Neue Formen der Dichotomie der Straftaten [1 ed.] 9783428504428, 9783428104420


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German Pages 308 Year 2001

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Neue Formen der Dichotomie der Straftaten [1 ed.]
 9783428504428, 9783428104420

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CORNELIUS MIROW

Neue Formen der Dichotomie der Straftaten

Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Herausgegeben von Dr. Eberhard Schmidhäuser em. ord. Professor der Rechte an der Universität Harnburg

und Dr. Dr. h. c. (Breslau) Friedrich-Christian Schroeder ord. Professor der Rechte an der Universität Regensburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 137

Neue Formen der Dichotomie der Straftaten

Von

Comelius Mirow

Duncker & Humblot · Berlin

In die Reihe aufgenommen als Dissertation bei Professor Dr. Dr. h. c. Friedrich-Christian Schroeder

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

Mirow, Cornelius: Neue Formen der Dichotomie der Straftaten I Comelius Mirow.- Berlin: Duncker und Humblot, 2001 (Strafrechtliche Abhandlungen ; N.F., Bd. 137) Zugl.: Regensburg, Univ., Diss., 2000 ISBN 3-428-10442-0

Alle Rechte vorbehalten

© 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübemahme: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-10442-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 8

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist meine Dissertation, die im Sommersemester 2000 der juristischen Fakultät der Universität Regensburg vorlag. Sehr herzlich danke ich meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. FriedrichChristian Schroeder, der meinen Blick auf das Thema der Arbeit gelenkt und zu ihrem Gelingen durch zahlreiche Vorschläge und Anregungen beigetragen hat. Seine analytische Schärfe und Prägnanz dienten mir häufig als Vorbild. Bedanken möchte ich mich auch bei Herrn Prof. Dr. Andreas Hoyer für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens. Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Friedrich-Christian Schroeder und Herrn Prof. Dr. Eberhard Schmidhäuser danke ich zudem für die Aufnahme der Arbeit in ihre Schriftenreihe. Für seine Unterstützung in der Endphase der Arbeit danke ich Herrn Rechtsreferendar Andreas Schmidt, Berlin. Ein ganz besonderer Dank geht schließlich an Simone. Gewidmet ist die Arbeit meinen Eltern, ohne deren bedingungslose Unterstützung ihre Entstehung nicht möglich gewesen wäre, und denen ich nicht genug danken kann. Berlin, im März 2001

Cornelius Mirow

Inhaltsverzeichnis Einleitung und Überblick über den Gang der Untersuchung

19

Erster Teil Die geschichtliche Entwicklung der Unterscheidung strafbarer Handlungen nach ihrem Schweregrad A. Vorbemerkung: Charakteristika der geltenden Dichotomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Überblick über die Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Frühformen einer Unterscheidung: Unterschiedliche Reaktionen der Rechtsgemeinschaft auf die Tat als Unwerturteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ansätze einer gesetzlichen Begriffsbildung .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. . .. . .. .. .. .. 1. Fränkische Zeit: Causae maiores und causae minores . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entwicklung und Funktion der Unterscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zusammenfassung und Auswertung...... .. ............................ .. 2. Das spätmittelalterliche deutsche Strafrecht bis zur Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Partikular- und Gewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Sachsenspiegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Begriff der .,Ungerichte" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) .,Vredebrakere" . . . . . . . . . .. . .. .. . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . .. . .. . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Klassifizierung im Zeitalter der Rezeption und im gemeinen deutschen Strafrecht .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . .. . . . . . . .. . . .. . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . a) Die Entwicklung bis zur Carolina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. . .. . . . . . . . . . . . . .. . .. . . .. . . . . . . . . bb) Wormser Reformation (1498) .. .. .. .. .. . .. .. .. .. . .. .. . .. . .. .. .. .. . .. . b) Die Einteilung in der Carolina (1532) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die weitere Entwicklung im gemeinen deutschen Strafrecht . . . . . . . . . . . . aa) Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Einteilung bei Carpzov .. .. .. . .. ..... .... .. . .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. cc) Die Einteilung im Codex Juris Bavarici Criminalis . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Die Einteilung in der Constitutio Criminalis Theresiana . . . . . . . . . . . . III. Die Auflösung der Klassifizierung in den Gesetzgebungswerken der Aufklärung: Josephina und Preußisches Allgemeines Landrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Dichotomie der Josephina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Verschwinden der Carpzovschen Dreiteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Ursachen . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die genetischen Wurzeln der heutigen Dichotomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Dreiteilung im französischen Code Penal . .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. . . .. . .. .. .

23 23 25 25 27 27 27 29 30 31 33 33 36 36 37 37 37 37 38 41 42 42 42 44 46 47 47 48 4R 50 51

8

Inhaltsverzeichnis

2. Die Einteilung im bayerischen Strafgesetzbuch von 1813............ . . .... .. 3. Der Streit um eine materiale Bedeutung der Trichotomie im Code Penal und im bayerischen Strafgesetzbuch von 1813 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Einteilung im Strafgesetzbuch für die preußischen Staaten von 1851 . . . a) Zur Entstehungsgeschichte der Dreiteilung im preußischen Strafgesetzbuch . .... ......... ... ........ ............ . ... . ..... ....... ... .. . . . . .. ..... b) Zur Funktion der Dreiteilung im preußischen Strafgesetzbuch . . . . . . . . . . V. Die Entwicklung der Einteilung vom Reichsstrafgesetzbuch von 1871 bis zur Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Aufnahme der Trichotomie in das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 . . . . . 2. Die weitere Entwicklung im Zuge der Strafrechts-Reformen des 20. Jahrhunderts...................... . .................... . ... . ................. . . . .. . . ... a) Reformbewegungen bis zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland b) Der Wandel von der Trichotomie zur Dichotomie durch das 1. und 2. Strafrechtsreformgesetz von 1969/1975 .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . aa) Die Vorschläge des Entwurfs 1962 und des Alternativ-Entwurfs . . . bb) Die Regelung im 1. und 2. Strafrechtsreformgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Das 1. Strafrechtsreformgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Das 2. Strafrechtsreformgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Zusammenfassung des 1. Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51 53 56 56 58 59 59 60 60 61 61 62 62 64 64

Zweiter Teil Funktionen und Bedeutungsverlust der Klassifizierung. Vom Strafgesetzbuch für das deutsche Reich von 1871 bis zum 6. Strafrechtsreformgesetz 1998 A. Die gesetzestechnische Bedeutung der Trichotomie des Strafgesetzbuchs für das deutsche Reich von 1871 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Überblick über die wichtigsten auf die Klassifizierung rekurrierenden Normen und deren Entwicklung bis zur Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Strafverfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Inhaltliche Bezugnahmen bei Inkrafttreten der RStPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Regulierung der Gerichtskompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Besonderes Verfahren vor dem Schöffengericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Beschlagnahme durch die Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Präsumtion des Haftgrundes "Fluchtgefahr" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Notwendige Verteidigung. . . . ... . . . . . ... . ............. ..... . . . . .. . ... ff) Strafbefehlsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . b) Spätere Bezugnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Materielles Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Inhaltliche Bezugnahmen bei Inkrafttreten des RStGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Geltung für Auslandstaten, §§ 4 ff. RStGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Strafumwandlung, § 29 RStGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Einziehung, § 40 RStGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

66 66 67 67 67 68 69 70 70 71 71 71 73 73 73 74 74

Inhaltsverzeichnis dd) Strafbarkeit des Versuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Regelung des § 43 RStGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Bedeutungserosion durch den allgemeinen Ausbau der Versuchsstrafbarkeif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Beihilfe, §49 RStGB . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . . . . . ff) Verweis, §57 Nr. 4 RStGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Verjährung, § 67 RStGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . hh) Gesamtstrafe, § 74 RStGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ii) Landzwang, § 126 RStGB . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . jj) Vorbereitung von Münzverbrechen, § 151 RStGB . . . . . . . . . . . . .. . . . . . kk) Milderungsgrund beim Meineid, § 157 Abs. 1 RStGB . . . . . . . . . . . . . . . ll) Nötigung, § 240 RStGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . mm)Bedrohung, § 241 RStGB.. .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . nn) Begünstigung, § 257 RStGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Spätere Bezugnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Nebenstrafrecht und sonstige Rechtsgebiete. . .... ... ................ . .... . . .. 4. Gesetzliche Bezugnahmen auf die Klassifizierung nach 1975....... . ... .. ... III. Auswertung: Der Bedeutungsverlust der Klassifizierung in Zahlen . . . . . . . . . . . . . IV. Die Zwecke einer Bezugnahme auf die Deliktskategorie im fruheren Recht . . . . 1. Grunde für die Verwendung der Klassifizierung im Verfahrensrecht . . . . . . . . . 2. Grunde für die Verwendung der Klassifizierung im materiellen Strafrecht . . V. Ungeschriebene Funktionen der Trichotomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unrechtsbewertungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Einteilung als Träger diskriminierender Begriffe- Diskriminierungsfunktion . .. .. ......... . .. . .... . ... . .... ..... .... ..... .. . . .. . ...... . ....... . .. . ... . . . a) "Verbrechen" als diskriminierender Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Zuchthausstrafe als eigentlicher Träger der Diskriminierung . . . . . . . . 3. Annex: Etymologischer Exkurs. . . . ....... .. . . ... .. ..... . ............. .. .. . .. . a) Die Entstehungsgeschichte der Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vergehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Übertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Auswertung..... . . . .. . . . ........ . . . . . . . . . . ............. ... .. . ............. 4. Entwicklung der ungeschriebenen Funktionen . ................ . .... .. . ...... a) Unrechtsbewertungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Allgemeine Konstanz der Wortbedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kein Einfluss der Einführung der Einheitsstrafe . .. ......... .. . ... ... b) Diskriminierungsfunktion . . . .. . .... . . . .. . ...... ... ............... ... . . .. . B. Zusammenfassung des 2. Teils ... . . . .. . .. . .. . .. . ... . . . . . ..... .. .. ..... . .... ... ........

9 75 75 75 76 76 76 77 77 78 78 78 79 79 79 81 83 84 85 86 87 88 88

93 93 95

97 97 97 97 98 98 100 100 100 101 102 103

Dritter Teil Die verbliebene Bedeutung der Einteilung nach § 12 StGB für das heutige Bundesrecht

105

A. Gesetzestechnische Bedeutung der Einteilung de lege lata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 I. Überblick: Die wichtigsten klassifizierungsrelevanten Vorschriften im heutigen Bundesrecht . . .. . ..... . . . . . . . . . . . ......... . . . . . ... . . . ........... . .... . . . . . . . . .... . 106

10

Inhaltsverzeichnis II. Analyse der Einzelvorschriften unter dem Aspekt der Einsatzbedingungen der Klassifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überblick: Die Standardkonstellationen des gesetzlichen Rückgriffs auf die Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einzelbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsschutzintensivierung zugunsten des Beschuldigten, des Zeugen und des Opfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gerichtskompetenzen: §§25, 74GVG .... . .............. . . . ........ bb) Notwendige Verteidigung: § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO ........ . ........ cc) Zeugenanwalt, §68b StPO ...................................... . . . . dd) "Opferanwalt", § 397 a Abs. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Durchbrechungen konstituierender Prozessgrundsätze ............ . .. . ... aa) Die Begrenzungen des Legalitätsprinzips: §§ 153, 153a, 154d StPO ............. . ... ................. .. ... . . ................. . ...... (1) § 153 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . .. . .. . .. .. . .. . . . . . (2) §153aStPO . . . . ................... ... .................... . . . ... . (3) § 154d StPO . . . . . . . . .. . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . . . . . . . . bb) Die Ausnahme vom Grundsatz der mündlichen Hauptverhandlung: §§407ff.StPO ... . . . ................... . . . . . . ................... . .... c) Erweiterungen staatlicher Eingriffsermächtigungen in Rechte des Bürgers ................. . . . . . .................. ... . . . . .............. . .... . . . .. aa) § 81 g StPO ..... . . . . . ................. .. ... .... ............. . . . ...... . bb) § llOa Abs. 1 StPO ................... . ..... . .............. . .... . .... cc) §45 Abs. 1 StGB . . .. . .... ... .... .. ... . . ... . ... . ...... ..... .. . . .. . .. . . dd) § 66 Abs. 3 StGB . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . .. .. . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) §§5 Nr.4, 13 Abs.1 Nr.4 VersG ..... .. . ... .. .............. . . . .. . .... d) Abstufung der Strafbarkeit in den Außenzonen der Tatbegehung . .. . .... aa) § 23 Abs. 1 StGB . . . . .................. . .................... . . . . .. .... bb) § 30 StGB .... . ... . ............ . . . ..... . ... . ....... . ........ . .... . . .. . cc) § 241 StGB ......... . . . ............... . ... . .... ..... . . . . . . .. .. .. .. . ... dd) § 261 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . . . . . . . e) Beschränkung des Strafklageverbrauchs und der materiellen Rechtskraft f) Regulierung privatrechtlicher Beziehungen ... . . . .. . . . . . . . . . . . ... .. . .. . . . III. Materielle Gründe der Verwendung der Dichotomie im geltenden Recht . .. . . .. I. Der materielle Zusammenhang zwischen der Deliktsnatur und der Intensivierung verfahrensrechtlichen Schutzes .. . ........... ... .. . .. . ... . ......... . ..... a) Regelungen zugunsten des Beschuldigten ... .... ............... . ... . . . ... b) Die Regelung zugunsten des Zeugen .. ....... . ....... . . .. .......... . ..... c) Die Regelung zugunsten des Opfers ..... ...... .. . ..... .... . .. . .... .. ..... 2. Der materielle Zusammenhang zwischen der Deliktsnatur und der Wiederaufnahmemöglichkeit im Straf- und Bußgeldverfahren . ............ . ... . .... . ... 3. Der materielle Zusammenhang zwischen der Deliktsnatur und der Differenzierung in den übrigen Vorschriften: Das verfassungsmäßige Verhältnismäßigkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . a) Verfahrenslockerungen und Verhältnismäßigkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . b) Grundrechtseingriffe und Verhältnismäßigkeitsprinzip . .. . ..... . ........ c) Umfeldkriminalisierungen und Verhältnismäßigkeitsprinzip ... . ........

106 106 107 107 108 111 112 112 113 113 113 113 114 114 115 115 116 118 118 119 120 121 121 121 122 122 123 124 124 125 125 126 126

128 129 130 131

Inhaltsverzeichnis aa) Die grundsätzliche Straflosigkeit versuchter Vergehen als Konsequenz des Übermaßverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Stratlosigkeit versuchter Anstiftung zum Vergehen bzw. der ,.Verabredung zum Vergehen" als Konsequenz des Übermaßverbots cc) Die Straflosigkeit der Bedrohung mit Vergehen als Konsequenz des Übermaßverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Die Differenzierung nach der Deliktsklasse der Vortat in§ 261 StGB als Konsequenz des Übermaßverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Erbrechtliches Pflichtteilsrecht und Verhältnismäßigkeilsgrundsatz . . .. . B. Bedeutung der Einteilung in der neueren Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Scheinbar ,.dichotomiefreundliche" Tendenzen: Die Entscheidungen über die Reichweite der Rechtskraft des gerichtlichen Einstellungsbeschlusses nach§ 153 Abs. 2 StPO .............. ... . . . . . . ............... .. . . . . .... . ............. .... .... II. ,.Dichotomieablehnende" Tendenzen: Die Entscheidungen zur ,.Verklammerung", zur polizeilichen Strafverfolgungspflicht, zum ,.Lockspitzel-Einsatz" und zur Zulässigkeil der ,.Mithörfalle" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Rechtsprechung zum Konkurrenzprinzip der Verklammerung . . . . . . b) Die Entscheidung zur polizeilichen Anzeigepflicht bei außerdienstlicher Kenntniserlangung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die ,,Lockspitzel"-Rechtsprechung des BGH ........ . ........ . . .. . . .... . d) Die ,.Mithörfallen"-Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen .. . e) Die Rechtsprechung zur Tenorierung eines Strafurteils .... . .. .. . . . .. . ... C. Zusammenfassung des 3. Teils . . . ...... ..... ...... . ... .. . .... . . .... ... . . . . ... . . . . . . ...

11 132 133 134 135 136 137 137

139 139 140 141 142 143 144

Vierter Teil Die Expansion gesetzlicher Alternativkonzepte zur Klassifizierung der Straftaten nach§ 12 StGB A. Vorbemerkung ...... . .... .. .... .. ... .... . ........ ... . ..... . . . ........... .... . . . . . .. . . . B. Die neuen Differenzierungstechniken im Überblick: Der Begriff der ,.Straftat von erheblicher Bedeutung" und das Enumerationsprinzip ... . . . ..................... . ..... I. Die Zweispurigkeil der Differenzierungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die neuen Differenzierungstechniken als Ausprägung der Zweispurigkeil . . ... III. Das klassifizierende Modell: Die ,.Straftat von erheblicher Bedeutung" .. . . . ... 1. Die neue Dichotomie der Straftaten ... . ...... . . . . . . . ..... . . . ............. . . . . 2. Weitere Typisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verbrechen von besonderer Bedeutung . .. . ... . .. . . .. . . . ...... ..... . . .. ... b) Schwere Vergehen .. ......... . ... . .. .. .... .... ....... ..... . .. . . .. . . . .... . . c) Erhebliche Straftaten . ... . ............. . ...... . . . ....... . . . . . . ... . . . .... . . d) Die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Straftat . . . . . . .... e) Schwere der Tat ... . ................ . .... . ...... . ........... . .... . . . . . . . .. f) Bedeutung der Sache und Bedeutung des Falles . . ................ . ... . .. 3. Die Einsatzfälle im Überblick .. . ..... .. . ... ..... . .. ... .. . ..... . ..... . . .. .. .. . 4. Die verschiedenen Verwendungsformen des Begriffs der Straftat von erheblicher Bedeutung .. ... ... . ....... . . .. .. . ... . .......... ......... . . . . . .......... . 5. Begriffsbestimmung . . . . .. . . .... . ...... . . .. . ... . . . .......... . .... ... . . ... . . .. .

146 146 147 147 148 148 148 149 149 149 150 151 151 151 152 153 154

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6. Verhältnis zum Verbrechensbegriff des§ 12 StGB: Einzelfallbetrachtung anstelle von abstrakter Festlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Materieller Hintergrund einer Anknüpfung an Straftaten von erheblicher Bedeutung: Das Verhältnismäßigkeilsprinzip . . . .. . . ................. . .......... 8. Fazit: Die "erhebliche Bedeutung" als weitere Konkretisierung des Verhältnisfak.tors der Schwere der Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Das konkretisierende Modell: Enumerationsprinzip .................. . . . .... . ... 1. Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Überblick: Das Enumerationsprinzip in Strafprozessordnung, Gerichtsverfassungsgesetz und Strafgesetzbuch . . .......... . ..................... . . . . . .. . .. . 3. Ausscheidung untersuchungsirrelevanter Kataloge- die Äquivalenzmerkmale der Katalogtaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Äquivalenzmerkmal des spezifischen Rechtsgutsbezugs . . . . . . . . . . . . b) Das Äquivalenzmerkmal des spezifischen Sachbezugs ........ . . . . . ..... c) Das Äquivalenzmerkmal der organisierten Kriminalität ..... . . . . . . . . .. .. d) Das Äquivalenzmerkmal der besonderen Gefahrliehkeil ....... . .... . .... e) Das Äquivalenzmerkmal des Potenzials zu psychischer Belastung . . . .. . f) Das Äquivalenzmerkmal der Wiederholungsgefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Sonstige Kataloge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Enumerationsprinzip als Konkurrenz zur Dichotomie- das Äquivalenzmerkmal der Schwere der Tat und die Einsatzkonstellationen der betreffenden Kataloge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Enumerationsprinzip und Grundrechtseingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Molekulargenetische Untersuchung im Hinblick auf künftige Strafverfahren, § 81 g StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Rasterfahndung, § 98 a StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . .. cc) Überwachung der Telekommunikation, § 100 a StPO . . . . . . . . . . . . . . . dd) "Großer Lauschangrift", § lOOc Abs.l Nr. 3 StPO ...... .. ...... . ... ee) Einrichtung öffentlicher Kontrollstellen, § 111 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Haftgrund der Tatschwere, § 112 Abs. 3 StPO .. .. .. .. .. .. . .. .. . .. .. . gg) Schleppnetzfahndung,§ 163d StPO . ...... .. .. .. .......... .. ...... .. b) Enumerationsprinzip und Verfahrensmodifizierungen: Das Privatklageverfahren nach den §§374ff. StPO .. ........ .... ...... .. ..... ..... .. .... c) Enumerationsprinzip und Abstufung der Strafbarkeit in Außenzonen der Tatbegehung . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten, § 126 StGB .. . .... . . .. ... . .... . . . ... . ... . ... . .... . ....... . .. . . ...... . bb) Bildung terroristischer Vereinigungen,§ 129 a StGB .. . . . ... . . .. .. . . cc) Anleitung zu Straftaten,§ l30a StGB .. . ..... . .... . .......... . .... . . dd) Nichtanzeige geplanter Straftaten,§§ 138, 139 StGB ........ .. .. .. . ee) Belohnung und Billigung von Straftaten,§ 140 StGB .. . ..... . . . .... ff) Täuschung über eine bevorstehende Straftat, § l45d Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Geldwäsche und Verschleierung unrechtmäßig erlangter Vermögenswerte, §261 StGB .. .. ........................ .. . ......... .. .. ...... . 5. Fazit: Das Enumerationsprinzip als Träger mannigfaltiger Differenzierungskriterien . . . . . .. .. .. . . . . . . . . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . .. . . . .. . . . . . .. . . C. Zusammenfassung des 4. Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

157 158 161 162 162 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 171 172 172 172 173 174 175 177 178 180 180 182 184 185 187 188 189 190 190

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Fünfter Teil

Die Brauchbarkeit der Einteilung des § 12 StGB de lege ferenda A. Vorbemerkung . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . .. . . . . . B. Ursachen der Expansion neuer Differenzierungsmodelle .. . ................... . ...... I. Die allgemeinen Vorzüge der Enumerationstechnik gegenüber einer abstrahierenden Klassifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vorteil größerer Bestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorteil des größeren Differenzierungspotenzials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vorteil der Offenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Abkürzungsfunktion mobiler Kataloge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die strafrechtsspezifischen Hintergründe der Expansion des Enumerationsprinzips ........................ . ...................... ... ... . .................. . ...... 1. Das gesteigerte Bedürfnis nach strafprozessualen Eingriffsermächtigungen . a) Die Ausweitung des Grundrechtsschutzes durch das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Fortentwicklung und Verfeinerung von Ermittlungsmethoden .. . . . . 2. Neue Differenzierungskriterien als Forderung außergesetzlicher Entwicklungen ................................................................... .. ....... a) Die Entstehung neuer Kriminalitätsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Terrorismus und seine legislatorische Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Organisierte Kriminalität und ihre legislatorische Behandlung . . .... cc) Zusammenfassung .................................. . ....... . . . ...... b) Erkenntnisfortschritt und die Tendenz zur normativen Feinsteuerung .. . III. Die Vorzüge des Instituts der Straftat von erheblicher Bedeutung ........ . ...... 1. Vorteil der schnelleren Qualifizierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorteil der größeren F1exibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fazit zum gesetzestechnischen Wert der Figur "Straftat von erheblicher Bedeutung" ............... ..... .. ................ . . .. ............. ......... ... . .. IV. Die Schwächen der alternativen Differenzierungskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schwächen der Enumerationstechnik . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesetzesästhetik ...................... . ...................... . .... . . . ..... b) Unübersichtlichkeit ....................................................... c) "Unelastizität" ..... . . . . . ........................................ . ....... . . d) Kataloge als "Einfallstor" aktionistischer Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Schwäche des Begriffs der Straftat von erheblicher Bedeutung .... . . . . .. C. Wert und Funktionalität der Dichotomie aus heutiger Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Bedürfnis nach Klassifizierung als anthropologische Konstante und die Wertlosigkeit funktionsloser Klassifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Spezifische Vorzüge der Klassifizierung des§ 12 StGB ................ . . .. ... . . 1. Abkürzungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die formal-quantitative Anknüpfung als Gewährleistung von Rechtsklarheit 3. Die Abstufung der Straftaten als legislatorische Bekräftigung des ,.Volksbewusstseins" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Schwachpunkte der Dichotomie der Straftaten de lege lata . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Friktionen der Verwendung für die Abgrenzung der Gerichtszuständigkeiten

192 192 193 194 194 196 197 199 201 202 202 204 204 205 205 208 210 212 215 215 217 218 218 219 219 219 220 221 221 222 222 224 224 224 225 226 226

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Inhaltsverzeichnis

a) § 74 Abs. 2 S. 1 GVG .. .................... .. . .. ............... .. ......... 227 aa) Das Enumerationsprinzip als Absage an die Abkürzungsfunktion der Dichotomie . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . .. .. . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 bb) Die eigentliche Funktion des Verbrechensbegriffs in § 74 Abs. 2 GVG: Beschränkung der Zuständigkeit der "Schwurgerichte" auf Verbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . 227 cc) Zweck der Beschränkung ..................................... ...... . 228 dd) Fazit . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . 231 b) §74Abs.1S.1GVG .. . ...................... . ................ . . . .. . . . ... 231 AMex: Auswirkungen einer geplanten Justizreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 2. Die Dichotomie als Kunstschöpfung des Gesetzgebers und die daraus resultierenden Friktionen ihrer Anwendung . . . . . . . . .. . . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . .. . 234 a) Das Problern der künstlichen TreMung der Delikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 b) Problernfälle ........ . .................... . . . . . ................... . .. . .. . . . 237 c) Die Inakzeptabilität der Problernfälle im Hinblick auf die rechtlichen Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 3. Die Problerne der abstrakt-generalisierenden Betrachtungsweise (§ 12 Abs. 3 StGB) ................... . . . . . .................. .. . . . . . ... . .. ......... . ... . . . .. 243 a) Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 b) Verbliebene Zuordnungsschwierigkeiten . . . . .... . .............. . . . .. . .... 244 c) Gerechtigkeitsdefizite .. . ................. . . .................... . . . . ...... 245 d) Die Altemativlosigkeit der abstrakt-generalisierenden Methode . . . . . . . . . 246 4. Die Entbehrlichkeit der Unrechtsbewertungsfunktion und die Gefahren einer Diskriminierungswirkung . . . . . . ................ . ....... . ............ . ......... 247 D. Überlegungen zu einer Differenzierung der Straftaten de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . 249 I. Die Klassifizierung der Straftaten in einigen wichtigen ausländischen Rechtsordnungen . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . .. . . . . .. . . . . .. . . . .. . . . . . .. . . . . . . . . . . . 250 1. Österreich . . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . . .. . . .. . . . . . 250 2. Schweiz . .. . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . 251 3. Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . .. . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . 251 4. England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . . . . . 252 a) "Felonies", "treasons" und ,,misderneanours" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 b) "Arrestable offences" und ,,non-arrestable offences" . . . . . . .. . .. . . .. . . . . . 253 c) "Indictable" und "Summary offences" ...... .. .. ............... .... . .. . .. 254 5. USA ................. . .. . ................. . . .. . . ... . . . ..... . .......... .. . . .... . 255 6. Russland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . 256 a) Die Entwicklung vorn BegiM des Sowjetkommunismus bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 b) Die Regelung im Strafgesetzbuch der Russischen Föderation vorn 1.1.1997 ....... ...... . . . ..... . .. . . ..... ........ . .. . .. .. ..... . .. .. . .. . .. ... 258 7. Zusammenfassung und Auswertung ..... .... . .. ... . .. . ...... . . .. ... . .. . . . .. . . 259 II. Die sachgerechte Ausgestaltung einer Differenzierung von Straftaten nach ihrer Schwere im deutschen Recht de lege ferenda .. ............... .. ........ ...... ... 261 1. Die möglichen Entwicklungen auf dem Feld der gesetzlichen Differenzierung von Straftaten nach ihrer Schwere ............... .... ................ .. ....... 261 a) Die Beibehaltung des gesetzlichen status quo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 b) Der Verzicht auf die Klassifizierung nach § 12 StGB unter Ausbau der jüngeren Differenzierungskonzepte . . . . . .. . . . .. . . . . . .. . . .. . . .. . . . . .. .. . .. 264

Inhaltsverzeichnis aa) Grundsätzliche Überlegungen zu einer Differenzierung von Straftaten ohne die Dichotomie des § 12 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Neugestaltung der auf die Dichotomie Bezug nehmenden Vorschriften im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) § 23 Abs. 1 StGB ................. . . . . . ................... . . . .... (2) § 30 StGB . . . . . . . . . . . . . . .. . .. .. . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) § 45 Abs. 1 StGB .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. (4) § 66 Abs. 3 StGB .................. .. ..................... .. ... .. (5) § 241 StGB ...................... .... .. .. ...................... .. (6) § 261 StGB .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. (7) §§ 68 b Satz 2, 397 a Abs. 1 StPO .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . (8) § 81 g StPO .. . . . . . . . .. . . .. . .. . . . . . . . . . .. . . . . . .. . . . .. . . . . . . .. . .. . . (9) § llOa Abs. 1 S. 2 und S. 4 StPO .... .. .. ............ ........ ... (10)§ 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO ........ ........ .......... .. .... .... ..... (11)§§ 153, 153a, 154d StPO .......... .. .. .. ................ .... .. . (12)§ 407 Abs. 1 StPO .................. .... ................ .... ..... (13)§§ 25, 74 GVG ................ .... .... .. ........................ cc) Fazit .. .. .... .. ..... .............. .......................... .. . ... .. . .. c) Ausbau der Klassifizierung durch Bildung einer neuen Kategorie von Straftaten ........... . . . . .. . . . . ............... . ..................... . ...... E. Zusammenfassung des 5. Teils .... .... ........ .. ...... ........ .............. ...... ....

15 265 266 266 267 269 270 270 271 272 273 273 274 274 276 276 277 277 278

Abschließende Würdigung unter Berücksichtigung der wichtigsten Ergebnisse . . ... 281 Anhang ......... . .......... . ........................ . ..... . .. . ... . .......... . ... . .. .. .. . .. 283 Literaturverzeichnis . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

Abkürzungsverzeichnis A.A. aaO. AG Anm. BGB BGBI. BGH BR

BT

BVerfG BVerfGE BZRG

ccc

ders. Diss. DRiZ EGStGB

GA GG GVG JGG JR JuS JZ KG KJ LG MatStrR MDR MSchrKr NJW NStZ OLG

anderer Ansicht am angegebenen Ort Amtsgericht Anmerkung Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof; Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Bundesrat Bundestag Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (zitiert nach Band und Seite) Gesetz über das Zentralregister und das Erziehungsregister (Bundeszentralregistergesetz) in der Fassung vom 21.9.1984 (BGBI.I, 1229) Constitutio Criminalis Carolina derselbe Dissertation Deutsche Richterzeitung (zitiert nach Jahr und Seite) Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch vom 2.3.1974 (BGBI.I, 469) Goltdammer's Archiv für Strafrecht (zitiert nach Jahr und Seite) Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23.5.1949 Gerichtsverfassungsgesetz Jugendgerichtsgesetz in der Fassung vom 11.12.1974 (BGBI.I, 3427) Juristische Rundschau (zitiert nach Jahr und Seite) Juristische Schulung (zitiert nach Jahr und Seite) Juristenzeitung (zitiert nach Jahr und Seite) Kammergericht Kritische Justiz (zitiert nach Jahr und Seite) Landgericht Materialien zur Strafrechtsreform Monatsschrift für deutsches Recht (zitiert nach Jahr und Seite) Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform (zitiert nach Jahr und Seite) Neue Juristische Wochenschrift (zitiert nach Jahr und Seite) Neue Zeitschrift für Strafrecht (zitiert nach Jahr und Seite) Oberlandesgericht

Abkürzungsverzeichnis OrgKG

OwiG RGBI. RiStBV RPtlEntlG RStGB RStPO S.v.e.B. StGB

StPO StrafRegVO

StrRG StV VereinhG

VersO WiRO wistra WStG ZRP ZStW

17

Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität vom 15.7.1992 (BGBI.I, 1302) Gesetz über Ordnungswidrigkeiten in der Fassung der Bekanntmachung vom 19.2.1987 (BGBI.I, 602) Reichsgesetzblatt Richtlinien zum Straf- und Bußgeldverfahren Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom vom 11.1.1993 (BGBI. I, 50) Strafgesetzbuch fürdas deutsche Reich vom 15.5.1871 (RGBI. 195) Strafprozessordung für das deutsche Reich vom 1.2.1877 (RGBI. 253) Straftat von erheblicher Bedeutung Strafgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.11.1998 (BGB1. I, 3322) Strafprozessordnung in der Fassung vom 7.4.1987 Straftilgungsgesetz und Strafregisterverordnung in der Fassung vom 1.1.1934 Strafrechtsreformgesetz Strafverteidiger (zitiert nach Jahr und Seite) Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts vom 12.9.1950 (BGBI.I, 455) Versammlungsgesetz Wirtschaft und Recht in Osteuropa (zitiert nach Jahr und Seite) Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer, Strafrecht (zitiert nach Jahr und Seite) Wehrstrafgesetz Zeitschrift für Rechtspolitik (zitiert nach Jahr und Seite) Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (zitiert nach Jahr und Seite)

Im Übrigen wird verwiesen auf Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 4. Auflage 1993.

2 Mirow

Einleitung und Überblick über den Gang der Untersuchung Anfang des Jahres 1998 hat der deutsche Bundestag den sog. "großen Lauschangriff' auf eine verfassungsmäßige Grundlage gestellt unter der Voraussetzung, seine Anordnung bleibe auf die Fälle des Verdachts einer durch Gesetz einzeln bestimmten besonders schweren Straftat beschränkt (Art. 13 Abs. 3 GG) 1• Dieser Vorgabe begegnete man im Ausführungsgesetz2 dadurch, dass die betreffenden Delikte in einem neuen § IOOc Abs. 1 Nr. 3 StPO abschließend aufgezählt wurden. Berücksichtigt man diesen Entstehungskontext, müsste es sich bei§ 100c Abs.l Nr. 3 StPO um einen Katalog der Schwerstkriminalität handeln. Vor diesem Hintergrund liegt die Frage nicht fern, weshalb sich der Gesetzgeber des Ausführungsgesetzes seinerzeit überhaupt für die Etablierung eines Deliktskatalogs entschieden hat. Denn hier hätte sich der Rückgriff auf einen Begriff angeboten, wenn nicht aufgedrängt, der im deutschen Strafrecht seit nunmehr rund 130 Jahren dazu dient, alle besonders schweren Straftaten abschließend zusammenzufassen und damit eine speziell auf die schwere Kriminalität zugeschnittene legislatorische Behandlung zu ermöglichen: Es handelt sich um den Begriff des Verbrechens im technischen Sinne des § 12 StGB. Diese Vorschrift unterteilt seit 19753 die strafbaren Handlungen in Verbrechen und Vergehen -man spricht deshalb von einer Zweiteilung oder Dichotomie der Straftaten. Obwohl es sich in materieller Hinsicht um eine Unterscheidung nach dem Kriterium der Schwere der Delikte handeln soll\ entscheidet über die Zuordnung kein materieller, sondern der rein formelle Gesichtspunkt der Mindeststrafdrohung des Regelstrafrahmens: Verbrechen sind alle im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedrohten, Vergehen alle im Mindestmaß mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe von unter einem Jahr bedrohten Delikte(§ 12 Abs. 1 und 2 StGB). Auf Basis der heute herrschenden Auslegung der Vorschrift5 erlaubt sie eine abschließende und nahezu zweifelsfreie Bestimmung aller Verbrechens- und Vergehenstatbestände in den Strafgesetzen6 . Das heißt: Verwendet der Gesetzgeber den Sammelbegriff "Verbrechen", bezeichnet er Eingefügt durch Gesetz vom 26.3.1998, BGBI. I, 610. Vom 5.4.1998, BGBI. I, 845. 3 Zur Entstehungsgeschichte S .41 ff. 4 Vgl. z. B. LK-Gribbohm § 12 Rn. 11 ; Sch/Sch-Lenckner § 12 Rn. 3 und vor§§ 13ff. Rn. 127; Tröndle/Fischer § 12 Rn. 2. 5 Gemeint ist die sog. abstrakt-generalisierende Betrachtungsweise; zu ihr S. 243 ff. 6 Eine vollständige Auflistung der aktuellen Verbrechens- und Vergehenstatbestände im Strafgesetzbuch findet sich im Anhang. 1

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2*

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Einleitung

damit eine ganz bestimmte oder zumindest bestimmbare Gruppe besonders schwerer Straftaten. Damit schließt sich der Kreis zur Ausgangsfrage: Wenn der Terminus "Verbrechen" nur das abkürzende Sprachzeichen für alle besonders schweren Delikte sein soll, weshalb hat der Gesetzgeber im Jahr I998 in Ausführung des neuen Art. I3 Abs. 3 GG den "großen Lauschangriff'' nicht generell beim Verdacht eines "Verbrechens" für zulässig erklärt? Sieht man sich durch diese Unstimmigkeit zu einer genaueren Betrachtung der Strafgesetze veranlasst, stößt man bald auf Einsichten, die es unmöglich machen, die Etablierung eines Deliktskatalogs in§ IOOc Abs. I Nr. 3 StPO als einmalige gesetzgeberische Ignoranz gegenüber dem Instrument des § I2 StGB abzutun. Tatsächlich hat nämlich die Zahl solcher Deliktskataloge in den Strafgesetzen in letzter Zeit generell ganz erheblich zugenommen, während die Dichotomie der Straftaten immer seltener zum Einsatz kommt?. Darüberhinaus hat das OrgKG im Jahr I992 sogar einen neuen Sammelbegriff für Straftaten von besonderem Gewicht aus der Taufe gehoben: Den Begriff der Straftat von erheblicher Bedeutung, der bislang ausnahmslos in der Strafprozessordnung vorkommt8 • Diese knappe Analyse erlaubt bereits einen befremdlichen Befund: Gab es ursprünglich mit der Dreiteilung des § I RStGB 9 praktisch nur ein gesetzliches Instrument zur Unterscheidung von Straftaten nach ihrer Schwere, so existieren heute mit der Dichotomie des§ I2 StGB, der erst zuletzt verstärkt eingesetzten Enumerationstechnik und dem Modell der Straftat von erheblicher Bedeutung (das die Existenz von Straftaten ohne erhebliche Bedeutung impliziert) drei solcher Unterscheidungstechniken nebeneinander, deren jeweils spezifische Einsatzfelder, Funktionen und ihr Verhältnis zueinander noch wenig geklärt sind. Vor allem scheint die Frage angebracht, ob es aus heutigem Blickwinkel für jedes einzelne dieser Differenzierungsmodelle eine Existenzlegitimation gibt, oder ob nicht vielmehr die Koexistenz der Systeme als verwirrend, überflüssig und unter dem Gesichtspunkt der Gesetzesökonomie sogar als schädlich angesehen werden muss. Die oben für den Einzelfall des§ IOOc StPO aufgeworfene Frage lässt sich damit zu Fragen grundsätzlicher Art verallgemeinern: Wenn der Gesetzgeber neuerdings immer mehr mit Deliktskatalogen und dem Begriff der Straftat von erheblicher Bedeutung operiert, worin liegt dann eigentlich noch der Wert der Dichotomie des § 12 StGB? Oder sollte man eher umgekehrt fragen, wozu es plötzlich jener neuen Unterscheidungs7 Belege für diesen Trend sind zahlreiche jüngere Kataloge in der Strafprozessordnung: §§ 81 g (eingefügt durch Gesetz vom 7.9.1998, BGBI. I, 2646), 100a (Gesetz v. 13.8.1968, BGBI.I, 849), JOOc I Nr. 3 (s.o.), 112 III (Gesetz v. 19.12.1964, BGBI.I, 1076), ll2a (Gesetz v. 7.8.1972, BGBI. I, 1361), 163d (Gesetz v. 19.4.1986, BGBI. I, 537). Im Strafgesetzbuch finden sich neuere Kataloge in den §§ 126 (Gesetz v. 22.4.1976, BGBI.I, 1056), 129 a (Gesetz v. 18.8.1976, BGBI.I, 2181), 130a (Gesetz v. 19.12.1986, BGBI.I, 2566), 145d I Nr.2, II Nr. 2 (Gesetz v. 18.8.1976), 261 I S. 2 Nr. 2 (Gesetz v. 15.7.1992, BGBI. I, 1302). 8 Vgl. die§§ 81 g, 98a I 1, JOO c I 1 b, 1 JOa I 1, 163e I 1 StPO. 9 Die Norm statuierte neben Verbrechen und Vergehen noch eine dritte Klasse der Übertretungen, näher S. 59 ff.

Einleitung

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modelle bedarf, wo doch die Dichotomie als Differenzierungsmittel bereits im Gesetz steht? Dies sind, im Kern, die Fragen, welchen die vorliegende Untersuchung nachgehen will. Anders als in älteren Untersuchungen zur Trichotomie des § 1 RStGB 1o geht es also nicht darum, deren Wert und Bedeutung quasi isoliert darzustellen, sondern gerade im Lichte der expandierenden Alternativkonzepte. Im Mittelpunkt der Arbeit steht damit nicht der "absolute" Wert einer Klassifizierung von Straftaten nach ihrer Schwere, sondern ihr "relativer" Wert, die Frage also, ob das Instrument durch die Entwicklung der anderen Gesetzestechniken überholt wurde und deshalb als obsolet betrachtet werden muss. Allerdings lässt sich diese Frage nur schwer beantworten ohne Verständnis der historischen Ursprünge der Klassifizierung der§§ 1 RStGB bzw. 12 StGB sowie ihrer ursprünglichen und ihrer bis heute verbliebenen Funktionen. Erst vor dem Hintergrund eines vollständigen Bildes vom Wesen der Einteilung gewinnt ein kritischer Vergleich mit den jüngeren Konkurrenzmodellen einer Differenzierung der Straftaten an Schärfe und kann damit fruchtbar werden für Entwürfe zu einer empfehlenswerten Entwicklung de lege ferenda. Diesen methodischen Überlegungen folgt der Aufbau der Arbeit. Teil 1 versucht, die historische Entwicklung der Klassifizierung der§§ 1 RStGB/12 StGB wenigstens grob zu skizzieren; dabei werden, wo solche erkennbar sind, auch die Funktionen früherer vergleichbarer Klassifizierungen im deutschen Recht offengelegt Diese Funktionen stehen dann für die Einteilung des § 1 RStGB im Mittelpunkt des zweiten Teils. Neben den rein gesetzestechnischen Funktionen sollen hier auch bestimmte "ungeschriebene" Funktionen der Einteilung näher untersucht werden, die bei Äußerungen über den Wert des Instituts im allgemeinen vernachlässigt werden11. Ein anderer Schwerpunkt dieses Untersuchungsabschnitts liegt darin, den erheblichen Verlust an gesetzestechnischer Bedeutung aufzuzeigen, den das Institut im Laufe des 20. Jahrhunderts erfahren hat. Dies lässt sich am eindrucksvollsten durch eine Aufzählung und Erläuterung sämtlicher Normen, die seit 1871 an die Einteilung der Delikte angeknüpft haben, und die Darstellung ihrer weiteren Entwicklung bis zur Gegenwart erreichen. Mit der verbliebenen Bedeutung der Dichotomie aus heutiger Sicht beschäftigt sich dann intensiv Teil 3, der sich dabei um eines Systematisierung sowohl ihrer typischen Einsatzfälle wie auch der jeweiligen materiellen Hintergründe ihres Einsatzes bemüht. Ist damit ein vollständiger Eindruck vom Wesen der Einteilung gewonnen, wendet sich die Aufmerksamkeit den neueren Unterscheidungstechniken, der Enumerationstechnik und dem Topos der Straftat von erheblicher Bedeutung zu. Teil 4 stellt diese Konzepte, ihre typischen Einsatzfelder und Funktionen vor und bemüht sich bereits, etwaige Parallelen und Unterschiede zur überkommenen Klassifizierung aufzuzeigen. Auf der Grundlage der gewonnenen Ergebnisse sollen schließlich Wert und Existenzberechtigung der 10 11

Zu nennen sind die Arbeiten von Meyer (1891) und Daimer (1915). Eine Ausnahme bildet beispielsweise LK-Tröndle 10. A. § 12 Rn. 6.

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Einleitung

Dichotomie de lege ferenda beurteilt werden. Dieser Versuch steht im Mittelpunkt des 5. Teils, der sowohl vom Umfang als auch vom analytischen Gehalt her den Schwerpunkt der Arbeit bildet. Im einzelnen bemüht er sich darum, die spezifischen Stärken und Schwächen der drei Differenzierungskonzepte aufzuzeigen und gegeneinander abzuwägen. Auf der Grundlage einer knappen Analyse der Unterscheidungspraxis in einigen wichtigen ausländischen Rechtsordnungen ergeht schließlich der Entwurf eines Differenzierungskonzepts für Strafgesetzbuch, Strafprozessordnung und Gerichtsverfassungsgesetz, das auf die Einteilung des§ 12 StGB vollständig verzichtet. In einer Hinsicht bedarf der Untersuchungsgegenstand noch der Eingrenzung. Die Ordnungswidrigkeiten 12 spielen im Rahmen der Arbeit keine Rolle. Denn auch wenn die früheren Übertretungen im Jahr 1975 weitgehend in den Ordnungswidrigkeiten aufgegangen sind 13 , wäre es falsch, heute noch von einer Dreiteilung der Delikte zu sprechen: Ordnungswidrigkeiten sind keine Straftaten; das Ordnungswidrigkeitenrecht steht grundsätzlich neben dem Strafrecht und nicht etwa unterhalb desselben 14• Gegenstand dieser Arbeit sind hingegen die Einteilung der Straftaten nach ihrer Schwere und ihre Konkurrenzmodelle. Auf die Ordnungswidrigkeiten als außerhalb dieses Regelungskomplexes stehende Materie wird deshalb nur dort zu sprechen kommen sein, wo Berührungen mit dem Untersuchungsgegenstand dies erfordern.

12 Vgl. das OwiG in der Fassung der Bekanntmachung vom 19.2.1987, BGBI.I, 602. n Näherdazu S.61 ff. 14 KK-OWiG-Bohnert Einleitung Rn. 2.

Erster Teil

Die geschichtliche Entwicklung der Unterscheidung strafbarer Handlungen nach ihrem Schweregrad A. Vorbemerkung: Charakteristika der geltenden Dichotomie Wer die Entwicklung der heutigen Dichotomie im Strafrecht über die vergangenen Jahrhunderte nachvollziehen will, muss sich zunächst über die Charakteristika, das spezifische Wesen der Einteilung, wie sie jetzt§ 12 StOB vornimmt, im Klaren werden. Denn der Möglichkeiten, stratbare Handlungen nach bestimmten Kriterien zu klassifizieren, sind viele1• So lässt sich differenzieren nach der Beziehung zwischen Handlung und Erfolg2 , nach der Intensität der Rechtsgutsbeeinträchtigung3, nach zeitlichen Dimensionen der Rechtsgutsbeeinträchtigung4, nach den Grundformen menschlichen Verhaltens5, nach dem Grad der Tatbestandsverwirklichung6, nach dem möglichen Täterkreis7 oder nach der inneren Beziehung des Täters zur Tat8 • Handelt es sich bei den hier genannten überwiegend um von der Strafrechtswissenschaft herausgearbeitete Differenzierungen, die sich dem Gesetz nur mittelbar entnehmen lassen, so bietet das Strafgesetzbuch selbst im Besonderen Teil eine weitere Art der Einteilung, indem es die einzelnen Straftatbestände entsprechend der Angriffsrichtung, also in Anknüpfung an das geschützte Rechtsgut, in Gruppen einteilt: also beispielsweise in die der Straftaten gegen die öffentliche Ordnung (7. Abschnitt), der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (13. Abschnitt), der Straftaten gegen das Leben (16. Abschnitt) usw9 • Dazu aus historischer Perspektive Philipsborn. Erfolgs- und Tatigkeitsdelikte. 3 Verletzungs- und Gefährdungsdelikte. 4 Dauer- und Zustandsdelikte. s Begehungs- und Unterlassungsdelikte. 6 Versuch und Vollendung. 7 Allgemeindelikte, Sonderdelikte, eigenhändige Delikte. s Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikte. 9 Die sog. Legalordnung, vgl. Maurach!Schroeder!Maiwald BT 1 Einleitung Rn. 7ff. Die Gruppierung nach der Angriffsrichtung ist allerdings nicht bis in die letzte Konsequenz durchgeführt: Der 29. Abschnitt, Straftaten im Amt, stellt allein auf eine bestimmte Taterqualifikation ab. 1

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1. Teil: Unterscheidung strafbarer Handlungen nach ihrem Schweregrad

Auch die Unterscheidung von Verbrechen und Vergehen musste nicht erst von der Rechtswissenschaft im Wege der Abstrahierung aus dem Gesetz abgeleitet werden. Sie ist in § 12 StGB vielmehr unmissverständlich vorgegeben. Das Kriterium der Differenzierung wurde bereits genannt: Entscheidend für die Einordnung ist die Schwere der angedrohten Mindeststrafe. Doch greift dieser rein formale Ansatz für eine Untersuchung -zumindest, soweit es um die geschichtliche Entwicklung der Dichotomie geht- möglicherweise zu kurz. Denn spätestens seit der Aufklärung hat sich in der Strafrechtstheorie die Überzeugung durchgesetzt, dass die Strafe als staatliche Reaktion auf als strafwürdig empfundenes Verhalten nicht willkürlich und weitgehend unberechenbar verhängt werden darf, sondern in einem angemessenen Verhältnis zur Tat stehen muss 10• Dieser Grundsatz verhältnismäßigen, d. h. in seiner Härte auf die konkrete Tat abgestimmten Strafens findet im geltenden Recht Niederschlag in § 46 Abs. 1 S. 1 StGB. Damit lassen aber gesetzliche Strafdrohungen auch grundsätzlich einen Rückschluss auf die Schwere, den Unwertgehalt der Tat zu: Je höher die Strafdrohung, desto schwerer ist das im Tatbestand verkörperte Delikt. Es lässt sich daher für das geltende Recht behaupten, dass sich hinter der Anknüpfung an eine bestimmte Strafdrohung ein Anknüpfen an Unterschiede auf der Unwertebene verbirgt. Die Dichotomie des § 12 StGB ist daher nur formal eine Einteilung nach der Höhe der Strafdrohung; materiell geht es -jedenfalls nach Intention des Gesetzgebers - um eine Klassifizierung der Straftaten unter dem Gesichtspunkt ihrer Schwere. Damit lässt sich der Gegenstand der geschichtlichen Untersuchung folgendermaßen eingrenzen: Gesucht wird nach Versuchen einer normsetzenden Autorität, strafbare Handlungen entsprechend ihrem Schweregrad in verschiedene Gruppen einzuteilen. Weiter ist zu fragen, ob diese Einteilung wie in unserem heutigen Strafgesetzbuch positiv-rechtlich niedergelegt wurde. Charakteristisch für die heutige Dichotomie ist ferner die formale Anknüpfung an die abstrakte Strafdrohung der Straftatbestände. Und schließlich ist nach Funktionen zu suchen, die etwaige frühere Abstufungen strafbarer Handlungen getragen haben. Denn auch§ 12 StGB steht nicht aus bloßer "Lust am Einteilen" im Gesetz, sondern sollte und soll nach der gesetzgeberischen Intention ganz spezifische Funktionen erfüllen11 • Eine Kurzformel zur Charakterisierung der Dichotomie könnte deshalb lauten: positiviert, formal, funktional.

10 Die einflussreichsten Arbeiten und Äußerungen in diesem Zusammenhang stammen von Beccaria und Voltaire, vgl v. Hippel264ff. 11 Zu diesen Funktionen näher im 2. und 3. Teil.

B. Überblick über die Entwicklung

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B. Überblick über die Entwicklung I. Frühformen einer Unterscheidung: Unterschiedliche Reaktionen der Rechtsgemeinschaft auf die Tat als Unwerturteil Wer im strafrechtswissenschaftlichen Schrifttum nach geschichtlichen Hintergründen der Dichotomie forscht, stößt bald auf die Behauptung, Straftaten seien ..von alters her" zu verschiedenen Zwecken eingeteilt worden 12 . Diese etwas nebulöse Aussage gewinnt an Konturen, wenn sich zugleich feststellen lässt, dass nahezu sämtliche Lehrbücher und Kommentare die Geschichte der Differenzierung mit der Unterscheidung von causae maiores und causae minores im .,älteren deutschen Recht" beginnen lassen 13 • Zum ersten Mal tauchen diese Begriffe in den Volksrechten der fränkischen Zeit auf, also im Frühmittelalter. Die Darstellung im Schrifttum suggeriert mithin, eine Unterscheidung von Straftaten nach dem Grad ihrer Schwere sei früheren Zeiten unbekannt gewesen. Daran ist richtig, dass eine ausdrücklich positivierte, begrifflich verankerte Trennung, wie sie heute in§ 12 StGB vor uns steht, bis dahin noch nicht aufgetreten war. Eine rein faktische Differenzierung lässt sich hingegen schon viel früher ausmachen14. Sie findet Ausdruck in dem- im Grunde banal erscheinenden- Phänomen der unterschiedlichen Ahndung verschiedener Delikte. So scheiterte etwa im germanischen Strafrecht die Beendigung der Sippenfehde durch Bußgeldzahlungen (compositio) oftmals daran, dass die Möglichkeit, sich der durch Tötung eines Menschen verwirkten Strafe durch Sachleistung zu entziehen, als ..schimpflich" empfunden wurde15 . Ebenso zogen bestimme Delikte bereits in germanischer Zeit- einer Hochzeit des Privatstrafrechts- eine Ahndung nicht mehr durch den Einzelnen und seine Sippe, sondern durch die Gemeinschaft nach sich, vermochten also eine kurzfristige ..Entpersönlichung" des Strafrechts auszulösen16. Diese unterschiedlichen Reaktionsweisen der Rechtsgemeinschaft auf unterschiedlich schwere Delikte lassen sich zusammenfassen in einem Satz aus der ..Germania" des Tacitus: distinctio poenarum ex delicto -die Strafen sind verschieden je nach Delikt17• Interessanterweise stellt die Regelung des§ 12 StGB inhaltlich die genaue LK-Tröndle 10. A. § 12 Rn. 2. LK-Tröndle 10. A. § 12 Rn. 2; Heinitz 55; Maurach/Zipf AT 1 § 13 Rn. 20; Roxin AT§ 9 Rn.3. 14 Vgl. auch Meyer 2: ,,Abstufungen der Straftaten nach der Schwere sind[ ... ] in dieser oder jener Gestalt in dem Strafrecht aller Nationen und Zeiten vorhanden gewesen." 1s Conrad I, 47; v. Hippe/42. 16 Es handelte sich naturgemäß um Taten, welche die Gesamtheit als solche bedrohten, also kultische Verbrechen, schwere Sittenverstöße oder Kriegsverrat; siehe Conrad I, 48; v. Hippe/ 43; Maurach/Zipf AT 1 § 4 Rn. 3; Schroeder Strafprozeßrecht Rn. 27; vgl. ferner PhiUpsborn 35. 17 Perl Tac. Germ. 12.1. 12 13

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I. Teil: Unterscheidung strafbarer Handlungen nach ihrem Schweregrad

Umkehrung dieses Satzes dar, nämlich: distinctio delietarum ex poena- die Tat ist verschieden (nämlich Verbrechen oder Vergehen) je nach Strafe. Ähnliche Zusammenhänge zwischen der Deliktsschwere und Sanktionsarten zeigen sich im römischen Strafrecht: Bei bestimmten, schweren Verbrechen wurde dort die Strafe aus ihrer privatrechtliehen Einbettung gelöst und die Gerichtsbarkeit einem am Konflikt nicht beteiligten Quästor übertragen 18 • Weiter findet sich auch schon eine Unterscheidung nach der Schuldform: Während die vorsätzliche Tötung eines Menschen dazu führte, dass der Mörder der Verwandschaft des Opfers durch die Mordquästoren zur privaten Rache (Tötung oder Verkauf in die Sklaverei) überlassen wurde 19, war bei Fahrlässigkeit die Person des Täters für jegliche Rachehandlung tabu: Si te/um manufugit magis quam iecit, aries subicitur20 : Wenn die Waffe der Hand mehr entflohen ist als geworfen wurde, soll ein Bock untergeschoben werden- fehlte der Vorsatz, mussten sich die Angehörigen des Opfers mit Kompensationsleistungen zufrieden geben. An diesen Beispielen mag erkennbar werden, dass schon in den frühesten uns bekannten Formen des Strafrechts ein durchaus ausgeprägtes Bewusstsein der Rechtsgemeinschaft für das unterschiedliche Gewicht verschiedener Delikte vorhanden war und - in der Art der Sanktion - auch nach außen hin manifest wurde. Indessen fehlt es dieser Art der Unterscheidung an einem der eingangs als charakteristisch benannten Merkmale der Dichotomie: der Zusammenfassung der tatsächlich verschieden behandelten Delikte zu nach abstrakten Merkmalen bestimmten Gruppen, der positiv-rechtlichen Fixierung. Das kann zumindest für die germanische Zeit als einer Epoche des Gewohnheitsrechts nicht überraschen: Wo das Recht jeder Art von Normierung entbehrt, nur in der alltäglichen Anwendung, im tatsächlichen Vollzug zum Vorschein kommt, kann es eine abstrahierende Begrifflichkeit, eine funktionale Klassifizierung der Delikte, wie sie heute§ 12 StGB darstellt, sachlogisch nicht geben: Als gesetzgeberischer Akt setzt eine solche Klassifizierung die Existenz von Gesetzgebung voraus. Ebenso leuchtet ein, dass die wichtigsten Funktionen der Dichotomie, die gerade im Bereich gesetzestechnischer Vereinfachung liegen, dort keine Rolle spielen können, wo es in Ermangelung jeglicher Kodifizierung kein Bedürfnis nach solcher Vereinfachung gibt. Nur nebenbei sei erwähnt, dass eine der heute wichtigsten dieser Vereinfachungsaufgaben, die Regelung der Versuchsstrafbarkeit, auch in materieller Hinsicht im germanischen Strafrecht leergelaufen wäre: Da es vom Grundsatz der Erfolgshaftung geprägt war, kam eine Strafbarkeit des Versuchs von vomherein nicht in Betracht21 • 18 Pomp. D.l. 2.2. 23/24: ... propterea quaestores constituebantur a populo, qui capitalibus rebus praecessent. hi appelebantur quaestores paricidii, quorum etiam memmitlex duodecim tabularum. Vgl. auch Mommsen 60. 19 Wesel Rn. 133. 20 Vgl. Düll tab. 8.24. 21 v.Hippe/!06; Maurach/Zipf AT! §4 Rn.2.

B. Überblick über die Entwicklung

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Damit dürfte gezeigt sein, dass diese frühen Formen eine Unterscheidung von Delikten nach ihrer Schwere mit dem Untersuchungsgegenstand noch keine Ähnlichkeit aufweisen. Es handelt sich eben erst um eine Differenzierung, nicht um eine Klassifizierung.

II. Ansätze einer gesetzlichen Begriffsbildung 1. Fränkische Zeit: Causae maiores und causae minores a) Entwicklung und Funktion der Unterscheidung Die früheste und rudimentärste Form einer Unterscheidung von Straftaten nach ihrem Unrechtsgehalt, die sich allein in der divergierenden Behandlung durch die Rechtsgemeinschaft manifestiert, bleibt auch in der fränkischen Zeit (5.-9. Jahrhundert n. Chr.) zunächst die einzige. Zwar vollzieht sich mit den sog. Volksrechten (Ieges) und ihnen nachfolgend dem königlichen Verordnungsrecht (den sog. Kapitularien) nunmehr auch außerhalb des römischen Reichs der Übergang vom Gewohnheitsrecht zur grundsätzlichen Herrschaft des Gesetzesrechts22 . Doch bringt diese Kodifikationsbewegung im hier interessierenden Zusammenhang nichts neues. Die Volksrechte enthalten zwar überwiegend Strafrecht23 . Dabei konzentrieren sich die Gesetze aber auf ein ausgefeiltes sog. Kompositionensystem: Die Lex Salica etwa erscheint inhaltlich überwiegend als ein nach der Schwere der Tat abgestufter Katalog von BuBsätzen für verschiedene Delikte24. Allenfalls mittelbar lässt sich hier also eine Qualifizierung der Straftaten nach ihrem Schweregrad erkennen: Je höher der Bußsatz, desto gravierender das Delikt. Insoweit gilt nichts anderes als für das germanische und römische Recht: Der Unterschied auf der Unrechtsebene wird erkannt und entsprechend sanktioniert, allein die Klassifizierung auf normativer Ebene bleibt aus. Das ändert sich erst, als in einzelnen Kapitularien der Begriff der causa criminalis und der causae maiores auftaucht. Darunter verstand man die schwereren Straftaten, denen als minder schwere Straftaten die causae minores gegenübergestellt wurden25. Hier lassen sich also erstmals in der deutschen Strafrechtsgeschichte Oberbegriffe für nach ihrem Schweregrad geschiedene Deliktsgruppen verorten. Eine erschöpfende Aufzählung der causae maiores findet sich aber noch nicht26• Die Bedeutung der Unterscheidung scheint auf den ersten Blick eher gering. V. Hippe[ sieht den Unterschied vor allem auf der Sanktionsebene: Causae minores v.Hippe/110. v.Hippe/109. 24 v. Hippe/ I II. 25 Brunner/v.Schwerin 705. Dort wird als eine der ersten Quellen, in denen der Begriff des "schweren Verbrechens" auftaucht, das Edikt Chlothars II. aus dem Jahr 614 n Chr. genannt. 26 Brunner/v. Schwerin 705 f. 22

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I. Teil: Unterscheidung strafbarer Handlungen nach ihrem Schweregrad

bzw. leviores seien Bußsachen, causae maiores alle mit Leibes- oder Lebensstrafen, mit Verbannung, Strafhaft, Verknechtung und ähnlich gravierenden Strafen geahndeten Deli.kte27 . Doch reicht die Funktion der Differenzierung jetzt erstmals weiter. Um dies zu verdeutlichen, bedarf es eines kurzen Blicks auf die Gerichtsverfassung in der fränkischen Zeit. Von deren Beginn an existierte das sog. Königsgericht Es tagte - die Bezeichnung verrät es - unter dem Vorsitz des Königs an dem Ort, wo dieser sich gerade aufhielt28 • Daneben gab es das Gericht des Grafen. Der Graf, deshalb auch iudex genannt, hatte die Stellung des Richters in seiner Grafschaft (Gau)29 • Schließlich existierten, ebenfalls in den Grafschaften, Untergerichte, die unter dem Vorsitz sog. Zentenare und Vikare (das waren Hilfsbeamte des Grafen mit vielfältigen Funktionen) standen30• Dieses Nebeneinander von Königs-, Grafen- und Untergericht, die horizontale Gerichtsgliederung, hatte eine Konkurrenz der Gerichtsbarkeit zur Folge31 • Vor welchem Gericht sollte ein Urteil gefällt werden, wenn sich etwa der König gerade in der Gau des an sich zuständigen Grafen aufhielt? Konnte das Königsgericht auch dann zuständig sein, wenn sich die zu ahndende Tat fernab vom aktuellen Aufenthaltsort des Königs ereignet hatte? Und wann war die Urteilstindung dem Grafen vorbehalten im Verhältnis zu seinen Unterbeamten, dem Zentenar und Vikar? Diese Konkurrenzsituation verlangte nach einer verbindlichen Zuständigkeitsabgrenzung. Sie wurde derart vorgenommen, dass zunächst die Verhängung bestimmter Strafen wie auch die Aburteilung ausgewählter Delikte dem Königsgericht vorbehalten war32 • Ferner war das Königsgericht Reklamationsgericht für bestimmte ausgewählte Personenkreise und besaß ein ius evocandi für sämtliche Streitsachenll. Schließlich fungierte es als Kassationsgericht für die Urteile des Grafengerichts, ohne dass es einen festen Instanzenzug gegeben hätte34 • Wie aber waren die Kompetenzen zwischen dem Grafen und seinen Hilfsbeamten verteilt? An dieser Stelle kommt das Begriffspaar causae maiores/causae minores ins Spiel. In einigen Kapitularien wird nunmehr die niedere Gerichtsbarkeit von der Zuständigkeit für die causae maiores ausgenommen. Die schweren Verbrechen falv.Hippe/113. Brunnerlv. Schwerin 182/184. Dort auch der Hinweis, dass die Anwesenheit des Königs wohl nur für die abschließende Entscheidung (definitiva sententia) erforderlich war. 29 Brunner!v. Schwerin 223. 30 Brunner/v. Schwerin 239; Wese/ Rn. 195. 31 Wese/ Rn. 195 32 Z. B. die Todesstrafe über Personen des höheren Standes, Exilierung als Strafen; Heeresflucht, Parteilichkeit von Schöffen als Delikte, näher dazu Brunner/v. Schwerin 190. 33 Brunner/v.Schwerin 239. 34 Brunner/v. Schwerin 189; Wese/ Rn. 195. 27 28

B. Überblick über die Entwicklung

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len ausschließlich in den Kompetenzbereich des Grafen oder gar des Königs. Causae minores sind folgerichtig jene weniger schweren Fälle, die unter dem Vorsitz des Zentenars oder Vikars verhandelt werden3s. Diese Kompetenzorganisation lässt sich überblicksmäßig wie folgt darstellen: Königsgericht

Grafengericht

= Sondergericht

Graf

Reklamationsgericht Kassationsgericht

ZentenarNikar

~

causae maiores

causae minores

b) Zusammenfassung und Auswertung Indem erstmals eine Differenzierung von Delikten unterschiedlicher Schwere unter der Verwendung von Sammelbegriffen gesetzlich festgeschrieben wird, bringt die fränkische Zeit gegenüber den bisher untersuchten Rechtsräumen eine qualitativ abweichende Art der Unterscheidung. Dieser qualitative Unterschied besteht aber nicht nur darin, dass nun, anders als im Recht der germanischen oder römischen Zeit, erstmals zusammenfassende Oberbegriffe für die geschiedenen Deliktsgruppen nicht von der Wissenschaft erarbeitet werden müssen, sondern selbst Gesetzesbegriffe- namentlich der Kapitularien36 - darstellen. Sie liegt vor allem in der ganz konkreten Funktion der Einteilung für die Abscheidung der Gerichtszuständigkeiten. Insoweit lässt sich diese ftiihere Dichotomie sogar schon mit § I RStGB und seiner Bedeutung für die Gerichtskompetenzen vergleichen. Eine entsprechende Funktion konnte es für die nur in der Faktizität der konkreten Sanktion sichtbar werdende Abstufung ftiiherer Zeiten nicht geben. Das Aufkommen der Unterscheidung war also eng verbunden mit der unübersichtlichen Gerichtsverfassung der fränkischen Zeit. Hätte es kein Bedürfnis nach Kompetenzverteilung in Strafsachen gegeben, das causae-Begriffspaar wäre wohl kaum zu vergleichbarer Bedeutung gelangt. Doch darf nicht übersehen werden, dass bereits im römischen Quaestioneoverfahren angesichts der Vielzahl der quaestiones ein Zuordnungsbedürfnis bestand. Dort aber behalf man sich mit einer abschließenden Aufzählung der in den jeweiligen Zuständigkeitsbereich fallenden Delikte und umging so die Notwendigkeit einer abstrahierenden Typenbildung. Der Fortschritt gegenüber früheren Zeiten liegt also einerseits in der gesetzlichen Herausbildung zusammenfassender Oberbegriffe für Deliktsgruppen unterschiedlicher Unrechtsin35 36

Brunner/v.Schwerin 239, 705f.; Wesel Rn.195. Eine Zusammenstellung der Fundstellen bieten Brunner/v. Schwerin 239 Fn. 34.

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1. Teil: Unterscheidung strafbarer Handlungen nach ihrem Schweregrad

tensität, andererseits in der Funktionalisierung dieser Begriffe für die Gerichtsorganisation. Auf der anderen Seite bleibt festzuhalten, dass die Differenzierung gesetzlich erst sehr schwach herausgearbeitet war. Man musste die Gesetze schon sehr genau durchforsten, um die dargestellten Ergebnisse zutage zu fördern. So lässt sich die "fränkische Dichotomie" etwa der Lex Thuringorum nur im Umkehrschluss entnehmen, wenn dort "de minoribus causis" gehandelt wird, nachdem zuvor eine Reihe schwerer Delikte dargestellt wurde37 • Eine Gegenüberstellung von capitula maiora und capitula minora bringt dagegen immerhin die Capitulatio de partibus Saxoniae38. Eine klare gesetzliche Abgrenzung an einer Stelle, in einer Norm sucht man indes vergeblich. Es kann deshalb resümiert werden, dass die Dichotomie der fränkischen Zeit inhaltlich allenfalls eine zaghafte Annäherung an unseren § 12 StGB bringt, keinesfalls aber so etwas wie dessen Vorwegnahme. 2. Das spätmittelalterliche deutsche Strafrecht bis zur Rezeption Nach dem Untergang der Karolingerherrschaft und mit dem Erstarken der Macht der Landesherren zeigte das deutsche Strafrecht die Symptome einer Auflösung 39• Volksrechte und Kapitularien verloren an Bedeutung, während das partikulare Gewohnheitsrecht wiedererstarkte40 • Diese Rückkehr zur Rechtszersplitterung war der Weiterentwicklung einer gesetzlichen Deliktsklassifizierung, für die sich in fränkischer Zeit erste zaghafte Ansätze fanden, naturgemäß nicht förderlich. Folgerichtig ergibt sich für das spätere Mittelalter bis zur Rezeption für die Einteilung der Delikte ein buntes Durcheinander mannigfaltiger Begriffe verschiedenster Bedeutungen41. Eine abschließende Zusammenstellung der verschiedenen Klassifizierungsarten und Deliktsbezeichnungen scheint kaum möglich. Sie entspräche aber auch nicht den Zielsetzungen dieser Untersuchung, der es, wie erläutert, um das "Ausgraben" der Wurzeln unserer heutigen Dichotomie geht. Diese hat eines ihrer wesentlichen Merkmale jedoch darin, dass sie die Einteilung der Straftaten nach ihrer Schwere für einen größeren Verband von Normadressaten in gesetzlich positivierter Form verbindlich festlegt. Dass eine örtlich beschränkte Gewohnheit, bestimmte Straftaten mit einem bestimmten Sammelbegriff zu belegen, dieses Charakteristikums gleich in doppelter Hinsicht entbehrt - nämlich einmal im Hinblick auf die fehlende gesetzliche Fixierung, zum anderen wegen der fehlenden Verbindlichkeit für eine größere Einheit von Rechtsanwendern- bedarf keiner näheren Erläuterung. Vgl. Brunner/v. Schwerin 705 f. Fn. 9. Brunner/v. Schwerin 239 Fn. 34. 39 Maurach/Zipf AT 1 § 4 Rn. 7. 40 v.Hippe/122. 4 1 Ähnlich His I, 37. 37 38

B. Überblick über die Entwicklung

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Aus diesem Grund- neben den erwähnten praktischen Schwierigkeiten einer umfassenden Darstellung- soll es an dieser Stelle mit einem knappen Überblick und dem Herausgreifen einiger markanter Beispielsfälle sein Bewenden haben. Größere Aufmerksamkeit verdient hingegen die im 13. Jahrhundert aufkommende Tendenz zum überpartikularen Gesetzesrecht Namentlich "das älteste und bei weitem bedeutendste Rechtsbuch in deutscher Sprache"42 , der Sachsenspiegel Eike von Repgows, soll in diesem Zusammenhang genauer durchleuchtet werden. a) Das Partikular- und Gewohnheitsrecht43

In den Rechtsquellen der nachfränkischen Zeit finden sich als lateinische Bezeichnungen für schwere Verbrechen die Begriffe maleficium, crimen undfacinus, seltener delictum und scelus. Daneben besteht die aus karolingischer Zeit stammende Sammelbezeichnung der causae maiores fort 44 • Deutsche Bezeichnung für schwere Straftaten ist Ungericht, leichtere Fälle nennt man Unrecht, Unfug, Unzucht45. Zugleich findet sich in der Landessprache eine verwirrende Vielzahl unterschiedlichster Bezeichnungen für schwere bzw. leichte Straftaten. Grundsätzlich unterscheiden lassen sich dabei zwei Klassifizierungstechniken: Nämlich einmal das schon aus dem römischen Recht bekannte Enumerationsprinzip, und zum anderen die scheinbar progressivere Methode der fränkischen Zeit, abstrakte Begriffe für unterschiedliche Deliktsgruppen zu bilden. Dem ersten Prinzip der abschließenden Zuordnung ausgewählter Delikte an bestimmte Organe der Rechtsprechung folgt etwa folgender Satz aus einer "Urkunde über das Baroberger Stiftsgut zu Ostenhofen" aus dem Jahre 117246: Der Vogt hat zu richten über vehtat, Nachtbrand, Heimsuche und Diebstahl.

Ähnlich ein Beispiel aus der ,,Keure des Freien von Brügge", um 1190"7 : Der gräflichen Gerichtsbarkeit sind vorbehalten Mord, Totschlag und Brand.

Die "modernere" Methode des Rückgriffs auf zusammenfassende Oberbegriffe bedient sich in nachfränkischer Zeit von Region zu Region verschiedenster Bezeichnungen für die differenzierten Deliktstypen. Angesichts der Vielzahl der Begriffe bietet sich die Darstellung in Form einer Tabelle an48 : K.-P. Schroeder, JuS 1998, 776. Vgl. zum Folgenden His I, 37ff. 44 v.Hippe/129; His I, 37. 45 His I, 38. 46 Zitiert nach His I, 40 Anrn. 8. 47 Zitiert nach His I, 40 Anrn. 8. Dort zahlreiche weitere Beispiele. 48 Vgl. His 42f.; ferner Conrad I, 442. 42 4l

32

1. Teil: Unterscheidung strafbarer Handlungen nach ihrem Schweregrad

Ort

schwere Straftaten

leichtere Straftaten

Flandem

groes mesdoen

cleene mesdoen

Friesland

mesdede graet; hogeste broke (höchste Brüche); hogeste gerichte (höchste gerichte) in älteren Quellen: tha hagosta wenda (höchste Fälle)

mesdede littich

Ostfalen

pinlike Saken (peinliche Sachen)

borgerlike saken (bürgerliche Sachen)

Bayern

gross ding seit dem 15. Jahrhundert: freis, freisch

Österreich

pöseu dinch (böses Ding)

ohne örtliche Beschränkung, seit dem 15. Jahrhundert in ganz Oberdeutschland

malefiz, malefizsache, malefizhandel

frevel, unzucht

Hochstift Eichstätt; Oberpfalz

wandel

frevel

Teile Ostfrankens und Oberdeutschlands

ehrliche Sachen

unehrliche Sachen

Die Tabelle soll und kann keine weitergehende Funktion erfüllen als die, dem Betrachter einen groben Überblick zu vermitteln sowohl über die wichtigsten der im Spätmittelalter gängigen Typenbezeichnungen als auch über die Vielfalt der Begriffe als solche. Dabei kann auf Feinheiten wie auf die Funktionen der verschiedenen Unterscheidungen nicht eingegangen werden. Nicht verschwiegen werden soll aber, dass die vorgenommene Einteilung in schwere und leichtere Fälle den aufgeführten Begriffen nicht immer voll gerecht wird. So bezeichnen etwa die Begriffe gross ding oder pinlike saken genaugenommen nur die mit dem Tode bzw. der Verstümmelung bedrohten Taten; die Qualifizierung als besonders schwere Taten lässt sich hier also nur aus der Härte der Sanktion ableiten. Ähnliches gilt für die Bezeichnung/reis, die sich allein auf die an Hals und Hand gestraften Sachen bezieht. Auch können die Begriffe Frevel und Unzucht das ma/efiz umfassen, kann umgekehrt der Begriff des malefiz auf die lediglich an Haut und Haar strafbaren Vergehen ausgedehnt werden49. Auf diese Details soll hier nur der wissenschaftlichen Genauigkeit wegen hingewiesen werden; für das angestrebte Ziel, einen knappen Überblick über die terminologische Vielfalt im Zusammenhang mit der Deliktsklassifizierung der nachfränkischen Zeit zu ermöglichen, spielen sie keine Rolle. 49 Zu diesen Differenzierungen näher His 44. Zur vielfaltigen Bedeutung des Wortesfrevel vgl. insbesondere 48 ff.

B. Überblick über die Entwicklung

33

b) Der Sachsenspiegel

Obwohl tatsächlich nur eine rein private Rechtsaufzeichnung ohne jedes hoheitliche Gebot50, ist der um 1230 durch Eike von Repgow geschaffene Sachsenspiegel in seiner Bedeutung für die weitere Rechtsentwicklung in Deutschland kaum hoch genug einzuschätzen, weit höher jedenfalls als die in den Jahren davor und danach in unübersehbarer Vielzahl entstandenen anderen Partikularrechte. Dies nicht nur, weil das Landrecht des Sachsenspiegels knapp ein Jahrhundert nach seiner Entstehung für ein kaiserliches Gesetz gehalten wurde5 1, sondern vor allem deshalb, weil der Sachsenspiegel als einheitliches, geschlossenes Rechtsbuch sowohl Gegenstand wissenschaftlicher Bearbeitung als auch Ausgangspunkt von Rechtsfortbildung war52• Der Frage, ob und wie der Sachsenspiegel Straftaten nach ihrer Schwere voneinander trennte, darf daher gesteigertes Interesse entgegengebracht werden, zumal Eikes besondere Aufmerksamkeit dem Strafrecht galtS3. aa) Der Begriff der "Ungerichte" Der vom Sachsenspiegel verwendete Begriff, an dem man eine solche Unterscheidung festmachen könnte, ist der der ungerichte: Nu vomemet um ungerichte, welkgerichtedar over ga.54

Nach His versteht Eike unter dem Begriff der ungerichte diejenigen Missetaten, die mit dem Tod oder Verstümmelung bestraft werden55 . Damit wäre immerhin ein erster Schritt getan zu einer abstrahierenden Qualifizierung der Straftaten, wie sie die heutige Dichotomie kennzeichnet: Zumindest für die besonders hart geahndeten und folglich als besonders schwer empfundenen Delikte wäre mit ungericht ein dem heutigen Verbrechen vergleichbarer Oberbegriff geschaffen. Doch formuliert His seine Einschätzung wohl nicht ohne Grund äußerst vorsichtig56. Denn gerade bei eingehender Exegese jener Passagen des Landrechts, die die ungerichte behandeln, scheint der von His und v. Hippe[ gezogene Schluss auf einen technischen Gebrauch des Wortes ungericht keinesfalls zwingend.

°K.-P. Schroeder, JuS 1998,778.

5

Durch Johann von Buch, den Verfasser des ersten Kommentars zum Landrecht des Sachsenspiegels; K.-P. Schroeder JuS 1998, 778; siehe auch Maurach/Zipf AT 1 § 4 Rn. 7. s2 K.-P. Schroeder JuS 1998, 778. sJ K.-P. Schroeder JuS 1998, 779. 54 Sachsenspiegel Landrecht. II 13 § l, zitiert nach Eckhardt. Neuhochdeutsch: Nun vernehmt von Verbrechen, welches Gericht darüber ergeht; vgl. Schott 107. 55 His 45. Ebenso v.Hippe/129 unter Hinweis auf His, sowie Conrad I, 442. 56 His 45: .,Nicht ganz sicher läßt sich der Begriff des Ungerichts im Sachsenpiegel feststellen, doch scheint es, als ob der Verfasser unter ungerichte nur die missetaten versteht, die mit Tod oder Verstümmelung bestraft werden." 51

3 Mirow

34

l. Teil: Unterscheidung strafbarer Handlungen nach ihrem Schweregrad

Dies gilt zunächst für den bereits teilweise zitierten 13. Abschnitt des zweiten Buches, die Stelle, die sich am ausführlichsten mit den ungerichten auseinandersetzt. Zwar setzt sich der zitierte Passus fort mit der bekannten, in ihrer herzhaften Unkompliziertheit fast schon komischen Anweisung: Den def scal man hengen.57 Doch wird die zunächst naheliegende Vermutung, dass alle ungerichte in ähnlich drastischer Form zu ahnden seien, bereits im nächsten Satz widerlegt. Neuhochdeutsch: Geschieht jedoch im Dorf bei Tage ein Diebstahl, bei dem der Schaden weniger als drei Schillinge beträgt, so darf der Bauermeister noch am gleichen Tag darüber zu Haut und Haar oder zu einer Ablösungssumme von drei Schillingen richten.58 "Haut und Haar" - dieser Begriff kennzeichnet gerade diejenigen Strafen, die Leib und Leben des Delinquenten unberührt lassen. Folglich lässt der zitierte Passus des Sachsenspiegels keinen Rückschluss auf eine technische Verwendung des Begriffs ungerichte in dem von His und v.Hippel vermuteten Sinne zu59• Für entscheidend hält His dagegen folgende Stellen: (1): Den koning kuset men to richtere over egen unde Jen unde over iewelken mannes Iif. Oe keiser ne mach aver in allen landen nicht sin, unde al ungerichte nicht richten to aller tit;60

(2): Dar[ ...] scal iewelk burmester wrugen [...] al ungerichte, dat in den Iif oder in de hand geit [...] 61 Was Passus (1) betrifft, scheint His62 etwa folgenden Schluss zu ziehen: Da der König zum Richter über das Leben gewählt wird, ihm gleichzeitig aber die praktische Möglichkeit abgesprochen wird, zu jeder Zeit über alle ungerichte richten zu können, müssen ungerichte alle mit Leibes- und Lebensstrafen bedrohten Taten sein63 • Dieser Schluss ist aber nicht wirklich zwingend. Genaugenammen wird hier nur gesagt, dass die Verhängung der Todesstrafe dem König vorbehalten bleiben muss, und dass der König (Kaiser) aus tatsächlichen Gründen nicht für alle Taten Richter sein kann. Mit diesen Aussagen ist es aber durchaus vereinbar, dass für einzelne ungerichte mildere Strafen verhängt werden, zumal der König ja auch Richter über Eigengut und Lehen ist. Sachsenspiegel II, 13 § 1 Schott 107. Hervorhebungen vom Verfasser. 59 So auch His selbst, S. 45 Anm. 7. 60 Sachsenspiegel III, 52§ 2, zitiert nach Eckhardt. Neuhochdeutsch: Den König wählt man 57

58

zum Richter über Eigengut und Lehen und über das Leben eines jeden Mannes. Der Kaiser kann aber nicht in allen Ländern zugleich sein und deshalb nicht alle ungerichte jederzeit richten. Vgl. Schott 199. 61 Sachsenspiegel I, 2 § 4, zitiert nach Eckhardt. 62 His 45 Anm. 7 63 Die Begriffe "König" und "Kaiser" werden hier offenbar synonym verwendet.

B. Überblick über die Entwicklung

35

Noch weniger überzeugt die Interpretation des 2. Passus. His sieht darin eine Stütze seiner Auslegung, "wenn man den Relativsatz nicht als Einschränkung, sondern als Erläuterung auffasst"64 • Demnach müsste man die Stelle etwa in folgendem Sinne verstehen: Der Bauermeister klagt an alle ungerichte, das sind die Verbrechen, deren Bestrafung an den Leib oder an die Hand geht. Eine solche Deutung geht jedoch wohl fehl. Richtig übersetzt, lautet der Satz: Da [... ]soll jeder Bauermeister [...] das Verbrechen anklagen, das an das Leben oder die Hand geht.65

Der Relativsatz "dat in den lif oder in de hant geit" bezieht sich also nicht auf die Rechtsfolgen der Tat, die Sanktion, sondern auf die Angriffsrichtung der Tat selbst. Deshalb stellt dieser Annex auch keine "Erläuterung" des Begriffs der ungerichte dar, sondern eine klare Einschränkung: Nicht jedes Verbrechen soll der Bauermeister rügen, sondern nur- modern formuliert- die Straftaten gegen das Leben und die körperliche Unversertheit. Das Verständnis, das His zur Bedingung seiner Interpretation macht ("wenn man den Relativsatz als Erläuterung ... versteht") ist mit den Gesetzen der deutschen Sprache schlechthin unvereinbar66. Die angeführten Passagen stellen mithin keinen tauglichen Beleg für eine technische Verwendung des Begriffs ungerichte im Sachsenspiegel dar. Im Gegenteil spricht gerade die Stelle II 13 § 1, wo nach dem einleitenden "nu vornemet um ungerichte" gerade auch der leichte, nicht peinlich bestrafte Diebstahl behandelt wird, gegen die Annahme einer solchen Verwendung. Letztlich lassen die wenigen Stellen, an denen Eike den Begriff verwendet, keinerlei Systematisierung erkennen. Unstreitig feststellen lässt sich lediglich, dass das Wort strafwürdige Taten bezeichnen soll. Wo der Kontext der Verwendung, wie an der oben zitierten Stelle betreffend die Gerichtsbarkeit des Königs, vage auf einen terminus technicus für peinlich zu strafende Taten hinzudeuten scheint, muss dies eher auf die Unschärfe der Formulierung zurückgeführt werden als auf einen Systematisierungswillen des Verfassers. Andernfalls wäre zu fragen, weshalb sich nicht auch ein Gegenbegriff für die an Haut und Haar zu ahndenden Taten findet. Wer dem Begriff ungerichte hier technische Bedeutung beimisst, projiziert womöglich neuzeitliche Systematisierungs- und Klassifizierungstendenzen zurück in eine Zeit, in der solche noch kaum ausgeprägt waren. Letztlich darf nicht vergessen werden, dass der Sachsenspiegel kein Gesetz darstellt, sondern eine rein private Aufzeichnung. Es ist daher wahrscheinlich, dass Eike die juristischen Termini direkt so übernahm, wie sie im Gewohnheitsrecht seiner sächsischen Heimat lebendig waren, ohne ihnen eine neue oder darüber hinausgehende Bedeutung verleihen zu wollen. His 45 Anrn. 7 Vgl. Schott 36. 66 Das gilt jedenfalls solange, wie man eine dem heutigen Sprachstandard entsprechende Verwendung des Relativsatzes in der Sprache Eikes annimmt, wogegen zumindest His keinen Beweis geführt hat. 64

65

3•

36

1. Teil: Unterscheidung strafbarer Handlungen nach ihrem Schweregrad

Ob im Gewohnheitsrecht jener Zeit der Begriff ungerichte die ihm von His unterstellte Bedeutung hatte, ist jedoch zweifelhaft. Dem Sachsenspiegel jedenfalls lässt sie sich nicht entnehmen67 • Ergänzend sei hinzugefügt, dass jüngere ostfalische Quellen den Begriff ungerichte ausdrücklich auf die an Haut und Haar gestraften Vergehen ausdehnen68 . In den oberdeutschen Quellen, etwa dem Schwabenspiegel von 1274, bezeichnet der Ausdruck auch leichtere Vergehen, entbehrt hier also eindeutig jeder technischen Bedeutung. bb) "Vredebrakere" Noch kurz erläutert werden soll hier der Ausdruck vredebrakere, neuhochdeutsch "Friedbrecher". Auf der Suche nach einer Klassifizierung der Straftaten im Sachsenspiegel führt dieser Begriff nicht weiter. Denn der Sachsenspiegel kennt lediglich den Friedbrecher als Täter, nicht aber das "vredebrake" als Delikt oder gar als Verbrechenskategorie. Und auch die Mutmaßung His', der Sachsenspiegel würde vom vredebrakere bei allen Verbrechen sprechen, die an Hals und Hand gehen69, lässt sich am Text des Sachsenspiegels nicht zwingend belegen70 • c) Zusammenfassung

Der allgemeine Prozess der Rechtszersplitterung nach dem Verfall der fränkischen Herrschaft wirkt sich auch auf die Einteilung der Delikte aus. Anders als noch mit der unter der Herrschaft der Karolinger herausgebildeten Trennung von causae maiores und causae minores gibt es nun keine einheitliche Unterscheidung mit spezifischer Funktion mehr, sondern nur verwirrende Begriffsvielfalt ohne allgemeine Verbindlichkeit. "Eine feste Terminologie, wie sie unser heutiges Strafrecht zeigt, darf man im Rechte des deutschen Mittelalters nicht suchen. Die Zahl der gleichbedeutenden Bezeichnungen ist ungemein groß, und häufig kommt dem einen Ausdruck neben einer allgemeinen noch eine engere Verwendung zu"71 • Dieses Urteil fasst die Verhältnisse wohl treffend zusammen. Dabei sollte betont werden, dass sich nicht einmal in den großen Rechtsbüchern des 13. Jahrhunderts, dem Sachsen67 Unzutreffend daher die Behauptung Daimers 32, der Sachsensiegel hätte delicta levia, atrocia und atrocissima unterschieden; diese Dreiteilung taucht erst bei Carpzov auf, vgl. u.S.23ff. 68 So etwa die Glosse zum sächsischen Weichbild; His 46. 69 His46. 70 Verwiesen sei hier nur auf die Stelle II 13 § 5, wo vredebrekere in einer Reihe mit Totschlägern, Räubern, Vergewaltigem genannt werden, nicht aber als Sammelbegriff für diese Tätergruppe. 71 His 37.

B. Überblick über die Entwicklung

37

spiegel und dem Schwabenspiegel72, eine Klassifizierung der Delikte nachweisen lässt. Die Epoche der nachfränkischen Zeit bis zur Rezeption erweist sich daher für die Weiterentwicklung einer Differenzierung von Delikten nach ihrem Schweregrad als wenig fruchtbar. 3. Die Klassifizierung im Zeitalter der Rezeption und im gemeinen deutschen Strafrecht

a) Die Entwicklung bis zur Carolina aa) Vorbemerkung Das Phänomen der Rezeption, der Übernahme des römischen Rechts in Deutschland, ist für die geschichtliche Entwicklung der Einteilung der Delikte von besonderem Interesse. Denn anders als im Zivilrecht vollzog sich die Übernahme des fremden Rechts vor allem durch eine Reihe gesetzgeberischer Akte, die mit einzelnen Partikulargesetzen ihren Anfang nahm und mit der Constitutio Criminalis Carolina von 1532 ihren Höhepunkt erreichte73 • Was hier schon mehrfach als kennzeichnendes Merkmal der Dichotomie der Straftaten benannt wurde, die gesetzliche Niederlegung, wird mit der Kodifizierungswelle der Rezeption also wieder denkbar. bb) Wormser Reformation (1498) Von den im Vorfeld der Carolina entstandenen Partikulargesetzen haben wohl nur die Wormser Reformation von 1498 und die Halsgerichtsordnung für das Bistum Bamberg von 1507 nennenswerten Einfluss auf die weitere Entwicklung ausgeübt74 • Eine umfassende Auswertung der "Vorgängerinnen der Carolina"- zu nennen wären etwa noch die Tiroler Halsgerichts- (Malefiz-) ordnung von 1499 und die Radolfzeller Halsgerichtsordnung von 150675 - soll hier deshalb unterbleiben. Für die Bambergensis als der "mater carolinae" erübrigt sich eine Untersuchung schon deshalb, weil die Carolina letztlich nur eine verbesserte Fassung der Bambergensis darstellt76, eine Analyse der ersteren also die der letzteren im Wesentlichen umfasst. 72 Zu ihm nur die Bemerkung von His 37: "[ ... ]läßt in der Wahl seiner Ausdrücke jede Sorgfalt vermissen." 73 Vgl. Maurach/Zipf AT 1 § 4 Rn. 8. Zur Bedeutung dieser Epoche für die Strafrechtsentwicklung vgl. z. B. Buschmann 1: "Den eigentlichen Beginn einer Strafgesetzgebung wird man erst in den Halsgerichtsordnungen des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit zu sehen haben." 74 Maurach/Zipf AT 1 §4 Rn. 8ff.; v.Hippe/164. 1s v.Hippe/l63f. 76 v. H ippel 175; vgl. auch Buschmann 3; Kroesche/1 li, 271.

38

l. Teil: Unterscheidung strafbarer Handlungen nach ihrem Schweregrad

Bemerkenswert erscheint demgegenüber der Inhalt der Wormser Reformation, neben der Bambergensis die einzige Partikularrechtsquelle, der ein gewisser (wenn auch geringer) Einfluss auf die Carolina zugeschrieben wird77 . Für die Frage nach einer Einteilung der Delikte ergibt sich hier eine erfreulich klare Antwort, die sich schon der Gliederung des Gesetzes entnehmen lässt. So zerfällt das 6. Buch, welches das Strafrecht behandelt, in Abschnitt I: Bürgerliche Sachen und Abschnitt 2: Peinliche Sachen (und Strafprozess). Diese Begrifflichkeil ist schon aus der nachfränkischen Zeit, nämlich der ostfälischen Differenzierung von pinlike und borgerlike saken bekannt. Als pinlik wurden hierbei mit dem Tode oder mit Verstümmelung geahndete Taten bezeichnet78 . Diese Bedeutung dürfte sich für die Wormser Reformation erhalten haben. Für die Herkunft dieser Terminologie im ostfälischen Recht vermutete His den Einfluss der bei italienischen Juristen üblichen Einteilung der Klagen in actiones criminales und actiones civiles19• Für die Begriffe in der Wormser Reformation liegt diese Vermutung sogar noch näher. Denn wenn die Gesetzgebungswerke der Rezeption allgemein durch die Verwertung des Strafrechts der oberitalienischen Jurisprudenz geprägt waren80, so gilt dies für die Wormser Reformation in besonders starkemMaße81. b) Die Einteilung in der Carolina (1532) Über die Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls des V. (die Carolina), über ihren Schöpfer Johann v. Schwarzenberg und ihre außerordentliche Bedeutung für die Strafrechtsentwicklung in Deutschland ist viel geschrieben worden82 . Aus der Fülle der Formulierungen, die den rechtshistorischen Rang des Werkes zu bündeln suchen, seien hier nur das Urteil Gustav Radbruchs herausgegriffen, es handele sich um die einzige bedeutende gesetzgeberische Arbeit des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation83 , und die Einschätzung Eberhard Schmidts, das Gesetz dürfe im Ganzen der deutschen Rechtsgeschichte überzeitliche Bedeutung in Anspruch nehmen84. Vergegenwärtigt man sich nun noch einmal, dass es sich bei der Carolina um das erste gesamtdeutsche Strafgesetzbuch überhaupt handelt85 , so dürfte die Be77 Brunnenmeister 106; v.Hippe/164.

His 43. His 43. 80 Buschmann 2; Maurach/Zipf AT l § 4 Rn. 8 81 v.Hippell63Anm.6m.w.N. 82 Vgl. nur die von Schroeder bzw. von Landau und Schroeder herausgegebenen Sammel-

78

79

bände "Die Carolina" und "Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption". 83 Radbruch Carolina 5. 84 Schmidt, Die Carolina. In: Schroeder, Carolina 51. 85 Vgl. nur Schroeder, Carolina l.

B. Überblick über die Entwicklung

39

deutung der Frage nach einer Einteilung der Delikte in diesem Gesetz für die vorliegende Untersuchung hinreichend vorgezeichnet sein. Dabei lässt sich diese Frage auf Anhieb nicht ähnlich klar beantworten wie für die Wormser Reformation. Denn die dort begegnende Aufgliederung in peinliche und bügerliche Sachen ist der Carolina nicht unmittelbar zu entnehmen. Und doch liegt sie auch dieser Kodifikation zugrunde. Vor Art.l04 CCC heißt es: Eyn vorrede wie man mißthau peinlich straffen soll.86 Die Bedeutung dieser Sentenz liegt, im hier interessierenden Zusammenhang, auf dem Wort "peinlich". Denn indem sich an dieser Stelle die Carolina auf die Regelung peinlich zu strafender Fälle beschränkt, nimmt sie die sonstigen, d. h. die nicht peinlich zu strafenden Taten aus87 • Für diese verwendet sie den Begriff der bürgerlichen Strafe: Art. 158 a. E.: Wer aber der dieb eyn solche ansehnliche person, dabei sich besserung zuuerhoffen mag jn der richter[ ... ]burgerlich und also straffen, daß er dem beschedigten den diebstat vierfeltig bezalen [...] soll{ ...] Art. 167 a. E. : Wo aber jemand bei tag essendt frücht nem, unnd damit durch wegtragen, der-

selben nit grossen geuerlichen schaden thett, der ist nach gelegenheyt der person und der sach, burgerlieh zu straffen[ ... ] Lässt sich damit das schon aus ostfälischen Rechtsquellen und aus der Wormser Reformation bekannte Gegensatzpaar peinliche Fälle/bürgerliche Fälle auch der Carolina entnehmen, so stellt sich nunmehr die Frage, worin das Unterscheidungskriterium dieser beiden Deliktskategorien liegt. Auch insoweit wird die Antwort vom Gesetz nicht in einer Legaldefinition vorgegeben, sondern muss ihm im Wege systematischer Auslegung entnommen werden. Offensichtlich ist zunächst, dass die Unterscheidung peinlicher und bürgerlicher Fälle in der Carolina nicht an die- in anachronistisch-moderner Terminologie gesprochen - Tatbestandsseite der Delikte anknüpft. Denn das Gesetz verwendet die Adjektive "peinlich" und "bürgerlich", wie die zitierten Passagen zeigen, stets nur in Bezug auf die zu verhängende Strafe. Hier lässt sich nun eine Parallele zur heutigen Dichotomie ziehen, denn auch§ 12 StGB knüpft für die Unterscheidung von Verbrechen und Vergehen allein an die Rechtsfolgenseite, an die Schwere der zu verhängenden Sanktion an. Um die Zuordnung einer "Missethat" zu einer der Gruppen zweifelsfrei vornehmen zu können, bedarf somit und ausschließlich der Klärung, welche Sanktionen peinliche und welche dann umgekehrt bürgerliche sind. In Erinnerung an die Bedeutung im ostfälischen Recht mag man hinter dem Zusatz "peinlich" alle Todes86

87

Ebenso schon die Bambergensis vor Art 125. Vgl v.Hippe/177; Radbruch Carolina 16; Roxin AT I § 9 Rn. 3.

40

1. Teil: Unterscheidung strafbarer Handlungen nach ihrem Schweregrad

und Verstümmelungsstrafen vermuten. Indessen ist der Bedeutungsgehalt in der Carolina etwas größer. Zwar spricht Art. 104 anfangs von "peinlich Straff am Leib, oder glidern". Am Ende des gleichen Artikels wird das Strafenspektrum jedoch ausgeweitet: "[ ...] peinlicher straff am leben, ehren, Ieib oder gliedern[ ...]". Und Art. 110 handelt vom "boßhaftig lesterer", der durch Schmachschrift bewirken will, "[ ... ] daß der geschmecht an seinem Ieib, leben oder ehren peinlich gestrafft werden möcht [... ]". Diese Textstellen belegen ganz unzweifelhaft, dass der Begriff der peinlichen Strafen in der Carolina neben der Todes- und Verstümmelungsstrafe auch die Strafen gegen die Ehre umfasstss. Alle übrigen Strafen müssen der Kategorie der "bürgerlichen" zugeordnet werden. Von ihnen spricht die Carolina nur gelegentlich, wo der Zusammenhang es fordert89. Neben den oben zitierten Artikeln zum geringen Diebstahl sind zu nennen: Art. 142 a. E.: [ ...] vnnd daß fürther die straff an Ieib leben oder aber zu buß und besserung erkant werd, [ ...] Art. 157: [ ... ] soll in der Richter darzu halten,[ ...], dem beschedigten den diebstaU mit der zwispil zu bezalen. Wo aber derdiebkein solche geltbuß vermag, soll er mit dem kercker darinn er etlich zeitlang Iigen, gestrafft werden.

Der Begriff der bürgerlichen Strafe taucht an diesen Stellen zwar nicht explizit auf. Dass es sich um solche handelt, ergibt sich jedoch im Umkehrschluss aus der Aufzählung peinlicher Strafen in den Artikeln 104 und 110 und aus der Gegenüberstellung, die Art.142 hier vornimmt: strafe an Ieib und leben oder aber zu buß und besserung90 • Eine Aufzählung bürgerlicher Strafen, wie sie mit den Art. 104 und 110 für die peinlichen Strafen vorliegt, findet sich nicht. Für die Inhaltsbestimmung muss es deshalb bei einer Definition ex negativo bleiben: Bürgerlich sind alle nicht gegen Leib, Leben oder Ehre gerichteten Strafen. Die wichtigste war sicherlich die an den Verletzten zu leistende Bußgeldzahlung (vgl. den oben zitierten Art.157: Bezahlung mit der "zwispil", d. h. mit dem zweifachen des gestohlenen Wertes). Die Regelung dieser bürgerlichen Fälle war dann vor allem den drei Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548 und 1577 vorbehalten91 • Diese enthielten aber (um einem möglicherweise naheliegenden Umkehrschluss vorzubeugen) auch peinliche Strafen92 • 88 Ebenso v.Hippe/177; Radbruch Carolina 16. Deshalb ist es auch ein nicht selten anzutreffendes Missverständnis, der Begriff "peinlich" rühre vom neuhochdeutschen "Pein" im Sinne von körperlich empfundenem Schmerz. Die wirkliche etymologische Wurzelliegt im lateinischen poena, vgl. etwa Engisch 394; His 342. 89 v. Hippe/178. 90 Vgl. v.Hippe/178 Anm. l. 91 Radbruch Carolina 16. 92 v.Hippe/220.

B. Überblick über die Entwicklung

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c) Zusammenfassung Mit der Wormser Reformation und der Carolina (und der Bambergensis als deren Vorbild) werden erstmals in der Strafrechtsgeschichte deutschsprachige Oberbegriffe für Delikte unterschiedlicher Unrechtsschwere gesetzlich festgeschrieben. Diese Unterscheidung begegnet in der Wormser Reformation rein äußerlich klarer als in der Carolina. Dabei folgt die Unterscheidung in der Carolina, ähnlich wie die heutige Dichotomie, einem formalen Prinzip: Über die Zuordnung zu einer der beiden Deliktskategorien entscheidet unmittelbar keine anband irgendwelcher materieller Kriterien vorzunehmende Bewertung des Unrechtsgehalts einer Tat, sondern die an sie geknüpfte Rechtsfolge, genauer: das Rechtsgut, gegen das sich die betreffende Strafe richtet (Leib, Leben, Ehre oder sonstiges). Hier endet natürlich die Parallele zur Dichotomie der heutigen Zeit, wo das von der Strafe bedrohte Rechtsgut nur insoweit eine Rolle spielt, als die ausschließlich mit Geldstrafe bedrohten Delikte keine Verbrechen sein können. Dagegen entfaltet die Androhung einer Freiheitsstrafe als solche noch keine hinreichende Zuordnungwirkung, da sowohl Verbrechen als auch Vergehen diese Sanktion vorsehen. Weiter ist anzumerken, dass die Einteilung in der Carolina (Bambergensis) keine Funktion aufweist, die über die Einschränkung des richterlichen Ermessens bei der Strafverhängung hinausginge. Durch die Verwendung der Begriffe peinlich und bürgerlich soll dem Richter nur gesagt werden, wie er die Tat im Einzelfall zu sanktionieren hat. Zwar ist ihm damit etwa innerhalb des Spektrums der peinlichen Strafen wiederum ein gewisser Ermessensspielraum eröffnet93 . Rein funktional unterscheidet sich aber etwa die Anordnung des Art. 113 CCC, den Fälscher "peinlicher straff' anzunehmen, nicht von der Rechtsfolgenseite des § 267 StGB: " ... wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft". Die Hauptfunktion des § 12 StGB jedenfalls, die abkürzungstechnische Vereinfachung, sucht man für die "Dichotomie der Carolina" vergebens. Sowohl die Oberbegriffe der peinlichen und bürgerlichen Fälle als auch das Unterscheidungskriterium lassen sich der Carolina nur im Wege aufmerksamer Gesetzeslektüre extrahieren. Von einer all dies in wünschenswerter Klarheit bündelnden Norm wie unserem § 12 StGB ist auch dieses Gesetz noch weit entfernt. Abschließend hier noch einmal eine Übersicht über die Einteilung in der Carolina: peinliche Fälle

bürgerliche Fälle

=Regelungsgegenstand der CCC,

= Regelungsgegenstand v. a.

an Leib, Leben oder Ehre zu strafen, vgl. Art. 104 und 110

v. a. Bußgeldzahlungen, vgl. Art. 152, 157, 158, 166

vgl. Vorrede vor Art. 104

93

der Reichspolizeiordnungen

V gl. die schaurige Anführung peinlicher Strafen in den Art. 192-198 CCC.

42

1. Teil: Unterscheidung strafbarer Handlungen nach ihrem Schweregrad

d) Die weitere Entwicklung im gemeinen deutschen Strafrecht aa) Vorbemerkung Als gemeines deutsches Strafrecht bezeichnet man die Gesamtheit des formell oder materiell auf der CCC beruhenden Strafrechts94 • Hierzu rechnen die im Anschluss an die Carolina ergangenen Partikulargesetze95, aber auch die sich im 17. Jahrhundert allmählich von der älteren Zivilrechtswissenschaft emanzipierende, auf der Carolina aufbauende Strafrechtswissenschaft Dieser Prozess der Herausbildung einer eigenständigen deutschen Strafrechtswissenschaft wird vor allem mit dem Namen des sächsischen Juristen Benedict Carpzov (1595-1666) verbunden96 ; eine der seinen angenäherte Bedeutung für die gemeine deutsche Strafrechtswissenschaft erlangte nur noch Johann Samuel Friedrich von Boehmer (1704-1772). Mit seinem wichtigsten Werk, der Practica nova imperialis saxonica rerum criminalium von 1635 (kurz: Practica), übte Carpzov starke Impulse auf zwei große Landesgesetze zum Ende der Epoche aus: den bayerischen Codex Juris Bavarici Criminalis von 1751 und die Österreichische Constitutio Criminalis Theresiana von 1769. Die genannten Werke stellen nicht nur die aus strafrechtlicher Sicht wohl wichtigsten Hervorbringungen des gemeinen Rechts dar, sondern bringen für die Einteilung der Delikte auch allesamt eine neue Entwicklung, die deshalb kurz beleuchtet werden soll. bb) Die Einteilung bei Carpzov In Carpzovs Practica findet sich die Einteilung in delicta levia, atrocia und atrocissima97. Nicht in dieses Stufenverhältnis gehört hingegen der Begriff der poena extraordinaria bzw. aribtraria. Dieser bezeichnet bei Carpzov eine außerordentliche, d. h. gesetzlich nicht vorgesehene Strafe, die der Richter in näher spezifizierten Fällen verhängen darfJ8 • Wenn auch diese Lehre einen Schwerpunkt in Carpzovs Werk bildet, ist sie für die vorliegende Untersuchung nur von geringem Interesse, da in ihrem Mittelpunkt nicht die Einteilung von Delikten nach ihrem Schweregrad, sondern Probleme der Strafzumessung und der richterlichen Gesetzesbindung stehen. Dagegen weist die Dreiteilung der Delikte in levia, atrocia und atrocissima bereits eine gewisse Ähnlichkeit mit der heutigen Dichotomie auf. Nicht nur werden hier einmal mehr zusammenfassende Oberbegriffe für Gruppen von Delikten gebil94 Maurach/Zipf AT 1 § 4 Rn. 13; Schroeder, Strafprozeßrecht Rn. 32. Damit wird der Zeitraum von der Mitte des 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts umfasst, vgl. Sel/ert/Rüping I, 242 Fn. l. 95 Dazu v. Hippel223f. ; Maurach/Zipf AT 1 §4 Rn. 13. 96 Sel/ert/Rüping I, 242; Wesel Rn. 259. 97 Pars III, quaestio 102 Nr. 56, 57, 60, 62, 63, 65, 67 (Nachweis z. B. bei v. Hippe/236 Fn.5) 98 Näher dazu Kroeschell III, 95 f.; Sel/ert/Rüping I, 244 ff.

B. Überblick über die Entwicklung

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det, die sich voneinander durch ihren Umechtsgehalt unterscheiden. Auch das Unterscheidungskriterium erinnert an die Abgrenzung des § 12 StGB. Denn wieder- wie bereits in der Carolina und zuvor im fränkischen Recht- entscheidet die Rechtsfolge, die konkrete Strafart über die Zuordnung zu einer der Deliktskategorien: delicta atrocissima nämlich sind die mit verschärfter Todesstrafe99 bedrohten, delicta atrocia die mit einfacher Todesstrafe oder Leibesstrafe bedrohten Taten. Alle übrigen fallen in die Kategorie der delicta levia 100• Mit dieser formalen Zuordnungstechnik bleibt die Carpzovsche Differenzierung, was die Klarheit der Abgrenzung der Deliktsklassen voneinander betrifft, nicht hinter der Dichotomie des§ 12 StGB zurück. Fragt man allerdings nach einem tieferen Sinn dieser Klassifizierung, so stößt man auf eine banale Antwort. Zuallererst darf nicht vergessen werden, daß die Practica novakein Gesetz war. Carpzov konnte daher von vornherein mit seiner Klassenbildung keine gesetzestechnische Vereinfachungsfunktion bezwecken, wie sie dem § 12 StGB eignet. Tatsächlich handelt es sich um eine allein auf den Systematisierungswillen des Verfassers gegründete Gliederung. Mit ihr verfolgte Carpzov keinen anderen Zweck, als es die Autoren moderner Lehrbücher oder Gesamtdarstellungen zum Strafrecht tun, wenn sie die Delikte nach verschiedensten Kriterien in Klassen einteilen, nämlich die Förderung der Übersichtlichkeit und Lesbarkeit durch ordnende Zerteilung der "Deliktsmasse". Dabei entsprang diese spezielle Dreiteilung im übrigen nicht dem schöpferischen Geist Carpzovs selbst, sondern war inspiriert durch die italienische Doktrin, namentlich durch ClarusiOl . Damit ist die Frage aufgeworfen, weshalb diese Einteilung, handelt es sich doch letztlich nur um eine aus didaktischen und darstellungstechnischen Gründen vorgenommene Systematisierung eines Fachbuchautors, so große Bedeutung erlangen konnte, dass sie in jedem noch so knappen Abriss zur Geschichte der Dichotomie angeführt wird102 • Sie lässt sich indes leicht beantworten: Die Ursache hierfür liegt in Carpzovs "bleibender Bedeutung" 103 , darin, dass seine Practica, wenngleich kein Gesetz, die deutsche Strafrechtspflege doch über ein Jahrhundert mit "gesetzesgleicher Wirkung" beherrschte 104• Für die Dreiteilung der Straftaten lässt sich diese Wirkung sogar ganz konkret an den noch im gleichen Jahrhundert ergehenden Landesgesetzen Bayerns und Österreichs festmachen (dazu sogleich). Obwohl er nach Carpzov als wichtigster Vertreter einer Wissenschaft des gemeinen deutschen Strafrechts gilt, lässt sich ein vergleichbarer Einfluss für die Eintei99 Dabei war die Exekution mit besonderer Schmerzzufügung oder Bloßstellung des Delinquenten verbunden, z. B. Schleifen zur Riebtstatt 100 Vgl. v.Hippe/236. 101 Heinitz 55 Fn. 3; v. Hippe/236. 102 Vgl. statt vieler LK-Tröndle 10. A. § 12 Rn. 2 (nicht mehr in der 11. A.); Roxin AT 1 § 9 Rn. 3. 103 Rüping 43. 104 v.Hippe/228.

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1. Teil: Unterscheidung strafbarer Handlungen nach ihrem Schweregrad

Jung von J. F. S. Boehmer nicht nachweisen. Sie unterscheidet sich von der Carpzovs wohl auch nur unwesentlich. In seinem Eiementa iurisprudentiae criminalis von 1732, dem ersten Lehrbuch des Strafrechts von wissenschaftlicher Bedeutung105 , findet sich die Einteilung in delicta capitalia und non-capitalia, also mit Todesstrafe geahndete und sonstige Straftaten, wobei erstere wiederum in simplicia (einfach) und atrociora (verschärft) zerfallen 106. cc) Die Einteilung im Codex Juris Bavarici Criminalis Der Codex Juris Bavarici Criminalis von 1751 blieb als territoriales Strafgesetz für das Kurfürstentum bzw. später für das Königreich Bayern bis zum Jahr 1813 in Kraft107; für dieses Gebiet stellte er eine einheitliche und abschließende Regelung des Strafrechts dar 108 • Hier findet sich zunächst eine Trennung von malefizischen und niedergerichtlichen Fällen. Das Gesetz behandelt primär die "Malefizischen Verbrechen" , ordnet aber in einigen wenigen Fällen an, dass eine Tat nicht "malefizisch", sondern "niedergerichtlich" zu strafen sei, so nämlich der einfache kleine Diebstahl (2. Kap. § 2), der Fischdiebstahl aus offenen Gewässern (2. Kap. § 7) und der Haus- und Familiendiebstahl (2. Kap. § 9). Inhaltlich wird damit die Dichotomie der CCC aus peinlichen und bürgerlichen Fällen aufgenommen; auch dort war die Kategorie der bürgerlichen (hier: niedergerichtlichen) Strafen auf leichtere Diebstahlsfalle beschränkt109. Über die Art der niedergerichtlichen Bestrafung äußert sich der Codex nicht, doch lässt sie sich aus der Funktion der Niedergerichte erschließen: Diese waren im Gegensatz zu den Hoch- und Blutgerichten gerade für leichtere Straffalle zuständig110, weshalb sich ihre Strafgewalt auf die in § 9 des Codex aufgeführten, ausdrücklich nicht gegen Leib und Leben gerichteten Strafen beschränkt haben dürfte. Die sachliche Nähe der niedergerichtlichen zu den bürgerlichen Fällen der Carolina kommt an einer Stelle des Codex auch terminologisch zum Ausdruck: § 2 des 2. Kapitels spricht davon, dass der einfache kleine Diebstahl civiliter und niedergerichtlich zu strafen sei. Innerhalb der "malefizischen" Verbrechen nimmt der Codex aber nun eine weitere Differenzierung vor. In einem allgemeinen Teil - "Von denen Criminal-Verbrechen und Straffen überhaupt" - werden besagte Verbrechen gleich zu Beginn folgendermaßen charakterisiert: Rüping 44. v. Hippe/251. 107 Buschmann 179. Als Verfasser des Codex gilt der langjährige bayerische Staatskanzler V.X.A. von Kreittmayr (1705-1790). 108 v.Hippe/257. 109 Art. l57 CCC und oben S. 40. 11 Köbler Lexikon Stw. ,,Niedergericht". 105

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B. Überblick über die Entwicklung

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Erster Teil, Kapitel 1, § 1: Es seynd nicht alle Frevel und Strafbahre Taten für Criminal zu achten, sondern nur jene welche entweder mit Leibs- und Lebensstraff angesehen, oder sonst so beschaffen seynd, daß sie von Rechts oder Gewohnheits wegen, ad Forum Criminale gehören.

Der Begriff der "Criminal-Verbrechen" fasst demnach keine Gruppe von besonders schweren Delikten zusammen, sondern fungiert als Oberbegriff für alle Taten, die vor dem "Forum Criminale" abgeurteilt werden sollen. Seine einzige Funktion liegt in der Bestimmung der Gerichtszuständigkeit Eine Abstufung innerhalb dieser Criminal-Verbrechen bringt erst § 2: Dieselbe seynd entweder gering, schwer, oder gar überschwer, zu Latein leviora, graviora, atrocissima. Unter die erste gehören, welche nur mit Gefangnis-Geld-Schand- und dergleichen leichteren Strafen belegt seynd. Zu der anderen, was eine Leibs- oder Lebens-Straff nach sich ziehet, und zu der dritten Gattung, was nicht nur am Leben, sondern gar mit einem härtern und langsameren Tod, oder mit einem empfindlichen Zusatz bestraffet wird.

Es fällt sofort auf, dass diese Klassifizierung inhaltlich exakt mit der Carpzovschen übereinstimmt. Die einzige Abweichung ist terminologischer Natur: Für die Delikte der Mittelstufe hat Kreittmayr anstelle von "atrocia" die etwas wertungsneutralere Bezeichung "graviora" gewählt. Es ist anzunehmen, dass Kreittmayr dadurch lediglich die sprachlich genauere Übersetzung des deutschen "schwerer" erreichen wollte. Eine qualitative oder materielle Abweichung gegenüber der Carpzovschen Trichotomie geht damit nicht einher, wie die ihr gegenüber identischen Zuordnungskriterien der folgenden Sätze zeigen. Eine Annäherung an die heutige Trennung der Delikte liegt gegenüber dem Modell Carpzovs natürlich darin, dass es sich hier um eine gesetzliche, und nicht, wie in der Practica, um eine von außen an das geltende Recht herangetragene, rein wissenschaftliche Abstufung handelt. Dieser scheinbare Fortschritt ist jedoch nur minimal. Er beschränkt sich bei genauerer Betrachtung auf den Ort, an dem die Dreiteilung vorgenommen wird: Wissenschaftlicher Kommentar dort, Partikulargesetz hier. Wer erwartet, mit der Übernahme der Dreiteilung würden dieser auch bestimmte gesetzestechnische Funktionen zugewiesen, sieht sich getäuscht: Neben der zitierten Stelle taucht die Einteilung nur noch vereinzelt aufl 11 • Unter gesetzestechnischen Aspekten hätte Kreittmayr auch ebensogut auf sie verzichten können. Die Einteilung der Straftaten im Codex Juris Bavarici Criminalis kann deshalb weitgehend als gesetzgeberisches Schmuckwerk betrachtet werden. Funktional beschränkt sie sich auf eine bloße Wiedergabe der im Volksbewusstsein anerkannten Tatsache, dass es leichtere und schwerere Straftaten gibt, wobei allerdings die Zuordnung durch die vorgesehene Straffolge determiniert sein soll. Es gibt keine auf "delicta atrocissima" beschränkte Versuchsstrafbarkeit oder Gerichtszuständigkeit, keine prozessualen Erleichterungen bei "delicta leviora". Die Übernahme der Carp111

2. Teil, 2. Kap. § 22, 6. Kap. § 2, 10. Kap. § 2.

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1. Teil: Unterscheidung strafbarer Handlungen nach ihrem Schweregrad

zovschen Klassifizierung im bayerischen Codex von 1751 erscheint als die Frucht allgemeiner Einteilungs- und Ordnungsbestrebungen, durch deren Umsetzung dem Rechtsanwender und -adressaten Übersichtlichkeit und Systematisierungsfahigkeit mehr vorgegaukelt als bewiesen wurden 112 • dd) Die Einteilung in der Constitutio Criminalis Theresiana Die Österreichische Constitutio Criminalis Theresiana (kurz: Theresiana) von 1768 erfüllte bis zur ihrer Ablösung durch dielosephina von 1787 für Österreich die gleiche Funktion wie der Codex von 1751 für Bayern: eine abschließende und einheitliche Regelung des Territorialstrafrechts 113 • Auch hier trifft man zunächst wieder auf die carolinische Zweiteilung, wenn auch in abweichender Terminologie. Sie wird, anders als im bayerischen Codex, sehr klar und ausdrücklich vorgenommen: Die Verbrechen unterscheiden sich in öffentliche (publica), "wodurch mittel- oder unmittelbar die gemeine Wohlfahrt gestöret", und private (privata), "wodurch jemanden insonderheit Schaden, und Nachtheil zugefüget" (1. Art.§ 2). Die öffentlichen Verbrechen werden mit dem "gleichdeutigen Ausdruck von Malefizhandlungen, Malefizverbrechen, und halsgerichtliehen Fällen" bezeichnet (Art. 2 § 1) und ziehen als "öffentliche Straff' Leibes-, Lebens-, Ehrenund Geldstrafen nach sich (4. Art. § 3). Wie in Carolina und bayerischem Codex werden die "privaten" (bzw. bügerlichen, niedergerichtlichen) Delikte hier nur marginal behandelt; als Beispiel sei auch insoweit der geringfügige bzw. der Diebstahl unter Angehörigen angeführt, der "nicht landgerichtlich, sondern bei der ordentlichen Civil-Obrigkeit zu untersuchen und gebühren abzubussen" ist (24. Art. § 3). Genau wie im bayerischen Codex setzt sich die Klassifizierung der Delikte nun innerhalb der Malefizverbrechen fort: Zweiter Artikel § 3: Die halsgerichtliehen Fälle, und Malefizverbrechen werden insgemein Laster-Uebelund Missethaten genennet, und vertheilen sich in überschwere, schwere und geringe. § 4: Zu den überschweren sollen diejenige, welche als abscheulichste Thaten eine verschärffte Todesstraff nach sich ziehen; zu den schweren diejenige, worauf eine geschwindere Todesart als Galgen, oder Schwertschlag ohne anderweite Verschärffung, oder eine 112 Damit soll nicht ausgeschlossen sein, dass die Einteilung im Rechtsleben der Zeit doch wenigstens ungeschriebene Bedeutung erlangt hat. Zu denken wäre hier an eine soziale Ächtung des ,.atrocissima-Täters", ähnlich wie beim späteren ,,Zuchthäusler" und dem heutigen ,.Verbrecher". Eine solche ungeschriebene Bedeutung der Trichotomie im bayerischen Codex lässt sich jedoch nicht nachweisen. Sie scheint auch, was die angedeutete "Ächtungsfunktion" angeht, sehr unwahrscheinlich. Denn anders als später mit dem ,,Zuchthäusler" oder ,.Verbrecher" findet sich im Codex nur eine Bezeichnung der Taten, nicht des Täters. Es fehlt hier also schon an dem diskriminierenden Substantiv, an das eine soziale Ächtung anknüpfen könnte. 11 l v.Hippe/257; vgl. auch Maurach/Zipf AT I § 4 Rn. 18.

B. Überblick über die Entwicklung

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dem Tod gleich zu achtende Straff ausgemessen ist; alle übrigen aber zu den gemeinen, und geringeren Missethaien gezogen werden. 114

Auch diese Einteilung deckt sich materiell mit der Differenzierung Carpzovs: Drei Stufen divergierender Schwere; über die Zuordnung entscheidet die gesetzlich festgeschriebene Strafe. Die Oberbegriffe überschwer-schwer-geringer entsprechen den von Kreittmayr im Codex verwendeten. Ein Unterschied zum bayerischen Partikulargesetz besteht allenfalls darin, dass mit der Zusatzbezeichnung der überschweren Taten als "abscheulichste" (§4)- dem Pendant zum lateinischen "atrocissima"- ein noch stärker wertendes Element in die Unterscheidung eingeht. Hinsichtlich der Bedeutung der Dreiteilung kann auf die Ausführungen zum bayerischen Codex verwiesen werden. Es handelt sich hier wie dort um eine wissenschaftsspezifischem Klassifizierungsbedürfnis entsprungene Abstufung ohne erkennbare Funktion 115 •

111. Die Auflösung der Klassifizierung in den Gesetzgebungswerken der Aufklärung: Josephina und Preußisches Allgemeines Landrecht 1. Die Dichotomie der Josephina Nicht einmal 20 Jahre nach ihrem lokrafttreten wurde die Theresiana in Österreich durch das Allgemeine Gesetzbuch über Verbrechen und derselben Bestrafung Josephs des li. von 1787 (kurz: Josephina) abgelöst. Sie brachte eine neue Zweiteilung der Delikte in Kriminalverbrechen (auch Halsverbrechen, Teil 1) und politische Verbrechen (Teil 2) 116• Über inhaltliche Unterschiede dieser beiden Deliktsarten und ihr Verhältnis zueinander äußert sich das Gesetz nicht ausdrücklich; die Definition der politischen Straftaten ist rein formaler Natur: Was als ein politisches Verbrechen zu behandeln sei, müsse einzig durch gegenwärtiges Strafgesetz bestimmt werden (Teil2 § 1). Dass es sich materiell aber um eine Trennung nach dem Schweregehalt der Delikte handelt und die politischen Verbrechen die leichteren Verfehlungen repräsentieren, ergibt sich bereits aus den jeweils vorgesehenen Strafen: Die politischen Strafen der Züchtigung mit Schlägen, Ausstellung auf der Schaubühne, Arreste, der öffentlichen Arbeit und der Ortsverweisung (vgl. Teil2 §§ 10-18) erscheinen doch noch mild gegenüber den Kriminalstrafen der AnZitiert nach Constitutio criminalis Theresiana, Faksimileausgabe 1975. Nicht ganz nachvollziehbar deshalb auch Heinitz 55: Die Einteilung sei für die Natur der zu erkennenden Strafe von Bedeutung gewesen. Tatsächlich verhielt es sich umgekehrt: Die Natur der Strafe entschied über die Zuordnung. 116 Vgl. dazu knapp Conrad II, 442. 114

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I. Teil: Unterscheidung strafbarer Handlungen nach ihrem Schweregrad

schmiedung und- in engen Ausnahmefällen- der Todesstrafe (vgl. Teil! § 20) 117 • Aufschlussreich ist auch ein Vergleich verschiedener Formen des Diebstahls, der je nach Wert des Diebesguts als Kriminalverbrechen (bei einem Wert über 25 Gulden, Teil 1 § 156) oder als politisches Verbrechen (Wert 5-20 Gulden oder weniger, Teil 2 § 29) behandelt wird. Schließlich fällt auf, dass Straftaten gegen Leib und Leben und die "körperliche Sicherheit" stets Kriminalverbrechen sind (Teil 1 §§ 89 ff.). Inhaltlich liegt diesem Modell gegenüber der Carpzovschen Trichotomie ein genau umgekehrter Ansatz zu Grunde: Nicht nach ihrer Strafdrohung werden die Straftaten abstrakt klassifiziert, sondern die Klassifizierung erfolgt für jedes einzelne Delikt gesondert, um dadurch die Sanktion auf jeweils bestimmte Strafarten zu beschränken.

2. Das Verschwinden der Carpzovschen Dreiteilung Von der auf Carpzov zurückgehenden Dreiteilung der Straftaten ihrer Vorgängerin findet sich dagegen in der Josephina keine Spur mehr. § 1 des ersten Teils im ersten Kapitel beschränkt sich auf eine allgemeine Bestimmung des Begriffs der Kriminalverbrechen: [...]sind als Kriminalverbrechen nur diejenigen gesetzeswidrigen Handlungen anzusehen, und zu behandeln, welche durch gegenwärtiges Strafgesetz als solche erkläret werden.118

Ähnlich verhält es sich mit dem strafrechtlichen Teil des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten von 1794 (kurz: PrALR), der bis zum lnkrafttreten des Preußischen Strafgesetzbuchs im Jahre 1851 galt. PrALR Teil II, 20. Titel, erster Abschnitt, §§ 7-9 bestimmen ebenfalls lediglich, was ein Verbrechen ist, nämlich eine sozialschädliche, gesetzeswidrige Handlung oder Unterlassung. Eine Abstufung der Verbrechen nach ihrer Schwere erfolgt nicht.

3. Die Ursachen Interessanter als das bloße Faktum des Verschwindens der Carpzovschen Einteilung in den genannten Gesetzen erscheinen die Ursachen hierfür. Wie gezeigt, war die Einteilung bei Carpzov und in den beiden Partikulargesetzen untrennbar verknüpft mit dem damaligen System abgestufter Strafen. Je schärfer die Strafe, desto schwerer das Delikt - dieser Satz, dessen Geltung sich schon für die fränkische Zeit und die Carolina nachweisen lässt, ist das ganze Prinzip, auf dem die Einteilung beruht. Eine Auflösung des bisherigen Strafensystems musste folg117 Beim AnsehTnieden wurde der Tater "in schwerem Gefangnisse gehalten" und "dermaßen enge angekettet", "daß ihm nur zur unentbehrlichen Bewegung des Körpers Raum gelassen wird", Teil I § 25. 118 Zitiert nach Buschmann 226.

8. Überblick über die Entwicklung

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lieh den Zusammenbruch dieses Fundaments bedeuten. Genau diese Erosion des Strafenkatalogs bewirkte aber das aufklärerische Gedankengut, das gegen Ende des 18. Jahrhunderts auch die Straftheorien zu beherrschen begann. Entscheidend war dabei vielleicht weniger die schon von Montesqieu und Voltaire proklamierte Forderung nach einem angemessenen Verhältnis zwischen Verbrechen und Strafe119• Denn schon die Carolina drohte für schwere Taten härtere Strafen an als für leichtere; im Grunde lag dieser Proportionalitätsgrundsatz dem Strafverständnis aller Zeiten mehr oder weniger unausgesprochen zu Grunde120. Das Verhältnisrnäßigkeitsprinzip im Strafrecht, dies nur arn Rande, ist deshalb entgegen der manchmal irreführenden Darstellung im Schriftturn keine Prärogative der Aufklärung. Allenfalls wurde dessen Umsetzung hier erstmals dezidiert eingefordert. Zu einer Nivellierung des Strafenspektrums konnte es vielmehr erst dadurch kommen, dass das allmählich auch in die Strafrechtswissenschaft einsickernde Vernunftprinzip zu der Frage Anlass gab, welchen Nutzen Todes- und verstümmelnde Leibesstrafen eigentlich haben konnten. Die damals gegebene Antwort hängt eng zusammen mit dem unter dem gleichen Einfluss gewandelten Strafzweckverständnis: Nicht um Gott zu rächen, sondern um des Endzwecks des öffentlichen Wohls (der salus publica) willensollte nunmehr gestraft werden: "Puni delinquentes, quantum ad utilitatern reipublicae opus est", heißt es etwa bei Christian Thomasius 121 • Übelszufügung als bloße Vergeltung aber, diese Einsicht setzte sich nun rasch durch, diente niemandem, allenfalls einer diffusen absoluten "Gerechtigkeit" mittelalterlich-theokratischer Provenienz. Der salus publica hingegen war durch Abschreckung gedient. Diese ließ sich aber auch durch Verurteilungen zu Freiheitsstrafe und öffentlicher Zwangsarbeit erreichen122. Dass gegen Ende des 18. Jahrhunderts in der Rechtspraxis plötzlich Freiheits- und Arbeitsstrafen dorninierten 123 und die Verhängung von Todes- oder Leibesstrafen zur Ausnahme wurde, lag mithin in der Konsequenz eines utilitaristischen Straftrechtsverständnisses, eines Paradigmenwechsels in der Strafzwecktheorie. Diese theoretischen und praktischen Veränderungen machten vor der Gesetzgebung nicht halt. Das PrALR gilt als echtes Produkt der Aufklärung124, es ist der Abschluss der gesetzgeberischen Lebensarbeit des "Aufklärers auf dem Throne", Vgl. dazu v.Hippe/262 und 265. Erinnert sei nur an die oben erläuterte Tatsache, dass schon im germanischen Strafrecht Bußgeldzahlungen bei besonders schweren Taten scheiterten. 121 Institutiones Teil3, Kap. 7, § 101, zu deutsch: Strafe die Täter, wie es der allgemeine Nutzen erfordert. Zu diesem gewandelten Strafzweckverständnis auch Rüping 59. 122 Rüping 61 f. 123 v.Hippe/284. Für die Einführung der Freiheitsstrafe diente vor allem Holland als Vorbild, vgl. Engisch 395; v. Hippe/258 ; Kroeschell III, 94. 124 Maurach/Zipf AT 1 § 4 Rn. 19. 119

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Friedrichs des Großen 125 . Nicht verwunderlich ist daher, dass die Freiheitsstrafe hier zum beherrschenden Strafmittel wird126. Für die Josephina wird der Einfluss der Aufklärung durch Joseph von Sonnenfels vermittelt127 . Auch hier fallen Leibes- und Todesstrafen weitgehend fort; an ihre Stelle treten allerdings kaum weniger grausame Freiheitsstrafeni2s. Mit der Verkürzung des Strafenkatalogs war in beiden Gesetzen der Anknüpfungspunkt für die von Carpzov initiierte Dreiteilung der Straftaten weggefallen 129 . Die Auflösung dieser Einteilung in den strafrechtlichen Kodifikationen der Aufklärung stellt mithin ein eindrucksvolles Beispiel dar für die Wechselwirkung zwischen geistesgeschichtlichen Strömungen und positivem Recht.

IV. Die genetischen Wurzeln der heutigen Dichotomie Bis hierher wurden einige mehr oder weniger ausgeprägte Formen einer Unterscheidung von Straftaten nach ihrem Schweregrad im Laufe der strafrechtsgeschichtlichen Entwicklung aufgezeigt. Für die heutige Dichotomie des § 12 StOB haben diese früheren Unterscheidungsmodelle eigentlich nur die Bedeutung einer rechtshistorischen Unterfütterung: Man kann eben sagen, dass es eine solche Abstufung von Straftaten im Prinzip schon lange vor unserem Strafgesetzbuch gegeben hat. Dies ändert sich mit der Herausbildung einer Trichotomie in den französischen und bayerischen Kodifikationen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Anders als von den Klassifizierungen im fränkischen, mittelalterlichen oder im gemeinen Recht lässt sich von der nun sich herausbildenden Dreiteilung behaupten, dass unser heutiger § 12 StOB ohne sie nicht denkbar wäre. Diese Dreiteilung verhält sich zur heutigen Einteilung der Straftaten also nicht nur wie ein hübscher Vergleichspunkt- im Sinne eines "so etwas gab es doch schon einmal" -; sie bildet vielmehr gleichsam den genetischen Ursprung unserer Dichotomie. Mit ihr beginnt, wenn man so will, der Stammbaum des§ 12 StGBIJo.

125 v.Hippe/216; Kroeschell 111, 71 f. Ausgearbeitet wurde der strafrechtliche Teil aber von Ernst Ferdinand Klein unter Mitwirkung von Kar! Gottlieb Suarez; Rüping 71. 126 Maurach/Zipf AT I § 4 Rn. 19. 127 Rüping 172. 128 Bis zu 100 Jahren Dauer bzw. "ewiges Anschmieden"; Conrad li, 441 f.; Maurach/Zipf AT 1 § 4 Rn. 19; Rüping 12. 129 Ähnlich Blei Strafrecht AT 1 § 25 I; LK-Tröndle 10. A. § 12 Rn. 2; Roxin AT§ 9 Rn. 3. 130 Ähnlich Meyer 2: "Die Geschichte unseres Instituts (gemeint ist: die Trichotomie des RStGB) ist[...] ausschließlich eine Geschichte der französischen Dreiteilung."

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1. Die Dreiteilung im französischen Code Penal Der französische Code Nnal trat erstmals am 25.9.1791 in Kraft. Wenige Tage zuvor waren durch das Gesetz der constituante vom 16.9.1791 unterschiedliche Zuständigkeiten für die erstinstanzliehen Gerichte der tribunaux criminels, tribunaux de police correctionelle und der tribunaux de police municipale geschaffen worden131. Deren Zuständigkeiten entsprach die Gruppierung der Straftaten im Code Nnal in crimes, delits punissable par Ia voie correctionelle und delits de police municipale132. Der Code Nnal von 1810 enthielt dann die bis jetzt gültige Fassung: Art.l er. L' infraction que /es lois punissent de peines de police est une contravention. L' infraction que /es lois punissent de peines correctionelles est un delit. L' infraction que /es lois punissent d' une peine afflictive ou infamante est un crime.

Dementsprechend handelt das 3. Buch des Code Nnal (Art. 75-463) "des crimes, des delits et de leur punition", das 4. Buch (Art. 464-484) von "contraventions de police et peines". In dieser Klassifizierung tritt die Verwandschaft mit§ 12 StOB schon recht deutlich hervor. Maßgeblich für die Zuordnung ist einmal mehr die Strafart, die Einteilung beruht also wie die Dichotomie des Strafgesetzbuchs auf dem formalen Prinzip133. Die Bedeutung für die Zuständigkeit der erstinstanzliehen Gerichte spiegelt sich noch heute z. T. in der Funktion der Dichotomie im Rahmen der§§ 24 f. , 74, 120 GVG.

2. Die Einteilung im bayerischen Strafgesetzbuch von 1813 Dasbayerische Strafgesetzbuch löste am 16.5.1813 den bis dahin gültigen Codex Juris Bavarici Criminalis ab und blieb bis zum Jahr 1862 in Kraft. Sein Schöpfer ist P.J.A. von Feuerbach (1775-1833), der mit seinem Lehrbuch schon die Strafrechtswissenschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beherrschte134. Das Werk, mit dem sich Bayerns Strafgesetzgebung an die Spitze der deutschen Territorien setzte, gilt in seinem materiell-rechtlichen Teil als das erste Beispiel einer modernen Strafgesetzgebung in Deutschland und erzielte weit über die Grenzen Bayerns hinausreichende Wirkung 135 • n1 Heinitz 55 ; Meyer 2f. Heinitz 55. Näher zur Bedeutung und Herkunft dieser Regelungen S. 34 ff. 133 Peines a.fflictive ou infamante sind Leibes- oder Ehrenstrafen; vgl. Köhler, Rechtsfranzösisch, Stw. "peine". Peines correctionelles sind Gefängnis von 5 Tagen bis zu 5 Jahren oder Geldbuße über 15 Francs, peines de policealle sonstigen; vgl. Code ?enal Art. 40, Code d' instruction criminelle Art.l37, auch Mittermaier 47. 134 v. H ippe/294. 135 Z . B. vollständige Rezeption im Großherzogtum Oldenburg, vgl. Buschmann 447; v.Hippe/300; Rüping 72f. 132

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Die Einteilung der Straftaten nimmt das Gesetz wie folgt vor: Art. 2: Strafbare Handlungen sind entweder Verbrechen, oder Vergehen, oder Polizeiübertretungen. Alle vorsätzlichen Rechtsverletzungen, welche wegen Beschaffenheit und Grösse der Uebelthat mit Todesstrafe, Kettenstrafe, Zuchthaus-, Arbeitshaus-, Festungsstrafe, mit Dienstentsetzung oder Unfähigkeitserklärung zu allen Würden, Staats- und Ehrenämtern bedroht sind, heissen Verbrechen. Unter Vergehen werden verstanden, alle unvorsätzlichen, wie auch alle diejenigen vorsätzlichen Rechtsverletzungen, welche wegen ihrer geringeren Strafbarkeit mit Gefängniß, körperlicher Züchtigung, Geldstrafe und anderen geringeren Uebeln geahndet werden. Handlungen und Unterlassungen, welche zwar an und für sich selbst weder Rechte des Staats oder eines Untenhans nicht verletzen, jedoch wegen der Gefahr für rechtliche Ordnung und Sicherheit unter Strafe verboten und geboten sind, desgleichen diejenigen geringeren Rechtsverletzungen, welche durch besondere Gesetze den Polizeibehörden zur Untersuchung und Bestrafung überwiesen werden, heissen Polizeiübertretungen.136 Die Ähnlichkeit zur Abgrenzung im Code Penal ist offensichtlich: Auch hier findet sich eine Dreiteilung und die Verwendung entsprechender Oberbegriffe. Auffallig ist jedoch, dass die rein formale Differenzierung des Code Penal hier durch materiale Kriterien angereichert wird: Ein Verbrechen ist nicht mehr allein durch die Härte der Strafe als solches erkennbar, vielmehr muss die Strafe ausdrücklich wegen der .,Grösse der Uebelthat" so massiv ausfallen. Zudem wird vorsätzliche Begehung verlangt. Auch für die Vergehen wird ausdrücklich festgestellt, dass die mittelschwere Strafe, welche die Zuordnung zu dieser Deliktskategorie determiniert, wegen der .,geringeren Strafbarkeit" verhängt wird; folgerichtig werden auch Fahrlässigkeitsdelikte von dieser Kategorie erfasst137• Die Definition der Übertretungen in Abs. 4 schließlich enthält zugleich - e contrario - das materielle Charakteristikum der Verbrechen und Vergehen: solche sind nur Handlungen oder Unterlassungen, die .,Rechte des Staats oder eines Unterthans" verletzen 138 • Die Funktion dieser 136 Der weitere Gesetzesaufbau knüpft, ähnlich wie der des Code Final, an diese Einteilung an: 1. Teil 2. Buch (Art. 142-366) behandelt die Verbrechen, das 3. Buch (Art. 367-459) die Vergehen. Im zweiten, prozessualen Teil beschäftigt sich das 1. Buch mit der Gerichtsbarkeit und dem Verfahren bei der Verfolgung und Aburteilung von Verbrechen, das 2. Buch mit den Vergehen. 137 Kritisch dazu M eyer 9, der zurecht darauf hinweist, dass die Betonung der Schuldformen als unrechtsdeterminierende Faktoren gegenüber anderen solcher Faktoren wie dem Grad der Tatbestandsverwirklichung oder der Teilnahmeform willkürlich erscheint. 138 Eine weitere Abweichung vom Code Final will Daimer S. 41 darin sehen, dass jener für die Qualifizierung der Tat die vom Richter im Einzelfall verhängte Strafe (Strafe in thesis) ausschlaggebend habe sein lassen, während das bayerische Strafgesetzbuch an die abstrakte Strafdrohung des jeweiligen Tatbestandes (Strafe in hypothesis) anknüpfe. Der Wortlaut des Art. 1er Code Final (..que /es lois punissent...") deutet indessen eindeutig daraufhin, dass auch hier die sog. abstrakte Betrachtungsweise anzusetzen ist. In diesem Sinne auchMaurach/ZipfAT 1 § 13 Rn.20.

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Dreiteilung legt Art. 3 explizit fest. Sie liegt allein in der Zuweisung der Delikte in den Zuständigkeitsbereich der Gerichte und Behörden und entspricht damit jener der Trichotomie im Code Nnal: Die Untersuchung und Bestrafung der Verbrechen gehört den Kriminalgerichten; die Untersuchung und Bestrafung der Vergehen den Zivilgerichten; die Untersuchung und Bestrafung der Polizeiübertretungen den Polizeibehörden nach den näheren Bestimmungen über das gerichtliche polizeiliche Verfahren in Strafsachen139•

Obwohl der heutige§ 12 StGB, wie Art. ler des Code Penal, auf die ausdrückliche Normierung materialer Abgrenzungskriterien für Verbrechen bzw. Vergehen verzichtet, nähert sich die Trichotomie des bayerischen StGB von 1813 eben durch die Aufnahme solcher Kriterien der heutigen Dichotomie noch weiter an: Denn die Wertungen "Grösse der Uebelthat" und "geringere Strafbarkeit" liegt unausgesprochen natürlich auch der Strafmaßabstufung in§ 12 StGB zugrunde. Für die Festlegung des bayerischen Strafgesetzbuch, wonach nur vorsätzliche Taten Verbrechen sein können, lässt sich diese Ähnlichkeit zur heutigen Klassifizierung sogar ausdrücklich daran festmachen, dass es auch hier keine fahrlässig begehbaren Verbrechen gibt; Fahrlässigkeitsdelikte sind nach dem Strafgesetzbuch stets Vergehen. Nur hat das Strafgesetzbuch anders als das bayerische von 1813 auf eine ausdrückliche Normierung dieses Unterschieds verzichtet; er erschließt sich allein aus einer Analyse des Besonderen Teils. 3. Der Streit um eine materiale Bedeutung der Trichotomie im Code Penal und im bayerischen Strafgesetzbuch von 1813 Um eine tiefere, d. h. eine die rein formale Funktion für die Gerichtszuständigkeit überschreitende Bedeutung dieser Dreiteilung im Code Penal wie auch im bayerischen Strafgesetzbuch von 1813 hat sich im Schrifttum bald ein Streit entwickelt, der z. T. bis in die jüngere Vergangenheit nachhalltl 40• Wenngleich für das Verständnis der heutigen Dichotomie ohne Bedeutung, soll dieser Disput im Rahmen eines entwicklungsgeschichtlichen Überblicks nicht unterschlagen werden. Ausgangspunkt des Streits waren naturrechtliche Konstruktionen des 18. Jahrhunderts, die zwischen verschiedenen Arten von individuellen Rechten unterschieden. An die Verletzung solch unterschiedlicher Rechte wollte namentlich Tittmann die graduelle Abstufung der Delikte knüpfen 141 • Danach zerfallen strafbare Handlungen in bloße Störungen des Wohlbefindens unter gleichzeitiger Nichtantastung des Freiheitsgebiets des Einzelnen- Tittmann spricht hier von bloßen Polizeiverge139 Bemerkenswerterweise wurde die Aufteilung in Kriminal- und Zivilstrafgerichte gerade in der Absicht vorgenommen, die Trichotomie mit Bedeutung zu unterfüttern, vgl. Meyer 11. 140 Vgl. LK-Tröruile 10. A. § 12 Rn. 2. 141 Tittmann Grundlinien 18f. §§24ff.; vgl. auch Tittmann Handbuch I, 54ff.; ferner PhiUpsborn 93 f.

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1. Teil: Unterscheidung strafbarer Handlungen nach ihrem Schweregrad

hen -, und in Entsetzungen aus diesem Freiheitsgebiet, was echtes kriminelles Unrecht darstelle. Diese schwereren Fälle gliedern sich wiederum in Verbrechen und Vergehen, wobei Verbrechen durch die Verletzung angeborener Rechte, Vergehen durch die Verletzung erworbener Rechte gekennzeichnet seien (hier schlägt sich das naturrechtliche Gedankengut nieder). Letzte Schärfe erhält diese Abgrenzung dann durch eine nähere Bestimmung des Begriffs der angeborenen Rechte (auch Urrechte): Darunter seien solche Rechte zu verstehen, welche der Mensch ohne Anwendung seiner physischen Kräfte, als ein mit Vernunft und Freiheit begabtes Wesen besitzt. Dieses Modell hat nach Auffassung von Kohlrausch die Dreiteilung zu Beginn des 18. Jahrhunderts beeinflusst 142• Demnach spiegelt die Trichotomie Verbrechen/ Vergehen/Übertretungen die auf materieller Ebene liegende Trias der Verletzung angeborener Rechte, erworbener Rechte und der Zuwiderhandlungen gegen Ge- oder Verbote wider. Ein solcher ursprünglich qualitativ-materieller Gehalt der Unterscheidung wird von einigen Autoren bis heute vermutet 143. Dieser Interpretation ist Wetze/ bereits zu Beginn der fünfzigerJahreentschieden entgegengetreten 144• Die Tittmannsche Deutung finde sich in der naturrechtliehen Literatur des 18. Jahrhunderts nicht. Er habe damit lediglich die Trichotomie nachträglich material unterbauen wollen. Die Behauptung Kohlrauschs, die Dreiteilung entstamme dem Naturrechtsdenken des 18. Jahrhunderts, sei wohl dieser Tittmannschen Darstellung entnommen und gehe daher fehl. Nichtsdestotrotz hielt der Kommentar von Kohlrausch/Lange auch nach der Kritik Wetzeis an dieser Deutung fest. Dieser Streit lässt sich heute, rund 50 Jahre nach seiner Entstehung, anhand des verfügbaren Quellenmaterials kaum beilegen. Immerhin erscheint aber die Einschätzung Welzels, bei dem Ursachenzusammenhang zwischen den naturrechtliehen Strömungen und den gesetzlichen Trichotomien handele es sich um eine bloße Erfindung Tittmanns bzw. Kohlrauschs, doch etwas vorschnell. Denn unbestritten dürfte sein, dass die naturrechtliehen Unterscheidungen von angeborenen und erworbenen Rechten im Laufe des 18. Jahrhunderts immer populärer wurden 145 • Es kann daher jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass derlei Strömungen seinerzeit auch den Gesetzgeber des Code Penal zu seiner Dreiteilung inspiriert haben, auch wenn dies an keiner Stelle des Gesetzes oder der Begründung ausgesprochen wird. Gegen eine solche materiale Bedeutung mag zwar sprechen, dass der französische Gesetzgeber von 1810 die "crimes" und "delits" zusammen in einem Buch geregelt hat, was bei einer materialen Diskrepanz zwischen den Deliktstypen wohl Kohlrausch/Lange, § 1 Anm. III. SK-Hoyer § 12 Rn. 2; vgl. auch Maurach/Zipf AT 1 § l3 Rn. 20; Roxin AT 1 § 9 Rn. 3. 144 JZ 1951 , 755. Ebenso, unter Berufung auf Welzel, Heinitz 54 Fn. 6; LK-Tröndle 10. A. 14 2

143

§ 12 Rn.2. 145 V gl. Heinitz 55 Fn. 5, der, wenn auch unter Zustimmung für Welzel, eine gegenüber Tittmann leicht abweichende Form einer materialen Differenzierung anführt: Verstöße gegen die zehn Gebote, gegen den Gesellschaftsvertrag, gegen die positive Ordnung.

B. Überblick über die Entwicklung

55

ein eher ungewöhnliches Verfahren gewesen wäre. Gerade diese Überlegung spricht

jedochfür eine materiale Abstufung, wenn man auf die ursprüngliche Fassung des Code Penal von 1791 zurückblickt. Denn in der Tat fand sich dort auch eine syste-

matische Trennung von ,.crimes" und ,.delits", indem diese jeweils abschließend in unterschiedlichen Abschnitten behandelt wurden146• Hier könnte immerhin die Idee einer unterschiedlichen Gewichtung der Deliktstypen nach Art des angegriffenen Rechts Pate gestanden haben. Von der Frage nach den geistesgeschichtlichen Ursprüngen der Dreiteilung ist die nach der konkreten Funktion zu trennen, die der Einteilung dann im Code Penal und im bayerischen Strafgesetzbuch zugewiesen wurde. Insoweit lässt sich dem Code Penal in der Tat eine materiale Bedeutung nicht entnehmen. Auch in der Begründung wurde die Bedeutung der Einteilung für die Zuständigkeit der Gerichte in den Vordergrund gestelltl 47 • Im bayerischen Strafgesetzbuch ergibt sich dieselbe Funktion aus Art. 3 (s.o.). Dass hier auch materiale Elemente in die Unterscheidung einfließen, vermag die Herstellung eines Zusammenhangs mit der naturrechtliehen Lehre nicht zu tragen. Denn im Gegensatz etwa zu den Kriterien Tittmanns beziehen sie sich nicht auf die Art des angegriffenen Rechts, sondern auf die Begehungsform (Vorsatz/Fahrlässigkeit) und bleiben ansonsten denkbar vage (,.Grösse der Uebelthat", ,.geringere Strafbarkeit"). Nach alledem erscheint plausibel die Erklärung bei Maurach/Zipf. wonach die Einteilung im französischen Recht zwar auf die naturrechtliche Doktrin zurückging, diese aber im Sinne einer Beschränkung auf die gerichtsorganisatorische Funktion säku1arisierte148 • Für das bayerische Strafgesetzbuch dürften die naturrechtliehen Aspekte hingegen gar keine Rolle mehr gespielt haben. Der ähnliche Wortlaut, die gleiche formale Abgrenzungstechnik und die Übereinstimmung in der Funktion der Trichotomie lassen vielmehr auf eine direkte Nachahmung des französischen Rechts schließen 149 • Der Einteilung hier eine materiale Bedeutung i. S. der naturrechtlichen Richtungen beizumessen, erschiene in der Tat gezwungen. Für den Code Penal muss die Frage nach einer tieferen, also materialen Bedeutung hingegen offen bleiben. Angesichts des FehJens klarer Hinweise auf eine Rezeption naturrechtliehen Gedankenguts erscheint die Skepsis Welzels und seiner Nachfolger zwar nachvollziehbar. Wissenschaftlich verifizieren lässt sich der kategorische Ausschluss jeglichen Zusammenhangs zum Naturrechtsdenken aber nicht.

Vgl. Beseler 60. Heinitz 55; vgl. auch Beseler 60. 148 Vgl. Maurach/Zipf AT 1 § 13 Rn. 20. 149 So auch Welzel JZ 1951, 755; vgl. auch Mittermaier 47f. 146

147

56

l. Teil: Unterscheidung strafbarer Handlungen nach ihrem Schweregrad

4. Die Einteilung im Strafgesetzbuch für die preußischen Staaten von 1851 a) Zur Entstehungsgeschichte der Dreiteilung im preußischen Strafgesetzbuch Das Strafgesetzbuch für die preußischen Staaten von 1851 (kurz: preußisches StGB) enthält die Dreiteilung in § 1. Es war das Resultat sorgfaltiger Vorarbeiten, die sich beinahe über ein halbes Jahrhundert lang hinzogen150 und die Totalrevision des strafrechtlichen Teils des PrALR zum Ziel hatten. Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 stellte eine nur geringfügig geänderte Fassung dieses preußischen Strafgesetzbuchs dar151 • Während die I. Revision 152 unter den Justizministern v. Danekelmann bzw. v. Kamptz am Einheitssystem des PrALR festhielt, indem der Entwurf jegliches kriminelles Unrecht als Verbrechen bezeichnete153, war der Entwurf der 2. Revision aus Gründen der Kompetenzabgrenzung bestrebt, Verbrechen und eine andere Klasse von Straftaten nach der Strafdrohung voneinander zu scheiden, ohne für letztere den Begriff der Vergehen einzuführen 154• Trotz verstärkten französisch-rechtlichen Einflusses nahm auch der Entwurf der 3. Revision 155 die Dreiteilung nicht auf. Zum Durchbruch ins positive Recht verhalf ihr aber schließlich der Entwurf der 4. Revision, der die spätere Gesetzesfassung enthielt: § 1 Eine Handlung, welche die Gesetze mit Todesstrafe, mit Zuchthausstrafe oder mit Einschließung von mehr als fünf Jahren bedrohen, ist ein Verbrechen. Eine Handlung, welche die Gesetze mit Einschließung bis zu fünf Jahren, mit Gefiingnisstrafe von mehr als sechs Wochen oder mit Geldbuße von mehr als funfzig Thalem bedrohen, ist ein Vergehen. Eine Handlung, welche die Gesetze mit Gefangnisstrafe bis zu sechs Wochen oder mit Geldbuße bis zu funfzig Thaiern bedrohen, ist eine Uebertretung.

Nicht ganz geklärt ist, weshalb sich die Dreiteilung letztendlich durchsetzen konnte, nachdem ihr alle vorangegangenen Entwürfe kaum Sympathie entgegengebracht hatten. Binding nimmt eine aus gesetzgeberischer Resignation geborene Nachahmung des französischen Rechts an, wenn er behauptet: "Von seinen endlosen Vorarbeiten ermüdet warf sich der preussische Gesetzgeber schließlich einfach dem französischen Recht in die Arme" 156• Dagegen wollen andere die Selbständiglso Buschmann 538.

Maurach/Zipf ATl § 4 Rn. 24; Rüping 81 ff. Die Entstehungsgeschichte lässt sich nach Beseler in 4 Entwicklungsstadien einteilen: l. Revision 1826-1836, 2. Revision 1838-1843, 3. Revision 1843-1847, 4. Revision 1847-1851, Beseler 1-15. 1S3 v.Hippe/317. 1s4 v.Hippe/321 spricht zu Recht von einer ,,merkwürdigen Halbheit". ISS Unter Savigny als Minister für Gesetzesrevision. 1s6 Binding Handbuch I, 46. ISI

1s2

B. Überblick über die Entwicklung

57

keit nicht nur des gesamten preußischen Strafgesetzbuchs, sondern auch und insbesondere der in ihm statuierten Straftatenklassifizierung betont wissen. Dabei scheint allerdings das in diesem Zusammenhang vorgebrachte Argument betreffend die Unterschiede im Strafmaß, die sich zwischen der französischen und der preußischen Dreiteilung zeigen157, wenig durchschlagskräftig. Denn eine Imitiation geht ihres Charakters als einer solchen doch noch nicht deshalb verlustig, weil sie nicht bis ins letzte Detail mit dem Original übereinstimmt - nach einer solchen Totalübereinstimmung verlangt allein der Begriff der Kopie. Dass ein Verbrechen in Preußen die Bestrafung mit Tod, Zuchthaus oder Einschließung voraussetzt, in Frankreich hingegen begrifflich abweichend Leibes- oder Ehrenstrafen, vermag die präsumtive Vorbildfunktion des französischen Rechts mithin nicht auzuschließen158 • Stärker ins Gewicht fallt hingegen der Hinweis auf die Rechtslage in den rheinischen Provinzen, wo seit der französischen Invasion Code Penal und Code d'instruction criminelle ihre deutlichen Spuren hinterlassen hatten. Insbesondere das öffentliche und mündliche Strafverfahren und die Existenz von Schwurgerichten wurden dort gegenüber dem früheren Inquisitionsverfahren als überlegen empfunden 159• Da die Tätigkeit der Schwurgerichte aber notwendigerweise auf die Aburteilung der schwersten Taten beschränkt bleiben mußte160, war die gesetzliche Normierung unterschiedlicher Deliktsklassen gleichsam das gesetzgeberische Instrument zum Erhalt dieser Institution. Sehr deutlich drückt dies Beseler aus, wenn er über den Streit um die Aufnahme der Dreiteilung ins preußische Strafgesetzbuch urteilt, dass es dabei genaugenommen "um die Institution des Schwurgerichts [ging], welche man in der Rheinprovinz für bedroht, in den anderen Theilen der Monarchie für kaum erreichbar hielt, wenn nicht im Strafgesetzbuch selbst zwischen den schweren und minder schweren Verbrechen sicher und genau unterschieden würde, so daß jene vor die Schwurgerichte, diese vor die einfachen Kriminalgerichte verwiesen werden könnten." 161 Erfüllte die Einteilung damit eine ganz konkrete Funktion für die preußische Gerichtsbarkeit, so spricht dies in der Tat gegen die oben suggerierte unreflektierte Nachahmung des Code Penal; vielmehr scheint sie damit auch auf den Einfluss rheinischer Stände und Juristen zurückzugehen, die dadurch ihrem- oktroyierten- Prozesssystem zu einer Geltung in größerem Umfang verhelfen wollten 162•

Vgl. v. Hippe/325, insbes. Anm. 6 unter Berufung auf Beseler 63. Bedeutsamer hingegen die Unterschiede zwischen den beiden Gesetzen, auf die Daimer 6f. verweist: So zählt das preußische StGB, anders als der Code ?enal, die speziellen Strafen direkt auf. Auch ist im preußischen StGB auch das Strafmaß, und nicht, wie im Code ?enal, nur die Strafart von Bedeutung. 157 158

159

v.Hippel312f.

Vgl. Meyer 15. 161 Beseler 59 f. 162 So auch die Erklärung bei v. Hippe/325; im Ansatz auch Maurach/Zipf AT 1 § 4 Rn. 23; 160

Meyer11.

58

1. Teil: Unterscheidung strafbarer Handlungen nach ihrem Schweregrad

b) Zur Funktion der Dreiteilung im preußischen Strafgesetzbuch Wenn auch für die Frage einer Aufnahme der Dreiteilung in das preußische StGB überwiegend Überlegungen der Kompetenzabgrenzung bestimmend waren, gehen die konkreten Funktionen, welche die Trichotomie dann tatsächlich erfüllte, weit über eine bloße Zuständigkeitsdetermination hinaus. Hier erscheint die Einteilung bereits an mehreren Stellen als das Mittel gesetzestechnischer Vereinfachung, auf das man die heutige Dichotomie weitgehend beschränkt sieht. Dafür bedient sich der Gesetzgeber der simplen Technik, bestimmte Regelungen in ihrer Anwendbarkeit auf eine oder mehrere der drei Deliktsklassen zu beschränken. Zu nennen sind folgende Regelungskomplexe:

- Versuchsstrajbarkeit: Der Versuch ist grundsätzlich nur bei Verbrechen strafbar, bei Vergehen nur dann, wenn dies gesetzlich ausdrücklich bestimmt wird,§§ 32, 33. Der Versuch einer Übertretung ist straflos, § 336. - Die Teilnahmevorschriften sind nur auf Verbrechen und Vergehen anwendbar, vgl. die Überschrift zum dritten Titel, §§ 34ff.: "Von der Theilnahme an einem Verbrechen oder Vergehen." - Auch die Verjährungsvorschriften knüpfen an den Typus der Straftat an, vgl. § 46 für Verbrechen und Vergehen, § 339 für Übertretungen. - Die Nichtanzeige geplanter Straftaten ist nur bei bestimmten Verbrechen strafbar, § 39. - Systematisch getrennt behandelt werden auch die Konkurrenzen für Verbrechen/ Vergehen einerseits (§§55 ff.) und Übertretungen andererseits(§§ 337 f.). - Die Nötigung setzt die Bedrohung mit einem Vergehen oder Verbrechen voraus, §212. - Schließlich findet eine Verfolgung von Auslandsstraftaten bei Übertretungen nur statt, wenn dies durch besondere Gesetze oder Staatsverträge angeordnet ist, bei Verbrechen und Vergehen unter bestimmten Umständen, § 4. Damit lässt sich für die Trichotomie des preußischen Strafgesetzbuch ein gegenüber der Einteilung früherer Gesetze erheblich breiteres Funktionsspektrum konstatieren. Einige der genannten Funktionen haben sich für die heutige Dichotomie erhalten; in der Regelung der Versuchsstrafbarkeit etwa erkennt man ganz deutlich unseren§ 23 Abs. l StGB. Die "durchdachte Technik", für die das preußische Strafgesetzbuch gerühmt wird 163 , zeigt sich deshalb auch und gerade in der Art und Weise, auf die der preußische Strafgesetzgeber die aus dem französischen und bayerischenRecht bekannte Trichotomie der Straftaten nicht nur einfach sklavisch übernommen, sondern sich 163

Vgl. Rüping 81.

B. Überblick über die Entwicklung

59

kurzerhand als ein geradezu verblüffend einfaches Mittel gesetzestechnischer Vereinfachung und Verkürzung zu Nutze gemacht hat. Nicht die kleinen Unterschiede in der Ausgestaltung, namentlich im Strafmaß, sondern diese forcierte Funktionalisierung einer ursprünglich weitgehend auf gerichtsorganisatorische Bedeutung beschränkten Regelung, die Anreicherung mit gesetzestechnischer Aufgabe und Bedeutung, wie sie sich an den angeführten Stellen niederschlägt, stellen eine beachtliche und originäre Leistung des preußischen Strafgesetzgebers dar, welche die Selbständigkeit des preußischen Strafgesetzbuchs gegenüber seinen Vorläufern aus Frankreich und Bayern dokumentiert164 •

V. Die Entwicklung der Einteilung vom Reichsstrafgesetzbuch von 1871 bis zur Gegenwart 1. Die Aufnahme der Trichotomie in das Reichsstrafgesetzbuch von 1871

In seiner ursprünglichen Gestalt war das Strafgesetzbuch für das deutsche Reich (kurz: RStGB) von 1871 eine nur wenig veränderte Neuauflage des preußischen Strafgesetzbuch von 1851 165 • Wenig verwunderlich ist daher, dass auch das Reichsstrafgesetzbuch an der überkommenen Dreiteilung der Straftaten in § 1 festhielt Eine mit dem Tode, mit Zuchthaus, oder mit Festungshaft von mehr als fünf Jahren bedrohte Handlung ist ein Verbrechen. Eine mit Festungshaft bis zu fünf Jahren, mit Gefängnis oder mit Geldstrafe von mehr als einhundertfunfzig Mark bedrohte Handlung ist ein Vergehen. Eine mit Haft oder mit Geldstrafe bis zu einhundertfunfzig Mark bedrohte Handlung ist eine Uebertretung.

Im System des Besonderen Teils setzt sich diese Gliederung fort: Die§§ 80-359 behandeln Verbrechen und Vergehen, die §§ 360 ff. die Übertretungen. Entscheidend für die Zuordnung einer konkreten Tat sollte nach dem Willen des Gesetzgebers nicht die im Einzelfall verhängte, sondern die abstrakt dafür angedrohte Höchststrafe sein 166 • Proklamiert wurde mithin die sog. abstrakte Betrachtungsweiset67.

Die Übernahme dieser Trichotomie aus dem preußischen Strafgesetzbuch verlief keineswegs ohne Widerstand aus der Wissenschaft. Besonders heftig fiel er im Gut164 Nicht übersehen werden darf freilich, dass auch der Code Pinal bereits, allerdings in gegenüber dem preußischem Strafgesetzbuch begrenztem Umfang, materiell-rechtliche Folgen an die Einteilung knüpfte, etwa bei der Frage der Versuchsstrafbarkeit; dazu Meyer 6; LK-Vo gler 10. A. § 23 vor Rn. 1. 165 Maurach/Zipf AT 1 § 4 Rn. 23. 166 V gl. Oppenhoff § I Anm. I; v. Hippe/ II, 96, jeweils unter Hinweis auf die Motive. 167 Näher zu diesem grundsätzlichen Problem unten S. 243 f.

60

l. Teil: Unterscheidung strafbarer Handlungen nach ihrem Schweregrad

achten Merkeis für den 9. deutschen Juristentag aus: Die Dreiteilung sei eine "Schmarotzerpflanze" im Gebiet der Strafgesetzgebung, welche nur Leben erhalten könne auf Kosten der Natur der Sache16s. Völlig ablehnend äußerte sich auch Binding in seiner Kritik zum Entwurf eines Strafgesetzbuchs für den Norddeutschen Bund. Die Klassifizierung schaffe weder eine Einteilung der strafbaren Handlungen, da viele Tatbestände die Strafarten verschiedener Deliktskategorien androhten, also offenbar sowohl Vergehen als auch Verbrechen sein könnten 169• Noch sei mit der Differenzierung eine nachvollziehbare Einteilung der Straffolgen von Handlungen geschaffen worden 17o. Die Kritik gipfelt in dem Ausruf: "Wahrlich! dem der weiß, wieviel von einer richtigen Anlage eines Gesetzbuchs abhängt, muß es Leid thun, wenn ein langersehntes Werk so wenig erfreulich eröffnet [... ]" 171 • Dass sich die Dreiteilung gegen diese massiven Einwände durchsetzen und im Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund vom 25.5 .1870, welches wiederum am 16.4.1871 zum Reichsgesetz (RStGB von 1871) erklärt wurde, einmal mehr Gesetz werden konnte, hat seinen Grund in der spezifischen gesetzestechnischen Funktion, die der Klassifizierung bereits im preußischen Strafgesetzbuch eignete und die offenbar auch von den Bundesstrafgesetzgebern gegenüber den Einwänden aus der Wissenschaft höher gewichtet wurde. In den Motiven zum Entwurf eines Strafgesetzbuchs für den Norddeutschen Bund heißt es: "Die Dreiteilung bietet einen erheblichen Nutzen durch die mit ihr gewährte Erleichterung in der Gruppierung der einzelnen strafbaren Handlungen und in der übersichtlichen Behandlung derselben bei der Durchführung der allgemeinen Prinzipien des Entwurfs"172 • Diese noch etwas kryptisch anmutende Aussage pointiert eine Äußerung des damaligen Bundeskommissars Friedberg aus der Reichstagssitzung vom 23.5.1870, wonach die Einteilung im Entwurf nichts anderes sei "als ein redaktionelles Hilfsmittel, um die Formulierung des Gesetzes klarer und einfacher gestalten zu können" 173 • An dieser Funktion hat sich bis heute nichts geändert. 2. Die weitere Entwicklung im Zuge der Strafrechts-Reformen des 20. Jahrhunderts a) Reformbewegungen bis zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland

Die schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzende Reformbewegung hat eine Vielzahl von Entwürfen zu einem Strafgesetzbuch, von Strafrechtsänderungs- und 168

Merke120f.

Binding, Entwurf 45f. 170 Binding, Entwurf 47. 171 Binding, Entwurf 45. Zur Kritik vgl. auch Heinitz 55 Fn. 10 m. w. N. 172 Verhandlungen des Reichstags des Norddeutschen Bundes, I. Legislaturperiode, Session 1870, Bd. III, 31 . 173 Zitiert nach Rosenberg 4. 169

B. Überblick über die Entwicklung

61

Strafrechtsreformgesetzen hervorgebracht174, die z. T. auch die Trichotomie der Straftaten berührten. Eine detaillierte Nachzeichnung der einzelnen Änderungvorschläge ist hier nicht möglich. Sie wäre auch nur von untergeordnetem Interesse, da § 1 des Reichsstrafgesetzbuch aus dem Jahre 1871 bis zu den beiden ersten Strafrechtsreformgesetzen (StrRG) von 1969 im wesentlichen unverändert fortbestand. Hervorgehoben werden soll aber der Entwurf Gustav Radbruchs aus dem Jahr 1922. Dieser sah, seiner Zeit weit voraus, die Abschaffung von Todesstrafe, Zuchthausstrafe und Ehrenstrafe bei gleichzeitiger Ausweitung des Anwendungsbereichs der Geldstrafe vor175 • Mit dieser Annäherung an die heutige sog. Einheitsstrafe wurde eine Klassifizierung in Anknüpfung an die Strafart, wie sie § 1 RStGB vornahm, hinfa.Ilig. Vom Gesetzgeber wurden diese Anregungen jedoch nicht aufgenommen. Der Amtliche Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches von 1925 (E 1925) kehrte zur Todes- und Zuchthausstrafe zurück und behielt die überkommene Dreiteilung bei, wenn sie auch nicht mehr in einem Paragrafen vorgenommen wurde(§ 10 E 1925: Verbrechen und Vergehen,§ 343 E 1925: Übertretungen). Eine echte Änderung brachten hingegen die 1953 wiederaufgenommenen Reformarbeiten in der Bundesrepublik Deutschland. b) Der Wandel von der Trichotomie zur Dichotomie durch das 1. und 2. Strafrechtsreformgesetz von 196911975

In seiner heute gültigen Fassung wurde § 12 StGB erst durch das 2. StrRG, in Kraft getreten am 1.1.1975, eingeführt176• Seine gegenüber dem Vorläufer des § 1 RStGB andersartige Gestalt verdankt er zwei kriminalpolitischen Entwicklungen: der Einführung der sog. Einheitsstrafe und der Abschaffung der Übertretungen. aa) Die Vorschläge des Entwurfs 1962 und des Alternativ-Entwurfs In seinem vom Justizministerium in Auftrag gegebenen Gutachten zur Frage der Dreiteilung der Straftaten für ein neues Strafgesetzbuch sprach sich H einitz 1954 für die Einführung einer einheitlichen Freiheitsstrafe aus und befürwortete als Konsequenz daraus den Wegfall der Verbrechen 177 • Die damit erforderlichen Änderungen Dazu Maurach/Zipf ATI § 4 Rn. 25 ff.; Roxin AT l §4 Rn. l ff. m Vgl. Roxin ATI §4 Rn. 8; näher Eb. Schmidt, Einleitung zu Radbruch, Entwurf, S. XIII. An die Stelle der Zuchthausstrafe sollte ein "strenges Gefängnis" treten, das sich vom einfachen Gefängnis aber nicht durch die Art des Vollzuges oder entehrende Folgen, sondern lediglich durch das gesetzliche Strafmaximum und -minimum unterscheidet, § 31 des Entwurfs. Vgl. auch Heinitz 66. 176 BGBI.I, 717. Abs. 3 wurde allerdings später noch einmal dem Wegfall der ,,mildernden Umstände" angepasst. 174

177

Heinitz 66.

62

l. Teil: Unterscheidung strafbarer Handlungen nach ihrem Schweregrad

in StGB, StPO und GVG sollten technisch im wesentlichen dadurch umgesetzt werden, dass an den betreffenden Stellen nicht mehr auf den technischen Verbrechensbegriff, sondern direkt auf die angedrohte Strafe Bezug genommen wurde178 • Diesen Vorschlägen ist der Entwurf der großen Strafrechtskommission aus dem Jahr 1962 (E 1962) nicht gefolgt. Zwar brachte er die von Heinitz geforderte Zweiteilung, behielt jedoch die Zuchthausstrafe und folglich die Kategorie der Verbrechen bei. § 12 des E 1962 bestimmte Verbrechen als alle rechtswidrigen, mit Zuchthaus bedrohten Taten und Vergehen als rechtswidrige, mit Gefängnis, Strafhaft oder Geldstrafe bedrohte Taten. Die Übertretungen als dritte Klasse hielt der Entwurf für entbehrlich; sie sollten entweder in das Ordnungswidrigkeitenrecht ausgeschieden oder, soweit sie kriminelles Unrecht enthielten, zu Vergehen aufgewertet werden 179• Für die Zweiteilung sprach sich auch der sog. Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuchs von 14 Professoren aus dem Jahr 1966 (kurz: AE) aus. Dieser forderte aber zugleich auch die Einführung einer einheitlichen Freiheitsstrafe. Für die Abgrenzung der Deliktsklassen stellte sich damit ein bisher unbekanntes Problem. Denn wenn nunmehr mangels unterschiedlicher Strafarten nur noch auf die Strafhöhe zurückgegriffen werden konnte, bedurfte der Klärung, welcher Punkt im jeweiligen Strafrahmen über die Zuordnung entscheiden sollte: die Untergrenze, die Obergrenze oder vielleicht die Mitte? Der AE entschied sich für die erste Möglichkeit: Verbrechen sollten alle mit Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren bedrohten Taten sein, Vergehen alle mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren, Geldstrafe oder Fahrverbot bedrohten Taten 180• Dabei war die Festsetzung einer gemessen am heutigen§ 12 Abs. I StGB recht hohen Strafuntergrenze für Verbrechen durch das Anliegen motiviert, den Verbrechensbegriff einigen wenigen Taten von höchster Sozialschädlichkeit zu reservieren 1s1. bb) Die Regelung im 1. und 2. Strafrechtsreformgesetz ( 1) Das 1. Strafrechtsreformgesetz

Die Arbeit des Sonderausschusses des Bundestages für die Strafrechtsreform brachte zunächst das zum 1.9.1969 bzw. zum 1.4.1970 in Kraft getretene 1. Strafrechtsreformgesetz hervor. Abweichend vom E 1962 und die Forderungen des AE umsetzend brachte das Gesetz die Einführung einer einheitlichen Freiheitsstrafe; die bis dahin übliche Abstufung der Freiheitsstrafe in die Arten Zuchthaus, Gefängnis, 178

Heinitz 67.

So die Begründung zum Entwurf, BT-Drucksache III/2150, Einleitung 8 . I. § 11 AE. Die explizite Erwähnung des Fahrverbots gründet darin, dass das Fahrverbot im AE zur Hauptstrafe ausgebaut wurde und folglich auch allein verhängt werden konnte, vgl. AE47. 181 Baumann AT§ 8 II2 Fn.12. 179

180

B. Überblick über die Entwicklung

63

Festungshaft und Haft entfiel 182• Damit hatte die Strafart jegliche Differenzierungskraft für die Einteilung der Straftaten verloren. Dessen ungeachtet beließ es das Gesetz noch bei der überkommenen Trichotomie der Straftaten und behielt sich die Beseitigung der Übertretungen im 2. StrRG vor183 • Resultat war ein neuer§ 1 StGB, der in Abs.1 die Verbrechen als im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder mehr bedrohte Taten definierte und im Abs. 2 Übertretungen als mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Wochen oder mit Geldstrafe bis zu fünfhundert deutsche Mark bedrohte Handlungen. Abs. 3 konnte dann in der Funktion einer Auffangklasse Vergehen als "alle übrigen mit Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bedrohten Handlungen" einordnen. Die einzelnen Deliktsklassen blieben in ihrem Bestand durch diesen Teil der Reform weitgehend unberührt. Der Gesetzgeber war offensichtlich darauf bedacht, mit der Änderung des Unterscheidungsmerkmals keine Änderung der Deliktsnatur bei den einzelnen Tatbeständen einhergehen zu lassen; was also vor der Reform Verbrechen gewesen war, blieb es weitestgehend auch weiterhin. Eine Ausnahme stellen die Tatbestände des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen(§ 174 StGB), der Abtötung der Leibesfrucht (§ 218 Abs. 2 StGB a. F.) der Entführung(§ 236 a. F. StGB a. F.) und des Diebstahls in einem besonders schweren Fall (§ 243 StGB) dar, die durch das 1. StrRG von Verbrechen zu Vergehen herabgestuft wurden184• Bemerkenswert an der durch das 1. StrRG eingeführten Unterscheidung erscheint die- bis heute gültige- Festsetzung der Strafuntergrenze für Verbrechen bei einem Jahr Freiheitsstrafe. Denn in diesem Detail, das für die Zuordnung einer Straftat zu einem Deliktstypus von entscheidender Bedeutung ist, weicht das Gesetz von den vorangegangenen Entwürfen ab. Der AE hatte für Verbrechen eine Strafuntergrenze von fünf Jahren Freiheitsstrafe gefordert (s.o.). Aber auch der E 1962, der auf der Grundlage des alten Strafensystems alle mit Zuchthausstrafe bedrohten Taten als Verbrechen einordnete, sprach sich damit indirekt für eine zeitliche Untergrenze aus: Gern. § 44 Abs. 2 E 1962 sollte das Mindestmaß der Zuchthausstrafe bei zwei Jahren liegen. Schließlich war auch im Sonderausschuss des Bundestages selbst eine Strafuntergrenze von zwei Jahren Freiheitsstrafe vorgeschlagen wordentss. Der Gesetzgeber hat den Einzugsbereich der Verbrechensklasse gegenüber den Entwürfen also ausgeweitet. Als Begründung wird zunächst auf den Charakter des 182 In der Begründung wird verwiesen auf den fehlenden praktischen Unterschied zwischen Zuchthaus und Gefängnis, die Resozialisierungsfeindlichkeit der Zuchthausstrafe und die mit dem Wegfall besonderer Zuchthäuser verbundene Kostenerspamis; BT-Drucksache V/4094, 8. 183 BT-Drucksache V/4094, 4. 184 Näher Lamzke NJW 1971,737. Auch in der Folgezeit hat sich derGesetzgebermit Strafrahmenänderungen, die zugleich eine Veränderung des Deliktscharakters nach sich zogen, deutlich zurückgehalten. Beispiele sind die Umwertung des§ 129a Abs. 1 StGB zum Verbrechen durch das Terrorismus-Bekämpfungsgesetz von 1986 und zuletzt des § 213 StGB zum Verbrechen durch das 6. StrRG von 1998. 1ss BT-Drucksache V/4094, 4.

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1. Teil: Unterscheidung strafbarer Handlungen nach ihrem Schweregrad

I. StrRG als Teilreform verwiesen, innerhalb derer eine Erhöhung des Mindestmaßes der Freiheitsstrafe für Verbrechen nicht durchgeführt werden könne. Ausschlaggebend war jedoch wohl ein Sachargument: Eine Erhöhung der Strafuntergrenze für Verbrechen werde auch deshalb abgelehnt, weil sonst hohe Bereiche der Kriminalität aus dem Verbrechensbegriff herausfielen 186• Offenbar war der Gesetzgeber also erpicht darauf, den Terminus "Verbrechen" mitallseinen Wirkungen zur Etikettierung eines größeren Kreises von Delikten bereitzustellen. (2) Das 2. Strafrechtsreformgesetz

In ihrer bis heute gültigen Form wurde die Dichotomie erst durch das am 1.1.1975 in Kraft getretene 2. StrRG eingeführt. Entscheidender Unterschied zur durch das I. StrRG eingeführten Fassung ist das durch den nun eingetretenen Wegfall dieser Straftatengruppe bedingte Fehlen einer Einordnungsbestimmung für Übertretungen 187• An den durch das I. StrRG eingeführten Strafgrenzen für die Zuordnung zu den Deliktskategorien hält das Gesetz hingegen fest. Diese Tatsache entlarvt die oben wiedergegebene Behauptung der Undurchführbarkeit einer Strafgrenzenerhöhung im Wege einer Teilreform vollends als vorgeschobene Scheinbegründung. Der wahre Grund für das Festhalten an einer vergleichweise niedrigen Strafuntergrenze lag in der andernfalls befürchteten weitgehenden Reduzierung des Anwendungsbereichs des Verbrechensbegriffs ISS.

C. Zusammenfassung des 1. Teils Die Einteilung der Straftaten, wie sie heute in§ I2 StGB niedergelegt ist, wurzelt im französischen Code Penal von I791/I8IO. Noch als Dreiteilung fand sie Eingang in das bayerische Strafgesetzbuch von I813 und, nach einigem Widerstand aus der Wissenschaft, auch in das preußische Strafgesetzbuch von I851. Von dort ging sie über in das Reichsstrafgesetzbuch von I871. Am 1.1.1975 wurde sie durch die bis heute geltende Zweiteilung abgelöst. Der Gedanke, Straftaten nach ihrer Schwere unterschiedlich zu behandeln, ist freilich viel älter. Er schlägt sich nieder bereits in den frühesten uns bekannten Formen des Strafrechts, in den unterschiedlich scharfen Reaktionen der Rechtsgemeinschaft des germanischen und des römischen Rechts auf als unterschiedlich gravierend empfundene Delikte. Doch handelt es sich hierbei genau besehen noch nicht um eine Klassifizierung, sondern lediglich um eine Differenzierung von Straftaten. BT-Drucksache V/4094, 4. Derdie Übertretungen enthaltende 29. Abschnitt des StGB a. F. wurde aufgehoben durch Art. 19 Nr. 206 EGStGB vom 2.3.1974, BGBI. I, 469, 502. 188 Vgl. Baumann AT §8 II2 Fn.12. 186 187

C. Zusammenfassung des 1. Teils

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Von einer echten Einteilung im Sinne der Herausbildung einer abstrahierenden Begrifflichkeil lässt sich erst mit dem Auflcommen der Begriffe der causae maiores und causae minores in Rechtsquellen der fränkischen Zeit sprechen. Dagegen erweist sich das Partikular- und Gewohnheitsrecht der nachfränkischen Zeit für die Weiterentwicklung der Einteilung als kontraproduktiv. Für den Begriff der "ungerichte" im Sachsenspiegellässt sich eine kategorisierende Funktion nicht nachweisen. Erst die Carolina unterscheidet wieder nach Schweregesichtspunkten peinliche und bürgerliche Fälle. In den Gesetzgebungswerken des gemeinen deutschen Strafrechts, dem Codex Juris Bavarici Criminalis und der Constitutio Criminalis Theresiana, setzt sich dann die auf Carpzov zurückgehende Dreiteilung in delicta atrocissima, atrocia und levia durch. Die Nivellierung des Strafenspektrums unter dem Einfluss auflclärerischen Denkens zieht dann in der Constitutio Criminalis Josephina und im Preußischen Allgemeinen Landrecht das Verschwinden der Klassifizierung nach sich. Immerhin enthält die Josephina noch eine auf Schweregesichtspunkten basierende Unterscheidung von Kriminalverbrechen und politischen Verbrechen. Erst das im französischen Recht der Revolutionszeit entstehende Bedürfnis nach einer übersichtlichen Abgrenzung der Gerichtskompetenzen verleiht der Fortbildung der Einteilung auch für das deutsche Recht neue Impulse. Die Trichotomie des Art ler des Code Penal wird zum Ausgangspunkt einer Entwicklung, an deren vorläufigem Ende der heutige § 12 StGB steht.

S Mirow

Zweiter Teil

Funktionen und Bedeutungsverlust der Klassifizierung. Vom Strafgesetzbuch für das deutsche Reich von 1871 bis zum 6. Strafrechtsreformgesetz 1998 Ist mit dem 1. Teil geklärt, wie die Klassifizierung ins Gesetz kam, so darf man sich fragen, wie sie sich dort als Institut über rund 130 Jahre in einer an strafgesetzliehen Reformen nicht gerade armen Zeit hat behaupten können. Diese Frage lässt sich nur über die spezifischen Funktionen beantworten, die mit der Klassifizierung der Straftaten nach § 1 RStGB ursprünglich verbunden waren. Hier lassen sich im wesentlichen zwei Zwecke des Instituts unterscheiden: zum einen die Funktion der Vereinfachung des Gesetzes, der die Klassifizierung ihre Charakterisierung als gesetzestechnisches Hilfsmittel verdankt, und zum anderen eine gesetzesexterne Wertungsfunktion. Beide Funktionen sollen im Folgenden näher erläutert werden. Dabei wird sich zeigen, dass insbesondere die Bedeutung der Klassifizierung als gesetzestechnisches Hilfsmittel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ganz erheblich reduziert wurde, wofür die Kupierung der alten Dreiteilung um eine Klasse im Jahr 1975 nur der äußerlich markanteste Hinweis ist.

A. Die gesetzestechnische Bedeutung der Trichotomie des Strafgesetzbuchs für das deutsche Reich von 1871 I. Vorbemerkung Ihre wichtigste Bedeutung lag schon bei Einführung der Trichotomie mit dem Reichsstrafgesetzbuch im Jahr 1871, wie schon zuvor im preußischen Strafgesetzbuch, bei ihrer Funktion als redaktionelles Hilfsmittel~. Sie ermöglichte es dem Gesetzgeber, einzelne Bestimmungen für die schwereren Delikte anders zu treffen als für die leichteren, ohne die betreffenden Tatbestände jeweils einzeln anführen zu müssen - nämlich durch einmalige Nennung des einschlägigen Sammelbegriffs. Nach diesem Prinzip wurde die Trichotomie von Beginn an häufig im Reichsstrafgesetzbuch und in der Reichsstrafprozessordnung eingesetzt. Innerhalb der ersten rund sechs Jahrzehnte nach seiner gesetzlichen Niederlegung kam es zu einer weiteren Zunahme solcher Instrumentalisierung des Instituts. Resultat dieser Entwick1

Meyer 53f.

A. Die gesetzestechnische Bedeutung der Trichotomie des Strafgesetzbuchs

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lung war eine beinahe unüberschaubare Vielzahl von Nonnen in den genannten Gesetzen, die in irgendeiner Weise an die Einteilung des § 1 RStGB anknüpften. Im Zuge der strafrechtlichen Reformbewegungen nach dem 2. Weltkrieg wurden die weitaus meisten dieser Anknüpfungen jedoch wieder abgebaut; insbesondere die Abschaffung der Übertretungen durch das 2. Strafrechtsreformgesetz von 1975 machte die zahlreichen Bestimmungen, die bis dahin zwischen Verbrechen und Vergehen einerseits und Übertretungen andererseits differenziert hatten, obsolet2• Wenn im Folgenden versucht wird, einen Überblick überall jene Normen aus verschiedenen Gesetzen zu geben, die einmal auf die Klassifizierung der Delikte nach § 1 RStGB bzw. § 12 StGB Bezug nahmen, geht es nicht um eine möglichst exakte inhaltliche Darstellung dieser Nonnen3, sondern darum, die früher sehr große Bedeutung der Trichotomie als redaktionelles Hilfsmittel an der Vielzahl und Vielfalt ihrer Anwendungsfälle zu demonstrieren. Durch Hinweise auf eine etwaige zwischenzeitliche Streichung oder Änderung der betreffenden Regelungen lässt sich dann zugleich die massive Bedeutungseinbuße aufzeigen, die das Institut seit dem Ende des 2. Weltkrieges erfahren hat.

II. Überblick über die wichtigsten auf die Klassifizierung rekurrierenden Normen und deren Entwicklung bis zur Gegenwart 1. Strafverfahrensrecht

Oben wurde erläutert, dass nicht nur das Institut der Dreiteilung als solches, sondern auch das zugrundeliegende gesetzgeberische Motiv aus dem französischen Recht importiert wurde, nämlich die Ennöglichung einer klaren Abgrenzung der gerichtlichen Zuständigkeiten in Strafsachen. Obwohl die Trichotomie im Reichsstrafgesetzbuch und nicht in der Reichsstrafprozessordnung oder im Gerichtsverfassungsgesetz etabliert wurde, lag ihre wichtigste Bedeutung daher ursprünglich auf dem Gebiet des Strafverfahrensrechts. a) Inhaltliche Bezugnahmen bei lnkrafttreten der RStPO

Bereits mit Inkrafttreten der Reichsstrafprozessordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes im Jahr 1879 fanden sich folgende inhaltliche Bezugnahmen auf die Dreiteilung nach§ 1 RStGB: 2 Einen Überblick über die speziell durch die Abschaffung der Übertretungen weggefallenen Vorschriften bietet Stöckl GA 1971, 243 f. 3 Betreffend die ursprüngliche Bedeutung der Trichotomie des Reichsstrafgesetzbuchs liegen mit den Arbeiten Meyers (1891) und Daimers (1915) bereits recht umfassende Untersuchungen vor.

5*

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2. Teil: Funktionen und Bedeutungsverlust der Klassifizierung

aa) Regulierung der Gerichtskompetenzen Die Abgrenzung der prozessualen Zuständigkeiten unter Zuhilfenahme der Trichotomie folgte dem Prinzip: Je schwerer die Straftat, desto höher das zuständige Gerichtin concreto galt': Übertretungen und gewisse leichtere Vergehen gehörten vor die Schöffengerichte, §§ 25-29, insbesondere§ 27 Nr. 1 GVG5• Vergehen gehörten grundsätzlich vor die Strafkammern der Landgerichte, ausgenommen solche, welche durch besondere Bestimmungen den Schöffengerichten zugewiesen waren (genannt in § 27 Nr. 2-8 GVG), §§ 72-75 GVG. Verbrechen gehörten vor die Schwurgerichte, ausgenommen diejenigen, für welche die Strafkammern der Landgerichte zuständig waren (vgl. § 73 Nr. 2-7 GVG) und solche, über die das Reichsgericht in erster und letzter Instanz zu entscheiden hatte (Staatschutzdelikte nach§ 136 Nr.1 GVG), § 80 GVG. Diese Form der Zuordnung kann heute schon deshalb keinen Bestand mehr haben, weil sowohl die echten Schwurgerichte im Sinne der§§ 79ff. GVG a. F. als auch die Übertretungen als Bearbeitungsschwerpunkt der Schöffengerichte weggefallen sind. Die zahlreichen Änderungen, der die einschlägigen Vorschriften im Laufe der Zeit unterlegen sind6 , haben bis heute zu einer recht komplizierten und unübersichtlichen Zuständigkeitsregelung geführt, die hier nicht im einzelnen dargestellt werden kann. Dem Untersuchungszweck genügt die Feststellung, dass die Klassifizierung einer Straftat nach§ 12 StGB für die Zuweisung gerichtlicher Zuständigkeiten heute nur noch in folgenden Bereichen Bedeutung hat: (1) Für die Frage, ob- bei gegebener Zuständigkeit des Amtsgerichts (§ 24 GVG)- dort das Schöffengericht oder der Strafrichter entscheidet. Nach § 25 GVG ist der Strafrichter zur Entscheidung nur bei Vergehen (unter den weiteren Voraussetzungen der Nummern 1 und 2) berufen. Für die Fälle des § 25 Nr. 1 GVG, wo eine Verfolgung im Privatklagewege vorausgesetzt wird, könnte man die selbständige abgrenzungstechnische Funktion des Vergehensbegriffs sogar noch insoweit in Frage stellen, als der Katalog des § 374 Abs. 1 StPO ausnahmslos Vergehen aufzählt, es mithin also gar keine Verbrechen gibt, die im Wegen der Privatklage verfolgt werden können. Insoweit wäre die ausdrückliche Beschränkung der einzelrichterliehen Zuständigkeit auf Vergehen also überflüssig, da sie sich bereits mittelbar aus § 374 StPO ergibt. • Vgl. Daimer 90. 5 In der Fassung vom 27. 1. 1877. 6 Zur geschichtlichen Entwicklung der Abgrenzung der erstinstanzliehen Zuständigkeit in Strafsachen findet sich ein Überblick bei Kissel GVG § 24 Rn. 2.

A. Die gesetzestechnische Bedeutung der Trichotomie des Strafgesetzbuchs

69

(2) Auch für die Frage, wann die (allgemeine) große Strafkammer bzw. die Strafkammer als Schwurgericht zuständig ist, mag man der Einteilung nach § 12 StGB prima vista gesetzestechnische Bedeutung beimessen, weil sowohl § 74 Abs. 1 S. 1 GVG für die allgemeine große Strafkammer als auch§ 74 Abs. 2 GVG für die große Strafkammer als Schwurgericht insoweit eine Beschränkung auf Verbrechen vorsieht. Es wird jedoch noch zu zeigen sein, dass diese Bedeutung hier nur noch dem Wortlaut nach besteht. Tatsächlich ist die Dichotomie an dieser Stelle faktisch weitgehend funktionslos geworden und dient im Übrigen nur noch anachronistischen Zwecken7 • Die geringe Restbedeutung der Deliktskategorie nach § 12 StGB für die Abgrenzung gerichtlicher Zuständigkeiten in Strafsachen verdeutlicht die folgende Übersicht. Zuständigkeit der Spruchkörper in I . und 2. Instanz in Strafsachen im Jahr I999

Verbrechen Einzelrichter am AG

Vergehen

+

Schöffengericht am AG

+

Schwurgericht

+

Staatsschutzkammer

+

+

Große Strafkammer

+

+

Wirtschaftsstrafkammer

+

+

OLG

+

+

BGH

+

+

+

bb) Besonderes Verfahren vor dem Schöffengericht § 211 Abs. 1 RStP08 sah die Möglichkeit der Durchführung der Hauptverhandlung vor dem Schöffengericht ohne schriftlich erhobene Anklage und ohne Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens vor. Dieses vereinfachte Verfahren war generell zulässig jedoch nur bei Übertretungen, bei Vergehen nur, wenn der Beschuldigte sich freiwillig stellte oder infolge einer vorläufigen Festnahme nach § 127 StPO dem Gericht vorgeführt wurde, bei Verbrechen nie9 • Ebenfalls eine Erleichterung im Verfahren vor dem Schöffengericht betraf§ 211 Abs. 2 RStPO: Danach konnte der Amtsrichter im Falle der Vorführung des BeAusführlich dazu im Fünften Teil. In der Fassung vom 1. 2. 1877. 9 Vgl. Daimer 90. 7

8

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2. Teil: Funktionen und Bedeutungsverlust der Klassifizierung

schuldigten mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft ohne Zuziehung von Schöffen zur Hauptverhandlung schreiten, wenn der Beschuldigte die ihm zur Last gelegte Tat eingestand und nur wegen einer Übertretung verfolgt wurde. Diese Vorschrift wurde bereits durch die Emminger-Verordnung vom 4.1.1924 10 abgeschafft.

cc) Beschlagnahme durch die Staatsanwaltschaft Die Beschlagnahme nach § 99 RStPO durfte grundsätzlich nur durch den Richter erfolgen. Durch die Staatsanwaltschaft zulässig war sie aber bei Gefahr im Verzug und wenn die Untersuchung nicht bloß eine Übertretung betraf,§ 100 Abs.1 RStPO. Mit der Abschaffung der Übertretungen durch das 2. StrRG vom 1.1.1975 wurde die Vorschrift gegenstandslos. § 100 Abs. 1 StPO n. F. stellt für die Zulässigkeil der staatsanwaltschaftliehen Beschlagnahme folgerichtig nur noch auf "Gefahr im Verzug" ab. dd) Präsumtion des Haftgrundes "Fluchtgefahr" Im Rahmen der Untersuchungshaft nach§ 112 RStPO bedurfte der Haftgrund der Fluchtgefahr dann keiner weiteren Begründung, wenn ein Verbrechen den Gegenstand der Untersuchung bildete, § 112 Abs. 2 Nr. 1 RStPO. Hier führte also allein die Tatsache, dass der Angeschuldigte eine besonders schwerwiegende Tat begangen hatte, zur (widerleglichen) Präsumtion der Fluchtgefahr11 • Eine inhaltsähnliche Vorschrift stellt jetzt § 112 Abs. 3 StPO dar, der das Vorliegen eines Haftgrundes für entbehrlich erklärt, wenn der Beschuldigte eines der hier einzeln und abschließend aufgezählten Delikte verdächtig ist. Allerdings spielt der Deliktscharakter hier keine Rolle mehr; die Instrumentalisierung der Klassifizierung ist hier durch das Enumerationsprinzip abgelöst worden12 • RGBI. I, 15. Umstr., nach anderer Auffassung handelte es sich nicht um eine Vermutung der Fluchtgefahr, sondern lediglich um einer Erleichterung der schriftlichen Begründung; vgl. SK-StPOPaeffgen § 112 Rn.41 und ders., Vorüberlegungen S. ll2 m. Fn. 451, dort m. N. 12 Die Vorschrift stellt nach gefestigter Ansicht einen Verstoß gegen den Verhä1tnismäßigkeitsgrundsatz dar, vgl. Kleinknecht!Meyer-Goßner § 112 Rn. 37. BVerfGE 19, 350 hat die Bestimmung deshalb dahingehend eingeschränkt, dass nicht die Flucht- oder Verdunkelungsgefahr als solche, sondern nur die Belegbarkeit mit bestimmten Tatsachen entbehrlich sei, vgl Kleinknecht/Meyer·Goßner aaO.; Roxin Strafverfahrensrecht § 30 Rn.12; Schroeder Strafprozeßrecht Rn.140. Verblüffenderweise gelangt das BVerfG damit über die Auslegung des heutigen § 112 StPO zu einem Ergebnis, das dessen ursprünglicher Fassung- kein Erfordernis weiterer Begründung der Fluchtgefahr- wieder sehr nahe kommt. 10 11

A. Die gesetzestechnische Bedeutung der Trichotomie des Strafgesetzbuchs

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ee) Notwendige Verteidigung Gern. § 140 RStPO war die Verteidigung in gewissen Fällen eine notwendige, wenn ein Verbrechen den Gegenstand der Untersuchung bildete, nämlich in allen vor dem Schwurgericht und vor dem Reichsgericht in erster Instanz zu verhandelnden Sachen(§ 140 Abs.1 RStPO), und in den vor dem Landgericht in erster Instanz zu verhandelnden Sachen, wenn der Beschuldigte oder sein gesetzlicher Vertreter die Bestellung eines Verteidigers beantragte(§ 140 Abs. 2 Nr. 2 RStPO). Auch § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO n. F. führt als einen Fall notwendiger Verteidigung an, daß dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird. § 140 StPO stellt damit eine der wenigen Vorschriften dar, in welchen ein abkürzungstechnischer Gebrauch der Klassifizierung konserviert wurde.

ff) Strafbefehlsverfahren

Die Durchführung eines Strafbefehlsverfahrens war nur zulässig bei Übertretungen und bei denjenigen Vergehen, welche nach § 27 Nr. 2 GVG zur Zuständigkeit der Schöffengerichte gehörten, §447 Abs.1 RStP0 13 • Die Vorschrift findet Nachhall im heutigen § 407 Abs. 1 StPO. Danach ist das Strafbefehlsverfahren nur zulässig bei Vergehen, die vor dem Strafrichter am Amtsgericht verhandelt werdenl 4 •

b) Spätere Bezugnahmen Groß ist auch die Zahl der nach Erlass des Reichsstrafgesetzbuches und der Reichsjustizgesetze ergangenen verfahrensgesetzlichen Bezugnahmen auf die Trichotomie des§ 1 RStGB. Auch von diesen haben allerdings die wenigsten bis in die Gegenwart "überlebt", was vor allem auf die Abschaffung der Übertretungen zurückzuführen ist. In diesem Zusammenhang sind zu nennen (in der Reihenfolge ihres Erlasses): aa) § 200 Abs. 2 RStP0 15 , wonach bei Anklagen vor dem Schöffengericht die Anklageschrift nur dann ein wesentliches Ermittlungergebnis enthalten musste, wenn es sich um ein Verbrechen handelte. Löwe/Hel/weg StPO 11. A. § 447 Anm. 1. Eine Zuständigkeit des Schöffengerichts, von der § 407 I StPO spricht, kann es nach Änderung des § 25 GVG durch das RPflEntlG von 1993 (BGBI.l, 50) im Strafbefehlsverfahren nicht mehr geben; Kleinknecht/Meyer-Goßner § 408 Rn. 5. 1 ~ I. d. F. des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte vom 11.3.1921. 13

14

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2. Teil: Funktionen und Bedeutungsverlust der Klassifizierung

bb) § 153 RStP0 16 , der die Verfolgung besonders leichter Übertretungen für grundsätzlich unzulässig (Abs. 1) erklärte. Für die Verfolgung besonders leichter Vergehen wurde der Opportunitätsgrundsatz statuiert (Abs. 2) 17. cc) § 201 RStP0 18, wonach dem Beschuldigten die Anklageschrift mitzuteilen war, wenn ein Verbrechen den Gegenstand der Untersuchung bildete. dd) § 266 II RStP0 19, demgemäß eine Erweiterung der Anklage unzulässig war, wenn die neue Tat sich als ein Verbrechen darstellte. ee) §413 RStP020, der bestimmte, dass sog. Strafverfügungen nur bei Übertretungen zulässig waren21 . ff) §§ 114, 115 d RStP022, die eine unterschiedliche Behandlung eines in Unter-

suchungshaft genommenen Beschuldigten im Haftprüfungsverfahren zuließen je nachdem, ob ein Verbrechen oder Vergehen einerseits oder eine Übertretung andererseits den Gegenstand der Untersuchung bildete. gg) § 313 RStP023 , der die Berufung gegen ein Urteil des Amtsrichters für unzulässig erklärte, wenn wegen Übertretung Freispruch erfolgt oder nur zu Geldstrafe verurteilt worden war. hh) § 62 RStP024, wonach Zeugen in Verfahren, die nur eine Übertretung zum Gegenstand haben, nur unter besonderen Umständen vereidigt werden durften. ii) § 154d StPO, der mit dem heute noch geltenden Inhalt mit dem Vereinheitlichungsgesetz25 von 1950 eingefügt wurde. Danach kann die Staatsanwaltschaft bei Vergehen, die präjudizielle Rechtsfragen aus anderen Gebieten aufwerfen, das Verfahren einstellen.

Vonall diesen Normen haben sich bis in die Gegenwart nur die§§ 153 und 154d StPO erhalten. In der Konsequenz des Wegfalls der Übertretungen lag allerdings eine Umgestaltung der Norm des§ 153 StPO. Abs. 1 ordnet seither die grundsätzliche Geltung des Opportunitätsprinzips für geringfügige Vergehen an. Mit dem EGStGB von 1974 wurde außerdem§ 153a StPO eingeführt, wonach die Verfolgung von Vergehen auch bei zunächst bestehendem Strafverfolgungsinted. F. der VO vom 4.1. 1924 (Emminger-Verordnung) . Löwe/Rosenberg StPO 18. A. § 153 Anm. 1 und 6. 18 I. d. F. der VO vom 4.1. 1924 (Emminger-Verordnung). 19 I. d. F. der VO vom 4.1. 1924 (Emminger-Verordnung). 20 I. d. F. der VO vom 4.1. 1924 (Emminger-Verordnung). 21 Dazu neuerdings wieder Weßlau DRiZ 1999, 229m. Fn. 30. 22 I. d. F. des Gesetzes zur Abänderung der StPO vom 22. 12. 1925, RGBI. I, 425. 21 I. d. F. des Gesetzes zur Abänderung der StPO vom 22. 12. 1925. 24 I. d. F. des Gesetzes zur Einschränkung der Eide im Strafverfahren vom 24.11.1933. 25 BGBI. I, 455, 629. 161. 17

A. Die gesetzestechnische Bedeutung der Trichotomie des Strafgesetzbuchs

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resse eingestellt werden kann, wenn dieses durch Auferlegung von Auflagen und Weisungen gegenüber dem Beschuldigten beseitigt wird (Abs. 1 S. 1). Das RPflEntlG vom 11.1.199326 hat den Anwendungsbereich dieser Vorschrift erweitert, indem anstelle der ursprünglichen Voraussetzung einer geringen Schuld des Taters nurmehr gefordert wird, dass die Schwere der Schuld einer Einstellung nicht entgegensteht27. An die Deliktskategorie knüpft auch Abs.1 S.4 der Vorschrift an, der ein Verfahrenshindernis für den Fall der Erfüllung der Auflagen und Weisungen anordnet. Dabei lässt sich der Formulierung- "kann die Tat nicht mehr als Vergehen verfolgt werden"- im Umkehrschluss entnehmen, dass die Verfolgung der gleichen Tat als Verbrechen nicht ausgeschlossen sein soll28 . Alle übrigen der aufgezählten Bezugnahmen auf die Trichotomie des Reichsstrafgesetzbuchs wurden hingegen durch die Abschaffung der Übertretungen hinfällig.

2. Materielles Strafrecht Wenngleich die Trichotomie in erster Linie aus gerichtsorganisatorischen Gründen aus Frankreich übernommen wurde, war die Zahl der gesetzlichen Rückgriffe auf sie im Bereich des materiellen Strafrechts sogar noch größer als im Strafverfahrensrecht a) Inhaltliche Bezugnahmen bei lnkrafttreten des RStGB Bereits mit lokrafttreten des Reichsstrafgesetzbuchs im Jahr 1871 fanden sich folgende Anknüpfungen an die Trichotomie der Straftaten: aa) Geltung für Auslandstaten, §§ 4 ff. RStGB Im Ausland begangene Übertretungen waren nur dann zu bestrafen, wenn dies durch besondere Gesetze oder Verträge angeordnet wurde, § 6 RStGB. Eine Verfolgung von im Ausland begangenen Verbrechen oder Vergehen war hingegen unter den in §§ 4, 5 RStOB genannten Voraussetzungen zulässig. An eine Verurteilung wegen Verbrechens oder Vergehens im Ausland knüpfte auch § 37 RStOB, betreffend die Zulässigkeil eines neuen Strafverfahrens über die Aberkennung bürgerlicher Ehrenrechte, an. Heute ist die Geltung des deutschen Strafrechts für Auslandstaten ist nicht mehr von der Kategorie der Straftat i. S. des§ 12 StOB abhängig. Die§§ 5 ff. StOB norBGBI. I, 50. Kleinknecht/Meyer-Goßner § 153a Rn. I; kritisch dazu Roxin Strafverfahrensrecht § 14 Rn.l5 a.E. 2ll Achenbach NJW 1979, 2022; KK-Schoreit § !53 a Rn. 42; Kleinknecht/Meyer-Goßner §153aRn.45. 26 21

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2. Teil: Funktionen und Bedeutungsverlust der Klassifizierung

mieren in diesem Zusammenhang unterschiedliche Prinzipien, für die es nicht auf die abstrakte Schwere der Tat, sondern vor allem auf das von ihr betroffene Rechtsgut ankommt. So erstreckt § 5 StGB den Strafrechtsschutz auf alle Inlandsgüter29, während § 6 StGB getragen ist vom Gedanken des Schutzes gemeinsamer, in allen Kulturstaaten anerkannter Rechtsgüter30• Beide Vorschriften führen einen Katalog von Straftaten bzw. Straftatengruppen an, die den Schutz entsprechender Rechtsgüter bezwecken. Die Klassifizierung der Straftaten als Mittel zur Festlegung des Geltungsbereichs deutschen Strafrechts ist damit überwiegend der Enumerationstechnik gewichen. § 7 StGB führt zwar keinen Katalog von Straftaten an, rekurriert aber ebenfalls nicht auf die Deliktsklasse nach § 12 StGB31 • bb) Strafumwandlung, § 29 RStGB Für die Umwandlung einer Geld- in eine Freiheitsstrafe galten gern. § 29 RStGB bei Verbrechen und Vergehen andere Maßstäbe als bei Übertretungen. Die Umwandlung von Geldstrafe in die sog. Ersatzfreiheitsstrafe ist zwar nach wie vor geregelt; ihr zulässiges Höchstmaß hängt jedoch nicht mehr von der Deliktsklasse ab, vgl. § 43 StGB. cc) Einziehung, § 40 RStGB Die sog. Einziehung (Konfiskation) einzelner Gegenstände war grundsätzlich nur bei (vorsätzlichen) Verbrechen und Vergehen zulässig, § 40 RStGB. Dieser Grundsatz wurde jedoch durch zahlreiche Ausnahmen, die auch bei Übertretungen die Einziehung gestatteten, durchbrochen32 • Allgemeine Voraussetzung einer Einziehung von Gegenständen (der instrumenta und producta sceleris) ist nunmehr das Vorliegen einer vorsätzlichen Straftat, § 74 StGB. Die frühere Beschränkung auf vorsätzliche Verbrechen und Vergehen wurde mit dem Wegfall der Übertretungen obsolet.

Schutzprinzip; Tröndle{Fischer § 5 Rn. 1; Sch/Sch-Eser vor § 3 Rn. 7, § 5 Rn. 1. Universal- oder Weltrechtsprinzip; Tröndle!Fischer § 6 Rn. 1; Sch/Sch-Eser vor§ 3 Rn. 8, § 6 Rn. 1. 31 Die Vorschrift kombiniert rechtsgutneutral verschiede Prinzipien: passives Personalprinzip (Abs. 1), aktives Personalprinzip (Abs. 2 Nr. 1), Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege (Abs. 2 Nr. 2), Sch/Sch-Eser § 7 Rn. 1. 32 Meyer 58 nennt: §§ 360 Nm. I, 2, 4, 5, 6, 14; 367 Nm. 7-9; 369 Nr. 2 RStPO. 29

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A. Die gesetzestechnische Bedeutung der Trichotomie des Strafgesetzbuchs

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dd) Strafbarkeit des Versuchs ( 1) Die Regelung des § 43 RStGB

Hier fand sich die bis heute wohl hervorstechendste Differenzierung, die das Gesetz in Anknüpfung an die Einteilung der Straftaten vornimmt: Gern. § 43 RStGB war der Versuch grundsätzlich nur bei Verbrechen strafbar, bei Vergehen nur, wenn es das Gesetz ausdrücklich bestimmte, bei Übertretungen - dies ergab sich erst im Wege der Auslegung der insoweit schweigenden Norm- hingegen nie33 . Inhaltlich hat sich die Vorschrift auch unter der Dichotomie der Straftaten erhalten in der Regelung des § 23 Abs. 1 StGB. (2) Die Bedeutungserosion durch den allgemeinen Ausbau

der Versuchsstrafbarkeit

Besteht damit die ursprüngliche Anknüpfung an die Deliktskategorie bei der Regelung der Versuchsstrafbarkeit bis heute fort, lässt sich gleichwohl auch in diesem speziellen Bereich ein erheblicher Bedeutungsverlust der Klassifizierung erkennen. Die Ursache hierfür liegt in einer zunehmenden Pönalisierung des Versuchs bei Vergehen, wie sie sich zuletzt in der Anordnung der Versuchsstrafbarkeit bei den §§ 223, 225, 235, 239 und 340 StGB durch das 6. StrRG von 1998 niedergeschlagen hat. Aber schon vorher ging der Trend beim Strafgesetzgeber eindeutig in Richtung einer zunehmenden Vorverlegung der Strafbarkeit in nahezu allen Deliktsbereichen34, was eine drastische Zunahme der Vergehen mit Versuchsstrafbarkeit zur Folge hatte: War bei lokrafttreten des Reichsstrafgesetzbuchs im Jahr 1871 bei gerade einmal19 von insgesamt 144 Vergehen die Strafbarkeit des Versuchs angeordnet35, so ist dies heute schon bei 125 von rund 300 Vergehen der Fall36. Das heißt: Während bei lokrafttreten des § 43 RStGB die Versuchsstrafbarkeit nur bei etwa jedem siebten Vergehen vorgesehen war, ist heute der Versuch schon bei nahezu jedem zweiten Vergehen strafbar gestellt37. Die dem § 23 Abs. 1 StGB immanente Aussage der grundsätzlichen Straflosigkeit des Versuchs bei Vergehen ist also von der gesetzlichen Entwicklung weitgehend widerlegt worden.

Vgl. Meyer 55f. Eine Ausnahme bildet der Abschnitt der Straftaten gegen die öffentliche Ordnung, §§ 123-145 StGB, der fast nur Vergehen enthält, von denen wiederum nur der Tatbestand der Bildung einer kriminellen Vereinigung, § 129 StGB, als Versuch strafbar ist. 3~ Im einzelnen handelte es sich um die Tatbestände der§§ 107, 120, 141, 148, 150, 160, 169, 240, 242, 246, 253, 263, 289, 303, 304, 305, 339, 350 und 352 RStGB. 36 Vgl. die Übersicht im Anhang. 37 Vgl. Schroeder NJW 1999, 3613. 33

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2. Teil: Funktionen und Bedeutungsverlust der Klassifizierung

Für die Bedeutung der Klassifizierung des§ 12 StGB ergibt sich daraus ein eindeutiger Befund: Weil der Versuch auch bei Vergehen immer häufiger unter Strafe gestellt wird, kommt es für die Frage der Versuchsstrafbarkeit immer seltener auf die Natur des betreffenden Delikts an. Da es mittlerweile sogar mehr Straftatbestände mit Strafbarkeit des Versuchs gibt, als Tatbestände ohne Versuchsstrafbarkeit- nämlich 125 Vergehen und noch einmal rund 100 Verbrechen gegenüber rund 175 Vergehen ohne Versuchsstrafbarkeit- wäre es sogar naheliegender, die gegenwärtige Regelung umzukehren, den Versuch also grundsätzlich strafbar zu stellen und die Straflosigkeit nur für den Fall einer ausdrücklichen Anordnung vorzusehen38. ee) Beihilfe, § 49 RStGB Die Beihilfe zu Übertretungen war, anders als die zu Verbrechen und Vergehen, straflos, § 49 RStGB. Auch diese Regelung konnte nach dem Wegfall der Übertretungen keinen Bestand haben. ff) Verweis, § 57 Nr. 4 RStGB

Die besondere Strafart des Verweises war nur bei Jugendlichen und nur in besonders leichten Fällen eines Vergehens oder einer Übertretung, nicht bei Verbrechen zulässig, §57 Nr. 4 RStGB. Auch diese Regelung ist mittlerweile weggefallen. Die vergleichbaren Regelungen des JGG stellen nicht mehr auf die Kategorie einer Straftat i. S. des § 12 StGB ab39. gg) Verjährung, § 67 RStGB Die Fristen, innerhalb deren die Strafverfolgung verjährte, waren unterschiedlich je nach Deliktskategorie, § 67 RStGB. Der abkürzungstechnische Wert der Trichotomie wurde hier allerdings insofern stark gemindert, als das Gesetz für die Verbrechen nochmals drei und für die Vergehen zwei unterschiedliche Fristen sta38 V gl. dazu näher die Vorschläge zu einer Neugestaltung der Versuchsregelung S. 266 f. Die immer noch recht hohe Zahl der Vergehen ohne Versuchsstrafbarkeit wird noch relativiert durch die Zahl der Vergehen, bei denen eine Versuchsstrafbarkeit von vornherein nicht in Betracht kommt, weil es sich entweder um Fahrlässigkeitsdelikte handelt (27) oder um solche Delikte, die schon tatbestandlieh Handlungen im Vorfeld einer Rechtsgutsgefahrdung bzw. -verletzung pönalisieren, also z. B. Unternehmensdelikte und sonstige "versuchsähnliche" Handlungen (z. B. § 180b StGB). 39 Vgl. z. B. § 13 I JGG, wonach der Richter eine Straftat mit Zuchtmitteln ahndet, wenn Jugendstrafe ,,nicht geboten" ist.

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tuierte und hierbei direkt an das für die jeweilige Tat vorgesehene Strafmaß anknüpfte40. Durch solch direkte Anknüpfung wird die Trichotomie als Abkürzungshilfe entbehrlich; der Gesetzgeber hätte eine solche Regelung ebensogut unter Verzicht auf die verwendeten Artbegriffe treffen können, wie er es für die Vollstreckungsverjährung ja auch getan hatte41 . Inzwischen ist die Regelung dem § 78 StGB gewichen, der nur noch auf die Höhe der Strafdrohung abstellt (Absatz 3), auf die Terminologie des§ 12 StGB also nicht mehr instrumentalisierend Bezug nimmt42 • Dies gilt auch für Absatz 2 der Vorschrift, der zwar von den "Verbrechen" des Mordes und des Völkermordes spricht, diesen Terminus jedoch völlig unfunktional als Oberbegriff für die angeführten Delikte verwendet; der Gesetzgeber hätte hier ebensogut auf den Begriff der "Straftaten" zurückgreifen können. hh) Gesamtstrafe, § 74 RStGB Die Verhängung einer Gesamtstrafe bei Realkonkurrenz war nur bei Verbrechen und Vergehen zulässig, nicht auch bei Übertretungen, § 74 RStGB 43 . Heute wird Zulässigkeit der Bildung einer Gesamtstrafe bei Realkonkurrenz nach den§§ 54f. StGB nicht mehr ausdrücklich auf Verurteilungen wegen Verbrechen und Vergehen beschränkt. Auch dies liegt in der Konsequenz des Wegfalls der Übertretungen. ii) Landzwang, § 126 RStGB Der sog. Landzwang war nach § 126 RStGB nur strafbar, wenn die Androhung sich auf ein gerneingefährliches Verbrechen bezog. Demgegenüber nennt§ 126 Abs.1 Nr. 1-7 StGB44 abschließend die Gewalttaten, auf die sich die Androhung bzw. das Antäuschen (Abs. 2) beziehen muss45 . Auch hier ist also die Anknüpfung an die Klassifizierung der Straftaten der Enumerationstechnik gewichen. Allerdings fällt auf, dass Abs. 1 Nm. 6 bzw. 7 der Vorschrift nach wie vor zwischen gerneingefährlichen Verbrechen und gerneingefährlichen Vergehen differenzieren. Doch werden auch hier die betreffenden Delikte jeweils abschließend aufge4ü Meyer 56 stellt mit Recht fest, dass man hier eher von eine sechs- als von einer dreigliedrigen Einteilung sprechen müsse. 41 § 70 RStGB. Unrichtig deshalb Daimer 86, der eine Anknüpfung an die Deliktsklassen des§ 1 RStGB auch für die Regelung der Vollstreckungsverjährung behauptet. 42 Die Änderung beruht auf dem 2. StrRG von 1975. 43 Meyer 58. 44 In der durch das 14. StÄG vom 22. 4. 1976 (BGBI. I, 1056) eingeführten Fassung. 45 Tröndle/Fischer § 126 Rn. 5; Sch!Sch-Lenckner § 126 Rn. 4.

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2. Teil: Funktionen und Bedeutungsverlust der Klassifizierung

führt, sodass der Rückgriff auf die Klassenbegriffe nicht zur Ausfüllung des Norminhalts beiträgt. Die Unterscheidung sollte es lediglich ermöglichen, durch eingeschränkte Bezugnahme in anderen Vorschriften die Vergehen der Nr. 7 außer Betracht zu lassen46 • Selbst diese Funktion darf jedoch mittlerweile in Frage gestellt werden, da in entsprechenden Fällen auf den gesamten Katalog des Abs. 1 verwiesen wird, also inklusive der Vergehen der Nr. 747 • Eine eingeschränkte Verweisung unter Ausklammerung der in § 126 I Nr. 7 StGB genannten Vergehen enthielt nur § 130 a StGB a. F., doch wurde diese Beschränkung in der Neufassung des Gesetzes vom 19. 12. 1986 gerade aufgehoben48 • jj) Vorbereitung von Münzverbrechen, § 151 RStGB § 151 RStGB pönalisierte bestimmte Vorbereitungshandlungen nur unter der Voraussetzung, dass sie zum Zweck eines Münzverbrechens vorgenommen wurden. Eine inhaltlich dem§ 151 RStGB vergleichbare Regelung enthältjetzt § 149 StGB. Dieser stellt jedoch die Vorbereitung einer Geld- oder Wertzeichenfalschung unabhängig vom Charakter des jeweiligen Delikts strafbar; beschränkt die Strafbarkeit im Gegensatz zu § 151 RStGB also nicht auf die Vorbereitung eines Münzverbrechens. kk) Milderungsgrund beim Meineid,§ 157 Abs.1 RStGB

§ 157 Abs. 1 RStGB sah einen Milderungsgrund beim Meineid nur für den Fall vor, daß für den Aussagenden die Gefahr einer Verfolgung wegen eines Verbrechens oder Vergehens vorlag. Die Vorschrift wurde u. a. dahingehend geändert, dass der besondere Strafmilderungsgrund (bzw. die Möglichkeit des Absehens von Strafe bei§ 153) des Aussagenotstandes eingreifen kann, wenn für den Täter oder einen nahen Angehörigen allgemein die Gefahr besteht, bestraft oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung oder Sicherung unterworfen zu werden, § 157 StGB n. F. Die frühere Beschränkung auf die Gefahr einer Verfolgung wegen Verbrechens oder Vergehens wurde mit dem Wegfall der Übertretungen entbehrlich. II) Nötigung, § 240 RStGB

Die Nötigung, § 240 RStGB, setzte in der Drohungsaltemative die Bedrohung mit einem Verbrechen oder Vergehen voraus. 46 47 48

Sturm JZ 1976, 350. Vgl. §§ 130a II Nr. 1 und 2, 140 StGB. Sch/Sch-Lenckner § 130a Rn. 1.

A. Die gesetzestechnische Bedeutung der Trichotomie des Strafgesetzbuchs

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Seit dem Wegfall der Übertretungen verlangt der Tatbestand der Nötigung in der Drohungsaltemative die Drohung mit einem empfindlichen Übel. mm) Bedrohung, § 241 RStGB Zum Tatbestand des§ 241 RStGB gehörte die Bedrohung mit einem Verbrechen. Die Bedrohung nach § 241 StGB n. F. setzt wie die Usprungsfassung die Bedrohu;tg mit einem Verbrechen voraus; erweitert wurde die Vorschrift lediglich im Hinblick auf die Tatbestandsmäßigkeit der Bedrohung naher Angehöriger und des Vorläuschens desBevorstehenseines Verbrechens (Abs. 2)49 • nn) Begünstigung, § 257 RStGB Die Begünstigung, § 257 RStGB, war nur als Anschlusstat zu einem Verbrechen oder Vergehen strafbar. Auch diese Beschränkung wurde mit dem Wegfall der Übertretungen obsolet. Die Vorschrift des § 257 StGB n. F. spricht jetzt allgemein von der Begünstigung einer rechtswidrigen Tat. b) Spätere Bezugnahmen Auch die nach lokrafttreten des Reichsstrafgesetzbuchs ergangenen gesetzlichen Rückgriffe auf die Trichotomie im Bereich des materiellen Strafrechts sind zahlreich. Inhaltlichen Bestand bis in die Gegenwart hatten aber auch von diesen nur die wenigsten. Zu nennen sind, in der Reihenfolge ihres Erlasses: aa) § 49 a RStGB, der die versuchte Anstiftung, das Sich-Bereiterklären und die Verabredung zur Begehung einer Straftat nur dann strafbar stellte, wenn es sich dabei um ein Verbrechen handelte50• Die Vorschrift weist strukturelle Ähnlichkeit auf mit dem jetzigen § 30 StGB, der an ihre Stelle getreten ist. Danach sind die versuchte Anstiftung (Abs. 1) und die sonstige kommunikative Vorbereitung einer Straftat (Abs. 2) nur strafbar, wenn sie sich auf ein Verbrechen beziehen. bb) Beruhte eine Tat auf Gewinnsucht, so war eine Erhöhung der Geldstrafe bzw. die Verhängung von Geld- neben Freiheitsstrafe möglich, wenn es sich um ein VerDurchdas 14.StÄG. Die Vorschrift wurde durch die Novelle vom 26. 2. 1876 (RGB1.25) nach dem Vorbild des durch den Fall Duchesne veranlassten belgiseben Gesetzes vom 7.6. 1875 eingefügt. Ursprünglich sah das RStGB nur in einzelnen FeHlen die Bestrafung der bloßen Aufforderung zu strafbaren Handlungen vor, Oppenhoff § 49 a Anm. 1. Zur Entstehungsgeschichte näher Roxin JA 1979, 169f. 49

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2. Teil: Funktionen und Bedeutungsverlust der Klassifizierung

brechen oder Vergehen handelte, § 27 a RStGB 51 • Ebenso kam eine Umwandlung von Freiheitsstrafe in Geldstrafe nur bei Vergehen oder Übertretungen in Betracht, § 27b RStGBs2. Heute stellt § 41 StGB für die Zulässigkeil der sog. kumulativen Geldstrafe53 insoweit nur noch auf die Bereicherungsabsicht und auf die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters ab. Eine dem § 27 b RStGB vergleichbare Norm existiert nicht mehr. cc) § 94 RStGB 54 drohte beim Vorliegen einer bestimmten (staatsgefährdenden) Absicht des Täters für bestimmte Vergehen Verbrechensstrafe bzw. für bestimmte Verbrechen eine Straferhöhung an. Eine solche Vorschrift existiert heute nicht mehr55 • dd) § 20a RStGB 56 enthielt eine Strafschärfung für gefahrliehe Gewohnheitsverbrecher. Für die Höhe der Strafschärfung war maßgeblich, ob die neue Tat des Vorverurteilten Verbrechen oder Vergehen war. Zudem mussten die früheren Verurteilungen wegen eines Verbrechens oder eines vorsätzlichen Vergehens ergangen sein. Auch diese Regelung wurde ersatzlos gestrichen. Ein Vergleich mit dem heutigen § 66 StGB, der für die Zu Iässigkeit der Unterbringung gefährlicher Hangtäter in der Sicherungsverwahrung neuerdings wieder auf die Deliktskategorie nach§ 12 StGB Bezug nimmt57 , scheint nicht angebracht, da des hier nicht um eine Strafschärfung, sondern um die Verhängung einer Maßregel geht. ee) Gern. § § 42 c und 421 RStGB waren die Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt und das Berufsverbot nur bei Verurteilung wegen Verbrechen oder Vergehen zulässig58• Mit dem Wegfall der Übertretungen wurde diese Einschränkung überflüssig. Folgerichtig stellen die§§ 64 (Unterbringung in einer Entziehungsanstalt) und 70 StGB (Anordnung des Berufsverbots) allgemein auf die Verurteilung wegen einer rechtswidrigen Tat ab. ff) Gern. § 25 Abs. 2 Ziff. 2 StGB59 war die Strafaussetzung zu widerrufen, wenn der Verurteilte innerhalb der Bewährungsfrist ein Verbrechen oder ein vorsätzliches Vergehen beging. 51 Die Vorschrift wurde durch das Geldstrafengesetz vom 27.4.1923 eingefügt; vgl. 0/shausen § 27 a Anm. 2. 52 Die Vorschrift wurde durch das Geldstrafengesetz vom 27.4.1923 eingefügt; vgl. Olshausen § 27b Anm.l.

Tröndle!Fischer § 41 Rn. 4. 1. d. F. der VO vom 19.12. 1932, RGBI.I, 548. ss Geändert durch Gesetz vom 19.12.1952, BGBI.I, 832. S6 Eingefügt durch Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24.11.1933, RGBI.I, 995. s1 Dazu ausführlicher im 3. Teil. 58 Vorschriften eingefügt durch Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24.11.1933. s9 I. d. F. des 3. StrÄG vom 4.8.1953, BGBI. I, 735. sJ

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Nach §56 f Abs. I S. I Nr. I des heutigen StGB ist die Strafaussetzung zur Bewährung zu widerrufen, wenn der Verurteilte in der Bewährungszeit eine Straftat begeht und dadurch zeigt, dass die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat. Es kommt also nur darauf an, ob die Tat eine negative Prognose für das künftige straffreie Verhalten des Verurteilten nahelegt, nicht aber, wie noch in§ 25 Abs. 2 Ziff. 2 a. F. auf deren Charakter als Verbrechen, Vergehen oder Übertretung60 • gg) Gern. § 75 Abs. 4 61 war das Höchstmaß der Ersatzfreiheitsstrafe für eine Gesamtgeldstrafe bei Übertretungen ein anderes als bei den sonstigen Straftaten. Auch diese Vorschrift existiert nicht mehr.

3. Nebenstrafrecht und sonstige Rechtsgebiete Schließlich ist noch auf einige Vorschriften des Nebenstrafrechts und anderer Rechtsgebiete hinzuweisen, in welchen die Trichotomie des Reichsstrafgesetzbuchs aufgegriffen wurde. Ihre Zahl ist eher gering. Als wichtigste Vorschriften sind zu nennen: a) Nach § 47 des Militärstrafgesetzbuchs von I872 konnte einen Untergebenen eine Schuld für eine auf Befehl begangene strafbare Handlung nur dann treffen, wenn diesem bekannt gewesen war, dass der Befehl eine Handlung betraf, welche ein bürgerliches oder militärisches Verbrechen oder Vergehen bezweckte. Dem entsprach die Regelung in § 5 WStG, wonach in der gleichen Situation die Schuld den Untergebenen treffen sollte, wenn es sich um ein Verbrechen oder ein Vergehen handelte. Nach §5 WStG n.F. kann die Schuld füreine auf Befehl begangene Handlung den Untergebenen jetzt unabhängig von der Qualifikation der dadurch verwirklichten Tat treffen. Die Norm verlangt nunmehr allgemein die Begehung einer rechtswidrigen Tat, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht. Bedeutung besitzt der Deliktscharakter hingegen für Abs. 2 der Vorschrift: Ein Absehen von Strafe bei geringer Schuld des Untergebenen kommt danach nur in Betracht, wenn die begangene Tat ein Vergehen ist. b) Vor Beseitigung der Übertretungen stellten die §§ 33, 34 WStG das Verleiten oder versuchte Verleiten eines Untergebenen zu einer Straftat nur dann strafbar, wenn diese als Verbrechen oder Vergehen mit Strafe bedroht war. Demgegenüber verlangen die §§ 33, 34 WStG n. F. nur mehr die Verwirklichung bzw. die in Aussicht genommene Verwirklichung einer rechtswidrigen Tat, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht. 60

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V gl. Tröndle/Fischer §56 f Rn. 3 c; Sch/Sch-Stree §56 f Rn. 4. I. d. F. des 1. StrRG vom 25.6.1969, BGBI.I, 645.

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2. Teil: Funktionen und Bedeutungsverlust der Klassifizierung

c) Nach § 40 WStG war die Begünstigung eines untergebenen Soldaten nicht strafbar, wenn dieser nur eine Übertretung begangen hatte. Tatbestandsmerkmal dieser Vorschrift ist seit dem Wegfall der Übertretungen der Verdacht der Begehung einer rechtswidrigen Tat, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht. d) Nach§ 2 Abs. 3 der Strafregisterverordnung waren Verurteilungen zu Geldstrafen wegen Übertretungen grundsätzlich nicht in das Strafregister einzutragen. Das aktuelle Äquivalent dieser Vorschrift ist§ 4 BZRG. Nach Nr. 1 dieser Norm ist in das Strafregister einzutragen jede Verurteilung wegen einer rechtswidrigen Tat, unabhängig also von deren Charakter i. S. des§ 12 StGB. e) Gern.§ 1680 BGB verwirkte der Vater die elterliche Gewalt, wenn er wegen eines an dem Kind verübten Verbrechens oder vorsätzlichen Vergehens zu mindestens sechs Monaten Gefängnisstrafe verurteilt worden war. Diese Differenzierung wurde durch die Abschaffung der Übertretungen noch nicht obsolet, da der Gesetzgeber ja den Kreis der zu einer Verwirkung des Sorgerechts führenden Vergehen auf vorsätzliche, schwere Fälle beschränken wollte. Doch wurde die Verwirkungsnorm durch das Sorgerechtsgesetz von 1980 insgesamt aufgehoben62 • f) Nach den§§ 2333 Nr. 3, 2334 BGB kann der Pflichtteil entzogen werden, wenn der Berechtigte (Abkömmling, Elternteil, Ehegatte) sich eines Verbrechens oder eines schweren vorsätzlichen Vergehens gegen den Erblasser schuldig gemacht hat.

Diese Vorschriften blieben auch nach dem Wegfall der Übertretungen unverändert bestehen63 . Die Differenzierung der Straftaten hat sich der Gesetzgeber hier sogar noch weiter zunutze gemacht, indem er die gleiche Fallgruppe in die Neufassung des § 2335 BGB64 einfügte. Danach darf nun der Erblasser auch dem Ehegatten den Pflichtteil entziehen, wenn sich dieser eines Verbrechens oder eines schweren vorsätzlichen Vergehens gegen den Erblasser schuldig macht. g) Aus jüngerer Zeit stammt§ 85 Abs. 3 S. 2 OWiG65. Danach ist die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Bußgeldverfahrens zuungunsten des Betroffenen zulässig, wenn Tatsachen oder Beweismittel beigebracht sind, die allein Zu den Gründen siehe BT-Drucksache 8/2788 S. 64; MünchKomm-Hinz § 1680 Rn. 2. Als unrichtig hat sich deshalb die Prognose Stöckls GA 1971, 243 erwiesen, diese Vorschriften würden durch die Beseitigung der Übertretungen "für die Frage aus § 1 (bzw. § 12, Anm. d. Verf.) StGB gegenstandslos werden". Bei dieser Einschätzung wurde offenbar übersehen, dass die gesetzliche Beschränkung auf Verbrechen und Vergehen hier nicht nur eine Ausklammerung der Übertretungen bezweckte, sondern auch der Differenzierung von Verbrechen und Vergehen untereinander diente insoweit, als zwar alle Verbrechen, aber nur vorsätzlich verübte, schwere Vergehen eine Pflichtteilsentziehung legitimieren sollten. 64 Neugefasst durch das I. EheRG v.14. 6. 1976. 6S OWiG vom 24.5.1968. 62 63

A. Die gesetzestechnische Bedeutung der Trichotomie des Strafgesetzbuchs

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oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen geeignet sind, die Verurteilung des Betroffenen wegen eines Verbrechens zu begründen. Soll dagegen allgemeiner die Verurteilung wegen einer Straftat herbeigeführt werden, so müssen zudem die Voraussetzungen des § 362 StPO vorliegen, § 85 Abs. 3 S. I OWiG66. Die Vorschrift ist bis heute in Kraft. h) § 5 Nr. 4 VersG67 lässt das Verbot einer Versammlung in geschlossenen Räumen zu, wenn Tatsachen festgestellt sind, aus denen sich ergibt, dass der Veranstalter oder sein Anhang Ansichten vertreten oder Äußerungen dulden werden, die ein Verbrechen oder ein von Amts wegen zu verfolgendes Vergehen zum Gegenstand haben. Entsprechend erlaubt § 13 Abs. 1 Nr. 4 VersG die Auflösung einer Versammlung, wenn durch den Verlauf der Versammlung gegen Strafgesetze verstoßen wird, die Verbrechen oder von Amts wegen zu verfolgende Vergehen darstellen, oder wenn in der Versammlung zu solchen Straftaten aufgefordert oder angereizt wird. Auch diese Vorschriften gelten bis heute.

4. Gesetzliche Bezugnahmen auf die Klassifizierung nach 1975 Ergibt sich damit für die Zeit nach 1945 ein deutlicher gesetzgeberischer Trend zum Abbau klassifizierungsrelevanter Bestimmungen, so darf nicht verkannt werden, dass auch nach ihrer Reduzierung auf eine Dichotomie zum 1.1.1975 die Einteilung der Straftaten als gesetzestechnisches Hilfsmittel nicht gänzlich verschmäht wird. Wenn auch nicht mehr mit der beinahe euphorisch anmutenden Häufigkeit des Reichsstrafgesetzgebers, so erlässt doch auch die heutige Legislative gelegentlich noch eine Norm, welche die Einteilung des§ 12 StGB aufgreift. Als solcheneueren Bezugnahmen auf die Klassifizierung sind zu nennen (in zeitlicher Reihenfolge): a) § 153 a StPO, eingefügt durch das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch vom 2.3.197468 • b)§ 45 Abs. 1 StOB in der seit dem 1.1 .1975 geltenden, durch das 2. StrRG eingeführten Fassung, der bei einer Verurteilung wegen eines Verbrechens zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr den automatischen Verlust der Amtsfähigkeit und der Wählbarkeit anordnet. c) Der im Jahr 198769 neugefasste § 373a StPO, der die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftigen Strafbefehl abgeschlossenen Verfahrens über die Fälle des § 362 StPO hinaus zulässt, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht sind, die allein oder in Verbindung mit früheren Beweisen geeignet sind, die VerurVgl. KK-OWiG-Steindorf§ 85 Rn. 26ff.; Göhler § 85 Rn. 19. Versammlungsgesetz vom 24.7.1953. 68 Zum Inhalt siehe oben S. 72f. 69 Durch Art. I Nr. 27 StVÄG 1987. BGBI. I, 475. 66

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2. Teil: Funktionen und Bedeutungsverlust der Klassifizierung

teilung wegen eines Verbrechens zu begründen. Die Vorschrift ist erkennbar dem § 85 Abs. 3 OWiG nachgebildet7o. d) § 110a Abs. 1 S. 2, S. 4 StPO, eingefügt durch das Gesetz zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität (OrgKG) vom 15.7.199271 • Danach ist der Einsatz verdeckter Ermittler zur Aufklärung von Verbrechen unter bestimmten weiteren Voraussetzungen auch dann zulässig, wenn keine Straftat von erheblicher Bedeutung nach Abs. 1 S. 1 vorliegt. e) Der ebenfalls durch das OrgKG eingefügte Tatbestand der Geldwäsche, § 261 StGB, der für den Kreis der Delikte, die tatbestandlieh Vortaten einer Geldwäsche sein können, zwischen Verbrechen und Vergehen unterscheidet. f) Die durch das Gesetz zur Bekämpfung der Sexualdelikte und anderer gefahrlieber Erscheinungsformen der Kriminalität vom 26.1.199872 eingefügte Vorschrift des § 66 Abs. 3 StGB, wonach die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung bei Verbrechen unter erleichterten Voraussetzungen möglich ist.

g) Die Vorschrift des § 68 b StPO, die erst durch das Zeugenschutzgesetz vom 30.4.199873 eingefügt wurde. Danach wird die Beiordnung eines sog. Zeugenanwalts unter bestimmten Umständen zur obligatorischen, wenn die Vernehmung ein Verbrechen zum Gegenstand hat, S. 2 Nr. 1, während für Vergehen insoweit weitere Voraussetzungen hinzutreten, S. 2 Nr. 2 und 3. h) Der mit dem gleichen Gesetz eingefügte § 397 a Abs. 1 StPO, der für das Recht des Nebenklägers auf Stellung anwaltliehen Beistands auf Staatskosten nach der Deliktsnatur unterscheidet. i) Die bislang jüngste Bezugnahme auf die Dichotomie findet sich in § 81 g StP074, betreffend die Zulässigkeil der Entnahme und molekulargenetischen Untersuchung von Körperzellen des Beschuldigten zum Zweck der Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren. Voraussetzung der Zulässigkeit ist das Vorliegen einer Straftat von erheblicher Bedeutung, deren Vorliegen durch sämtliche Verbrechen, aber nur durch einzelne Vergehen indiziert sein soll.

111. Auswertung: Der Bedeutungsverlust der Klassifizierung in Zahlen Die vorstehende dargestellte Fülle der "klassifizierungsrelevanten" Bestimmungen lässt sich nun im Hinblick auf die heutige wie auf die frühere Bedeutung der De-

°KK-Schmidt § 373 a Rn. 3; Kleinknecht!Meyer-Goßner § 373 a Rn. 3.

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BGBI. I, 1302. n BGBI. I, 160. 73 BGBI. I, 820. 74 Eingefügt durch das DNA-Identitätsfeststellungsgesetz vom 7.9.1998, BGBI.I, 2646. 71

A. Die gesetzestechnische Bedeutung der Trichotomie des Strafgesetzbuchs

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liktseinteilung als gesetzestechnisches Hilfsmittel auswerten. Zu diesem Zweck bietet sich eine schlichte Zählung an: Wie viele Normen bzw. Regelungskomplexe machten früher, auf der Grundlage der Trichotomie, die Klasse der Straftat zum Kriterium einer Differenzierung, und bei wie vielen Normen ist dies heute noch, unter Geltung des § 12 StGB, der Fall? Das Resultat spricht eine deutliche Sprache. Bis zur Abschaffung der Übertretungen im Jahr 1975 gab es insgesamt 47 Regelungen, die in irgendeiner Form auf die Trichotomie des§ 1 RStGB Bezug nahmen75 • Nach Abschaffung der Übertretungen verblieben gerade noch 11 solcher Regelungen. Zwar hat sich durch einige gesetzliche Neuanknüpfungen an die Dichotomie nach 1975 deren Zahl bis heute wieder auf 19 erhöht. Doch darf man nichtsdestotrotz sagen, dass die Bedeutung der Dichotomie, gemessen an der gesetzlichen Präsenz der Begriffe Verbrechen und Vergehen, deutlich geringer ist, als es die der früheren Trichotomie war. Der wichtigste Grund dieser Diskrepanz liegt darin, dass das funktionale Schwergewicht der Dreiteilung bei der Abgrenzung der Übertretungen von den sonstigen Straftaten lag- immerhin 24 der insgesamt 47 betreffenden Regelungen zielten direkt oder indirekt auf eine solche Sonderbehandlung der Übertretungen ab76 • Mit der kategorischen Ausgliederung der Übertretungen aus dem Kriminalstrafrecht wurde der Klassifizierung deshalb zugleich das Gros ihrer Differenzierungsaufgaben entzogen. Wie die 8 neuen gesetzlichen Anknüpfungen seit 1975 zeigen, ist aber immerhin ein gewisses Bemühen des Gesetzgebers feststellbar, die jetzige Dichotomie der Straftaten wieder verstärkt als Regelungsinstrument fruchtbar zu machen.

IV. Die Zwecke einer Bezugnahme auf die Deliktskategorie im früheren Recht Die Vielzahl der Vorschriften, die einmal auf die Klassifizierung der Straftaten nach§ 1 RStGB bzw. nach§ 12 StGB Bezug genommen haben oder noch nehmen, erweckt beim Betrachter das Bedürfnis, hinter dieser vielfachen Instrumentalisierung übergeordnete Prinzipien oder irgendeine Systematik des Gesetzgebers zu erkennen. Allerdings wäre es wenig sinnvoll, jede einzelne der vorstehend angeführten Normen nach dem tieferen Sinn der in ihr vorgenommenen Unterscheidung zu hinterfragen- dies einfach deshalb, weil die weitaus meisten dieser Normen heute nicht mehr existieren. Für die noch bestehenden Anknüpfungen erfolgt die Analyse 75 Als eine .,Regelung" i. d.S. zählen dabei beispielsweise auch die §§ 25 ff. GVG a. F., obwohl hier jeweils mehrere Normen die betreffenden Bezugnahmen aufweisen. Berücksichtigt sind in der Zählung auch die wenigen Anknüpfungen an die Einteilung, die bereits vor 1975 wieder abgeschafft wurden (z. B. § 94 StGB a. F.). 76 Bei diesen auf gesonderte Behandlung allein der Übertretungen ausgerichteten Normen handelte es sich um die §§62, 99, 114 i. V.m. 115 d, 211 II, 313,413 StPO; die §§4-6, 27 a, 29, 40, 42c, 421, 49, 74, 75 IV, 94, 157, 240, 257 StGB; die §§ 5, 33, 34, 40 WStG und § 2 II1 StrafRegVO.

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der Systematik und der materiellen Hintergründe des Rückgriffs dagegen im Dritten Teil. Aus diesem Grund soll es an dieser Stelle mit einer knappen Skizzierung der Motive und Regelungsziele, die den Gesetzgeber des Reichsstrafgesetzbuchs und der Reichsstrafprozessordnung zu den dargestellten Unterscheidungen nach der Deliktsart bewogen haben, sein Bewenden haben.

1. Gründe für die Verwendung der Klassifizierung im Verfahrensrecht Hinter den dargestellten Regelungen des Strafprozessrechts, die sich die Klassifizierung nach § 1 RStGB als gesetzestechnisches Hilfsmittel zunutze machten, lassen sich zwei Hauptmotive des Gesetzgebers erkennen. In den weitaus meisten Anwendungsfällen des Instituts wird die Zulässigkeil gewisser Erleichterungen und Durchbrechungen des Regelstrafverfahrens an den Charakter der verfolgten Tat gebunden. Dabei gilt als Prinzip: Je gravierender das dem strafrechtlich Verfolgten zur Last gelegte Delikt, desto strenger ist der Gesetzgeber auf die Einhaltung des im Grundsatz vorgesehenen Verfahrens bedacht. Erleichterungen und Durchbrechungen dieses Verfahrens zu Gunsten des Verfolgten scheiden bei Verbrechen in aller Regel aus, während sie für Vergehen gelegentlich und für Übertretungen am häufigsten vorgesehen sind. So sind das erleichterte Verfahren vor dem Schöffengericht(§ 211 RStPO), das Strafbefehls- und das Strafverfügungsverfahren (§§ 447 ff./413 RStPO), oder das Absehen von jeglicher Strafverfolgung (153 RStPO) nur bei Übertretungen bzw. bei Vergehen zulässig. Gleiches gilt für die Erleichterungen im Zusammenhang mit der Fassung der Anklageschrift (§§ 200, 201 RStPO). Diese Durchbrechungen des Regelstrafverfahrens bei leichteren Delikten dienen wiederum zwei Zielen: Dem Schutz des Verfolgten vor Eingriffen der Strafverfolgungsbehörden, die angesichts der geringen Schwere der Tat im verfassungsrechtlichen Sinne unverhältnismäßig sein könnten, aber auch der Arbeitsentlastung der Gerichte und der Ermittlungsbehörden selbst77 • Das zweite Hauptmotiv der Klassifizierungsanbindungen ist dem ersten inhaltlich genau entgegengesetzt: Hier geht es darum, bei schweren Delikten eine möglichst gründliche und effektive Strafverfolgung zu gewährleisten. Ausprägungen dieses Gedankens sind die§§ 99, 100 und 112 RStPO. Weil bei schweren Delikten das Bedürfnis nach effektiver Strafermittlung und Bestrafung schon aus Gründen der Integrationsprävention größer sein dürfte als im Bereich der Bagatellkriminalität, darf bei Verbrechens- bzw. bei Vergehensverdacht eine- in der Regel rascher durchführbare- Beschlagnahme durch die Staatsanwaltschaft erfolgen(§§ 99f. RStPO), und aus dem gleichen Grund kann die Untersuchungshaft gegen den mutmaßlichen Verbrecher im technischen Sinne unter erleichterten Voraussetzungen angeordnet wer77 Ausführlich zum Zusammenhang zwischen den gesetzlichen Anknüpfungen an die Deliktskategorie und dem Verhältnismäßigkeilsgrundsatz S. 128 ff.

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den(§ 112 RStPO). An diesen Stellen zeigt sich, dass sich der Staat, salopp gesprochen, mehr "anstrengt", die mutmaßlichen Täter schwerer Delikte (Verbrechen oder Vergehen) zu überführen. Allerdings dürfte im letzterwähnten Fall des§ 112 RStPO, wo dem Verbrecher im technischen Sinne der Fluchtwille quasi gesetzlich unterstellt wird, auch der kaum von der Hand zu weisende Erfahrungssatz eine Rolle gespielt haben, dass der natürliche Fluchtimpuls eines Menschen umso intensiver sein wird, je größer das ihm im Falle seiner Erfassung drohende Übel, konkret also die gesetzlich vorgesehene Strafe ist. 2. Gründe für die Verwendung der Klassifizierung im materiellen Strafrecht Das Prinzip der Proportionalität zwischen der Schwere einer Straftat und der Zulässigkeit von Verfahrenslockerungen lässt sich dem Grundgedanken nach auch für die materiell-rechtliche Funktion der Trichotomie eruieren. Geht es dort in der Regel darum, dem Verfolgten verfahrensrechtliche Erleichterungen umso eher zu gewähren, je leichter die Tat ist, so will der Gesetzgeber hier den Handelnden bereits vor der Strafverfolgung selbst umso eher verschonen, je geringer die begangene Tat wiegt. Dies zeigt sich besonders in den Bereichen, die man die "Außenzonen" der Tatbegehung nennen kann, also bei den Vorbereitungshandlungen, beim Versuch, bei der bloßen Bedrohung mit einer Straftat, bei der Teilnahme und bei den Anschlusstaten: Wer zur Begehung einer Übertretung Hilfe leistet, hat strafrechtlich ebensowenig zu befürchten wie derjenige, der einen anderen mit einer Körperverletzung (oder einem anderen Vergehen) bedroht oder Personen, die ein Vergehen (oder eine Übertretung) "verabreden". Eine strafbare Begünstigung setzt ein Verbrechen oder Vergehen als Vortat voraus, ebenso die Strafmilderung beim Meineid. Dagegen fallt die Qualifizierung einer Straftat materiell-rechtlich regelmäßig nicht mehr ins Gewicht, sobald der Handelnde einmal die "Kemzone" der Tatbegehung erreicht hat, also die Tat als Täter vollendet. Auch hierfür ein Beispiel: Wer selbst (d. h. nicht bloß als Teilnehmer) in Tatvollendung ungebührlicherweise ruhestörenden Lärm verübt (Übertretung nach § 360 Nr. 11 RStGB), wird gesetzestechnisch nicht anders behandelt als beispielsweise ein täterschaftlieh handelnder Mörder. Die Privilegierungen, die das Gesetz an die Vergehens- bzw. Übertretungsqualität einer Tat knüpft, laufen im Bereich täterschaftlieheT und vollendeter Tatbegehung leer. Etwas anderes gilt zwar für die Regelungen der Verfolgungsverjährung, der Auslandsverfolgung, der Möglichkeit der Strafumwandlung und der Zulässigkeil der Konfiskation. Diesbezüglich entfaltet die Frage nach der Deliktsart auch dann noch Bedeutung, wenn der Handelnde im dargestellten Sinne den Kernbereich der Tatbegehung erreicht hatte. Doch sind sämtliche dieser Regelungen bei genauer Betrachtung eher verfahrensrechtlicher als materiell-rechtlicher Natur. Es bleibt deshalb bei obigem Befund, wonach sich die materiell-rechtlichen Differenzierungen, die das Gesetz an die Kategorie der Tat knüpft, nur im weiteren "Umfeld" einer täterschaft-

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2. Teil: Funktionen und Bedeutungsverlust der Klassifizierung

liehen, vollendeten Tatbegehung auswirken und von dem Moment an bedeutungslos werden, in dem der Betroffene als Täter eine Straftat vollendet, die nicht bloß Bedrohung oder Begünstigung ist. Anders formuliert: Wo ein Verbrechen begangen wird, begangen worden oder seine Begehung intendiert ist, machen sich mitwirkende Personen viel schneller strafbar- nämlich bereits durch unmittelbares Ansetzen, durch Verabredung, durch Bedrohung, durch Beihilfe - als wenn die in Bezug genommene Straftat nur Vergehen oder Übertretung ist. Wer dem Mörder das Messer reicht, löst die Rechtsfolge staatlicher Strafe aus, nicht aber, wer dem "ungebührlich Lännenden" i. S. des § 360 Nr. 11 RStGB die Trompete zur Hand gibt. Der Verbrechenscharakter einer Tat wirkt also strafbarkeitsausdehnend, während umgekehrt der Charakter der Tat als Vergehen oder Übertretung zu einer Einschränkung der pönalisierungswürdigen Verhaltensweisen führt. Damit wird erkennbar, dass der Gesetzgeber des Reichsstrafgesetzbuchs die Trichotomie der Straftaten einsetzt, um die im Besonderen Teil vorgesehenen Pönalisierungen auf die wenigsten, strafwürdigsten Fälle zu beschränken. Die Gesetzestechnik, eine Ausdehnung der pönalisierten Handlungsweisen an die Schwere der Tat zu knüpfen, dient damit letztlich ebenfalls der Umsetzung des verfassungsmäßigen Übermaßverbots78 •

V. Ungeschriebene Funktionen der Trichotomie Die bisher dargestellten Funktionen der Einteilung strafbarer Handlungen in § I RStGB ließen sich dem Gesetz selbst ohne weiteres entnehmen. Doch sind daneben auch weniger augenfällige, vergleichsweise subtile Wirkungen der gesetzlichen Klassifizierung feststellbar, denen im Folgenden Aufmerksamkeit gewidmet werden soll.

1. Unrechtsbewertungsfunktion Die erste solcher ungeschriebener Funktionen der Dreiteilung lässt sich in einer selbstverständlichen These bündeln: Übertretungen sind die leichten, Vergehen die mittelschweren und Verbrechen die schwersten Straftaten. Indem das Gesetz eine bestimmte Tat also Verbrechen, eine andere Vergehen bzw. Übertretung nennt, liegt bereits in dieser Etikettierung eine Bewertung des Unrechtsgehalts der einen Tat in Relation zur anderen in dem Sinne, dass der Verbrecher größeres Unrecht verwirklicht als der Täter eines Vergehens bzw. einer Übertretung. Diese Aussage ist- anders als im bayerischen Strafgesetzbuch von 181379 - im Gesetz nirgends in dieser Ausdrücklichkeit niedergelegt. Sie lässt sich gleichwohl substanziieren, und zwar Dazu ausführlich- im Hinblick auf die heutige Bedeutung der Klassifizierung-S. 131 ff. Art. 2 I BayStGB erklärte u. a. die "Grösse der Uebelthat" zum Wesensmerkmal des Verbrechens. 78

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sowohl durch gesetzesdogmatische Überlegungen (a), als auch durch Analyse des allgemeinen Sprachgebrauchs (b). a) Gesetzesdogmatisch lässt sich die qualitative, d. h. Unterschiede im Unrechtsgehalt der jeweiligen Tat zum Ausdruck bringende Benennung der Straftaten auffolgende Überlegung zurückführen: Gesetzlicher Anknüpfungspunkt der Qualifizierung ist die abstrakte Strafdrohung im jeweiligen Tatbestand. Nun werden Strafen in ihrer jeweiligen Schärfe aber nicht gleichsam willkürlich angedroht, sondern mit Rücksicht auf die Schwere der Tat. Gerade in der Höhe der angedrohten Strafe und allein in ihr kommt die soziale Bedeutung zum Ausdruck, die der Gesetzgeber einem Delikt nach dem Grade seiner Strafwürdigkeit, nach seiner Schwere, beilegt80. Dies war, wie Teil I darzulegen versuchte, im Strafrecht aller Zeiten und Gesellschaften so. Damit wird der Rückschluss von der Höhe der Strafe auf den Unrechtsgehalt der Tat zwingend: Je höher die Strafe, desto "schlimmer" die Tat, desto größer also das verwirklichte Unrecht. Es kann daher nicht überraschen, wenn die Motive zum Reichsstrafgesetzbuch ganz in diesem Sinne ausführen, dass in Wirklichkeit nicht die Höhe der Strafen, sondern die Schwere der strafbaren Handlungen das Unterscheidungszeichen sei, weil man erst die Strafen den entsprechenden Verbrechen angepasst, dann aber diese Strafandrohungen als leichteste Erkennungszeichen für die Schwere der Verbrechen zur Bestimmung der einzelnen Kategorien strafbarer Handlungen benutzt habe81 • Weil aber Verbrechen mit höherer Strafe bedroht sind als Vergehen und diese wiederum mit höherer Strafe als Übertretungen, ist jeder Zuordnung einer Tat zu einer der Kategorien besagte Unrechtsbewertung immanent. b) Diese Unrechtseinstufungsfunktion der Klassifizierung lässt sich aber nicht nur auf dem Umweg über den Sinn einer bestimmten Strafdrohung beweisen. Vielmehr darf behauptet werden, dass ein entsprechender materieller Gehalt bereits den vom Gesetzgeber verwendeten Begriffen, namentlich dem des Verbrechens, innewohnt. Wer nämlich als Anwender der deutschen Sprache das Wort "Verbrechen" hört, wird damit auch ohne juristische Kenntnisse, und ohne eine Blick in das Strafgesetzbuch werfen zu müssen, größeres Unrecht assoziieren, als mit dem Begriff "Vergehen" oder "Übertretung". Auch diese These soll im folgenden fundiert werden. aa) Verbrechen als absoluter Begriff (Verbrechen im weiteren Sinne) Hierzu ist es notwendig, zunächst auf eine allgemeine Dimension des Verbrechensbegriffs hinzuweisen, die mit dem formellen Verbrechensbegriff der §§ I RStGB und I2 StGB nichts zu tun hat. Begreift man mit letzterem nämlich "Verbrechen" als Relativbegriff, der stets in Beziehung zu den anderen Kategorien strafbarer Handlungen (also Vergehen und Übertretungen) zu sehen ist (Verbrechen im engeren Sinne), so existiert daneben ein absoluter Verbrechensbegriff, der in sein Bedeutungsspektrum sämtliches strafwürdige Unrecht einschließt, also gleichbedeu80 81

v. Hippe/ ll, 98; vgl. auch Jescheck § 7 I 2. Vgl. Meyer 34.

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2. Teil: Funktionen und Bedeutungsverlust der Klassifizierung

tend mit dem Begriff der Straftat ist82• Dieser absolute oder weite Verbrechensbegriff dürfte im allgemeinen deutschen Sprachgebrauch lange Zeit der alleinherrschende gewesen sein, bis durch das bayerische Strafgesetzbuch von 1813 und das preußische Strafgesetzbuch von 1851 die anderen beiden Kategorien strafbarer Handlungen eingeführt wurden. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass man diesen weiten Verbrechensbegriff durch die Einführung der Trichotomie gefährdet sah83 • Dieser Verbrechensbegriff ist für die erörterte Unrechtsbewertungsfunktion der Trichotomie unfruchtbar, weil er sich über sie hinwegsetzt, indem er alle drei Kategorien einschließt. Er besagt nur, dass ein Verbrechen jedes strafwürdige und strafbedürftige Unrecht ist, aber er erlaubt keine Bewertung des Unrechtsgehalts eines Verbrechens im Hinblick auf andere Deliktsarten, weil es nach ihm keine anderen Deliktsarten gibt. bb) Verbrechen als relativer Begriff (Verbrechen im engeren Sinne) Anders verhält es sich jedoch mit dem engen Verbrechens begriff, wie er der Trichotomie des § I RStGB und der Dichotomie des § 12 StGB zugrunde liegt. Setzt man den Terminus "Verbrechen" nämlich in Bezug zu den anderen Bezeichnungen strafbarer Handlungen, Vergehen und Übertretungen, so kommt schon allein in dieser Begrifflichkeit eine Bewertung des Unrechtsgehalts der betreffenden Taten zum Ausdruck. Diese These lässt sich, da sie auf den tatsächlichen Sprachgebrauch, auf den tatsächlichen Bedeutungsgehalt der Begriffe im öffentlichen Bewusstsein abstellt, nur sprachempirisch belegen. Dies soll hier anband zweier Beispiele geschehen, von welchen das erste aus der Nachkriegszeit, das zweite aus der jüngsten Vergangenheit stammt. 1. Die Angeklagte war wegen eines Verstoßes gegen § 1 Abs. 2 der damaligen Kriegswirtschaftsverordnung (KWVO) verurteilt worden, weil sie versucht hatte, auf Brotmarken über 1500 Gramm, die sie in solche über 2500 Gramm verfälscht hatte, Brot zu kaufen84• Das Gericht hatte die Tat als Vergehen eingestuft und es damit ermöglicht, die verhängte Gefängnisstrafe gern. § 27 b RStGB in Geldstrafe umzuwandeln. Hiergegen wandte sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer Revision zum Kammergericht.

Die Staatsanwaltschaft vertrat die Auffassung, dass Verstöße gegen § 1 KWVO stets als Verbrechen einzustufen seien. Begründung: § 1 KWVO ordnete wahlweise 82 So etwa die Definition des Verbrechens in Meyers enzyklopädischem Lexikon . Ähnlich für den sog. materiellen Verbrechensbegriff LK-Gribbohm § 12 Rn. 7; Jescheck § 7 11; L. Welzel, Kriminalistik 1991,489. 83 Sehr deutlich in diesem Sinne Wächter 55: "[ ...] in Wissenschaft und Leben ist ein technischer Ausdruck, der alle strafbaren Handlungen umfaßt, ganz unentbehrlich, und nach dem Sprachgebrauche[ ...] ist dieses technische Wort das Wort Verbrechen"; die Einführung eines engen Verbrechensbegriffs würde zu einer unerträglichen Beschränkung des Sprachgebrauchs und zu einem "schroffen Conflicte" mit demselben führen. 84 KG JR 1947, 89ff.

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Zuchthaus oder Gefängnisstrafe an. Vor dem Hintergrund einer abstrakten Betrachtungsweise, wonach es für Einstufung nicht auf die konkret verhängte, sondern auf die abstrakt angedrohte Höchststrafe ankam, war diese Auffassung also zutreffend. Der Gesetzgeber hatte bei Festsetzung der Trichotomie diese abstrakte Betrachtungsweise proklamiert85 • Das KG folgt in seiner Entscheidung gleichwohl einer konkreten Betrachtungsweise. In seiner Stellungnahme zu dieser Frage führt das Kammergericht aus, dass unter § 1 KWVO eine große Anzahl von strafbaren Handlungen fielen, die von geringer Bedeutung seien und die als Verbrechen zu bezeichnen der allgemeinen Vorstellung von dem Begriff des Verbrechens zuwiderlaufe. Die Auffassung der Staatsanwaltschaft müsse dazu führen, dass viele kleine Übeltäter wegen eines Verbrechens bestraft im Strafregister auftauchten, während ihre Taten keineswegs als das anzusehen seien, was man gemeinhin unter einem Verbrechen verstehe. Sie bagatellisiere den Begriff des Verbrechens, von dem im Gegensatz zu dem des Vergehens oder der Übertretung das Volk ebenso wie von der Persönlichkeit des Täters eine ganz bestimmte Vorstellung habe86 • 2. Die Regensburger Lokalpresse87 berichtete kürzlich über die polizeiliche Festnahme eines Mannes, der als Tater einer sexuellen Nötigung verdächtigt wurde. Dabei legten die festnehmenden Beamten offenbar rigides Vorgehen an den Tag; der Verdächtigte erlitt Blutergüsse an den Handgelenken und wurde etwa vier Stunden lang vernommen. Im Laufe der Vernehmung und aufgrund von Zeugenaussagen erwies sich seine Unschuld. Der Artikel zitiert den Polizeisprecher mit den Worten: ,,Zu den Vorwürfen, die Beamten hätten überzogen reagiert, wird darauf hingewiesen, dass -auch eine versuchte- Vergewaltigung einen Verbrechenstatbestand darstellt und die Polizei alles daran setzt, eines bezeichneten Taters habhaft zu werden." Die Beispiele illustrieren auf eindrucksvolle Weise die besondere Konnotation des Verbrechensbegriffs. Das Kammergericht beruft sich auf "allgemeine Vorstellungen", auf ein gemeines Verständnis vom Verbrechen. Und wenn es auch an keiner Stelle ausspricht, welchen konkreten Inhalt diese Vorstellungen haben sollen- vermutlich erschien dem Gericht eine solche Klarstellung als zu banal-, geht aus den Ausführungen unmissverständlich hervor, dass eben nur die schwersten Straftaten Verbrechen genannt werden dürfen. Spezifische, in der wirtschaftlich angespannten Lage der Nachkriegszeit ubiquitäre kleinere Vermögensdelikte liegen in ihrem Unrechtsgehalt jenseits des Bedeutungsspektrums des Verbrechensbegriffs. Diesen Bedeutungsgehalt möchte das Kammergericht unangetastet lassen, wenn es im Falle der Zuordnung solcher Delikte zur Kategorie der Verbrechen die Bagatellisierung des Begriffs befürchtet. ss Siehe S. 59. Näher zu diesem grundsätzlichen Problern im Fünften Teil, S. 243 ff. 86

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KG JR 1947,90. Regensburger Rundschau vom 29.7.1998.

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Bemerkenswert erscheint, dass das Kammergericht seine These von einer allgemeinen Vorstellung vom Verbrechen gar nicht zu belegen versucht. Sie wird als Selbstverständlichkeit postuliert. Genaugenammen zeigt die Entscheidung nur, dass die Richter selbst jene ominöse Vorstellung vom Verbrechen in sich tragen- zur Begründung stützen sie sich lediglich auf eine diffuse Allgemeinheit. Gerade die Selbstverständlichkeit, mit der die Richter diese materielle Bedeutung des Verbrechensbegriffs konstatieren, und mehr noch die Tatsache, dass sie damit nicht den geringsten Widerspruch auslösten88 , ist aber ein starkes Indiz für die Richtigkeit ihrer Prämisse. Die Stellungnahme des Polizeisprechers aus dem anderen Beispiel scheint das Kammergericht- rund 50 Jahre später- zu bestätigen. Der Beamte will das harte Durchgreifen der Polizisten rechtfertigen, indem er sich auf den Verbrechenscharakter der dem Festgenommenen zur Last gelegten Tat beruft. Auch hier fehlt jede Erläuterung des Verbrechensbegriffs. Offensichtlich ging der Sprecher also davon aus, dass jeder Empfänger seiner Äußerung - also beileibe nicht nur ausgebildete Juristen - schon mit dem Begriff "Verbrechen" eine ganz spezifische Bedeutung verknüpfen würde, die ihm die Art des polizeilichen Vorgehens einleuchten ließe. Die so suggerierte Bedeutung kann nur sein: Verbrechen sind Straftaten von solcher Schwere und Gefährlichkeit für die Allgemeinheit, dass ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht; zur Durchsetzung dieses Interesses sind aber auch vergleichsweise einschneidende Eingriffe in die Rechte des Verdächtigten angezeigt. Kurz also: Verbrechen sind besonders schwere Straftaten. Von dieser Prämisse gehen die Richter am Kammergericht 1947 und der bayerische Polizeisprecher 1998 aus. Diese Beispiele sollen als empirischer Beleg für die materielle Bedeutung des Terminus "Verbrechen" genügen. Weitere ließen sich anführen89 • Betont werden soll noch einmal, dass es sich mittlerweile um eine überpositive, von jeder gesetzlichen Fixierung losgelöste Konnotation des Wortes handelt: Dass Verbrechen, in der Laiensprache ausgedrückt, "schlimmer" sind als Vergehen, weiß jeder erwachsene Sprachanwender, ohne dass er hierfür Gesetz- oder Lehrbücher konsultieren müsste90. Diesen Sinngehalt hat sich der Gesetzgeber nur zu eigen gemacht und ihn nicht Ausdrücklich zustinunend z. B. Kohlrausch/Lange § 1 III. Erinnert sei nur an die vom AE 1966 vorgesehene Anknüpfung der Kategorie der Verbrechen an eine mindestens fünfjährige Freiheitsstrafe, durch welche der Verbrechensbegriff einigen wenigen Taten von höchster Sozialschädlichkeit reserviert werden sollte; Baumann AT § 8 II 2 Fn. 12. Im Ergebnis wie hier Lange MDR 1948, 310, und lmhof9, der feststellt, dass "gerade in den deutschsprachigen Ländern die Begriffe der Deliktsarten einen materiellwertenden Inhalt bekonunen haben. Damit erscheint es unvereinbar, eine mit Vergehensstrafe geahndete relativ geringfügige Straftat als Verbrechen zu bezeichnen." Der Entwurf 1909 verwies auf den Sprachgebrauch des Volkes, das unter Verbrechen nur die schwersten, im Volksbewusstsein entehrenden Verletzungen der Strafgesetze verstehe, vgl. Heinitz 61. Den vorrechtlichen Charakter des Verbrechensbegriffs betont auch Schmidhäuser AT2/9, 3/1. 90 Entscheidend für diese Bedeutungsbildung dürfte die Trichotomie des Code Penal und ihre Übernahme durch Feuerbach in das bayerische StGB cvon 1813 gewesen sein. 88

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A. Die gesetzestechnische Bedeutung der Trichotomie des Strafgesetzbuchs

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etwa umgekehrt dem Begriff verliehen. Verbrechen sind also nicht deshalb die schwersten Straftaten, weil§ 1 RStGB (§ 12 StGB) dies bestimmt, sondern die in§ 1 Abs. 1 RStGB (§ 12 Abs. 1 StGB) zusammengefassten Delikte werden Verbrechen genannt, weil dies der herkömmliche Ausdruck für schwerste Straftaten ist. Damit noch nicht beantwortet ist die Frage, ob es tatsächlich die Absicht des Gesetzgebers war, bereits durch die Bezeichnung einer Tat deren Unrechtsgehalt zu bewerten. Eine Antwort fallt jedoch leicht: Der Gesetzgeber hat die Begriffe Verbrechen/Vergehen/Übertretung bewusst gewählt, um bereits sprachlich eine Unrechtsqualifizierung vorzunehmen. Denn hätte er dies nicht gewollt, wäre die Wahl anderer, wertungsneutraler Begriffe naheliegend gewesen, etwa die Bezeichnung als Straftaten erster, zweiter und dritter Kategorie. Deshalb scheint es angebracht, den Begriffen der Trichotomie nicht nur ein Moment faktischer Unrechtsbewertung, sondern eine Unrechtsbewertungsfunktion im Sinne echter gesetzgeberischer Absicht zuzuschreiben. Indem das Gesetz seine Tat Verbrechen oder anders (Vergehen oder Übertretung) nennt, soll der Täter, soll die Allgemeinheit schon sprachlich erkennen, wie schwer oder leicht seine Tat wiegt. 2. Die Einteilung als Träger diskriminierender Begriffe - Diskriminierungsfunktion a) "Verbrechen" als diskriminierender Begriff

Eng mit der soeben dargestellten Unrechtsbewertungskomponente verknüpft ist eine weitere ungeschriebene Funktion der Einteilung, die man Diskriminierungsfunktion nennen könnte. Wie diese ist sie in der vom Gesetzgeber gewählten Begrifflichkeit angelegt. Doch während sich dort für die Begriffe des Vergehens und der Übertretung zumindest insoweit ein materieller Gehalt ermitteln ließ, als diese nach allgemeinem Verständnis gegenüber dem Begriff des Verbrechens geringeres Unrecht bezeichnen, ist die nun zu erörternde Funktion auf den Begriff des Verbrechens beschränkt. Genau besehen handelt es sich deshalb auch weniger um eine Funktion der gesetzlichen Einteilung selbst, als um die eines ihrer wichtigsten Termini. Gleichwohl war es doch gerade die gesetzliche Klassifizierung der Straftaten in § 1 RStGB, die den Verbrechensbegriff aus dem allgemeinen Sprachgebrauch in das Strafgesetzbuch überführt und ihm damit für das gesamte Reichsgebiet erst kodifikatorische Existenz verliehen hat. In dieser Übernahme des Verbrechensbegriffs liegt aber zwangsläufig auch die Übernahme seiner vorgesetzlichen Bedeutungen, weshalb die betreffenden Wirkungen auf das Institut insgesamt zurückgeworfen werden. Stöckl behauptet lakonisch: "Dass schon diese Bezeichnung [Verbrechen] für sich diskriminierend ist[ ... ], liegt auf der Hand"91 • In einer wissenschaftlichen Un9t

GA 1971, 245, Fn.43.

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tersuchung der Klassifizierung soll es mit dieser Behauptung jedoch nicht sein Bewenden haben. Die hier interessierende Bedeutung des Verbrechensbegriffs lässt sich erschließen, wenn man sich einmal mehr den alltäglichen Sprachgebrauch vor Augen führt. Noch heute ist es nicht unüblich, seiner Empörung über zu hohe Preise, behördliche Pressionen oder andere nicht unerhebliche Beeinträchtigungen im gesellschaftlichen Dasein Ausdruck zu verleihen durch eine Wendung wie: "Das sind doch Verbrecher!" (wobei mit "das" die Urheber der Beeinträchtigung bezeichnet werden sollen). Umgekehrt belegt sich aber auch selbst gerne mit diesem Begriff, wer sich im Zusammenhang mit staatlichen oder auch nur gesellschaftlichen Kontakten als Opfer fühlt: "Da wird man behandelt wie ein Verbrecher (oder, noch schlimmer: ,wie ein Schwerverbrecher!')!" lautet etwa eine oft zu vernehmende Klage. In die gleiche Kerbe schlagen Äußerungen wie: "Was habe ich denn verbrochen?" oder "Das ist doch kein Verbrechen!" Mit diesen Hinweisen auf in der Regel völlig unreflektierte Äußerungen im Alltag soll gezeigt werden, dass dem Verbrechensbegriff ein Bedeutungsmoment innewohnt, das über die oben angesprochene Unrechtsbewertung hinausreicht. Auf die kürzeste Formel gebracht, ist "Verbrecher" nämlich auch ein Schimpfwort. Der Begriff wird, jedenfalls von juristischen Laien, häufig in einem untechnischen Sinne gebraucht, um damit besonders rücksichtslose und gemeine Menschen zu bezeichnen und zu treffen. Umso härter dürfte es einen T