prestige wurde wie überall audi auf philologischem Gebiet in Italien bald unvergleichlich groß. In einer vor dem italienischen Königspaar auf dem Kapitol am 2 1 . 1 . 1 9 0 0 bei einer Schulfeier gehaltenen Rede sagte G . B. Gandino: «Circumspicite quaeso paullisper Europae nationes et gentes: illas invenietis opibus, copiis, imperio, rerum gestarum gloria praeter caeteras florere, apud quas, cum disciplinae omnes, tum in primis haec humanitatis studia maxime vigent maximoque sunt in honore» (bei S p r i n g h e t t i , S. 37). Vgl. aber unten, S. u * . 9
biicher, die eine unnötige, und wie es sich später z u m Teil auch erwiesen hat, nachteilige U m w ä l z u n g der humanistischen Unterrichtsmethoden mit sich brachten und diese auf eine rein grammatische, ja sogar sprachwissenschaftliche Basis stellten 22 . M
Sehnsucht nach der guten alten italienischen Schultradition humanistischer Prägung oder sogar Empörung über deren unüberlegte Preisgabe werden in der italienischen Publizistik jener Jahre immer wieder laut. Bezeichnend ist ζ. B. ein Aufsatz des piemontesischen Patrioten, Freiheitskämpfers und am Ende seines Lebens Sdiuldirektor gewordenen Cristoforo Baggiolini (1796-1872, vgl. DBI, Bd. j, S. 184-185), der am 11. 2. 1864 in: Ii Vessillo d'Italia (Vercelli, Jg. 17, Nr. 6) klagte: «E chi sa che qualdie somarello amante ρϊύ de' forestieri die dei concittadini non mi venga fra' piedi a lodarmi un Oweno inglese (vgl. Anm. 1 u. 9) che scrisse andie epigrammi latini! e che sanno di buon latino gl'inglesi, i tedesdii, i francesi? Ε die mal vezzo έ quello di predicare fra noi le edizioni de' classici latini e le grammatidie delle lingue nobili compilate dai Blunds, dai Stolks, dai Pfiffer, dai Kraisser, dai Sgrimper? Ε dii dä il diritto a codesti sicambri di sapere il greco e il latino meglio di noi? Oh, come mi sento il pizzico di rammentare un certo distico leonino improvvisato da un bravo italiano per confondere un forestiere die vantava i versi latini di un suo connazionale al di sopra di quelli composti dai nostri! Non dovrei, ma siamo di carnevale. Vada. Eccolo: Carmina vestrates quae condunt optima vates non sunt nostrates tegere digna nates». Und in einer Anmerkung: «Vogliono farci imparare il latino col sanscrito. Oh, di questa pazzia voglio darne un cenno al mio Diego Vitrioli, che il latino pu6 insegnarlo a cento Lamagne.» (Dieser Aufsatz wurde als Vorrede zur neapolit. Ausgabe von Vitriolis Werken wieder gedruckt, vgl. Texte § XVII.) Ähnlich M a r t i n i , Bd. 1, S. 129: «c'insegnavano bene il latino, con metodo die la presente sapienza intedescata dispregia, ma bene, con profitto e, die pur conta, dilettevolmente. Non eravamo ηέ piu volenterosi ηέ piu savi dei ragazzi d'oggi i quali del latino infastidiscono; e a noi era, anzi, fastidio il riposo della domenica, onde s'interrompeva la lettura d'un canto dell'Eneide ο di un'elegia di Properzio.» G. B. Giorgini schreibt 1893 an den Sprachwissenschaftler Emilio Teza (bei S i m o n i , S. 82-83, v gl· Texte § VIII): «Io scrivo il latino d'istinto, a orecchio: l'ho imparato, come s'imparano le lingue vive, prima da mio padre, poi dai miei bravi frati di S. Giovannino (Piaristensdiule in Florenz), cosl come i nostri ragazzi imparano il francese ο il tedesco dalle loro bonnes. Ricordo che, a poco ρϊύ ο a poco meno di dieci anni, mi deliziavo leggendo e recitando Virgilio, senza aver ancora presa in mano una grammatica: la grammatica si cominciava a studiarla quando giä conoscevamo la lingua.