Naturwissenschaft und Technik in der DDR [Reprint 2018 ed.] 9783050072555, 9783050029559


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German Pages 407 [412] Year 1997

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Allgemeine Wissenschafts- und Forschungspolitik
Wissenschafts- und Technologiepolitik in der DDR
Das Reformpaket der sechziger Jahre - wissenschaftspolitisches Finale der Ulbricht-Ära
Das Ringen um wissenschaftlich-technischen Höchststand: Spionage und Technologietransfer in der DDR
Stalinistische Vielfalt: Hochschulpolitik im östlichen Mitteleuropa 1945-55
Der Schatten des Nationalsozialismus: Nachwirkungen auf die DDR-Wissenschaft
Institutionen
Der Weg zur „sozialistischen Forschungsakademie“. Der Wandel des Akademiegedankens zwischen 1945 und 1968
Einheit der Wissenschaft versus deutsche Teilung: Die Leopoldina und das Machtdreieck in Ostdeutschland
Disziplinen
Zwischen Privilegierung und Entmachtung: Ingenieure in der Ulbricht-Ära
Die Transferfalle: Zum DDR-Flugzeugbau in den fünfziger Jahren
Zwischen Autonomie und staatlichem Dirigismus: Genetische und biomedizinische Forschung
Vom Tastenfeld zum Mikrochip – Computerindustrie und Informatik im „Schrittmaß“ des Sozialismus
Chemie und chemische Industrie im Sozialismus
Kernforschung und Kerntechnik in der DDR
Personen
Der Physikochemiker Robert Havemann (1910–1982) – eine deutsche Biographie
Kurt Gottschaldt (1902–1991) und die psychologische Forschung vom Nationalsozialismus zur DDR – konstruierte Kontinuitäten
Der Physiker Friedrich Möglich (1902–1957) – Ein Antifaschist ?
Auswahlbibliographie zur Geschichte von Mathematik. Allgemeine Wissenschafts-, Technik- und Industriepolitik
Personenregister
Verzeichnis der Autoren
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Naturwissenschaft und Technik in der DDR [Reprint 2018 ed.]
 9783050072555, 9783050029559

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Naturwissenschaft und Technik in der DDR

Naturwissenschaft und Technik in der DDR Herausgegeben von Dieter Hoffmann und Kristie Macrakis

Akademie Verlag

Gedruckt mit Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Naturwissenschaft und Technik in der DDR / hrsg. von Dieter Hoffmann und Kristie Macrakis. Berlin : Akad. Verl., 1997 ISBN 3-05-002955-2

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1997 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der R. Oldenbourg-Gruppe. Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Vorwort

9

Allgemeine Wissenschafts- und Forschungspolitik ECKART FÖRTSCH

Wissenschafts- und Technologiepolitik in der DDR

17

HUBERT LAITKO

Das Reformpaket der sechziger Jahre - wissenschaftspolitisches Finale der Ulbricht-Ära

35

KRISTIE MACRAKIS

Das Ringen um wissenschaftlich-technischen Höchststand: Spionage und Technologietransfer in der DDR

59

JOHN CONNELLY

Stalinistische Vielfalt: Hochschulpolitik im östlichen Mitteleuropa 1945-1955

89

REINHARD SIEGMUND-SCHULTZE

Der Schatten des Nationalsozialismus: Nachwirkungen auf die DDR-Wissenschaft

105

6

Inhalt

Institutionen PETER NÖTZOLDT

Der Weg zur „sozialistischen Forschungsakademie": Der Wandel des Akademiegedankens zwischen 1945 und 1968

125

KRISTIE MACRAKIS

Einheit der Wissenschaft versus deutsche Teilung: Die Leopoldina und das Machtdreieck in Ostdeutschland

147

Disziplinen DOLORES L. AUGUSTINE

Zwischen Privilegierung und Entmachtung: Ingenieure in der Ulbricht-Ära

173

BURGHARD CIESLA

Die Transferfalle. Zum DDR-Flugzeugbau in den fünfziger Jahren

193

RAINER HOHLFELD

Zwischen Autonomie und staatlichem Dirigismus: Genetische und biomedizinische Forschung

213

EKKEHARD HÖXTERMANN

Biologen in der DDR zwischen Tradition und Innovation, Wissenschaft und Politik

233

FRIEDRICH NAUMANN

Vom Tastenfeld zum Mikrochip - Computerindustrie und Informatik im „Schrittmaß" des Sozialismus

261

RAYMOND G . STOKES

Chemie und chemische Industrie im Sozialismus

283

Inhalt

1

BURGHARD WEISS

Kernforschung und Kerntechnik in der DDR

297

Personen DIETER HOFFMANN

Der Physikochemiker Robert Havemann (1910-1982) - eine deutsche Biographie

319

MITCHELL A S H

Kurt Gottschaidt (1902-1991) und die psychologische Forschung vom Nationalsozialismus zur DDR - konstruierte Kontinuitäten

337

DIETER HOFFMANN / MARK WALKER

Der Physiker Friedrich Möglich (1902-1957) - ein Antifaschist ?

361

Auswahlbibliographie zur Geschichte von Mathematik, Naturwissenschaften und Technik sowie zur Wissenschafts- und Hochschulpolitik in der DDR

(Thomas Stange)

383

Personenregister

403

Verzeichnis der Autoren

409

Vorwort Genagelt ans Kreuz der Vergangenheit. Jede Bewegung treibt die Nägel ins Fleisch. Christa Wolf, 1991

Mit dem Untergang der DDR ist ihre Geschichte in einem bislang unbekannten Maße in den Mittelpunkt des öffentlichen, aber auch des wissenschaftlichen Interesses gerückt. Die Öffnung vieler Archive und die Freigabe von bisher unter Verschluß gehaltenen Informationen hat in den zurückliegenden Jahren eine Flut von Publikationen angeregt. Dabei dominieren allgemeinhistorische, sozial- und politikwissenschafitliche Untersuchungen, Fragen der Wissenschafts- und Technikgeschichte bzw. der Forschimgs- und Technologiepolitik sind höchst selten thematisiert worden.1 Diese Asymmetrie und die Vernachlässigung der natur- und technikwissenschaftlichen Kerndisziplinen bei der wissenschaftshistorischen Aufarbeitung der DDR-Geschichte verwundert angesichts der gesellschaftlichen Realität, die uns umgibt und die von den Ergebnissen der modernen Naturwissenschaft und Technik geprägt ist. Die Dominanz der politisch und sozialwissenschaftlich orientierten Zeitgeschichte muß sogar als gravierender Mangel in der bisherigen Aufarbeitung der DDR-Geschichte angesehen werden. Ein Mangel deswegen, weil damit nicht nur Zentralbereiche moderner Gesellschaftsentwicklung ausgeblendet bleiben, sondern weil der Marxismus, und insbesondere der Marxismus-Leninismus und die sich auf ihn gründende sozialistische Staatsform, nicht nur eine ausgeprägte Fortschrittsgläubigkeit anhingen, sondern ausgesprochen wissenschaftsgläubig und technikoptimistisch waren. Den Wissenschaften und mit ihnen der Entwicklung der Produktivkräfte wurde eine zentrale Rolle für die gesellschaftliche Entwicklung und die Lösung der gesellschaftlichen Probleme zugewiesen. Nicht zufallig wurde der wissenschaftlich-technischen Revolution in den politischen Dokumenten und der offiziellen Propaganda der sozialistischen Länder häufig und vehement das Wort geredet, betrachtete man sie doch als das Kernstück des historischen Wettbewerbs zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Dies galt insbesondere für ein Land wie die DDR, das arm an Ressourcen war und somit in besonderem Maße wissenschaftlich-technische 1 Vgl. z.B. die Sammelbände: W.H. Pehle, P. Sillem (Hg.): Wissenschaft im geteilten Deutschland. Frankfurt am Main 1992; J. Kocka (Hg.): Historische DDR-Forschung, Aufsätze und Studien, Berlin 1993; J. Kocka, M. Sabrow (Hg.): Die DDR als Geschichte, Fragen-Hypothesen-Perspektiven, Berlin 1994; H. Kaelble, J. Kocka, H. Zwahr (Hg.): Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994; R. Bessel, R. Jessen (Hg.): Die Grenzen der Diktatur, Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996; oder auch die von A. Mitter und St. Wolle im Ch. Links Verlag Berlin herausgebene Reihe Forschungen zur DDRGeschichte.

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Vorwort

Innovationen benötigte. Darüber hinaus verstand sich die DDR in der Systemauseinandersetzung des Kalten Krieges als Treuhänderin des nationalen Kulturerbes. Sie wollte sowohl das geistige Erbe von Goethe und Schiller, als auch jene Traditionen fortfuhren, die Deutschland im zurückliegenden Jahrhundert zu einem der international fuhrenden Länder im Bereich von Wissenschaft und Technik gemacht hatten. Das führte dazu, daß in der DDR den Wissenschaften und der Technik ein hoher Stellenwert zugemessen wurde. Dieser Aspekt, der für ihre vierzigjährige Geschichte dieses deutschen Staates konstitutiv und immanent war, ist in der bisherigen und seit der Wende so expandierenden historischen Forschung über die DDR nur wenig Raum gegeben worden Das vorliegende Buch versucht, diese Lücke schließen zu helfen. Mosaikartig analysiert es das Phänomen Wissenschaft in der sozialistischen Gesellschaft am Beispiel der DDR. Die Beiträge sind vier thematischen Schwerpunkten zugeordnet: allgemeine Fragen der Wissenschafts-, Bildungs- und Forschungspolitik in der DDR, wissenschaftliche Institutionen, natur- und technikwissenschaftliche Disziplinen sowie Personen, deren Biographien für die Lebens- und Forschungsbedingungen im Sozialismus und ihre politische Kontextualisierung typische Züge aufweisen. Diese Struktur ermöglicht, den Stellenwert der modernen Wissenschaft nicht allein über eine Analyse ihrer Forschungsergebnisse und -methoden zu bestimmen. Die Darstellung der Entwicklungsgeschichte natur- und technikwissenschaftlicher Kerndisziplinen ist Bestandteil einer Analyse weiterer Bereiche bzw. Schichten des modernen Wissenschaftsbetriebs, seiner Organisationsstruktur und seiner sozio-politischen Kultur. Neben der Darstellung disziplinarer Entwicklungen werden die Muster der Wissenschaftsorganisation und planung in der sozialistischen Gesellschaft der DDR untersucht, die allgemeinen wissenschafts- und forschungspolitischen Rahmenbedingungen analysiert, die Rolle des Technologietransfers für die DDR-Gesellschaft und der Beitrag der Staatssicherheit bei der Beschaffung von Spitzentechnologien thematisiert oder der Frage nachgegangen, wie der Schatten des Nationalsozialismus auch auf der DDR-Wissenschaft und ihren Akteuren gelastet hat. Bei allen Untersuchungen waren die Autoren bemüht, über den engen regionalen und politischen Rahmen der DDR hinauszugehen und das Phänomen von Wissenschaft und Technik in der DDR in einer vergleichenden Perspektive zu analysieren. Der Vergleich sollte dabei die zeitlichen Brüche und Diskontinuitäten und die vielfachen Verflechtungen der DDR-Geschichte reflektieren - Verflechtungen, die sich auf das nationalsozialistischen Deutschland, die anderen sozialistischen Länder, aber auch und nicht zuletzt auf die Bundesrepublik beziehen, in deren Konkurrenz der neue sozialistische Staat entstanden war und aufgebaut werden mußte. Noch in anderer Beziehung gehen die Beiträge des vorliegenden Bandes über den „Tellerrand der DDR" hinaus. Ihr Beispiel ermöglicht, exemplarisch Fragen zu diskutieren, die gerade die jüngere wissenschaftshistorische Forschung immer wieder in den Mittelpunkt der Erörterung stellt - das Problem des Verhältnisses von Wissenschaft, Gesellschaft und Modernität und die Frage, in welchem Maße Wissenschaft und Technik als Mittel gesellschaftlicher Modernisierung verstanden und gebraucht werden können. Damit eng verbunden ist die Frage nach den Entwicklungsmöglichkeiten moderner Wissenschaft unter diktatorischen oder totalitären Herrschaftsbedingungen. Wann und wie sind demokratische Strukturen für die wissenschaftliche Kreativität und den wissenschaftlich-technischen Fortschritt wichtig und notwendig? Auch die umgekehrte Fragestellung läßt sich anhand des Beispiels DDR diskutieren, weisen doch mehrere Beiträge des Buches darauf

Vorwort

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hin, daß sich die Wissenschaftler parallel zur Perfektionierung des diktatorischen bzw. später vielfach „nur noch" autoritär-zentralistischen Machtapparates zahlreiche „Nischen" für die Realisierung ihrer wissenschaftlichen Eigeninteressen zu schaffen vermochten. Unklar bleibt allerdings, ob damit bereits Grenzen der Dikatur aufgezeigt oder nur jene „Inseln der Absonderung" diagnostiziert sind, die nach Friedrich und Brzezinski insbesondere um jene Fächer entstehen, „die etwas abseits von der totalitären Ideologie liegen"2. Auf jeden Fall zeigen die vorliegenden Analysen, daß die Beziehung zwischen Wissenschaft und Poltik auch unter totalitären bzw. diktatorischen Herrschaftsformen komplexer Natur ist und sich nicht eindimensional mit den Schlagworten von der „politischen bzw. ideologischen Indienstnahme oder Instrumentalisierung der Wissenschaft" beschreiben läßt. Daß die Nischen und Freiräume der Wissenschaft im Sozialismus scharf markierte Grenzen hatten, machen insbesondere die biographischen Beiträge deutlich. Sie zeigen, daß geduldete Freiräume bzw. Nischen dann wieder eingeschränkt oder gar aufgehoben wurden, wenn unmittelbare Macht- und Sicherheitsfragen von Partei und Staat tangiert waren. Darüber hinaus thematisieren die Biographien zudem die Frage der gesellschaftlichen Verantwortung des Wissenschaftlers, der Konflikte zwischen der wissenschaftlichen Ethik und den Ansprüchen des politischen Systems und den Wegen, auf denen sie ausgetragen bzw. gelöst wurden. Das Buch gliedert sich in vier Teile und folgt in seiner Struktur den unterschiedlichen Ebenen des Wissenschaftsbetriebs. Es reicht von der Makroebene von Studien zur allgemeinen Wissenschaftspoltik über die Untersuchung wichtiger Wissenschaftsinstitutionen, verschiedener naturwissenschaftlicher und technischer Kerndisziplinen und spezieller Berufe bis hin zu biographischen Porträts einzelner Wissenschaftler. Auch wenn in einigen Beiträgen der Zeithorizont bis in die Endphase der DDR reicht, liegt der Schwerpunkt auf der Gründungs- und Aufbauphase der DDR, d.h. auf die fünfziger und sechziger Jahre. Das hat weniger konzeptionelle Gründe, es ist vielmehr der Tatsache geschuldet, daß diese Periode für die Wissenschaftsentwicklung und -politik der DDR von einer hohen gesellschaftlichen Dynamik gekennzeichnet war, wogegen in der Honecker-Ära die Dichte der Umgestaltungen rapide abnahm, so daß man auch für den Bereich der Wissenschaftspolitik von einer relativen Stagnation sprechen kann. Letzteres zeigen insbesondere die Beiträge von E. Förtsch und H. Laitko aus dem ersten Teil des Buches. Förtsch gibt einen allgemeinen Überblick zur Wissenschaftspolitik der DDR und hebt drei Phasen heraus: eine frühe, für die eine noch weitgehend kognitive und auch soziale Autonomie des Wissenschaftssystems kennzeichnend ist, eine zweite Periode, in der die planmäßige Politisierung der Wissenschafen vorangetrieben wird und schließlich die der Ökonomisierung. Laitkos Beitrag hingegen konzentriert sich auf die Analyse des sogenannten Reformpakets der sechziger Jahre, mit dem die SED-Führung versuchte, die angestauten wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten über den Weg der wissenschaftlich-technischen, bildungspolitischen und ökonomischen Modernisierung zu lösen. Auch wenn das Reformpaket wie auch der generelle wissenschaftspolitische Ansatz der DDR-Führung letztlich gescheitert sind, sehen beide Beiträgen Wissenschaft und Technik als Mittel allgemeiner gesellschaftlicher Modernisierung. Die anderen Beiträge des ersten Teils greifen weitere allgemeine wissenschaftspolitische Themen auf, die für das Verständnis der Wissenschaftsentwicklung in der DDR wichtig 2 C. J. Friedrich: Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957, S.234.

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Vorwort

sind. Die Beiträge von K. Macrakis und J. Connelly können dabei als Brücke zum folgenden Abschnitt „Wissenschaftsinstitutionen" gesehen werden. Connelly analysiert in vergleichender Perspektive zu den anderen sozialistischen Ländern Ost-Mitteleuropas die Transformation des universitären Bildungssystems. Es kommt ihm vor allem darauf an, zu zeigen, wie der ideologische Anspruch des Staates an den Hochschulen durchgesetzt wurde und welchen Einfluß dies auf die Struktur und die Inhalte der universitären Ausbildung sowie für die Rekrutierung einer eigenen sozialistischen Intelligenz hatte. K. Macrakis greift das so spektakuläre Thema Staatssicherheit unter einem bisher kaum analysierten Gesichtspunkt auf. Ihr Beitrag interessiert sich weniger für die „IMs" oder die Funktion der Staatssicherheit im politischen Repressionsapparat der SED, sie analysiert vielmehr die Rolle, die das Ministerium für Staatssicherheit in der wissenschaftlich-technischen Spionage spielte und welchen Beitrag es für den Technologietransfer von West nach Ost leistete. Der Beitrag von R. Siegmund-Schultze schließlich beschäftigt sich mit einem der Gründungsmythen der DDR, dem Antifaschismus. Er zeigt am konkreten Beispiel von Mathematikerbiographien, wie der offiziell proklamierte Antifaschismus für ideologische Zwecke und politische Gleichschaltungs- und Anpassungsstrategien instrumentalisiert wurde. Der zweite Teil des Buches behandelt zwei Wissenschaftsinstitutionen, die Akademie der Wissenschaften und die Hallenser Gelehrtengesellschaft Leopoldina. Als wichtigste Einrichtung naturwissenschaftlicher Forschung in der DDR spielte die Akademie für die Implementierung des sozialistischen Wissenschaftsmodells eine zentrale Rolle. Der Beitrag von P. Nötzoldt zeichnet detailiert die verschiedenen Etappen ihrer Transformation von einer bürgerlichen Gelehrtensocietät in eine sozialistische Forschungseinrichtung nach. Dabei wird deutlich, daß diese Umgestaltung nicht nur sowjetischen Vorbildern folgte, sondern auch Ansätze aus der Weimarer Republik integrierte. Im Vergleich dazu war - wie der Beitrag von K. Macrakis zeigt - der politische Anpassungsdruck auf die Leopoldina sehr viel geringer, blieb sie für die Wissenschaftspolitik der SED von marginaler Bedeutung. Die Leopoldina war so eine jener für die DDR-Gesellschaft so typischen Nischen, die sich von „kommunistischer Einflußnahme" weitgehend freihalten und ihren gesamtdeutschen Charakters bewahren konnten. Unter welchen Bedingungen dies geschah und in welchem Maße man damit einen Mythos pflegt(e), wird anhand des Verhältnisses zwischen der Leopoldina und dem Machtdreieck von Partei, Staat und Staatssicherheit analysiert. Der dritte und umfangreichste Teil des Buches ist einzelnen naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen gewidmet und umfaßt Studien zur Biologie, Kernenergie, Informatik, chemischen Industrie und zum Flugzeugbau neben einer sozialhistorisch geprägten Untersuchung über die Ingenieure in der DDR. Die von D. Augustine recherchierte Geschichte des Ingenieurberufs in der DDR macht deutlich, welche Spannungen zuweilen zwischen den politisch-ideologischen Ansprüchen und den Erfordernissen des technischen und ökonomischen Fortschritts bestanden und welche Kompromisse in dieser Beziehung (von beiden Seiten) gemacht wurden. Die Studie zeigt, daß das Sozialprestige des Ingenieurs in der DDR sehr viel geringer war, als die Rolle, die die offiziellen Propaganda ihm bzw. der Technik als Motor der sozialistischen Umgestaltung zuwies. Das Ergebnis waren frustrierte Technokraten, deren Frustration durch die zunehmenden volkswirtschaftlichen Mangelerscheinungen und die damit einhergehenden Einschränkungen bei der Realiserung ihrer technischen Ideen verstärkt wurde. Im Defizit zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Vorwort

13

liegt auch eine inhaltliche Klammer, die die Beiträge von F. Naumann über die Informatikentwicklung, von R. Stokes zur Chemie und chemischen Industrie und von B. Weiss über die Kernforschung in der DDR verbindet. Mit allen drei Bereichen waren zentrale Wissenschafts- und Technologieprogramme verknüpft, die als entscheidende Faktoren in der Systemauseinandersetzung die Überlegenheit des sozialistischen Gesellschaftssystems dokumentieren sollten. Die Konzentration auf Kernenergie, Chemie bzw. Mikroelektronik führte zwar in einigen Bereichen durchaus zu international anerkannten wissenschaftlichtechnischen Leistungen, doch wurden diese vielfach mit Verknappungen und einem Rückfall in anderen Bereichen erkauft. Trotz teilweise guter wissenschaftlicher und technischer Voraussetzungen scheiterten alle drei. Aus Gründen, die vom eingeschränkten ökonomischen Potential der DDR, über die generelle Innovationsträgheit und Schwächen in der Korrekturfahigkeit des zentralistischen Systems bis hin zu den alltäglichen Mängeln reichten, die den Wissenschaftsalltag in der DDR ausmachten. Der Beitrag von B. Weiss zur Kerntechnik zeigt zudem, daß die Kooperation mit dem „großen Bruder" Sowjetunion dort an enge Grenzen stieß, wo militärtechnische Interessen der Großmacht berührt wurden. Dieses Problem wird implizit auch im Aufsatz von B. Ciesla über die Flugzeugindustrie in der DDR berührt. Ciesla zeigt, welche Bedingungen dazu führten, daß man in den späten fünfziger Jahren in der DDR eine eigene Flugzeugindustrie aufzubauen versuchte und macht deutlich, daß der Fehlschlag dieses Versuchs nicht - wie in der bisherigen Literatur häufig kolportiert - allein auf eine Intervention der Sowjetunion zurückzuführen sei, die ihre eigenen ökonomischen und militärtechnischen Interessen berührt sah. Verantwortlich zu machen ist vielmehr ein Komplex von Ursachen, der auch zum Scheitern der anderen wissenschaftlich-technischen Großprojekte der DDR führte. Ganz andere naturwissenschaftliche Teilbereiche berühren die Beiträge von R. Hohlfeld und E. Höxtermann. Hohlfeld analysiert mit einem stark soziologisch geprägten Ansatz die Entwicklung der biomedizinischen Forschung in der DDR. Dabei diagnostiziert er für dieses Gebiet zwar teilweise erhebliche Mängel in der instrumentellen und materiellen Ausstattung - wie sie sicherlich für die naturwissenschaftliche Forschung in der DDR insgesamt typisch waren - , doch bescheinigt er ihr auch, daß das Forschungsprofil nicht systematisch von dem westlicher Industrienationen abwich. An speziellen Fallbeispielen macht er zudem deutlich, daß zumindest in der kognitiven Dimension eine partielle Autonomie der Wissenschaft bzw. der Wissenschaftler vom universalen Herrschaftsanspruch der Partei möglich war, wobei in allen anderen Bereichen des Wissenschaftsbetriebs der Zugriff durch Partei und Staat - z.B. in Fragen internationaler Kontakte oder der Sicherheit - „eisern" war. Freilich weist sein Beitrag auch auf Beispiele hin, die auch im kognitiven Bereich den „eisernen Zugriff' der Parteiideologie deutlich machen. Gemeint ist der Lyssenkismus, der indes interessanterweise in der DDR nur im Ausbildungsbereich propagiert wurde, wogegen er in der aktuellen Forschung kaum eine Rolle spielte. Den Ursachen dieses Phänomens geht E. Höxtermann u.a. in seinem Beitrag nach, der zudem eine sehr detailierte und narrative Darstellung der institutionellen und personellen Entwicklung der Biologie an den Universitäten der DDR darstellt. Der letzte, vierte Teil des Buches behandelt die Lebensgeschichte von drei Wissenschaftlern und greift anhand ihrer Biographie Themen auf, die in den vorangegangenen Abschnitten bereits angesprochen wurden. So nimmt er die Frage nach den Kontinuitäten und Brüchen in der wissenschaftlicher Forschung, die durch den politischen Umbruch nach 1945 in der DDR bewirkt wurden. Der von M. Ash geschilderte Lebensweg des Psycholo-

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Vorwort

gen Kurt Gottschaidt zeigt beispielsweise dessen Virtiosität, sein psychologisches Forschungsprogramm den jeweiligen politischen Rahmenbedingungen anzupassen - und dies über vier Epochen hinweg, begann seine wissenschaftliche Karriere doch in der Weimarer Republik und endete in der Bundesrepublik. Wie sich der Schatten des Nationalsozialismus in einer Wissenschaftlerbiographie spiegeln kann, zeigt der Beitrag von D. Hoffmann und M. Walker über den Physiker Friedrich Möglich. Es wird zugleich deutlich, wie brüchig der antifaschistische Mythos im konkreten Fall sein konnte und bietet zudem die Möglichkeit, zwischen west- und ostdeutscher Apologetik in der Auseinandersetzung bzw. Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit zu vergleichen und zu unterscheiden. Der Beitrag von D. Hoffmann über den Physikochemiker Robert Havemann und dessen Wandlung vom orthodoxen Stalinisten und „Aktivisten der ersten Stunde" zum bekanntesten Dissidenten der DDR weist nochmals auf die Grenzen und Tabuzonen hin, die für Wissenschaftler - wie auch für jeden anderen Bürger dieses Staates - galten, die den universellen Herrschaftsanspruch und das Meinungsmonopol der Partei zu problematisieren oder gar infrage zu stellen wagten - selbst wenn dies durch einen Marxisten geschah und (zunächst) auf den Bereich der Wissenschaften beschränkt blieb. Die siebzehn Beiträge dieses Bandes und die Auswahlbibliographie versuchen einen repräsentativen Überblick zum Thema liefern, ohne daß sie ein abschließendes Urteil über die Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik in der DDR oder gar im Sozialismus überhaupt erlauben. Das gestattet weder die Anlage des Buches als Sammelband noch der gegenwärtige Erkenntnisstand zu diesem Problemkreis. Die Autoren hoffen aber, mit ihm eine inhaltsreiche Diskussionsgrundlage zu liefern, die zugleich andere Kollegen ermutigen möge, das Thema aufzugreifen und weiter zu vertiefen. Das vorliegende Buch ist das Resultat eines von der Alexander von Humboldt-Stiftung geförderten Forschungsprojektes, das durch Kristie Macrakis im Jahre 1992 initiiert und von den Herausgebern des Bandes gemeinsam geleitet wurde. Zu den zentralen Intentionen dieser deutsch-amerikanischen Kooperation gehörte es, die verschiedenen Vorstellungen der Teilnehmer und ihre unterschiedlichen Biographien in das Projekt einzubringen und für die Diskussion der anstehenden Probleme nützlich zu machen. So setzte sich der Kern der Teilnehmer des Projektes fast paritätisch aus Amerikanern, Ost- und Westdeutschen zusammen. Unterschiede in der Lebensgeschichte, im Erfahrungshorizont und der Sichtweise des Autorenkreises haben das Projekt geprägt und begleitet - von den einschlägigen Diskussionen während der Projektkonkretisierung bis zur Abfassung der einzelnen Beiträge. Vielleicht ist es diesem offenen und unvoreingenommenen Dialog geschuldet, daß die Unterschiede der einzelnen Beiträgen kaum die heute so üblichen und publizistisch zumeist überzeichneten Ost-West-Klischees bedienen. Sie bewegen sich nicht entlang der Linie, daß die Vertreter des Westens definitiv zu wissen meinen, wie das alles in der DDR gewesen ist, wogegen der „gelernte" DDR-Bürger häufig aus eigener Betroffenheit noch darüber nachdenkt und es nicht wagt, definitive Urteile abzugeben. Die Zusammenarbeit in diesem Projekt war vielmehr vom wechselseitigen Bemühen gekennzeichnet, die gegenseitigen und zuweilen auch kontroversenPositionen und Meinungen verstehen zu lernen und so zu weitgehend objektiven Einschätzungen und Bewertungen über die Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik in der DDR zu gelangen. Die vorliegenden Beiträge dokumentieren so weniger die fachlichen oder weltanschaulichen Differenzen als vielmehr Unterschiede im Stil und in der Herangehensweise der einzelnen Autoren.

Vorwort

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Im Rahmen des Projektes fanden neben einer Vielzahl von Diskussionen und Arbeitsgeprächen zwei Tagungen statt, auf denen neben den fachlichen Problemen auch die eben genannten Unterschiede diskutiert wurden und man versuchte, den unterschiedlichen Erfahrungshorizont der Autoren produktiv für das Projekt zu nutzen. Ob dies gelungen ist, hat der Leser des Buches zu entscheiden. Am Anfang des Projektes stand im Spätsommer 1993 ein Workshop in Berlin, der vor allem die Aufgabe hatte, die Teilnehmer und ihre Projekte miteinander bekannt zu machen und den allgemeinen Ansatz für das Gesamprojekt zu diskutieren. Im Herbst 1995 traf man sich in New Hampshire, im für die DDRForschung so traditionsreichen World Fellowship Center in Conway3, zu einer kleinen abschließenden Konferenz, die durch eine intensive Diskussion der einzelnen Beiträge und den Versuch geprägt war, die Aufsätze aufeinander zu beziehen und zu homogenisieren. Auch wenn zwischen dieser Konferenz und dem Erscheinen des Bandes inzwischen zwei Jahre liegen, dokumentiert die Mehrzahl der Beiträge den Erkenntnisstand des Winters 1995/96. Allein transatlantische Kommunikationsschwierigkeiten zwischen den Herausgebern sind für die Verzögerung in der Drucklegung verantwortlich zu machen. Die Zwischenzeit wurde indes genutzt, weitere Kollegen und Themen für den Sammelband zu gewinnen und somit den Problemkreis Naturwissenschaft und Technik in der DDR abzurunden. Im Vergleich zur amerikanischen Publikation des Projektes, die unter dem Titel „Science under Socialism" im kommenden Jahr bei Harvard University Press erscheinen wird, ist das vorliegende Buch um die Beiträge von B. Ciesla, E. Höxtermann, F. Naumann und D. Hoffmann / M. Walker sowie die Auswahlbibliographie erweitert worden. Die amerikanische Ausgabe wird dafür eine längere Einführung der amerikanischen Herausgeberin enthalten, die die Thematik für einen mit der DDR-Geschichte nicht aus eigenem Erlebnis vertrauten Leserkreis im Überblick darstellt. Abschließend möchten wir all jenen Dank sagen, die zum Entstehen dieses Buches maßgeblich beitrugen. Zu danken haben wir insbesondere der Alexander von HumboldtStiftung, deren Transcoop-Programm die stimulierende deutsch-amerikanische Zusammenarbeit ermöglicht hat; ihr sind wir nicht zuletzt auch als ehemalige Stipendiaten zu besonderem Dank verpflichtet. Unser Dank gilt weiterhin der Michigan State University, die sich an der Finanzierung des Projektes paritätisch beteiligte. Ebenfalls haben wir uns bei all denen zu bedanken, die bei der Herstellung der Druckvorlagen mit Rat und Tat halfen - namentlich sei Dr. F. Hauer von der KLIO-Gesellschaft für historische Recherche und Bildung genannt. Last but not least möchten wir uns beim Akademie-Verlag und insbesondere bei seinem Lektor Günter Hertel für die geduldige, engagierte und aufgeschlossene Zusammenarbeit herzlich bedanken. Berlin / East Lansing im Frühsommer 1997

Die Herausgeber

3 Vgl. Studies in the GDR Culture and Society, New York 1975ff.

Allgemeine Wissenschafts- und Forschungspolitik

ECKART FÖRTSCH

Wissenschafts- und Technologiepolitik in der DDR

Untersuchungsrahmen Die Beziehungen zwischen Politik und Wissenschaften in der DDR haben eine wechselvolle Geschichte. Diese beginnt nach Kriegsende mit einer weitgehenden kognitiven und auch sozialen Autonomie eines restituierten Wissenschaftssystems. Kennzeichnend für die nächste Phase ist die planmäßige Politisierung der Wissenschaften, das heißt deren Steuerung entsprechend politischen Zwecken und mit politischen Mitteln. Im Zuge der Durchsetzung „sozialistischer Produktionsverhältnisse" wird die Produktivkraft Wissenschaft als systemische Problemlösungsinstanz anerkannt und vorrangig auf ökonomische Zwecke abgestellt. Im Konzept einer „Schlüsselrolle von Wissenschaft und Technik" schließlich gehen die Teilsysteme interdependente Beziehungen ein: Sie verstehen sich als voneinander abhängig, ohne aber faktisch gleichberechtigt gewesen zu sein. Den historischen Prozeß charakterisieren viele Experimente, zahlreiche Konflikte und einige durchgängige Merkmale. Insbesondere: - die Ausdifferenzierung und Institutionalisierung von Wissenschafts- und Technologiepolitik im politischen System. Sie hat zum Ziel, ihren Gegenstandsbereich systemisch zu integrieren; - Forschungspolitik lenkt die Produktion und Verwertung wissenschaftlichen Wissens auf von ihr definierte Wert-, Strategie- und Ressourcenprobleme. Zwischen der Erarbeitung und der praktischen Anwendung des Wissens aber bleibt eine Lücke, die das politische System zu verantworten hat; - Wissenschaft und Technik werden als Mittel der Modernisierung1 verstanden und gebraucht. Der DDR-spezifische Modernisierungsprozeß weist allerdings einen besonderen Widersprach auf, da auf vormoderne Steuerungsmedien (wie: verbindliche Ideologie, Autorität, politische Kontrolle) nicht verzichtet wird. Daraus resultiert ein DDR-typisches Modernisierungsdilemma. Ich will das am Schluß benennen. Im Zentrum des Beitrags aber stehen Entwicklung, bezogen auf die Interaktion der Teilsysteme, und Wandel, festgemacht an Selbstverständnissen, Funktionen und Strukturen einzelner Apparate. Meine Skizze der Phasen kann in 1 Als Referenzgrundlage verweise ich auf J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1981.

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Eckart Förtsch

unterschiedlichen Proportionen erfolgen, da in diesem Band Etappen und Aktionen der Wissenschafts- und Technologiepolitik nicht nur mein Thema sind.2

Restituierung und Autonomie der Wissenschaften Der Wissenschaftsbetrieb war durch den Nationalsozialismus (Faschisierung von Disziplinen, Vertreibung jüdischer Wissenschaftler) und Krieg (Zerstörung von Instituten, Apparaturen und Bibliotheken) erheblich beeinträchtigt worden. In ihrer Zone übernahm und kontrollierte die sowjetische Besatzungsmacht vorhandene Forschungseinrichtungen (Potsdamer Protokoll B 15.e) und erließ Forschungsverbote zum Beispiel für Atomphysik und Luftfahrtforschung.3 Sie transferierte Teile des wissenschaftlichen Potentials und einzelne Wissenschaftler und Techniker in die UdSSR; hinzu kamen Personalreduzierungen durch Entnazifizierung und Abwanderung. Da marxistische Traditionen im deutschen Wissenschaftsbetrieb kaum existiert hatten, verfügten die politischen Akteure in der SBZ zunächst nur über sehr wenige eigene „Wissenschaftskader"; sie hatten auch kein stringentes wissenschaftspolitisches Konzept. Das politische Fremdverständnis von Wissenschaft oszillierte zwischen einer auch ideologisch fundierten Wissenschaftsgläubigkeit und einem eher politsch motivierten Mißtrauen gegenüber den Trägern bürgerlicher Wissenschaft. Verbindliche normative Vorgaben an Wissenschaft fehlten jahrelang ebenso wie externe Funktionszuweisungen und Steuerungskonzepte. Weder Politik noch Wirtschaft fragten spezifisches Wissen nach. Ausnahmen waren vereinzelte Auflagen der Besatzungsmacht, bestimmte Forschungsfelder - vor allem im Gesundheitsbereich - zu bearbeiten, ferner Aufträge sowjetischer Dienststellen an Forschungsinstitute. Der erste Katalog wirtschaftsrelevanter FuE-Aufgaben, im Beschluß über den Zweijahrplan (1948) enthalten, blieb ohne Umsetzung in Forschungspläne, ohne Kontrolle und ohne Wirkung. Wissenschaft und namentlich Forschung standen sozusagen noch im Windschatten der politischen und gesellschaftlichen Umgestaltung, auf die sich Politik konzentrierte. Wissenschafts- und technologiepolitische Lenkungseinrichtungen waren noch nicht ausdifferenziert. Die einschlägigen Instanzen im politisch-administrativen System (Zentraler Kulturausschuß der SED, Zentraler Hochschulausschuß, Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung, Planungsabteilung der Deutschen Wirtschaftskommission, Länderministerien für Volksbildung) und Zeitschriften (Einheit 1946, Sowjetwissenschaft 1948) versuchten Wissenschaft in allgemeine Zusammenhänge wie Wirtschaftsplanung, Bildung und Kultur einzubinden und taugten allenfalls für sehr indirekte Anleitung. Aber vor allem die in der SED angesiedelten Einrichtungen konnten, wie sich bald zeigte, unschwer auf zentrale und direkte Steuerung umgestellt werden. Aktivitäten von wissenschaftspolitischer Relevanz vor allem für die weitere Entwicklung konzentrierten sich insbesondere auf folgende Bereiche: - Durchsetzung politischer und sozialer Kriterien und Regeln für die Rekrutierung im Hochschulbereich. Die neue Zulassungspolitik verfolgte Zwecke wie: Wiedergutmachung 2 3

Vgl. insbesondere die Beiträge von J. Connelly, H. Laitko und P. Nötzoldt in diesem Band. Vgl. die Beiträge von B. Ciesla und B. Weiss in diesem Band.

Wissenschafts- und Technologiepolitik

in der DDR

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an bisher benachteiligten Schichten durch Veränderung traditioneller Zugangsregeln im Bildungswesen; Schaffung einer „neuen Intelligenz" durch soziale Umschichtung; Sicherstellung künftiger Leistungen in Wissenschaft und Hochschule. - Materielle Privilegierung der „alten Intelligenz". Einschlägige Maßnahmen konnten sowohl politisch (Bündnispolitik) und ökonomisch (Verhinderung von Abwanderung) als auch tendenziell wissenschafitspolitisch (Schaffung von Akzeptanz) begründet werden. Wissenschaftspolitik handelte hier als Förderpolitik: Wiedereröffnungen und Neugründungen, Investitionen und Sonderzuwendungen (siehe vor allem Kulturverordnung vom 31.3. 1949) erfolgten ohne strikte Auflagen. - Personalpolitik in Forschung und Lehre. Sie beinhaltete zunächst die Entfernung NSBelasteter, die Kompensation von Rücktritten und Abwanderungen sowie die Berufung antifaschistischer, unbelasteter, kooperationsbereiter Wissenschaftler. Wissenschaftliche Arbeitsweisen, Tätigkeitsmerkmale und Nonnen blieben vorerst unangetastet. Ausnahmen waren die weltanschauliche Überprüfung der Philosophen ab 1947 und die beginnende Überprüfung der Inhalte einzelner Sozial- und Geisteswissenschaften. - Einfuhrung marxistischen Gedankenguts in die Institutionen. Hierfür wurden im Wissenschaftsbereich parteinahe bzw. parteieigene Einrichtungen und Verfahren geschaffen, zum Beispiel das Institut für Dialektischen Materialismus in Jena 1946, die Sozialwissenschaftlichen Fakultäten in Leipzig, Jena und Rostock 1947, Arbeitsgemeinschaft marxistischer Wissenschaftler in Leipzig 1948, öffentliche Parteiversammlungen an den Universitäten ab 1947, theoretische Konferenzen. In dieser Phase ging es allerdings eher darum, die Konkurrenzfähigkeit der marxistischen Lehre gegenüber Theorien, Methoden und Erkenntnissen der einzelnen Wissenschaften zu demonstrieren; von Überlegenheit des Marxismus-Leninismus oder gar von verbindlicher Methodologie war noch nicht die Rede. Eine fuhrende Rolle der Partei gegenüber Wissenschaft und Intelligenzschicht war in der Restituierungsphase weder thematisiert noch durchgesetzt. Dem entsprach, daß der Grad der Institutionalisierung wissenschaftpolitischer Apparate niedriger war als der des Wissenschaftssektors. Diese Asymmetrie verhalf der Wissenschaft als älterer und besser organisierter Kultur zunächst zu positionellen Vorteilen. Sie erfuhr Förderung ohne Steuerung, während zugleich andere Politikbereiche rigide umgestaltet wurden (Stichworte: Enteignungen und Verstaatlichung, Justizreform, Bildungsreform etc.). Insgesamt dominierten Ungleichzeitigkeiten, und das durchaus zugunsten der Wissenschafitsautonomie. Ich sehe dafür mehrere Ursachen. Die anstehenden Probleme waren elementarer Natur (Ernährung, Kleidung, Heizung, Wohnung, Gesundheit; Fertigwerden mit den Kriegsfolgen). Sie für Wissenschaft aufzubereiten, wurde keine Zeit gesucht und gefunden; praktische Defizite überlagerten kognitive Defizite. Das politische System konzentrierte seine Ressourcen auf sich selbst (Etablierung und Sicherung von Macht), auf revolutionäre Veränderungen in der Gesellschaft, auf Wiederherstellung von Kapazitäten in einer umstrukturierten Wirtschaft (einschließlich einer nicht gerade forschungsintensiven Mengen-Produktion).4 Dem Selbstverständnis und der sozialen Organisation tradierter Wissenschaft konnten die amtierenden Politiker keine ernstzunehmenden Alternativen entgegenstellen. Gegenüber wissenschaftlichen Standards und Erkenntnissen wies die Ideologie der Partei noch erhebliche Artikulations- und Argumentationsschwächen auf; die 4 Für FuE galt es in dieser Zeit als vordringliche Aufgabe, den früheren Stand der Technik wiederherzustellen. Siehe Bundesarchiv, Abteilung Coswig, Hauptabteilung Wissenschaft (im folgenden: BAC, HAWi), F4, Nr. 14.

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Träger der neuen Weltanschauung hatten Konditionsmängel aufgrund fehlender oder falscher Trainingsmethoden.

Wende zur Politisierung Die neue Phase ist durch politische Entscheidungen bestimmt, die zwischen 1948 und 1952 getroffen werden. Mit der Umwandlung der SED zur „Partei neuen Typus" wurde das sowjetische Politikmodell handlungsleitend; das sollte im folgenden nicht auf die Partei beschränkt bleiben. Die These und Praxis des sich verschärfenden Klassenkampfes prägten nun die Innenpolitik; das machte auch den Umgang mit der wissenschaftlich-technischen Intelligenz neu zum Problem. Mit der DDR-Gründung waren staatliche Institutionen zur Planung und Steuerung von Wirtschaft und Gesellschaft geschaffen worden; das eröffnete neue Handlungsmöglichkeiten. Mit dem Konzept des sozialistischen Aufbaus schließlich wurden nicht nur Strukturen, sondern auch die gesellschaftlichen Gruppen und Individuen zum Objekt der Politik gemacht. Die nun deutlich artikulierte und realisierte Absicht, Wissenschaft steuerbar zu machen und auf politische und ökonomische Aufgaben auszurichten, bedeutete eine neue Qualität in der Politik. Von nun ab mußte sie sich als fähig erweisen, für Wissenschaften Probleme zu definieren und Lösungsstrategien zu planen. Das war nicht nur durch Ausdifferenzierung und Funktionsausweitung zu leisten. Vielmehr mußten - gerade in und durch Politik - Wissensbestände überprüft, aktualisiert und neu erarbeitet werden. Die führenden politischen Akteure definierten, das zeigen die einschlägigen Texte dieser Zeit, die Probleme zunächst aus einem Wissensbestand mit Komponenten wie etwa - dem Marxismus-Leninismus-Stalinismus; das heißt Wissen über Geschichtsziele und gesellschaftliche Bewegungsgesetze, über revolutionäre Veränderungen, über Merkmale des intendierten Sozialismus-Modells, über Modi der dialektischen Orientierung in der Welt etc. - dem Herrschaftswissen, wie es in der UdSSR akkumuliert worden war; das heißt Wissen über Machtsicherang, über zentrale Systemsteuerung und -planung, Erfahrungen mit Politisierung der Systeme und der Lebenswelt etc. - einem selektiven Geschichts- und Traditionswissen, das die „progressiven und humanistischen" Teile des kulturellen Erbes in Deutungsmuster transformierte, um Handlungen zu legitimieren und Orientierungen zu geben - einem Erfahrungsbestand, der - vor dem Hintergrund von Ausgrenzungen, Klassenkämpfen, Verfolgungen, mangelhafter Bewältigimg eigener Fehler - dichotomische Wahrnehmungsmuster („wer-wen") begünstigte. Diese Wissenshorizonte mochten dazu taugen, politische Ziele und Maßnahmen zu begründen; Modernisierung war damit nicht zu machen, auch nicht in der realsozialistischen Fassung. Deshalb machte Politik die Produktion und Distribution neuen Wissens zur Forschungsaufgabe. Zugleich aber setzte sie dem restriktive Bedingungen, indem sie versuchte, wissenschaftliches Wissen und Ideologie zu entdifferenzieren, in den wissenschaftlichen Arbeitsprozeß einzudringen und der Wissensverwertung politische Filter vorzuschalten. Damit verstrickte sich Wissenschaftspolitk in eine Falle, aus der sie auch später

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nicht herauskam: Der proklamierten Bedeutung von Modernisierungswissen konnte die Wirkung nicht angemessen entsprechen. Das Fremdverständis von Wissenschaft, wie es Politiker und ihre ideologischen Agenturen in dieser Phase neu artikulierten, skizziert die Erwartungen und Forderungen. Als Maximen galten nun - Wissenschaft sollte in die Systemauseinandersetzung integriert werden. Die noch vorhandene gesamtdeutsche Option wurde mit dem Konzept verknüpft, daß Wissenschaft in der DDR zum „Vorbild fiir die Wissenschaftler in Westdeutschland" werde.5 - Zwischen politischer und Erkenntnisorientierung wurde ein Junktim hergestellt. Dies geschah zunächst vor allem ex negativo als Kritik an weltanschaulicher Neutralität („Objektivismus") der Wissenschaften. Insbesondere zwei methodologische Vorschriften sollten dazu dienen, die Normen der Wissenschaftler aufzubrechen und zu verändern. Politik verordnete die theoretische, methodische und organisatorische Rezeption der „Sowjetwissenschaft" als fachwissenschaftliches Modell und die materialistische Dialektik als allgemeine Methodologie.6 - Den scientific communities verschrieb Politik Organisations- und Kommunikationsregeln, die ebenfalls den Zweck hatten, bestehende Strukturen und Selbstverständnisse zu verändern. Als Stichworte seien hier genannt: Praxis-Orientierung (versus reine Erkenntnisorientierung), Kollektivität (versus schwer kontollierbares „Einzelforschen"), Interdisziplinarität (versus disziplinare Abschottung), Allseitigkeit (versus segmentierte Problembearbeitung), Meinungsstreit (als Vehikel für marxistisch-leninistische Wortmeldungen). - Die Zwecke, die Politik für Wissenschaft festlegte, waren insbesondere auf vier Handlungsbereiche konzentriert, die sämtlich auf DDR-Probleme Bezug nahmen. Zum einen erwartete Politik wissenschaftliche Beratungsleistungen in den neuen Fragen der Wirtschaftsplanung und -leitung. Zum anderen fragte sie technisch relevantes Wissen für den Binnen- und Außenmarkt nach. Zum dritten war Forschung auf gesundheits- und bildungspolitische Programme abgestellt. Und sie sollte schließlich viertens an der „Erweckung eines neuen sozialistischen Bewußtseins" mitarbeiten.7 Nicht nur Maximen wie diese, sondern auch der dezisionistisch-administrative Modus ihrer Durchsetzung, ihrer Vermittlung charakterisieren diese Phase als Politisierung von oben her. Dem entsprach auf der kognitiven Ebene, daß die systemischen Kategorien des Marxismus-Leninismus sehr viel stärker betont und bemüht wurden (Macht, Klassenkampf, Produktivkräfte etc.) als die lebensweltlichen (wie zum Beispiel Emanzipation, Aufheben von Entfremdung, Ideologiekritik etc.). Auf organisatorischer Ebene entsprach dem die Institutionalisierung wissenschaftspolitischer Apparate, die Wissenschaft - nun vor allem mit der Komponente Forschung - steuerbar machten und steuerten. Diese Apparate wurden in der Partei und im Staat eingerichtet. Im Zentralkomitee der SED gehörten dazu insbesondere die ZK-Abteilung Wissenschaft und Hochschulen (1952, ab 1957 Abteilung Wissenschaften) und die ZK-Arbeitsgruppe Forschung und technische

5 G. Becker. Über die Ursachen der Überlegenheit der sowjetischen Wissenschaft, in: Einheit, 8, 1953, H. 3, S. 293ff. 6 G. Hang: Der weitere Ausbau unseres Hochschulwesens, in: Einheit ,6, 1951, H. 20, S. 1575£f. 7 K. Hager. Unsere Wissenschaft im Dienste des Aufbaus des Sozialismus, in: Einheit, 8, 1953, H. 1, S. 84fF.

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es Gastlektionen, die Politiker abhielten, und Zirkel zum Studium des dialektischen Materialismus für den Lehrkörper. - Einzelne Ministerien etablierten Hybridgemeinschaften, zum Beispiel Wissenschaftliche Beiräte, die den beiderseitigen Transfer - wissenschaftliche Politikberatung, politische Beeinflussung der Wissenschaftler - sicherstellen sollten. - Politik veranlaßte erste geregelte Beziehungen zwischen wissenschaftlichen Einrichtungen und Industrie: beispielsweise Freundschaftsverträge zwischen Universitäten und Betrieben (ab 1950), Partnerschaftsbeziehungen zwischen der Akademie und Betrieben. - Eine zunehmend wichtige Rolle spielten die Parteiorganisationen in den wissenschaftlichen Einrichtungen. Sie hatten die Aufgabe, Diskussionen u.ä. zu politischen Problemsichten und Strategien zu veranstalten; mehr und mehr entwickelten sie sich - auch in Fragen der Personalpolitik - zu Einrichtungen der Binnenkontrolle. Dabei waren sie von Anfang an auch Instrument der Rückkoppelung (Vermittlung von Argumenten und Stimmungslagen der Wissenschaftler an die politische Führung). Zu den Merkmalen der Politisierung gehört vor allem der Versuch, wissenschaftliche Erkenntnisprozesse direkt oder indirekt zu beeinflussen. Das Ziel, politische Wissenschaftsverständnisse in wissenschaftliche Selbstverständnisse zu transferieren, um von daher Paradigmenwechsel einzuleiten, wurde legitimiert mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit, Wissenschaft in den Prozeß der politischen und sozialen Umgestaltung und in den internen und internationalen Klassenkampf einzubeziehen, - als Objekt und als Medium. Dies galt es auf der Theorie-Ebene abzusichern. Zu diesem Zweck intervenierte Politik in erkenntnistheoretische Prämissen (Wahrheitskriterien, methodische Standards), indem sie die eigene Ideologie als Wissenschaftstheorie explizierte und - via Philosophie Grundsatzdebatten initiierte (zum Beispiel Diskussionen über den Materiebegriff, LogikDiskussion, Hegel-Diskussion). Politik intervernierte in Theoriebildung und in wissenschaftliche Aussagesysteme, indem sie Fragestellungen, Kategorien, Hypothesen, Erkenntisse und Ergebnisse privilegierte oder aber sanktionierte (zum Beispiel im Rahmen der Lyssenko-Debatte, den Diskussionen um die Kybernetik, Psychologie oder Quantentheorie). Das ging auf der Mittel-Ebene bis zum Einsatz der Macht zur Entscheidung von Konflikten und Kontroversen (Vorlesungs- und Publikationsverbote, Absetzungen, Verhaftungen; bei Studierenden Überprüfungen und Säuberungen12). In diesen Zusammenhang gehört auch die Blockierung einzelner Forschungsfelder (zum Beispiel Soziologie und empirische Sozialforschung in den fünfziger Jahren) via Förderung-, Personal- und Publikationspolitik. Wenn es in dieser Zeit selbstkritische Auseinandersetzungen mit der Politisierung gab, so blieben sie auf der Ebene der Mittel und Methoden, ohne die grundsätzlichen Intentionen zu problematisieren. Die offizielle Kritik und Selbstkritik, beispielsweise nach dem XX. KPdSU-Parteitag, betrafen den Stil, nicht die Sache.13 Daß es auch um Menschen, um Schicksale ging, haben mit zeitlichem Abstand erst DDR-Schriftsteller in Erinnerung gebracht.14 Die rigide Veränderung von Menschen und Strukturen beabsichtigte und bedeutete u.a. Zerstören. 12 I.-S. Kowalczuk: Volkserhebung ohne „Geistesarbeiter"? Die Intelligenz in der DDR, in: I.-S. Kowalczuk, A. Mitter, St. Wolle (Hg.): Der Tag X - 17. Juni 1953, Berlin 1995, S. 144ff. 13 K. Hager. Für eine verantwortungsbewußte ideologische Arbeit, in: Einheit, 11,1956, H. 9, S. 847ff. 14 E. Förtsch: Literatur als Wissenschaftskritik, in: I. Spittmann (Hg.): Lebensbedingungen in der DDR, Edition Deutschland Archiv, Köln 1984, S. 157ff.

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Ob die Politisierung eine „schöpferische Zerstörung" bewirkte, will ich bezweifeln. Die überwiegend eindimensionalen Beziehungen zwischen Wissenschaft und Politik in dieser Phase hatten zwar durchaus den Effekt, Wissenschaft aus dem Elfenbeinturm - oder, nach der zeitgenössischen Metapher, aus der Festung - herauszuholen, sie offen zu machen für Steuerung. Die Folgekosten jedoch waren hoch; sie wurden nie ganz abgetragen: Eine Handlungsüberlastung der Politik, die sich mit allem und jedem befassen zu müsssen meinte; eine Übertragung der diversen Steuerungskrisen auf Wissenschaft15; deren Kolonialisierung mit dem nicht seltenen Effekt, daß der Output dem Input entsprach, ohne daß sozusagen wissenschaftlicher Mehrwert produziert oder genutzt werden konnte; eine Diskriminierung der Ziele und Werte durch die Mittel.

Ökonomisierung Auch diese Phase hat politisch gesetzte Ausgangsbedingungen, beruht auf entscheidenden politischen Veränderungen zu Beginn der sechziger Jahre. 1960 war die Kollektivierung der Landwirtschaft abgeschlossen. Die verbliebenen privaten Industriebetriebe waren dadurch, daß sie eine staatliche Beteiligung aufnehmen mußten, in das Planungssystem einbezogen worden. Seit dem Mauerbau konnte die DDR ihr Arbeitskräftepotential verfügbar machen. Immer mehr wurde die DDR in das politische, wirtschaftliche, militärische und wissenschaftlich-technische System der sozialistischen Länder integriert. Gezielt und geplant wurden die kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen zur Bundesrepublik gelockert; die Wissenschaftler mußten sich aus gesamtdeutschen Gesellschaften und Tätigkeiten zurückziehen (allerdings blieben, trotz der Politik der „Abgrenzung" seit Ende der sechziger Jahre, „Kooperationsinseln" erhalten wie zum Beispiel und vor allem die Leopoldina16). Der „Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse" machte notwendige Wirtschaftsreformen möglich, allerdings wieder politisch bestimmt und mit Experimentiercharakter. So blieb Episode, was mit dem Einsatz „ökonomischer Hebel" (Gewinn, Preis, Kosten) beabsichtigt war: die Motivation der Betriebsleitungen und Belegschaften zum rentablen Wirtschaften und zur Einführung wissenschaftlicher und technischer Innovationen in den Produktionsprozeß. Nachhaltiger wirkten Neustrukturierungen im Bildungssektor wie etwa oligatorische zehnjährige Schulpflicht und polytechnischer Unterricht. Wissenschaftspolitik setzte nun die „Produktivkraft Wissenschaft" - nach dem Parteiprogramm der SED von 1963 ein gleichrangiger Produktionsfaktor neben Arbeit, Boden oder Kapitalausstattung - als neues Konzept ihres Wissenschaftsverständnisses ein. Das bedeutete einen Vorrang wirtschaftlicher Zwecke für Forschung und Technologie und den 15

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Gewiß ein kleines, aber ein häufig auftretendes Beispiel: Die Nutzung/Überführung wissenschaftlicher Ergebnisse in die Produktion wurde dadurch erschwert, daß Instanzen des Außenhandels die Preise für forschungsinstensive Güter festlegten oder aber Entscheidungen verhinderten. Das Spektrum reichte hier von Maschinenkühlwagen bis zur Baby-Creme. Siehe „Information der ZK-Abteilung Forschung und technische Entwicklung über Probleme bei der Realisierung des Staatsplanes Wissenschaft und Technik" (1973) SAPMO DY 30/ 17372. Ähnliches - mit deutlichem Hinweis auf das Verschleudern von Produkten - wird auch auf der Sitzung des Forschungsrates vom 13. November 1958 thematisiert. Vgl. den Beitrag von K. Macrakis zur Leopoldina im vorliegenden Band.

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Versuch, ökonomische Mechanismen der Wissenschaftslenkung durchzusetzen. In dieser Phase wurden das Prinzip der Auftragsforschung - das heißt Vergabe von Forschungsaufträgen durch Industriebetriebe, staatliche und gesellschaftliche Einrichtungen - und das der auftragsgebundenen Finanzierung - das heißt Forschungsfinanzierung innerhalb vertraglich mit der Industrie vereinbarter Projekte - eingeführt. Im Zuge der intendierten Ökonomisierung von Wissenschaft und Technik wurden neue wissenschaftspolitische Instanzen geschaffen bzw. vorhandene umstrukturiert. Das Staatssekretariat wurde 1967 zum Ministerium für Wissenschaft und Technik aufgewertet. Flankierend dazu erhielt gleichzeitig die ZK-Arbeitsgruppe den Status der ZK-Abteilung Forschung und technische Entwicklung. Ihre Tätigkeit, das zeigen die Protokolle der Arbeitsberatungen17, erstreckte sich nun nicht mehr allein auf Entscheidungsvorbereitung, Anleitung und Kontrolle. Sie begann vielmehr wissenschaftsnäher zu arbeiten: beispielsweise westliche Literatur über brainstorming und über Unternehmensfuhrung (zunächst zum Zweck der eigenen Fortbildung) zu studieren oder durch die Ausarbeitung von „Definitionen" („Was ist Großforschung", „Was sind Pionier- und Spitzenleistungen", „Was ist Verfahrenstechnik" und dergleichen) der Wissenschaftspolitik wenigstens nachträgliche Rationalisierungen beizugeben. Auch das Wissenschaftssystem wurde dem Leitgedanken dieser Phase angepaßt. Mit der Akademiereform18 erhielt die Deutsche Akademie der Wissenschaften - seit 1972 Akademie der Wissenschaften der DDR/AdW - den Status einer zentralen Großforschungseinrichtung im Bereich von Natur- und Technikwissenschaften, Medizin, Mathematik und Sozialwissenschaften. Die Dritte Hochschulreform brachte eine Neugliederung der Studiengänge, neue Studienprogramme und -inhalte; bisher noch relativ autonome Institute und Fakultäten wurden in Sektionen zusammengefaßt und der Universitätsleitung unterstellt. Seit Ende der sechziger Jahre sollten Industriebetriebe und Wissenschaft in Großforschungszentren bzw. Großforschungsverbänden institutionell verklammert und auf diese Weise die Absicht durchgesetzt werden, Forschung den Produktionsinteressen der Industrie unterzuordnen. Die von Politik in Wirtschafts- und Wissenschaftsplänen thematisierten Forschungsprioritäten waren nun sowohl auf nachholende Modernisierung als auch auf perspektivische „entwicklungsbestimmende Schwerpunkte" konzentriert. Für die Wissenschaftsund Technikprogramme bedeutete das - in ziemlich bunter Mischung - insbesondere: - Vorrangig sollten Produktivitätsrückstände aufgeholt werden durch Mechanisierung, Automatisierung, Übergang zur Großserienfertigung in der Industrie, Verkürzung der Projektierungs- und Entwicklungszeiten für neue Produkte und Herstellungsverfahren, Herstellung von Rationalisierungsmitteln etc. - Im Investitionsschwerpunkt Chemie sollten Technologien zur Verwertung der einheimischen Braunkohle sowie petrochemischer Produkte entwickelt werden. - Neben Maschinenbau, Optik und Elektroindustrie wurde schon 1962 Mikroelektronik als Forschungs- und Produktionsfeld gefördert. - Zur Lösung des in der DDR besonders dringlichen Energieproblems sollten Forschung und Technik neue Energiequellen und Verfahren der Energieumwandlung, -Übertragung und -einsparung erschließen.

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Siehe Anmerkung 6. Vgl. die Beiträge von P. Nötzoldt und H. Laitko in diesem Band.

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- Die Grundlagenforschung war auf Gebiete gelenkt wie Kernenergie, Halbleiter, neue Werkstoffe, Elektrochemie, Fotochemie und Fotobiologie, Genetik, Gesundheitsforschung. Diese Prioritäten blieben von nun an einigermaßen konstant. Strukturelle Experimente hingegen fanden ein Ende mit Beginn der nächsten Phase (die Einrichtung von Großforschungszentren etwa oder die Wirtschaftsreformen im Zeichen des „Neuen Ökonomischen Systems"19).

Modernisierungspfad in der Ära Honecker In dieser, der letzten Phase - die ich weniger historisch als systematisch darstellen will, gleichsam als Resümee der Wissenschaft- und Technologiepolitik - sollte eine „Schlüsselrolle von Wissenschaft und Technik" für die Modernisierung der DDR realisiert werden. Vor dem Hintergrund dieses Konzepts waren nun die politische Steuerung und die ökonomische Instrumentalisierung einerseits auszubalancieren mit Bedingungen wissenschaftlicher Leistungsfähigkeit und technischer Innovationen andererseits. Um dies zu leisten, wurde Wissenschafts- und Technologiepolitik schließlich, zugespitzt formuliert, als Oligopol organisiert: Akteursebene

Handlungsgegenstand

Zentrale Politikinstanzen (Politbüro, ZK-Sekretariat, Ministerrat)

Entscheidung über allgemeine Ziele, Funktionen, Normen und Prioritäten von Forschung und Technik

Wissenschaftspolitisches Oligopol (Repräsentanten und Bürokratie-Spitzen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft)

Definition von Strategien der Problemlösung (Wissenschaftsprogramme und -organisation, Förderungs- und Transfermechanismen)

Forschungsträger (Einrichtungen, communities, HybridgemeinSchäften)

Produktion von Mitteln und Ressourcen (Erkenntnisproduktion, Diffusion und Verwertung des Wissens und der Innovationen)

Um dieses Beziehungs-Muster funktionstüchtig zu machen und zu halten, wurden als Maximen zur Anwendung gebracht: - Die zentralen Politikinstanzen handelten mit hohem Autonomie-Anspruch. In ihren Entscheidungen kam Öffentlichkeit als Akteur nicht vor; sie war als lebensweltliche Ressource nur Objekt. Damit fehlte eine Möglichkeit der Korrektur. - Politik versuchte, Entscheidimg und Verantwortung (einschließlich Verantwortung für wissenschaftliche Standards und technische Kriterien) zu trennen. Sie versuchte auch, die 19

Vgl. den Beitrag von H. Laitko in diesem Band.

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Reichweite ihrer Entscheidungen zu differenzieren, etwa gegenüber Natur- und Technikwissenschaften einerseits und Gesellschaftswissenschaften andererseits mit unterschiedlicher Steuerungsdichte zu arbeiten.20 - Auf der zweiten Ebene sollten die diversen Problemsichten und Interessen der Teilsysteme abgestimmt und ausgehandelt werden; das sollte Rationalität garantieren. Leistungshemmend blieb indes, daß im Konfliktfall weiterhin politisch-bürokratische Normen und Kriterien vor und über wissenschaftlichen und wirtschaftlichen rangierten. - Wissenschafts- und technikpolitisches Handeln hatte auf allen Ebenen höchst unterschiedliche Aspekte zu vermitteln (z.B. internationale Spitzenleistungen und -Standards und zugleich enge Anbindung der Forschung an ad-hoc-Interessen der DDR-Industrie; langfristige Planungen und kurzfristige Erwartungshaltungen; Wissenschaft als Modernisierungs- und als Reparatur-Instanz). - Politisch vorentschieden war die Struktur, die parallele Existenz der Forschungsträger. Die Wissenschaftsorganisation der DDR begünstigte - trotz hohen Planungs- und Koordinierungs-Aufwands - die Segmentierung von Problemlösungen, von Forschungsfeldern, von Sequenzen der wissenschaftlichen Arbeit, von Innovationsgeschehen. Die Institutionen und Instrumente der Wissenschafts- und Technologiepolitik hatten es mit vier ziemlich separaten Forschungssektoren zu tun. Im außeruniversitären Bereich war die AdW mit insgesamt rund 24.000 Beschäftigten größter Forschungsbetrieb. Sie leistete - wie auch, mit Unterschieden, die Akademie der Landwirtschaftwissenschaften und die Bauakademie - neben Grundlagenforschung vor allem anwendungsorientierte Forschung im Staatsauftrag oder im Auftrag der Industrie. An den über 50 Universitäten und Hochschulen lag der Forschungsanteil geringer, blieb aber in renommierten Einrichtungen relevant. Mit rund 85.000 Beschäftigten stellte die Industrieforschung das größte Kontingent. Die betriebliche FuE in den Kombinaten - FuE-Stellen, Forschungszentren und Forschungsbetriebe - sollte der Intention nach das gesamte Spektrum von „zweigspezifischer Grundlagenforschung" bis zur Entwicklung abdecken; in der Praxis jedoch dominierten Konstruktion und Entwicklung. In den parteieigenen Großinstituten - Parteihochschule, Akademie für Gesellschaftswissenschaften, Zentralinstitut für sozialistische Wirtschaftsführung, Institut für Marxismus-Leninismus - wurde politiknahe gesellschaftswissenschaftliche Forschung und Lehre betrieben; für diesen Bereich waren die ZK-Institute auch so etwas wie Theorie-Polizei. Die wissenschaftspolitischen Apparate auf der zweiten Akteursebene - insbesondere die ZK-Abteilungen Wissenschaften sowie Forschung und technische Entwicklung, Ministerium für Wissenschaft und Technik, Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen, Staatliche Plankommmission - hatten Bestand. Zumindest in einem Teilsektor jedoch ist ein Perspektivenwechsel, vielleicht auch ein Funktionswandel erkennbar. In den letzten Jahren der DDR scheint die ZK-Abteilung Wissenschaften nicht mehr allein Transmissionsinstrument von oben nach unten, sondern auch „Frühwarnsystem" im Interesse von Wissenschaft gewesen zu sein. Im Aktenbestand „Büro Hager"21 finden sich nicht nur zahlreiche 20

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Kurt Hager hat das in einem Interview mit K. Macrakis (Berlin 10.8.1993) mit den Bemerkungen auf den Punkt gebracht: „Größere selbständige Rolle" der AdW in Natur- und Technikwissenschaften (Entscheidung über Forschungsvorhaben, Abstimmung mit Ministerium für Wissenschaft und Technik und mit der Partei); „Während die Leitung der Gesellschaftswissenschaften unmittelbar bei uns lag". SAPMO DY 30/ 38507. In einer Vorlage (verfaßt vom AdW-Präsidenten W. Scheler, dem Vorsitzenden der Plankommission G. Schürer und dem Minister für Wissenschaft und Technik H. Weiz) für den Mini-

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Mónita und Forderungen der AdW-Spitze über Jahre hindurch, wie zum Beispiel: Besorgnis, daß die Grundlagenforschung abgeschnitten werde; Bitten um Unterstützung in Sachen westlicher Geräteimporte; Beschwerden über die Reduzierung von Investitionsmitteln durch die Staatliche Plankommission; der Hinweis, die AdW könne sich aufgrund defizitärer Forschungsausrüstung „mit einem zunehmenden Teil ihrer experimentellen Ergebnisse nicht mehr der internationalen wisenschaftlichen Öffentlichkeit stellen". Die ZK-Abteilung machte dies zu ihrer Sache. In einer für Honecker bestimmten Information vom 23. 8. 1988 listet sie etwa, durchaus wertend, dringende Probleme der Wissenschaftsentwicklung der DDR auf. Das liest sich wie die kritischen Analysen nach dem Zusammenbruch: Defizite in der Wissenschaftstrategie; Gefahr, daß DDR-Wissenschaft international „in die zweite Reihe abgedrängt wird"; Innovationszwänge „sind in der Industrie zu schwach wirksam"; Mittelmaß im Niveau und „Deformation des Wissenschaftspotentials"; zunehmende Nachwuchsprobleme „angesichts sinkender Attraktivität des wissenschaftlichen Schaffensprozessses". Die Vorschläge - bessere Mittelausstattung für Forschung; Schallung eines neuen, speziellen Staatsplanes der Grundlagenforschung; „mehr Eigenverantwortung für die Forschung" an die AdW „sowie die Wissenschaftler selbst" zu übertragen - blieben freilich Papier. Die politische Führung der DDR war zu ernsthaften Korrekturen der Wissenschaftspolitik nicht bereit und wohl auch nicht fähig. Doch sehe ich in der offenen, unspektakulären Problembeschreibung zumindest einen Wandel im Selbstverständnis einzelner Apparate; - und dies bei hoher personeller Kontinuität (die Leiter der beiden einschlägigen ZK-Abteilungen, Hörnig und Pöschel, waren immerhin von Anfang bis Ende auf ihrem Posten). Planungen und Pläne waren in dieser Phase die wichtigsten Verfahren wissenschaftspolitischer Steuerung. Ihre Träger - die o.a. Apparate sowie AdW-Präsidium, Forschungsrat, Kombinatsdirektoren - bildeten das Oligopol. Die Pläne - vor allem der Staatsplan Wissenschaft und Technik, die Pläne Wissenschaft und Technik der einzelnen Kombinate und Betriebe, die Forschungspläne der wissenschaftlichen Großeinrichtungen - enthielten insbesondere: FuE-Aufgaben, Relevanzkriterien, technische und ökonomische Parameter, Aufgaben der Vermarktung, Verteilung der Beschäftigten und der Mittel. Komplexe hochund vorrangige Projekte waren in „Staaatsaufträgen" festgeschrieben. Inhaltlich war die Planung breit und tief gestaffelt. Der Staatsplan Wissenschaft und Technik 1989 umfaßte ein Vorhaben-Spektrum, das von Fertigungsverfahren für Kinderhosen bis zum 4-MegabitSpeicher, von Kosmetikserien bis Rauchgasentschwefelung, von Arzneimitteln bis zur biologischen Schädlingsbekämpfung reichte.22 Zwar gab es an den Akademien und Hochschulen auch Frei- und Spielräume für ungeplante, selbstthematisierte Forschung, die genutzt wurden. Doch bestimmte zentrale Forschungsplanung (zu der das Oligopol beitrug) und deren Aufschlüsselung für die einzelnen

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sterrat „Analyse des Niveaus, des Umfangs und der Nutzung der Forschungstechnik in der Akademie der Wissenschaften der DDR mit Schlußfolgerungen" werden z.B. die Altersgruppen der DDR-Forschungstechnik aufgelistet. Danach waren 1986 bei den Großgeräten (über 100 000 Mark) 15 % über 10 Jahre und 19 % über 15 Jahre alt; bei Normalgeräten (unter 100 000 Mark) waren 52 % älter als 10 oder 15 Jahre. Vgl. Protokoll der Politbüro-Sitzung vom 18.4.1989, Anlage 13 .Aufgaben des Staatsplanes Wissenschaft und Technik, die zu Ehren des 40. Jahrestages der DDR mit höherer volkswirtschaftlicher Effektivität produktionswirksam werden". SAPMO DY 30/ JIV/ 2/ 2-2325.

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Forschungsträger bis zum Schluß die Beziehungen zwischen den Teilsystemen. Erfassung und Kontrolle der Ergebnisse - entlang der Pläne - bürokratisierte Wissenschaft zusätzlich und verführte zu falschen Bewertungen: Schließlich war es üblich geworden, ca. die Hälfte der FuE-Aufgaben dem „internationalen Spitzenniveau" zuzurechnen, obwohl dem faktisch nur eine viel kleinere Untermenge entsprach. Die Verbindung zwischen Forschung und Industrie war durch „Wirtschaftsverträge" geregelt, die Ziele, Gegenstände, Formen und Bedingungen der Zusammenarbeit im Detail festlegten. Die Kombinate traten hier als Auftraggeber und Finanzier auf: Die Bezahlung von FuE-Leistungen durch die Industrie galt - neben Haushaltsfinanzierung der Grundlagen- und der gesellschaftswissenschaftlichen Forschung - als „Hauptweg" der Förderung. Unter der amtlichen Parole „Ökonomisierung der Forschung" sollte Industrie so direkt Einfluß auf Wissenschaft und Technik nehmen und sie in ihren Dienst stellen. Die Verträge sollten gleichzeitig sichern, daß die Industrieforschung qualifiziert, Herstellungsverfahren rationalisiert („Verwissenschaftlichung der Produktion") und wechselseitige Empathien in die Beziehungen Wissenschaft-Technik-Wirtschaft eingeführt würden. Mochte sich auch das politisch-administrative System eine Entlastung versprochen haben, indem es Steuerungskompetenzen auf die Wirtschaft übertrug, so blieben doch die Beziehungen zwischen Wissenschaftspolitik und ihrem Gegenstand weiterhin überwiegend politisch geregelt. Das gilt für die Rekrutierung, für die Lösung von Konflikten, für die Mechanismen der Kontrolle, für die Leistungsanreize, für die Bedingungen der Kommunikation. Einerseits zum Beispiel stattete Politik Wissenschaftler mit Reputation und - materiellen wie immateriellen - Privilegien aus, um Leistung zu stimulieren (und sicherlich um Wohlverhalten zu belohnen). Andererseits war aber auch die internationale Abschottung politisch verantwortet. Zwar bestanden teilweise enge Kooperationsbeziehungen zu „sozialistischen Bruderländern". Doch mußten alle internationalen Kontakte den Filter amtlicher Verträge passieren. Zwar verhalfen nicht zuletzt deutsch-deutsche Verträge wie vor allem die Abkommen über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit, über Kultur, über Umwelt - zu Öffnungen. Doch wurde das politische Monopol, über internationale Kooperationen und Kontakte zu entscheiden, weiter restriktiv gehandhabt (Stichwort: Reisekader, ein mit erheblichem politisch-bürokratischen Aufwand verbundenes Auswahl- und Genehmigungsverfahren23). Zusätzlich behinderte eine rigide Geheimnisschutz-Politik grenzüberschreitende Kommunikationen und nicht zuletzt die Informationsflüsse im Lande selbst. Wissenschafts- und technikrelevant waren beispielsweise - die politische Kompetenz, den Zugang zu Betrieben und Instituten für „Betriebsfremde" zu regeln - die strafrechtliche Sanktionierung „landesverräterischer Nachrichtenübermittlung" (bezogen auch auf Nachrichten, die nicht der Geheimhaltung unterliegen) und „ungesetzlicher Verbindungsaufnahme" (bezogen auch auf die Verbreitung von Nachrichten oder Manuskripten im Ausland, „die geeignet sind, den Interessen der Deutschen Demokratischen Republik zu schaden")

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Die Protokolle des ZK-Sekretariats machen die aufwendigen Prozeduren kenntlich. Teilweise waren vier oder fünf ZK-Abteilungen mit der Genehmigung einer Auslandsreise in das kapitalistische Ausland beschäftigt; die ZK-Sekretäre (sämtlich Mitglieder des Politbüros) hatten dies zudem noch im Umlaufverfahren zu bestätigen. Vgl. SAPMO DY 30/ JIV2/ 3A/4806.

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- die Strafdrohung für das „unbefugte Offenbaren geheimzuhaltender wirtschaftlicher, technischer oder wissenschaftlicher Tatsachen sowie Informationen über Forschungs- und Entwicklungsergebnisse, Technologien oder Verfahrensweisen" (einschließlich „Bedienungsanweisungen und -anleitungen, das sogenannte Know-how, und sachliche Produkte wie beispielsweise Reagenzien") - die Ministerrats-Verordnung von 1982, der zufolge Umweltdaten streng selektiert und sekretiert werden mußten. Es entbehrt nicht der Paradoxie, daß trotz derartiger Bedingungen die Weltwirtschaft und internationale Wissenschafts- und Technikstandards mit großer Selbstverständlichkeit als Orientierungsmarken für FuE galten. Von „Schlüsseltechnologien" und „internationalen Spitzenleistungen" machte das politische System das Erreichen seiner allgemeinen Ziele abhängig: internationale Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten zu erhalten; im Systemwettbewerb vor allem gegenüber der Bundesrepublik zu bestehen; durch verbesserte Versorgung der Bevölkerung mit Waren, Dienstleistungen und Sozialpolitik politische und soziale Stabilität herzustellen. Die wissenschafts- und technikpolitischen Prioritäten, von diesen Zielen abgeleitet, waren gleichfalls von Anwendungsfeldern her bestimmt. Im ab 1986 laufenden Fünfjahrplan waren die wissenschaftlichen und technischen „Hauptrichtungen" verbindlich und mit Gesetzescharakter festgeschrieben. Dazu gehörten, grob klassifiziert, drei Programm-Kategorien: - Hochtechnologie-Projekte wie Mikroelektronik, Lasertechnik, computergesteuerte Produktionsvorbereitung und Fertigung, Automatisierungstechnik, neue Werkstoffe, Biotechnologie (einschließlich Gentechnik für Medizin, Lebensmittelproduktion, Landwirtschaft und Verfahrenstechnik) - Projekte der normal science wie Energieforschung, Gesundheitsforschung und Medizintechnik, technische Konsumgüter - DDR-spezifische Projekte der Umweg- und Substitutionsforschung, der Nachentwicklung, der Arbeit an hauseigenen Problemen wie insbesondere die Verwertung und Umwandlung von Braunkohle im Energie- und Chemiesektor. Schon zu dieser Zeit, insbesondere aber nach der „Wende" konstatierten Beobachter, daß trotz der im ganzen nicht gerade forschungsfreundlichen Bedingungen Wissenschaftler in der DDR auf einzelnen Gebieten wichtige, international hervorragende Forschungsleistungen erbracht hatten. So etwa in Werkstoflwissenschaften und Materialforschung; Festkörper-, Halbleiter-, Astro- und Plasmaphysik; Optik und Laserforschung; Molekularbiologie und Pflanzengenetik; Polymeren- und Kolloidchemie; Mathematik; Ernährungsforschung; Geowissenschaften; ferner bei speziellen geisteswissenschaftlichen Problemen und Projekten.24

24

Vgl. R. H. Brocke, E. Förtsch: Forschung und Entwicklung in den neuen Bundesländern 1989-1991, Stuttgart 1991, Kapitel 6: Feststellung von Outputs und Excellenzen. Es wäre eine interessante Untersuchungsaufgabe, im Detail festzustellen, welche herausragende Leistungen wegen und welche trotz der Forschungspolitik erbracht wurden.

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Eckart Förtsch

Schluß: Das Dilemma der Modernisierung in der DDR Viele, die meisten dieser Forschungsleistungen lagen gleichsam auf Halde; sie konnten ein Innovationsgeschehen nicht bestimmen. Mindestens zwei entscheidende Bedingungen fehlten.25 Zum einen verlief der Auswahl- und Transformationsprozeß nicht nach wirtschaftlichen Kriterien: Innovationsdruck von den Märkten her war nicht zugelassen, zwischenbetrieblichen Wettbewerb gab es nicht. Zum anderen waren die soziokulturellen Voraussetzungen von Innovation unzureichend entwickelt: Es mangelte an Organisations- und Kommunikationsstrukturen, die Teilautonomien von Subsystemen hätten grantieren können; Motivation, Leistungsbereitschaft und Arbeitsdsziplin waren häufig fehlgelenkt. Hinzu kamen der Strukturkonservatismus und die immer geringere Flexibilität einer am Schluß gelähmten Politik. Da systemische und lebensweltliche Korrekturinstanzen und verfahren nicht bestanden, zentralisierten und verstärkten sich politische und wirtschaftliche Defizite, Fehler, Irrtümer. Nicht nur technisch-instrumentelles Wissen blieb vor dem Hintergrund dieser Konstellation ungenutzt. Auch und gerade Wissen, das Politik als diese kritisierte, die Krisen zum Thema machte und Veränderungen vorschlug - ein Wissen, das vor allem in der lebensweltlichen Opposition, auch ansatzweise in Teilen des Wissenschaftssystems selbst erabeitet worden war -, konnte und durfte nicht wirksam werden.26 Diese Verkürzung war das charakteristische Merkmal der Modernisierung a la DDR. Einerseits forderte und forderte das politische System einen kontrollierten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wandel, eine Anpassung von Werten, Normen, Strukturen und Beziehungen an die wissenschaftlich-technische Dynamik. Es stilisierte den „wissenschaftlich-technischen Fortschritt" gleichsam zum Subjekt gesellschaftlicher Entwicklung und propagierte dessen alternativlose und unbegrenzte Entfaltung. Es praktizierte auch selbst, etwa im Oligopol und in den Steuerungsmodi, eine derartige Anpasssung. Andererseits aber blieb es, wirkte es, verstand es sich als Suprematie über die Gesellschaft und damit als Limitierung gesellschaftlicher Aktivitäten und Kreativitäten. Wo es die „Machtfrage" gestellt sah (also praktisch überall und stets), schränkte es Modernisierung ein. Ergebnis waren die ökonomischtechnologische Performanzkrise, die Legitimations-, Steuerungs- und Orientierungskrise, die das gesamte System schließlich zur Implosion brachten. In der kurzen Zeit, die zwischen dem Zusammenbruch der DDR als System und dem Ende der DDR als Staat blieb, gab es bemerkenswerte Ansätze, die Wissenschafts- und Forschungspolitik zu reformieren und auf neue Grundlagen zu stellen. Eckwerte wie Autonomie und Selbstverwaltung der Forschung, Freiheit der Wissenschaften und der wissenschaftlichen Einrichtungen, Wettbewerb und Universalismus, Berufungen nach Fachkompetenz, demokratisch legitimierte Strukturen, fachliche und soziale Mitbestimmung der Beschäftigten sollten die neue Forschungslandschaft bestimmen. Dies mit dem erklärten Ziel, internationale Standards durchzusetzen. Vorantreiben wollten diesen Prozeß neue Einrichtungen der wissenschaftlichen Selbstorganisation vor allem in der AdW (Runde

25 26

F. Klinger. Die Probleme der Intensivierung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und seine ökonomische Nutzung, Manuskript, Berlin 1989. E. Förtsch: Die bedrohliche Produktivkraft, in: G.-J. Glaeßner (Hg.): Die DDR in der Ära Honecker. Politik-Kultur-Gesellschaft, Opladen 1988, S. 563ff.

Wissenschafts- und Technologiepolitik

in der DDR

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Tische, Rat der Institutsvertreter etc.) sowie neue selbständig erarbeitete Universitätssatzungen (beispielsweise Leipzig mit dem Konzept einer Viertelparität). Diesem Prozeß fehlten Erfahrungen, Zeit und finanzielle Ressourcen, oft Bezugspersönlichkeiten im Wissenschaftssektor, in jedem Falle öffentliche Unterstützung im Lande und durch die Bundesrepublik. So kam die Ablösung des alten Wissenschaftssystems weniger von innen her als vielmehr durch einen Systemtransfer zustande. Ob dabei Chancen einer Neuordnung des nun Ganzen verpaßt wurden (und ggf. welche), bedarf eigener Untersuchungen und eines reflexiven Vorgehens, wie es etwa der Wissenschaftsrat in seinen Zwölf Empfehlungen vom Juli 1990 vorgeschlagen hatte: „Insgesamt gesehen kann es nicht einfach darum gehen, das bundesdeutsche Wissenschaftssystem auf die DDR zu übertragen. Vielmehr bietet der Prozeß der Vereinigung auch der Bundesrepublik Deutschland die Chance, selbstkritisch zu prüfen, inwieweit Teile ihres Bildungs- und Forschungssystems der Neuordnung bedürfen". Dem zu entsprechen, hieße aber, ein ganz anders gelagertes Modernisierungsdilemma zum Thema zu machen.

HUBERT LAITKO

Das Reformpaket der sechziger Jahre wissenschaftspolitisches Finale der UlbrichtÄra

Einleitende Bemerkungen Die sechziger Jahre waren in der DDR eine Periode einschneidender Wandlungen in der institutionellen Basis der Wissenschaft, „eine Periode besonders intensiven organisatorischen Gründungshandelns ... Der sich in jenen Jahren abzeichnende Übergang zum überwiegend intensiven Wirtschaftswachstum ließ den Bedarf an verwertbaren Forschungsergebnissen sprunghaft ansteigen. Er zwang die politische Führung letztlich, ihre Vorstellungen zur Wissenschafts- und Forschungspolitik von Grund auf zu überdenken"1. Dies bemerkten Werner Gruhn und Günter Lauterbach 1977 und konstatierten, inzwischen sei eine „Phase relativer Stabilität" eingetreten, so daß eine „Bestandsaufnahme der Forschungsorganisation in der DDR" möglich werde.2 In den sechziger Jahren formte sich im wesentlichen jene Institutionalgestalt der Wissenschaft und ihrer Verbindungen mit anderen Sektoren der Gesellschaft, die zum Ende der DDR noch vorhanden war und die soziale Grundlage für die Ergebnisse und Defizite der in diesem deutschen Staat geleisteten wissenschaftlichen Arbeit bildete. Daher ist die Analyse dieses Zeitabschnitts für das Verständnis der Wissenschaftsgeschichte der DDR von zentraler Bedeutung. Der vorliegende Beitrag ist eine Skizze der wichtigsten Tendenzen dieser Zeit; er kann die einzelnen Maßnahmen, die damals konzipiert und realisiert wurden, nicht in allen Details darstellen, sondern legt das Hauptgewicht auf ihren Zusammenhang, ihre Gemeinsamkeiten und ihren historischen Sinn. 1996 ist es für einen deutschen Autor noch sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, zu diesem Thema eine Haltung neutraler Objektivität einzunehmen. Das Faktum des Untergangs der DDR und die dominierende Bewertung dieses Faktums in der gegenwärtigen deutschen öffentlichen Meinung ist auch für den Historiker Quelle der suggestiven Versuchung, die Geschichte der DDR von ihrem Ende her und damit teleologisch zu betrachten. Es besteht eine sehr weitgehende Übereinstimmung dahingehend, daß der Hauptgrund für den Kollaps der DDR in der ihrer gesellschaftlichen Ordnung zugrundeliegenden Tendenz bestand, das soziale Leben von einem Machtzentrum aus umfassend und deterministisch zu 1 W. Gruhn, G. Lauterbach. Die Organisation der Forschung in der DDR, in: Das Wissenschaftssystem in der DDR, hg. vom Institut für Gesellschaft und Wissenschaft (IGW), Erlangen 1977, S. 114. 2 Ebenda, S. 116.

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steuern - eine Tendenz, die der Komplexität und Innovativität moderner Gesellschaften zuwiderläuft. Deshalb konzentriert sich die Aufmerksamkeit der meisten Historiker und Publizisten darauf, in der Geschichte der DDR die Linie fortgesetzter Perfektionierung der zentralistischen Steuerung hervorzuheben, sie in allen Verästelungen zu verfolgen und ihre krassesten Phänomene besonders eingehend zu behandeln. Dieser Umstand findet seinen Ausdruck in einer Verschiebung des paradigmatischen Rahmens, in dem DDR-Geschichte betrachtet wird. Der exzessive Gebrauch des Totalitarismus-Konzepts, die Selbstverständlichkeit, mit der vielfach die DDR-Gesellschaft als insgesamt „stalinistisch" etikettiert wird (während vorher westliche Autoren vielfach bereit waren, seit dem XX. und besonders seit dem XXII. Parteitag der KPdSU der UdSSR und in der Folge auch der als ihr „Juniorpartner" verstandenen DDR „Entstalinisierung" zuzubilligen3), bedeutet eine gewisse Rückkehr zu den polemischen Wahrnehmungs- und Interpretationsmustern der fünfziger Jahre. In den siebziger und vor allem in den achtziger Jahren hatte sich die „Ostforschung", die „DDR-Forschung" bzw. die „vergleichende Deutschlandforschung" in der Bundesrepublik Deutschland schon weit von diesen Mustern entfernt gehabt. Ein bemerkenswertes Beispiel für das erreichte Niveau ist das bis heute unübertroffene Standardwerk „Vergleich von Bildung und Erziehung in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik", das im Auftrag des damaligen Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen erarbeitet und von einer Wissenschaftlichen Kommission unter Leitung von Oskar Anweiler herausgegeben worden war.4 Das Buch wurde nicht in Erwartung der deutschen Vereinigung geschaffen; es widerspiegelt die in westdeutschen Fachkreisen unter den Verhältnissen der deutschen Zweistaatlichkeit verbreiteten Auffassungen, kam aber auf den Markt, als die Vereinigung absehbar oder bereits vollzogen und die seiner Darstellung eigene zurückhaltende Sachlichkeit kaum mehr gefragt war. Einleitend bezieht sich Anweiler auf die früher bei solchen Vergleichen häufig angewandten konträren gesellschaftstheoretischen Schemata - das Totalitarismus-Konzept und das Industriegesellschafts-Konzept - und bemerkt, „daß Makromodeile des genannten Typs nur bestimmte Aufgaben und Funktionen von Bildung und Erziehung in der Gesellschaft zureichend erfassen können, andere Seiten jedoch vernachlässigen"5. Daher habe die vergleichende Bildungsforschung „auf eine direkte Ableitung ihrer Fragestellungen und Kriterien aus derartigen Makromodellen zunehmend verzichtet. Gerade für den intersystemaren Vergleich erweist es sich als fruchtbarer, von bestimmten Funktionen institutionalisierter Bildung und Erziehung auszugehen und deren Rolle und Ausprägung in unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen zu bestimmen"6. Der vorliegende Beitrag versucht - ganz im Sinne des von Anweiler formulierten methodologischen Vorbehalts - , sich weder explizit noch implizit von einem einzigen gesellschaftstheoretischen Makromodell leiten zu lassen, doch er macht beim Entwurf eines Bildes, das allein historisch integriert 3

So schrieb der prominente westdeutsche DDR-Forscher Peter-Christian Ludz 1968: „Die utopischen Träume in bezug auf die DDR ebenso wie die Deutung der DDR als stalinistisches Residuum werden von der DDR-Forschung heute fast einhellig abgelehnt." P.-Ch. Ludz: Aktuelle oder strukturelle Schwächen der DDR-Forschung? in: Deutschland-Archiv, 1, 1968, H. 4, S. 255. 4 Vergleich von Bildung und Erziehung in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik. Materialien zur Lage der Nation, hg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Wissenschaftliche Kommission unter Leitung von O. Anweiler, Köln 1990. 5 Ebenda, S. 3. 6 Ebenda.

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ist, an verschiedenen Stellen von Begriffen Gebrauch, die systematisch zu unterschiedlichen Konzepten gehören. Wenn in den Diskussionen der sechziger Jahre bei der Beurteilung sozialistischer Gesellschaften7 das auf eine radikale Kontrastierung der Gesellschaftsformen angelegte Totalitarismus-Konzept zunehmend von dem Ähnlichkeiten akzentuierenden und die Frage nach möglichen Konvergenzen anregenden Industriegesellschafts-Konzept8 in den Hintergrund gedrängt wurde, so war das nicht primär eine Frucht der politischen Entspannung. Vielmehr zeigte sich seit spätestens Mitte der fünfziger Jahre weltweit das Heranreifen eines grundlegenden Wandels in der technischen Basis des menschlichen Lebens, der die Bedingungen für Wirtschaft und Politik systemübergreifend zu verändern begann und für den damals verschiedene Bezeichnungen (zweite industrielle Revolution, technische Revolution, wissenschaftlich-technische Revolution9) probeweise verwendet wurden. Die konträren Gesellschaften, die einander um 1960 konfrontativ gegenüberstanden, wurden damit objektiv in ein kompetitives Verhältnis zueinander gezwungen. Die Ambivalenz von Konfrontation und Wettstreit wurde zum Signum der Weltgesellschaft in den sechziger Jahren. Der Ambivalenz des äußeren Verhaltens entsprach in den sozialistischen Ländern nach innen die Ambivalenz von Zentralismus und Innovativität. Mit ihren Reformen nahm die DDR die Herausforderung zum Wettstreit an. Sie waren ein Versuch beherrschter innergesellschaftlicher Innovation oder, paradoxer ausgedrückt, ein Versuch, das Nichtprogrammierbare zu programmieren. Die innere Spannung, die diesem Ansatz innewohnte, erklärt die häufigen Schwankungen des Prozesses, die im Alltagsleben als irrationaler Wechsel von „Liberalisierung" und „Verschärfung" des politischen und ideologischen Kurses wahrgenommen wurden. Die sechziger Jahre schlössen die erste Hälfte der historischen Existenz der DDR ab. Die Möglichkeiten dieser geschichtlichen Periode haben nicht organisch ausreifen können, sondern sind in erheblichem Maße politisch gestoppt und abgebrochen worden. Wie Hermann Weber schreibt, begann mit der Absetzung Walter Ulbrichts im Mai 1971 „einer der tiefsten Einschnitte der DDR-Entwicklung"10. Die Tiefe des Bruches ist den Zeitgenossen wohl kaum bewußt geworden, zumal sie ideologisch durch Kontinuitätsphrasen überdeckt wurde. Wenn man das Urteil von Weber akzeptiert, dann ist es naheliegend, die sechziger Jahre nicht vorbehaltlos als einen Schritt zum Ende hin zu deuten, sondern - zumindest auch - als eine durch politische Entscheidung verlassene Entwicklungsoption. Interesse verdienen nicht nur die weiter entfalteten Machtstrukturen, sondern zugleich auch die unter der direktiven Einwirkung dieser Strukturen generierten Entwicklungspotentiale.

7

Die Termini „Sozialismus" bzw. „sozialistisch" beziehen sich in diesem Text ausschließlich auf das artikulierte Selbstverständnis der betreffenden Gesellschaften und haben keinerlei wertende Konnotationen. 8 H. Freyer, J. Filipec, L. Bossle: Die Industriegesellschaft in Ost und West. Konvergenzen und Divergenzen, Schriftenreihe des Instituts für Staatsbürgerliche Bildung in Rheinland-Pfalz 5. Pädagogische Arbeitsstelle für Ostfragen, Ingelheim/Rh. 1966. 9 Man, Science, Technology. A Marxist Analysis of the Scientific- andTechnological Revolution, Moscow Prague 1973. 10 H. Weber. DDR: Grundriß der Geschichte. 1945-1990, vollständig Überarb. und erg. Neuaufl., Hannover 1991, S. 129.

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Der politische Kontext der Reformen Weltgeschichtlich bildeten die späten fünfziger und die sechziger Jahre den Kulminationspunkt des Kalten Krieges, in dem die Blockkonfrontation bis an den Rand eines dritten Weltkrieges eskalierte (Kubakrise, Vietnamkrieg), und die Zeit der beginnenden Deeskalation (Kernwaffensperrvertrag). Die beiden deutschen Staaten, die ungeachtet der mit der Rücknahme des jeweiligen Besatzungsregimes gewonnenen staatlichen Souveränität voll in die einander gegenüberstehenden Wirtschafts- und Militärblöcke integriert waren, vollzogen diese konfrontative Bewegung mit, die in ihrem Verhältnis zueinander auf radikalste Weise zum Ausdruck kam. In der offiziellen Propaganda zeichneten beide voneinander Zerrbilder; jeder beklagte in seinen ideologischen Bekundungen den Verlust der nationalen Einheit als ein unerträgliches Defizit, jeder schob der jeweils anderen Seite die Alleinschuld daran zu, jeder beteuerte sein Streben nach Wiederherstellung der deutschen Einheit, und jeder erklärte sich zum Alleinvertreter des ganzen deutschen Volkes. DDR und Bundesrepublik Deutschland waren über die Produktion von Feindbildern, die der inneren Integration des jeweils eigenen Systems dienten, auf eine vordergründig extrem negative Weise ineinander verklammert. Ohne den Bezug zur Bundesrepublik ist die Entwicklung der DDR zu keiner Zeit ihrer Geschichte zu verstehen; in der betrachteten Periode war paradoxerweise bei schnell fortschreitender Abgrenzung von ihr - die DDR viel stärker auf die Bundesrepublik fixiert als in den siebziger Jahren. Das ideologische Gegeneinander bietet das Bild eines spiegelbildlichen Verhältnisses. Die Symmetrie der konträren Systeme war jedoch an einer entscheidenden Stelle gestört: Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik und damit der materielle Lebensstandard ihrer Bevölkerung war von der frühen Nachkriegszeit an permanent wesentlich höher als die der DDR. Die Gründe dafür sind komplexer Art und können hier nicht diskutiert werden; es ist jedoch unbestreitbar, daß die außerordentlich hohe Belastung der DDR mit Reparationen gerade in der sensiblen Wiederaufbauphase ihre Startbedingungen sehr verschlechtert hat.11 Das wirtschaftliche Gefälle setzte einen einseitig von Ost nach West gerichteten Migrationsstrom in Gang, durch den die DDR fortwährend große Kontingente gut ausgebildeter jüngerer Arbeitskräfte und schwer ersetzbarer Spezialisten an die Bundesrepublik verlor. Die DDR-Führung konnte den Migrationsverlusten vordergründig nur auf zwei Wegen entgegenwirken, die gleichermaßen dysfunktional waren: Maßnahmen zur verstärkten Disziplinierung der Bevölkerung steigerten sofort die soziale Unzufriedenheit und ließen den Migrationsstrom anschwellen, statt ihn zu stoppen; Maßnahmen zur allgemeinen (Preissenkungen usw.) oder selektiven (Privilegierung von Teilen der Intelligenz) Anhebung des Lebensstandards forderten zwar die Neigung, sich mit dem System zu arrangieren, gingen aber auf Kosten der ohnehin geringen Investitionskraft der Wirtschaft. Nach der traditionellen marxistischen Lehre in der Form, die sie in der Programmatik der kommunistischen Parteien und dabei auch in jener der SED angenommen hatte, bestand der entscheidende Weg zu dauerhaft höherer Effizienz in der Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse. Die Vorstellung des stufenweisen Übergangs zu allgemeinem gesellschaftlichen Eigentum in zentralistisch geführten Staatsverbänden war der einzige von der Doktrin abgesicherte Bestandteil des Konzepts von der sozialistisch-kommunistischen 11

R. Karlsch: Allein bezahlt? Die Reparationsleistungen der SBZ/DDR 1945-1953, Berlin 1993.

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Transformation der Gesellschaft; jenseits dessen begann Neuland - oder Willkür der Parteiführungen. Im sowjetischen Verständnis, das von der SED übernommen worden war, hatte der Eigentumswandel zentral gesteuert in konzentrierten, relativ kurzfristigen Kampagnen zu erfolgen. Der Gedanke, neue Wirtschaftsformen zunächst an ausgewählten Beispielen zu erproben, Muster zu schaffen und mit ihrer Vorbildwirkung freiwillige Nachahmung zu erreichen, spielte zumindest auf dem Gebiet der Eigentumsverhältnisse praktisch keine nennenswerte Rolle. Die sechziger Jahre hatten in der DDR mit einer solchen Kampagne begonnen - der Kollektivierung der Landwirtschaft. Selbst unter der Voraussetzung, daß die neuen Wirtschaftsformen perspektivisch zu höherer Effizienz geführt hätten, mußte mit einem mehrjährigen empfindlichen Leistungsrückgang infolge der Umstellungsschwierigkeiten gerechnet werden. Da die Landwirtschaft der DDR insgesamt betroffen war, traten diese Schwierigkeiten massiv auf und wirkten sich negativ auf die Versorgung der Bevölkerung aus. Der dirigistische Vollzug der Kampagne verletzte zudem viele Bauern in ihren elementaren Interessen und ihrer persönlichen Würde. Das alles ließ den Migrationsstrom 1960/61 so stark anschwellen, daß die DDR in eine schwere Existenzkrise geriet. Es war zudem eine Glaubwürdigkeitskrise der SED, denn Walter Ulbricht hatte auf ihrem V. Parteitag im Jahre 1958 das Ziel verkündet, den westdeutschen Pro-Kopf-Verbrauch an den wichtigsten Lebensmitteln und Konsumgütern bis zum Jahr 1961 zu übertreffen12 - die Realität des Jahres 1961 zeigte, daß es sich um ein leichtfertiges, unbegründetes Versprechen gehandelt hatte. Der einzig denkbare „normale" Ausweg für die DDR wäre ein Arrangement mit der Bundesrepublik gewesen. Abgesehen davon, daß nicht klar ist, wie sich die UdSSR zu einem solchen Arrangement verhalten hätte, wäre es vor der sozialliberalen Wende in Bonn in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre ausschließlich in Gestalt einer vollständigen Unterwerfung der DDR möglich gewesen. Daher entschied sich die Führung der SED für einen Verzweiflungsschritt - die territoriale Abriegelung der DDR nach Westen durch die Errichtung der „Mauer" im Jahre 1961. Schlagartig entstand damit eine Situation, in der die Partei- und Staatsführung der DDR praktisch alle überhaupt kontrollierbaren Variablen der Gesellschaft zu ihrer Disposition hatte. Von nun an konnte sie die für Mißerfolge gängige Erklärung, diese seien äußeren Störungen von Seiten des „Gegners" geschuldet, nicht mehr überzeugend benutzen. Es war gewissermaßen gewaltsam ein experimentelles Terrain geschaffen worden, auf dem sich erweisen mußte, wie leistungsfähig der vorliegende sozialistische Ansatz tatsächlich war. In der Tat war eine häufig gebrauchte Argumentationsfigur jener Jahre die These, erst jetzt - nach der Abschließung - kämen die objektiven Gesetze des Sozialismus voll zur Geltung und könnten planmäßig ausgenutzt werden. Die Kampagnen zur „Störfreimachimg", die schon früher eingesetzt hatten, wurden nach dem Mauerbau forciert, um die zahlreichen aus der Geschichte überkommenen und von der Bundesregierung als politisches Druckmittel verwendbaren Abhängigkeiten von der Bundesrepublik zu reduzieren; sie betrafen auch sehr stark die Wissenschaft (Verfassen eigener Lehrbücher, Eigenbau von Geräten, Eigenherstellung von bisher aus der BRD bezogenen Laborchemikalien usw.) und führten häufig zu eiligen, uneffektiven adhoc-Lösungen, die keinen Bestand hatten. Vom Standpunkt der bürgerlichen Menschenrechte war die Abriegelung der DDR mit dem sich als Konsequenz daraus ergebenden militärischen Grenzregime zweifellos nicht zu 12

Protokoll der Verhandlungen des V.Parteitages der SED. 10.-16. Juli 1958, Bd. 1, Berlin 1959, S. 70.

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billigen. Nichtsdestoweniger hätte sie sich realpolitisch als funktional erwiesen, wenn es gelungen wäre, gleichsam unter Laborbedingungen Triebkräfte des Wirtschaftswachstums freizusetzen, die den in der Bundesrepublik wirksamen überlegen gewesen wären. Gerade dieses Ziel wurde mit aller Kraft angestrebt; im Fall des Gelingens wäre die Mauer eine relativ kurze Episode in der Geschichte der DDR gewesen, denn mit dem Wegfall des wirklichen Grundes ihrer Errichtung (zum Unterschied vom ideologisch vorgegebenen) hätte ihr Fortbestand jeglichen politischen Sinn verloren. Die Anstrengungen waren nicht ohne Erfolg, doch ihr Ergebnis war nicht hinreichend, denn die Wachstumsdynamik der Bundesrepublik blieb höher. Die Führung der SED hatte lernen müssen, daß eine Veränderung der Eigentumsverhältnisse für sich genommen keineswegs höhere Effektivität hervorbringt, wenn es nicht gelingt, auf ihrer Grundlage Regulative zu institutionalisieren, die die wirtschaftliche Dynamik langfristig befördern; es mußten zudem solche sein, die den restriktiven Bedingungen der DDR (Rohstoffarmut, relativ schwache Kapitaldecke, veraltete Infrastruktur) entsprachen und geeignet waren, die Schere zwischen Aufwand und Ertrag weit zu öffnen. Hier wurden nichttraditionelle Lösungen benötigt, die nicht mehr aus der marxistischen Doktrin abgelesen werden konnten. An dieser Stelle verlangte das System Kreativität, es gab ihr Raum und eröfinete gerade auch kreativen Intellektuellen, die die Faszination solcher Aufgaben erfuhren, einen Weg, sich mit ihm zu identifizieren. Die einzige Ressource, die diesen Anforderungen und Bedingungen entsprach, war das geistige Potential der Bevölkerung. Es war in der DDR weniger stark restringiert als alle anderen Ressourcenarten. Sein Nachteil bestand darin, daß es schwierig zu mobilisieren war - zu seiner Heranbildung bedurfte es langer Perioden und zu seinem effektiven Einsatz komplexer Strukturen. Überall wurde in den sechziger Jahren nach geeigneten Formen gesucht. „Big Science" oder „Großforschung" waren herausgehobene Schlagworte der Zeit. Hier traf sich das strategische Bedürfnis der SED-Führung mit einem Welttrend13, und sie schaltete die DDR bewußt in den Wettlauf um die Ausnutzung dieses Trends ein. Die Chancen zentralistischer Systeme schienen dabei nicht schlecht zu stehen. Theoretisch konnte man ihnen zutrauen, sowohl für die langfristige Planung als auch für den Aufbau komplexer Großstrukturen aus heterogenen Elementen (wie etwa Prognose - Plan - Forschung - Entwicklung - Erprobung - Serienproduktion - Absatz) die größere institutionelle Kompetenz zu besitzen, da die Notwendigkeit langwieriger Aushandlungen zwischen einer Vielzahl von Eigentumsformen entfiel, und es gab auch Hinweise darauf, daß die Praxis den theoretischen Erwartungen zu entsprechen begann. Der Westen stand unter dem Eindruck des „Sputnik-Schocks"; der Sputnik und die nachfolgende sowjetische Weltraumtechnik waren HighTech-Leistungen, die weder durch administrativen Dirigismus noch durch ideologische Parolen erzwungen werden konnten, sondern perfekter generativer Strukturen bedurften. Wäre es auf langfristig stabile Planung und den Aufbau und die Erhaltung komplexer Strukturen allein angekommen, dann hätte sich der Zentralismus wirklich als überlegen erweisen können. Da es aber mindestens ebenso wichtig war, schnell die Chancen des Unerwarteten zu nutzen, bestehende Strukturen flexibel umzuordnen oder auch aufzulösen und die Elemente zu autonomisieren, zog der Zentralismus auf Dauer den kürzeren.

13 D. J. de Solla Price: Little science, big science. Von der Studierstube zur Großforschung, Frankfurt a. M. 1974.

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Die SED legte stets großen Wert darauf, die von ihr an die Gesellschaft adressierten ideologischen Steuerimpulse in die Form von „Losungen" zu kleiden. Keine andere Losung drückt den Geist dieser Periode so kompakt aus wie der von Walter Ulbricht häufig gebrauchte Slogan „Überholen ohne einzuholen"14. Die DDR sollte den westlichen Ländern nicht auf den von diesen erfolgreich beschrittenen Wegen technisch-wirtschaftlicher Innovation nachfolgen, sondern eigene, originäre Entwicklungspfade beschreiten. Die Geschichte der gegenüber England und Frankreich verspäteten industriellen Revolution im Deutschland des 19. Jahrhunderts ist ein starkes Argument dafür, daß dergleichen nicht grundsätzlich unmöglich ist. Ob in den sechziger Jahren reale Alternativen bestanden haben, mit denen eine solche Strategie hätte rechnen können, wird die wissenschafts- und technikhistorische Forschung noch analysieren müssen. Fest steht, daß die DDR eine solche Alternative nicht gefunden hat. Aber die genannte Losung sah die angestrebte eigenständige technologische Entwicklung der DDR als ein Mittel zu einem anderen Zweck - nämlich dem, den wirtschaftlichen Standard der Bundesrepublik zu überbieten. Die BRD war das Schicksal der DDR: Die DDR war nicht nur negativ, in der Abgrenzung, sondern auch positiv, in der Beziehung auf ihn als bewegliche Zielmarke, auf den westdeutschen Nachbarstaat fixiert. Damit ordnete sich ihr Selbstverständnis in den allgemeinen Rahmen wachstumsorientierter Industriegesellschaften ein. Eckart Förtsch stellt treffend fest, „daß auch die sozialen und sozialpolitischen Zielstellungen der Forschungspolitik in der DDR überwiegend wachstumspolitisch interpretiert werden, da ja die Lösung sozialer Probleme ausdrücklich von wirtschaftlichen Erfolgen abhängig gemacht und Sozialpolitik ebenso ausdrücklich als Stimulanz wirtschaftlicher Leistungen instrumentalisiert wird" 15. Das war jenseits aller Ideologie objektiv ein Moment der Konvergenz. Nach einer langen Zeit der konfrontativen Erstarrung benutzte die Bundesrepublik mit der von der sozialliberalen Regierung konzipierten Neuen Ostpolitik dieses Moment, um die DDR in die deutschlandpolitische Defensive zu drängen und die Normalisierung des gegenseitigen Verhältnisses auf ihre Weise einzuleiten.16 Der Grundlagenvertrag von 1972, das erste Großereignis auf dem langen und mühsamen Weg aus der vom Kalten Krieg bestimmten zwischenstaatlichen Konfrontation heraus, hatte zu einer seiner impliziten Voraussetzungen jenes objektive Moment der Konvergenz, das in der von der DDR versuchten Strategie der wissenschaftsbasierten industriegesellschaftlichen Modernisierung lag.

Die Bestandteile des Reformpakets Eine ganze Reihe von Reformschritten - mit den Hauptbestandteilen: Wirtschaftsreform, Schulreform, Hochschulreform, Akademiereform - war auf den Zeitraum eines knappen Jahrzehnts zusammengedrängt; schon dadurch bildeten sie ein prozessuales Ganzes. Vor allem aber wurden sie durch die übergeordnete Intention integriert, eine Dynamisierung 14 15

W. Ulbricht: „Überholen ohne einzuholen" - ein wichtiger Grundsatz unserer Wissenschaftspolitik., in: Die Wirtschaft, 26.2.1970, S. 8. E. Förtsch: Institutionen und Prozesse der forschungspolitischen Lenkung und Planung, in: Das Wissenschaftssystem der DDR, S. 97.

16 H.Weber, a. a. 0., S. 126f.

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der wirtschaftlichen Entwicklung zu erreichen. Jede von ihnen, besonders deutlich die Reform der allgemeinbildenden Schule, hatte ihre Wurzeln in der vorhergehenden Etappe; nun aber wurden sie weitestgehend aufeinander bezogen, durch das gemeinsame Anliegen, das intellektuelle Potential des Landes als entscheidenden Faktor für die Wirtschaftsentwicklung zu mobilisieren. Die folgende kurze Betrachtung der wichtigsten Teilreformen läßt sich von der Bemerkung von Eckart Förtsch leiten, „daß Wissenschaft als eine gesellschaftliche Instanz der Problemperzeption, -defmition und -lösungssuche auch unter den Bedingungen einer sozialistischen Industriegesellschaft einen hohen Stellenwert besitzt, der einerseits ihre Lenkung und Steuerung zu einem immer wichtigeren Teil von Politik macht, der andererseits vor allem aufgrund der wissenschaftlichen Eigendynamik die Beliebigkeit wissenschaftspolitischer Experimente begrenzt"17.

Wirtschaftsreform Kurz nach dem Bau der Mauer setzten in ausgewählten Vereinigungen Volkseigener Betriebe ( W B ) wie auch in Einzelbetrieben „ökonomische Experimente" ein, die zum Ziel hatten, effektivere Formen des Wirtschaftens zu finden und dazu unterschiedliche Varianten von Regulativen und Strukturen zu erproben. Hier interessieren nicht die wirtschaftlichen Ansätze und Ergebnisse im einzelnen, sondern der sich andeutende paradigmatische Wandel. Dieses Vorgehen signalisierte, zunächst in einem begrenzten Rahmen, den Übergang zu einer experimentellen Einstellung zum Sozialismus als Gesellschaftsprojekt. Lauterbach bemerkt, daß „die marxistische Gesellschaftslehre im Zusammenhang mit Steuerangsproblemen sozialistischer Gesellschaften keine operationalisierbaren Lösungen anzubieten hat ..."18. Wenn man also zugab, zum Finden von Lösungen für herangereifte Probleme experimentieren zu müssen, dann gestand man damit ein, daß die gesuchten Lösungen aus der traditionellen Doktrin weder entnommen noch „abgeleitet" werden konnten; die ökonomischen Experimente stellten an die wirtschaftliche Realität hinreichend spezifizierte Fragen nach der Wirksamkeit unterschiedlicher Kompetenzverteilungen, unterschiedlicher Arrangements „ökonomischer Hebel" usw.19. Dieses „Eingeständnis" von fehlendem Wissen und damit von Problembewußtsein bedeutete zumindest auf diesem Feld die Befreiimg von einer dogmatischen Last. In der SED war es üblich, die eigene Politik als wissenschaftlich (oder: wissenschaftlich begründet) zu rühmen. Darunter wurde aber überwiegend die Kanonisierung und Dogmatisierung der akzeptierten Leitsätze (Wissenschaft als absolute Zukunftsgarantie) verstanden, keineswegs das ständige Hinterfragen und Problematisieren der eigenen Zielstellungen und der projektierten Handlungsentwürfe mit wissenschaftlichen Methoden. Die Tendenz des Übergangs zu dem letztgenannten Verhalten reflektierte sowohl die zunehmende Wissenschaftsabhängigkeit der Industriegesellschaft als auch den einsetzenden Generationswechsel in der SED20. Die Spitze der Parteihierarchie setzte sich vorwiegend 17 18 19 20

E. Förtsch. a. a. 0., S. 60. G. Lauterbach: Wissenschaftspolitik und Ökonomie. Wandel der Konzeptionen im Rahmen der Wirtschaftsreformen (1963-1971), Erlangen 1980, S. 12f. K. P. Hensel: Der Zwang zum wirtschaftspolitischen Experiment in zentral gelenkten Wirtschaften, in: Derselbe: Systemvergleich als Aufgabe. Aufsätze und Vorträge, Stuttgart 1977, S. 176. E. Richert: Die DDR-Elite oder Unsere Partner von morgen?, Reinbek b. Hamburg 1968.

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aus „Berufsrevolutionären" zusammen, die keine akademische Ausbildung besaßen, nie in ihrem Leben persönliche Kontakte zum akademischen Milieu hatten und Intellektuellen in der Regel instinktiv mißtrauten; wer in diesen Kreisen über ein „bürgerliches" Studium verfugte, war ein Außenseiter und mußte sich ständig durch besonders rigorose Parteilichkeit rechtfertigen. Nichtsdestoweniger hatte man auch dort die Unverzichtbarkeit der Wissenschaft für das Funktionieren moderner Gesellschaften erkannt und förderte sie, sofern sie sich politisch rein instrumental verhielt und die „führende Rolle der Partei" als nichthinterfragbare Prämisse hinnahm. Die nachrückende Generation der SED-Funktionäre, die in den frühen sechziger Jahren in untere und mittlere, in einzelnen Fällen auch schon in höhere Hierarchiepositionen eintrat, hatte in der Regel Hochschul-, zumindest aber Fachschulstudien absolviert und führte Züge wissenschaftlich-methodischer Rationalität in die politische Arbeit ein. Hier war am ehesten Verständnis dafür zu finden, daß sich eine komplizierter werdende Gesellschaft nicht allein mit ideologischen Appellen und politischen Direktiven steuern ließ, sondern einer weithin versachlichten, qualifizierten Leitungstätigkeit bedurfte. Die Wirtschaftsreform war ihr erstes größeres Bewährungsfeld. Ulbricht gehörte zweifellos dem Kreis der alten „Berufsrevolutionäre" an. Willkür, Selbstherrlichkeit, stalinistische Züge in seinem politischen Verhalten waren unverkennbar; doch zugleich hatte er ein untrügliches Gespür dafür, daß man in den sechziger Jahren auf die Wissenschaft und auf die junge Generation ihrer Vertreter setzen mußte. Das hob ihn weit über die Norm der gewöhnlichen „Apparatschiki" hinaus und ließ ihn zum Schirmherren der Reformen werden, dessen Macht und Autorität anscheinend auch bewirkte, daß die Orientierungskonflikte zwischen der alten Garde, die unverändert das Zentrum der Macht besetzte, und den aufsteigenden neuen Funktionseliten kaum offen zutagetraten. 1963 verabschiedete der Ministerrat der DDR die „Richtlinie für das neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft"21. Als Anlagen waren eine kurze „Kritische Einschätzung der bisherigen Praxis der Planung und Leitung der Volkswirtschaft" und ein ausführlicher „Zusammengefaßter erster Zwischenbericht über die bisherigen Ergebnisse und Erfahrungen aus den ökonomischen Experimenten" beigefugt. Darin waren alle wesentlichen Grundgedanken des Neuen Ökonomischen Systems bereits enthalten. In der bisherigen Wirtschaftsleitung wurden zwei Hauptschwächen ausgemacht - der Mangel an Langfristigkeit (fast ausschließliche Orientierung auf Jahresplanung, obwohl längerfristige Pläne formal bereits früher existierten) und der Mangel an Komplexität (überwiegende Konzentration auf den Einzelbetrieb): „Der erreichte Entwicklungsstand der Produktivkräfte und die sich daraus ergebenden Bedingungen ihrer vollen Ausnutzung und ihres raschen Wachstums äußern sich in spezifischen, über den Rahmen des Betriebes hinausgehenden Erfordernissen der erweiterten Reproduktion und demzufolge der ökonomischen Leitung des gesamten Industriezweiges"22. Die Vereinigungen Volkseigener Betriebe, in denen damals die verstaatlichte Industrie organisiert war, hatten gewisse Züge von Produktions- und Reproduktionsverbünden; so verfügten sie über WissenschaftlichTechnische Zentren oder Leitinstitute, die integrierte Innovationsstrategien für die jeweilige W B insgesamt bereitstellen sollten. Hauptsächlich waren sie aber übergeordnete Verwaltungen für Gruppen ähnlicher Betriebe. Die Schlüsselidee der Reform war die Um21 22

Richtlinie für das neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, in: Gesetzblatt für die DDR, 1963, T1. II, Nr. 64. Ebenda: S. 482.

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Wandlung der W B aus Verwaltungseinheiten in gewinnorientiert operierende Wirtschaftsorganisationen. Die neuen Aufgaben - so hieß es - erfordern „die wie ein sozialistischer Konzern organisierte und nach der wirtschaftlichen Rechnungsführung arbeitende WB" 2 3 . In den ökonomischen Experimenten wurden die versuchsweise auf wirtschaftliche Rechnungsführung umgestellten W B mit verschiedenen Fonds ausgestattet, über die die Generaldirektoren unabhängig von staatlichen Anweisungen disponieren konnten und die den W B sowohl flexibles Reagieren auf unerwartete Situationen als auch eine langfristige technologische Strategie ermöglichen sollten (Fonds Technik, Verfügungsfonds, Kreditreserve). Im weiteren sollten diese Fonds aus den Gewinnen der W B aufgefüllt werden, während bis dahin der größte Teil der Aufwendungen für Forschung, Entwicklung und Standardisierung aus dem Staatshaushalt außerhalb der Ergebnisrechnung der W B finanziert worden war.24 Der Sinn dieser Veränderung bestand darin, die wirtschaftenden Einheiten an Innovationen zu interessieren und bei ihnen die „Einheit von Forschung und Entwicklung, Projektierung, Produktion und Absatz" zu sichern.25 Von der Wirtschaft selbst sollte ein Sog nach innovativen Lösungen ausgehen, und andererseits sollten die Bildungs- und Forschungseinrichtungen des Landes dazu befähigt und motiviert werden, diesem Sog zu entsprechen und hinreichend modern qualifiziertes Personal und applikable Forschungsresultate bereitzustellen. Wie Lauterbach schreibt, kam es mit der Wirtschaftsreform von 1963 zu einem „Stilwandel in der Forschungspolitik der DDR, der dadurch charakterisiert war, daß man versuchte, Wissenschaft und Produktion als Einheit langfristig zu planen"26. Mit Ausnahme einer Reihe wissenschaftsintensiver Spitzenbetriebe wie Carl Zeiss Jena war die industrielle Forschungs- und Entwicklungskapazität der DDR chronisch defizitär, während die Kapazität der außeruniversitären akademischen Forschung in den fünfziger Jahren stark zugenommen hatte. Die Beschäftigtenzahl der Deutschen Akademie der Wissenschaften (DAW) zu Berlin stieg in den fünfziger Jahren von 1029 (1950) auf 9000 (1961) Mitarbeiter, das Budget nahm in der gleichen Zeit von 167 auf 1596 Mio Mark zu, so daß die Akademie Ende der fünfziger Jahre einen Anteil von etwa 10 % am Gesamtaufwand der DDR für Forschung und Technik erhielt.27 Mit der Wirtschaftsreform wurde eine Politik eingeleitet, die darauf abzielte, in der Wirtschaft selbst umfangreiche Forschungskapazitäten zu schaffen, so daß das Forschungspotential der Industrie nunmehr rascher wuchs als jenes der Akademie. Insbesondere in den Kombinaten der „strukturbestimmenden" Industriezweige, in denen ein Durchbruch zur Komplexautomatisierung auf wissenschaftlichtechnischem Höchstniveau („Pionierleistungen") angestrebt wurde, begann man mit der Errichtung von Großforschungszentren, „deren Mitarbeiterzahl mitunter schlagartig vervielfacht wurde"28. Die wenigen Jahre, in denen diese Strategie ernsthaft verfolgt worden ist, haben jedoch nicht ausgereicht, um die Industrieforschung durchgreifend zu stärken. „Großforschungseinrichtungen, mit deren Aufbau nach dem VII. Parteitag begonnen wor23 24 25 26 27 28

Ebenda. Ebenda: S. 488. Ebenda: S. 485. G. Lauterbach-, a. a. O., S. 79. J. Gläser, W. Meske: Anwendungsorientierung von Grundlagenforschung? Erfahrungen der Akademie der Wissenschaften der DDR, Frankfurt a. M. 1996, S. 86f. Ebenda: S. 111.

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den war und in denen die Einheitssysteme und Fließverfahrenszüge zentral geplant und entwickelt werden sollten, wurden zum Teil wieder aufgelöst oder umorganisiert, noch bevor sie ihre Arbeiten richtig aufnehmen konnten" 29 1972 waren in der zentralgeleiteten Industrie der DDR durchschnittlich nur 5 % der Beschäftigten in den Bereichen Forschung und Entwicklung tätig.30 Keinesfalls sollte jedoch unterschätzt werden, was in dieser Zeit der Wissenschafts- und Technikeuphorie ungeachtet aller Schwierigkeiten dennoch geleistet worden ist: „Auf technischem Gebiet gab es, gemessen an der Zahl der Patente und der neu in die Produktion eingeführten Industrieerzeugnisse, eine bemerkenswerte Innovationsdichte in den sechziger Jahren" - wesentlich höher als vorher und nachher; zu diesem Urteil gelangen Bauerkämper, Ciesla und Roesler,31 und Roesler analysiert die Verhältnisse eingehend am Beispiel der numerischen Steuerungen im Werkzeugmaschinenbau der DDR.32 Es ist wohl kaum möglich, ein sicheres Urteil darüber abzugeben, weshalb es in jener Phase letztlich doch nicht gelungen ist, der Wirtschaft der DDR eine immanent innovative Orientierung einzuprägen, die sich ökonomisch reproduziert und nicht administrativ forciert werden muß. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß in der Reformzeit ständig probiert wurde; die Regelungen wurden - als Reaktion auf kurzzeitige Mißerfolge - fortwährend verändert, so daß sich kein stabiles Arbeitsregime ausbilden konnte. Dabei wurden die Spielräume für die wirtschaftenden Einheiten tendenziell immer größer. Von 1965-1967 wurde die zweite Phase des Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung mit veränderten Konditionen praktiziert. 1967 präsentierte Ulbricht auf dem VILParteitag der SED das „Ökonomische System des Sozialismus" mit wiederum abgewandelten Regelungen, und 1968 fand es schließlich mit einer Grundsatzregelung seine operationale Ausgestaltung für die Jahre 1969/7033. Neben der Instabilität der Rahmenbedingungen wäre auch eine negative Tendenz zu nennen, die die DDR-Wirtschaft bis zu ihrem Ende belastet hat: die Maximierung der binnenwirtschaftlichen Arbeitsteilung. Unter dem Motto der Konzentration wurden die Kombinate zu innerstaatlichen Monopolen profiliert, zwischen denen ein wirtschaftlicher Wettbewerb praktisch ausgeschlossen war. Echte Konkurrenten fanden die Kombinate nur auf dem (kapitalistischen) Weltmarkt, doch vor den positiven wie negativen Effekten dieser Konkurrenz waren sie durch die außenwirtschaftliche Monopolstellung des Staates weitgehend abgeschirmt. Ein weiterer Grund war die Homogenisierung der Unternehmensstrukturen. Die Kombinate traten an die Stelle selbständiger Unternehmen ganz unterschiedlicher Betriebsgrößen; insbesondere existierte kein Analogon zu den mit „Risikokapital" arbeitenden innovativen HighTech-Kleinfirmen in westlichen Ländern.

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G. Lauterbach. a. a. O., S. 77. W. Gruhn, G. Lauterbach-, a. a. O., S. 128. A. Bauerkämper, B. Ciesla, J. Roesler. Wirklich wollen und nicht richtig können. Das Verhältnis von Innovation und Beharrung in der DDR-Wirtschaft, in: J. Kocka, M. Sabrow (Hg.): Die DDR als Geschichte. Fragen - Hypothesen - Perspektiven, Berlin 1994, S. 117. J. Roesler: Einholen wollen und Aufholen müssen. Zum Innovationsverlauf bei numerischen Steuerungen im Werkzeugmaschinenbau der DDR vor dem Hintergrund der bundesrepublikanischen Entwicklung, in: J. Kocka (Hg.): Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien, Berlin 1993, S. 263-285. Beschluß über die Grundsatzregelung für komplexe Maßnahmen zur weiteren Gestaltung des ökonomischen Systems des Sozialismus in der Planung und Wirtschaftsführung für die Jahre 1969 und 1970, in: Gesetzblatt für die DDR 1968, T1. II, Nr. 66, S. 433ff.

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Schwerer als alle bisher genannten Faktoren des Scheiterns dürfte aber wahrscheinlich das extrem überhitzte Tempo der Reform wiegen, das die DDR-Wirtschaft in jeder Hinsicht überforderte. Es ist wohl in allen Fällen unmöglich, eine strukturell innovationsträge Wirtschaft mit einer Art Roßkur binnen weniger Jahre in eine hochinnovative umzuwandeln. Die enormen Spannungen des Reformprozesses führten in den Jahren 1969/70 zu einer krisenhaften Kumulation wirtschaftlicher Schwierigkeiten, die die Reformidee selbst diskreditierten und es den pragmatischen Traditionalisten um Erich Honecker leicht machten, den Machtwechsel zu vollziehen und die innovativen Momente der Reform zurückzunehmen, während die von ihr geschaffenen Institutionalstrukturen im großen und ganzen erhalten blieben. Eine dauerhaft innovative Wirtschaft bedarf des intensiven Austausches mit einer florierenden Grundlagenforschung an Universitäten, Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Insofern war die Verstärkung des Wirtschaftsbezuges von Hochschulwesen und Akademie - ein Grundmotiv der Reformen in diesen Bereichen - eine unerläßliche Erfolgsbedingung der Wirtschaftsreform. Voraussetzung dafür, daß eine solche Kooperation für alle beteiligten Seiten Entwicklungsvorteile bringt, ist freilich das Vorhandensein gut ausgebauter Forschungskapazitäten in der Industrie selbst, bis hin zu industriespezifischer Grundlagenforschung in den wissenschaftsintensivsten Zweigen. Da dies in der DDR nur selten der Fall war, bedeutete die Nötigung zur Ausführung von Aufträgen aus der Wirtschaft vielfach, daß Hochschulen und Akademieinstitute Aufgaben übernehmen mußten, die eigentlich dem Profil industrieller Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen entsprochen hätten. Dieser Zustand wurde mit der 1968 vom Präsidium des Ministerrates verabschiedeten „Anordnung über die auftragsgebundene Finanzierung wissenschaftlich-technischer Aufgaben"34 herbeigeführt, wonach Forschung an der DAW und an Hochschuleinrichtungen grundsätzlich nur noch in Bindung an einen „gesellschaftlichen Auftraggeber" möglich war und nur unter dieser Voraussetzung finanziert wurde. Für wirtschaftsbezogene Aufgaben fungierten in der Regel Kombinate oder das 1967 gebildete Ministerium für Wissenschaft und Technik als gesellschaftliche Auftraggeber. Damit wurde ein eigentlich konstruktiver Gedanke der Reform bis zur Absurdität radikalisiert. Die Industrie sah sich unter diesen Verhältnissen weitgehend aus der Pflicht entlassen, eigene Grundlagenforschung aufzubauen, und hielt sich auch beim Ausbau von Kapazitäten der Anwendungsforschung zurück, und in den Forschungsprofilen von Akademie und Hochschulen traten infolge der überhöhten Industriebindung Verzerrungen ein, die teilweise nach 1971 korrigiert wurden.

Schulreform Auf dem Gebiet des allgemeinbildenden Schulwesens wurden die wichtigsten Reformentscheidungen bereits in den fünfziger Jahren getroffen. Die sechziger Jahre haben hier komplettiert, aber keine grundsätzlichen Veränderungen eingeführt. Anweiler spricht von einer „Experimentierphase" des Schulwesens in der DDR, die sich über die ganzen fünfziger Jahre erstreckte und mit dem Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssy-

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In: Gesetzblatt für die DDR 1968, T1. II, Nr. 110.

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stem vom 25. 2. 1965 abgeschlossen wurde.35 Der Status, den das Schulsystem damit erreichte, bildete den Startpunkt für die nachfolgende Hochschulreform; mit der Regelung des Übergangs von der allgemeinbildenden Schule zur Hochschule waren beide miteinander verzahnt. Anders als die Wissenschaft beanspruchte das Volksbildungswesen als die wichtigste und die einzige staatlich direkt beeinflußbare - Instanz der Sozialisation nachwachsender Generationen schon traditionell die Aufmerksamkeit der marxistischen Parteien. In der Bildungs- und Schulpolitik der SED ist eher ein kontinuierlicher Ausbau der ursprünglichen Intentionen als eine dem Ansatz der Wirtschaftsreform vergleichbare Wendung zu beobachten. Durchgehende Linie der Schulpolitik war, gemäß den herrschenden Vorstellungen von der deterministischen Steuerbarkeit der Gesellschaft, die starke Betonung der „sozialistischen Erziehung", die die Schüler verbindlich auf das sozialistische Gesellschafitsbild verpflichten sollte. Auch das Erziehungssystem selbst sollte zentral steuerbar, einfach strukturiert und von der Vorschulerziehung bis zur Universität ganzheitlich konzipiert sein - eben als „einheitliches System". Diese Ganzheit wurde stufenweise hergestellt, und das Gesetz von 1965 markierte einen relativen Abschluß. Sukzessiv wurde der Ausbildungszeitraum, den alle Kinder eines Jahrgangs gemeinsam zu durchlaufen hatten, bis auf zehn Schuljahre ausgedehnt,36 so daß vom Gymnasium der deutschen Schultradition zunächst noch vier und ab 1982 schließlich nur noch die an die 10. Klasse anschließenden zwei zum Abitur führenden Schuljahre der „Erweiterten Oberschule" (EOS) übrigblieben. Die inhaltlich dominante Reformtendenz war die schrittweise Hinordnung der allgemeinbildenden Schule auf die Personalbedürfnisse der Wirtschaft. Das mathematische, naturwissenschaftliche und technische Niveau der Ausbildung wurde entschieden angehoben. Der polytechnische Gedanke wird in der Tradition marxistischer Bildungskonzepte auf Anregungen von Karl Marx zurückgeführt. Ihm wurde zunächst exponierte Bedeutung für die politische und moralische Orientierung der Heranwachsenden auf die Arbeiterklasse beigemessen. In der betrachteten Periode scheint aber bei der Funktionsbestimmung des polytechnischen Unterrichts - der sowohl in speziellen Veranstaltungen in der Schule und im Betrieb als auch in der Teilnahme an produktiver Arbeit durchgeführt wurde und zugleich als ein alle anderen Unterrichtsfächer durchdringendes Prinzip galt - bereits der instrumentelle Aspekt der Vorbereitung auf industrielle und industrienahe Berufe dominiert zu haben. 1959 wurde für die Zehnklassenschule die Bezeichnung „Allgemeinbildende polytechnische Oberschule" (POS) eingeführt; damit wurde der polytechnische Unterricht als Lern- und Praxisbereich für alle Jungen und Mädchen obligatorisch. Zunächst neigte die Schule zur Radikalisierung des polytechnischen Prinzips. Ab 1963 wurde an den EOS mehrere Jahre lang neben der Vorbereitung auf das Abitur eine komplette Facharbeiterausbildung vermittelt, ab 1964 wurde in den 9. und 10. Klassen der POS schrittweise eine berufliche Grundausbildung vor allem in den Bereichen Chemie, Metallurgie, Elektro-

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Vergleich von Bildung und Erziehung in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik, S. 15. Die Zehnjahresschule wurde beginnend mit dem Schuljahr 1950/51 eingeführt. Ihre Durchsetzung nahm längere Zeit in Anspruch; 1967/68 setzten 77 % der Schüler nach der 8. Klasse den Schulbesuch fort.

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technik, Maschinenbau, Energiewirtschaft, Verkehrswesen, Landwirtschaft und Bauwesen eingeführt37. Dieser starke Berufsbezug wurde in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre zugunsten einer allgemeintechnischen Orientierung zurückgenommen. Besonderes Interesse verdient der Umstand, daß der Technikbezug auf ein leistungsfähiges mathematisches und naturwissenschaftliches Fundament gestellt wurde. Beispielsweise verabschiedete der Ministerrat Ende 1962 einen detaillierten Beschluß zur Entwicklung des Mathematikunterrichts, dessen Begründung für den politischen Zeitgeist jener Periode in der DDR in hohem Grade charakteristisch war: „Die wachsende Bedeutung der Mathematik, Physik und Chemie, der Kybernetik, Automatisierung, Elektronik und anderer Zweige der Wissenschaft und Technik für das Wachstum der Produktivkräfte der Gesellschaft macht es erforderlich, die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Gemeingut des Volkes zu machen. Dabei spielt die Mathematik bei der Weiterentwicklung der Naturwissenschaften sowie der technischen und ökonomischen Wissenschaften eine immer größere Rolle. Eine umfassende und hohe mathematische Bildung wird immer mehr zu einem wesentlichen Bestandteil der allseitigen Bildung des Menschen der sozialistischen Gesellschaft. Vom Inhalt und von der Quantität der mathematischen Bildung, die in unlösbarem Zusammenhang mit der polytechnischen Bildung und Erziehung steht, hängt es in starkem Maße ab, wie die Aufgaben in Wissenschaft und Technik bewältigt werden".38 Auf dem Gebiet der allgemeinbildenden Schule war der Wettbewerb zwischen Ost und West stark ausgeprägt, wobei es zentral um das Problem ging, welche der konkurrierenden Gesellschaften ihre junge Generation am adäquatesten für die Herausforderungen der wissenschaftlich-technischen Revolution zu präparieren vermochte. Der Terminus „Bildungswettlauf' wurde ausdrücklich in der Literatur verwendet.39 Alle bildungspolitischen Maßnahmen in der DDR sind unter dem Gesichtspunkt zu verstehen, in diesem Wettlauf Positionen zu gewinnen, zu verteidigen und auszubauen. Arthur Hearnden, der 1972 in Oxford mit einer vergleichenden Studie über Bildungspolitik in DDR und BRD promoviert und in den vorbereitenden Untersuchungen Einrichtungen der pädagogischen Forschimg in beiden deutschen Staaten konsultiert hatte, ging in seiner Analyse davon aus, daß seit dem Zweiten Weltkrieg eine zunehmende Ähnlichkeit der Faktoren zu beobachten sei, die zu Veränderungen im Erziehungswesen hochentwickelter Länder zwingen - diese Faktoren würden Jenseits der fundamentalen ideologischen Spaltung" sowohl für kommunistische als auch für nichtkommunistische Gesellschaften gelten.40 Die in den fünfziger Jahren noch verhältnismäßig schleppende Entwicklung in der BRD habe sich im folgenden Jahrzehnt stark beschleunigt, so daß beide Systeme sich auf die Ausschöpfung der Begabungsreserven konzentrierten.41 Hearnden deutet die stimulierende Rolle des Ost-WestWettlaufes in diesem Prozeß an. In den fünfziger und frühen sechziger Jahren sei die DDR der BRD im Anteil der Abiturienten an der jeweiligen Altersgruppe ein gutes Stück voraus 37

Beschluß über die Grundsätze der weiteren Systematisierung des polytechnischen Unterrichts, der schrittweisen Einfuhrung der beruflichen Grundausbildung und der Entwicklung von Spezialschulen und -klassen, in: Gesetzblatt für die DDR 1963, T1. II, Nr. 65, S. 504. 38 Beschluß zur Verbesserung und weiteren Entwicklung des Mathematikunterrichts in den allgemeinbildenden polytechnischen Oberschulen der DDR vom 17.12.1962, in: Gesetzblatt für die DDR 1962, T 1. II, Nr. 100, S. 853. 39 L. Froese, R. Haas, O. Anweiler (Hg.): Bildungswettlauf zwischen Ost und West, Basel 1961. 40 A. Hearnden-. Bildungspolitik in BRD und DDR, Düsseldorf 1973, S. 9. 41 Ebenda, S. 266.

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gewesen. 1963 habe diese Differenz zugunsten der DDR kulminiert - ein Jahr später erschien in der Bundesrepublik der alarmistische Schrift „Die deutsche Bildungskatastrophe" von Georg Picht42, die eine erregte bildungspolitische Debatte auslöste. Unmittelbar darauf kehrte sich das Verhältnis zugunsten der Bundesrepublik um, und ihre überlegene Position blieb auch in der Folgezeit erhalten. Bei der Ausschöpfung der Begabungsressourcen gingen die beiden deutschen Staaten zunächst konträre Wege: Auf der einen Seite prävalierte die Idee der Einheitsschule, auf der anderen der durch den föderalistischen Staatsaufbau verstärkte Gedanke des Pluralismus der Schulformen. Hearnden formulierte seinen Vergleich damals sehr vorsichtig: „Die BRD ist eines der wenigen Länder, die dem Trend zum einheitlichen Schulsystem widerstanden haben; das selektive Gymnasium wurde lieber mehr oder weniger intakt gelassen und die übrigen Schulformen auf ein Niveau gebracht, das sich soweit wie möglich an das der Mittel- und Unterstufe des Gymnasiums angleicht". Für die Heranbildung hochqualifizierter Arbeitskräfte müsse diese Politik „als genauso erfolgreich, wenn nicht sogar als erfolgreicher gelten als der entgegengesetzte Kurs, den die DDR steuerte, nämlich Abbau des Gymnasiums und Schaffung eines vollkommen neuen, horizontal strukturierten Systems"43. Er konstatierte jedoch für die zweite Hälfte der sechziger Jahre „einen sich verringernden bildungspolitischen Gegensatz zwischen beiden deutschen Staaten. Sozialer und wirtschaftlicher Druck führten in der BRD allmählich zur Erkenntnis, daß die Entwicklung des Bildungssystems auf Bundesebene geplant werden mußte"44. In der DDR hingegen trat ein unverkennbares Bedürfnis nach einer das Einheitsschulprinzip durchbrechenden Diversifizierung der schulischen Bildungswege in Erscheinung. Bezeichnenderweise waren es in erster Linie die Forderungen der Wirtschaft, die die staatliche Bildungspolitik zum Handeln veranlaßten. In dem bereits erwähnten Beschluß aus dem Jahre 1963 heißt es: „In Spezialschulen und -klassen werden Schüler in solchen speziellen Berufen der fuhrenden Wirtschaftszweige und der Landwirtschaft ausgebildet, die für die Durchsetzung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts in diesen Bereichen und in der gesamten Volkswirtschaft von grundlegender Bedeutung sind und besonders hohe mathematisch-naturwissenschaftliche Kenntnisse verlangen. Diese Schulen und Klassen werden eng mit den Schwerpunktbetrieben der führenden Wirtschaftszweige und der Landwirtschaft sowie wissenschaftlichen Einrichtungen verbunden".45 Die beschriebene Konvergenz der Schulsysteme der beiden deutschen Staaten hielt sich freilich in engen Grenzen. Das Prinzip sozialer Gleichheit, das dem Einheitsschulgedanken zugrundelag, zügelte in der DDR die Tendenz zur Diversifizierung der Bildungswege, und soweit sich diese Tendenz durchsetzte, drückte sie sich allein in einer horizontalen Diversifizierung nach Gebieten, nicht in einer vertikalen Differenzierung nach Leistimgsniveaus aus. Die Herausbildung von Leistungseliten wurde durch Struktur und Funktionsweise des Schulsystems der DDR gebremst, und soweit sie dennoch entstanden, war das eher ein Sekundäreffekt der horizontalen Diversifizierung. Die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik hingegen stimulierte die vertikale Differenzierung; dort allerdings, wo in der DDR spezifische, schon in frühen Altersstufen einsetzende Systeme der Begabungsselektion und 42 43 44 45

G. Picht: Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation, Ölten 1964. A. Hearnden-, a. a. O., S. 269. Ebenda, S. 246. Beschluß über die Grundsätze der weiteren Systematisierung des polytechnischen Unterrichts, S. 505.

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-förderung installiert wurden (Sport, Musik, Mathematik), zeigten sich durchaus auch Vorteile eines allumfassenden Zentralismus. Aus der Sicht von 1980 formulierten Wolfgang Bergsdorf und Uwe Göbel eine nüchterne Gesamteinschätzung des Erreichten, die den Realitäten der betrachteten Periode gerechtwerden dürfte: „Es ist der SED gelungen, Bedürfnisse der Wirtschaft und Ergebnisse ihres Bildungssystems weitgehend zu harmonisieren". Die dabei hervorgebrachten Leistungen „bei der Erhöhung des qualitativen Bildungsniveaus insgesamt und in den jeweiligen Bereichen sind beachtlich, jedoch keineswegs im internationalen Vergleich oder auch im Vergleich mit der Bundesrepublik Deutschland hervorstechend".46

Hochschulreform Etwa mit dem relativen Abschluß der Umgestaltungen in der allgemeinbildenden Schule setzte die Hochschulreform ein. Ihr Startpunkt waren die unter der Leitung des Staatssekretariats für Hoch- und Fachschulwesen ausgearbeiteten und im Dezember 1965 der 11. Tagung des Zentralkomitees der SED vorgelegten „Prinzipien zur weiteren Entwicklung der Lehre und Forschung an den Hochschulen der DDR"47, die nach der Billigung durch das Parteigremium zur öffentlichen Diskussion gestellt wurden. Über die anstehende Umgestaltung der Universitäten und Hochschulen wurde damals sehr viel und mit großer Anteilnahme diskutiert. In dieser Debatte trafen sich auf eine sehr eigentümliche Weise die Interessen der Wissenschaftler und Studenten auf der einen, die der Parteiführung auf der anderen Seite. In kapitalistischen wie in sozialistischen Ländern Europas war das Hochschulwesen damals Gegenstand der Kritik; seine aus den Zeiten der „little science" überkommenen Institutionalprinzipien schienen den Herausforderungen des wissenschaftlichtechnischen Zeitalters in keiner Weise mehr zu genügen. Die 1968 vor allem in Frankreich und in der Bundesrepublik Deutschland kulminierende Studentenbewegung demonstrierte wenig später, daß Kritik an veralteten Strukturen leicht in Attacken gegen das universitäre Establishment und schließlich gegen die ganze Gesellschaftsordnung umschlagen konnte. Als Gefahrensignal für die politischen Machtverhältnisse registrierte die Führung der SED auch die in den sozialistischen Nachbarländern innerhalb und außerhalb der regierenden kommunistischen Parteien aufkommende Opposition gegen die zentralistische Steuerung der Gesellschaft, die weitgehend von intellektuellen Kreisen getragen wurde und ihren Höhepunkt in dem durch die bewaffnete Intervention des Warschauer Paktes gewaltsam liquidierten Prager Frühling fand. In dieser unruhigen, krisenhaften Situation war es ein geschickter Schachzug, eine Hochschulreformbewegung von oben zu initiieren und die kritisch gestimmte wissenschaftliche Intelligenz mit Umgestaltungsprojekten zu beschäftigen, die zudem ihre unmittelbaren Arbeitsbedingungen betrafen. Primär war die Hochschulreform eine Komponente der übergreifenden Strategie, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der DDR durch die Mobilisierung moderner Wachstumsfaktoren forciert zu steigern, doch zugleich hatten die umfangreichen Diskussionskampagnen eine nicht zu verkennende Identifikations- und Ventilfunktion. Nachdem die 46 47

W. Bergsdorf, U. Göbel. Bildungs- und Wissenschaftspolitik im geteilten Deutschland, München 1980, S. 111. Prinzipien zur weiteren Entwicklung der Lehre und Forschung an den Hochschulen der DDR, in: Das Hochschulwesen, 14, 1966, H. 2, Beilage.

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„Prinzipien" auf der IV. Hochschulkonferenz im Februar 1967 verabschiedet worden waren,48 gingen die Debatten weiter. So lag dem Staatsrat der DDR im Januar 1969 ein Entwurf „Die Weiterfuhrung der 3.Hochschulreform und die Entwicklung der Hochschulen bis 1975"49 vor, der wiederum der öffentlichen Diskussion unterbreitet wurde; bis Ende Februar gingen allein zu diesem Text 2575 Veränderungs- und Ergänzungsvorschläge von Einzelpersonen und Institutionen ein50. In diesen Aussprachen kam viel institutionelle Kreativität zutage; es würde vermutlich die Mühe lohnen, die vielen nichtrealisierten Vorschläge auf ihren innovativen Gehalt zu prüfen, denn verwirklicht wurde eine verhältnismäßig grobschlächtige Variante, die am ehesten dem zentralistischen Schema entsprach. Der Kern der Hochschulreform war die Ersetzung der überkommenen Struktur aus Instituten und Fakultäten durch eine Gliederung in Sektionen, in denen eine größere Zahl von Disziplinen unter der Leitung eines Direktors zusammengefaßt wurde und der Lehr- und Forschungsbetrieb disziplinenübergreifend organisiert werden sollte. Die Überreste korporativer Selbstverwaltung wurden beseitigt, die traditionellen korporativen Organe wie die Fakultäten wurden in Beratungsgremien für voll verantwortliche „Einzelleiter" umgebildet. Damit wurde der Zentralismus der Lenkung perfektioniert, zumal die Strukturen überschaubarer wurden, denn die Zahl der Sektionen war erheblich geringer als zuvor die Zahl der selbständigen Institute. Dennoch wäre es verfehlt, die Hochschulreform vordergründig allein als Werkzeug eines verbesserten machtpolitischen Durchgriffs zu interpretieren. Die wesentlichen Voraussetzungen zur politischen Steuerung des Hochschulwesens - von der durchgehenden Planung über die Organisierung der Studenten in Seminargruppen bis hin zum obligatorischen marxistisch-leninistischen Grundstudium - waren bereits im vorhergehenden Jahrzehnt geschaffen worden. Obwohl der Zentralisierungsprozeß weiterging, trat nun der Zweck, das Hochschulwesen zum wichtigen Faktor für den angestrebten Effektivitätssprung der DDR-Wirtschaft zu disponieren, deutlich in den Vordergrund. Während die erste und die zweite Hochschulreform (1945/46 und 1951) im wesentlichen nur politische Ziele verfolgt hatten, wurde nach Lauterbach zu Beginn der sechziger Jahre „auch die Hochschulpolitik unter einem veränderten Blickwinkel angegangen. Die Institution Wissenschaft wurde zunehmend als eine Produktionsstätte von Innovationen begriffen, die es wirtschaftlich und gesellschaftlich zu nutzen galt"51. Dem entsprach die große Aufmerksamkeit, mit der die dritte Hochschulreform in der Bundesrepublik verfolgt und kommentiert wurde. So schrieb 1968 im ersten Jahrgang des „Deutschland Archiv" Wolfgang Buchow: „Untersuchungen zur Hochschulreform in der Bundesrepublik sollten alle Vorbilder gründlich studieren und auswerten. Dazu gehört auch, daß Diskussionen und Maßnahmen in sozialistischen Ländern hier zur Kenntnis genommen und auf ihre Brauchbarkeit bzw. Übertragbarkeit hin untersucht werden. Immerhin gibt es auf deutschem Boden, in der DDR, Experimente zur Hochschulreform, die eine intensive Diskussion in der Bundesrepublik wert sind".52

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Protokoll der 4. Hochschulkonferenz, Berlin 1967. Die Weiterfuhrung der 3. Hochschulreform und die Entwicklung des Hochschulwesens bis 1975. Materialien der 16.Sitzung des Staatsrats der DDR, Schriftenreihe des Staatsrats der DDR, H. 8, Berlin 1969. Das Hochschulwesen, 17, 1969, H. 4, S. 223. G. Lauterbach-, a. a. O., S. 196. W. Buchow. Aktuelle Aspekte und Tendenzen der Hochschulreform in der DDR, in: Deutschland Archiv, 1, 1968, H. 3, S. 240.

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Die Sektionen, die zunächst ab Sommer 1966 exemplarisch und dann im Frühjahr 1968 allgemein gebildet wurden, entsprachen dem Ideal der Konzentration von Kapazitäten auf Schwerpunktgebiete und Schwerpunktvorhaben; zudem sollten sie, was weit weniger gelang, interdisziplinäres Arbeiten erleichtern. Konzentration und Interdisziplinarität galten, durchaus mit der internationalen Diskussion jener Zeit in Einklang, als Voraussetzung für innovative Spitzenleistungen, und das korrespondierte mit dem strategischen Ansatz der SED-Führung, auf ausgewählten („strukturbestimmenden") Gebieten durch Konzentration der Kräfte technologisch-ökonomische Durchbrüche zu erreichen. Die in der Regel kleinen Hochschulinstitute, die bis zur Reform bestanden hatten, erinnerten noch stark an die Ordinarienstruktur der traditionellen deutschen Universität; die herausgehobene Stellung der Professoren war nur insofern relativiert, als auch die unteren akademischen Chargen ihnen hinsichtlich der Unbefttstetheit der Anstellungsverhältnisse gleichgestellt waren oder, wenn sie als Assistenten befristete Arbeitsverträge hatten, sicher sein konnten, unmittelbar nach Auslaufen dieser Verträge eine neue akademische Anstellung zu finden. In den Sektionen entstanden nun mittlere bis große Arbeitsteams, in denen die Professoren und erst recht die Lehrstuhlinhaber unter ihnen weit in der Minderheit waren und zahlreiche Mitarbeiter unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher akademischer Grade kooperierten. Diese Strukturen boten günstige Voraussetzungen für komplexe Forschungsvorhaben und für ein forschungsnahes Studium. Franz Bolck, damals Rektor der Friedrich-Schiller-Universität Jena, entgegnete seinen Kollegen, die die Integration ihrer Kleininstitute in die neuen Sektionen beklagten, mit dem zeittypischen Argument: „...ganz abgesehen von ökonomischen oder organisatorischen Gesichtspunkten steht für die Schöpfer unserer wissenschaftlichen Institute und ihrer Schulen die Frage, ob sie ohne ein solches Zusammenwachsen und Zusammenwirken mit ihren Nachbarn überhaupt noch reale Chancen einer echten wissenschaftlichen Existenz besäßen. Das wäre nicht der Fall, vielmehr wäre eine langsame Atrophie jedes einzelnen die Alternative"53. Das Hochschulstudium, das eine generelle Bausteingliederung erhielt (Grund-, Fach- und SpezialStudium für alle; Forschungsstudium mit Promotion für wissenschaftlich besonders Begabte und Interessierte), sollte mit Hilfe der Sektionsstrukturen ebenso forschungs- wie praxisbezogen gestaltet werden. Die Sektionen waren dort, wo sie der Komplexität des Gebietes und der Aufgabenstellung entsprachen, durchaus progressive Institutionalformen. Vielfach aber waren sie weiter nichts als bürokratisch oktroyierte Zusammenfassungen von Instituten, die gar keine organischen Verbindungen untereinander ausgebildet hatten. Nicht die Einführung von Sektionen ist zu kritisieren, sondern ihre Erhebung zum ausschließlichen Organisationsprinzip der Hochschulen. Kleine Gebiete, die nicht in die Sektionsschemata paßten, hatten es schwer, vor allem dann, wenn sie keinen „volkswirtschaftlichen Nutzen" nachweisen konnten, und wurden oft „wegprofiliert". In einer von der Begeisterung für Großstrukturen beherrschten Zeit bestand wenig Verständnis für die unersetzliche Rolle, die „kleine" Fächer und periphere Forschungsrichtungen für die Bewahrung von Ganzheit und Entwicklungsfähigkeit der Wissenschaft spielen. Das Ergebnis der Hochschulreform war wissenschaftlich ambivalent; einerseits schuf sie auf den von ihr strukturell begünstigten Feldern Wachstumslinien, andererseits beschädigte sie durch strukturelle „Bereinigungen" die Flexibilität und Entwicklungsfähigkeit des Wissenschaftssystems der DDR. Hier wie in anderen Teilen des Reformpakets äußerte sich die Tendenz der DDR-Führung, überall Einheitslösungen durchzusetzen und die Strukturen zu homogenisieren, statt für unterschied53

F. Bolck: Die Hochschulreform an der FSU Jena, in: Das Hochschulwesen, 16, 1968, H. 10, S. 652.

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liehe und wechselnde Aufgaben und Bedingungen ein Repertoire verschiedenartiger Institutionalformen zur Disposition zu stellen. In besonderem Maße wurde durch die Reform die Verbindung von Hochschule und Wirtschaft forciert. Die naturwissenschaftlichen und technischen Fachrichtungen wurden veranlaßt, ihre Forschungskapazität weitgehend für Aufträge aus der Wirtschaft zur Verfügung zu stellen. Die auf bestimmte Themen spezifizierten Forschungsverträge waren häufig in Komplexverträge zwischen Hochschulen und Betrieben und W B bzw. Kombinaten eingebettet, die ein ganzes Netz von Beziehungen definierten - von der Zusammenarbeit bei der Aufstellung von Prognosen und Programmen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts über Forschungsaufträge, Personalaustausch, Weiterbildungsleistungen, Studentenpraktika bis zur Bereitstellung von Geräten und Ausrüstungen. Das erste Muster eines solchen Abkommens war der im Januar 1964 abgeschlossene Komplexvertrag über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit zwischen der TU Dresden und der W B Kali; viele ähnliche schlössen sich an.54 Solche Kooperationen konnten auch für die Hochschulen anregend und nützlich sein, doch angesichts der chronischen Schwäche des industriellen Forschungs- und Entwicklungspotentials entwickelten sie sich in der Tendenz zum Nachteil der „zweckfreien" Forschung, die für eine ausgewogene Entwicklung der Wissenschaftsdisziplinen unerläßlich ist. Eher als die erstrebte Dynamisierung der Wirtschaft resultierte eine Pragmatisierung des Hochschulsystems.

Akademiereform Um 1960 war die DAW das bei weitem größte und leistungsfähigste Potential der außeruniversitären Grundlagenforschung in der DDR, und vor allem chemische und physikalische Disziplinen und Spezialgebiete, die als wissenschaftliches Hinterland für die damals absehbaren Hauptrichtungen der wissenschaftlich-technischen Revolution in Frage kamen, waren an ihr stark vertreten. Es mußte als Krönung des Reformwerkes erscheinen, dieses Potential als Generator für die Basisinnovationen einzusetzen, deren eine stürmisch voranschreitende Industrie bedürfte. Aus wissenschafts- und gesellschaftsstrategischer Sicht war daher eine Akademiereform, die die DAW dazu befähigen sollte, unverzichtbar. Die DAW war der Forderung, für die Industrie wirksam zu werden, nicht zum erstenmal ausgesetzt. Spätestens seit der Gründung der „Forschungsgemeinschaft der naturwissenschaftlichen, technischen und medizinischen Institute der DAW zu Berlin" im Jahre 1957 bewegte sie sich systematisch in diese Richtung. Peter Nötzoldt, der den ganzen Prozeß mit allen wesentlichen Strukturveränderungen bis hin zur Akademiereform untersucht, ist im Recht mit der Auffassung, für die Akademie sei diese Reform „weniger als Beginn eines neuen als vielmehr als der Abschluß eines zuvor erfolgten sehr dynamischen Prozesses" zu sehen.55 Unter Berufung auf die Darstellung von Nötzoldt und die sehr ausführliche Studie von Rudolf Landrock56 beschränkt sich dieser Abschnitt auf eine zusammenfassende Überle54 55 56

H. Koß: Ökonomische Probleme der Zusammenarbeit zwischen der sozialistischen Großindustrie und der Hochschule, Berlin 1970. Siehe den Beitrag von P. Nötzoldt in diesem Band. R. Landrock. Die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1945 bis 1971 - ihre Umwandlung zur sozialistischen Forschungsakademie. Eine Studie zur Wissenschaftspolitik der DDR , Bd. II., Erlangen 1977 (abg 2/1977). Fünftes Kapitel; Phase 1968-1971 (S. 267-406).

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gung zum historischen Ort der Akademiereform. Vier Momente machen den wesentlichen Gehalt dieser Reform aus: Erstens vollendete sie den schon seit den frühen fünfziger Jahren laufenden Prozeß der Verdrängung von Elementen korporativer Selbstverwaltung der Gelehrten durch eine hierarchische Pyramide verantwortlicher staatlicher Einzelleiter, die zentralistisch organisiert und lückenlos in das durchgehende Gefüge der staatlichen Leitungsbeziehungen eingefügt war. Diese staatliche Leitungspyramide wurde zugleich an neuralgischen Punkten mit der parteipolitischen unmittelbar kurzgeschlossen; so wurde der erste Sekretär der SED-Kreisleitung an der Akademie offiziell Mitglied ihres Präsidiums. Die Restrukturierung war in erheblichem Maße mit einer Auswechselung der Leitungsspitzen verbunden; viele Wissenschaftler, die sich vor der Reform an der Akademie in der „zweiten Reihe" befunden hatten, wurden nun Direktoren von Instituten oder erhielten andere exponierte Funktionen. Die Übergabe des Präsidentenamtes an den Chemiefaserfachmann und erfahrenen Industriechemiker Hermann Klare, der zuvor bereits Vizepräsident und Vorsitzender der Forschungsgemeinschaft gewesen war, sollte unübersehbar deutlich machen, daß sich die Akademie spätestens von nun an als eine dominant industriebezogene, vorrangig naturwissenschaftlich-technisch orientierte Forschungsorganisation zu verstehen hatte. Der Nachkriegsansatz, einer durch Wahl konstituierten und ergänzten Gelehrtengesellschaft zu ihrer Disposition Forschungsinstitute beizugeben, wurde so endgültig verlassen; damit wurde eine sehr interessante Variante der Institutionalisierung von Forschung zu den Akten gelegt. Institute und Gelehrtengesellschaft blieben personell verbunden, hatten aber angesichts der vollkommenen Einbindung der ersteren in die staatliche Leitungspyramide nur noch einen koordinativen Kontext.57 Zweitens entstand gegenüber der Situation vor der Reform eine wesentlich geringere Zahl mittlerer, großer und sehr großer Institute (Zentralinstitute), die ihrerseits entsprechend ihrer disziplinaren Zugehörigkeit zu Forschungsbereichen vereinigt waren. Die Forschungsbereiche stellten kontroll- und weisungsbefugte Zwischenleitungen zwischen dem Präsidenten und den Instituten dar, wobei ihre Kompetenzen allerdings dadurch eingeschränkt waren, daß die Institutsdirektoren als unmittelbare Untergebene des Präsidenten und nicht des jeweils zuständigen Forschungsbereichsleiters galten. Die größeren Institute waren mit der Intention gebildet worden, einerseits die Organisationsstruktur der Akademie durchsichtiger zu gestalten und die Verfügbarkeit der Potentiale für die Leitung zu erhöhen, andererseits den Umfang der Potentiale so weit über eine gewisse, in den einzelnen Disziplinen unterschiedlich zu veranschlagende kritische Grenze hinaus zu steigern, daß Praxisanforderungen effizient bedient werden konnten, ohne daß die Möglichkeit zu selbstbestimmter, erkenntnisorientierter Grundlagenforschung übermäßig reduziert würde. Dieser Institutstyp sollte die systematische Integration von Grundlagenforschung und Anwendungsforschung in ein und derselben Einrichtung gewährleisten; das war zweifellos ein origineller Ansatz, zumal die Verbindung zwischen diesen beiden Forschungstypen gewöhnlich neuralgisch ist und hier eine besonders hohe Neigung zur arbeitsteiligen institutionellen Separierung besteht. Fusion und Konzentration haben jedoch auch zur Reduzierung oder Einstellung von Forschungen gefuhrt, die für gesellschaftlich weniger bedeutsam erachtet wurden; ein Überblick über die thematischen Verluste, die die Akademiereform mit sich brachte, besteht bisher nicht. Ein offenkundiger Nachteil liegt darin, daß mit der 57

Siehe Akademiegedanke und Forschungsorganisation im 20. Jahrhundert. Materialien des Wissenschaftlichen Kolloquiums zum Leibniz-Tag 1994, Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät, Bd. 3, 1995, H. 3.

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Reform die ohnehin schon geringe Pluralität der Institutionalformen an der Akademie noch weiter reduziert wurde. Während die Max-Planck-Gesellschaft sich schon aufgrund der hohen Autonomie, die sie ihren Institutsdirektoren gibt, durch eine große Formenvielfalt auszeichnet, wurde den Akademieinstituten eine normierte Einheitsstruktur aufgeprägt. Nach den bisherigen Erfahrungen der Wissenschaftsorganisation muß man aber wohl sagen, daß eine Vielfalt von Betriebsformen und -großen in der Forschung in Abhängigkeit von der Eigenart der jeweiligen Aufgabe ebenso wie von den Präferenzen derjenigen, die sie bearbeiten, zwar eine zentrale Lenkung erschwert, aber stark wettbewerbsfreundlich und damit kreativitätsfördernd ist. Die institutionelle Monostruktur, die die Frucht der Akademiereform war, blieb im wesentlichen bis 1989 erhalten; allerdings stellte sich in ihrem Rahmen allmählich wieder ein gewisses Maß an sekundärer Differenzierung ein. Drittens bildete die Akademiereform in dem langen Prozeß der Hinordnung des akademischen Forschungspotentials auf die Lieferung praxis-, insbesondere industrierelevanter Resultate einen relativen Abschluß. Darin bestand ihr eigentlicher Zweck, während die Straffung des Leitungsmechanismus und die Konzentration der Potentiale Mittel zu dessen Erreichung darstellten. Von ihrer so geschaffenen Disposition her hätte die Akademie ohne bei den Verhältnissen fortdauernder Personalaufstockung das Fundament erkenntnisorientierter Grundlagenforschung gefährden zu müssen - ein bedeutendes Zentrum technisch-technologischer Innovation werden können. Die überzogene Auflage des Jahres 1968, ausschließlich im externen Auftrag forschen zu dürfen, ließ sich nicht durchhalten. Die Forschungsverordnung von 1972, die diesen Anteil auf 50% festschrieb und dem Präsidenten die Rolle des „gesellschaftlichen Auftraggebers" für Vorhaben der Grundlagenforschung zubilligte, ließ der Akademie einen angemessenen Spielraum für selbstbestimmte Forschungsentscheidungen. Die Formen der Integration von Grundlagenforschung und Anwendungsforschung, die in den großen Akademieinstituten entstanden, die Transferketten, die aufgebaut wurden, die beträchtliche Erweiterung der Kapazität zur Eigenproduktion von technischen Prototypen, verbunden mit der DDR-typischen Improvisationskunst, hätten die Akademie zur Innovationszentrale der Industrie profilieren können. Daß sie es nicht oder jedenfalls nur in Ansätzen wurde, lag zum geringsten Teil an ihr selbst. Viertens hatte die Akademie das Prinzip der Gelehrtengesellschaft, die disziplinare Struktur der Gesamtwissenschaft repräsentativ zu verkörpern, sinngemäß auf den Aufbau ihres Forschungspotentials übertragen. Ihre Institute waren zum großen Teil disziplinar definiert, Neugründungen wurden oft unter dem Gesichtspunkt angestrebt, den Vollständigkeitsgrad in der Repräsentation des disziplinaren Spektrums zu erweitern. Im Umkreis der Akademiereform betonten leitende Akademiker wiederholt, die Akademie sei angesichts der enormen Absorption der Universitäten durch die Lehre die wirkliche Universitas litterarum.In diesem Institutionalprinzip unterschied sich die Berliner AdW grundlegend von der Tradition der KWG, die in der MPG fortgeführt wurde. Die Akademiereform sollte das Universitas-litterarum-Prinzip festigen und gleichzeitig die Disposition zu unkonventioneller interdisziplinärer Arbeit steigern. Mit der Installation der Forschungsbereiche, die in gewissem Maße die disziplinare Struktur der Gesamtwissenschaft abbildeten, gelang das erstere. Interdisziplinäre Arbeit wurde jedoch nur innerhalb der großen Institute institutionell erleichtert, aber dort waren in der Regel benachbarte Disziplinen verbunden, so daß unkonventionelle Verbünde nicht ohne weiteres zustandekamen. Hier ließ die Reform ein wesentliches Desiderat unerfüllt.

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Fazit In den sechziger Jahren suchte die Führung der SED nach einer Strategie zur dauerhaften Stabilisierung ihrer Macht, nachdem der Bau der Mauer für den Weg aus der tiefgreifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise der DDR nicht mehr als eine gewaltsame Notlösung ermöglicht hatte. W. Ulbricht und eine Reihe jüngerer Wirtschaftsfachleute, auf deren Kompetenz er sich vorrangig stützte, waren zu der Überzeugung gelangt, daß dieses Ziel nur durch eine wesentliche Steigerung der wirtschaftlichen Effizienz und Dynamik zu erreichen sein würde.58 Der konzipierte Reformweg sah vor, den Wirtschaftsmechanismus gegenüber der unmittelbaren direktiven Steuerung durch Partei- und Staatsapparat partiell zu verselbständigen und mit Elementen der Selbstregulation auszustatten. Die Bildungsund Wissenschaftsreform sollten diesen Wandel unterstützen und unumkehrbar machen. Dabei handelt es sich keineswegs nur um eine geringfügige Modifizierung des DDR-Systems; Jörg Roesler spricht von einem wirtschaftlichen „Paradigmawechsel" gegenüber dem zuvor herrschenden System der Kommandowirtschaft.59 Es war unvermeidlich, daß ein solcher „Paradigmenwechsel" Elemente kreativer Liberalisierung in das zentralistische System politischer Machtausübung bringen mußte. Dieses Risiko für das herrschende Machtmonopol war der Führung der SED bewußt, aber offenbar schieden sich von Anfang an die Geister in der Frage, ob und wie weit man es eingehen durfte. Die von der zunächst noch ungebrochenen Autorität Ulbrichts geschützten Reformer innerhalb des Parteiapparats gingen davon aus, daß die SED diese Herausforderung durchstehen würde. In den für die Wirtschaftsreform sensiblen Bereichen, insbesondere auch an der DAW und im Hochschulwesen, wurde während der sechziger Jahre die Parteiapparate ausgebaut und gestrafft. Ein repressives Vorgehen gegen weitreichende Reformansätze außerhalb des Parteiapparates, dessen weithin registrierter Gefrierpunkt das 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 war60, sollte das Risiko der kalkulierten Neuerungen gering halten; für den Bereich der Wissenschaft hatte insbesondere die rigorose Maßregelung des Physikochemikers Robert Havemann diese Aufgabe.61 Die Schwierigkeiten, die das überhitzte Tempo der Reformen mit sich brachte, der Wechsel in der sowjetischen Führung von N. S. Chruschtschow zu L. I. Breshnew und schließlich der „Prager Frühling" und dessen bewaffnete Niederschlagung führten zu einer Veränderung des Kräfteverhältnisses innerhalb der SED-Spitze zugunsten der Reformgegner, zur Isolierung Ulbrichts und zu seinem Sturz62. Der wirtschaftliche Paradigmawechsel wurde unter Honecker vollständig rückgängig gemacht. Die Wissenschaftsreformen kamen erst in Gang, als die restaurativen Kräfte in der SED schon intensiv dabei waren, die Wirtschaftsreform zu unterminieren, und blieben daher ambivalent.

58 J. Roesler. Zwischen Plan und Markt: die Wirtschaftsreform in der DDR zwischen 1963 und 1970, Berlin 1991. 59 Derselbe: Das Neue Ökonomische System - Dekorations- oder Paradigmenwechsel?, Forscher- und Diskussionskreis DDR-Geschichte: hefte zur ddr-geschichte, H. 3, Berlin 1993, S. 21. 60 Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED. Studien und Dokumente, hg. von G. Agde, Berlin 1991. 61 Vgl. den Beitrag von D. Hoffinann im vorliegenden Band. 62 N. Podewin: „... der Bitte des Genossen Walter Ulbricht zu entsprechen". Hintergründe und Modalitäten eines Führungswechsels, Forscher- und Diskussionskreis DDR-Geschichte: hefte zur ddr-geschichte, H. 33, Berlin 1996

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Mit dieser Entwicklung hatte die SED-Führung „intensives Gestaltungshandeln im Rahmen einer strategischen Konzeption"63 eingetauscht gegen Machterhalt durch pragmatisches Lavieren bei Abwesenheit jeglicher Strategie. Die Chance, substantielle Reformen des gesellschaftlichen Systems als dessen Selbstveränderung zu initiieren und durchzuführen, war in der DDR nicht genutzt worden. Fortan konnte an Reformen, die mehr sein wollten als kleine Verbesserungen, nur noch gegen das System gedacht werden.

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G. Lauterbach. a. a. O., S. 1.

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Das Ringen um wissenschaftlich-technischen Höchststand: Spionage und Technologietransfer

Der vorliegende Aufsatz beschäftigt sich mit der Frage, wie Spionage für das Streben der DDR nach wissenschaftlich-technischem Höchstniveau eingesetzt worden ist. Weil ein großer Teil der Wissenschafts- und Technikspionage in der Beschaffung von Wissen im Westen und dessen Transfer über geheime Kanäle in den Osten bestand, beschäftigt sich dieser Beitrag eingehend mit den internen Arbeitsweisen des operativen Technologietransfers einschließlich seiner Geschichte, seiner Organisation, seiner Verfahren und Methoden und seines Personals. Per definitionem ist Technologietransfer der physische Transfer von Technik über Grenzen. Die Assimilation der Technik innerhalb des Empfängerlandes selbst wird dabei gewöhnlich nicht einbezogen. Obwohl es für den Technologietransfer eine „Schaltstelle" gab, die für die Übergabe der Informationen und Ausrüstungen an Wissenschaftler und Industrie Sorge trug, erstreckte sich die Verantwortung des MfS nicht auf deren Einbeziehung in die Infrastruktur des Landes. Über den Gebrauch, der von den durch das MfS beschafften Materialien gemacht worden war, und die damit in Forschung und Entwicklung erzielten Vorteile wurden jedoch gelegentlich Berichte von der Abwehr abgefaßt. Eine Betrachtung von Wissenschaft und Technik durch die Optik der Spionage erweitert unsere Kenntnis, wie die Wissenschaft in der DDR funktionierte. Die Abteilungen für Wissenschaftsspionage wurden dort zu einem integralen Bestandteil des Wissenschaftsbe* Dieser Text ist eine gekürzte Fassung meines Beitrages in der englischen Ausgabe von „Science under Socialism". Ich danke Bernhard Priesemuth für seine Hilfe beim Auffinden früherer Agenten, Offiziere und anderer Informationsquellen und für die zahlreichen angeregten Gespräche über Spionage in der DDR. Weiter gilt mein Dank den Mitarbeitern der Gauck-Behörde für das aufwendige Unterfangen, in den gerade erst geöffneten Archiven Dokumente ausfindig zu machen; besonders dankbar bin ich Heidemarie Beidokat für ihre unermüdliche Unterstützung und ihr Interesse an dem Projekt. Schließlich möchte ich auch den früheren Offizieren danken, die zu vertraulichen Auskünften bereit waren. Die erhalten gebliebenen Belege für diese Untersuchungen sind verfügbar in der „Gauck-Behörde", dem Archiv des aufgelösten Ministeriums für Staatssicherheit (offizielle Bezeichnung: Der Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik- im folgenden: BStU). Seit Öffnung des Archivs für die Allgemeinheit im Jahre 1992 können Einzelpersonen ihre „Stasi-Akten" einsehen, und Wissenschaftler können die Abteilung „Bildung und Forschung" benutzen. Allmählich beginnen auch profundere Untersuchungen zu erscheinen, die von der „Gauck-Behörde" oder von einzelnen Wissenschaftlern erarbeitet worden sind. Rainer Eckert hat beispielsweise ausführlich über die Humboldt-Universität und das MfS publiziert.

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triebes; sie führten die Direktiven der SED aus, unterstützten oder stimulierten sie, bedienten Bedürfnisse von Wissenschaftlern oder Industrie und hielten die Wissenschaft unter Kontrolle. Mitunter erbrachte das MfS eigenständige Beiträge zur Wissenschaft und wirkte als Vermittler von Wissen aus dem Westen und als Initiator von Projekten. Aufschlußreich ist die Art und Weise, in der andere Staats- und Parteiorgane wie das Politbüro und die verschiedenen Wissenschaftsministerien mit dem MfS zusammenarbeiteten. Das MfS durchdrang auch die Welt von Wissenschaft und Technik, ebenso wie jeden anderen Lebensbereich in der DDR. Der vorliegende Beitrag ist in vier Teile gegliedert. Der erste Teil beschreibt das Verhältnis des MfS, insbesondere seines Sektors für Wissenschaft und Technik (SWT), zu Partei und Staat. Er diskutiert die innenpolitischen Gründe des Bedürfnisses nach verdecktem Technologietransfer als Bestandteil des Strebens nach wissenschaftlich-technischer Leistungsfähigkeit und wirtschaftlicher Stärke. Der zweite Teil beschreibt die hauptsächlichen Beschaffungsorgane für westliche Wissenschaft und Technologie, den Bereich Kommerzielle Koordinierung (KoKo),und insbesondere den Sektor für Wissenschaft und Technik. In einem größeren Abschnitt wird die Funktionsweise der Auswertungsabteilung des SWT als einer Schaltstelle für den Technologietransfer behandelt. Die Wiener Residenter wird als ein Bindeglied für den Technologietransfer zwischen Ost und West gekennzeichnet. Teil 3 erläutert die Rolle von Agenten und Führungsoffizieren als Medien des Technologietransfers. Der letzte Teil demonstriert am Beispiel der Spionage auf dem Computergebiet, wie der DDR das Bemühen um technisches Spitzenniveau mißlang. Dieses Beispiel illustriert auch die Entwicklung eines „Staatssicherheitsregimes" und die Kooperation zwischen dem MfS und anderen Institutionen in der DDR. Im Unterschied zur herkömmlichen Sammlung und Analyse politischer und militärischer Informationen ging es der Wissenschafts-, Technik- und Wirtschaftsspionage in den Ostblockländern nicht so sehr um den Schutz der nationalen Sicherheit als vielmehr in erster Linie um die Anhebung des wirtschaftlichen und technologischen Niveaus des jeweiligen Landes. Während der gesamten ostdeutschen Geschichte wurde die Wissenschafts- und Technikspionage als ein notwendiger Faktor für die Belebung oder Unterstützung der oftmals ineffizienten Wirtschaft betrachtet. Losungen der Partei glorifizierten gewöhnlich die „wissenschaftlich-technische Revolution" und hoben die Bedeutung der Technologie als einer Produktivkraft hervor; die DDR beanspruchte den Status eines technisch entwickelten Landes. In Direktiven des MfS an die operativen Einheiten wurden Anweisungen ausgegeben, das Niveau der Wirtschaft durch Verstärkung der Wirtschaftsund Technikspionage zu heben. An der Spionageschule wurde den Anfängern erklärt, daß es die Aufgabe der wissenschaftlich-technischen Aufklärung sei, „die Wirtschaft zu stärken".1 Ein anderes Thema, das hier auftaucht, ist das Bestreben der DDR, ihre Rückständigkeit zu überwinden und das gleiche wissenschaftliche und technische Niveau wie der Westen zu erreichen. Letztendlich war die DDR jedoch außerstande, mit der westlichen Technologie gleichzuziehen oder diese gar zu überholen. Wie es ein ehemaliger Geheimdienstoffizier drastisch ausdrückte, war das Ziel der Aufklärung, „aus Scheiße Gold zu machen".2 Die DDR war ein zentraler Akteur bei der Beschaffung von wissenschaftlichen Ergebnissen und technischem Know-how aus dem Westen und deren Transfer in den übrigen 1 BStU, Bezirksverwaltung des MfS Leipzig, Arbeitsbuch, Nr. 4106. 2 Interview mit einem ehemaligen SWT-Offizier, Dezember 1994.

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Ostblock und insbesondere in die Sowjetunion. Gelegenheiten zur Spionage waren in der Bundesrepublik, mit der die DDR eine gemeinsame Sprache und Kultur teilte, leicht zu schaffen. In den sechziger und siebziger Jahren hatte Westdeutschland, anders als der Osten, in Wissenschaft und Technik internationalen Standard erreicht; daraus konnte man - so hoffte die DDR - für die Wissenschaft im Osten Nutzen ziehen. Obwohl die DDR von einem strategisch günstigen Platz aus operierte, stieß es nach dem zweiten Weltkrieg und seiner nachfolgenden Einbeziehung in den Sowjetblock in seiner wissenschaftlich-technischen Entwicklung auf zahlreiche Hindernisse. Zwischen Ost und West war manches Wissen legal austauschbar, aber Technik durfte in den Ostblock größtenteils nicht legal exportiert oder transferiert werden, weil dem Embargobestimmungen und industrielle Restriktionen entgegenstanden. Interne Unternehmensinformationen und militärische Wissenschaft und Technologie waren durch Geheimhaltungsvorschriften vom freien Austausch ausgeschlossen. Als Reaktion auf diese Beschränkungen des Wissensaustausches schufen die Spionageagenturen Einheiten für wissenschaftlich-technische Aufklärung, um den Bedürfnissen des eigenen Landes innerhalb der wachsenden globalen technischen Gemeinschaft nachzukommen.

Die Arbeitsweise Schild und Schwert Wie viele Spionageagenturen war auch das MfS ein Kind des Kalten Krieges. Aufgabe und Charakter waren durch politische Zielstellungen bestimmt. Das MfS entstand 1950, unmittelbar nach der 1949 erfolgten Gründung der DDR, und charakterisierte sich selbst als „Schild und Schwert der Partei".3 Wie die Metapher verdeutlicht, sollte das MfS die SED als das führende Machtzentrum auf defensive Weise schützen (Schild) und zugleich eine offensive Rolle spielen (Schwert); das Bild weckt militärische Assoziationen. Die Organisation des MfS war militaristisch und bürokratisch; die Abteilungen, Unterabteilungen und Gruppen wurden von Offizieren mit militärischen Dienstgraden (Oberst, General usw.) geleitet. Selbst der MfS-Jargon („Aufklärung" usw.) ähnelte dem des Militärs. In vierzig Jahren DDR war es Aufgabe des MfS, die Beschlüsse der SED zu erfüllen und damit deren Zielstellungen abzusichern. Unzählige Befehle und Direktiven - gerade auch solche, die sich auf die Wissenschaft beziehen - beginnen mit der Feststellung, daß gewisse Aktionen erforderlich seien, um Beschlüsse einer Konferenz oder eines Parteitages der SED erfüllen zu helfen. So reagierte das MfS im Jahre 1956 auf die von der III. Parteikonferenz der SED verkündete Orientierung, auf allen Gebieten der Wirtschaft internationalen Standard zu erreichen, mit der Gründung einer Auswertungseinheit für Wissenschaft und Technik, auf die weiter unten näher eingegangen wird; die SED forderte eine schnelle Entwicklung von Wissenschaft und Technik. Das MfS beantwortete den Auftrag der Partei 3

Vor dem Fall der Mauer und der Öffnung der MfS-Archive war die gründlichste Untersuchung des MfS das Buch von K. W. Fricke: Die DDR-Staatssicherheit. Entwicklung, Strukturen, Aktionsfelder, Köln 1982. Eine der ersten größeren Untersuchungen aus der Zeit nach 1989 ist D. Gill, U. Schroeter: Das Ministerium für Staatssicherheit.. Anatomie des Mielke-Imperiums, Reinbek 1991. Diese Arbeit konzentriert sich auf die Struktur des MfS.

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mit einer Direktive, den Umfang der Wissenschaftlern und Industrie in Ostdeutschland verfügbaren wissenschaftlich-technischen Informationen beträchtlich zu erhöhen. Dokumente aus den achtziger Jahren demonstrieren ebenfalls das Verhältnis von Weisung und Reaktion, das zwischen SED und MfS auf den Gebieten des HighTech-Transfers und speziell bei den Programmen bestand, die als Antwort auf Ronald Reagans Strategische Verteidigungsinitiative (SDI) entwickelt worden waren. Über die bloße Erfüllung von Parteibeschlüssen hinaus versorgte das MfS die SED-Führung auch mit Informationen über Problemgebiete. Um die Interessen der Partei zu wahren, übermittelte das MfS der Parteiführung solche Informationen oftmals im Vorfeld der Ausarbeitung von Beschlüssen. Häufig erkannte das MfS früher als die Parteiführung die Bedeutung bestimmter Gebiete, beispielsweise der Computertechnik (näheres dazu in Teil IV). Günter Mittag, Politbüromitglied und führender Wirtschaftsfunktionär, spielte eine Schlüsselrolle im Zusammenspiel zwischen der wissenschaftlich-technischen Entwicklung und dem MfS. Er erhielt nicht nur vom MfS Informationen, sondern kooperierte auch aktiv mit dem Ministerium für Außenhandel und dem Chef seiner Abteilung für Kommerzielle Koordinierung, Alexander Schalck-Golodkowski. Auch die verschiedenen Wissenschaftsministerien, darunter das Ministerium für Wissenschaft und Technik und das Ministerium für Elektronik, arbeiteten mit Mittag zusammen. Zum Beispiel kooperierte in den achtziger Jahren das MfS (sowohl die Auslandsaufklärung als die Spionageabwehr) mit Schalck, Mittag und dem Ministerium für Elektronik, um in den Besitz von Computern zu gelangen, die dem westlichen Embargo unterlagen. Mitunter schlug das MfS seine eigenen Projekte vor, die nicht immer die Billigung der Partei fanden. So hatte die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), der mit Außenaufklärung befaßte Teil des MfS, und speziell ihr Sektor für Wissenschaft und Technik (SWT) Informationen über den Kunststoff Polyurethan gesammelt und verfolgte die Absicht, diese Informationen aus dem Westen für den Bau einer Polyurethanfabrik nutzbar zu machen. Markus Wolf und sein Stab waren von diesem Kunststoff begeistert - einem „wunderbaren Material", wie sich Wolf 1995 erinnerte - und daran interessiert, diese chemische Technologie in der DDR einzuführen. Der SWT hatte die Skizzen der Formeln aus einer der Nachfolgefirmen der I.G.Farben beschafft. Die Parteiführung zeigte jedoch kein Interesse, und es bedurfte einiger Überredungskunst und der Ausnutzung „menschlicher Schwächen", um sie von der Bedeutung der Angelegenheit zu überzeugen. Anscheinend kaufte das MfS für Walter Ulbricht zum Geburtstag eine Couch aus Kunststoff. Dieses Geschenk war hinreichend, um ihm die Bedeutung des Projekts nahezubringen. Indes fand es keine Aufnahme in den Staatsplan; die Spionageabwehr war der Ansicht, daß es der Wirtschaft schaden würde, und wandte sich gegen das Polyurethanprojekt.4

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Interview mit Markus Wolf über Polyurethan im Juli 1995. Werner Stiller und andere Offiziere hatten das Projekt gleichfalls als ein „MfS-Projekt" beschrieben.

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Die wichtigsten Beschaffungsorgane In der DDR gab es im wesentlichen zwei Kanäle zur illegalen, halblegalen und legalen Beschaffung von westlicher Technologie. Der halblegale und bisweilen legale Weg war der Import westlicher Waren durch das Ministerium für Außenhandel und seinen 1966 gegründeten Bereich Kommerzielle Koordinierung (KoKo), der auch mit der von Günter Mittag geleiteten Abteilung Wirtschaft im Zentralkomitee verbunden war; Chef von KoKo war Schalck. Obwohl das Ministerium für Außenhandel offiziell keine geheimdienstliche Einrichtung darstellte, waren seine leitenden Funktionäre entweder hauptamtliche oder inoffizielle Mitarbeiter. Sämtliche Angehörigen des Bereiches von Schalck, „ohne jede Ausnahme", waren hauptamtliche Mitarbeiter des MfS. Zur Zeit des Zusammenbruchs der DDR stand Schalck in der Gehaltsliste des MfS (das Ministerium hatte 85 000 hauptamtliche Mitarbeiter) an dreizehnter Stelle (sein Jahresgehalt betrug 54 700 Mark, was etwa dem vierfachen des DDR-Durchschnittsverdienstes entsprach).5 KoKo übernahm die Geldwäsche für die von der DDR und dem MfS verwendeten harten Devisen und gründete Tarnfirmen, um mit westlichen Unternehmen Geschäfte zu tätigen. Der BND nimmt an, daß mehr als 90 % der DDR-Mikroelektronik durch Schalck illegal beschafft worden sind. Wie es heißt, wurden dem SWT zwischen 1987 und 1990 durch KoKo 400 Mio DM in bar zur Verfugung gestellt.6 Das zweite Beschaffungsorgan war der zur HVA gehörige Sektor für Wissenschaft und Technik. Während sich KoKo auf den Erwerb von Ausrüstungen, speziell Computern, konzentrierte, befaßte sich das SWT mit typischer Spionagearbeit - dem Beschaffen von Skizzen, Plänen, wissenschaftlichen Informationen usw. (später auch Geräte) durch im Westen verteilte Agenten. Der SWT erfüllte ein breites Spektrum von Funktionen, darunter die Analyse von Wissenschaft und Technik in Westdeutschland. Diese Analyse galt sowohl den Institutionen als auch dem dort beschäftigten Personal. Definitionsgemäß schloß die Aufgabe der wissenschaftlich-technischen Aufklärung die „Beschaffung und Analyse der wissenschaftlich-technischen Errungenschaften des Gegners" ein. Es gab eine ständige Überwachung der Wissenschaft in der Hoffnung, daß die Ergebnisse militärisch oder zivil genutzt werden könnten. Weiterhin sammelte der SWT Informationen über die westliche Nuklearrüstung und Militärtechnik, um eines Tages dem „Überraschungsmoment" zuvorkommen zu können.7 Nach 1979 begann die Spionageabwehreinheit des MfS für den „Schutz der Wirtschaft" (Abteilung XVIII) ebenfalls im „Operationsgebiet" Westdeutschland zu arbeiten, wobei sie bei der Beschaffung von Informationen mit der HVA und anderen staatlichen Organen zusammenwirkte. Obwohl diese Abteilung seit 1964 eine Arbeitsgruppe für Reisekader und Auslandskader hatte, wurde eine selbständige Gruppe für das „Operationsgebiet" erst 1979 5 BStU, BKK 1587, Information über die Tätigkeit des Bundesamtes für Verfassungsschutz zu speziellen Problemen der Wirtschaft der DDR, S. 2. Angaben zum Gehalt nach der gedruckten Gehaltsliste, veröffentlicht in: Die Andere. Unabhängige Wochenzeitung für Politik, Kultur u. Kunst, 1991, 12. 6 Die Angabe von 90 % stammt aus: Der Spiegel, 1991, 20, S. 35. Der dem SWT zugefiihrte Betrag wurde von einer vertraulichen Quelle mitgeteilt.. Ein ausführlicher Bericht zur KoKo und zur Zusammenarbeit von KoKo und SWT, wird in der ungekürzten Fassung dieses Beitrags in der amerikanischen Ausgabe gegeben; vgl. auch „Beschlußempfehlung und Bericht des 1. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes", in: Deutscher Bundestag, 12. Wahlperiode, Drucksache 12/7600, Bonn 1994. 7 BStU, Abteilung Leipzig, Arbeitsbuch Nr. 4106, S. 31; Arbeitsbuch Nr. 4133, S. 10.

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gegründet (vielleicht im Gefolge des weiter unten erörterten Übertritts von Werner Stiller). 1980 wurde sie zu einer eigenen Abteilung (XVIII/14). Die Spionageabwehr hatte Verbindungsoffiziere und Berater aus der Sowjetunion und arbeitete mit den Spionageabwehrorganisationen der anderen Ostblockländer („Bruderorganen") zusammen.8

Der Sektor iur Wissenschaft und Technik: Mechanismen des Technologietransfers Der Ausbau des Sektors für Wissenschaft und Technik (1971 so bezeichnet) von einer kleinen Gruppe von Mitarbeitern, die in den 50er Jahren die westdeutsche Industrie analysierten, zu einer großen und leistungsfähigen wissenschaftlich-technischen Aufklärungseinheit am Ende der DDR (etwa 400 Angehörige im Jahre 1989) spiegelt sowohl die Bedeutung von Wissenschaft und Technik für die DDR als auch die ungezügelte Expansion des MfS wider. Obwohl die Mehrzahl der operativen Akten dieser Einheit nach dem Fall der Mauer vernichtet worden ist, sind Informationen über Struktur und Personal des Sektors erhalten geblieben. Neben den Auskünften von Überläufern sind es Gespräche von Vernehmern und von Historikern mit inhaftierten Agenten und früheren Offizieren. Heinrich Weiberg, ein Industriechemiker, wird gewöhnlich die Gründung des Sektors als Abteilung für wissenschaftliche und technische Aufklärung im Institut für Wirtschaftswissenschaftliche Forschung (IWF), einer Tarnorganisation des Außennachrichtendienstes (APN), zugeschrieben.9 Am 2. Januar 1959 wurde er Chef der Abteilung V, des Vorläufers des Sektors für Wissenschaft und Technik, untergebracht in der neugegründeten Abteilung XV, wie die HVA damals genannt wurde.10 Obwohl viele Details noch im Dunkeln liegen, besteht allgemeine Übereinstimmung darüber, daß die Sowjetunion bei der Gründimg dieser Einheit eine entscheidende Rolle spielte. Die Angehörigen der Gründergeneration hatten, so wie Weiberg, eine bestimmte Zeit in der Sowjetunion verbracht, und Berater aus Karlshorst - dem sowjetischen Viertel, in dem sich Büros des KGB befanden - standen zur Verfügung. Die Sowjetunion besaß selbst ein Beschaffungsorgan - das Direktorat T - , das seinem Charakter nach dem SWT sehr ähnlich war. Das sowjetische Direktorat T war dem ersten Direktorat zugeordnet, das für die Auslandsaufklärung verantwortlich zeichnete. Der Mitarbeiterstamm war hochgebildet und wurde aus den besten Universitäten rekrutiert. Mindestens 500 der Mitarbeiter verfugten über eine naturwissenschaftlich-technische Ausbildung. Das Direktorat T wirkte mit der Linie X zusammen, die im Ausland in Botschaften arbeitete - in den legalen Residenzen, Handelsmissionen und Konsulaten - und die über nicht weniger als 20 000 in den illegalen Hochtechnologietransfer einbezogene Agenten verfügte. Es hatte Unterabteilun-

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BStU, MfS, HA, XVIII, Nr. 563, S. 137-149; MfS, JHS, 20089. Untersuchungsergebnisse zum Thema: Arbeit mit Personen in und bei dem Operationsgebiet durch Linie XVIII. von G. Grund, W. Meine/,:Hochschule des Ministeriums für Staatssicherheit, Potsdam, 20.Dezember 1985. Zu den sowjetischen Verbindungsoffizieren gehörten Budachin, Lubimov und Gubkin. P. Richter, K. Rösler: Wolfs West-Spione. Ein Insider-Report, Berlin 1992, S. 52-53; Weiberg wird hier als ein Ingenieur beschrieben. BStU, Kaderkarte: Heinrich Weiberg.

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gen für Atomindustrie, chemische Industrie, Computer, Flugzeuge, Biologie, Bakteriologie, Waffensysteme und allgemeine Fragen der politisch-militärischen Strategie.11 Allein im Jahre 1960 kaufte oder schmuggelte das Direktorat T 8029 klassifizierte Technologien, Entwürfe und Schemata und 1311 Ausrüstungsgegenstände aus dem Westen.12 Während für die DDR das hauptsächliche „Operationsgebiet" in Westdeutschland lag, konzentrierte sich der KGB vor allem auf die USA. Das Zentralkomitee bat den KGB, einen Operationsplan gegen die USA vorzubereiten. Daraufhin übermittelte der KGB einen Bericht mit Plänen, in amerikanischen Wissenschafts- und Technikzentren, Universitäten, Industriebetrieben und Unternehmen des Raketen- und Flugzeugbaus, der Elektronik und der Chemie Agenten zu plazieren. Der KGB plante, für seine Spionageaktivitäten gegen die USA andere Länder einschließlich Westdeutschlands zu nutzen. Die Agenten erhielten den Auftrag, in wissenschaftliche, industrielle und militärische Institutionen mit direkten Beziehungen nach Amerika oder zu amerikanischer Technologie einzudringen. Weiterhin sollten „Maklerfirmen" in Amerika, England und Frankreich gegründet werden, um klassifizierte technische Informationen zu beschaffen und moderne amerikanische Ausrüstungen zu kaufen.13 1973 wurde das Direktorat T offenbar zu einem Bestandteil des Systems „Spezinformazija", das der Beschaffung militärisch relevanter Technologie diente. Nach Überläuferinformationen, die die französische Spionageabwehr in den frühen achtziger Jahren erhielt, wurden die Beschaflungsaktivitäten von der Militärisch-industriellen Kommission (VPK) gesteuert, die die militärischen Forschungs-, Entwicklungs- und Produktionsaktivitäten koordinierte. Die VPK übermittelte Aufträge an fünf Beschaffungsagenturen: den KGB, den GRU (militärischer Aufklärungsdienst), das Staatliche Komitee für Wissenschaft und Technik, eine getarnte Einheit innerhalb der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, und das Staatliche Komitee für Außenwirtschaftliche Beziehungen.14 Andere Ostblockländer fungierten als Kanal für den Wissenschafts- und Technologietransfer in die Sowjetunion. Allein 1980 stammten 54,1 % des dem Direktorat T im KGB übermittelten Materials von osteuropäischen Geheimdiensten. Der über mehrere Jahre hinweg berechnete Durchschnitt soll bei 20,2 % gelegen haben. Zweifellos leistete Ostdeutschland aufgrund seiner operativen Vorteile dabei den größten Beitrag. 80 % des von den Beschaflungsorganen zusammengetragenen Materials war offiziellen Quellen entnommen und unterlag nicht der Geheimhaltung. Der KGB führte Klage darüber, daß seine Berliner Residentur amerikanische Firmenberichte als klassifiziertes Material hinzustellen suchte.15 In den fünfziger Jahren spielte in den Beziehungen zwischen dem KGB und dem MfS, insbesondere auf dem Gebiet der angewandten Physik, Robert Rompe eine maßgebliche Rolle. Er stellte speziell zwischen der Physikalischen Gesellschaft der DDR, und dem MfS 11 12

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R. O. M. Engberding: Spionageziel Wirtschaft. Technologie zum Nulltarif Düsseldorf 1993, S. 94; Soviet Acquisition of Militarily Significant Western Technology. White Paper, 1982, S. 16. KGB an Nikita Chruschtschow. Berichte für 1960, 14. Februar 1961, in: Sekretariat des ZK der KPdSU. Spezialdossier, zitiert inach V. M. Zubok: Spy vs. Spy: the KGB vs. CIA, 1960 - 1962, in: Cold War International History Project Bulletin, Fall 1994, S. 22-33, hier S. 24. Ebenda. P. Hanson: Soviet Industrial Espionage: Some New Information, London. The Royal Institute of International Affairs. Discussion Paper Nr. 1, 1987, S. 1-39, hierS. 9. VPK bedeutet Vojenno-promyschlennaja kommissija. Ebenda, S. 29 und 33.

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eine persönliche Verbindung her.16 Wahrscheinlich gehen Rompes Verbindungen zum KGB und seine Aktivitäten auf dem Gebiet der Industriespionage in die Zeit des Dritten Reiches zurück. In einer Befragung durch das Zentralkomitee wegen vermuteter Beziehungen zu Noel Field gestand Rompe zu, in „illegale Tätigkeit vor und nach seinem Eintritt (1932) in die Partei (die KPD - K.M.) einbezogen gewesen zu sein. In dieser Zeit sammelte er „Material über neue Arbeiten in der Berliner Elektroindustrie. Das wurde BB (BetriebsBerichterstattung) genannt.... später arbeitete ich bei Osram". Eine andere Quelle gibt an, er habe seine Arbeit nach dem Beitritt zur Partei begonnen und bei Osram Material über das Gebiet der Elektrotechnik gesammelt, als er mit einem „Zirkel illegal arbeitender Genossen" in Verbindung stand.17 Rompe, geboren in St. Petersburg, war in der DDR als „graue Eminenz der Physik" bekannt. Er gehörte zur Elite der DDR-Wissenschaft und organisierte den Kreis jener Fachleute, die nach dem Krieg daran gingen, den Wissenschaftsbetrieb in der sowjetischen Besatzungszone wieder aufzubauen. Das Zentralkomitee, dem er selbst angehörte, betrachtete ihn als einen politisch akzeptablen „fortschrittlichen Wissenschaftler". Mit Heinrich Weiberg wirkte er in der Frage der strategischen Gestaltung des Gebietes zusammen. Infolge seiner überragenden Position in einem so kleinen Land wie der DDR übte er auf die Ausbildung und den Einsatz von Studenten einen großen Einfluß aus. Rompe wurde bald zu einem der wertvollsten Mitarbeiter des Sektors und hatte persönliche Verbindung zu Oberst Willi Neumann, dem stellvertretenden Sektorleiter.18 Während die Sowjetunion in den fünfziger Jahren alte und neue Kontakte in Ostdeutschland aktivierte, ging das MfS daran, ein Netz von Informanten für die Arbeit in westdeutschen Firmen aufzubauen, und begann mit der Einführung von Auswertungsmethoden (siehe unten). Mitte bis Ende der fünfziger Jahre schien sich die Spionage auf die Industrie zu konzentrieren, wenngleich die Atomphysik ebenfalls ein wichtiger Schwerpunkt war.19 Anscheinend wurden Diebstahl, Kauf oder Schmuggel von wissenschaftlich-technischen Embargogütern damals noch nicht mit größerem Nachdruck betrieben. In dieser Zeit wurde in der HVA die Abteilung V unter Leitung von Heinrich Weiberg gegründet. 1962 wurde Paul Bilkes Gruppe für wissenschaftlich-technische Auswertung in die Abteilung V eingegliedert. Nach und nach entstanden die operativen Bereiche 1, 2 und 3, die Physik und Chemie, Computer sowie Weltraum- und Militärtechnik betrafen. Im Februar 1956 hatte das MfS bereits Mitarbeiter für „Kader- und Sicherheitsfragen" im Amt für Technik und im Amt für Atomforschung und -technik eingesetzt, um „zu verhindern, daß feindliche Elemente in wichtige Betriebe eindringen, und um Staatsgeheimnisse zu wahren". Vier Monate später, im Juni 1956, schuf das MfS eine eigene Einheit für

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Interview mit Werner Stiller am 3. September 1993. Stiller behauptet, daß Rompe ein IM gewesen sei und daß er dessen Akte gesehen habe, während ein anderer ehemaliger Offizier erklärt, daß er eine „Kontaktperson" gewesen sei und daß es eine Persönlichkeit seines Formats nicht nötig gehabt hätte, als IM zu fungieren. Siehe auch W. Stiller. Im Zentrum der Spionage, Mainz 1986; englische Übers.: Derselbe: Memoirs of an East and West German Spy, Washington 1992.

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Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (im folgenden:SAPMO), SED. Personalakte Robert Rompe in der Zentralen Parteikontrollkommission. Interview mit Werner Stiller am 3. September 1993 anläßlich meines Werkstattgespräches in Berlin über die Wissenschaft in der Deutschen Demokratischen Republik. Siehe auch W. Stiller: Im Zentrum. BStU, Politische Dokumente. Anweisungen.

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wissenschaftlich-technische Auswertung und arbeitete mit der im Amt für Technik operierenden Einheit zusammen.20 In den frühen sechziger Jahren wurden die Aufgaben und Ressourcen für den Wissenschaftssektor generell erweitert. 1962 wurde in Jena ein spezielles Referat eingerichtet. Jena verfügte über alte Traditionen wissenschaftlicher Exzellenz und war Sitz von Zeiss, einer durch ihre optischen Geräte weltbekannten Firma. Das MfS erkannte, daß Jena wegen der mit Universität, Instituten und Großbetrieben verbundenen Wissenschaftlergemeinde „operative Voraussetzungen" bot.21 In den späten sechziger Jahren befahl Mielke eine verstärkte Koordination bei der Beschaffung von Prototypen, Modellen und Dokumentationen auf dem Gebiet der Militärtechnik unter Einbeziehung von konventionellen Waffen, Flugzeugen und Raketen, militärischer Elektronik, ABC-Waffen, Abwehrwaffen und Militärfahrzeugen.22 1969 wurde der Mitarbeiterbestand dieses Sektors erheblich aufgestockt, 34 neue Stellen in neuen Unterabteilungen eingerichtet, und der Sektor so reorganisiert, daß die Arbeit auf dem Gebiet der Militärtechnik von den Aufgaben für die Wirtschaft abgetrennt wurde. Die Notwendigkeit der Beschaffung von Prototypen aus dem Bereich der Militärtechnik wurde erneut betont.23 Im Juli 1971 gab es eine größere Reorganisation, und die institutionellen Formen wurden konsolidiert, als die Abteilung V zu einem selbständigen Sektor für wissenschaftlichtechnische Aufklärung mit den drei operativen Abteilungen XIII, XJV und XV und der allein der Auswertung gewidmeten Abteilung V wurde. Diese Umgestaltung fiel mit dem Aufstieg Erich Honeckers zum Staatsoberhaupt zusammen, und es ist nicht überraschend, daß der Sicherheitsdienst expandierte, denn Honecker war im Zentralkomitee vorher für die Aufsicht über die Staatssicherheit verantwortlich gewesen. Wie Ulbricht verherrlichte auch Honecker Wissenschaft und Technik und forderte den Fortschritt von „Schlüsseltechnologien" wie der Mikroelektronik. Die Expansion und Stellung des Sektors spiegelte auch den gleichen Trend in der Sowjetunion, wo die Bedeutung von Wissenschaft und Technik erneut hervorgehoben wurde. In den siebziger Jahren nahm die von der DDR und der Sowjetunion ausgehende Wissenschafts- und Technikspionage spürbar zu. Weiberg war nun Chef des Sektors, und Wilhelm Neumann sein Stellvertreter. Die Abteilung XIII wurde von Horst Vogel, die Abteilung XIV von Werner Witzel und die Abteilung XV von Gerhard Franke geleitet. 1975 übernahm Vogel den ganzen Sektor, und Gerhard Jauck folgte ihm in der Leitung der Abteilung XIII nach.24 Die drei operativen Abteilungen waren für verschiedene naturwissenschaftliche, technische oder ökonomische Disziplinen zuständig und umfaßten gegen Ende der DDR ungefähr 188-197 Mitarbeiter (einschließlich Offiziere im operativen Einsatz, Fahrer und Sekretärinnen). Die Auswertungseinheit war verhältnismäßig größer und hatte etwa 113 20 21 22 23 24

BStU, Politische Dokumente. Instruktionen für die Einsetzung von Direktoren für Kader- und Sicherheitsfragen im Amt für Technik und im Amt für Atomforschung und -technik..., 28. Februar 1956. BStU, Politische Dokumente. Anweisungen. Befehl Nr. 172/62 vom 2. April 1962. BStU, Befehl Nr. 23/69 vom 24. Juni 1969 über die Koordinierung von Maßnahmen für die Beschaffung von Prototypen wichtiger Militärtechnik, unterzeichnet von Mielke. BStU, Dokumente. Anweisungen. Befehl Nr. 23/69 vom 24. Juni 1969 und Befehl Nr. 29/69 vom 9. August 1969. BStU, Anweisungen. Ministerrat, MfS, Büro des Direktors, 12. Februar und 9. Juli 1971. Weitere Informationen wurden nach den Kaderkarten des SWT-Personals zusammengestellt.

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Offiziere. Das Leitungspersonal des SWT bestand aus ca. 74 Personen.25 Der Sektor war insofern unikal, als er über eine eigene Auswertungseinheit verfugte. Einiges Material aus dem Sektor wurde an die Abteilung VII zur Analyse übergeben. Die Abteilung XIII (früher Bereich V/1) war für die Grundlagen- und Anwendungsforschung auf den Gebieten Atomphysik, Chemie, Medizin, Biologie, Gentechnik und Landwirtschaft zuständig. Wie die Unterlagen zeigen, wurde auch eine Abteilung für Operationen in Amerika eingerichtet, höchstwahrscheinlich nach Eröffnung der Botschaft der DDR in den Vereinigten Staaten im Jahre 1972. Leider ist über diese legale Residentur nicht viel bekannt. Über die Abteilung XIII war man im Westen vor dem Fall der Mauer hauptsächlich durch den Übertritt von Stiller informiert. Er teilte Einzelheiten über die operative Arbeit auf dem Gebiet von Atomphysik und Atomtechnik mit und enttarnte Schlüsselagenten im Kernforschungszentrum Karlsruhe und bei IBM. Weiter berichtete er über die Durchdringung der Physikalischen Gesellschaft der DDR und das Kernforschungszentrum Karlsruhe durch das MfS. Erstere war von MfS-Mitarbeitern durchsetzt, letztere war ein „Objekt", über das Informationen gesammelt wurden. Zudem wurden die aus Karlsruhe gewonnenen Spionageinformationen direkt in die Sowjetunion weitergeleitet. Die Sowjetunion wollte nicht nur wissen, ob in Westdeutschland Kernwaffen gebaut würden, sondern nutzte die erlangten Kenntnisse auch für ihre Kernenergetik. Die Abteilung XIV (früher Bereich V/2) arbeitete hauptsächlich auf dem Computergebiet, sowohl für den militärischen als auch für den zivilen Gebrauch. In Bezug auf Computer, Optik und Laserforschung kooperierte die Abteilung eng mit Carl Zeiss Jena. In einem Interview mit mir nannte Markus Wolf Jena „ein Kind der HVA". Aus der Auslandsabteilung sind nicht genügend Akten erhalten geblieben, um diesen Anspruch zu erhärten, doch es existieren ausreichend andere Belege, um ihn glaubhaft erscheinen zu lassen, so etwa die Zusammenarbeit zwischen der Abteilung XIV und Jena und die Tatsache, daß 1962 dort ein Zweigbüro der Abteilung XIV (Referat 3 unter Leitung von Reichmuth) eingerichtet wurde. Dieses „Zweigbüro" war im Kombinat Carl Zeiss Jena stationiert, um die Abteilung XIV direkt mit Informationen und Material zu versorgen. Zeiss Jena war vermutlich das erfolgreichste und international bekannteste Unternehmen in der DDR. Das MfS hatte das operative Potential von Jena frühzeitig erkannt; in den achtziger Jahren wurde das in vollem Maße realisiert. Wolfgang Biermann, Direktor von Zeiss Jena und Mitglied des ZK, hatte enge Verbindungen zum SWT und zum Politbüro und zog aus den geheimdienstlich beschafften Computermaterialien enormen Nutzen. Bei der Verwirklichung von Erich Honeckers Traumprojekt, der Entwicklung des Ein-Megabit-Chips, spielte Biermann eine zentrale Rolle. Tatsächlich hatte die HVA den Chip aus dem Westen beschafft. Zu den Aufgaben der Abteilung XIV gehörte weiterhin das Besorgen von Embargogütern. Die Abteilung XV (früher Bereich V/3) war primär verantwortlich für Militärtechnik, Luft- und Raumfahrttechnik, Maschinen- und Fahrzeugbau und deshalb unter den operativen Abteilungen die am meisten anwendungsorientierte. Sie befaßte sich auch mit der Spionage in Banken und Wirtschaftsinstituten. Aus den Aussagen von Agenten, die vor und nach dem Fall der Mauer verhaftet wurden, geht hervor, daß die Abteilung XV über 25

Weil man nicht davon ausgehen kann, daß ich über eine komplette Aufstellung verfüge, zögere ich, die Anzahl der SWT-Offiziere gegen Ende der DDR exakt zu beziffern. Meine Daten enthalten Angaben darüber, wer dem MfS seit den fünfziger Jahren an gehört hatte und bis 1989 verstorben oder in den Ruhestand getreten war. Die Kaderakten, die ich gesehen habe, geben meist nur die letzte Abteilung bzw. Tätigkeit an.

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wichtige Quellen bei Messerschmitt-Blohm-Bölkow - den wichtigsten Rüstungsbetrieben Westdeutschlands - verfügte und die kompletten Konstruktionsunterlagen für den westdeutschen Panzer „Leopard 2" und das Kampfflugzeug „Tornado" beschafft hatte. Die Militärtechnik wurde an die Sowjetunion übergeben. Zusätzlich zu den operativen Abteilungen wurden einige Arbeitsgruppen gebildet. Die wichtigste und größte davon war die Arbeitsgruppe 3 unter Erich Gaida, die 1978 zur Beschaffung militärischer Technologien und Ausrüstungen geschaffen worden war. Die Auswertungseinheit, auf die weiter unten eingegangen wird, wurde nun Abteilung V genannt; bis 1976 wurde sie weiterhin von Paul Bilke geleitet, danach von Harry Hermann. 26 Gegen Ende der DDR gehörten dem SWT etwa 300-400 Offiziere an.27 Die Personalexpansion von 35 Offizieren in den fünfziger Jahren bis auf 300 in den siebziger und achtziger Jahren war beträchtlich. Damals hatte ein größerer Teil des Personals einen naturwissenschaftlichen oder technischen Hochschulabschluß. Die Gründergeneration in den frühen Jahren hatte sich hingegen aus unterschiedlichen Berufen rekrutiert. Während Weiberg eine naturwissenschaftliche Ausbildung besaß, kam Neumann von der Polizei. In den siebziger Jahren tendierte man dazu, Offiziere mit Hoch- oder Fachschulabschluß oder sogar mit Promotion einzustellen. Vor dieser Zeit bestand das Referat 1 der Abteilung XIII beispielsweise aus einem Buchdrucker, einem früheren Angehörigen eines Wachregiments, einem Forstingenieur, einem altgedienten Sicherheitsbeamten von der inneren Sicherheit, einem Diplomlehrer für Marxismus-Leninismus und einem Maschineningenieur.28 Das MfS rekrutierte gewöhnlich parteierfahrene Kommunisten oder späterhin Kinder aus Arbeiter- oder Bauernfamilien. Während der ganzen Zeit des Bestehens der DDR war Mitgliedschaft in der SED und in der FDJ ein permanentes Auswahlkriterium. Das alles gehörte zum Nachweis der „positiven Haltung" zur DDR. Horst Vogel, der 1975 die Leitung des Sektors übernahm und dessen Entwicklungsrichtung in hohem Maße beeinflußte, hatte ursprünglich keine technische oder wissenschaftliche Ausbildung, erwarb aber später (1970) an der Technische Hochschule für Chemie in Leuna-Merseburg ein Ingenieurdiplom. Nach dem Intermezzo in Merseburg wurde er Leiter einer Unterabteilung in der HVA/V, wie der SWT damals genannt wurde. 1987 wurde er stellvertretender Chef der HVA. Ein früherer Untergebener und Überläufer charakterisierte ihn als einen „Geheimdienstmann mit Leib und Seele" und einen Leiter mit einschüchterndem Naturell.29 Die Flucht von Oberleutnant Werner Stiller aus der Abteilung XIII stürzte den Sektor 1979 in eine Krise. Stiller nahm geheime Dokumente und umfangreiche Kenntnisse über Geschichte, Struktur, Organisation und operative Tätigkeit seiner Abteilung mit in den Westen, ebenso allgemeine Informationen über den Sektor und die Einheiten der Auslandsaufklärung. Bis dahin wußte die westliche Aufklärung nur sehr wenig über den Sektor; man hatte lediglich eine Zunahme der Wirtschaftsspionage in den siebziger Jahren registriert. Stillers Übertritt war ein großer Coup für den westdeutschen Geheimdienst; 26

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Ebd. und: Ministerrat... , 21. April 1976. Paul Bilke wurde von seinen Pflichten entbunden, um „andere wichtige Aufgaben" zu übernehmen (er wurde Offizier im besonderen Einsatz - OiBe). Am 1. Juli 1976 erfolgte die Ernennung von Harry Hermann. Von BStU habe ich 384 Kader-Karten erhalten. Interview mit Werner Stiller, 20. März 1994, S. 62-63 und Kaderkarteien-Auskunft. BStU, Kaderakte Horst Vogel; zur Einschätzung durch einen Überläufer vgl. das Interview mit Stiller.

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dieser feierte den Erfolg viele Jahre lang. Stiller verriet nicht nur seine eigenen Agenten und verursachte ihre Verhaftung, sondern versah die Westdeutschen mit Hinweisen, die zur Enttarnung von Agenten in Firmen und Forschungsinstituten führte. Innerhalb weniger Monate wurden siebzehn Agenten inhaftiert. Der Übertritt Stillers lenkte erneut die Aufmerksamkeit auf das Ausmaß, mit dem die DDR westdeutsche wissenschaftliche und technische Einrichtungen und Regierungsdienststellen ausspionierte. Um noch mehr Salz in die Wunden des MfS zu streuen, publizierte Stiller 1986 zusammen mit dem BND seine Erinnerungen. In diesem autobiographischen Bericht beschrieb er seine eigene operative Tätigkeit bei der Anwerbung und Führung von Agenten. Das Buch liefert eine detaillierte Darstellung der in diesem Sektor tätigen Personen, seiner Geschichte, seiner Aufgaben und seiner Erfolge. Die operativen Details sind faszinierend und gleichermaßen wichtig für den Geheimdienstexperten wie für den Laien. Erstmals wurden die Namen der Angehörigen seiner ehemaligen Dienststelle und ihre Tätigkeiten offengelegt. Das Material über den Wissenschaftssektor ist überwiegend zutreffend. Aber bezüglich der Dauer seiner Zusammenarbeit mit dem BND wurden Fehlinformationen eingestreut. Es wurde so dargestellt, als sei Stiller mindestens sieben Jahre Doppelagent gewesen; in der Tat hatte er mit dem BND kooperiert, um sich in den Westen abzusetzen, doch hatte dieser Kontakt nur acht Monate gedauert.30 Infolge der Desinformation wandte die Staatssicherheit viel Zeit auf, um nach dem Übertritt sämtliche Spuren über Jahre zurückzuverfolgen. Alle seine früheren internen Agenten wurden befragt, und das MfS sammelte 295 Seiten Zeitungsartikel aus dem Westen über den Fall Stiller. Um das Ausmaß seiner Aktivität zu charakterisieren, erhielt Stiller in der Spionageabwehr den Decknamen „Schakal".31 In den frühen achtziger Jahren eröffneten sich für das MfS neue Schwierigkeiten, als die CIA mit der „Operation Exodus" einen Versuch startete, den Fluß illegaler Exporte in die DDR, nach anderen Ostblockländern und der Sowjetunion einzuschränken. Wie ein Geheimdienstoffizier sagte, „wurde es zunehmend schwierig, das Embargo zu umgehen". Um diesen Schwierigkeiten zu begegnen, wurde 1987 eine neue Gruppe unter Leitung von Horst Vogel gebildet.32

Eine Schaltstelle für den Technologietransfer Eine der für die Weiterleitung wissenschaftlicher und technischer Informationen von den operativen Einheiten an Wissenschaftler und Industrie wichtigsten Einrichtungen war die Auswertungsabteilung (Abt. V). Hier erfolgte die Koordinierung und Auswertung der Materialsammlung und die Anonymisierung der Quellen. Die Auswertungseinheit entstand Mitte der fünfziger Jahre als eine Schaltstelle des Technologietransfers zwischen Industrie 30

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Während des Interviews im März 1994 beschrieb Stiller die wirkliche Zusammenarbeit mit dem BND und die reale Zeitskala (von April 1978 bis Januar 1979, dem Zeitpunkt des Übertritts). Siehe auch meine Rezension der englischen Ausgabe des Buches „Spy Secrets" in: Science, December 1994. Diese Rezension wurde geschrieben, bevor ich die vollständige Geschichte der realen Kooperation mit dem BND erfahren hatte. BStU, XV / 2277/ 79, Akte Stiller . Interview mit einem Aufklärungsoffizier, März 1994; BStU, Politische Dokumente. Befehl Nr.2/87 vom 12. März 1987, Über die Koordinierung von Aufgaben und Maßnahmen zur Beschaffung von Embargogütern aus nichtsozialistischen Ländern und Westberlin.

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und Wissenschaftlern einerseits und dem MfS andererseits. Sie schien den Kern des Systems zu bilden und spielte eine wichtigere Rolle als die entstehenden operativen Abteilungen. Zu jener Zeit nutzte die Auswertungseinheit die allgemeinen operativen Abteilungen der HVA, während sie sich später auf ihre eigenen Abteilungen stützte. Gegen Ende der fünfziger Jahre hatte der SWT etwa 35 Mitarbeiter, von denen ungefähr 20 den operativen Abteilungen zugeordnet waren.33 Die Organisation der Auswertungseinheit und ihre Verantwortung für die Sammlung und Einschätzung von Material blieben während der Zeit der DDR weitgehend unverändert, entsprechend der von Mielke gegebenen Zielstellung, mit der dieser 1956 die Einrichtung einer Arbeitsgruppe für wissenschaftlich-technische Auswertung angewiesen hatte. Anlaß dafür war der Auftrag der 3. Parteikonferenz der SED, auf allen Gebieten der Wirtschaft internationales Niveau zu erreichen; dazu waren nach Ansicht der Partei rasche Fortschritte in Wissenschaft und Technik erforderlich. Die entsprechende Losung lautete: „Modernisierung, Mechanisierung, Automatisierung". Sie kennzeichnete den Fünfjahrplan als den Beginn einer neuen industriellen Revolution, die auf der Nutzung der Kernenergie, der Schwerindustrie und der weiteren Entfaltung des technischen Fortschritts basieren sollte.34 Das Ministerium für Staatssicherheit gab daraufhin eine Direktive heraus, den Umfang der den ostdeutschen Wissenschaftlern und der Industrie zur Verfügung gestellten wissenschaftlich-technischen Informationen und Dokumente entschieden zu erhöhen und die Zielstellungen der SED zu unterstützen. Zum Chef der Gruppe wurde Paul Bilke ernannt. 35 Anders als die westliche Spionage war die Auswertung des Materials zentral organisiert und untergebracht, und die Anforderungen der Industrie wurden über die Auswertungseinheit des MfS vermittelt. Das gesamte wissenschaftlich-technische Material, das dem MfS und seinen Bezirksdienststellen vorlag, wurde der Arbeitsgruppe - später eine selbständige Abteilung - zur Auswertung übergeben. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, alles auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technik verfügbare Material - Versuchsmuster, Zeichnungen, wissenschaftliche Aufsätze usw. - zu sammeln, es so zu neutralisieren, daß die Quelle nicht mehr zu erkennen war, und an die Industrie oder an Forschungsinstitute weiterzuleiten. Jegliche Vorsorge wurde getroffen, um den Schutz der Quellen zu gewährleisten. Oftmals trugen die Dokumente in Blockschrift den Hinweis „Strenger Quellenschutz". Die Gruppe war so organisiert, daß sie den wirtschaftlichen Schwerpunkten der Industrie, den wissenschaftlichen Entwicklungen in der DDR und dem Ausrüstungsbedarf der Armee entsprechen konnte.36 Die Angehörigen der Auswertungseinheit, von denen ingenieurwissenschaftliche und technologische Kompetenz erwartet wurde, hielten ständigen Kontakt mit den verschiedenen Wissenschafts-, Technik- und Industrieministerien. Diese Verbindung sollte dazu beitragen, daß die Industrie das Material effektiv nutzte, und die Industrie wurde aufgefordert, dem MfS „konkrete Hinweise" auf weiteres zu sammelndes Material zu geben. Um 33 34 35 36

Interview mit einem früheren Offizier, Dezember 1994. Protokoll der Verhandlungen der 3. Parteikonferenz der SED, 24.März - 30,März 1956, Berlin 1956. BStU, Ministerbefehle. Anweisung Nr. 54/56 über die Bildung einer Arbeitsgruppe für wissenschaftlichtechnische Auswertung vom 8. Juni 1956. BStU, Leitlinien für die Arbeit der Arbeitsgruppe für Wissenschaftlich-Technische Auswertung vom 19. Dezember 1956, unterzeichnet von Major Last; Interview mit einem Offizier der Auswertungseinheit, Dezember 1994.

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diese „systematische operative Arbeit" zu unterstützen, wurden aus Kreisen der „technischen Intelligenz" Informanten geworben, die bei der Auswertung des Materials helften sollten.37 Ausweitungen wurden auch von Wissenschaftlern und Ingenieuren vorgenommen, die nicht wußten, daß sie entwendetes oder verdeckt beschafftes Material beurteilten, weil dieses Material zuvor „neutralisiert" worden war. Gewöhnlich kam das Material von den Ministerien, die als Mittler zwischen dem MfS und Wissenschaftlern bzw. Industrie fungierten. So unterhielt das MfS Personal im Ministerium für Wissenschaft und Technik, und diese Personen gaben die Informationen an Wissenschaftler weiter.38 Jeder Angehörige der Einheit war gehalten, die Literatur zu verfolgen, Vorlesungen auf seinem Gebiet zu besuchen und über die Pläne der Wissenschaftler auf dem laufenden zu sein. So konnten die Mitarbeiter stetig ihr Wissen erweitern und hatten einen Überblick über den Stand der technologischen Entwicklungen in der DDR. Dies half der Auswertungseinheit, Aufträge an die Informanten (Agenten) zu formulieren, die über ihre Führungsoffiziere das Material an die operativen Einheiten übermittelten. Theoretisch hatte die Auswertungsgruppe einen Überblick über alle Möglichkeiten der operativen Einheiten zur Beschaffung von wissenschaftlichem und technischem Material,39 wenngleich später eine weitaus stärkere Aufgliederung bestand. Nachdem sie ein bestimmtes Material erhalten hatten, mußten die Angehörigen der Auswertungseinheit eine „Einschätzung des Wertes des Materials" an die operative Abteilung übermitteln. Jedes Material erhielt eine Einstufung von I (höchster Wert) bis V. Mitte der siebziger Jahre bedeutete eine „I", daß ein Dokument oder ein Instrument einen Wert von mindestens 150 000 DM hatte. Hätte die DDR die entsprechenden Forschungen selbst unternehmen oder das jeweilige Produkt kaufen wollen, so hätte sie diesen Betrag in harter Währung zahlen müssen. In der Bezirksverwaltung Leipzig übernahm der SWT 32 % aller eintreffenden Informationen, und die Hälfte davon erhielt die Einstufung I oder II.40 Weil es füir den SWT verhältnismäßig leicht war, den Wert der gesammelten Informationen und Materialien zu quantifizieren, wurde er als eine der erfolgreichsten Einheiten in der HVA betrachtet. So heißt es, daß der SWT der Wirtschaft einen Nutzen von rund 150 Millionen Valutamark gebracht habe, während der Aufwand lediglich 2,5 Millionen Mark betrug. In den frühen achtziger Jahren beschaffte der SWT im Durchschnitt 3000 Einheiten Information mit einem Aufwand von 1,2 Millionen DM und 400 000 Mark der DDR, während der ökonomische Nutzen für die DDR ungefähr 300 Millionen Mark der DDR betrug.41 Dies sparte in der Tat Forschungs- und Entwicklungskosten, doch das Hauptmotiv für die Informationsbeschaffung bestand darin, das „Weltniveau" in Naturwissenschaft und Technik zu erreichen. Letztlich aber mußte die DDR auf den meisten Gebieten darum kämpfen, das Nötigste zu erbringen.

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Ebenda, Leitlinien ... a.a.O. S. 3. BStU, MfS. Archiv Nr.8810/84, Bl. 207, „Bestätigung" aus der HVA/SWT/Abt.V für einen Wissenschaftler, der als Gutachter verwendet werden konnte. Ebenda, S. Ebenda, S. 6. Die Zahl von 150 000 DM, in: W. Stiller: Memoirs, S. 126,. Zu der Zahl von 32 % siehe Arbeitsbuch Nr. 4100, Gerhard Idaszek. P. Siebenmorgen: „Staatssicherheit" der DDR. der Westen im Fadenkreuz der Stasi, Bonn 1993, S. 190.

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Wien als ein Zentrum des Technologietransfers In den fünfziger Jahren entwickelte sich Wien zu einer Drehscheibe zwischen Ost und West und zu einem Zentrum der internationalen Spionage. 1955 wurde der Staatsvertrag über die Neutralität des Landes unterzeichnet. Österreich wurde auch zu einem „Transferland" für den Fluß westlicher Technologie in den Ostblock.42 Um das Embargo zu umgehen, begann der SWT für die Beschaffung von Hightech neutrale Länder als Medien zu nutzen. In den sechziger, siebziger und achziger Jahren war Österreich für die DDR, die Sowjetunion und andere Ostblockländer für solche Aktivitäten ein besonders günstiger Platz. Der SWT verwendete das neutrale Österreich zum Export von Materialien in die DDR und zugleich als Sitz einer illegalen Residenter. Die DDR importierte wissenschaftliche Ausrüstungen aus Ländern, in denen der Export von Embargogütern in die Ostblockländer verboten war, oftmals über Österreich. So war die DDR in den späten sechziger Jahren am Import von Ausrüstungen zur Unterstützung ihrer Polyesterindustrie interessiert. Die ostdeutsche Industrie wünschte die Lieferung einer ganzen Anlage von Uhde-Hoechst in Westdeutschland. Die Staatssicherheit nahm an, daß dieses Material über Österreich beschafft werden könnte, weil es „vermutlich auf der Embargoliste" stand.43 Eine zentrale Aktivität der meisten Geheimdienste ist die Errichtung legaler und illegaler Residenturen. Die legalen Residenturen befinden sich gewöhnlich in Botschaften, während illegale Residenturen in ganz unterschiedlichen Bereichen placiert sein können. Im Fall der „Wiener Residenter" wurden HighTech-Unternehmen als Tarnfirmen für vom SWT gelenkte Tätigkeiten verwendet. Es begann 1971, als der SWT-Offizier Horst Müller den mit dem Kommunismus sympathisierenden österreichischen Geschäftsmann Rudi Wein anwarb. Allmählich kamen weitere Agenten hinzu, Wien wurde zu einer Filiale der DDR-Aufklärung. Tarnfirmen mit engen Verbindungen zur DDR wurden gegründet; viele von ihnen hatten ihre Konten in der Schweiz. Der größere Teil der Informationen, die an diese Tarnfirmen gelangten, hatte seinen Ursprung in Silicon Valley in Amerika.44 Rudi Wein war ein guter Freund von Udo Proksch, der als ein zwielichtiger Charakter galt und in den Untergang des Schiffes Lucona im Indischen Ozean verwickelt war. Gemeinsam gründeten Wein und Proksch eine HighTech-Firma mit der Bezeichnung Kibolac. Gegen Ende der sechziger Jahre unterhielt Kibolac erfolgreiche Geschäfts- und Handelskontakte mit der DDR. Darüber hinaus wurden zahlreiche weitere Firmen etabliert, die in den illegalen Technologietransfer einbezogen waren, darunter Rudolf Sacher Inc. und Lylac.45 Ende 1968, noch vor Errichtung der Wiener Residenter, fuhren Rudi Wein, Rudolf Sacher und Karl-Heinz Pneudl, ein mit ihnen zusammenarbeitender Physiker, in die DDR, um ihre Partner zu treffen. Sie wurden von Horst Winkler empfangen, der sich als Mitarbeiter des Ministeriums für Wissenschaft und Technik vorstellte, eine gebräuchliche Tarnung für SWT-Personal. Winkler war in Wirklichkeit Horst Müller, der damals für die 42 43 44 45

L. Melvern, N. Anning, D. Hebditch: Techno-Bandits, Boston 1984, S. 142-143. BStU, ZAIG Nr. 3701, Uhde-Hoechst, Komplex Anlage/Polyester. H. Pretterebner. Der Fall Lucona. Ost-Spionage, Korruption und Mord im Dunstkreis der Regierungsspitze, Wien 1989. Ebenda, S. 104.

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SWT-Abteilung XIII arbeitete. Er hieß sie freundlich willkommen, organisierte die Hotelunterkunft und die Visa und arrangierte zahlreiche geschäftliche Verabredungen. Damals war den Beteiligten nicht bekannt, daß sie es mit Geheimdienstmitarbeitern zu tun hatten.46 Der Vertrag mit Winkler/Müller führte zu einer Reihe geschäftlicher Erfolge für Sacher, Wein und Pneudl. 1968 erhielten sie vom Patentamt der DDR ein Patent für ein elektronisch gesteuertes Heizungssystem, das einem westdeutschen Prototyp nachgestaltet war. Für diese Arbeit wurde der Firma Kibolac eine Gebühr von 1,2 Millionen Schilling überwiesen.47 1971 wurde in Berlin mit Rudi Wein in Anwesenheit seines Anwalts Karl Zerner und dem Leiter der SWT Horst Vogel (Deckname Horst Knorring) und Willi Neumann (Deckname Willi Peter) ein formeller Vertrag unterzeichnet.48 Nach Pretterebener übernahm 1972 Müller einen Posten in der DDR-Botschaft in der Schweiz, getarnt als erster Botschaftssekretär. Dr. Peter Bertag, Leiter der Amerika-Einheit in der Abteilung XIII, löste Müller als operativen Offizier für die Wiener Residentur ab. Als Stiller im Januar 1979 floh, enttarnte er die Wiener Residentur. Er war in die Führung dieser Residentur nicht einbezogen, erhielt aber von ihr Kenntnis, als er auf dem Schreibtisch die Akten seines Dienststellenkollegen Peter Bertag überflog.49

Von Agenten, Führungsoffizieren und konspirativen Wohnungen Die phantastischen Abenteuer, die man mit Spionage zu verbinden pflegt, haben größtenteils mit der Tätigkeit von Agenten wenig zu tun. James Bonds Aktionen im geteilten Deutschland waren zwar nicht gerade aus dem Stoff, aus dem die alltägliche Routine gemacht ist, doch ihr Kontext leitete zu Abenteuern nach Art des Ostblocks über. Hier ging es nicht um Verfolgungsjagden in mit HighTech vollgestopften britischen Sportwagen oder um riskante Tauchmanöver in der Karibik, sondern eher um schleppende Eisenbahnfahiten über die Grenze, Treffen mit Geheimdienstoffizieren in osteuropäischen Hauptstädten oder Deponieren von Material in Bahnhofsschließfächern in Ostberlin. Im Westen ist für Personen, die unter Leitung von in Zentralen stationierten Führungsoffizieren im In- oder Ausland Material sammeln, die Bezeichnung „Agent" allgemein gebräuchlich. In den Akten des ostdeutschen MfS und in der Sprache der Aufklärungsoffiziere kommt diese Bezeichnung indes nicht vor. Vielmehr wurde der Terminus „inoffizieller Mitarbeiter" (IM) verwendet. Es gab in- und ausländische IM, deren Tätigkeiten von denen des Informanten bis zu denen des Agenten reichten. Zusammen mit der Beantwortung der politisch-operativen Frage „Wer ist Wer?" wurde die Führung von IM als die Hauptmethode effektiver Spionage betrachtet.

46 47 48 49

Ebenda, S. 113. Ebenda. Ebenda. W. Stiller. Im Zentrum.

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An der Schule der HVA wurde den Studierenden nahegebracht, daß „IM die wichtigsten Waffen im Operationsgebiet" (hauptsächlich Westdeutschland, aber auch alle NATO-Länder, die USA und China) sind.50 Um die „Wer ist Wer"-Frage zu beantworten, wurden Informationen aus Informationsberichten zu Dossiers zusammengefügt. Diese Dossiers konnten vielfältig benutzt werden, beispielsweise dazu, Personen unter Druck zu setzen. Die Angehörigen der operativen Abteilungen des SWT wurden „operative Mitarbeiter" oder „Sachbearbeiter" genannt. Zur operativen Arbeit gehörte die Führung von Agenten, ihre Rekrutierung im „Operationsgebiet" (d.h. in Westdeutschland), der Einsatz von Anwerbern im Operationsgebiet und in der DDR, die Anwerbung mit politischen und ideologischen Argumenten, die Anwerbung unter fremder Flagge und die Arbeit mit Anwerbungsgruppen. Weiter zählte dazu die Arbeit mit P-IM, Infiltration im Ausland, Kooperation mit Quellen, Übersiedlungen von Ost- nach Westdeutschland, Residenturarbeit, Verfahren der Kontaktaufnahme und Anleitung und Ausbildung von IM für den Fall ihrer Konfrontation mit gegnerischer Polizei. Andere Arbeiten betrafen die Analyse von Objekten (z.B. des Kernforschungszentrums Karlsruhe oder der Firma Rheinmetall), die Gruppenanalyse von Personen, die Analyse eines Ortes oder eines Landes, Observierungen und Recherchen.51 HVA und SWT hatten Tausende von Agenten in Westdeutschland, entweder Bürger der Bundesrepublik, die sich bereiterklärt hatten, „West-IM" zu werden, oder Ostdeutsche, die auf Weisung der Staatssicherheit nach Westdeutschland übersiedelten. Vernehmer sind gegenwärtig damit befaßt, 200 westdeutsche Agenten zu befragen. Diese Agenten arbeiteten oft für westdeutsche Firmen, Forschungszentren oder Universitäten und stellten dem SWT Material zur Verfügung. So wirkten sie als Agenten des Technologietransfers von West nach Ost. Die fünfziger Jahre waren eine Zeit verstärkter Agentenanwerbung, besonders an Universitäten. Studenten an ostdeutschen Universitäten wurden aufgrund ihrer Sympathien für das Regime geworben und setzten ihre Studien in Westdeutschland fort. Viele von ihnen erreichten später in ihrem Beruf oder auf ihrem Fachgebiet wichtige Positionen und belieferten das MfS mit wertvollen Geheiminformationen. Einer dieser geschätzten „Agenten für die Zukunft", die in den fünfziger Jahren geworben worden waren, war der 1968 verhaftete „Atomspion" Harold Gottfried (Deckname „Gärtner"). Er arbeitete aus Überzeugung für den Kommunismus, und er hält weiter daran fest. In einem Interview befragt, ob er - falls er herausgefünden hätte, daß Westdeutschland eine Atombombe besitzt - dies Ostberlin mitgeteilt hätte, bejahte er die Frage mit Nachdruck.52 Gottfried war von 1963 bis 1968 als Ingenieur im Kernforschungszentrum Karlsruhe tätig. Er arbeitete in der Gruppe für technische Reaktorsicherheit und war Mitglied des Rates der Einrichtung. Das Material, das durch seine Hände ging, beforderte er an das MfS durch tote Briefkästen in einem Bunker in Karlsruhe oder durch einen Kurier, oder er versteckte es hinter Spiegeln in WC's von Interzonenzügen. Besonders bemerkenswert war das Material, das er aus deutschen und ausländischen Quellen über Entwicklung und Bau des Reaktors vom Typ „schneller Brüter" sammelte. Nachdem er enttarnt worden war, fand 50 51 52

BStU, Bezirksverwaltung Leipzig. Arbeitsbuch Nr. 4106, S. 1. BStU, Kaderakte Werner Stiller, S. 5 5. Presseberichte erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt, Frankfurter Rundschau, Stuttgarter Zeitung, Bild am Sonntag, Abendpost u.a. Werner Stiller berichtete über Gottfrieds 1500seitige Akte in seinem Buch: Im Zentrum, S. 79-93. Interview Macrakis mit Harold Gottstein, Juli 1995.

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die Polizei in seinem Badezimmer neben anderem belastenden Spionagezubehör eine Minoxkamera, Filme, ein Radio für geheime Übertragungen und Tonbandgeräte. Gottfried sandte Hunderte von Mikrofilmen nach Ostberlin.53 Nachdem er durch einen Doppelagenten („Alois") und die CIA enttarnt worden war, setzte das MfS andere Agenten in Karlsruhe ein. Rainer Fülle (Deckname „Klaus") war beispielsweise seit 1964 in der Wiederaufbereitungsanlage in Karlsruhe tätig. Das Kernforschungszentrum Karlsruhe war für das MfS ein Objekt von hoher Priorität. In den fünfziger Jahren arbeiteten viele Agenten aus Überzeugung. Später war der Versuch, durch Nichtrespektieren der politischen Teilung und der damit verbundenen Embargopolitik die beiden Deutschland einander näher zu bringen, ein maßgebendes Motiv. In den siebziger und achtziger Jahren mehrten sich jedoch die Fälle, in denen Agenten für Geld spionierten. Beispielsweise verdiente Peter Köhler für seine Spionagetätigkeit auf dem Computersektor zwischen 1978 und 1989 annähernd 1,1 Millionen DM. Köhler, ein Westdeutscher, der bei Texas Instruments arbeitete, lieferte Informationen über die Entwicklung und Fertigung von Halbleitertechnik an Führungsoffiziere aus der Abteilung XIV des SWT. Er dürfte Ostdeutschlands bestbezahlter Agent gewesen sein.54 Besonders interessant ist der Fall von Gerlinde, Dieter und Kerstin Feuerstein. Gerlinde arbeitete mindestens seit 1960 für das MfS auf dem Gebiet der Luftfahrt. Um 1973 führte sie ihren Sohn Dieter in diese Aufgabe ein; er begann 1984 eine Tätigkeit als Systemingenieur in der Flugzeugkonstruktion bei MBB und hatte Verbindung mit dem Führungsoffizier Kurt Thiemann (Abteilung XV). 1976/77 wurde auch Dieters ideologisch hochmotivierte Frau einbezogen. Zwischen 1985 und 1989 hatte Dieter Zugang zu geheimem NATO-Material, darunter zu Dokumenten über den „Jäger 90". Außerdem lieferte er Material über das Kampfflugzeug MRCA-Tornado. Gemeinsam filmten Dieter und seine Frau Hunderte von Seiten geheimen Materials und übermittelten es, in Interzonenzügen versteckt, nach Ostberlin. Nach 1985 trafen sie sich fünfmal jährlich in Italien, Österreich und Eschborn mit einem Instrukteur. Außerdem hatten sie regelmäßig um Neujahr ein Treffen mit dem Führungsoffizier in Ostberlin. Nachdem Dieter Ende 1989 sein Material an Thiemann übergeben hatte, äußerte er den Wunsch, seine Arbeit für den KGB fortzusetzen. Er wurde jedoch 1990 verhaftet.55 Vor dem Fall der Mauer und der Auflösung des MfS war der größte Teil dessen, was man im Westen über den Sektor für Wissenschaft und Technik wußte, aus Mitteilungen von Stiller und aus den Aussagen verhafteter Agenten kombiniert worden. Da bald nach der Maueröffnung die meisten operativen Akten des SWT vernichtet wurden, bleiben inhaftierte Agenten weiterhin eine gute Quelle von Informationen über die Tätigkeit dieses Sektors. Enttarnte Agenten können über die Stellen, an denen die DDR Agenten placiert hatte, über die Art des gesammelten wissenschaftlich-technischen Materials, über die Treffmethoden, über das Ausmaß der Kooperation, über die Methoden der Anwerbung von Agenten und über das Verhältnis des MfS zur Sowjetunion Angaben machen. Außerdem scheint es noch einen „Übertritt" eines SWT-Offiziers im Jahre 1990 gegeben zu haben, aber der Fall wurde nicht publik gemacht, weil unter den anderen Offizieren viel Unruhe entstanden wäre, wenn sie von einem Verräter in ihren Reihen Kenntnis gehabt hätten. 53 54 55

Ebenda; Siehe speziell den Artikel: Spionageprozeß gegen Diplomingenieur, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Oktober 1969; Siehe auch Interview Macrakis mit Harold Gottfried, Juli 1995. Vertrauliche Quelle. Köhlers Überführung wurde ebenfalls in der Presse gemeldet. Vertrauliche Quelle.

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Andere Offiziere gaben dem Bundeskriminalamt Hinweise oder wurden als Zeugen in Agentenprozessen Kreuzverhören unterzogen. Eine Akte mit Karteikarten aller Westagenten scheint der CIA in die Hände gefallen zu sein; westdeutsche Beamte mußten sich nach Langley/USA begeben, um sich daraus für ihre gerichtlichen Untersuchungen Notizen zu machen. Diese Karten enthalten den Decknamen und den Namen des Führungsoffiziers. Seit dem Fall der Mauer hat die westdeutsche Aufklärung mindestens 274 vom SWT in der Bundesrepublik geführte Agenten identifiziert, die in einem Spektrum unterschiedlicher Gebiete tätig waren, das von ziviler und militärischer Computertechnik über Chemie, Atomphysik, Luft- und Raumfahrtindustrie, Militärtechnik und Panzerentwicklung bis zum Bank- und Finanzwesen reichte 56 . Nach dem Übertritt von Stiller im Jahre 1979 war das Referat 1 (Atomphysik) der Abteilung XIII diejenige Einheit, über die der Westen die vollständigste Kenntnis hatte. Da zudem seit Mitte der sechziger Jahre mehr als die Hälfte aller Verhaftungen durch westliche Dienststellen auf dem Computergebiet erfolgt war, wußte der Westen von dieser „HighTech"-Spionage und konnte ihr mit wirksameren Abwehroperationen begegnen.57 Nach dem Fall der Mauer wurden alle Offiziere des SWT vernommen, und weitere Agenten wurden verhaftet, so daß der Westen auch in die Abteilungen XIV und XV Einblick gewann. Außerdem haben einige Dokumente aus der Abteilung XIII/1 überdauert. Weil Stillers Bericht über seine Erfahrungen als MfS-Offizier subjektiv waren und seine „Memoiren" zudem eine „aktive Maßnahme" des Kalten Krieges darstellten, mag es nützlich sein, hier anhand des vom 6. Dezember 1977 datierten Jahresplanes für 1978 die Arbeitsweise zu diskutieren. Schwerpunkt der „politisch-operativen" Arbeit der Abteilung XIII im Jahre 1978 war das Objekt „Waffe", Deckname für die Gesellschaft für Atomforschung in Karlsruhe. Das Ziel lautete, einen „personellen Stützpunkt" in der Einrichtung zu schaffen. Die Arbeit an der Sammlung von Informationen über das „Objekt" sollte fortgesetzt werden, und neue Informationswege waren zu erschließen. Dies sollte durch den dortigen Haupt-IM „Klaus" (Rainer Fülle, wegen seiner spektakulären Flucht aus westdeutscher Bewachung auch „Glatteisspion" genannt) über legale Kanäle, den IM „Sekretär", der enge Verbindungen zu Robert Rompe unterhielt, und durch die Rentnerin „Rosemarie" geschehen. Der SWT wollte seine Analysen über die Fortschritte bei der Entwicklung des „Blitz"-Lasers ergänzen. „Klaus" hatte offenbar indirekte Hinweise auf Versuche der BRD erhalten, eine eigene Nuklearwaffe zu produzieren 59 . Stiller sollte weiterhin Informationen von seinen IM zusammentragen. „Sturm", der bei IBM tätig war, sollte Informationen über Software und Datensicherheit sammeln und eine stabile kommerzielle Tarnung schaffen. „Sperber", der über Kernfusion, Plasmaphysik und Laserentwicklungen arbeitete, sollte Kontakte zum Max-Planck-Institut für Plasmaphysik in Garching aufbauen. Die Verbindung mit „Gabi" sollte stabilisiert und für Informationen über die Politik der SED genutzt werden. „Fellow" - ein Professor an der Universität Göttingen, der Material über Energiepolitik sammelte - sollte Kontakte zu Hoechst und Bayer pflegen.60 56 57 59 60

Vertrauliche Quelle. BStU, Abteilung XIII. Ebenda. Ebenda.

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Bemühungen um Fortschritte auf dem Computergebiet Spionage auf dem Computergebiet ist wahrscheinlich der am besten bekannte Aspekt der von der Sowjetunion und dem Ostblock betriebenen HighTech-Spionage. In den späten siebziger und frühen achtziger Jahren erschienen Stories über gefangene Agenten und geschmuggelte Geräte im „Wall Street Journal", in der „New York Times" und in anderen führenden Zeitungen. Mitte der achtziger Jahre erschienen mehrere Bücher dazu. Von den frühen sechziger bis zu den späten achtziger Jahren war die Hälfte der auf dem Feld der wissenschaftlich-technischen Spionage tätigen Agenten im Computerbereich aktiv. Die Anzahl der Agenten auf diesem Gebiet spiegelt das Ausmaß der Bemühungen. Da es der sowjetischen Elektronikindustrie in den sechziger Jahren nicht gelang, mit eigenen Entwicklungen voranzukommen, orientierte sie sich zunehmend auf den Schmuggel von Computern, insbesondere von IBM-Modellen, um sie in der Sowjetunion nachzubauen. In den späten siebziger und in den achtziger Jahren war es für die Beschaftungsagenturen eine Aufgabe von höchster Priorität, das Embargo im Computerbereich zu durchbrechen.61 Jay Tuck analysierte in seinem 1986 erschienenen Buch „High-Tech Espionage" ein halbes Dutzend professionelle internationale Schmugglerringe, die elektronische Anlagen nach der Sowjetunion verschifften. Diese Ringe waren interkontinental organisiert und erstreckten sich von Silicon Valley und Hongkong bis nach Südafrika und Westdeutschland. Zu ihnen gehörten auch einige Westdeutsche wie „Megabucks Müller" und Werner Bruchhausen. Tuck beschäftigte sich hauptsächlich mit Fällen illegalen Technologietransfers in die Sowjetunion über scheinbar harmlose Geschäftsverbindungen; nunmehr wird die Rolle anderer Ostblockländer insbesondere der DDR, in diesem Transfer zunehmend klar.62 Mit Unterstützung des ostdeutschen Computerzentrums Robotron in Dresden hatte die Sowjetunion bereits 1968 begonnen, das IBM-System 360 zu kopieren. In Moskau zerlegte eine geheime Arbeitsgruppe entwendete IBM-Geräte, um nach diesem Muster ihr eigenes Modell zu schaffen. 1972 war der Typ „Ryad 1" auf dem Markt. Er verwendete von IBM das Operationssystem DOS, periphere Geräte und Software. Diese Modelle wurden zusammen mit einer russischen Übersetzung des Bedienungshandbuchs von IBM an Ostblockländer geliefert.63 Die DDR war nicht nur ein Kanal für den Technologietransfer von Westdeutschland nach der Sowjetunion, sondern es baute die HighTech-Spionage in seine eigene Computerindustrie ein. Robotron in Dresden war das bekannteste Zentrum für Computertechnologie, obwohl Carl Zeiss Jena und das Dresdener Institut für Rechentechnik eine vergleichsweise größere Bedeutung hatten. In den sechziger Jahren beschaffte Ostdeutschland Prototypen von IBM für Robotron (Markus Wolf sagte mir, daß das MfS seit den frühen Sechzigern eine Quelle bei IBM in Paris hatte); bis 1970 waren mindestens ein Dutzend Computer in die DDR gebracht und eingehend untersucht worden. 1973 gingen RobotronRechner mit einem Ausstoß von 80 bis 100 Stück pro Jahr in Serie.64 61 62 63 64

Siehe beispielsweise J. Tuch High-Tech Espionage, New York 1986. Darin werden die Presseartikel als Quellen benutzt. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 139-140.

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In der Zeit vor 1989 war die westdeutsche Aufklärung zunehmend darauf aufmerksam geworden, daß sich die Sowjetunion und Ostdeutschland auf IBM in Stuttgart als eine Quelle von Hochtechnologie konzentrierten. 1970 wurde der IBM-Angestellte Gerhard Prager festgenommen, als er Tonbänder kopierte, um sie dem MfS zu übermitteln. 1979 wurde Gerhard Arnold durch Werner Stiller verraten. Stiller hat immer die Ansicht vertreten, daß unter seinen Agenten Arnold deijenige war, der das wichtigste Material lieferte, wobei es sich meist um IBM-interne Firmenpläne, Entwürfe, Ausrüstungen, Datensätze und Software handelte. Sein Material trug offenbar zur Modernisierung der ostdeutschen Armee bei, und Stiller betrachtete ihn als den Vater des Computerwesens in der DDR.65 IBM Stuttgart war jedoch nicht die einzige Quelle für die ostdeutsche Computerindustrie. Gegen Ende der siebziger Jahre waren Mikrochips von Intel und Texas Instruments schon in großem Ausmaß in ostdeutsche Computer eingebaut worden. Das ist nicht überraschend, denn das MfS hatte mindestens seit 1978 wichtige Quellen bei Texas Instruments. Seit dem Fall der Mauer wurden bei IBM in Essen, bei Siemens und bei Digital Equipment Corporation in Amerika weitere Quellen enttarnt.66 Das große Ausmaß erfolgreicher HighTech-Spionage alarmierte die amerikanische Aufklärung, und 1981 wurde die „Operation Exodus" gestartet, um den illegalen Fluß von in der COCOM-Liste (COCOM = Committee for East-West Trade) erfaßten Gütern in die Sowjetunion und den Ostblock zu stoppen. Die gesteigerte Wachsamkeit westlicher Geheimdienste fiel mit Erich Honeckers illusionärem Drang zusammen, durch Computer und die Herstellung eines eigenen MegabitChips für die DDR den Status einer technologischen Weltmacht zu erreichen. 1981 verkündete er auf dem X. Parteitag ein Zehn-Punkte-Programm, das bis 1985 den überwiegenden Teil des Bedarfs an Mikroelektronik aus einheimischer Produktion realisieren sollte. Ulbricht hatte zwar schon in den Sechzigern Jahren Interesse an Computern gezeigt, doch läßt sich eine größere Aufmerksamkeit der Parteiführung für diese Probleme erst in den siebziger Jahren nachweisen. Seit Ende der siebziger Jahre gab es zu dieser Frage alljährlich einen neuen Beschluß des Zentralkomitees. 1964 beschloß das Zentralkomitee, für die Zeit bis 1970 ein Elektronikprogramm auszuarbeiten. Im gleichen Jahr wurde das „Staatliche Komitee für Elektronik" gegründet, das für die zentralgeleitete Elektronikindustrie zuständig war. Bis 1968 wurden in den wichtigsten Firmen und Institutionen in Ostdeutschland Rechner vom Typ „R 300" (vermutlich IBM-Kopien) eingeführt.67 Gegen Ende der siebziger Jahre erkannte die DDR das Ausmaß ihres Rückstandes auf dem Computergebiet und entwickelte Programme für verstärkte Anstrengungen. Das MfS beriet die Regierung über die dabei zu beschreitenden Wege. Im April 1977 legte es in Vorbereitung der 6. Tagung des Zentralkomitees eine Information über Computer vor. Kopien dieser Information erhielten Otfried Steger (Minister für Elektrotechnik und Elektronik), Schalck, die Abteilung XIII und Markus Wolf. Das MfS vertrat die Ansicht, daß der Vorschlag des Ministeriums für Elektronik zum Kauf einer kompletten Fabrikanlage zur Produktion moderner Elektronikhardware ein „Maximalprogramm" darstelle, das für die achtziger Jahre überaus wichtig sei, weil Jedes Gebiet des Lebens zunehmend durch 65 66 67

W. Stiller. Im Zentrum, und das Interview mit ihm vom März 1994. Vertrauliche Quelle und Presseartikel über das Urteil. SAPMO, SED. J IV 2/2 - verschiedene Akten von 1964 bis 1989 in den Protokollen des Zentralkomitees. Alle Hinweise auf Computer wurden den Protokollen entnommen.

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Stand und Anwendung der Mikroelektronik beeinflußt wird". Es empfahl dem Zentralkomitee, die Zusammenarbeit mit japanischen Firmen (und eventuell mit „nichtsozialistischen" Ländern in Westeuropa) zu suchen, weil amerikanische Firmen aufgrund der strikten Embargoregelungen nicht in Frage kämen. Weiter schlug das MfS vor, Lizenzen und Entwürfe für komplette Fabrikanlagen zu kaufen. Obwohl die DDR mit der Sowjetunion zahlreiche Kooperationsabkommen hatte, erwies sich diese nicht als ein kooperativer Partner. Aus „militär-strategischen Erwägungen" teilte die Sowjetunion ihr „Entwicklungs- und Produktionspotential" nur in begrenztem Maße mit den sozialistischen Ländern. Das Programm sollte unter strenger Geheimhaltung durchgeführt werden, weil mit Sabotage zu rechnen war, wenn der „Gegner" von seiner Existenz Kenntnis erhielt. Geleitet wurde es vom Ministerium für Elektronik mit Unterstützung des Ministeriums für Außenhandel (und von Schalck) sowie der einschlägigen Abteilungen des Ministeriums für Wissenschaft und Technik. Die DDR war sich bewußt, daß sie auf diesem Gebiet „Eigenproduktion" anstreben müßte, um nicht von nichtsozialistischen Ländern in Abhängigkeit zu geraten.68 1982 wurden zwischen der DDR und der Sowjetunion Kooperationsverträge zur Entwicklung eines Ein-Megabit-Chips abgeschlossen. Die sowjetische Seite verhielt sich jedoch wiederum nicht kooperativ und zwang damit die DDR, auf eigene Rechnung vorzugehen. Honecker betrachtete den Ein-Megabit-Chip als ein Symbol für den technologischen Weltmachtstatus der DDR, ein Ziel, das sich später als eine Illusion herausstellte. Das MfS indes wußte, daß diese Zielstellung nicht real war und wertete sie als Kraftmeierei des Politbüros. Die achtziger Jahre: Ein-Megabit-Illusionen, die Toshiba-Connection und Vorteile für Wissenschaftler Die Bemühungen der DDR um die Entwicklung einer einheimischen MikroelektronikIndustrie kulminierten um die Mitte der achtziger Jahre. Bis 1989 sollte die Produktion eigener Chips erreicht werden. Für die Mikroelektronik wurde ein umfassendes Programm konzipiert, innerhalb dessen KoKo und MfS als Teil eines Systems zur Beschaffung von Hardware und Software fungierten. Zu diesem Programm gehörte der illegale Import von Gütern, die auf der Embargoliste standen - zu Preisen, die um 30 bis 80 Prozent höher als die normalen lagen. Mittel für dieses Programm waren reichlich vorhanden, und Devisen wurden durch Schalck und aus den Gewinnen von DDR-Firmen zur Verfugung gestellt. In der Zeit um den XI. Parteitag der SED im April 1986 wurde festgelegt, daß über eine Periode von fünf Jahren insgesamt 1,3 Milliarden DM für die Mikroelektronik aufgewandt werden sollten.69 In den Achtzigern (und bereits vorher) waren Japan und die Vereinigten Staaten auf dem Computergebiet führend, und selbst hochindustrialisierte Länder wie Westdeutschland hatten Mühe, Schritt zu halten. Im Westen hatte sich die Computerindustrie aus individuellen Firmeninitiativen entwickelt, und die Unternehmen stellten dafür ihr eigenes Kapital bereit und verfolgten eigene Innovationsstrategien. Anders als in den westlichen Ländern wurde in der DDR die Computerentwicklung zentral koordiniert und vom Staat finanziert. 68 69

BStU, ZAIG Nr. 2666. BStU, MfS,XVIII/8, Nr. 4705, Bl. 53.

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Es verwundert nicht, daß die Spannungen in der DDR-Wirtschaft gerade in der Zeit des Zusammenbruchs des Kommunismus ein so extremes Ausmaß angenommen hatten: Bis 1989 hatte sie 14 Milliarden Mark in die Mikroelektronik investiert.70 Die Produktion des Ein-Megabit-Chips hatte jedoch bis dahin nicht aufgenommen werden können, obwohl sie zu einem nationalen Ziel erklärt worden war. Honecker sah den Ein-Megabit-Chip als Symbol technischer Leistungsfähigkeit der DDR.71 Als die DDR zusammenbrach, gestanden andere kommunistische Führer zu, daß ihre Anstrengungen vergeblich waren und daß sie sich mit der Mikroelektronik ein Milliardengrab gegraben hatten.72 Das Mikroelektronikprogramm war in das „Staatssicherheitsregime" eingebunden und wurde in enger Kooperation mit dem Politbüro, KoKo, dem Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik, dem MfS und mehreren Spitzenwissenschaftlern durchgeführt. Schalck arbeitete unmittelbar mit Karl Nendel vom Ministerium für Elektronik zusammen. Nendel stellte Informationen und Bedarfslisten von Wissenschaftlern und Industrie für die Beschaffimgsaktivitäten von KoKo und MfS zur Verfugung. Beispielsweise mußten 60 % der Ausrüstungen für die Produktion des 256-Kilobit-Chips durch Embargoimporte beschafft werden.73 Gerhardt Ronneberger, geschäftsführender Direktor der Außenhandelsgesellschaft Elektronik, war Leiter ihrer Importabteilung und hatte die Aufgabe, den geplanten Import von Ausrüstungen und Know-how für den 256-Kilobit-Chip aus nichtsozialistischen Ländern zu lenken. In dieser Periode intensiver Konzentration auf Mikroelektronik wurden von Wissenschaftlern und Politikern Ansprüche erhoben, die über die potentielle Fähigkeit der DDR, ein auf dem Computergebiet wettbewerbsfähiges Land zu werden, weit hinausgingen. So schrieb Wolfgang Biermann, Generaldirektor von Carl Zeiss Jena und Mitglied des Zentralkomitees, in einem in der Zeitung „Neues Deutschland" veröffentlichten Offenen Brief an Honecker, daß Jena die notwendigen Voraussetzungen für die Produktion eines Ein-Megabit-Chips geschaffen habe. Daraufhin gingen leitende Ministeriumsmitarbeiter und das MfS daran, den technischen Stand der DDR auf dem Computergebiet einzuschätzen und Wege zu seiner Verbesserung zu erarbeiten. Zu dieser Einschätzung gehörten Berichte über die zur Herstellung von Ein-Megabit-Chips erforderlichen Bedingungen, und die Frage wurde aufgeworfen, ob dies in der DDR möglich wäre. Obwohl diese Frage von Informanten verneint wurde und sowohl das MfS als auch das Zentralkomitee von dieser Antwort Kenntnis hatten, verfolgte die Führung der DDR weiterhin dieses nationale Ziel. Informanten des MfS berichteten, daß die Behauptung, der Ein-Megabit-Chip könne produziert werden, aus politischen Gründen vertreten wurde.74

70 71 72

73 74

Diese Zahl stammt von Biermann; Siehe W. Biermann: Mikroelektronik in der Volkswirtschaft der DDR, in: Einheit, 1989, S. 27-32, hier S. 28. BStU, MfS XVIII/8, Nr. 4705. 20. Februar 1968. Ergänzende Information..., S. 28. Hohe Gewinne, kleines Risiko, in: Der Spiegel, 1996, 21, S. 74-82. In diesem Artikel wird das „Milliardengrab" beschrieben; C. Meier. Vom Plan zur Pleite. Der Verfall des Sozialismus in Deutschland, in: J. Kocka, M. Sabrow: Die DDR als Geschichte. Fragen - Hypothesen - Perspektiven, Berlin 1994, S. 113. BStU, MfS XVIII/8, Nr. 4705, Bl. 19, Aus einem Bericht vom 21. Februar 1986 über die Bedingungen, die in der DDR für die Produktion eines Ein-Megabit-Chips geschaffen werden müßten. Ebenda, Bl. 43-45, Diskussion des Briefes von Biermann; Information über den Brief der Arbeiter des Kombinats Carl Zeiss Jena an den Generalsekretär des Zentralkomitees der SED „Jeder an seinem Platz das Beste für unseren sozialistischen Friedensstaat" in: Neues Deutschland vom 7.1.1986, S. 1.

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Weiter wurden die Beziehungen zwischen der DDR und der Sowjetunion auf dem Computergebiet analysiert und Vorschläge unterbreitet, die „Kooperation" zu vertiefen, obwohl klar war, daß die Sowjetunion hier (wie auch auf anderen Gebieten von Wissenschaft und Technik) von diesem Zweckbündnis mehr profitiert hatte als die DDR. Das MfS berichtete, daß die Kooperation zwischen der Sowjetunion und der DDR zum Ein-Megabit-Chip wegen „mangelnder Bereitschaft" auf sowjetischer Seite und „unzureichender Bedingungen" in der DDR fehlgeschlagen sei. Es trifft zu, daß Zeiss Jena 1985 eine ElektronenstrahlBelichtungsanlage (ZBA 20) zur Herstellung von Chips für die Sowjetunion gebaut, aber kein Exemplar für sich selbst behalten hatte. Spätere Berichte diskutierten die Gründe dafür. Wie sich herausstellte, war die ZBA 20 nur ein Teil des für die Chipherstellung erforderlichen Maschinensystems, und die anderen Elemente waren in der DDR nicht verfügbar.75 Im Dezember 1985 schlug Schalck gegenüber Nendel ein Projekt vor, bei dem 256-Kilobit-Chips und Ausrüstungen aus nichtsozialistischen Ländern in die DDR importiert werden sollten. Schalck wies den von Ronneberger geleiteten Außenhandelsbetrieb Elektronik an, das Know-how und die Produktionsanlagen für eine komplette Fabrik zur Herstellung von 20 bis 30 Chips pro Jahr ohne eigene Entwicklungsarbeiten der DDR zu importieren. Dies war das riskanteste Computerprojekt, das die DDR jemals unternahm, und es gab keinerlei Garantie für einen Erfolg. Die benötigten Ausrüstungen waren durch strengste Embargogesetze geschützt. Auch die beteiligten Personen gingen dabei unvermeidlich ein Risiko ein. Daher empfahl Schalck, dieses Projekt zusammen mit einem renommierten Konzern und nicht mit einer Handels- oder Consulting-Firma in Angriff zu nehmen. Letztendlich zielte das Vorhaben darauf ab, daß die DDR bis 1989 imstande sein sollte, eigene Chips und schließlich auch eigene Halbleiter herzustellen. Um das ehrgeizige Projekt zu verwirklichen, enthielt der Vorschlag Anregungen für die Zusammenarbeit mit vier Ländern und ihren Firmen: Japan - Toshiba, Korea - Samsung, Taiwan und China. Schalck favorisierte Toshiba, weil die DDR schon vorher (1978-81, 1985) mit diesem Unternehmen auf dem Gebiet von unter Embargo stehenden Computern zusammengearbeitet hatte. Er beurteilte die Firma als flexibel und geschickt beim Finden von Wegen zur Umgehung des Embargos. Das Motiv von Toshiba, der DDR zu helfen, war Schalck zufolge die Hoffnung auf weitere Großaufträge zur Lieferung von Bildröhren für das Farbfernsehen.76 Im März 1986 willigte Toshiba in die Zusammenarbeit mit der DDR unter der Bedingung ein, daß kein offizieller Vertrag unterzeichnet würde. Das Projekt sollte unter Geheimhaltung und in zwei Schritten realisiert werden. Zunächst würde Toshiba eine komplette Originalschablone einschließlich einer Beschreibung ihrer Arbeitsweise und Parametern für einen 64-Kilobit-Chip mit 1,5 m-Technologie (und nicht, wie üblich, 2-2,5 m) liefern, weil auf diesem Weg Erfahrungen mit der Technologie für die Herstellung von 256-Kilobit-Chips gesammelt werden konnten. Im zweiten Schritt war Toshiba bereit, 75

76

Ebenda, Bl. 18-20, Information über die Voraussetzungen in der DDR für die Entwicklung und Produktion des 1-Megabit-Chips, 21. Februar 1986; Bl. 30-32, gleicher Titel, Textvariante vom 20. Februar 1986; Bl. 21-29, Position zur Erhöhung des technologischen Niveaus für den 1-Megabit-Chip. Bericht mit den Unterschriften von Tautenhahn, Meier, Biermann und Nendel. Ebenda, Bl. 82-93, Schalck an Nendel, 10. Dezember 1985; Vorschläge für das weitere Vorgehen zum Import von Know-how und Ausrüstungen für eine Fabrik für 256-Kilobit-Chips aus dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet.

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einen speziellen 256-Kilobit-Chip zu entwickeln, der sich von seinem eigenen und allgemein bekannten unterschied. Dieser Schritt sollte ein Jahr später erfolgen. Toshiba regte an, daß die DDR ihre eigenen Produktionsanlagen (einerlei, ob importiert oder selbst hergestellt) dafür nutzen sollte, war aber zu Hilfestellungen bereit. Das Unternehmen bestand darauf, die Computerinstitute in Jena und Dresden ohne Anwesenheit von DDR-Bürgern zu besuchen. Dies wurde durch die führenden Funktionäre des Elektronikministeriums Nendel und Ronneberger arrangiert. Ronneberger hatte jahrelang enge Geschäftsbeziehungen mit Japan und erinnerte sich später, daß „die Tür bei Toshiba immer offen war".77 Toshiba und Mitsui erhielten 7,8 Millionen Dollar für ihre Hilfe beim 256-Kilobit-ChipProjekt.78 Als das Projekt 1987 seiner Vollendung entgegenging, sah sich Toshiba wegen des weithin bekanntgewordenen Verkaufs einer Technologie an die Sowjetunion, die dieser den Einbau extrem geräuscharmer Schiffsschrauben in ihre Unterseeboote ermöglichte, jedoch mit Kritiken und eingehenden Untersuchungen konfrontiert. Der US-Senat sprach sich dafür aus, Toshiba-Importe zu verbieten, und Kongreßabgeordnete zerstörten eine Werbetafel von Toshiba auf dem Rasen vor dem Capitol. Die japanische Regierung reagierte, indem sie der Werkzeugmaschinenbau-Gesellschaft von Toshiba für ein Jahr Geschäfte mit dem Warschauer Pakt untersagte.79 Das Halbleiterprojekt von Toshiba mit der DDR war zu jener Zeit nicht besonders gut bekannt, und ich habe nur einen kurzen Zeitungsartikel und eine Information des Washingtoner ADN-Korrespondenten gefunden, in denen es erwähnt wurde. Republikanische Kongreßmitglieder vermuteten, daß Toshiba 1986 nach Ostdeutschland illegale Verkäufe getätigt hätte. Es hieß, Toshiba habe eine Fertigungsstraße zur Produktion von Halbleitern exportiert. Bis zum 13. März 1988 konnte diese Vermutung jedoch nicht bestätigt werden.80 Inzwischen hatten ostdeutsche Vertreter (vom AHB Transinter) im November 1987 mehrere Gespräche mit dem Generaldirektor und Manager von Toshiba und dem stellvertretenden Generaldirektor von Mitsui. Die Vertreter von Toshiba informierten über ihre Kenntnis der vom US-Kongreß vorgenommenen Untersuchungen und äußerten ihren Verdacht, daß die CIA in Ostdeutschland Quellen hätte. Toshiba warnte die Ostdeutschen vor der Benutzung der Toshiba-Masken für die Produktion von 64-Kilobit-Chips in Erfurt. 81 Wegen der auf sie gerichteten Aufmerksamkeit verlangten Toshiba/Mitsui im Februar 1988 von Ronneberger, daß alles auf die 64- und 256-Kilobit-Technologie bezügliche Ma77 78

Ebenda, Bl. 3 - 5 , Information über den Stand und Vorschläge für die weitere Entwicklung des Projekts 256-Kilobit-Chip, 6. März 1986; Hohe Gewinne, kleines Risiko. Ronneberger an Schalck und Nendel, 10. Februar 1988. Am Ende dieses Briefes notierte Ronneberger für Schalck, daß Toshiba/Mitsui die 7,8 Millionen Dollar zurückerstattet hätten; Brief abgedruckt in: R.

O. M. Engberding: a. a. O., S. lOlf. 79

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81

The Toshiba Scandal has Exporters Running for Cover, in: Business Week, 20. Juli 1987, S. 86f. Das ist nur einer von vielen Artikeln über den Gegenstand; Siehe auch Legislation to Prohibit the Importation of Products made by Toshiba Corp. and Kongsberg Vaapenfabrik Co, in: Hearing before the Subcommittee on Ways amd Means. House of Representatives. Washington. U. S. Government Printing Office, 14. Juli 1987. Republicans Say Toshiba Broke COCOM Rules Often, in: MDN, 12. November 1987. Ich fand diesen Zeitungsausschnitt in BSt U, BKK 1172; ebenda, Bl. 13, Pentagon: Illegale Geschäfte Toshiba - DDR nicht bewiesen. ADN-Information. BStU, BKK 1172, Notiz über das Treffen mit Toshiba am 26. November 1987.

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terial unverzüglich vernichtet werden müsse. Die 64-Kilobit-Schablonen solltten ebenfalls verschwinden. Die Firmen baten auch um Zusicherungen, daß Institute in der DDR keine 64- und 256-Kilobit-Chips unter Verwendung von Toshiba-Technologie herstellen würden. Am 9. Februar trafen sich Vertreter von Toshiba und Mitsui mit Ronneberger und einigen Wissenschaftlern im Mikroelektronik-Kombinat Erfurt und vernichteten vorgeblich alles Material in einer nahegelegenen Mülldeponie; die Schablone wurde mechanisch und später chemisch zerstört.82 Ronneberger sagte den Vertretern von Toshiba jedoch nicht, daß sie nur Kopien zerstört hatten. Die Toshiba-Technologie war noch in Händen von Dr. H. (einem Wissenschaftler), und zudem zu einem billigen Preis: Die Japaner erstatteten die 7,8 Millionen Dollar zurück, nachdem das Material angeblich zerstört worden war 83 . Mitte der achtziger Jahre war der Versuch der DDR, in Dresden eine eigene Chipindustrie aufzubauen, kläglich gescheitert. Sie hatte dazu einfach nicht das technische Knowhow und die erforderlichen Ausrüstungen. Die 16- oder 32-Kilobit-Chips, die die DDR damals produzierte, waren überholt; die kapitalistischen Länder waren schon zu einer neuen Generation übergegangen. Die Anzahl der 256-Kilobit-Chips, die die DDR 1989 zu produzieren imstande war, betrug gerade 90 000, während das kleine Österreich 50 Millionen Stück hergestellt hatte.84 Im Gegensatz dazu hatte Japan schon im April 1986 die Massenproduktion von einer Million Megabit-Chips pro Monat aufgenommen.85 Erich Honecker war in besonderem Maße daran interessiert, die DDR durch Orientierung auf Computer in eine technische Spitzenposition zu bringen. Er war erfreut, als Biermann ihm im Januar 1986 ankündigte, daß Jena bis 1989 in der Lage sein würde, einen Ein-Megabit-Chip zu produzieren, und nannte diese Nachricht sein „schönstes Neujahrsgeschenk"86. Im Herbst 1988 schrieb Biermann erneut an Honecker (diesmal persönlich und nicht über das „Neue Deutschland") und kündigte ihm an, daß er ihm das erste funktionsfähige Modell des Ein-Megabit-Chips ein Jahr früher überreichen würde, als er 1986 versprochen hatte. Biermann glaubte, daß die DDR auf diesem Wege die „internationale Spitze" in Wissenschaft und Technik erreicht hätte.87 Einige Wochen später traf sich Honecker mit Gorbatschow in Moskau, um Fragen der Kooperation in Wissenschaft und Technik zu erörtern. Hier beschenkte er Gorbatschow mit dem ersten „Muster" des in Jena entwickelten Ein-Megabit-Chips. Obwohl die Diskussion darum ging, bei der Massenproduktion des Chips zusammenzuwirken, hatte die DDR bis zum Mauerfall nicht einmal einen einzigen

82 83 84 85

86 87

Ronneberger an Schalck und Nendel, 10. Februar 1988. Ebenda. Die Zahl der produzierten 256-Kilobit-Chips stammt von Werner Jarowinsky. SAPMO. SED. IV 2/1/709. zitiert in: C. Meier a. a. O., S. 113. Toshiba beginnt mit Megabit-Chips, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Januar 1986; Hier kommt der 1-Megabit-Chip DRAM. Toshiba bereitet Massenproduktion des ersten 1-Megabit DRAM vor, in: Toshiba, Oktober 1985; beide Zeitungsausschnitte in: BStU, MIS XVm/8. Nr. 4705. BStU, MfS XVIII/8, Nr. 4705, 20. Februar 1986, Ergänzende Information ..., S. 28. SAPMO, SED, JIV 2/ 2AJ 3155, Biermann an Honecker, 12. September 1988.

Spionage und Technologietransfer

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Megabit-Chip produziert.88 Wie sich herausstellte, war das Muster eine aus dem Westen beschaffte Atrappe.89

Nutzen für Wissenschaftler Mitte der achtziger Jahre bestand eine enge Zusammenarbeit zwischen dem MfS, dem Zentralkomitee (Mittag), dem Ministerium für Außenhandel und KoKo (Schalck), den verschiedenen Wissenschafts- und Technikministerien, Wissenschaftlern und ihren Instituten sowie Kombinaten, insbesondere in der Frage der Durchbrechung des Embargos. Mehrere Wissenschaftler profitierten von einer engen Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Ministerien und mit dem Zentralkomitee. Wie wir sahen, übte Wolfgang Biermann als Mitglied des Zentralkomitees und Generaldirektor von Zeiss Jena einen aktiven Einfluß auf die Politik aus. In der gleichen Periode zog beispielsweise auch Volker Kempe Nutzen aus der Unterstützung durch das MfS. Kempe war von 1977 bis 1990 Direktor des Akademieinstituts für Kybernetik und Informationsverarbeitung. Er wurde 1939 in Berlin geboren, legte sein Abitur an der Arbeiter- und Bauern-Fakultät der Universität Halle ab und studierte auch in Moskau.90 Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus begann er in Österreich eine neue Karriere als Unternehmer und wurde dort 1992 zum Manager des Jahres gekürt. Kempe war nur einer von vielen Wissenschaftlern, die von der Unterstützung durch das MfS Vorteile hatten. 1986 übermittelte er dem MfS - der Abteilung XVIII des MfS und KoKo - Listen von Zeitschriften und Geräten, die er für seine Arbeit benötigte. Das MfS gab diese Listen an die verschiedenen Beschaffungsorgane weiter, die das Material für Kempe zu „importieren" hatten. Als Gegenleistung sollte Kempe an der Lösung von Softwareproblemen arbeiten; dazu gehörte die Neutralisierung eines aus Wien beschafften Softwarepaketes unter der Bezeichnung „Medusa" und dessen Anpassung an DDR-Bedingungen. Dies war der Beginn der Vorbereitung eines zentralen Softwareinstituts.91 Unterstützend tätige Wissenschaftler wie Kempe waren Teil des massiven Mikroelektronik-Programms der DDR. Offenbar hatte sich Kempe mit seinen Vorschlägen für das Programm an Honecker gewandt. Als Antwort darauf arrangierte Günter Mittag am 30. Januar 1986 ein Treffen mit Kempe, einige Monate vor dem XI. Parteitag im April, auf dem die Mikroelektronik eine herausragende Rolle spielte, und gleichzeitig, als sich die Angelegenheit mit Toshiba und Biermann entwickelte. Bei dieser Begegnung unterstützte Mittag mit Nachdruck die Anregungen von Kempe, zu denen die Einrichtung eines Zentralinstituts für Softwareentwicklung gehörte. Mittag sah die politische und ideologische Bedeutung der theoretischen Ideen Kempes in ihrem Beitrag fiir die Meisterung der wissenschaftlich-technischen Revolution. Es scheint, als habe die Unterstützung Kempes durch das MfS nach dieser Begegnung begonnen.

88 89 90 91

SAPMO, Vorl. SED 41 668, Büro Honecker, Notizen über das Treffen zwischen Honecker und Gorbatschow in Moskau, 28./29. September 1988. Interview mit einem früheren MfS-Offizier aus dem SWT, Sommer 1995. A. Vogt: Kempe, Volker, in: J. Cemy (Hg.): Wer war wer - DDR. Ein biographisches Lexikon, Berlin 1992, S. 225. BStU, MfS XVIII/8, Nr. 4706, Bl. 21.

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Kempes Institut war nur eines von vielen in der DDR, die die unter Embargo stehenden 32-Bit-Computer VAX 750 und 780 für CAD/CAM-Zwecke (Computer Assisted Design/Computer Assisted Manufacture) erhielten. 275 Stück 16-Bit-Personalcomputer kamen von IBM, und einige wenige Systeme wurden legal von Siemens importiert. 47 der dem Embargo unterliegenden Computer waren von der strikt embargogeschützten amerikanischen Firma DEC beschafft worden. Diese Embargogüter wurden von der Abteilung XIV des SWT (Bereich für Ausrüstungsimporte des Kombinats Mikroelektronik und ein Spezieller Importbereich des AHB Elektronik) besorgt, aber die Anweisungen kamen von der Staatlichen „Führungsgruppe" für Schlüsseltechnologien.92 Neben der Geheimhaltung, die die Methoden der illegalen Beschaffung bestimmte, wurden alle Personen, die mit Computern - insbesondere mit CAD/CAM-Computern arbeiteten oder mit ihnen zu tun hatten, zur Geheimhaltung verpflichtet. Bei einigen Typen wie den legal importierten Siemens-Computern wurde die Geheimhaltung allmählich wieder aufgehoben. Nichtsdestoweniger wurden viele Personen, die nicht an geheimen militärischen Projekten arbeiteten und die in einem westlichen Land als normale zivile Wissenschaftler betrachtet worden wären, als „Geheimnisträger" bezeichnet.93

Schlußbemerkungen: Ergebnisse des Technologietransfers für Wissenschaft und Technik Dieser Beitrag ging der Frage nach, wie Spionage im Rahmen der Bemühungen der DDR um wissenschaftlich-technischen Höchststand und wirtschaftliche Stärke eingesetzt wurde. Er hat gezeigt, daß beim Wissenschafts- und Technologietransfer vom Westen in den Ostblock und die Sowjetunion das MfS mit der SED und anderen Institutionen wie den Wissenschaftsministerien Hand in Hand arbeitete. Nur ein Beispiel dokumentiert, wie Wissenschaftler selbst von der Unterstützung des MfS profitiert haben, ansonsten beschäftigt sich der Beitrag bewußt nicht mit der anderen, großen und wichtigen Frage des Einflusses dieses Technologietransfers auf Wissenschaft und Technik - die Weiterverbreitung des Transfers im ostdeutschen Wissenschaftssystem.94 Auf dem Papier mag es den Anschein haben, daß das Spionagesystem ein effektiver Weg gewesen sein könnte, um angesichts der Barrieren, mit denen das Land infolge der Embargorestriktionen und der Isolierung vom Westen konfrontiert war, die ostdeutsche Wissenschaft und Technik zu fordern. Es besteht auch kein Zweifel, daß die „Schaltstelle für den Technologietransfer" (die Auswertungseinheit des SWT) gut organisiert und in der Lage war, Wissenschaftlern Unterstützung zu gewähren. Indes „war der SWT kein Zauberladen", wie ein Aufklärungsoffizier in einem Interview mit mir bemerkte. (Das Ausmaß der Unterstützung durch das MfS sollte deshalb nicht überbewertet werden.) Tatsächlich funktionierte das System nicht so reibungslos. Ein Wissenschaftler konnte zwar Pläne oder Geräte beim MfS anfordern, doch funktionierte das System - obwohl zentral organisiert und deshalb im Gegensatz zur Industriespionage 92

93

Ebenda, Bl. 38-40. Die Führungsgruppe für Schlüsseltechnologien bestand aus dem Abteilungsleiter im Zentralkomitee Tautenhahn, dem Staatssekretär für Außenhandel Schalck, dem Staatssekretär der Staatlichen Plankommission Wenzel und dem Staatssekretär im Ministerium für Elektronik Nendel. Ebenda. In meinem geplanten Buch über die Wissenschaften und das Ministerium für Staatssicherheit in der DDR werde ich diesem Thema ein spezielles Kapitel widmen.

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westlicher Unternehmen - nicht wie ein Versandhaus oder ein Einkaufszentrum. Wenn das MfS eine Quelle in einer Firma hatte, die ein bestimmtes Material lieferte, dann wurde das möglicherweise weitergegeben, auch wenn es gar nicht auf einer Anforderungsliste stand. Es gab Fälle, in denen Materialien oder Ausrüstungen in den Osten geliefert wurden, für die das MfS Millionen von Mark aufwenden mußte, ohne daß es möglich gewesen wäre, die betreffende Apparatur zu kopieren oder zu reproduzieren. Damit kommen wir zu einem anderen zentralen Problem, den Effekt, den das Kopieren westlicher Muster oder die Nutzung von Plänen oder Entwürfen in Technik und Industrie hatte. Es ist durchaus nicht unüblich, wenn ein kleines Land fremde Technologien kopiert und weiterentwickelt. Japan ist für seine Erfolge in diesem Bereich berühmt, und es gibt viele andere Beispiele für erfolgreichen Technologietransfer von einem Land in ein anderes. Wie die so erworbene Technik erfolgreich verbessert wird, ist von Land zu Land unterschiedlich. In der DDR gab es hinsichtlich der Effizienz des Kopierens westlicher Technik auch Zweifel. Beispielsweise beklagte ein Jenaer Wissenschaftler, daß dadurch internationale Entwicklungen „verschlafen" würden und dies sich auf die eigene Wissenschaft auswirke, da man nur noch „Nachahmer" und nicht mehr „Schöpfer" ist.95 Es war den Ostdeutschen klar, daß das Kopieren die Kreativität lähmen und zu Trägheit führen kann. Die Kreativität wird gehemmt, weil das Streben nach neuen Erkenntnissen mit dem Bewußtsein nachläßt, daß diese Kenntnisse z.B. durch Technologietransfer erworben werden können. Dies ist vielleicht vergleichbar mit dem Betrug bei einer Prüfung, wo man einfach abschreibt, ohne selbst nachgedacht und den Lernprozeß durchlaufen zu haben. Auf diese Art und Weise wird ein Land natürlich nicht zu Innovationen kommen und Unternehmen werden so kurzfristig zwar Forschungs- und Entwicklungskosten einsparen können, doch langfristig wird dies nachteilige Folgen auf die Innovationsfähigkeit und die Produktivität haben - ganz so wie es der Jenaer Wissenschaftler beklagte. Die Computerindutrie der DDR ist im übrigen dafür ein instruktives Beispiel. Einen Computer einfach zu erwerben und zu kopieren, reicht nicht als Grundstock für eine eigene Computerindustrie und auch nicht, um mit ihnen optimal zu arbeiten. In der DDR konnten oft Geräte nicht richtig genutzt werden, weil es Monate oder Jahre dauerte, um Teile, die auf der COCOM-Liste standen, illegal zu beschaffen; zeitweise standen sogar Disketten auf den Anforderunsglisten des MfS.96 Verschärft wurde die Situation noch dadurch, daß angesichts der schnellebigen Computerindustrie die Apparate oder Bauteile häufig schon veraltet waren, wenn sie endlich ihre Empfänger erreichten. Die immensen Investitionen für die Beschaffung westlicher Computertechnolgie in den siebziger und achtziger Jahren wirft weitere Fragen auf. Sowohl KoKo als auch die SWTAbteilung XIV für Importe (in den späten siebziger Jahren gegründet) waren für den „Import" von Embargogütern verantwortlich. Auch wenn die DDR durch die erwähnten Beschränkungen benachteiligt war, verfolgte sie das unrealistische Ziel, im Computerbereich Weltniveau erreichen zu wollen. Während Länder wie die Bundesrepublik ganz legal Computer und Produktionstechnologien kaufen konnten, war diese Möglichkeit für die DDR nicht gegeben, so daß man versuchte, die Verbote zu umgehen. Vereinfacht ausgedrückt, die DDR wäre ohne die in den meisten Industrienationen verfügbare moderne Computerausstattung viel rückständiger geblieben.

95 96

BStU, Außenstelle Gera, Jena, ZMA 003003, Bd. 120, S.4. Vgl. BStU, HVA, Auftragsbücher.

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Sowohl KoKo als der SWT waren effektive und oft in Anspruch genommene Beschaffungsorgane fiir Wissenschaftler, die Industrie, das MfS und das Politbüro. Manche der von ihnen verdeckt unternommenen Operationen waren jedoch im Westen vollkommen legal, so der Import von (dem Embargo unterworfenen) Computern und Bauteilen oder die Übermittlung von offenem Quellenmaterial an Wissenschaftler (über eine Spionageagentur). Die DDR litt an ihren eigenen paranoiden Geheimhaltungsvorschriften. Nach dem Mauerbau trug das MfS dazu bei, den Anschluß der DDR an die internationale Wissenschaftlergemeinschaft zu bewahren. Es war nicht nur so, daß die vielen Informantenberichte von Agenten und Reisekadern das MfS über möglicherweise anzuwerbende Agenten auf dem laufenden hielten; auch westliche Bücher und gedrucktes Material wurden oftmals über Spionagekanäle nach Ostdeutschland gebracht. Aus dem Westen wurde ein erhebliches Quantum an Wissen und Geräten in die DDR transferiert, doch noch viel größere Menge ging in die Sowjetunion. Beispielsweise konnte die Sowjetunion mehr als die DDR von der Spionage im Nuklearbereich profitieren. Darüber hinaus war auch Carl Zeiss Jena ein wichtiger Kanal des Wissenstransfers in die Sowjetunion, insbesondere im Bereich der Militärtechnik - beispielsweise berichteten Wissenschaftler dieses führenden Hochtechnologie-Unternehmens der DDR, daß im Rahmen eines gemeinsamen Projektes zur Entwicklung von Schiffsabwehrraketen 95% der eigentlich nötig gewesenen Grundlagenforschung für den Raketenkopf durch illegal beschaffte amerikanische Forschungsberichte eingespart werden konnte97, wodurch das System sehr viel schneller einsatzfähig wurde. Hier trifft Lenins Witz zu, daß der Westen dem Osten das Seil verkauft, mit dem ersterer schließlich gerichtet werden wird. Die Beschaffung westlicher Militärtechnologie hat ohne Zweifel dem Osten bei der Wahrung des Kräftegleichgewichts genützt. Die in diesem Beitrag untersuchten Beschaffungsagenturen operierten auf mehreren Ebenen. Das ging von der Reaktion auf die Politik der SED und die Umsetzung dieser Politik über die Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen und die Handlungen eines Führungsoffiziers bei der Werbung und Anleitung von Agenten bis hin zur Tätigkeit des Agenten selbst. Die alltäglichen operativen Aktivitäten führten zur Herausbildung einer speziellen „Spionagekultur", bei der die ursprünglichen Zielstellungen oftmals aus dem Blickfeld gerieten. Das wird deutlich, wenn man in Betracht zieht, wieviel Zeit ein Offizier für die Anwendimg und Führung von Agenten aufwandte. Zeitaufwendig war auch die Zusammenstellung von Dossiers, die zur Beantwortung der operativen „Wer ist Wer"Frage dienten. SWT und KoKo hatten schon immer eng mit den verschiedenen Wissenschaftsministerien zusammengearbeitet; in den achtziger Jahren nahm auf dem Computergebiet die Kooperation zwischen dem MfS, dem Politbüro und den Wissenschaftsministerien größere und sonst nicht bekannte Ausmaße an. Dies zeigt den Grad, in dem die DDR-Gesellschaft zu einem Staatssicherheitsregime geworden war, und die Art und Weise, wie die genannten Institutionen zusammenarbeiten mußten, um dem Bedürfnis der DDR nach technologischer Modernität auf dem Computergebiet zu entsprechen. Dieses Bedürfnis wurde durch den Traum des Politbüros stimuliert, in Wissenschaft und Technik westliches Niveau zu erreichen. Das MfS wußte, daß dies nicht möglich war, doch es folgte den Wünschen des Politbüros.

97

BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 9505, Bd. 7.

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Stalinistische Vielfalt: Hochschulpolitik im östlichen Mitteleuropa 1945-55

Einführung Ostdeutschland nahm in Ost-Mitteleuropa einen besonderen Platz ein. Nirgendwo sonst durchdrang die marxistisch-leninistische Ideologie die Gesellschaft so vollständig.1 Diese Tatsache traf in besonderem Maße auf die Universitäten zu. In Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei spielten die Universitäten eine zentrale Rolle bei den gesellschaftlichen Manifestationen für politische Reformen. In der DDR dagegen waren sie an solchen Prozessen kaum beteiligt. Auffällig ist, daß Universitätangehörige bei den Ereignissen im Juni 1953 und im September/Oktober 1989 abseits standen.2 In Ostdeutschland wurde die Hochschulbildung sorgfaltiger als anderswo von der Partei kontrolliert. Diese Tatsache spiegelt sich in der beispiellosen Durchdringung der Sozialwissenschaften mit marxistisch-leninistischer Ideologie und in der Langsamkeit wider, mit der die ostdeutschen Hochschulen in der postkommunistischen Periode zu Reformen übergingen.3 Dieser besondere Status Ostdeutschlands stellt für die Historiker ein Problem dar, waren die osteuropäischen Regimes doch bestrebt, auf allen Gebieten des sozialen und politischen Lebens das sowjetische Modell nachzuahmen. Wesentliche Unterschiede hätte es eigentlich nicht geben sollen. Insbesondere während der stalinistischen Periode (1948-54) konnten die osteuropäischen kom1 L. P. Morris: Eastern Europe since 1945, London 1984, S. 51. Jürgen Kocka hat zur Beschreibung der ostdeutschen Gesellschaft das Wort „durchherrscht" geprägt, Siehe J. Kocka: Eine durchherrschte Gesellschaft, in: H. Kaelble,./. Kocka, H. Zwahr (Hg.): Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 547-553. 2 A. Huschner. Der 17. Juni 1953 an Universitäten und Hochschulen der DDR, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 1991, H. 5, S. 681-692; M. Sieber, R. Freytag-. Kinder des Systems. DDR-Studenten vor, im und nach dem Herbst'89, Berlin 1993; I.-S. Kowalczuk: Volkserhebung ohne „Geistesarbeiter"?. Die Intelligenz in der DDR, in: I.-S. Kowalczuk, A. Mitter, St. Wolle (Hg.): Der TagX 17. Juni 1953, Berlin 1995, S. 129-170. 3 Die ostdeutschen Soziologen, Ökonomen und Historiker waren selbst in den späten 80er Jahren dafür bekannt, daß sie bei internationalen Zusammenkünften an orthodoxen marxistisch-leninistischen Positionen festhielten und dabei die anderen osteuropäischen Kollegen bei weitem übertrafen. In Ostdeutschland waren nur die Polizei und das Militär noch stärker als die Universitäten in die Arbeit der Staatssicherheit einbezogen. Siehe R. Eckert Die Humboldt-Universität im Netz des MfS, in: D. Voigt, L. Mehrtens (Hg.): DDR-Wissenschaft im Zwiespalt zwischen Forschung und Staatssicherheit, Berlin 1995, S. 169-186. Vgl. auch den Beitrag von K. Macrakis im vorliegenden Band.

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munistischen Parteien auch politischen Terror einsetzen, um die gewünschte Uniformität herzustellen. Wie ist es dem ostdeutschen Regime so gut gelungen, die universitären Gemeinschaften an die Ziele des sozialistischen Staates zu binden? Ein führender Experte auf dem Gebiet der Hochschulbildung im östlichen Mitteleuropa empfiehlt uns, die Aufmerksamkeit auf die frühen Jahre der osteuropäischen Entwicklung zu richten. Er meint, daß die Fundamente für die Hochschulsysteme des real existierenden Sozialismus in den unmittelbaren Nachkriegsjahren gelegt wurden, besonders in der stalinistischen Periode.4 Dies war eine Zeit günstiger Gelegenheiten, als die Kommunistischen Parteien über die umfassendste Skala von Mitteln bis hin zum politischen Terror verfugten, um ihre Ziele durchzusetzen. Gelang es ihnen in dieser Periode nicht, intakte Strukturen und Milieus aufzubrechen, so hatten sie nie wieder eine solche Chance. Wenn diese These stichhaltig ist, dann sind die Ursprünge für die ostdeutsche Spezifik in der Hochschulbildung in den frühen Nachkriegsjahren zu suchen. Im vorliegenden Beitrag versuche ich näher auf die Frage einzugehen, worin sich die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) bei der Einführung des sowjetischen Systems der Hochschulbildung von den kommunistischen Parteien in Polen und der Tschechoslowakei unterschieden hat. Zunächst werden Inhalt und Methoden des Transfers sowjetischer Modelle der Hochschulbildung ins östlichen Mitteleuropa behandelt, danach die Umgestaltungen innerhalb der Hochschulgemeinschaften selbst. Besondere Aufmerksamkeit widme ich der sozialen und politischen Transformation der Hochschulgemeinschaften, denn ohne diese Transformation hätten strukturelle Umgestaltungen die angestrebten politischen Effekte nicht bewirken können.

Das sowjetische Modell: Geplante Bildung Um 1953 erschienen die Leitungsstrukturen im polnischen, im ostdeutschen und im tschechoslowakischen Hochschulwesen identisch. Die Leitung war streng hierarchisch, wurde von oben nach unten ausgeübt und hatte zwei parallele Stränge: Partei und Staat. In jedem Fall war ein Funktionär des Zentralkomitees für die Hochschulbildung verantwortlich. Er leitete jeweils eine Abteilung im Apparat des Zentralkomitees, die die Hochschulpolitik der Partei zwischen Ministerien, Parteiorganisationen nachgeordneter Ebenen und den Hochschulen selbst koordinierte. Die drei Hochschulsysteme waren nach sowjetischen Organisationsmodellen umgebildet worden. Das ist an der Einrichtung besonderer Hochschulministerien und an der Einbeziehung der Hochschulen in die Kommandohierarchie von Partei und Staat sichtbar. Sowjetische Modelle waren auch in speziellen Kursen zur marxistischleninistischen Indoktrination und in dem Versuch zu erkennen, alle akademischen Fächer mit dem „wissenschaftlichen Sozialismus" zu durchdringen. Die Studienpläne, selbst für Fächer wie klassische Philologie und Mineralogie, wurden einfach aus dem Russischen übersetzt. Die vielleicht wichtigste Realisierungsform des sowjetischen Modells war die Zulassungspolitik, die auf eine zunehmende Zahl von Studenten aus Arbeiter- und BauernKreisen zielte. All diese Maßnahmen wurden angewandt, um eine Planung nach sowjetischem Stil zu erleichtern. In jedem der drei Länder war der Plan für die Hochschulbildung direkt dem 4 P. Hübner. Polityka naukowa w Polsce w latach 1944-1953 geneza systemu.,Warszawa 1992.

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staatlichen Gesamtplan untergeordnet. Kein Gebiet der universitären Tätigkeit war gegen Planung immun. Anton Ackermann, leitender Kulturfunktionär der SED, verglich sogar die Erfüllung der Pläne für Studenten mit der Erfüllung der Pläne für Kartoffeln; mit dem Unterschied, so der Zwischenruf eines Genossen Daub, daß „die nicht so schnell wachsen"5. Sobald die Studenten zugelassen waren, suchte die Partei jede Seite ihres Lebens zu kontrollieren. Generell wurden Schritt für Schritt die einstmals relativ autonomen universitären Körperschaften, wie dies z.B. die akademischen Senate und Fakultätsräte gewesen waren, in nachgeordnete Organe der administrativen Hierarchie umgewandelt, die zudem noch dem Regime der Planung unterworfen waren. Der Rektor wurde von einem primus inter pares in eine Art Manager umfunktioniert. In allen osteuropäischen Gesellschaften waren die Pläne in Zahlen aufgeschlüsselt und betonten vor allem das Wachstum der Schwerindustrie. Dies bedeutete, daß die Ressourcen des Hochschulwesens von den geistes- und rechtswissenschaftlichen Studien auf technische Fächer umverteilt wurden. Ein paralleler Trend war das Aufbrechen der akademischen Institutionen längst eng definierter disziplinarer Linien, wodurch sie der zentralen Planung und anderen Arten administrativer Kontrolle besser zugänglich wurden. Mit wachsender disziplinarer Aufspaltung verloren die Hochschulen zunehmend die Funktion, liberale Bildung zu vermitteln, und wurden mehr und mehr zu Einrichtungen für das Training von Spezialisten. Im gesamten östlichen Mitteleuropa wurden bereits 1949/50 Ressourcen von der traditionell starken geistes- und rechtswissenschaftlichen Ausbildung auf technische Gebiete verlagert. 1950 schloß die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei (KPC) die juristische Fakultät in Brno ebenso wie die pharmazeutische Abteilung der medizinischen Fakultät in Prag. Im selben Jahr wurden technische Hochschulen in Plzen und Ostrava und eine Chemiehochschule in Pardubice eröffnet.6 In strikter Befolgung des sowjetischen Modells waren diese neuen Hochschulen jeweils demjenigen Ministerium unterstellt, das für den betreffenden Wirtschaftszweig zuständig war. Das war vorteilhaft für die Planung: Die Ministerien kannten den Bedarf ihrer Sektoren und konnten entsprechend Studenten anfordern. Die überproportionale Zunahme technischer Spezialisten spiegelte die stalinistischen Konzeptionen der neuen Gesellschaft: Sie würde von Ingenieuren errichtet werden, nicht von bourgeoisen Relikten wie Apothekern und Anwälten. Die Immatrikulationszahlen für technische Fächer wuchs schnell: 1949/50 entfielen von insgesamt 9 080 neuimmatrikulierten Studenten 2 983 (32,8 %) auf technische Fachrichtungen; der Plan für 1951/52 sah vor, daß 4 120 (50 %) von insgesamt 8 260 Studenten ein technisches Studium aufnehmen sollten.7 Nach sowjetischem Vorbild wurden größere Fakultäten aufgespalten - beispielsweise teilte man in Prag 1951 die philosophische Fakultät in eine philosophisch-historische 5 Stenographische Niederschrift des Referats des Genossen Anton Ackermann auf der Arbeitstagung über die Frage der Auswahl und Zulassung zum Hochschulstudium, Berlin, 6. Mai 1949 (S. 15), Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv. Zentrales Parteiarchiv (im folgenden: SAPMO) IV2/ 9.04/ 464. 6 Vlädni narizeni ze dne 27. cervna 1950 o nekter^ch zmenäch v oiganisaci vysok^ch skol, in: Sbirka zäkonfi Republiky Ceskoslovenski, 1950, c. 81, S. 201. 7 Zäprva pro Pana predsedu vlädy o osnove vlädnlho narizeni o n6kter£ch zmenäch v oiganisaci vysokych skol, 30.Juni 1950; „Düvodovä zpräva", 22. Juni 1950, Stitnl Ustredni Archiv Praha (im folgenden: SÜAP), ÜPV 833/812/30/10.

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und eine philologische Fakultät, und im folgenden Jahr fand eine Separierung der Prager naturwissenschaftlichen Fakultät in eine mathematisch-physikalische und eine biologische Fakultät statt.8 Diese Reorganisation verfolgte ebenfalls das Ziel, die Planung an den Hochschulen zu erleichtern. Walter Ulbricht, der Generalsekretär des Zentralkomitees der SED, besaß verglichen mit anderen osteuropäischen Parteiführern ein ungewöhnliches Interesse an hochschulpolitischen Fragen. Er setzte sich beispielsweise persönlich dafür ein, daß immer mehr Arbeiterund Bauernkinder ein Studium aufnehmen sollten, besonders in technischen Fachrichtungen. Im Jahre 1950 intervenierte er zugunsten der Errichtung einer Verkehrshochschule in Dresden.9 Die Tendenz, die universitäre Ausbildung in den Rechts- und Sozialwissenschaften zu schwächen, bestand seit 1946/47. Damals veranlaßten die SED und die Sowjetische Militäradministration (SMAD) die Einrichtung konkurrierender marxistischer „gesellschaftswissenschaftlicher Fakultäten" in Rostock, Jena und Leipzig sowie die Gründung der Verwaltungsakademie „Walter Ulbricht" in Forst-Zinna. Darüber hinaus wurden im ostdeutschen Hochschulwesen die technischen und naturwissenschaftlichen Fächer auf Kosten der Geisteswissenschaften gefördert. Der Plan für 1953 wies der Technischen Hochschule in Dresden fast ein Drittel des staatlichen Gesamtbudgets für die Hochschulbildung zu. Sie erhielt mehr als doppelt so viel wie die Humboldt-Universität und ebensoviel wie Leipzig, Jena und Rostock zusammengenommen.10 Von 1951 bis 1955 stieg die Zahl der Studenten in den technischen Wissenschaften auf 463 Prozent, die der Studenten in Philosophie, Sprachen und künstlerischen Fächern lediglich auf 112 Prozent.11 Auch im polnischen Hochschulwesen sind analoge Entwicklungen zu verzeichnen. In Polen schien sogar die Hinwendung zu technischen Fächern aufgrund der enormen Kriegszerstörungen objektiv gegeben. 1937/38 besaß Polen fünf Universitäten mit 30000 Studenten; zehn Jahre später waren es sieben Universitäten mit 52000 Studenten, wobei die Zahl der technischen und Ingenieurhochschulen überproportional wuchs; sie verdoppelte sich von drei auf sechs bzw. von zwei auf vier. Die Zahl der Fakultäten in beiden erhöhte sich von 16 auf 40 und die der Studenten von 7 888 auf 21 000.12 1951 wurden an allen polnischen Universitäten mit Ausnahme von Poznan die geisteswissenschaftlichen Fakultäten in philologische und philosophisch-historische geteilt und auch die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultäten spaltete man auf. Ab 1951 konnte die juristische Fakultät in Torun keine Studenten mehr aufnehmen. Zur Ausbildung von Juristen richtete man neue Hochschulen ein: Bereits im April 1950 war die Juristische Hochschule „T. Duracz" eröffnet worden und im September die Hauptschule für den auswärtigen Dienst.13 1953 plante 8 Vlädnl naiizenl ze dne 2. rijna 1951 o organisacnlch zmenäch na vysok^ch skoläch, in: Sblika zäkonü Republiky Ceskoslovenskö 1951, c. 80, S. 2 8 5 - 2 8 6 ; Vlädnl naflzeni ze dne 8. cervence 1952 o nekter^ch zmenäch v oiganisaci vysok^ch skol, in: Ebenda, 1952, c. 80, S. 193-194; Vlädnl naiizenl ze dne 19. srpna 1952 o daläich zmenäch v oiganisaci vysok^ch skol, in: Ebenda, 1952, c. 40, S. 2 1 1 - 2 1 2 . 9 Der ursprüngliche Plan sah vor, diese Hochschule in Berlin zu errichten, doch Ulbricht erhob Einwände wegen der Nähe der westdeutschen Geheimdienste. W. Ulbricht an P. Wandel, Berlin 1. November 1948. Bundesarchiv, Abteilung Potsdam (im folgenden: BAP), R 2/1478/252. 10 BAP, E 1/17038/113. 11 BAP, E 1/9107/7. 12 B. Krasiewicz: Odbudowa szkolnictwa wyiszego w Polsce Ludowej w latach 1944-1948, Wioclaw 1976, S. 3 3 8 - 3 3 9 . 13 P. Hübner, Polityka naukowa..., a. a. O., S. 600-603.

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das Hochschulministerium, das Warschauer Polytechnikum in sechs separate Schulen aufzuspalten: die „Hauptschulen" für Architektur, Bauwesen, chemische Technik, Elektronik, Maschinenbau und Verkehr. Die Planung sowjetischen Stils veränderte nicht nur die Hochschullandschaften in ganz Osteuropa, sondern griff einschneidend in die Strukturen des persönlichen Lebens der Studenten und Wissenschaftler ein. Das Ziel der Planer war, den gesamten Studienbetrieb möglichst weitgehend zu verschulen und selbst die kleinsten Aktivitäten zu kontrollieren. Standardisierte Studienpläne waren in Ostdeutschland schon unmittelbar nach Kriegsende debattiert worden, und in bestimmten, ideologisch wichtigen Fakultäten wurden bis 1947 allgemeine Richtlinien für die Studienpläne eingeführt, meist unter der Aufsicht sowjetischer Hochschuloffiziere. Allerdings sind derartige Pläne kaum vor 1951 wirksam geworden. An die Stelle liberaler Bildung, wo die Studenten die von ihnen besuchten Vorlesungen frei wählen konnten, trat ein hochspezialisiertes Training sowjetischen Typs. Die SED benötigte keine rundum gebildeten Wissenschaftler, sondern Spezialisten, die nach der Plandisziplin funktionierten. Um 1953 hatten die Studenten 28 bis 32 Pflichtstunden pro Woche, und sie mußten 12 bis 14 Stunden täglich arbeiten, um nicht ins Hintertreffen zu geraten. Die Gruppen der Freien Deutschen Jugend (FDJ) hatten sicherzustellen, daß die Studenten auch nach dem Unterricht ihre Studienpläne einhielten.14 1951 wurde das bisher in Deutschland übliche siebenmonatige Studienjahr auf zehn Monate verlängert.15 Offiziell hatten die Studenten noch zwei Monate Ferien, einschließlich einer Winterpause, doch zunehmend begann die FDJ diese Zeit ebenfalls zu beanspruchen.16 In der Tschechoslowakei und in Polen wurde das studentische Leben in ähnlicher Weise Planungszwängen unterworfen. Erstmalig wurde der Vorlesungsbesuch obligatorisch, und zentral bestätigte Lehrpläne wurden eingeführt. Die obligatorischen Stundenzahlen wurden sehr hoch angesetzt. Die Funktionäre waren bestrebt, mit der „liberalistischen Autonomie" in der Hochschulbildung Schluß zu machen, und sie waren der Auffassung, daß die Studenten ebenso viele Stunden in den Unterrichtsräumen verbringen sollten wie die Arbeiter in den Fabriken.17 Im Gefolge der Planerfüllung sank die Qualität der Lehre. Ebenso wie die Studenten hatten auch die Lehrkräfte nicht genügend Zeit, um ihre Vorlesungen vorzubereiten. Die Zahl der auf einen ordentlichen Professor entfallenden Studenten nahm in Ostdeutschland dramatisch zu, und zwar von 54,5 im Jahre 1948 auf 74,5 im Jahre 1952. In dem Maße wie das Bedürfnis nach Lehrkräften stieg, sank deren Qualifikation. Der Anteil der Hochschullehrer ohne Promotion stieg von 18 Prozent im Jahre 1948 auf 28 Prozent im Jahre 1952; die Gesamtzahl der Lehrkräfte wuchs von 1 236 auf 1743 (um 41 %). In Leipzig erhöhte sich die Anzahl der Nichtakademiker im Lehrkörper stetig von 9 Prozent im Wintersemester 1946/47 auf 29 Prozent im Herbstsemester 1951/52.18 Besonders auffallig verminderten sich die Qualifikationen des Lehrkörpers in Philosophie und Geschichte, wo Lehrstühle 14 M , E. E. Müller: „... stürmt die Festung Wissenschaft!" Die Sowjetisierung der mitteldeutschen Universitäten seit 1945, Berlin 1953, S. 231-238. 15 Das Zehnmonate-Studienjahr war von Walter Ulbricht auf dem Dritten Parteitag der SED im Juli 1950 verkündet worden. Zum Wesen des sowjetischen Modells, Siehe M., E. E. Müller, a. a. O., insbes. Teil III. 16 E. Richert: „Sozialistische Universität": Die Hochschulpolitik der SED, Berlin 1967, S. 84-86. 17 R. Urban: Die Organisation der Wissenschaft in der Tschechoslowakei, Marburg 1958, S. 198, 206. 18 M., E. E. Müller, a. a. O., S. 299-301.

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für „Professoren" errichtet wurden, die noch nicht einmal promoviert waren.19 Ein ähnliches Bild bot sich in der Tschechoslowakei. 1937 kamen hier 17,9 Studenten auf einen Hochschullehrer. Im Herbst 1952 betrug das Verhältnis 37,4 : 1, zwei Jahre später 43,3 : 1 und 1956 schließlich 48 : l. 20 Die berufliche Qualifikation der Lehrkräfte sank. Aufgrund umfangreicher Säuberungen der Fakultäten im Jahre 1948 wurde etwas zuvor ungewöhnliches üblich: Personen ohne Habilitation wurden zu Professoren ernannt.21 Allerdings konnte in der polnischen Professorenschaft der Einfluß unterqualifizierten Lehrpersonals minimiert werden, da keine systematischen Säuberungen stattgefunden hatten. Die Übertragung der sowjetischen Erfahrungen konnte in allen drei Ländern reibungslos erfolgen, weil in deren Partei- und Staatsapparaten viele Personen tätig waren, die die Sowjetunion aus erster Hand kannten. In Ostdeutschland war der sowjetische Einfluß der Partei- und Staatsbürokratie am größten, und es war das einzige Land im kommunistisch beherrschten Europa, wo sowjetische Berater das alltägliche Geschehen im Bildungswesen direkt kontrollierten. Der erste Präsident der Deutschen Verwaltung für Volksbildung (DW), Paul Wandel, hatte an der Schule der Komintern in Moskau gelehrt und war Mitglied der KPdSU. Sein Stellvertreter für das Hochschulwesen, der Physiker und Kommunist Robert Rompe, war in Rußland geboren und besaß ebenfalls das Vertrauen der sowjetischen Besatzungsmacht.22 Absolventen sowjetischer Antifa-Lager spielten in der Bildungspolitik eine zentrale Rolle - besonders sind in diesem Zusammenhang zu nennen: Hans Beyer, Rudolf Böhm, Ernst Hadermann und Franz Wohlgemuth. Anfangs beschränkten sich die sowjetischen Besatzungsoffiziere darauf, die „vier D's" von Potsdam einzuführen: Demokratisierung, Demilitarisierung, Entnazifizierung (denazification), Dekartellierung. Sie vermieden es sorgsam, ihr Programm als „sozialistisch" zu etikettieren. Doch ihr Verständnis von „Demokratie" und „Entnazifizierung" begünstigte die Vorbereitungen für den sozialistischen Aufbau der 50er Jahre. „Demokratisierung" der Universitäten bedeutete beispielsweise die zunehmende Immatrikulation von „Arbeiterund Bauern"-Studenten und die Einführung der „wissenschaftlichen Weltanschauung der Arbeiterklasse" in die Studienpläne. „Entnazifizierung" hieß die Stärkung der SED, die per

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Die Natur- und Technikwissenschaften waren in der Bewahrung wissenschaftlicher Standards weitaus erfolgreicher als die Sozial- und Geisteswissenschaften. Bereits in den ersten Nachkriegsjahren wurden unterschiedliche Maßstäbe für die Zulassung zu Promotionen in Anwendung gebracht. Am 30.fJuli 1947 machte ein Mitarbeiter der DVV die folgende Notiz: „Über folgende erforderliche Bedingungen bestand Einigkeit: Die Bewerber für medizinische und mathematisch-naturwissenschaftliche Fächer müssen auf jeden Fall fachlich hinreichend vorgebildet sein. Daneben ist zu fordern, dass sie politisch positiv in unserem Sinne eingestellt sind. Bei den Bewerbern der geisteswissenschaftlichen Fakultäten ist die politische Zuverlässigkeit erste Bedingung. Hier können auch Bewerber angenommen werden, die nicht den vorschriftsmäßigen Entwicklungsgang durchgemacht haben, wenn sie nachweisen, daß sie durch Selbststudium die Voraussetzung für eine erfolgreiche Ausbildung geschaffen haben." (BAP, R 2/1447, Bl. 196-197) In den 50er Jahren standen die Geistes- und Sozialwissenschaften in Leipzig jedoch auf einem hohen Niveau. Siehe die Diskussion bei W. Markov: Zwiesprache mit dem Jahrhundert, Köln 1990, S. 179-218. Republikflucht, Vertreibung und Tod untergruben jedoch nach und nach dieses Milieu in den folgenden Jahrzehnten. SÜAP, (JPV K 2474 12/38.5; Archiv ÜV KSC (Praha), fond 19/7 a.j. 284/11. Eine Liste der Ernennungen in den späten Jahren, Siehe SÜAP, ÜPV 514-516. BAP, R 2/936/38; 934/137.

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definitionem „antifaschistisch" war.23 Allmählich übertrug die SMAD immer mehr Vollmachten für die „Demokratisierung" an die von der SED kontrollierten Bildungsministerien der fünf ostdeutschen Länder. Im polnischen und im tschechischen Apparat waren direkte Erfahrungen mit dem Sowjetsystem meist auf Spitzenfunktionäre beschränkt. Die Minister selbst, Stanislaw Skrzeszewski und Zdenek Nejedty, hatten während des Krieges in der Sowjetunion gelebt, und das galt auch für die führenden Parteiftinktionäre Edward Ochab, Jakub Berman, Adam Schaff24, Arnost Kolman25 und Gustav Bares. Die Funktionäre der mittleren Ebene hatten häufig wenig direkte Kenntnis von der Sowjetunion. Die meisten von ihnen waren während des Krieges für eine politische Tätigkeit noch zu jung gewesen. Jüngere Funktionäre konnten ihre Wissenslücken jedoch durch regelmäßige Informationsreisen in die Sowjetunion schließen; ebenfalls von den zahlreichen Akademiker-„Delegationen", die die Länder des östlichen Mitteleuropa besuchten.26

Das Wesen der Differenz: die Kaderpolitik Es gibt keinen Zweifel darüber, daß die polnischen, tschechischen und ostdeutschen Kommunistischen Parteien Hochschulsysteme nach sowjetischem Muster anstrebten. Allerdings übten die Sowjets keine strikte Aufsicht darüber aus, wie die konkrete Gestaltung erfolgte. In Polen und in der Tschechoslowakei gab es keine „Hochschuloffiziere" in den Botschaften oder Militärmissionen, die die täglichen Abläufe an den Hochschulen kontrolliert hätten. Eher vertrauten die Sowjets darauf, daß Jakub Berman und Gustav Bares geeigneten Wege für die Übertragung des sowjetischen Modells finden würden. Gelegentlich warnten sowjetische Besucher sogar vor übertriebener Eile beim Kopieren ihres Systems.27 In der Praxis waren es daher osteuropäische Kommunisten, die die Bedeutung der sowjetischen Erfahrungen interpretierten. Selbst im Schatten der grausamsten Schauprozesse Osteuropas debattierten tschechische Hochschulfunktionäre darüber, wie die sowjetischen Erfahrungen für sie auszuwerten wären. 23

Zur Praxis des Antifaschismus in Ostdeutschland in den frühen Nachkriegsjahren, Siehe J. Connelly: East German Higher Education Policies and Student Resistance, 1945-1948, in: Central European History 28, 1995, H. 3. 24 A. Schaff. Pora na spowiedi, Warszawa 1994. 25 A. Kolman: Die verirrte Generation, Frankfurt a. M. 1982. 26 Berichte über Besuche sowjetischer Delegationen in den frühen 50er Jahren, Siehe: SAPMO J IV2/ 3/ 160; IV2/ 2/134; Nachlaß 182 (Ulbricht), 934/109; R. Urban: a. a. O., S. 195; Archiv ÜV KSC (Praha), f. 19/7 a.j. 275/51-60; 275, 279, 283; Archiwum Akt Nowych (im folgenden: AAN) KCPZPR 237/XVI/l 0/77-78; 237/XVI/l 84/129-130; 237/XVI/l 90/76-79; MSW 24/219; Mitteilungen des Rektors vom 31. Januar 1951, 27. Juni 1950 und 28. Juni 1950, Archiwum Uniwersytetu Jagiellonskiego (im folgenden: AUJ) WP III 202. 27 Miroslav Valouch, der im Bildungsministerium für die Hochschulen verantwortlich war, berichtete dem im Zentralkomitee für ihn zuständigen Ludek Holubec Mitte 1952, daß sowjetische Besucher „uns von einer Anzahl von Fällen erzählten, wo durch taktvolles Verhalten und geduldige Kaderarbeit letztlich reaktionäre Professoren für die sowjetischen Hochschulen gewonnen werden konnten". Und Valouch beklagte, daß in der tschechischen Diskussion Ansichten, die denen der Sowjets nahekommen, sehr oft „als schädlich kritisiert" würden. Archiv ÜV KSC, f. 19/7 a.j. 272/109-110.

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Am deutlichsten traten die Schwierigkeiten bei der Nutzung der sowjetischen Erfahrungen in der Zulassungspolitik für die Studenten zutage, die in allen drei Ländern den Eckstein der Hochschulpolitik bildete. Oberflächlich betrachtet, schienen die Maßnahmen der drei Parteien in der Tat getreue Nachbildungen des sowjetischen Modells zu sein. Alle drei schufen Fakultäten, die „Arbeiter und Bauern" auf ein Hochschulstudium vorbereiten sollten - ähnlich den „rabfaky", die in der Sowjetunion nach der Revolution eingerichtet worden waren. Alle drei bevorzugten bei der regulären Zulassung zu den Universitäten Kinder von Arbeitern und Bauern. Doch wenn es darum ging, die genauen Prozentsätze der in jedem Jahr zuzulassenden Arbeiter zu bestimmen oder festzulegen, welche Mittel den Arbeiter- und Bauern-Fakultäten zugewiesen und wie lange die Arbeiter- und Bauern-Studenten „geschult" werden sollten, gingen die drei Parteien ihre eigenen Wege. Die sowjetische Erfahrung konnte keine sichere Wegleitung sein, da sie selbst keiner geraden Linie gefolgt war.28 Die einheimischen Kommunisten konnten nicht bei den Sowjets nachfragen, wieviele Arbeiter in einem bestimmten Jahr aufzunehmen und wie sie zu „rekrutieren" wären, wie die Zulassungskommissionen zusammengesetzt oder wie die Aufnahmeprüfungen angelegt werden sollten. Dabei konnte jede dieser Fragen für den Erfolg des Arbeiterund Bauern-Studiums und für die Übertragung der „sowjetischen Erfahrungen" entscheidend sein. Die Herausforderungen, vor denen die ostdeutschen, die tschechischen und die polnischen Kommunisten bei ihren Bemühungen um die soziale Umgestaltung der Studentenschaft standen, waren ähnlich. Im ganzen östlichen Mitteleuropa waren die Arbeiter- und Bauern-Kinder an den Universitäten deutlich unterrepräsentiert gewesen, ebenso wie an den Gymnasien, die auf das Universitätsstudium vorbereiteten.29 Überall war das universitäre Establishment konservativ und betrachtete Experimente in der Zulassungspolitik mit Argwohn. In mehrfacher Hinsicht besaß die SED jedoch Vorteile bei der Bewältigung dieser Probleme. Ostdeutschland war im östlichen Mitteleuropa das einzige Land, in dem eine kommunistisch dominierte Bildungsverwaltung von Anfang an auf die Zulassungsentscheidungen für jeden einzelnen Studenten Einfluß nehmen konnte. Die SMAD konnte jeden Studenten abweisen, der ihren Anforderungen an „Entnazifizierung" und „Demokratisierung" nicht genügte. Von vornherein konnten deshalb die Studenten in Ostdeutschland nach explizit 28

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In den 20er Jahren hatte die sowjetische Zulassungspolitik die Klassenherkunft in der Tat stark favorisiert, doch verlagerte sich seit den 30er Jahren der Schwerpunkt mehr und mehr auf Leistungskriterien. Um 1940 kam die Mehrzahl der sowjetischen Studenten nicht aus der Arbeiterklasse. Siehe J. McClelland: Proletarianizing the Student Body: The Soviet Experience during the New Economic Policy, in: Past and Present, August 1978, 80, S. 123-125. 1935/36 kamen 9,9 % der Studienanfänger an polnischen Universitäten aus Arbeiterkreisen und 11,7 % aus der Bauernschaft, Siehe Sktad spoteczny studentöw I roku szköi wylszych w/g wydzialöw w poröwnaniu ze stanem przedwojennym 1935/36, AAN MO/2879 (ohne Zählung). Nur 7 % der tschechischen Universitätsstudenten vor 1948 stammten aus der Arbeiterklasse. 1948 bildeten die Handarbeiter 40 % der Bevölkerung; 1947 kamen 3 % der Studenten in Brno aus der Arbeiterklasse, 11 % aus der Landwirtschaft, Siehe Dejiny University v Brne, Brno 1969, S.269. 1932 kamen in Deutschland 3 % der Studenten aus der Arbeiterklasse und 2,2 % aus der Bauernschaft, Siehe Zehn-Jahresstatistik des Hochschulbesuchs 1943, Zentralarchiv des FDGB, Bundesvorstand 11/-/785 (Zitiert nach H.-H. Kasper: Der Kampf der SED um die Heranbildung einer Intelligenz aus der Arbeiterklasse und der werktätigen Bauernschaft über die Vorstudienanstalten an den Universitäten und Hochschulen der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (1945/46 bis 1949), Unveröffentlichte Dissertation, Freiberg/Sa. 1979, S. 269.

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politischen Kriterien ausgewählt werden. Zunächst richtete sich die Zulassungspolitik auf den strikten Ausschluß von Personen, die wie frühere NSDAP-Mitglieder oder Wehrmachtsoffiziere durch eine Nazivergangenheit belastet waren. Kandidaten mit einem „antifaschistischen" Leumund wurden bevorzugt. Bereits 1946 wurde das Verständnis des „Antifaschistischen" auf das politische Engagement in der Nachkriegszeit ausgeweitet.30 Wer studieren wollte, dem wurde nahegelegt, sich dem Kampf gegen den Faschismus und seinen Folgen anzuschließen. Solche Personen traten in der Regel einer der „antifaschistisch-demokratischen" Parteien bei. Nach 1948 galt aber nur die SED als eine konsequent „antifaschistisch-demokratische" Partei.31 Um die Zahl der Arbeiter- und Bauern-Studenten schnell zu steigern, begannen Kommunisten und Sozialdemokraten 1945 mit der Einrichtung von Vorstudienkursen für Personen aus sozial unterprivilegierten Kreisen. Mit diesen Kursen wurde versucht, ihren Teilnehmern ein Äquivalent zum Abitur zu verschaffen. Anfangs dauerten die Kurse ein Jahr, und ihr Charakter variierte je nach der Region; in Gegenden mit einem traditionell starken Einfluß der Kommunisten und Sozialdemokraten, wie etwa in Sachsen, waren sie besser ausgestattet und zahlreicher. Die ersten großen Kontingente von Arbeiter- und Bauern-Studenten konnten im Winter 1946/47 ihr Universitätsstudium aufnehmen. 1949 standardisierte die SED diese Kurse und wandelte sie in „Arbeiter- und Bauern-Fakultäten" (ABF) um. Diese dauerten nun drei Jahre und waren direkt an die Hochschulen angeschlossen, so daß die Arbeiter- und Bauern-Studenten unmittelbar von den universitären Ressourcen Gebrauch machen konnten. Die polnischen Kommunisten waren zahlenmäßig weitaus schwächer als ihre Genossen in Ostdeutschland oder in der Tschechoslowakei; 1947 lag ihre Mitgliederstärke bei etwa einem Drittel. Ebenfalls stand die polnische Bevölkerung dem Kommunismus weitaus distanzierter gegenüber als dies in Ostdeutschland oder der Tschechoslowakei der Fall war. So hielten es die polnischen Kommunisten für besser, bei der Einführung einer sozialistischen Politik behutsam vorzugehen. An den Universitäten entschieden sie sich frühzeitig für eine Strategie des Kompromisses, indem sie die Professoren in ihren Ämtern beließen, selbst in den Sozial- und Rechtswissenschaften, und sich auf die Zulassungen der Studenten konzentrierten.32 Die alte Professorenschaft sollte dazu beitragen, eine neue Elite aus Arbeiter- und Bauernkindern heranzubilden. Der Verzicht auf eine Säuberung der Professorenschaft machte die Erfüllung dieser Aufgabe jedoch schwierig. Die größtenteils antikommunistische Professorenschaft blieb intakt und an den Universitäten kulturell domi30

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Grundlegende Hinweise über die Zulassung zum Studium an Universitäten und Hochschulen vom 8. Dezember 1945, in: H. Stallmann: Hochschulzugang in der SBZ/DDR 1945-1949, St. Augustin 1980, S. 426^131. Siehe die Bemerkungen von Walter Markov in: Vierte Tagung des Zentralen Hochschulausschusses der SED am 7. und 8. Februar 1948, S. 250, SAPMOIV2/ 9.04/ 6 (ohne Zählung). Bei der Sitzung des Senats der Universität Leipzig am 16.8.1947 wurden Fragen der Immatrikulation besprochen. Besondere Aufmerksamkeit erregte der Mißbrauch von Bescheinigungen „antifaschistischer Gesinnung" durch die Parteien. Rektor H.-G. Gadamer klagte, „die Bescheinigung als „Funktionär" einer Partei sei jetzt wohl von den meisten Bewerbern erbracht." Der Senat beschloß, den 1. 2. 1946 als „Stichtag" für die Übernahme einer politischen Funktion als entscheidend zu betrachten, (weil) erst nach der Eröffnung (der Universität) die „Meldungen der Parteien erfolgten." Archiv der Universität Leipzig, Rektorat 1. Siehe die Bemerkungen des Generalsekretärs Wtadyslaw Gomulka auf dem ersten Kongreß der Polnischen Arbeiterpartei Ende 1945, in: W. Gomutka: Ku nowej Polsce: sprawozdanie polityczne i przemöwenia wygioszone na I Zjeidzie PPR, Lödi 1946, S. 139.

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nant. Nur sehr wenige Studenten traten in die Partei ein. Bis in die späten 50er Jahre kamen über 60 Prozent der polnischen Studenten aus Arbeiter- und Bauernkreisen, aber weniger als 10 Prozent gehörten der Partei an. In Ostdeutschland hingegen waren bereits 1947 bis zu einem Drittel der Studenten in Leipzig, Jena und Halle Parteimitglieder. In der frühen Nachkriegsperiode waren die tschechischen Kommunisten kaum mit hochschulpolitischen Problemen befaßt. Das Bildungswesen gehörte nicht zu ihren Prioritäten; ein Beleg dafür ist, daß sie nach ihrem Wahlsieg im Mai 1946 das Bildungsressort freiwillig gegen das Ministerium für Binnenhandel tauschten. Auch später, als sie das Bildungsministerium übernommen hatten, unternahm die Kommunistische Partei nichts, um die Hochschulbildung von Arbeitern und Bauern voranzubringen. Ganz anders als in Sachsen, warben in der Tschechoslowakei die Parteizellen keine Arbeiter für ein Studium; ebensowenig tat das Zentralkomitee der KPC etwas, um Aktivitäten von unten zu initiieren - ähnlich wie die Berliner Zentrale die zögernden mecklenburgischen Kommunisten ermutigt hatte, das Studium von Arbeitern und Bauern zu fördern. Im Gegensatz dazu waren die tschechischen Kommunisten seltsam indifferent gegenüber dem Bedürfnis nach einer sozialen Umgestaltung der Studentenschaft. Diese frühen Unterschiede in der Akzentsetzung blieben während der ganzen stalinistischen Periode bestehen. Weder die polnische noch die tschechische Kommunistische Partei gaben dem Studium von Arbeitern die gleiche Priorität wie die SED. Nach der Machtergreifung im Jahre 1948 richtete die KPC eine Art ABF, die sogenannten DK (delnick6 kursy) ein, aber niemals gab sie ihnen solche Ressourcen, wie es die ostdeutsche Partei getan hatte. Während die ABFs in den frühen 50er Jahren ein Fünftel der Immatrikulationsjahrgänge an den ostdeutschen Universitäten stellten, lag der entsprechende Anteil der DKs selbst in Spitzenzeiten bei höchstens 13 Prozent.33 Die Auswahlmechanismen waren niemals so streng, daß sie garantierten, daß die Mehrheit der Studienanfänger aus Arbeiterkreisen kam. Diese Kurse wurden in kleinen Städten fern von den Universitäten eingerichtet, so daß deren Studenten die universitären Möglichkeiten nicht nutzen konnten. Um die Mitte der 50er Jahre verzichtete die tschechische Führung endgültig auf besondere Maßnahmen zur Gewinnimg von Arbeitern für ein Hochschulstudium; daher wurde der Einfluß bürgerlicher Schichten in der Hochschulbildung nicht verdrängt. Ein wichtiger Grund dafür, daß die Hochschulen nicht zur Heranbildung einer neuen Elite genutzt wurden, war beispiellose Feindschaft und Mißtrauen, die die KPC gegenüber den universitären Milieus hegte. Eher als aus Arbeitern Studenten machte sie aus Studenten Arbeiter. Im Jahre 1949 wurde mehr als ein Viertel der Studenten in der Tschechoslowakei vom Studium ausgeschlossen und größtenteils zur Arbeit in die Produktion geschickt. Die polnische Partei stellte ebenfalls für die Ausbildung von Arbeitern nicht in gleichem Maße Ressourcen bereit, wie es die SED tat. Erst 1951 wurden den Universitäten Arbeiterkurse angegliedert. Arbeiter- und Bauernstudenten wurden nicht so sorgfaltig ausgewählt wie in Deutschland. Die SED-Führung hatte den Partei- und Gewerkschaftsapparat damit beauftragt, Fabrikarbeiter in den Produktionsstätten zu rekrutieren; die Führung der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) mobilisierte die Basisorganisationen nicht in ähnlicher Weise und war daher außerstande, ihren „Plan" für Arbeiter- und Bauernstudenten zu erfüllen. Mitte der 50er Jahre stellten die polnischen Kommunisten die Arbeiter33

Anfang der 50er Jahre entfielen etwa 40 % der Studienanfänger an den Hochschulen auf die Anfangsklassen der ABF; 1954 ging deren Anteil auf ein Viertel zurück, Siehe Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1960/61, Berlin 1961, S. 132-133; SUA, UPV 2481 12/3.81.43/54.

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kurse ein, weil sie Mechanismen geschaffen hatten, die den Übergang großer Studentenkontingente aus Arbeiter- und Bauernkreisen von den Oberschulen direkt an die Hochschulen gewährleisteten. So verfehlten sie es, die separate Ausbildung von Arbeitern zu nutzen, um die Arbeiter- und Bauern-Studenten sorgfältig ideologisch zu instruieren und ihnen das Gefühl zu vermitteln, sie verdankten ihren sozialen Aufstieg direkt der Partei. Das Resultat dieser unterschiedlichen Arten von Arbeiter- und Bauern-Kursen waren deutlich differierende Studentenschaften. Obwohl die tschechische, die ostdeutsche und die polnische Gesellschaft etwa gleiche Anteile von „Arbeitern und Bauern" hatten, unterschieden sich in den späten 50er Jahren, auf dem Höhepunkt der sozialen Revolution im osteuropäischen Hochschulwesen, die Anteile der aus diesen Gruppen stammenden Studenten merklich: ungefähr 60 Prozent in Ostdeutschland und Polen und 40 Prozent in der Tschechoslowakei34. Allein die SED hatte den Willen gezeigt, für die Schaffung einer neuen Elite gezielt und auf allen Ebenen die Hochschulbildung zu nutzen. Ein gleichermaßen wichtiges Element der Personalpolitik, für das die sowjetischen Berater nur wenig Hinweise geben konnten, war die Gestaltung der Fakultäten: die Säuberung, Rekrutierung und Ausbildung der Professorenschaft. Auch hier war die SED am konsequentesten und es gelang ihr, nicht nur die Struktur, sondern auch den Inhalt der Hochschulbildung umzugestalten. Der Schlüssel zum ostdeutschen Erfolg war ein frühzeitiger Beginn und die Unterstützung durch die Sowjets, die auf der Entnazifizierung der Universitäten bestanden. Das Prinzip der Entnazifizierung der Professoren in der Sowjetischen Besatzungszone war relativ einfach: Wer der NSDAP angehört hatte, konnte nicht im Lehrkörper einer Universität verbleiben. Anfang Februar 1946 gab die SMAD über die D W die Anweisung, nach der die Universitäten unverzüglich sämtliche Nazis aus dem Lehrkörper zu entfernen hatten.35 Dies bedeutete eine Reduktion der Lehrkräfte - im Vergleich zum Wintersemester 1944/45 - um mehr als zwei Drittel. Die Anzahl der in Ostdeutschland lehrenden Ordinarien ging von 615 auf 279 zurück.36 In Berlin, Rostock und Leipzig wurden ungefähr 85, 76,5 bzw. 55 Prozent der Professoren und Dozenten entlassen.37 Professor P. W. Solotuchin, Leiter der Volksbildungsabteilung der SMAD in Berlin-Karlshorst, vertrat die Auffassung, „lieber bei den Universitäten klein, aber richtig beginnen als umgekehrt."38

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Der Höhepunkt von 57,73 % wurde 1958 in Ostdeutschland erreicht. Danach stabilisierte sich die Ziffer bei etwa 38 % der Studentenschaft, SieheH. Stallmann: a. a. O., S. 305-307; M. Usko: Hochschulen in der DDR, Berlin 1974, S. 32. Zudem hatte es den Anschein, daß die neue Elite ihr Privileg verteidigte. Trotz andauernder Präferenzen für Kinder von Produktionsarbeitern kamen 1982 lediglich 31 % der Studienanfänger aus Haushalten, in denen weder Vater noch Mutter über Hochschulbildung verfügten, Siehe R. Rytlewski. Studentenschaft in der DDR, in: O. Anweiler et al. (Hg.): Vergleich von Bildung und Erziehung in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik, Köln 1989, S. 465. Telegramm von R. Rompe, Berlin 3. 2. 1946, Universitätsarchiv Rostock, Rektorat/III/A/1/ 1/la. BAP, R 2/1060/21. R. Jessen: Professoren im Sozialismus. Aspekte des Strukturwandels der Hochschullehrerschaft in der Ulbricht-Ära, in: H. Kaelble, J. Kocka, H. Zwahr. a. a. O., S. 226. H. Klein (Hg.): Humboldt-Universität zu Berlin. Oberblick 1810-1985, Berlin 1985, S. 96.

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Nach und nach zeigte sich die Zentralverwaltung für Volksbildung in der Sowjetischen Zone kompromißbereiter gegenüber früheren Nazis39; die Erfordernisse der Heranbildung einer neuen Generation von Wissenschaftlern ließen ihr keine andere Wahl. Bereits im Mai 1946 wurde aus Greifswald und Jena berichtet, daß „ehemalige Mitglieder der Nazipartei unterrichten"40. Protokolle akademischer Senatssitzungen aus den späten 40er Jahren deuten größere Nachsicht gegenüber Medizinprofessoren als gegenüber Professoren in den Geistes- und Sozialwissenschaften an. Die Zahlen ehemaliger Nazis unter den Hochschullehrern der DDR in der Mitte der 50er Jahre bestätigen diese Schlußfolgerung. Von den Ordinarien der Medizin, die 1954 in der DDR lehrten, waren 45,8 % Mitglied der NSDAP gewesen. Es folgten die Technikwissenschaften mit 41,94 % und die Agrar- und Forstwissenschaften sowie die Veterinärmedizin mit 41,18 %. In den ideologisch besonders relevanten Disziplinen Wirtschaftswissenschaft, Jura, Marxismus-Leninismus, Philosophie und Pädagogik waren entsprechend 16,67 %, 11,01 % und 11,76 % ehemalige NSDAPMitglieder beschäftigt.41 Diese Zahlen sagen uns jedoch wenig über den Grad, in dem die personelle oder zumindest kulturelle Kontinuität an den ostdeutschen Universitäten erhalten blieb. So wissen wir nicht, wie viele der ehemaligen Nazis früher schon an der Universität tätig gewesen waren. Wegen ihrer kompromittierenden Vergangenheit waren diese ehemaligen Nazis häufig die willfahrigsten und „gefugigsten Knechte" der SED.42 Ungeachtet gewisser Kontinuitäten beim Personal durchbrach die rigorose Entnazifizierung der ostdeutschen Universitäten ihre Kontinuität als Institutionen kultureller Reproduktion. Die sowjetische Weigerung, die Bemühungen der ostdeutschen Universitäten im Jahre 1945 um Selbstreinigung von ehemaligen Nazis anzuerkennen, bedeutete das effektive Ende der Autonomie dieser Universitäten. Sie verloren die Entscheidimgskompetenz über Anstellungen und damit über die Bestimmung der akademischen Standards. Die Sowjetische Militäradministration mußte nicht nur die Berufung jedes Professors, sondern auch die Zulassung eines jeden Studenten in ihrer Zone bestätigen. In der Tschechoslowakei und in Polen brachten diese ersten Kriegsjahre hingegen eine überwiegend aus eigener Kraft erfolgende Wiedergeburt der universitären Gemeinschaften. Im November 1939 waren die tschechischen Universitäten und Hochschulen nach massi39

Vgl. M. G. Ash: Verordnete Umbrüche - Konstruierte Kontinuitäten. Zur Entnazifiezierung von Wissenschaftlern nach 1945, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 43, 1995, H. 10, S. 903-923; Siehe auch die biographischen Beiträge im vorliegenden Band. 40 Brief der Präsidialkanzlei der DVV an Prof. Brugsch, Berlin 21.5.1946, BAP, R2/1045/64. Diese Information stammte von der „letzten Konferenz der Leiter der Volksbildungsämter der Provinzen und Länder." P. Wandel wies den Leiter der Abteilung Wissenschaft der D W , Prof. Brugsch, an, „in Karlshorst zu erwirken, daß den Militäradministrationen in den Ländern und Provinzen bekannt gegeben wird, daß Berufungen solcher Mitglieder der ehemaligen NSDAP nur von der SMA in Karlshorst über die DVV getätigt werden." 41 Die Anteile der NSDAP-Mitglieder standen in umgekehrtem Verhältnis zu den Anteilen der SED-Mitglieder: 14,46 % der Medizinprofessoren gehörten der SED an, und 73,81 % der Professoren für Ökonomie, Jura und Marxismus-Leninismus waren SED-Mitglieder, Siehe R. Jessen: Professoren im Sozialismus, S. 241; Derselbe: Die „Entbürgerlichung" der Hochschullehrer in der DDR - Elitewechsel mit Hindernissen, in: Hochschule Ost, 4, 1995, H. 3, S. 61-72. 42 R. Havemann: Fragen - Antworten - Fragen. Aus der Biographie eines deutschen Marxisten, München 1970, S. 85. In den frühen 60er Jahren waren, so Havemann, der Rektor der Humboldt-Universität, der Staatssekretär für das Hochschulwesen und der Präsident der Akademie der Wissenschaften, die seine Entlassung von der Universität und Akademie durchzusetzen hatten, sämtlichst ehemalige NSDAPMitglieder.

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ven Studentendemonstrationen gegen die nationalsozialistische Okkupation per Dekret geschlossen worden. In den ersten Maitagen 1945 gab es einen Volksaufstand für die Wiederherstellung tschechischer Macht, den die Tschechen eine „nationale Revolution" nannten. Aufständische Studenten übernahmen die Kontrolle über die Universitäten, Anfang Juni begannen die Lehrveranstaltungen wieder. In Polen hingegen waren es die Professoren, die ihre Universitäten wiedereröffneten, nachdem die Rote Armee die polnischen Universitätsstädte befreit hatte. Mit ihrer führenden Rolle im illegalen Widerstand während Krieg und Okkupation hatten sich die polnischen Professoren ein großes moralisches Kapital erworben. Die erste wiedereröffnete Universität war im August 1944 die Katholische Universität in Lublin; ihr folgte Anfang 1945 die Jagiellonische Universität in Kraköw. Obwohl die Kommunistische Partei von Anfang an eine entscheidende Rolle in der zentralen Bildungsverwaltung spielte, konnte sie auf die Neugestaltung der Hochschulbildung keinen starken Einfluß nehmen, da sie an der „Hochschulfront" nur über sehr wenige Kader verfügte. Weder in der Tschechoslowakei noch in Polen fanden in den unmittelbaren Nachkriegsjahren einschneidende Säuberungen der Professorenschaft statt. In beiden Ländern arbeiteten die Universitäten im wesentlichen nach den Vorkriegsregularien, die eine weitgehende akademische Autonomie garantierten. Kommunistische Akademiker waren in beiden Ländern nicht häufig und konnten auch nicht auf die vakanten Stellen an den Universitäten gebracht werden. Die Periode von 1945 bis 1948 war eine Zeit konzertierter Anstrengungen zur Wiederbelebung der akademischen Strukturen, die sechs lange Jahre außer Funktion gewesen waren; außerdem wurde in diesen Jahren begonnen, die durch den Krieg verlorenen Fachleute zu ersetzen. Das war praktisch eine apolitische Aufgabe. Die kompromißbereite Politik gegenüber der alten Professorenschaft dauerte in Polen über die stalinistische Periode hinweg an. Schlimmstenfalls wurden polnische Professoren an andere Universitäten versetzt, beispielsweise von Kraköw nach Wroctaw oder von der Lehre entbunden. Sie konnten aber weiter Studenten prüfen, und mitunter hielten sie Seminare in ihren Wohnungen ab. Aus den Okkupationsjahren hatten sie ebenso wie ihre Studenten Erfahrungen in konspirativer Bildungsarbeit. Sehr wenige polnische Professoren schlössen sich der Partei an; 1954 waren nur 7,5 % der polnischen Professoren Mitglied der Kommunistischen Partei.43 Die wenigen Parteimitglieder neigten dazu, der Loyalität gegenüber der universitären Gemeinschaft den Vorrang zu geben, weil sie dieser längere Zeit angehörten. Von den drei hier betrachteten Ländern erfuhr 1956 allein Polen eine Entstalinisierung, und danach kehrten „reaktionäre" Professoren in ihre traditionellen Milieus und in die Lehre zurück. Die alte Professorenschaft wahrte ihren Einfluß auf die universitäre Kultur. Die Professoren konnten ihre Werte und Überzeugungen an die Studentenschaft weitergeben, selbst wenn sie nach Studienplänen lasen, die auf dem sowjetischen Modell basierten. Die Erfahrungen der tschechischen Professoren mit dem Stalinismus unterschieden sich grundsätzlich von denen ihrer polnischen Kollegen. In den Wochen nach der kommunistischen Machtergreifung im Februar 1948 wurden Dutzende von ordentlichen Professoren aus ihren Ämtern entlassen, besonders in den philosophischen und juristischen Fakultäten. Die Ausschüsse, die diese Säuberungen durchführten, wurden von Studenten geleitet. Einige Zeit war für das neue Regime an den Hochschulen der Terminus „Studentokratie" in Gebrauch. Er signalisierte die beispiellose Mißachtung der Hochschulkultur durch die 43 P. Hübner. Nauka polska po II wojnie Swiatowej - idee i instytucje, Warszawa 1987, S. 174.

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KPC. Verhältnismäßig wenige Professoren blieben, und in juristischen Fakultäten wurde die Lehre wurde von Assistenten oder kommunistischen Spezialisten aus den Ministerien übernommen. 1968 waren manche der entlassenen Professoren noch jung genug, um die Lehrtätigkeit wieder aufzunehmen. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings fielen sie jedoch, zusammen mit vielen ihrer einstigen Säuberer, der „Normalisierung" zum Opfer.

Schluß: die stalinistische Periode als eine Zeit der Vielfalt Zum Zeitpunkt der Geheimrede Nikita Chruschtschows im Februar 1956 hatten die ostdeutschen und die polnischen Kommunisten in der studentischen Zulassungspolitik bereits tiefgreifende Veränderungen bewirkt; für die Tschechoslowakei traf dies nicht im selben Maße zu. Sowohl in Ostdeutschland als auch in Polen ereichte der Anteil von Arbeiterund Bauernstudenten Mitte der 50er Jahren fast 60 Prozent, in der Tschechoslowakei lag er hingegen bei knapp 40 Prozent, - bevor die tschechische Partei das Ziel einer sozialen Umgestaltung der Studentenschaften überhaupt aufgab. Danach sanken die Anteile, denn die Mittelklassen begannen, ihre Dominanz in der Hochschulbildung wieder geltend zu machen. Anders als die polnische Partei hatte die SED jedoch Vorsorge getroffen, sich die politische Loyalität der neuen Elite zu sichern. So waren an den ostdeutschen Hochschulen - wie auch in der Tschechoslowakei - die Vertreter „bürgerlicher" Ideologien, insbesondere in den Geistes-, Sozial- und Rechtswissenschaften, aus dem Lehrkörper der Universitäten entfernt worden, wogegen die polnische Partei solche Maßnahmen immer wieder aufgeschoben hatte. Nach dem Ende der stalinistischen Periode verfügte die Partei jedoch nicht mehr über die Mittel, eine umfassende Säuberung der Professorenschaft durchzusetzen. Die alte Professorenschaft blieb damit weitgehend im Amt und konnte ihre Normen, einschließlich „apolitischer" akademischer Standards, an die Arbeiter- und Bauern-Studenten weitergeben. Die ostdeutschen Kommunisten nutzten die neuen stalinistisch-sowjetischen Strukturen am stärksten. Die Wandlungen, die sich in der ostdeutschen Hochschulbildung vollzogen, waren im Vergleich zu den anderen Ländern Ost-Mitteleuropas am einschneidendsten. Nachdem sie die soziale Zusammensetzung der Studentenschaft radikal verändert hatte, bemühte sich die Partei darum, die Arbeiter- und Bauernstudenten eng an sie zu binden. Bereits 1947 war der Anteil an Parteimitgliedern und an Arbeiter- und Bauern-Kindern unter den Studenten in Ostdeutschland sehr viel höher als in den anderen ost-mitteleuropäischen Ländern. Der hohe politische Organisationsgrad der Studenten wie auch ihr „Klassenbewußtsein" wurden zum Schlüssel des Erfolgs der SED bei der Heranbildung ihrer Elite. Der Parteiapparat wählte sorgfältig große Kontingente von Arbeiter- und Bauernstudenten aus, die in der Regel wenig formale Bildung besaßen und nur geringe ideologische oder kulturelle Bindungen aufwiesen, und band diese dann durch eine Kombination von materiellen Belohnungen - wie großzügige Stipendien oder rapidem Karriereaufstieg - und die Einbeziehung in verschiedene Organisationen eng an die Ziele der Partei. Die ostdeutschen Arbeiter- und Bauern-Fakultäten gaben den jungen Leuten eine

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umfassendere technische und ideologische Ausbildung, als dies anderswo geschah. Die neue Elite wurde so zu der loyalsten und konformsten im östlichen Mitteleuropa. Der Prozeß der Transformation der akademischen Elite reicht weit in die sechziger Jahre hinein. Wie wir gesehen haben, erhielt die SED mit der Entnazifizierung ein Werkzeug, mit dem sie frühzeitig an den Aufbau einer neuen Professorenschaft herangehen konnte. Interne Anweisungen der D W aus dem Jahre 1947 zeigen, daß für die Doktorandenausbildung eine „politisch positive Einstellung" im „Sinne" der SED zum wichtigsten Kriterium wurde.44 Allerdings war die Kaderpolitik der SED in den Gesellschaftswissenschaften weitaus erfolgreicher als in den technischen und Naturwissenschaften. Dank der ABFs besaß die SED in den späten 50er Jahren aber auch in diesen Bereichen genügend gut ausgebildete Arbeiter- und Bauernkader für Assistentenstellen an den Universitäten und Hochschulen. Da diese dann nach und nach in die Positionen ihrer emeritierten Lehrer und Professoren einrückten, änderte sich im Laufe der Zeit die soziale und politische Zusammensetzung der ostdeutschen Professorenschaft radikal. In den 60er Jahre erhöhte sich die Zahl der aus der Arbeiterklasse stammenden Professoren von 20 auf 40 Prozent und die Zahl der SED-Mitglieder von 35 auf 60 Prozent.45 Wiederum lag der Schlüssel zum Erfolg in einer Kombination von hohem Organisationsgrad und bescheidener sozialer Herkunft. Diese Veränderungen erfolgten natürlich nicht in einem institutionellen Vakuum. Während der späten 60er Jahre vollzogen sich in der ostdeutschen Bildungslandschaft wichtige und für das östliche Mitteleuropa einzigartige Veränderungen.46 1966 wurde das Staatssekretariat in ein Ministerium für Hoch-und Fachschulwesen umgewandelt. Zwei Jahre später kam es zu einer durchgehenden Umstrukturierung der Universitäten, die in Ostdeutschland als die „Dritte Hochschulreform" bekannt ist und die die letzten Reste akademischer Autonomie und Selbstverwaltung beseitigte; verbunden mit einer konsequenten Durchsetzung der Nomenklatur- und Kaderpolitik der SED. Die signifikanteste Veränderung war die Einführung einer neuen Organisationseinheit an den Universitäten, der sogenannten „Sektion". Die Sektionen ersetzten die großen und schwerfälligen Fakultäten und deren oft unhandliche Institute und war nach Fachgebieten strukturiert: so gab es beispielsweise Sektionen für Chemie, Physik, Mathematik, Geschichte und Marxismus-Leninismus. Sie sollten an die Tradition der Humboldtschen Universität mit ihrer „Einheit von Forschung und Lehre" anknüpfen und waren darüber hinaus angehalten, möglichst enge Beziehungen zu Industriebetrieben zu entwickeln. Bis zu dieser Dritten Hochschulreform behielten die ostdeutschen Universitäten ihre traditionellen Fakultäten mit Dekanen, Senaten und einer gewissen nominellen Selbstverwaltung bei. Die neuen Sektionen ermöglichten eine sehr viel direktere Parteikontrolle des universitären Geschehens. Der erste Parteisekretär der Universität war die unbestrittene Machtinstanz. Viele bezeichnen deshalb diese Umstrukturierung als das signifikanteste Ereignis in der Nachkriegsgeschichte des deutschen Hochschulwesens. Bis zu diesem Zeitpunkt wäre es relativ leicht gewesen, zum alten System zurückzukehren. Die vorangegangene vergleichende Analyse macht jedoch deutlich, daß der Erfolg dieser Strukturreform auf die soziale und politische Transformation der Studentenschaft und des Lehrkörpers 44 45

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BAP,R 2/1447/196-197. R. Jessen-, Zur Sozialgeschichte der ostdeutschen Gelehrtenschaft (1945-1970), in: M. Sabrow, P. Th. Walther (Hg.): Historische Forschung und sozialistische Diktatur. Beiträge zur Geschichtswissenschaft der DDR, Leipzig 1995, S. 121-143. Vgl. den Beitrag von H. Laitko im vorliegenden Band.

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gegründet war. Ohne eine willfahrige und konforme universitäre Gemeinschaft hätte die SED in den späten 60er Jahren nicht so radikale Reformen in Angriff nehmen und realisieren können. Obwohl man gemeinhin die Dritte Hochschulreform mit Beifall und Neid bedachte, unternahm keine andere osteuropäische Führung mehr den Versuch derart radikaler Umstrukturierungen.47 Für eine Gegenwehr fehlte in der DDR das Potential - durch Entnazifizierung, Demokratisierung und vor allem durch die offene Grenze hatten die ostdeutschen Hochschulen ihre kritischen oder gar widerständigen Geister weitgehend verloren. 1968 übte die SED schon lange und de-facto unumschränkt die Kontrolle über die Hochschulbildung aus - die Dritte Hochschulreform paßte die Strukturen lediglich dieser Realität an. Aus dem Amerikanischen

AI

übersetzt von Hubert Laitko.

G. J. Giles: The Structure of Higher Education in the German Democratic Republic, in: Yale Higher Education Program Working Paper, 12, 1976, S. 12. Hier sei bemerkt, daß andere osteuropäische Hochschulsysteme in den 50er Jahren partielle Strukturreformen erfahren haben; beispielsweise wurden, wie im vorliegenden Beitrag erwähnt, in der Tschechoslowakei und in Polen mehrere große Fakultäten aufgeteilt. In dieser Hinsicht schloß die SED mit ihrer Reform von 1968 zu den anderen auf.

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Der Schatten des Nationalsozialismus: Nachwirkungen auf die DDR-Wissenschaft

Einleitung und Zielstellung Die Teilung Deutschlands im Jahre 1945 und die beiden gegensätzlichen Gesellschaftsund Wissenschaftssysteme auf deutschem Boden waren das Ergebnis der Zerschlagung Hitlerdeutschlands. Somit waren die Gesellschafts- und Wissenschaftssysteme in beiden ab 1949 selbständigen deutschen Teilstaaten historische Produkte des Nationalsozialismus (NS), und der Schatten dieser Diktatur wurde auf beide geworfen. Allerdings bezogen sich die Politiker der Westzonen (ab 1949 der Bundesrepublik) maßgeblich auf die Geschichte der Weimarer Republik1 und hatten damit einige positive Traditionslinien der deutschen Geschichte, an die sie ihr Selbstverständnis knüpfen konnten. Die politische Führung der DDR dagegen stellte sich das radikalere Ziel, ein völlig neues gesellschaftliches System auf deutschem Boden zu errichten und beurteilte die bisherige politische Geschichte Deutschlands fast durchweg negativ.2 Zeitgeschichte Deutschlands kann somit seit 1949 nicht ohne die Betrachtung dieser „drei Zeitgeschichten"3, also der des Nationalsozialismus (mit seiner Vorgeschichte), der BRD und der DDR, in ihren historischen Nach- und Wechselwirkungen geschrieben werden. Im vorliegenden Artikel geht es in erster Linie um eine Seite in diesem historischen und historiographischen Dreieck: die Nachwirkung des Nationalsozialismus auf die DDR,4 und zwar hinsichtlich der ostdeutschen Wissenschaftsentwicklung bis etwa 1961. Schwerpunkte sind die ideologische Funktion des offiziell proklamierten „Antifaschismus" einerseits und 1 Dies geschah wegen deren selbstverschuldetem Untergang 1933 keineswegs nur undifferenziert positiv, Vgl. H. Mommsen. Der lange Schatten der untergehenden Republik. Zur Kontinuität politischer Denkhaltungen von der späten Weimarer zur frühen Bundesrepublik, in: K. D. Bracher, M. Funke, H.-A. Jacobsen (Hg.): Die Weimarer Republik 1918-1933, Bonn 1988, S. 552-586. 2 Von ihr wurde behauptet, daß sie von der Bundesrepublik in ihren dunklen Seiten fortgesetzt würde. 3 H.-G. Hockerls: Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff Methoden, Themenfelder, in: Das Parlament. Beilage Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29-30/93, lö.Juli 1993, 3-19, S. 7. 4 Allgemeinhistorisch, nicht speziell auf die Wissenschaft bezogen, wird dieses Thema skizzenhaft diskutiert, in: J. Danyel, O. Groehler, M. Kessler. Antifaschismus und Verdrängung. Zum Umgang mit der NS-Vergangenheit in der DDR, in: J. Kocka, M. Sabrow (Hg.): Die DDR als Geschichte, Berlin 1994, S. 148-152.

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die aus der Zeit des NS in Deutschland stammenden psychologischen und sozialen Voraussetzungen bei den älteren Wissenschaftlern für eine Auseinandersetzung mit bzw. partielle Akzeptanz der neuen Herrschaftsideologie des Marxismus-Leninismus. Am Ende des Artikels wird die Frage andiskutiert, was aus der Erörterung historischer Nachwirkungen für einen „Vergleich" von nationalsozialistischen und sozialistischen Wissenschaftssystemen gefolgert werden kann, wie er neuerdings aus aktuellen politischen Gründen verschiedentlich gefordert wird. In allen Diskussionen konzentriere ich mich auf das Beispiel deqenigen Wissenschaft, die ich am besten kenne und über die ich bisher nach der politischen Wende von 1989 am meisten in Archiven gearbeitet habe: die Mathematik. Da es dabei weniger um disziplinspezifische Entwicklungen5 oder um eine systematische Darstellung der frühen politischen Geschichte der DDR-Mathematik6 als um politische Gleichschaltungs- und Anpassungsstrategien gehen soll, ist die Gültigkeit einiger Ergebnisse dieser Studie für andere Wissenschaften zu erwarten.7 Freilich wird es sich im Verlauf des Artikels zeigen, daß zumindest eine zweite Seite jenes historischen „Dreiecks", das Verhältnis zwischen DDR und BRD, nicht aus der Betrachtung ausgeblendet werden kann.8 So ist der in der DDR offiziell verkündete „Antifaschismus" wohl in seiner historisch wesentlichsten und folgenreichsten Beziehung eine Abgrenzungsideologie gegenüber der Bundesrepublik gewesen.9

Die gemeinsame Ausgangssituation in Ost und West Es ist erforderlich, einleitend kurz auf die Ausgangssituation in ost- und westdeutscher Wissenschaft nach der Zerschlagung des Hitlerregimes einzugehen. Natürlich mußte in östlichen wie westlichen Besatzungszonen nach 1945 zunächst an das angeknüpft werden, was an Menschen, Ressourcen und Strukturen auf den jeweiligen 5 Eine detaillierte Darstellung der fachspezifischen Anpassungsprobleme der Mathematik, etwa auf den Gebieten der Logik, Rechentechnik und Kybernetik kann hier nicht erfolgen. Ein Beispiel disziplinspezifischer Nachwirkungsgeschichte des NS liefert für die Chemie R. G. Stokes im vorliegenden Band. 6 Vgl. dazu Ansätze, in: R. Siegmund-Schultze: Dealing with the political past of East German mathematics, in: The Mathematical Intelligencer 15, 1993, H. 4, S. 27-36; Derselbe: Zu den ost - westdeutschen mathematischen Beziehungen bis zur Gründung der Mathematischen Gesellschaft der DDR, in: Hochschule Ost, 5, 1996, H. 3, S. 55 - 63. 7 In der Physik beispielsweise scheint der politische Anpassungsdruck, wohl wegen der größeren Anwendungsnähe des Faches, bereits stärker ausgeprägt gewesen zu sein als in der Mathematik, Vgl. D. Hoffmann: Die Physikalische Gesellschaft (in) der DDR, in: Th. Mayer-Kuckuk (Hg.): 150 Jahre Deutsche Physikalische Gesellschaft, Weinheim 1995, S. 157-182. 8 Das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zu ihren jeweiligen Siegermächten, das besonders auf ostdeutscher Seite auch wissenschaftshistorisch sehr relevant ist, kann, wie mir scheint, angesichts des speziellen Anliegens dieses Artikels weitgehend ausgeklammert werden. 9 Diese Abgrenzungsideologie war angesichts mancher unkritischen Haltungen in der BRD zur NS-Vergangenheit nicht nur demagogisch, trieb allerdings auch absurde Blüten wie die Benennung der Berliner Mauer von 1961 als „ antifaschistischen Schutzwall". Daß auch die Wissenschaftsgeschichte der BRD nicht ohne Erörterung ihrer Abgrenzung von der ostdeutschen Wissenschaft geschrieben werden kann, unterstreicht Ch. Kleßmarm: Verflechtung und Abgrenzung. Aspekte der geteilten und zusammengehörigen deutschen Nachkriegsgeschichte, in: Das Parlament. Beilage Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29-30/93, lö.Juli 1993, S. 30-41.

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Territorien noch vorhanden war. Auf die enormen Emigrationsverluste besonders in Grundlagenwissenschaften wie der Mathematik, auf das Fehlen fast einer ganzen Generation junger fähiger Wissenschaftler in diesen Gebieten braucht hier nicht ausdrücklich verwiesen zu werden, da diese Verluste bekannt sind und beide Teile Deutschlands betrafen. Insofern waren die „Nachwirkungen" des Nationalsozialismus in Ost und West zunächst ähnlich, wobei freilich die bereits in den letzten Kriegsmonaten beginnende Wanderungsbewegung von deutschen Wissenschaftlern in den Westen des Landes (die durch die weit verbreiteten antikommunistischen und antisowjetischen Grundüberzeugungen gefordert wurde) auch für erhebliche Unterschiede vor allem in der materiellen Ausgangsposition sorgte. Gewisse in der NS-Zeit erfolgte Veränderungen in Organisation, Struktur und Berufsbild der Wissenschaften, wie etwa das 1942 eingeführte Diplom für Physiker und Mathematiker, blieben erhalten, soweit jene Veränderungen nicht zu stark politisch im Sinne des NS-Regimes belastet waren. Schwieriger war die Lage bei sowohl politisch als auch wissenschaftlich bedingten Maßnahmen des NS-Systems, wie der 1934 erfolgten Trennung von Habilitation und Dozentur. Diese Trennung war einerseits politisches Unterwerfungsinstrument, andererseits war aber die 1939 erfolgende Sicherung der wirtschaftlichen Existenz für einen (politisch genehmen) Teil der Habilitierten auch eine wissenschaftliche Notwendigkeit.10 Nach 1945 wurden die sogenannten „Diätendozenten" im Westen zunächst beibehalten, während im zentral gesteuerten Hochschulsystem der DDR politische Kriterien bei der Auswahl der für eine Hochschullehrerlaufbahn geplanten Kader erneut eine große Rolle spielten.11 Nicht nur im Westen, auch im Osten wurde in deutlicher Abgrenzung zur NS-Diktatur (die den Begriff „Demokratie" negativ besetzt hatte) eine „demokratische" Entwicklung der Hochschule propagiert, wobei in der DDR „Demokratie" mit den Jahren zunehmend im Sinne des von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) geforderten „demokratischen Zentralismus" verstanden wurde. Eindeutig von der NS-Ideologie geprägte Strukturen im Hochschulsystem Hitlerdeutschlands, wie die Funktion des Rektors als „Führer" der Universität oder die starke Stellung der „Dozentenschaft" waren zumindest in den ersten Jahren der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der DDR diskreditiert. Ähnlich straffe Leitungsmethoden konnten - unter entgegengesetzten politischen Vorzeichen - erst in den 1960er Jahren mit der sogenannten 3. Hochschulreform wieder eingeführt werden.12 10 11

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Vgl. R. Siegmund-Schultze: Probleme der Wissenschaftspolitik und Wissenschaftsorganisation im NSStaat, in: C. Grau, P. Schneck (Hg.): Akademische Karrieren im 'Dritten Reich', Berlin 1993, S. 89-102. In einer Diskussion über eine neue ostdeutsche Habilitationsordnung klingt dies in einer Fakultätssitzung der Humboldt-Universität vom 25. August 1954 an, in der sich auch die Ostberliner Mathematiker Karl Schröter und Heinrich Grell äußerten: „Herr Schröter pflichtet Herrn Grell bei, daß man Habilanträge in Fällen vermuteter Abwanderung nicht unterstützen sollte. Herr Grell weist auf die Neigung des Staatssekretariats hin, bei Zulassungen Bewerber zu bevorzugen, die ihrer sozialen Herkunft nach Zuverlässigkeit verbürgen." Archiv Humboldt-Universität zu Berlin (im folgenden: HUA), Math. Nat. Fak., Dekanat 1, Bl. 136. Schon 1952 deutete sich diese Rücknahme demokratischer Selbstverwaltung beispielsweise in Rostock an. Als Dekan der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Rostock schickte der Mathematiker RudolfF Kochendörffer 1951 eine Denkschrift an das neu gegründete Staatssekretariat für Hochschulwesen. In dieser Stellungnahme, die er in Abschriften an SED-Chef Ulbricht und an alle Dekane mathematisch-naturwissenschaftlicher Fakultäten versandte, verwies Kochendörffer auf die Gefahr,

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Weder in Ost noch in West gab es allerdings 1945 unter den Hochschullehrern stark verbreitete demokratische Traditionen im Sinne des westlichen Parlamentarismus oder der Weimarer Republik,13 also Traditionen, die über die inneruniversitären Prinzipien der Selbstverwaltung hinausgegangen wären. Der Zwang zur rein formalen politischen Reinwaschung, die massenhafte Anfertigung von leicht als pure Gefälligkeitsgutachten erkennbaren „Persilscheinen" 14 förderten sicherlich nicht eine kritische Auseinandersetzung der Wissenschaftler mit ihrer Rolle im NS-Staat, zumal formale Kriterien, wie Mitgliedschaft in der NSDAP, zunächst eine dominierende Rolle in der sogenannten „Entnazifizierung" spielten. Hier wurde einer Perpetuierung des traditionellen obrigkeitsstaatlichen Denkens unter den Wissenschaftlern der Weg gebahnt.15 In Ost und West mußte der Wiederaufbau des Hochschulwesens „von oben", zunächst durch Eingriffe der Besatzungsbehörden, später der jeweiligen politischen Autoritäten erfolgen, wobei im Zeitalter von „re-education" angesichts der früheren massenhaften Manipulation der deutschen Bevölkerung unter dem Nationalsozialismus der Begriff der „sozialistischen Erziehung" zunächst nicht illegitim geklungen haben mag.

Der „Antifaschismus" als Teil politischer Herrschaftslegitimation in Ostdeutschland In der DDR war spätestens seit dem Beschluß zum Aufbau der „Grundlagen des Sozialismus" von 1952 die SED die entscheidende politische Kraft, die u.a. über ihre „Abteilung Wissenschaft" und das politisch nachgeordnete „Staatssekretariat für Hochschulwesen" die Wissenschaftsentwicklung maßgeblich steuerte.16 Ein großer Teil der SED-Politik und somit auch ihrer Wissenschaftspolitik mußte gerade in den fünfziger Jahren vor dem Hintergrund des Selbstverständnisses der DDR als „legitimer antifaschistischer Staat" gesehen werden. Es war ein nicht zu unterschätzender psychologischer Fakt, daß zahlreiche SEDPolitiker wegen ihrer antifaschistischen Vergangenheit, aus der Erfahrung heraus, in der

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die Neuerungen wie das geplante 10-Monate-Studium und die Einbeziehung der Gesellschaftswissenschafts- und Russischprüfungen in die Fachprüfongen für das Niveau der fachlichen Ausbildung mit sich bringen würden. Er protestierte dann: „Die Wahl des Rektors durch den Senat, statt, wie bisher, durch das Konzil sämtlicher Professoren der Universität, ist eine durch nichts gerechtfertigte Beschränkung der demokratischen Rechte des Lehrkörpers." HUA, Math. Nat. Fak., Dekanat 13, Bl.. 233. W. J. Mommsen: Die DDR in der deutschen Geschichte, Das Parlament. Beilage Aus Politik und Gesellschaft, B 29-30/93, 16. Juli 1993, 20-29, S. 23f. Besonders grotesk ist hier zum Beispiel das Urteil des Mathematikers H. L. Schmid über seinen Kollegen Heinrich Grell vom 22.7.1948: „Er ist deijenige deutsche Mathematiker, der durch das vergangene Regime wohl die stärksten Verfolgungen und Benachteiligungen erlitten hat." Und das angesichts der Leiden der Emigranten und der Tatsache, daß Grell 1933 der NSDAP beitrat, bevor er in einen halb privaten Konflikt mit dieser geriet. HUA Personalakte H. Grell (Ministerialakte), Bl. 17. Dabei ist es für diesen Autor eine offene Frage, ob die demokratische Entwicklung in der Bundesrepublik die Zivilcourage ihrer Wissenschaftler wirklich entscheidend und über Einzelbeispiele wie die der Autoren des Göttinger Manifests der Atomphysiker von 1957 hinaus gefordert hat. Es muß die Frage erlaubt sein, ob und wie die in der Demokratie vorhandenen größeren Freiräume von den Wissenschaftlern genutzt wurden. Vgl. den Beitrag von E. Förtsch im vorliegenden Band.

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Nazizeit im Gegensatz zur großen Mehrheit des deutschen Volkes „auf der richtigen Seite" gestanden zu haben, für sich den Anspruch herleiteten, nunmehr gegebenenfalls gegen den Willen der Mehrheit mit undemokratischen Mitteln (die sie selbst freilich als die eigentlich demokratischen ansahen) zu herrschen. Es wäre nun zu untersuchen, was dieser offiziell proklamierte „Antifaschismus" in Hinblick auf die Entwicklung der Wissenschaft in Ostdeutschland leistete und was er versäumte, wo er sich wirklich auf die Geschichte Hitlerdeutschlands bezog und wo er andererseits im Formelhaften verharrte und lediglich zum Vehikel der herrschenden Ideologie des Marxismus-Leninismus wurde. Zur Herrschaftslegitimation des DDR-Systems trugen zweifellos die beiden folgenden Funktionen des „Antifaschismus" bei, die besonders schwerwiegend in ihren Auswirkungen auf den Wissenschaftsbetrieb waren: - die Erziehungsfunktion gegenüber Studenten und Wissenschaftlern; - die Abgrenzungsfunktion gegenüber dem Kapitalismus, besonders gegenüber der Bundesrepublik. Im folgenden soll jedoch nicht nur dieses ideologische Herrschaftsinstrument „Antifaschismus" betrachtet werden, sondern auch die Gesamtheit der Reflexionen und Erinnerungen, mit denen die Wissenschaftler auf die Zeit der NS-Diktatur Bezug nahmen. Beides, die Herrschaftsfunktion des „Antifaschismus" und die Reflexionen der Wissenschaftler, soll an einigen Beispielen aus der Geschichte der Mathematik in Ostdeutschland - vornehmlich unter politisch-biographischen Gesichtspunkten - illustriert werden.

Der Pragmatismus des „Antifaschismus" Wegen der erwähnten deutlichen Abgrenzung der Führung der DDR von der politischen Vorgeschichte Deutschlands war es zunächst nicht verwunderlich, daß wissenschaftlich und ideologisch verbrämter Voluntarismus und Pragmatismus die Wissenschaftspolitik im Osten Deutschlands von Anfang an maßgeblich prägten. Man verzichtete eben im Osten bewußt auf das Erfahrungspotential, das die Bundesrepublik bei ihrer teilweisen Restauration der Vor-NS-Verhältnisse nutzte.17 Das begrenzte Geschichtsverständnis mancher SED-Funktionäre, das die Schuld am Aufkommen des Faschismus ausschließlich dem Monopolkapital zuwies und den Antisemitismus des Naziregimes vielfach lediglich als peripheres, abgeleitetes Phänomen betrachtete, ermöglichte in Fällen, in denen Wissenschaftler dennoch über das übliche Maß hinaus in das NS-System verstrickt waren, ein sehr pragmatisches Handeln. Die Emigration der meisten der durch die Nazizeit besonders kompromittierten Wissenschaftler in die Westzonen befreite die SED-Politik von der Notwendigkeit einer allzu intensiven Auseinandersetzung mit der Rolle der Wissenschaft im NS-Staat.18 17 Laut H. Mommsen gab es in der Bundesrepublik zeitweise eine Idealisierung des Föderalismus, wie er ja in der Weimarer Republik auch auf kulturell-wissenschaftlichem Gebiet bestanden hatte, Vgl. H. Mommsen: a. a. O., S. 575. 18 Tatsächlich ist diese Diskussion auch in der Historiographie der DDR in späteren Jahren nie sehr intensiv gewesen. Einerseits konnten einige Faschismusforscher mit den Wissenschaftlern wenig anfangen, die selten zu den klar oppositionellen oder herrschenden Schichten des NS-Staates gehört hatten. Ande-

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Ein eindrucksvolles Beispiel für das bedenkenlose Werben ostdeutscher kommunistischer Funktionäre um einen überdurchschnittlich kompetenten Wissenschaftler, der durch sein Verhalten im Nationalsozialismus diskreditiert war19, ist die Berufiing des Zahlentheoretikers Helmut Hasse nach Ostberlin im Jahre 1949. Dieses Beispiel soll deshalb hier etwas ausführlicher aus den Quellen dargestellt werden. Hasse hatte von den britischen Behörden in Göttingen Lehrverbot erhalten und bot seine Dienste in Marburg an, das in der amerikanischen Zone lag. In einem Brief vom 20. 2. 1948 an den dortigen Mathematiker M. Krafft schrieb Hasse, daß er eine Berufung nach Marburg vorziehen würde, obwohl mittlerweile Berufungsverhandlungen in Berlin gut liefen.20 Der Physiker und Wissenschaftsfunktionär Robert Rompe von der „Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung" in der Sowjetischen Besatzungszone schrieb an die Sowjetische Militäradministration (SMAD), Abteilung Volksbildung, in Berlin-Karlshorst betreffend eine Berufung von H. Hasse (Entwurf vom 10.4.47): „Über seine politische Einstellung ist uns bekannt, daß er (im Jahre 1933 zeitweilig antisemitische Ansichten äußerte, sie aber später wieder zurücknahm und) einen schweren Streit mit Professor Dr. Bieberbach, dem Vertreter der ,Deutschen Mathematik' in der Angelegenheit eines jüdischen Kollegen hatte. Professor Hasse ist im I. Weltkrieg Seeoffizier gewesen und unter Beibehaltung seines Ranges im II. Weltkrieg im Verwaltungsdienst tätig gewesen. (Eine gewisse militaristische Einstellung kann man ihm nicht absprechen. Aus diesem Grunde befiirworten wir die Wiederzulassung von Professor Hasse unter der Nebenbedingung, daß seine Lehrtätigkeit sich bis zu seiner endgültigen Bewährung in politischer Hinsicht auf die spezielle Ausbildung der höchsten Semester beschränkt.)"21 Die oben eingeklammerten Passagen sind im Entwurf durchgestrichen und sind im abgeschickten Schreiben vom 2. 5. 47 nicht enthalten. Statt dessen findet sich dort der Satz: „Angesichts der hervorragenden Qualitäten von Professor Hasse auf seinem Fachgebiet befürworten wir seine Wiederzulassung zu Lehre und Forschung, da wir glauben, daß Professor Hasse niemals eine wirklich pronazistische Haltung eingenommen hat und jedenfalls heute bereit ist, sich bei der Ausbildung von wissenschaftlichem Nachwuchs einzusetzen."22 Als die SMAD trotz der Korrektur des Entwurfs nicht positiv reagierte, hakte J. Naas in einem Brief vom 22.1.48 an P. Wandel, den Präsidenten der Zentralverwaltung nach: „ Außerdem ist anzunehmen, daß die demokratische Erziehung der Studenten durch Herrn Hasse gefördert wird."23

19 20 21 22 23

rerseits spielte der Bonus des „an sich Humanen und Fortschrittlichen" eine Rolle, den die eng an die Wachstumsideologie der SED gekoppelte Wissenschaft in der DDR erhielt. Außerdem waren wissenschaftskritische Arbeiten über die NS-Zeit immer gefahrlich nahe an gesellschaftskritischer Betrachtung der Verhältnisse in der DDR, angesichts der unbestreitbaren Parallelen in manchen politischen Mechanismen; Vgl. unten. Vgl. S. Segal: Helmut Hasse in 1934, in: Historia Mathematica, 7, 1980, S. 46-56. Hessisches Staatsarchiv Marburg, Bestand 307 d, acc. 1967/11, Nr. 368. HUA, UK, H 134. Ebenda. Ebenda.

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Dennoch erfolgt ein abschlägiger Bescheid der SMAD (Brief Zentralverwaltung an Akademie 10. 3. 48) wegen politischer Belastung Hasses. Auf dem Brief befindet sich jedoch folgende Bleistiftnotiz (31.3.): „Dr. Naas bittet, diesen Brief als nicht geschrieben zu betrachten. Zwischen Wandel, Rompe und Naas sei im Beisein von Hasse vereinbart worden, alles zu tun, um Hasse so schnell wie möglich zu einem Ordinariat zu verhelfen. Notfalls würde Wandel in Karlshorst in der Sache vorsprechen."24 Am 3. 5. 49 erfolgte schließlich Hasses Ernennung zum Ordinarius an der Berliner Universität. Im Falle Hasses praktizierte die SED (stärker noch als die damals maßgebenden sowjetischen Behörden) eine pragmatische Trennung der Fachkompetenz von der politischen Verantwortung, wie sie auch in anderen Fällen sehr schnell von"humanistischen bürgerlichen Gelehrten" sprach und aus dem angeblich selbstlosen wissenschaftlichen Forschen eine auch außerhalb der Wissenschaft wirkende „höhere Moral" der Wissenschaftler konstruierte. Damit lag die SED, die der Wissenschaft in der DDR nahezu bis zu deren Ende den Bonus des"an sich Humanen und Forschrittlichen" 25 gab, ganz auf der Linie der Wissenschaftlerideologie selbst, wiederholte Themen aus deren Nachkriegsapologie und forderte damit die Anpassungsbereitschaft der Wissenschaftler.26 Freilich galt diese krasse Trennung der Leistung von der politischen Tätigkeit nur für einen gewissen Zeitraum und nur für die ältere Generation führender Wissenschaftler der fünfziger Jahre, wie später ausgeführt werden wird. Außerdem mußten übergeordnete politische Gesichtspunkte (im Falle Hasses war dies der Bedarf nach überragender Fachkompetenz) diesen Verzicht auf eine kritische Vergangenheitssicht rechtfertigen. Beispielsweise erhielten westdeutsche Mathematiker wie G. Hamel und W. Blaschke, die sich in der Nazizeit sehr opportunistisch verhalten hatten und ebenso wie Hasse keine Anhänger der politischen Systems der DDR waren, den 1949 gestifteten und hoch dotierten „Nationalpreis".27 Auch hier gab es übergeordnete politische Interessen: Zu Beginn der fünfziger Jahre wurde der Preis bewußt als Mittel zur Aufrechterhaltung der Einheit der deutschen Nation und als Ausdruck der Verantwortung der DDR-Regierung für diese Einheit verliehen. 28 Die Interessen der Wissenschaftler allein, wie etwa das von F. Willers, der seit 1948 die Lockerung des alliierten Kontrollratsgesetzes anstrebte, um Publikationen über die Grundlagen der Aerodynamik in seiner „Zeitschrift für Angewandte Mathematik und Mechanik" zu ermöglichen,29 reichten für die Begründung eines zentralen wissenschaftspolitischen 24 25 26 27

28 29

Ebenda. Allerdings sei sie, unter kapitalistisch-faschistischen Machtverhältnissen leider manchmal „mißbraucht" worden. Vgl. auch den Beitrag von D. Hoffmann/ M. Walker über den Physiker F. Möglich. Die Wahl des Namens „Nationalpreis" war übrigens zumindest eine politische Instinktlosigkeit angesichts der Tatsache, daß Hitler 1937 einen Preis gleichen Namens in bewußter nationalistischer Frontstellung gegen den Nobelpreis gestiftet hatte, dessen Annahme deutschen Wissenschaftlern fortan verboten wurde. Der Geometer Blaschke schrieb nach der Verleihung (1954) ironisch, er sei verwundert, „daß ausgerechnet ein kommunistisches Staatswesen mich zum Kapitalisten machen wollte." in: H. Blaschke-, Reden und Reisen eines Geometers, Berlin (Ost) 1957, S. 115. Archiv der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (im folgenden: BBAA), Akademieleitung 708, Teil 7, Blatt 2.

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Interesses nicht aus. Erst als nach der Gründung der NATO und des Warschauer Paktes Mitte der 1950er Jahre ein verstärkter Bedarf nach angewandter militärisch-mathematischer Forschung30 spürbar wurde, schrieb ein Funktionär der Abteilung Wissenschaft der SED 1956: „ Es ist bekannt, daß viele Mathematiker in der kapitalistisch-faschistischen Zeit ihre großen Kenntnisse für die Kriegsmaschine Hitlers zur Verfügung stellten. Dabei kaum oder gar nicht über den Mißbrauch der Wissenschaft unter der Hitlerherrschaft nachdachten. Sie haben während der Hitlerzeit sich große Kenntnisse auf militärisch wichtigen Gebieten wie Flugzeugindustrie, Aerodynamik usw. angeeignet, die heute noch ungenutzt in den Köpfen der Wissenschaftler vorhanden sind. Unsere Aufgabe besteht darin, diese Wissenschaftler durch einen engen, kameradschaftlichen ständigen Kontakt zu veranlassen, diese Kenntnisse dem Arbeiter-und Bauernstaat, der Zukunft Deutschlands, zur Verfugung zu stellen und den Studenten dieses verborgene Wissen zu vermitteln."31 Ein „übergeordnetes politisches Interesse" konnte auch entstehen, wenn ein Wissenschaftler besonders entschieden für das neue politische System Partei ergriff, zumal die Zahl der SED-Mitglieder unter den Mathematikprofessoren der DDR bis Ende der 1950er Jahre sehr gering blieb.32 In diesem Fall war keine überragende Fachkompetenz des geforderten Wissenschaftlers vonnöten. Der extremste dem Autor bekannte Fall ist der des Verfassers des Artikels „Mathematik und Rasse" (1941) aus der von Bieberbach und Th. Vahlen herausgegebenen NS-Fachzeitschrift „Deutsche Mathematik". Max Draeger, der nach dem Krieg SED-Mitglied und in der Folge Professor in Potsdam, Mitglied des Präsidialrats des Kulturbundes sowie des Beirats für Mathematik beim Staatssekretariat für Hochschulwesen war, konnte erst durch einen Protestbrief des Ostberliner Logikers Karl Schröter 1957 zum Rücktritt von seinen Funktionen gezwungen werden.33

Freiwillige und erzwungene Anpassung: die Erziehungsfunktion des „Antifaschismus" Während vielfach der alte „Untertanengeist" der Wissenschaftler, ihr apolitisches Verhalten in der „kapitalistisch-faschistischen Zeit" kritisiert wurde, züchtete man in der DDR Untertanengeist mit umgekehrtem politischen Vorzeichen. Ein Schlüsselzitat, das den neuen Untertanengeist ungewollt beschreibt, findet sich in einer politischen Einschätzung der Mathematikprofessoren durch die Abteilung Wissenschaft der SED am 21.März 1958:

30 31 32 33

Dieses Bedürfnis bestand wohl auch für die kurzzeitig zwischen 1954 und 1961 existierende Flugzeugindustrie der DDR, Vgl. den Beitrag von B. Ciesla im vorliegenden Band. Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Zentrales Parteiarchiv der SED (im folgenden: SAPMO) IV2/ 904/ 285/ Bl. 61. Nach einem Bericht aus dem Jahre 1958 waren von 36 ostdeutschen Mathematikprofessoren nur 5 Mitglieder der SED, darunter der gleich zu erwähnende M. Draeger, SAPMO IV2/ 904/ 280/ Bl. 51. K. Schröter an K. H. Schulmeister, 3.4.57, HUA, Institut für Mathematische Logik, Allgemeiner Schriftverkehr 1956/57, Nr. 212, Laufender Bestand. Allerdings wird aus den Akten nicht klar, ob die DDRBehörden über den vollen Umfang von Draegers Nazi-Aktivitäten unterrichtet waren.

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„(Die meisten) bemühen sich, als Lehrer einer Hochschule der DDR ihren Verpflichtungen gerecht zu werden, ohne daß man aber sagen kann, ob sie mit dem Herzen dabei sind. Zum Teil spielt hier noch der altbekannte Untertanengeist mit hinein."34 Man kann annehmen, daß den beteiligten SED-Politikern, die das KlassenkampfSchema verinnerlicht hatten, das Groteske an diesem Zitat nicht aufgefallen ist. Man versteht so, daß der administrative Sozialismus notwendigerweise manche Ähnlichkeiten mit dem NS-System reproduzieren mußte. Während die politische Anpassung an die neuen Verhältnisse auf seiten der sogenannten „alten Intelligenz" in den 1950er Jahren zweifellos dominierte und durch Sondervergünstigungen, die teilweise schon das Mißfallen des wissenschaftlichen Nachwuchses erregten, gefördert wurde35, können die Reaktionen der damals führenden Wissenschaftler auf die offizielle Politik nicht nur unter dem Aspekt der ängstlichen Anpassung oder nur unter dem Gesichtspunkt des rein fachlichen Interesses betrachtet werden. Auch in dieser Beziehung ist die Vorgeschichte der DDR, also die Zeit des Nationalsozialismus, wichtig: Bei nicht wenigen Mathematikern, wie auch bei anderen Wissenschaftlern, gab es nach dem Zusammenbruch des Hitler-Regimes und eigener traditioneller Wertvorstellungen die Bereitschaft, einen geistigen Neuanfang zu machen, dabei durch die wissenschaftliche Arbeit einen Beitrag zu leisten und die Mathematik so zugleich zu legitimieren. Es ist klar, daß in der Notzeit nach dem Krieg die Frage nach dem Sinn wissenschaftlichen Denkens von einzelnen Wissenschaftlern stärker empfunden und erwogen wurde. Die intellektuelle Faszination der Marxschen Dialektik, die oft durch Lenins „Philosophische Hefte" vermittelt wurde, die Neuheit dieser vorher nicht gekannten Gedanken, die Dankbarkeit gegenüber dem Befreier Sowjetunion, die offensichtliche internationale Bedeutung der sowjetischen Mathematik und die nicht zu leugnende Priorität praktischer Fragen des Wiederaufbaus - all das erzeugte insgesamt eine geistige Atmosphäre, die manchen Mathematiker für eine radikal neue Diskussion philosophisch-weltanschaulicher Voraussetzungen und Folgerungen mathematischen Denkens empfänglich machte.36 Diese Bereitschaft zum grundsätzlichen politischen Umdenken blieb sicher auf nur wenige der führenden älteren Wissenschaftler beschränkt und schwächte sich vermutlich im Laufe der Jahre ab. Es war vor allem das im Vergleich zur diffusen NS-Ideologie grundlegend andere Verhältnis der marxistischen Ideologie zur Wissenschaft selbst, das weitere Koalitionsmöglichkeiten zwischen Partei und „bürgerlicher Intelligenz" möglich machte. Im Umkreis der sogenannten „wissenschaftlichen Weltanschauung der Arbeiterklasse" wurde die Rationalität der Mathematik und Naturwissenschaften von der SED oft genug als entscheidende Voraussetzung der angestrebten Beherrschung der Natur und Gesellschaft und der Lösung der Zukunftsaufgaben gewürdigt. Natürlich hatten die älteren Mathematiker noch gut die Nichtachtung von Grundlagenwissenschaften wie der Mathematik 34 35

36

SAPMOIV2/ 904/ 280/ Bl.. 51. Vgl. „Unsere Regierung fördert die Intelligenz. Eine Zusammenstellung der Gesetze und Verordnungen zur Förderung der Angehörigen der Intelligenz v. 4.2.49-11.10.52" , Berlin, Kulturbund 1953, XXXI + 743 S. Das Staatssekretariat für Hochschulwesen teilte 1958 der Abteilung Wissenschaft gerade in Hinblick auf die Mathematikprofessoren mit: „Viele haben den Eindruck, daß die Wissenschaftler, vor allem die älteren Wissenschaftler, mit den hohen Gehältern gekauft werden. ... Wichtig ist, weniger Geld für die Wissenschaftler, mehr Geld für die Wissenschaft." SAPMO IV2/ 904/ 280/ Bl. 36. Beispielsweise war K. Schröter als Nichtparteimitglied Mitbegründer der marxistischen „Deutschen Zeitschrift für Philosophie" im Jahre 1953.

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unter dem Nationalsozialismus in Erinnerung, die am deutlichsten in der Vertreibung führender Wissenschaftler nach 1933 zum Ausdruck gekommen war und selbst in der Vernachlässigung der angewandten Mathematik an den Hochschulen37 zumindest vor Kriegsbeginn erkennbar gewesen war. Man erinnerte sich an Derivate der nationalsozialistischen Rassentheorie, wie Ludwig Bieberbachs „Deutsche Mathematik" 38, die - wenn auch weitgehend ohne eigentliche kognitive Konsequenzen - in die begriffliche Sphäre der Mathematik selbst eingreifen wollten. Während die „Deutsche Mathematik" eine Begründung" für die Vertreibungen jüdischer Mathematiker lieferte (und insofern durchaus historisch folgenreich war), war die herrschende Ideologie in der DDR eher an einer Verhinderung der ständig zunehmenden Abwanderung führender Wissenschaftler nach Westdeutschland interessiert. Was ideologische Einmischungen in die innermathematische Diskussion betrifft, so erreichten die DDR nur noch letzte Nachwirkungen der stalinistischen „Idealismus-Debatte" in der Mathematik, etwa als der sowjetische Geometer A. D. Alexandrow in der Zeitschrift „Forum" im November/Dezember 1952 eine scharfe Attacke gegen den „bürgerlichen Hilbert" führte. Dagegen war der 1954 erschienene Artikel von Gnedenko und Kaloujnine unter dem Titel „Über den Kampf zwischen Materialismus und Idealismus in der Mathematik"39 schon eher eine Verteidigung der Hilbertschen Axiomatik gegen Unterstellungen inkompetenter, vorgeblich „marxistischer Philosophen". Pflicht gemäß wurden dort lediglich die sogenannten idealistischen weltanschaulichen Schlußfolgerungen aus der Mathematik durch B.Russell und den positivistischen Wiener Kreis kritisiert. Die historiographisch bisher noch wenig untersuchten Auswirkungen des Stalinismus auf die Mathematik waren deshalb eher in deren Randgebieten wie der Logik40 , Rechentechnik und Kybernetik festzustellen. Während im NS-Staat die Mathematiker vielfach die Notwendigkeit fühlten, sich in ihrer Wissenschaftspolitik an akzeptierte Erkenntnisideale wie die der Techniker anzuschließen,41 hatten sie das in der DDR, wo die Mathematik in ihrem Eigenwert offiziell anerkannt wurde, nicht nötig.42 Diese Anerkennung hatte allerdings auch mit der neuen gesellschaftlichen Bedeutung zu tun, die die Grundlagenwissenschaften mittlerweile weltweit erlangten. Von SED-Funktionären wurde manche „wissenschaftsfreundliche" Maßnahme ideologisch begründet und somit im Sinne der politischen Propaganda für die herr-

37 H. Mehrtens: Angewandte Mathematik und Anwendungen der Mathematik im nationalsozialistischen Deutschland, in: Geschichte und Gesellschaft 12, 1986, S. 317-347; R. Siegmund-Schultze: Zur Sozialgeschichte der Mathematik an der Berliner Universität im Faschismus, in: NTM-Schriftenreihe, 26, 1989, H. 1, S. 49-68. 38 H. Mehrtens: Ludwig Bieberbach and „Deutsche Mathematik" , in: K R. Phillips (Ed.): Studies in the History of Mathematics, Washington 1987, S. 195-241. 39 B. W. Gnedenko, L. Kaloujnine: Über den Kampf zwischen Materialismus und Idealismus in der Mathematik, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technische Hochschule Dresden 3, 1953/54, H. 5, S. 631-638. 40 Vgl. G. Schenk: Zur Logikentwicklung in der DDR, in: Modern Logic, 5, 1995, S. 248-269 41 Deshalb propagierten einige Mathematiker zum Beispiel die „Unerbittlichkeit mathematischen Denkens" , Vgl. R. Siegmund-Schultze: Mathematics and Ideology in Fascist Germany, in: W. R. Woodward, R. S. Cohen (Eds.): World Views and Scientific Discipline Formation, Dordrecht 1991, S. 89-95. 42 In gewisser Weise hatten die Vertreter der Grundlagenwissenschaften in der DDR, anders als im NS, sogar ein höheres Sozialprestige als die Ingenieure, Vgl. den Beitrag von D. L. Augustine im vorliegenden Band.

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sehende Weltanschauung verwendet, die ohnehin im weltweiten gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Modernisierungsprozeß erforderlich war. Nun bedeutete allerdings verstärktes Interesse der marxistischen Ideologie an der Mathematik (im Vergleich zur NS-Ideologie) tendenziell die Gefahr stärkerer Kontrolle und möglicher inkompetenter Eingriffe. Von diesem Spannungsfeld von Interesse und Kontrolle wurde ein großer Teil der Beziehungen zwischen bürgerlicher Intelligenz und Partei geprägt, wobei wiederum die historische Erfahrung des Nationalsozialismus eine erhebliche Rolle spielte. Das vermutlich größte ideologische Konfliktpotential lag in der Frage, inwieweit politisches Engagement (natürlich im Sinne des neuen Systems) die fachliche Arbeit ergänzen müsse, oder ob gute fachliche Arbeit allein schon einen positiven Wert im Sinne des Systems darstellte.43 Natürlich hatten die älteren Wissenschaftler die Nazi-Parolen von der „politischen Wissenschaft" noch im Ohr, wenn sie in der DDR über „progressive Wissenschaft" reden hörten. Auch in der DDR der 1950er Jahre wurden nicht nur von SED-Funktionären, sondern auch von jüngeren, aufstrebenden Wissenschaftlern zuweilen Zusammenhänge zwischen „progressiver Weltanschauung" und dem Fortschritt der Erkenntnis an sich gesehen. Das waren Zusammenhänge, die vor allem ältere Wissenschaftler als Bedrohung empfinden mußten. So heißt es in einer unter Mitarbeit junger Mathematiker angefertigten Einschätzung der Abteilung Wissenschaft vom 10. 2. 56 über die mathematische Statistik in der DDR: „ Es existiert über Statistik ein Akademie-Institut, was politisch äußerst schwach ist. An der Spitze Prof. Lorenz. Hier werden statistische Erhebungen über Mäuse und andere unwichtige Dinge praktiziert. Lorenz ist kein Theoretiker, wehrt sich gegen sie, wendet veraltete Arbeitsmethoden an."44 Hier wird politischer Konservativismus in einen gewissen Zusammenhang und in Korrelation zu fachlichem Konservativismus gebracht, was nicht heißen soll, daß auch nur einer der Vorwürfe für sich allein unzutreffend war. Die Gefahr, die in einer Verschmelzung solcher Urteile lag, erkannte schon früh der Rostocker Mathematiker R. Kochendörffer, als er als Dekan eine am 28. August 1952 vom Ministerrat verabschiedete „Direktive für die Aufstellung von Statuten an den Universitäten und Hochschulen" nur als Diskussionsgrundlage wertete und schrieb: „Es braucht nicht von .fortschrittlicher' Wissenschaft gesprochen werden, denn der Begriff des Fortschreitens (nämlich der menschlichen Erkenntnis) gehört zum Begriff der Wissenschaft."43 In einer Rostocker Universitätsgeschichte, die unter anderem streng mit Kochendörffer ins Gericht ging, der Mitte der 1960er Jahre die DDR verlassen hatte, wird dazu 1967 festgestellt: „Hier wurden die Begriffe „fortschrittliche Wissenschaft" und „Fortschreiten der menschlichen Erkenntnis" in unzulässiger Weise identifiziert."43" Während von der SED in den 1950er Jahren die fachliche Kompetenz (die Lorenz nicht in genügendem Maße besaß) der „alten Intelligenz" als ausreichender Ersatz für politische Aktivität angesehen wurde, galt dies schon nicht mehr für die Generation der Studenten 43 44 43 43a

Letzteres war natürlich eine Interpretation, die die Wissenschaftler bevorzugten. SAPMOIV2/ 904/ 285/ Bl. 68. Geschichte der Universität Rostock, Berlin 1969, Band II, S. 117. Ebenda.

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der 1950er Jahre, die die dereinst „der Partei treu ergebene" Hochschullehrerschaft der 1960er und 1970er Jahre bilden sollte.45 Ein Leipziger Mathematiker wurde beispielsweise 1956 von der Abteilung Wissenschaft mit den folgenden Worten gerügt: „ Ebenfalls kann man nicht sagen, daß Genosse Professor ... in Leipzig mit Energie an einer Verbesserung des Kaderstandes von Genossen arbeitet. Wir müssen in Zukunft solchen Genossen die Frage stellen, wie sie sich diesen Zustand denken, und ob sie nicht als Genosse die Verpflichtung haben, der Partei und Regierung treu ergebene Kader auszubilden und sie als Assistenten am Institut zu behalten."46 Das Problem des politischen Engagements des wissenschaftlichen Nachwuchses war somit ein weiteres frühes Konfliktfeld zwischen Partei und alter Intelligenz, und gerade hier spielte bei den Wissenschaftlern die Erinnerung an die eigene politische Vergangenheit, an die politischen Zwänge während des Studiums oder der Assistenzzeit im NS-Staat eine wichtige Rolle. Die älteren Wissenschaftler hatten sich nun vor allem mit den neuen, mit der marxistischen Ideologie verknüpften Erziehungsidealen auseinanderzusetzen. Während im Nationalsozialismus die politischen Aktivitäten der Studenten und Assistenten angesichts der Unterschätzung der Wissenschaften bei den entscheidenden Funktionären von vornherein den Vorrang vor fachlicher Kompetenz hatten, wurde in der DDR von den SED-Funktionären die Fiktion aufrechterhalten, daß zwischen fachlichem und gesellschaftlichem Engagement keine wirklichen Konfliktfelder bestünden. So wurde insbesondere angenommen, daß politisch im Sinne des Systems engagierte Wissenschaftler bei entsprechender Anstrengung ihre zuweilen bestehenden fachlichen Nachteile47 später würden ausgleichen können. Diese unterschwellige Überzeugung vieler SED-Wissenschaftsfunktionäre hatte natürlich viel mit der Annahme der Zweckgerichtetheit der Wissenschaft und mit dem Bedürnis nach ihrer Kontrolle zu tun. Andererseits traten hierbei aber auch eine starke Unterschätzung der Bedeutung individueller Begabung und der feste Glaube an die Erziehbarkeit wissenschaftlicher Fähigkeiten zutage, beides Überzeugungen, die mit den sozialistischen Erziehungsidealen vielfach verknüpft wurden. Hier waren Konfliktfelder gerade mit den Mathematikern angelegt, die die ungleiche Verteilung der Begabung in ihrem Fach in der täglichen Arbeit und in der hohen Exmatrikulationsquote für Mathematikstudenten deutlich spürten.48 Anders als im NS-Staat war diese Art von Konflikten bereits auf der ideologischen Ebene, nicht nur auf der pragmatischen Ebene (die auch im Nationalsozialismus oft anerkannt werden mußte), verhandelbar wenn zum Beispiel die Erziehungsideologie der Funktionäre in eine Ausweitung des mathematischen Unterrichts umgewandelt wurde, die der Mathematik zusätzliche Legitimation brachte. So kam es im Dezember 1962 zu dem sogenannten „Mathematikbeschluß" 49 45 46 47 48

49

Zur Rolle der SED-Kaderpolitik beim Aufbau der sozialistischen Hochschule, Vgl. den Beitrag von J. Connelly im vorliegenden Band. SAPMOIV2/ 904/ 285/ Bl. 62. Diese Nachteile wurden ihnen im allgemeinen von den Funktionären eher als Resultat persönlicher Opferbereitschaft angerechnet, da sie weniger Zeit für ihr Fach aufwenden konnten. Bereits 1949 hatte der gerade nach Berlin berufene Hasse „bemängelt, daß hervorragende Begabungen nicht außerhalb jeder formalen Einstufung zugelassen werden können" und die Einführung einer sogenannten „Begabtenklausel" gefordert. HUA, Math. - N a t . Dekanat 1, Bl. 91/92. Vgl. Beschluß des Politbüros des ZK der SED und des Ministerrats der DDR vom 17.Dezember 1962: Zur Verbesserung und weiteren Entwicklung des Mathematikunterrichts in den allgemeinbildenden polytechnischen Oberschulen der DDR, in: Mathematik und Physik in der Schule 10, 1963, H. 2, S. 141150.

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des Politbüros der SED, der eine wesentliche Stärkung des Mathematikunterrichts an den Oberschulen bedeutete. Die Tatsache, daß das höchste politische Entscheidungsgremium der DDR die „esoterische Wissenschaft" Mathematik in einem solchen Beschluß würdigte, führte vielen Mathematiker die mit der NS-Zeit, teilweise auch mit der öffentlichen Anerkennung in der Bundesrepublik unvergleichliche Stellung ihrer Wissenschaft vor Augen. Da zudem das Problem der Elitebildung von Mathematikern durch die sogenannten „Mathematikolympiaden"50 und mehrere „Mathematikspezialklassen" in der DDR befriedigend gelöst wurde, ist es auch verständlich, daß einige Mathematiker früheren „elitären" Vorbehalten gegenüber dem sozialistischen Erziehungsideal zumindest nach außen hin abschworen. Über den Berliner Logiker Karl Schröter heißt es in einer politischen Einschätzung 1960: „Professor Dr. Schröter hat gemeinsam mit dem ihm unterstellten Assistenten durch diese Arbeit den Beweis erbracht, daß auch in der Mathematik durch intensive Betreuung jeder normal begabte Mensch zufriedenstellende Leistungen erreichen kann. Damit hat er der (früher von ihm vertretenen) These, in der Mathematik seien Ausfälle von 30-40% der Studenten gesetzmäßig, einen entscheidenden Stoß versetzt."51

Die Abgrenzungsfunktion des „Antifaschismus" Verständlicherweise wurde in dem kurz nach dem Bau der Berliner Mauer gefaßten „Mathematikbeschluß" die Abgrenzung von der Mathematik der westdeutschen Bundesrepublik stark betont.52 So ist auch neben der „Erziehungsfunktion" das zweite wesentliche Wirkungsfeld der Ideologie des „Antifaschismus" und der Erinnerung an die Lage der Mathematik im NS-Staat die Abgrenzung vom Kapitalismus insbesondere von der westdeutschen Bundesrepublik gewesen, wobei zweifellos die Ablenkung von einigen offensichtlichen strukturellen Ähnlichkeiten zwischen den NS- und DDR-Systemen eine wesentliche Rolle spielte. Natürlich wurden von SED-Wissenschaftsfunktionären die Angriffspunkte propagandistisch genutzt, die die Bundesrepublik durch die weithin erfolgte Wiedereinstellung politisch belasteter Wissenschaftler und durch den in den 1950er Jahren in der westdeutschen Geschichtsschreibung dominierenden Verzicht auf eine kritische Geschichtsschreibung über die sozialökonomischen und soziokulturellen Ursachen des NS-Systems bot.53

50 51 52

53

Diese wurden im Mathematikbeschluß nach sowjetischem Vorbild stark betont. HUA, UK Sch 831, Bl. 80. So heißt es dort zum Beispiel mit einiger propagandistischer Übertreibung: „Der Mathematikunterricht in unserer sozialistischen Oberschule ist in keiner Weise mehr vergleichbar mit dem Rechen- und Raumlehreunterricht der bürgerlichen Volksschule, die heute in Westdeutschland noch die Schule für den überwiegenden Teil der Kinder ist." , Beschluß des Politbüros des ZK der SED und des Ministerrats der DDR vom 17. Dezember 1962, a. a. O., S. 141. Vgl. H.-G. Hockerts: a. a.O., S. 13. Emigranten aus der NS-Zeit, wie der nunmehr in den USA wirkende Mathematiker R. Courant, monierten zuweilen die unkritische Haltung ihrer westdeutschen Kollegen, Vgl. R. Siegmund-Schultze: Dealing with the political past, S. 35.

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Die Mehrzahl der politisch durch ihr Verhalten im NS-Staat belasteten Mathematiker54 hatte sich mit Kriegsende in die Westzonen begeben; bekanntlich war Antikommunismus bereits ein Grundbestandteil der NS-Ideologie gewesen. Selbstverständlich gab es auch auf westdeutscher Seite nicht wenige antifaschistisch gesonnene Mathematiker, unter ihnen einstige Opfer des Nationalsozialismus. Das führte - paradoxerweise - zusammen mit dem bis Mitte der 1950er Jahre politisch geförderten nationalen Einheitsstreben der deutschen Mathematiker sogar zu einer Unterstützung der Frontstellung Ostberlins gegen Westberlin durch westdeutsche Mathematiker. Da die mathematische Kultur in Ostberlin insgesamt stärker war und dort infolge des Fortbestandes der Akademie und der Universität an die großen Traditionen der deutschen Mathematik gut angeknüpft werden konnte, waren die wissenschaftlichen Kontakte westdeutscher Mathematiker zu Ostberlin in den frühen fünfziger Jahren besser entwickelt als zu Westberlin. Hinzu kam der historisch eher zufällige Umstand, daß der durch seine Kollaboration mit den Nazis stark kompromittierte Ludwig Bieberbach in Westberlin lebte, dort gute Freunde hatte und periodisch das Gerücht auftauchte, er würde dort wieder Professor werden, oder einen Lehrauftrag erhalten. Deshalb war das Verhältnis führender Mathematiker Westdeutschlands, wie des langjährigen DMV-Vorsitzenden E. Kamke55, zu Westberliner Mathematikern wie A. Dinghas zusätzlich belastet.56 Mitte der 1950er Jahre wurde mit der allmählichen Aufgabe des Ziels der deutschen Einheit durch die ostdeutsche Politik der Faschismus-Vorwurf auch häufiger gegenüber Westdeutschland benutzt. In der Wissenschaft spielte bei solchen Anwürfen die unverminderte Abwanderung qualifizierter Kräfte eine besondere Rolle. Solche Vorwürfe gegenüber Westdeutschland übernahm sogar ein Mathematiker wie Heinrich Grell, der sich sonst durchaus zeitweise kritisch zur ostdeutschen Wissenschaftspolitik äußerte.S7 In einem Brief von einer Chinareise schrieb er an seine Frau Hildegard aus Nangking am 24.12.1954: „ Kollegen mit Nazivergangenheit aber dürfen gewiß sein, daß man hier über ihre politischen „Leistungen" verdammt gut informiert ist, und auch heute wird das Verhalten, etwa der Fortgang aus der DDR nach Westdeutschland, sehr aufmerksam verfolgt und in seinen Gründen untersucht. Die Beantwortung einiger Fragen war für mich nicht ganz leicht, wenn ich nicht Aussagen machen wollte, die dem Ansehen der deutschen Kollegen insgesamt geschadet haben würden."58 Aus Greils Brief scheinen zudem verdeckte Schuldgefühle hinsichtlich der eigenen, nicht widerspruchsfreien politischen Vergangenheit im NS zu sprechen, die er durch Treue zum „antifaschistischen Staat" der DDR überwinden wollte. Der Vergleich mit Hitlerdeutschland diente oftmals der eigenen demokratischen Legitimation, insbesondere der Abwehr des „Totalitarismus-Vorwurfs" , was in einigen Stellungnahmen ostdeutscher Wissenschaftsfunktionäre zur antikommunistischen Hexenjagd in den USA Anfang der 1950er Jahre deutlich wurde. Das Präsidium der Berliner Akade54 55 56 57 58

Es gab in dieser Wissenschaft allerdings weniger politisch Belastete als in z.B. der Medizin oder einigen Geisteswissenschaften. Kamke war 1937 von den Nazis wegen seiner jüdischen Frau entlassen worden. BBAA, Nachlaß Kurt Schröder, Nr.256. Vgl. zur Diskussion um die Habilitationsordnung Fußn. 11 sowie für das folgende Argument, Persilschein für Grell, Fußn. 14. BBAA, Nachlaß Heinrich Grell.

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mie der Wissenschaften erörterte am 6. 5.1954 die mögliche Berufung des US-Mathematikers und marxistischen Mathematikhistorikers D. J. Struik nach Berlin und billigte einen Brief von J.Naas, in dem es hieß: „Ich bitte das Präsidium außerdem zu beschließen, seinem Erstaunen und Bedauern darüber Ausdruck zu geben, daß einem so hervorragenden und loyalen Mathematiker wie Prof. Dr. Dirk J. Struik in den Vereinigten Staaten derartige Schwierigkeiten bereitet werden, die uns in Deutschland unmißverständlich an die gleichen Erscheinungen während der Hitlerzeit erinnern." 59 Als schließlich nach der Errichtung der Berliner Mauer im August 1961 die Gründung einer selbständigen „Mathematischen Gesellschaft der DDR" anstand, wurden die westdeutschen Mathematiker auf der letzten gemeinsamen ost-westdeutschen Tagung der Deutschen Mathematikervereinigung im September 1961 in Halle mit einer peinlichen Rede eines Vertreters des DDR-Staatssekretariats konfrontiert, die die Parallele zwischen der Bundesrepublik und Nazideutschland ausdrücklich betonte: „Doch niemand - auch nicht Sie meine Damen und Herren, die Sie als Mathematiker einen Teil der deutschen Wissenschaftler repräsentieren ... - kommt umhin, sich seines Platzes, seiner Rolle und Verantwortung bewußt zu werden, wenn er vor unserem Volke und vor den künftigen Generationen der Wissenschaftler bestehen will... Es ist eine Tatsache, daß im Westen unserer Heimat dieselben unheilvollen Kräfte, die Deutschland und die Welt in zwei grausame Kriege geführt haben, wieder die Machtpositionen innehaben ... deshalb wurde von unserer Regierung am 13.August gehandelt und zwar vorher, ehe es wieder zu spät ist." 60 In einer internen Einschätzung des Staatssekretariats, vom 22.März 1962, die unmittelbar der Vorbereitung der Gründung der Mathematischen Gesellschaft der DDR (im Juni 1962) diente, werden dann auch fuhrende westdeutsche Mathematiker mit Charakterisierungen wie „gefahrlicher Gegner" oder „Faschist" versehen.61

Zur Möglichkeit eines „Vergleichs" von nationalsozialistischer und sozialistischer Wissenschaft sowie Schlußfolgerungen62 Es ist gezeigt worden, daß die gedanklichen und propagandistischen Rückgriffe auf die Geschichte der Wissenschaft in Hitlerdeutschland sowohl von seiten der in der DDR herrschenden SED-Funktionäre als auch seitens der älteren Generation der Mathematiker nur

59 60 61 62

BBAA, Akademieleitung 159, Nachtrag IV, Bl. 39. SAPMOIV2/ 904/ 285/ Bl.. 99-104. SAPMO IV2/ 904/ 280/ Bl.. 164. Aus allgemeinhistorischer Sicht plädiert Petzold für einen differenzierten Vergleich, aber nicht für ein „Gleichsetzen" , Vgl. J. Petzold: Vergleichen, nicht gleichsetzen, In: J. Kocka, M. Sabrow (Hg.): a. a. 0 . , S. 101-103.

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im Kontext der jeweiligen politischen und fachlichen Interessen63 verstanden werden können. In ähnlicher Weise ist auch in der Gegenwart die Diskussion über Notwendigkeit, Möglichkeit und Grenzen eines „Vergleichs" der Wissenschaftssysteme Hitlerdeutschlands und der DDR interessenbeladen. Selbstverständlich bieten sich einige Problemfelder, wie die internationale wissenschaftliche Kommunikation, die Beschränktheit und Verschwendung personeller und materieller Ressourcen sowie gewisse Anpassungsmechanismen für vergleichende Studien an.64 Geschichtsmethodologische Probleme bereiten allerdings unter anderem das Fehlen einer gemeinsamen Bezugs- und Vergleichsbasis für beide Wissenschaftssysteme (des „tertium comparationis"), der ganz unterschiedliche weltweite Entwicklungsstand der Wissenschaft nach 1945 sowie die historische Abhängigkeit des einen Systems (DDR) von dem anderen (Nationalsozialismus). Aus diesem Grunde erschien es mir sinnvoll und vorrangig, zunächst diesen letztgenannten Aspekt des Verhältnisses von nationalsozialistischen und sozialistischen Wissenschaftssystemen anzusprechen. Dies ist ein Aspekt, der konkrete historische Wirkungen erfaßt und freilich nicht vorschnelle begriffliche Verallgemeinerungen über „das Wesen" des Unterschiedes zwischen nationalsozialistischer und sozialistischer Wissenschaft ermöglicht. Zumindest kann auf diese Weise dazu beigetragen werden, bestimmte immer noch kursierende historiographische Mythen, wie die von der „Wissenschaftsfeindlichkeit von Diktaturen" oder vom „Widerstandscharakter wissenschaftlicher Tätigkeit"65 zu zerstören. Einige deutsche Mathematiker der Gegenwart, also Vertreter deijenigen Wissenschaft, die in Ostdeutschland relativ intakt durch die politische „Wende" von 1989 gekommen ist, scheinen sich durch eben diese Wende in ihrer „apolitischen" Grundhaltung bestätigt zu fühlen und tragen - meist sicher ungewollt - durch oberflächliche Vergleiche zwischen der Lage der Mathematik in Hitlerdeutschland und in der DDR zu dem heute in Deutschland im Vormarsch befindlichen Geschichtsrevisionismus bei, der die Gefahr einer Relativierung der Verbrechen des Nationalsozialismus in sich birgt. Ein führender ostdeutscher Mathematiker schrieb 1992 in einem Artikel „Zur Situation der Mathematik und der Mathematiker in der ehemaligen DDR" über die „Mitteilungen der Mathematischen Gesellschaft der DDR" : „ Es gibt dort zahlreiche sehr wertvolle Übersichtsartikel... die unverdientermaßen nicht über die DDR hinaus bekannt geworden sind. Aber es gibt daneben auch politisch durchtränkte Artikel, die manchmal noch peinlicher sind, als was man in der 'Deutschen 63

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Zu diesen Interessen gehörten die Ablenkungs, -Abgrenzungs- bzw. Erziehungsabsicht einerseits, die Sorge um den Fortbestand eines funktionierenden Wissenschaftsbetriebes und um die eigene berufliche Laufbahn andererseits. Hier sei nur die Tatsache erwähnt, daß unter beiden Systemen etablierte Wissenschaftler kaum zu so starken politischen Loyalitätserklärungen wie dem Eintritt in die jeweils führende Partei gezwungen wurden. Dagegen förderten junge Wissenschaftler durch einen solchen Eintritt zweifellos ihre Karrieren, falls sie nicht ohnehin aus politischer Überzeugung diesen Schritt taten. So trat der Ostberliner Mathematiker Kurt Schröder 1939 aus Karrieregründen in die NSDAP ein, während er es in der DDR ohne Eintritt in die SED zu höchsten Ehren, unter anderem zum Rektorat der Humboldt-Universität brachte. Vgl. R. Siegmund-Schultze: Zur Sozialgeschichte der Mathematik an der Berliner Universität. Zu diesem Mythos Vgl. R. Siegmund-Schultze: The Problem of anti-Fascist resistance of „Apolitical" German Scholars, in: M. Renneberg, M. Walker (Eds): Science, Technology, and National Socialism, Cambridge 1994, S. 312-323, 408-411.

Der Schatten des

Nationalsozialismus

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Mathematik' lesen kann: SED-Parteitagsbeschlüsse, Honecker-Zitate u.ä. kanonisiertes Geschwätz."66 Es ist nicht verwunderlich, wenn einem Mathematiker die Fachartikel besser gefallen als die politischen. Wenn der Mathematiker aber die von dem Nazi Bieberbach herausgegebene Zeitschrift „Deutsche Mathematik" positiv gegenüber den „Mitteilungen" heraushebt, muß man sich die dortigen politischen Artikel ansehen. Und darunter befinden sich eben Max Draegers „Mathematik und Rasse" und andere verwandte Elaborate, gegen die alle „SED-Parteitagsbeschlüsse" harmlos und unschuldig aussehen. Es fallt in diesem Fall nicht schwer, die Ursachen für den mißlungenen Vergleich und die Bagatellisierung der NS-Ideologie zu vermuten: Der hervorragende Mathematiker und fanatische Nationalsozialist Oswald Teichmüller hat in der „Deutschen Mathematik" einige seiner besten Arbeiten über quasikonforme Abbildungen publiziert. Das ist gerade das Arbeitsgebiet des DDRMathematikers, von dem jenes Zitat stammt. Die Schlußfolgerung liegt nahe, daß hier die Ideologie des „apolitischen Mathematikers" propagiert werden soll, der sich um die Organisation seiner Wissenschaft und die Verwendimg ihrer Resultate wenig Gedanken macht. Diese „apolitischen Mathematiker" übersehen außerdem, daß ohne gewisse politische Anpassungsleistungen ihrer Vorgänger in der DDR der Betrieb ihrer Wissenschaft nicht nur teilweise noch mehr behindert worden wäre, sondern daß auch die spezifischen nur diesem System innewohnenden positiven Stimuli für die Pflege der Mathematik ungenutzt geblieben wären. Vermutlich hätte es beispielsweise ohne die politische Entscheidung der Schaffung des großen Berliner Akademieinstituts für Mathematik im Jahre 1946 keine so gute Bewertung der DDR-Mathematik durch den westdeutschen Wissenschaftsrat im Jahre 1991 gegeben. Durch eine Kultivierung der „apolitischen Haltung" würde sich die Mathematik im heutigen vereinigten Deutschland, in dem der Kampf um Ressourcen und öffentliche Aufmerksamkeit für diese Disziplin vielfach politisches Engagement erfordert, selbst schaden. Freilich ist dabei stets wie auch für die Aktionen der deutschen Mathematiker im NSStaat und in der DDR die Forderung nach verantwortlichem politischen Handeln zu stellen. Die ungeachtet der kurzen Erwägungen dieses Artikels noch zu schreibende politische Geschichte der DDR-Mathematik mag erneuten Anlaß bieten, die politische und soziale Verantwortung der Wissenschaftler in der modernen Gesellschaft zu erörtern.

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R. Kühnau: Zur Situation der Mathematik und der Mathematiker in der ehemaligen DDR, in: Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, 1992, Nr. 2, S. 57-63, Zitat S. 59.

Institutionen

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Der Weg zur „sozialistischen Forschungsakademie". Der Wandel des Akademiegedankens zwischen 1945 und 1968* Die aus der Preußischen Akademie der Wissenschaften hervorgegangene Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin (DAW) nahm in der deutschen Wissenschaftslandschaft nach dem Zweiten Weltkrieg eine Sonderstellung ein. Einerseits blieb sie wegen ihrer Mitglieder eine gesamtdeutsche Institution und andererseits entwickelte sie sich zum größten Forschungszentrum der DDR, zu einer „sozialistischen Forschungsakademie", deren Mitarbeiterzahl von 131 im Jahre 1946 auf 12.923 im Jahre 1967 wuchs. Der Aufsatz behandelt wichtige Etappen ihres Weges bis zur Akademiereform (1968). Untersucht wird die Anpassung der Akademie an die Nachkriegsbedingungen für die Wissenschaft im besetzten Deutschland, an allgemeine Entwicklungstendenzen in der Wissenschaft und an die Interessen des sozialistischen Staates.

Von der Preußischen zur Deutschen Akademie der Wissenschaften Schon vor Kriegsende hatte die Mehrzahl der Berliner Wissenschaftler die Stadt verlassen. Für einen Neubeginn fehlten 1945/46 der Preußischen Akademie der Wissenschaften (PAW) etwa 75 % ihrer Mitglieder. Von ihren beiden ursprünglich gleich starken Klassen war vor allem die Mathematisch-naturwissenschaftliche geschwächt, weil insbesondere sie die Aufgabe des Standortes Berlin durch die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) traf. 35 % der Mitglieder dieser Klasse kamen aus der KWG, darunter die Nobelpreisträger Max Planck, Max von Laue, Werner Heisenberg, Peter Debye, Adolf Butenandt und Otto Hahn. Nur ein Mitglied, Hans Stille, beteiligte sich nach Kriegsende am Neuaufbau. Etwas besser war die Situation in der Philosophisch-historischen Klasse, deren Mitglieder vorwiegend zum Lehrkörper der Berliner Universität gehörten. In den ersten Nachkriegsmonaten ergab sich dadurch in den Sitzungen der PAW ein nahezu dreifaches Übergewicht der Geisteswissenschaftler. Dies kennzeichnet die Größenordnung des Wissenschaftler* Für finanzielle Unterstützung ist der Alfred Freiherr von Oppenheim Stiftung zur Förderung der Wissenschaften zu danken.

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stroms in Richtung Westen und verdeutlicht den Bruch im gewachsenen Disziplinen- und Institutionengefiige nach dem Kriege. Die in Berlin gebliebenen Wissenschaftler konnten Verantwortung übernehmen und zugleich hatten sie Karriere- und Entwicklungschancen in ihren Disziplinen.1 Letzteres traf natürlich auch für wissenschaftliche Institutionen wie die PAW zu. Die in Berlin verbliebenen Mitglieder der PAW haben diese Chancen schnell erkannt, was nicht verwundert, denn sie kannten entsprechende Akademie-Initiativen2 aus der Vergangenheit. Seit 1929 hatte diese versucht, jene Randstellung im deutschen Wissenschaftsgefuge aufzuheben, in die sie mit Gründung der KWG geraten war. Die Rahmenbedingungen konnten für den Neubeginn schnell geschaffen werden, zumal die PAW wegen ihrer wissenschaftspolitischen Randstellung im Dritten Reich als politisch wenig belastet galt. Eine neue Akademieleitung mit dem Altphilologen Johannes Stroux als Präsidenten3, ein neues Statut, der Antrag auf Wiederzulassung - das alles war bereits acht Wochen nach Kriegsende realisiert. Die Vortragstätigkeit begann wieder und eine weitgehend autonome Selbstentnazifizierung setzte ein. Zunächst trennte man sich Ende Juli 1945 von acht Mitgliedern, weitere sieben folgten später, insgesamt 22 % der Mitgliedschaft.4 Ohne Verzug wurde der Anspruch der Akademie auf ein Mitwirken bei der Gestaltung der künftigen Forschungslandschaft angemeldet. Schon ab August 1945 bemühten sich die in Berlin gebliebenen Akademiemitglieder um die Übernahme von KaiserWilhelm-Instituten (KWI) und anderen Forschungseinrichtungen und im Herbst entstanden erste Pläne für Neugründungen.5 Auch für die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die 1920 als „Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft" auf Initiative der PAW geschaffen worden war und die bei der Mittelverteilung für die deutsche Wissenschaft eine zentrale Rolle einnahm, zeigte die Akademie großes Interesse. Hier beschloß man „treuhänderisch einzugreifen".6 Ein solches Vorgehen wurde begründet mit der Wissenschaftsorganisation in Frankreich und der Sowjetunion7, aber auch durch historische Ansprüche. Insbesondere ein Brief von Adolf von Harnack8, den dieser 1912 vertraulich an den Vater des jetzigen Klassensekretars Ludwig Diels geschickt hatte, erlangte Bedeutung. Dort war die künftige Verschmelzung von KWG und PAW als Zukunftsaufgabe in Erwägung gezogen, sogar für unabdingbar gehalten worden.9

1 Vgl. P. Nötzoldt: Wissenschaft in Berlin - Anmerkungen zum ersten Nachkriegsjahr 1945/46, in: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien, 1995, H. 5, S. 15-36. 2 Vgl. C. Grau, W. Schlicker, L. Zeil: Die Berliner Akademie der Wissenschaften in der Zeit des Imperialismus, Teil II und III, Berlin 1975 und 1979; Jahrbuch der Preußische Akademie der Wissenschaften, 1939, S. 119f; Denkschrift von 1929, Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (im folgenden: BBAA), 11:1a, Bd. 12, Bl. 85. 3 Johannes Stroux (OM 1937), Präsident 1945-1951. Zur Akademieleitung gehörten ferner die beiden Klassensekretare, Ludwig Diels für die Mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse und Fritz Härtung für die Philosophisch-historische. Der 1939 berufene Direktor der PAW, Helmut Scheel, verblieb zunächst im Amt. 4 Bundesarchiv, Abteilung Potsdam (im folgenden: BAP), R-2 1388, Bl. 7. 5 BBAA, P 1/ 0, Bl. 14f und Bl. 48f; sowie Bestand Akademieleitung (im folgenden: AL), Nr. 660, Bl. 43. 6 BBAA, AL, Nr. 404, Protokoll der Beratung vom 17.11.1945 und BAP, R-2 1427, Bl. 2-10. 7 BBAA, AL, Nr. 661, Bl. 153. 8 Adolf von Harnack (OM 1890), Präsident der KWG von 1911-1930. 9 BAP, R-2 1388, Bl. 5ff.

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Die kleine Gruppe von daheimgebliebenen Wissenschaftlern hoffte auf den „Staat", der die Akademie zur „höchste(n) wissenschaftlichen Einrichtung" innerhalb der „Nation" befördern würde und sie hielten die Zeit für günstig, denn „die reichen Hilfsquellen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und der Notgemeinschaft sind versiegt und werden in absehbarer Zeit nicht mehr fließen können".10 Der „Staat" im Nachkriegsberlin, die Alliierte Kommandantur, setzte jedoch den Etat der PAW am 27. Oktober 1945 auf Null. Die bisherige Unterstützung vom Berliner Magistrat, der am 19. Mai 1945 von der sowjetischen Besatzungsmacht eingesetzt worden war und dessen „Betreuung" die Akademie am 25. Mai erbeten hatte, blieb nun aus. Ebenso kam die seit September 1945 angedeutete Unterstellung unter die Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung ( D Z W ) nicht zustande, die ohnehin der Viermächteverantwortung für Berlin widersprochen hätte11 - insbesondere weil die PAW bei der D Z W keine Lobby besaß. Wegen der politischen Bedeutung der Volksbildung befand sich dieses Ressort von Anfang an in den Händen der KPD/SED.12 Leiter der Volksbildungsabteilung beim Magistrat war Otto Winzer, späterer Außenminister der DDR, der mit der Gruppe Ulbricht aus Moskau zurückkehrte. Präsident der D Z W wurde Paul Wandel, ein enger Mitarbeiter von Wilhelm Pieck in der Moskauer Exilzeit und später der erste Volksbildungsminister der DDR. Ein Konzept für die Nachkriegsentwicklung der deutschen Wissenschaft hatte die KPD-Führung aus dem Moskauer Exil nicht mitgebracht13; auch besaß die KPD in ihren Reihen kaum ausgewiesene Wissenschaftler. In Berlin waren es vier Naturwissenschaftler14, die in der Anfangsphase zur Verfugung standen. Sie wollten die Berliner Restbestände der KWG möglichst schnell wieder aktivieren, da sie für den Wiederaufbau sofort nutzbar schienen. Auch seitens der SMAD und KPD bestand großer Handlungsbedarf, denn fast alle Berliner KWI lagen im (künftigen) amerikanischen Sektor und waren führungslos. Es schien zunächst relativ leicht, den vom NS-Regime zum Tode verurteilten Physikochemiker Robert Havemann in eine Schlüsselposition durch die Berufung zum „vorläufigen Leiter der KWG"15 zu bringen. Die Richtschnur seines Handelns war: „Welche Möglichkeiten bieten sich uns durch einen eigenen maßgeblichen Einfluß auf die Gesellschaft? (und) In welchem Maße kann die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft unseren Gegnern dienlich sein?"16 Das Vorhaben, die KWG unter Kontrolle zu bringen, scheiterte am Widerstand der nach Göttingen verlegten Generalverwaltung, die die Autorität von Max 10 Vgl. H. Kienle (OM 1946): Festrede am 1.8.1946, in: Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1946-1956, Berlin (Ost) 1956, S. 27. 11 BBAA, P 1/0, Bl. 32f und Bestand AL, Nr. 660, Bl. 3. 12 Vgl. W. Leonhard. Die Revolution entläßt ihre Kinder, Leipzig 1990, S. 405; O. Winzer: Protokoll der Sitzung des Sekretariats des ZK der KPD vom 28.9.1945, Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Zentrales Parteiarchiv der SED (im folgenden: SAPMO) I 2/ 5/ 40, Bl. 46. 13 Nach übereinstimmender Mitteilung von Paul Wandel und Robert Rompe an den Verfasser vom Juni 1990; Vgl. auch Nachlaßt. Ackermann, SAPMO NL 109/ 55/ Bl. 300. 14 Robert Havemann, Physikochemiker, Vgl. den Beitrag von D. Hoffmann in diesem Band; Josef Naas, Mathematiker, 1946-1953 Direktor der DAW; Robert Rompe, Physiker, später Institutsdirektor und Mitglied der Akademie; Alfred Wende, Chemiker, später Institutsdirektor der DAW. 15 Berufung am 5.7.1945 durch den Magistrat; Vgl. Archiv der Max-Planck-Gesellschaft (im folgenden: MPGA), II. Abt./1A 9, Bl. 87f. 16 BAP, R-2 1428, Bl. 19-22; Vgl. K. Macrakis: Surviving the Swastika. Scientific Research in Nazi Germany, New York 1993, S. 189f.

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Planck nutzen konnte. Als das Anfang 1946 klar wurde und zugleich der Handlungsbedarf für ein Zusammenfassen teils herrenloser wissenschaftlicher Institutionen anwuchs, stieg das Interesse der Administration an der Akademie. Diese hatte unerwartet im November 1945 durch die sowjetische Wissenschaftsakademie Unterstützung erhalten. Mit dem Auftrag „wissenschaftliche und arbeitsmäßige Verbindungen mit deutschen Gelehrtenanstalten, insbesondere mit der Preußischen Akademie der Wissenschaften aufzunehmen", war Akademiemitglied und Generalmajor Viktor Kulebakin nach Deutschland gekommen. Im Umgang mit der „Sowjetmacht" geübt, empfahl er der PAW das „Preußische" vom Namen zu streichen und den Oberbefehlshaber der SMAD zu bitten, „daß die Akademie bis zur Bildung einer rechtmässigen parlamentarischen zentralen Regierung für ganz Deutschland ... der sowjetischen Militärverwaltung unterstellt wird"17. Dadurch zur Entscheidung gedrängt, hielt es Marschall Shukow für „zweckmäßig, sie der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung zu unterstellen".18 Die Entwicklung endete im Sommer 1946 mit der Wiedereröffnung der ehemaligen PAW als nunmehrige „Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin", der das Recht zugestanden wurde, Mitglieder aus ganz Deutschland aufzunehmen und eigene Forschungsinstitute zu betreiben.19 Beides unterschied sich grundlegend von der Tradition wissenschaftlicher Akademien, wie sie sich in Deutschland herausgebildet hatte und wie sie die Akademien in Göttingen, Leipzig, München und Heidelberg weiterführten. Institutsgründungen und Angliederung, u.a. von KWIs, bestimmten die künftige Entwicklung. Aber „die Etablierung von Instituten wie die gesamtdeutsche Komponente war nun allerdings kein einseitiger sowjetischer Import oder ein Oktroy der SED-dominierten Zentralverwaltung, sondern das Ergebnis übereinstimmender Interessenlagen und Vorstellungen von Mitgliedern der Akademie auf der einen, der Zentralverwaltung, der SMAD und der SED auf der anderen Seite."20

Die DAW bis zur Zweistaatlichkeit in Deutschland

(1946-1949) Zu einem Anziehungspunkt für die gesamte deutsche Wissenschaft oder gar zur „höchsten wissenschaftlichen Institution Deutschlands" entwickelte sich die DAW nicht, obwohl ihre finanzielle Ausstattung vergleichsweise großzügig war und sie über ihre Mittel durchaus autonom verfügen konnte.21 Die Gelehrtengesellschaft konnte sich am Wirkungsort der 17 BBAA, AL, Nr. 660, Bl. 156f. 18 Mitteilung von P. Nikitin an den Verfasser vom 16.9.1992. Nikitin war Mitarbeiter der Abteilung Volksbildung der SMAD und bereitete die Wiedereröffnung der Akademie gemeinsam mit der D Z W vor. 19 Befehl Nr. 187 des Obersten Chefs der SMA und Oberkommandierenden der Sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland zur Wiedereröffnung der Akademie vom 1.7.1946. 20 Vgl. P. Th. Walther. Zur politischen Geschichte der Berliner Akademien der Wissenschaften zwischen 1945 und 1991, Manuskript, S. 26. 21 Haushaltsmittel in DM-Ost: 905.000 (1946), 4.104.000 (1947), 6.476.000 (1948), 8.416.000 (1949); zusätzlich von 1946 - 1950 Investitionsmittel in Höhe von 14.298.000 DM-Ost. Angaben aus: Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, S. 65 sowie Jahrbuch der DAW (im folgenden: JB) 1946-1949, S. 53.

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Akademie kaum verstärken, denn Rückkehrer nach Berlin gab es unter den Mitgliedern nur wenige: 3 (1945), 4 (1946), 2 (1947) und keine in der Folgezeit. Da drei davon bis 1947 starben und drei andere kaum an Plenartagungen teilnahmen, blieb die Verstärkung äußerst bescheiden.22 Auch die Zuwahlen bei den Ordentlichen Mitgliedern von 11 (1946) und 2 (1947) veränderten die Situation kaum, da gleichzeitig zwei weitere Todesfälle und sieben Weggänge zu berücksichtigen waren. Anders verlief die Entwicklung beim Aufbau von Foschungspotential. Die Mitarbeiterzahl der DAW stieg von 131 im Jahre 1946 auf 768 im Jahre 1948 und seit der Wiedereröffnung waren 33 wissenschaftliche Einrichtungen entstanden.23 Dabei handelte es sich zu jeweils etwa einem Drittel um Neugründungen, um alte Unternehmungen der PAW und um die Übernahme bestehender Institute und Einrichtungen. Angegliedert wurden neben Reichs-, Universitäts- und ähnlichen Forschungseinrichtungen, für die Auffangeinrichtung gesucht wurden, auch Institute der SMAD, die diese nicht mehr nutzen wollte. Von der expandierenden DAW erwartete die D Z W vorzeigbare Leistungen. Sie forderte, „den Beitrag zur Neugestaltung des wissenschaftlichen Lebens; ... die Verbindung der wissenschaftlichen Arbeit mit den praktischen Notwendigkeiten beim Wiederaufbau, ... den Beitrag ... zur Wiedergewinnung der Einheit Deutschlands; ... die Wiederanknüpfung und den Ausbau der internationalen Beziehungen" voranzubringen. Die D Z W und die Akademieleitung waren sich darüber im klaren, daß dies nur dann weiterhin unter dem Dach der Akademie möglich sein würde, „wenn das Plenum der Akademie die richtige Zusammensetzung aufweist", wenn sich die Gelehrtengesellschaft weiteren Wissenschaftlern vor allem aus den naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen öffnete. Nun sah sich die Akademie an „einem Kreuzungspunkt ihres Weges angekommen. ... Entweder man gehe von den notwendigen Aufgaben aus, dann bedeutet dies, daß man bei dem heutigen Kräftemangel bescheidenere Ansprüche stellen müsse; oder man versuche, den Maßstab bei der Wahl möglichst unabhängig von den heutigen Umständen zu halten, dann sei der Kreis der zur Wahl kommenden klein, und es seien nicht für alle Aufgaben Mitglieder zu finden." Die Akademieleitung entschied, „daß die Aufgaben, die den Arbeitsbereich der Akademie erweitern werden, in ihrem Rahmen Aufnahme finden sollen."24 Jedoch bereitete die Akademie den beschlossenen Schub an Zuwahlen sorgfaltig vor. Man benötigte fast ein Jahr, um 17 geeignete Kandidaten für die turnusmäßigen Wahlen Anfang 1949 zu finden und schöpfte die Zuwahlmöglichkeiten nicht aus. Im März 1949 gelangte der Akademiedirektor Josef Naas, der einzige SED-Vertreter in einer Leitungsposition an der DAW, schließlich zu der Ansicht, daß eine „Reorganisation der Akademie" verbunden mit der Einführung weiterer Klassen (Landwirtschaft, Technik, Medizin, Gesellschaftswissenschaften, Bauwesen) nur durch eine „Anweisung" von außen schnell durchzusetzen sei. „Doch würde das in Kreisen der Akademie eine sehr kritische Entwicklungsphase unvermeidlich machen".25 Die Kulturverordnung der Deutschen Wirtschaftskommission von Ende März 1949 leitete die Reorganisation der Akademie ein und sollte die Voraussetzungen schaffen, „die Deutsche Akademie der Wis22 23 24 25

Todesfalle und vorher kaum Beteiligung: N. Krebs, P. Guthnick, B. Meissner; kaum Beteiligung: F. Meinecke, E. Haenisch, G. Hamel; aktiv: H. Nordmann, D. Westermann, E. Schmidt. BBAA, AL, Nr. 547; Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, S. 59f. Zitate aus: Aktennotiz über die Aussprache des Präsidiums der Akademie mit dem Präsidenten der Deutschen Verwaltung für Volksbildung am 12.3.1947, (gez. Wandel), BBAA, P 2/1. J. Naas: 8.3.1949, BBAA, AL, Nr. 662.

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senschaften in das höchste wissenschaftliche Zentrum Deutschlands um(zu)gestalten".26 Aus SMAD-Sicht war damit beabsichtigt, auf dem Gebiet der Wissenschaft „Verhandlungsmasse" für einen „einheitlichen deutschen Staat" zu schaffen.27 Die sowjetische und die deutsche Administration setzten dabei auf eine extensive Entwicklung, um z. B. durch die Verdoppelung der Stellen der Ordentlichen Mitglieder neue Fachrichtungen an der Akademie etablieren zu können. Gleichzeitig wurde versucht, durch eine umfassende Privilegierung der Akademie und ihrer Mitglieder die alten Mitglieder für eine weitere Mitarbeit zu gewinnen. Die Institution erhielt ein neues repräsentatives Hauptgebäude am Berliner Gendarmenmarkt, weitere umfangreiche Institutskomplexe, zusätzliche Investitionsmittel von mehreren Millionen DM-Ost und für die Mitglieder eine Verdoppelung der Akademiebezüge, Zusatzgehälter für Direktoren, Nationalpreise mit einer Dotierung bis 100.000 DM-Ost, zinsgünstige Kredite usw.28 Die Akademiemitglieder stimmten im April 1949 der Bildung von sechs neuen Klassen29 an Stelle der bisherigen zwei und der Ausschreibung von Sonderwahlen zu. Im Sommer 1949 wurden 27 neue Mitglieder, davon 22 Naturwissenschaftler, in die DAW gewählt, die nun überwiegend neben „fachlicher Qualität" zumindest formal auch das neue zweite Kriterium für die Mitgliedschaft, „Eignung für die Erfüllung der staatlichen Pflichten", erfüllten.30 Durch die Zuwahlen im Februar und Juli 1949 veränderte sich die Zusammensetzung der Gelehrtengesellschaft der DAW grundlegend. Insgesamt kamen zu den 53 Ordentlichen Mitgliedern weitere 44 hinzu. Davon lebten 22 in Berlin, 18 in der SBZ und 4 in den Westzonen. Die Anzahl der Mitglieder mit Wohnsitz in Berlin und der SBZ entsprach vor den Wahlen etwa der mit Wohnsitz in den Westzonen oder im Ausland - nun ergab sich ein Verhältnis von zwei zu eins. Damit waren ab Sommer 1949 drei wesentliche Veränderungen in der Gelehrtengesellschaft der Akademie zu konstatieren: Erstens war aus der gesamtdeutschen Wissenschaftsinstitution „Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin" eine dominant „Ostdeutsche und Berliner Akademie der Wissenschaften" geworden. Zweitens wurde die Parität zwischen den Geisteswissenschaften und den Naturwissenschaften aufgegeben. Drittens veränderte sich die Zusammensetzung des Präsidiums durch die nunmehr sechs Klassensekretäre, die gemeinsam mit dem Präsidenten und den Vizepräsidenten die Akademieführung bildeten, deutlich.

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Verordnung über die Erhaltung und Entwicklung der deutschen Wissenschaft und Kultur, weitere Verbesserung der Lage der Intelligenz und Steigerung ihrer Rolle in der Produktion und im öffentlichen Leben. Vorlage zur Vollsitzung der Deutschen Wirtschaftskommission für die sowjetische Besalzungszone am 30./31.3.1949. S. 6. I. Bejdin: Auf Frage des Verfassers zum Engagement W. Semjonows bei der Kulturverordnung. Protokoll des Kolloquiums Hochschul- und Wissenschaftspolitik der SMAD, 3 1 . 8 - 5.9.1992 in Gosen, 5. Tag, S. 63. Vorlage zur Vollsitzung der Deutschen Wirtschaftskommission am 30./31.3.1949, BBAA, AL, Nr. 662 und Zentralverordnungsblatt, Teil I, Amtliches Organ der DDR, Nr. 28, 21.4.1949, S. 227-232. Klassen für: Mathematik und allgemeine Naturwissenschaften; medizinische Wissenschaften; landwirtschaftliche Wissenschaften; technische Wissenschaften; Sprachen, Literatur und Kunst; Gesellschaftswissenschaften. Darunter verstand man z.B., „der volkseigenen Industrie in der Ostzone wissenschaftliche Hilfe zu bieten"; Vgl. J. Naas: Wer wird in die Akademie aufgenommen? 15.6.1949, BBAA, AL, Nr. 662.

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Im Vorfeld der Proklamation des Aufbaus des Sozialismus in der DDR (1950-1952) Hatte die SED-Führung der außeruniversitären Forschung bis 1949 wenig Aufmerksamkeit geschenkt, so änderte sich dies nach der Gründung der DDR. Das ursprüngliche Konzept für die Institutionalisierung der außeruniversitären Forschung, „einer durch Wahl konstituierten und ergänzten Gelehrtengesellschaft zu ihrer Disposition Forschungsinstitute beizugeben"31, war schnell vergessen, denn bereits die zweite Kulturverordnung vom März 1950 sah das 10-fache der Akademiemittel, immerhin 50 Millionen DM-Ost für den Aufbau von Forschungsinstituten außerhalb der Akademie vor.32 Ende 1950 wurden Fachakademien für Bauwesen und für Landwirtschaft gegründet, zumindest letztere gegen den Willen der DAW.33 Die Akademie mußte dadurch auf Forschungspotential verzichten und das Zentralamt für Forschung und Technik (ZFT) der Staatlichen Plankommission (SPK) drängte bereits auf die Ausgliederung weiterer Forschungseinrichtungen, wenn sich die DAW nicht in die staatliche Planung einordnen würde. Eine weitere Voraussetzung für die Sonderstellung der DAW, das ursprünglich gesamtdeutsche Akademiekonzept (aus politischer Sicht wohl ohnehin mehr eine Wunschvorstellung der SMAD), erwies sich schon bald als wenig tragfähig. Anläßlich des 250-jährigen Akademiejubiläums (1950) wollte sich die DDR-Regierung als großzügiger Förderer der Wissenschaft präsentieren.34 Gleichzeitig konnten Wissenschaftler wie Politiker die internationale wie auch die gesamtdeutsche Akzeptanz der Einrichtung prüfen. Gedacht als „nationale Feier und eindrucksvolle Kundgebung"35 fiel die Bilanz des Akademiejubiläum wenig eindrucksvoll aus, denn die Jubiläumsfeiern wurden durch alle westdeutschen Wissenschaftsinstitutionen boykottiert. Die Nichtanerkennung der DAW als wichtigste deutsche Wissenschaftsinstitution war damit unübersehbar. Künftig sprach die SED-Führung nur dann von einer „gesamtdeutschen Aufgabenstellung der Akademie", wenn es ihr ins politische Konzept paßte. Zur Bestandsaufnahme gehörte auch, daß neben den 15 Ordentlichen Mitgliedern der DAW, die zwischen 1945 und 1952 in den westlichen Teil Deutschlands gegangen waren, weitere zehn zwischen 1950 und 1952 ihren Austritt erklärten. Vor allem die Politisierung der Universitäten in der DDR und der Beginn analoger Vorgänge an der Akademie wurden als Gründe genannt. Jedoch forderte auch der Kalte Krieg seinen Tribut. In mindestens drei Fällen fühlten sich Mitglieder durch den Druck ihrer Dienststellen in Westberlin zum Austritt genötigt. 31 32

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Vgl. den Beitrag von H. Laitko in diesem Band. Vgl. Verordnung zur Entwicklung einer fortschrittlichen demokratischen Kultur des deutschen Volkes und zur weiteren Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Intelligenz vom 16.3.1950, Gesetzblatt der DDR, 1950, Nr. 28, S. 185ff. Deutsche Bauakademie Dezember 1950, Deutsche Akademie der Landwirtschaftswissenschaften Januar 1951. Gesetzblatt der DDR, Nr. 28, 23.3.1950, S. 187: „Die Feier des 250-jährigen Bestehens der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 11.7.1950 ist zu einer Nationalfeier und eindrucksvollen Kundgebung zu gestalten, die die fördernde Stellung der DDR zur Wissenschaft und die enge Verbindung der deutschen Wissenschaft mit dem Volke zum Ausdruck bringt. Die erforderlichen Geldmittel (werden) nach einem besonderen Beschluß der Regierung bereitgestellt." O. Grotewohl: Wissenschaft im Dienst des Friedens und des Lebens, in: Neues Deutschland vom 11.7.1950.

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Die SED-Führung hatte ihre neue Linie bereits während des Akademiejubiläums verkündet: Die Akademie sollte „zentrale und höchste wissenschaftliche Körperschaft unserer Republik"36 werden. Staat und Akademie gehören wie „Organe" zusammen, beschrieb Paul Wandel das Verhältnis von Staat und Wissenschaft.37 Die Akademie muß „für unser Volk eine Quelle des Wohlstandes" werden, forderte Wilhelm Pieck.38 Der „organische" Bestandteil des Staates, die Akademie, sollte jedoch nicht nur Hilfe beim Aufbau der Wirtschaft leisten, sondern die Regierung bei Entscheidungsfindungen beraten. Für letzteres benötigte man die Gelehrtengesellschaft nach wie vor. Für die Steuerung des Forschungspotentials suchte die Administration nach neuen Wegen, da als Haupthemmnis für ein schnelleres Vorwärtskommen das Plenum galt, das „sowohl personell als auch in den Methoden seiner Arbeit" nicht auf der Höhe der Zeit sei. Es tauchte erstmals der Vorschlag auf, die Verantwortung für die wissenschaftliche Tätigkeit der Forschungseinrichtungen an „Gremien" - später Sektionen genannt - zu übertragen, „denen neben den Akademikern weitere fortschrittliche, qualifizierte Wissenschaftler" angehörten.39 Zunächst wurde nach einer Sofortlösung gesucht. In einem am 22. Februar 1951 vorgelegten Statutenentwurf wurde die Akademie künftig als eindeutig duale Einrichtung definiert, „wie bisher als eine Gesellschaft von Gelehrten, darüber hinaus aber auch als eine Organisation für Forschungsunternehmungen".40 Durch Regierungsbeschluß übernahm bereits fünf Tage später der Direktor der Akademie, Josef Naas, einziger SED-Vertreter in einer Leitungsposition, die Leitung der „Organisation der Forschungsunternehmungen".41 Deutlich wurde das weitere Heranrücken der Akademie an den Staat durch ihre direkte Unterstellung unter den Ministerrat der DDR, womit sie faktisch in den Rang eines Fachministeriums aufrückte. Neben dem radikalen Wandel in der Zusammensetzung der Gelehrtengesellschaft hatte es damit bis 1951 zwei weitere grundlegende Veränderungen an der Akademie gegeben - in der Struktur und in der Leitungspyramide. Nun konnte auch die Wahl eines neuen Präsidenten erfolgen. Am 19. April 1951 wurde der Physiker Walter Friedrich (OM 1949) zum Nachfolger von Johannes Stroux gewählt.42 Danach wurden die Anstrengungen, die Akademieforschung in die Wirtschaftsplanung einzubeziehen oder Teile des Forschungspotentials aus der DAW wieder herauszulösen, immer stärker.43 Die Meinungsverschiedenheiten zwischen der Akademieleitung und dem Zentralamt für Forschung und Technik (ZFT) bei 36 37

II. Roloff. Aufgaben und Ziele, in: Nacht-Express vom 10.7.1950. P. Wandel: Ansprache des Ministers für Volksbildung und damaligen Dienstherren der DAW zum Akademiejubiläum 1950, in: Jahrbuch der DAW (im folgenden: JB), 1950-1951, S. 58. 38 W. Pieck Ansprache des Präsidenten der DDR zum Akademiejubiläum 1950, in: JB, 1950-1951, S. 58. 39 W. Lange: Stellungnahme des Zentralamtes für Forschung und Technik zur Akademiefrage vom 19.3.1951, SAPMOIV2/ 9.04/ 372/ BL 5 - 8 . 40 J. Naas: Bericht über die Arbeit der Akademie in den Jahren 1950 - 1951, JB, 1950 - 1951, S. 71. 41 Vgl. Beschluß des Ministeriums für Volksbildung vom 27.2.1951, JB , 1950 - 1951, S. 71. 42 An der geheimen Wahl beteiligten sich 35 Mitglieder; auf Walter Friedrich entfielen 27 Stimmen; Vgl. Protokoll der Plenumssitzung vom 19.4.1951, BBAA, P 1/1. Walter Friedrich hatte 1911 bei Wilhelm Conrad Röntgen promoviert, dann an verschiedenen physikalischen und medizinischen Instituten gewirkt und war 1922 als Ordinarius für medizinische Physik an die Universität berufen worden. 1943 wurde sein Institut nach Niedersachsen ausgelagert. 1947 ging er an die Universität zurück und wurde zugleich Direktor des Instituts für Medizin und Biologie der Akademie in Berlin-Buch. Von 1949 1951 war er Rektor der Humboldt-Universität. Ab 1949 gehörte er der Volkskammer der DDR an und 1950 erfolgte seine Wahl zum Präsidenten des Deutschen Friedensrates. Vgl. Walter Friedrich. Leben und Wirken, Friedensrat der DDR (Hg.), Berlin (Ost) 1963. 43 Vgl. BAP, R-2 1895, Bl. 5fF.

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der staatlichen Plankommission eskalierten so, daß Ende 1951 Ministerpräsident Grotewohl schlichten mußte. Zwar konnte sich die Akademieforschung den Planungsmechanismen nicht vollständig entziehen, aber der Hinweis des neuen Akademiepräsidenten auf die Sowjetunion, in der „die Planung der Ministerien durch ein Veto der Akademie beeinflußt werden kann", verhinderten zumindest weitere Ausgliederungen.44 Den Einfluß der SEDFührung auf die Akademieentwicklung macht auch die vom Zentralkomitee 1951 erhobene Forderung deutlich, „daß an der Deutschen Akademie der Wissenschaften den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern jetzt größere Aufmerksamkeit zugewendet werden soll. Es hält es für zweckmäßig, daß bei der Akademie neue Kommissionen und Institute für Geschichte, Philosophie, deutsche Sprache und Literatur, Rechts- und Staatslehre sowie Wirtschaftswissenschaften ins Leben gerufen werden."45 Mit der Proklamation des Aufbaus des Sozialismus in der DDR im Sommer 1952 begann eine tiefgreifende Neuprofilierung der DAW. Der Akademie, die in ihrer „ideologischen Entwicklung beachtlich hinter der Gesamtentwicklung der Republik im allgemeinen und auch gegenüber der der anderen wissenschaftlichen Einrichtungen (Hochschulen, wissenschaftliche Institute ausserhalb der DAW)"46 zurückgeblieben war, wurde nun die Frage gestellt, welchen Beitrag sie zum Aufbau des Sozialismus in der DDR leisten wolle. Bereits im Mai waren in einem vertraulichen Aktenvermerk vom 28. Mai 1952 über ein Gespräch mit Vertretern der Abteilung Propaganda des ZK der SED und „leitenden Genossen" an der Akademie „Schwerpunkte im Hinblick auf die Führung des ideologischen Kampfes in der Akademie, der etwa im Herbst beginnen soll(te), festgelegt" worden.47 Im Oktober setzte das Politbüro der SED eine „ZK-Kommission zur Überprüfung und Reorganisation der Akademie" ein, der nur ein Akademiemitglied, der 1951 zugewählte Philologe und Ethnograph Wolfgang Steinitz (KPD-Mitglied seit 1927), angehörte.48 Zielstellung war die „Vorbereitung eines Beschlusses des Politbüros über die Aufgaben der Deutschen Akademie beim Aufbau des Sozialismus (und die) Ausarbeitung einer Vorlage über die Zuwahl neuer Akademie-Mitglieder."49 Beides lag zum Jahreswechsel 1952/53 vor und nachdem die SED-Führung ihre Vorstellungen der Akademieleitung dargelegt hatte50, durften die Akademiemitglieder auf einer mehrfach verschobenen Sondersitzung Ende Januar 1953 über den „Beitrag der DAW zum Aufbau des Sozialismus" beraten. Einen Monat später erfolgten Zuwahlen. Der Politbürobeschluß hielt an der Weiterfuhrung der „Bündnispolitik" mit den „bürgerlichen Wissenschaftlern" fest und ließ den gesamtdeutschen Charakter der Einrichtung unangetastet. Allerdings hatte die Akademie alle wei44

45 46 47 48 49 50

Vgl. Besprechung des Ministerpräsidenten vom 28.11.1952 mit der Akademiespitze und Vertretern des ZFT, in: M. Heinemann: Dokumentenband der Konferenz „Hochschul- und Wissenschaftspolitik der SMAD", Gosen 1992, Bl. 201-210. Entschließung der 7. Tagung des ZK der SED vom 18. bis 20.10.1951, in: Neues Deutschland vom 15.11.1951. Beschluß des Politbüros über Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeit der Deutschen Akademie der Wissenschaften vom Januar 1953, SAPMO IV2/ 9.04/ 372/ Bl. 41. SAPMO IV2/ 9.04/ 377/ Bl. 2. Vgl. BBAA, NL W. Steinitz, Nr. 71. Vgl. Protokoll der Sitzung des Sekretariats des Politbüros der SED vom 9.10.1952, SAPMO J IV2/ 3/ 330. Vgl. Protokoll der Sondersitzung, BBAA-Bibliothek; Protokoll der Vorabsprache, SAPMO IV2/ 9.04/ 369/Bl. 41 ff

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tere „wissenschaftliche Tätigkeit auf die Unterstützung des Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus in der DDR (zu) orientieren", wenn sie ihre Stellung im Wissenschaftsgefuge der DDR behalten wollte.51 Personelle und inhaltliche Vorgaben waren hier ebenso selbstverständlich, wie Festlegungen zum Aufbau von Organisationsstrukturen der SED an der Akademie. Die Akademiemitglieder akzeptierten in dieser Hochphase des Stalinismus im wesentlichen die Vorgaben der SED. Beim Nachdenken über den Beitrag der Akademie zum künftigen Aufbau des Sozialismus wollten einige Akademiemitglieder auch prüfen lassen, „ob Marx und Engels posthum zu ordentlichen Mitgliedern der Akademie ernannt werden könnten"52 Entscheidend waren aber nicht solche kuriosen Vorschläge, sondern daß die DAW-Führung und das Plenum der Mitglieder die Umorientierung in eine dominant naturwissenschaftliche Einrichtung billigten. Neben dem üblichen loyalen Verhalten der Wissenschaftler gegenüber staatlichen Wünschen und der Einsicht, daß die ursprüngliche Parität von Natur- und Geisteswissenschaften nicht mehr der objektiven Entwicklung der Wissenschaft entsprach, dürfte für den Kurswechsel vor allem der Druck jener Wissenschaftler verantwortlich gewesen sein, die man mit ihren Instituten der Akademie zugeordnet hatte, jedoch keinen Zugang zur Gelehrtengesellschaft fanden. Da diese meist keine Institutionen der Grundlagenforschung gewesen waren, hatten sie kaum Ressentiments gegenüber der Zweckforschung und finanzierten sich teilweise aus Forschungsmitteln des ZFT. 1951 betrug der Umfang dieser Fremdfinanzierung 2.750.000 DM-Ost und machte in einigen Instituten bis zur Hälfte der Forschungsmittel aus.53 Das Zweckbündnis zwischen der SED-Führung, in der vor allem Walter Ulbricht auf den zeitgemäßen Glauben an die generelle Problemlösungsfähigkeit der Wissenschaft setzte, und Naturwissenschaftlern, die diese Hoffnung nährten und mit Memoranden u.ä.m. ihre Fachgebiete in den Vordergrund rückten, leitete 1952/53 eine neue Etappe der Akademieentwicklung ein.

Die ersten Versuche zur Integration der Akademieforschung in das Sozialismuskonzept der SED - personeller und struktureller Wandel (1953-1957) „Einen tiefen Wandel im Leben der Akademie" prognostizierten die Mitglieder des Plenums bei ihrem Beschluß, „dass die Akademie die Beteiligung am Aufbau des Sozialismus fest in die eigenen Hände nehmen und die Aufgaben so wählen soll, dass einige vor der DDR stehende Hauptaufgaben durch die Wissenschaft und insbesondere durch die Akademie erledigt werden".54 Der Wandel vollzog sich auf der personellen Ebene, die zunächst betrachtet werden soll, aber noch wesentlich rasanter auf der strukturellen. Nach dem Politbürobeschluß folgten im Februar 1953 Zuwahlen zur Akademie. Auf der Kandidatenliste, die das Politbüro der SED bestätigte, standen 30 Gelehrte, von denen 51 52 53 54

Vgl. SAPMOIV2/ 9.04/ 372/ Bl. 37-18. Beschluß der Sitzung des Präsidiums der DAW vom 27.11.1952, Punkt 3, BBAA, NL W. Steinte, Nr. 70. SAPMO IV 2/9.04/372, Bl. 19 (Josef Naas). Plenumssitzung vom 13.11.1952, BBAA, P 1/2, S. 78.

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dann 28 auch tatsächlich gewählt wurden. Als politische Bedingung für die Mitgliedschaft in der DAW genügte weiterhin politisch „loyales Verhalten" - letzteres klassifizierte der SED-Apparat nach fünf Kategorien: fortschrittlich - sympathisierend; loyal - sympathisierend; unbedingt loyal, sehr kritisch - aber loyal; vollkommen impolitisch loyal.55 Auch wenn gerade zwei SED-Mitgliedern die Zuwahl in die Akademie verweigert wurde, war nach dieser Wahl die Position der SED unter den Akademiemitgliedern deutlich gestärkt. Besaßen bis dahin sechs das SED-Parteibuch, kamen nun weitere 10 Parteimitglieder hinzu.56 Ihre Wirkung sollte aber nicht überschätzt werden. Zwar hatte sich nun der Anteil der SED-Mitglieder bei den etwa zwei Dritteln der Ordentlichen Mitglieder, die sich am Akademieleben beteiligten, auf 22 % erhöht, doch war davon nach Einschätzung der SEDFührung nur knapp die Hälfte auch wirklich politisch „aktiv". Zudem erwiesen sich viele der SED-Wissenschaftler als schwierig und weniger erpreßbar als so mancher „bürgerliche" Wissenschaftler. Sie nutzten ihre Karrierechance, ließen sich jedoch vom Parteiapparat nicht disziplinieren, bekämpften sich teilweise gegenseitig. Die Verteilung der Forschungsmittel erfolgte ohnehin nicht nach dem Parteibuch, sondern war disziplinar bestimmt. Auch war ihr Verhältnis zu den bürgerlichen Wissenschaftlern sehr unterschiedlich und viele scheinen weit stärker an eine Integration in die bürgerliche Akademieelite interessiert gewesen zu sein als an deren Austausch. An dieser Situation änderten die Zuwahlen in den Folgejahren wenig. Von den 42 zugewählten Ordentlichen Mitgliedern zwischen 1954 und 1957 besaßen sieben ein SED-Parteibuch. Strukturell viel entscheidender war, daß 74 % aller nach 1949 zugewählten Ordentlichen Mitglieder die Natur- und Technikwissenschaften vertraten und daß lediglich ein Wissenschaftler aus dem Westen stammte. Eine ähnliche Differenzierung ergibt sich bei den Wissenschaftlern der Forschungseinrichtungen. 1957 arbeiteten 66 % der 1044 Wissenschaftler in 30 naturwissenschaftlichen Instituten und beanspruchten 68 % der Gesamtetats. Das verbleibende Drittel mußten sich die Geisteswissenschaftler mit der finanzaufwendigen Gelehrtengesellschaft, einer riesigen Verwaltung, mehreren Verlagen u.ä. teilen. 57 Diese Proportionen entsprachen durchaus internationalen Entwicklungen, lassen sich auch für Westdeutschland feststellen - allerdings nicht für eine einzelne Institution. Bei den wissenschaftlichen Mitarbeitern bewertete der ZK-Apparat seine Einflußmöglichkeiten noch geringer als bei den Akademiemitgliedern. Zwar waren 1956 von den 1050 Wissenschaftlern bereits etwa 17 % Mitglieder der SED und 1957 läßt sich bei 1145 Wissenschaftlern eine Steigerung auf 21 % feststellen, doch standen wenigen Hochburgen in den Geisteswissenschaften das politisch weitgehend „unorganisierte" Gros in den anderen Einrichtungen gegenüber. Außerdem dominierte nach wie vor die wissenschaftliche Autorität der meist parteilosen Institutsdirektoren gegenüber Einmischungsversuchen der kleinen Parteigruppen.58 Daran änderte auch ein zentraler Parteiorganisator wenig, den das ZK 1953 eigens für die DAW eingesetzt hatte.59 Die Parteistrukturen an der DAW blieben zunächst schwach entwickelt, doch stärkte die SED ihren Einfluß in den administrativen 55 56 57 58 59

Vgl. SAPMOIV2/ 9.04/ 372/ Bl. 52. Ebenda, Bl. 51 SAPMO IV2/ 9.04/ 372/ Bl. 117. Vgl. Bericht der Abt. Wissenschaften beim ZK, SAPMO IV2/ 9.04/ 372, Bl. 146ff Erster Parteiorganisator war Manfred Naumann (OM 1978, Literaturwissenschaften), Vgl. M. Naumann, in: Erinnerungen und Erlebnisse verdienstvoller Mitglieder der SED, Berlin (Ost) 1987, S. 21-29; Statistische Angaben aus: SAPMO IV2/ 9.04/ 380/ Bl. 334.

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Entscheidungsebenen. So wuchs ihr Stimmenanteil im Präsidium und vor allem in der mächtigen Akademiezentrale. Dort kontrollierte sie mit dem Akademiedirektor bereits seit 1946 die wichtigste Position. Dies änderte sich auch nicht, als dieser im Frühjahr 1953 abgelöst60 und durch Hans Wittbrodt ersetzt wurde. Der hatte zudem bereits 1950/51 als Vertreter des ZFT vehement für eine Umorientierung der DAW gestritten. Die strukturellen Änderungen schrieb ein neues Statut von 1954 fest. Die Trennung von Gelehrtengesellschaft und Forschungseinrichtungen blieb zwar bestehen, jedoch wurde die Alleinherrschaft des Akademiedirektors wieder aufgehoben. Die Gesamtleitung der Akademie sollte konsequent vom Präsidium ausgehen. Eine Änderung der Forschungsschwerpunkte versuchte die SED-Führung durch „Empfehlungen zur weiteren Verbesserung der Arbeit der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin" zu erreichen, die der Ministerrat am 18. Mai 1955 verkündete. Wirkliche Veränderungen bewirkten diese Empfehlungen indes nicht. Es waren die aus der UdSSR zurückgekehrte Spezialisten, an erster Stelle der neue Akademiepräsident Max Volmer61 und Peter Adolf Thiessen62, die Ende 1956/Anfang 1957 die Forschungsorganisation der DAW generell in Frage stellten.63 Es ging um effizientere Forschungsstrukturen für die Natur- und Technikwissenschaften: „Die Industrie muß endlich und rasch von der Forschung das bekommen, was sie gebraucht. Die Forschung muß endlich und rasch von der Industrie das bekommen, was sie braucht."64 Damit warb Thiessen bei der SED-Führung für den Aufbau einer eigenständigen Forschungsorganisation. Ende 1956 fühlten sich die einflußreichen Naturwissenschaftler an der Akademie so gestärkt, daß sie vorschlugen, den „Umweg über die Akademie" zum Aufbau ihrer Forschungseinrichtungen zu beenden und eine „Leibniz-Gesellschaft zur Förderung von Naturwissenschaft und Technik" zu gründen. Sie sollte „ähnlich wie die frühere Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft oder MaxPlanck-Gesellschaft in der Bundesrepublik aufgebaut werden" und selbständig neben der traditionellen Wissenschaftsakademie existieren.65 Im Parteiapparat fand man sofort Unterstützung, denn die neu zu schaffenden Strukturen ließen mehr Mitsprachemöglichkeiten erwarten und sollten es ermöglichen, den Einfluß der westdeutschen Akademiemitglieder auf die Forschungsaktivitäten der Akademie weitgehend auszuschalten.66 Die SED-Führung bestimmte nun gemeinsam mit einigen 60 61

62 63 64 65

66

SAPMOIV2/ 9.04/ 373/ Bl. 97f. Max Volmer, Physikalische Chemie, Präsident 1955 bis 1958. Der 70-jährige Wissenschaftler war parteilos und genoß großes Ansehen. 1934 war er zum Ordentlichen Mitglied der damaligen Preußischen Akademie gewählt worden, jedoch hatte die NS-Regierung seine Wahl nicht bestätigt, dies erfolgte erst rückwirkend nach Kriegsende. M. Volmer arbeitete von 1945 bis 1955 in der Sowjetunion. Das Plenum der Mitglieder wählte ihn am 8.12.1955 mit 71 von 79 möglichen Stimmen zum neuen Präsidenten. Peter Adolf Thiessen (OM 1939, Ausschluß 1945, Wiederaufnahme 1956), Physikalische Chemie, Vorsitzender des Forschungsrates der DDR 1957 bis 1965. SAPMO IV2/ 9.04/ 370/ Bl. 42, 5lf. Vgl. W. Freund: Bericht über ein Gespräch mit P. A. Thiessen am 17.1.1957 an Wissenschaftsabteilung ZK, Parteiorganisator DAW und H. Wittbrodt, SAPMO IV2/ 9.04/412/ Bl. 51f. H. Wittbrodt vertraulich an die Abteilung Wissenschaften des ZK des SED Anfang Dezember 1956: Gedanken zur weiteren Entwicklung der naturwissenschaftlich-technischen Institute der Deutschen Akademie der Wissenschaften, SAPMO 1V2/ 9.04/ 372/ Bl. 118-120. Der vertrauliche Bericht befindet sich auch im Nachlaß von R. Rompe. Beraten wurden die Vorschläge auf der Klassensitzung vom 15.11.1956. In der DAW waren die Institute den Klassen unterstellt - damit auch den westdeutschen Mitgliedern.

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Naturwissenschaftlern die weitere Entwicklung. Die Sorge von Präsidiumsmitgliedern, das Vorhaben sei ein „erster Schritt zur Auflösung der DAW hinsichtlich ihres traditionellen Charakters", verhinderten eine völlige Abspaltung von der Akademie.67 Realisiert wurde schließlich mit der Gründung der „Forschungsgemeinschaft der naturwissenschaftlichen, technischen und medizinischen Institute der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin" (FG) im Mai 1957 eine Hybridlösung: ein faktisch selbständiger Forschungsverbund von anfangs 39 Instituten entstand unter dem Dach der Akademie.68 Nahezu gleichzeitig beschloß der Ministerrat einen eigenen „Beirat für naturwissenschaftlich-technische Forschung und Entwicklung („Forschungsrat der DDR")" zu bilden, der „sich zur Durchführung bestimmter Aufgaben ... der wissenschaftlichen Akademien ... bedienen (kann)." Der Physiko-Chemiker Peter Adolf Thiessen69 wurde im Herbst 1956 zum Vorsitzenden des Gremiums ernannt. Die weitgehende Aufhebung der wissenschaftspolitischen und organisatorischen Sonderstellung der Akademie war damit durch die SED-Führung signalisiert70, zumal die ZK-Abteilung Wissenschaften explizit empfohlen hatte, „den Forschungsrat über die Akademie (zu) stellen".71

Die eigenständige Forschungsgemeinschaft und die Restakademie (1958-1961) Was sollte nach der Gründung der Forschungsgemeinschaft mit der „Restakademie", also der Gelehrtengemeinschaft und der geisteswissenschaftlichen Forschung, geschehen? In den Geisteswissenschaften wollte der ZK-Apparat nun „allmählich Ordnung" schaffen. Ebenfalls eine Forschungsgemeinschaft zu bilden, schien logisch, aber nicht realisierbar. „Es fehlen soz. Kader für ein leitendes Gremium", es mangelt an „der Parteilichkeit und der politisch-ideologischen Klarheit", die bei den Naturwissenschaften der Arbeitsgegenstand nicht so erforderlich gemacht habe, und schließlich war man sich nicht sicher, ob die „Wissenschaftler überhaupt mitmachen"72, da bei den Geisteswissenschaften die Zuordnung der Forschungseinrichtungen zu den Klassen durchaus die Zustimmung der Wissenschaftler gefunden hatte. Außerdem war in den geisteswissenschaftlichen Klassen der An67 68 69

70

71 72

Vgl. BBAA, Präsidiumssitzung vom 2. und 9.5.1957. Bereits ein Jahr später gehörten 54 Institute zur Forschungsgemeinschaft. Vgl. zur Entwicklung: Tätigkeitsberichte der Forschungsgemeinschaft 1957-1961. P. A. Thiessen bekleidete das Amt von 1956 - 1965. Sein Nachfolger bis 1978 wurde der Physiker M. Steenbeck. Steenbeck wirkte bis zum Tod 1982 weiter als Ehrenvorsitzender. De facto übernahm dann der Minister für Wissenschaft und Technik, H. Weiz, den Vorsitz, da kein Wissenschaftler mehr berufen wurde. Spätestens nach der Gründung dieses Ministeriums 1967, das über mehrere Zwischenstationen aus dem ZFT hervorging, kehrten sich ohnehin die Kompetenzen um - der Forschungsrat unterstand dann der staatlichen Administration. Gründungsbeschluß des Ministerrates vom 6.6.1957 und Liste der Mitglieder des Forschungsrates veröffentlicht in: Neue Wege der wissenschaftlich-technischen Forschung, Wissenschaft und Fortschritt, Berlin (Ost) 1967, S. 7, 60f; Vgl. auch Protokoll der Arbeitstagung am 19.9.1957, BBAA, NL R. Rompe, Nr. 1. R. Model: Über die Lage und über offene Fragen im Bereich der DAW einschließlich der Forschungsgemeinschaft vom 27.12.1957, SAPMO IV2/ 9.04/ 372/ Bl. 158. Ebenda, Bl. 141f.

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teil der aktiven „Westmitglieder" noch besonders groß. Er lag z.B. in der Klasse für Sprachen, Literatur und Kunst bei 50 %. Mehr als fünf Jahre dauerte es schließlich noch, bis auch hier „Ordnung" geschafft war. Bei der Gelehrtengemeinschaft mit den Akademiegremien Plenum und Klassen dachte die SED-Führung pragmatisch. Sie sollten als „gesamtdeutsche Gelehrtenversammlung" erhalten bleiben, denn wissenschaftlich „springt aus einer gesamtdeutschen Versammlung ... mehr heraus", und man könne dies auch für die „Sache des Friedens und des Fortschritts ausnutzen".73 Allerdings war ein geeigneter Mann an der Spitze der Akademie notwendig. Die 1958 anstehenden Präsidentenwahlen boten dazu die Möglichkeit. Die Bedingung der SEDFührung für den Kandidaten waren: „Angehöriger der Geisteswissenschaften" und „Wohnsitz in Ostberlin".74 Vorgeschlagen wurde mit dem 1955 für die Gebiete klassische Philologie, alte Geschichte und Archäologie zugewählten Rektor der Humboldt-Universität, Werner Hartke75, erstmals ein SED-Mitglied. Seine Wahl konnte 1958 nur mit großer Mühe in einem turbulenten Wahlgang durchgesetzt werden. Besonders die auf die Person Hartkes zugeschnittenen Vorgaben erregten den Unwillen der am Wahltag anwesenden west- und ostdeutschen Akademiemitglieder.76 Gleichwohl war die Wahl der entscheidende Erfolg für die SED. Der neue Akademiepräsident, der die Wirkungsmechanismen des ZK-Apparates aus der Universitätszeit kannte, suchte und brauchte die Unterstützung der SED-Führung und er forderte den Ausbau der Parteiorganisation an der DAW. Gründe für die enge Zusammenarbeit lagen in der Dominanz der sich rasant entwickelnden Forschungsgemeinschaft (Verdoppelung der Institute und der Wissenschaftler bis 1961 und Verdreifachung der Investitionen im gleichen Zeitraum), die zwar alle Einrichtungen der Akademie nutzte, deren Vorstand sich vom Akademiepräsidenten keine Vorschriften machen ließ. Dies hatte sich häufende Kompetenzstreitigkeiten zur Folge. Das gemeinsame Dach einer Akademie konnte erneut in Frage gestellt werden. Schwierigkeiten gab es für den Akademiepräsidenten ebenfalls beim Aufbau der geisteswissenschaftlichen Institutsgemeinschaft, da hier die Akademiemitglieder zurückhaltend reagierten. Für Werner Hartke qualifizierte sich so die 1960 gegründete zentrale Parteileitung der Akademie zu einem wichtigen Instrument, um überhaupt agieren zu können. Mit dem Mauerbau wurden weitere Probleme für die Akademieleitung akut so waren Entscheidungen zu treffen, wie und ob die Westberliner Mitarbeiter weiterbeschäftigt werden sollten, wie mit dem Mitglied Ernst Bloch umzugehen war, der der DDR demonstrativ den Rücken gekehrt hatte77, und schließlich stellte sich auch die Frage der

73 74 75

Ebenda, Bl. 158. Vgl. SAPMOIV2/ 9.04/ 367 und 370/ Bl. 13-16. Werner Hartke (Akademiepräsident 1958 bis 1968) hatte von 1925 bis 1932 in Berlin klassische Philologie und Archäologie studiert und 1932 in Berlin promoviert. Seine weiteren Stationen waren die Universitäten Königsberg, nach Kriegsende Göttingen, ab 1948 Rostock und seit 1955 Berlin (HUB). An letzterer hatte er 1955 das Dekanat der Philosophischen Fakultät und 1957 das Rektorat übernommen. 1955 war er zum Ordentlichen Mitglied der Akademie gewählt worden und hatte zugleich die Leitung des Instituts für Griechisch-Römische Altertumskunde der Akademie übertragen bekommen.. 76 W. Hartke erhielt nur 36 von 67 abgegebenen Stimmen. Wegen der vorgegebenen Einschränkungen sei „nicht gewählt, sondern abgestimmt worden"; Vgl. Bericht über Sitzung des Plenums der DAW am 23.10.1958, SAPMO IV2/ 9.04/ 370/ Bl. 15f. 77 Vgl. A. S. Emst, G. Klinger. Ein würdeloser Akademiker? Ernst Bloch und die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Manuskript.

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Existenzberechtigung dieser Akademie, war doch eine gesamtdeutsche Wissenschaftseinrichtung für die DDR eigentlich nicht mehr nötig.

Die Entscheidung über die endgültige Stellung der Akademie im Wissenschaftsgefuge der DDR Hauptkennzeichen der Akademieentwicklung in den 1950er Jahren war die Umwandlung in eine naturwissenschaftlich-technisch geprägte Forschungseinrichtung, in der weiterhin die Grundlagenforschung dominierte. Die de facto Loslösung dieses Forschungspotentials von der Gelehrtengesellschaft und letztlich auch von der Akademie bedeutete eine Rückkehr zu einer Organisation der Forschung, wie sie sich nach der Gründimg der KWG in Deutschland bewährt und wie sie sich in Westdeutschland durchgesetzt hatte. Die Besonderheit des gesamtdeutschen Charakters der DAW blieb erhalten und sicherte nicht unwesentlich ihren Fortbestand. Die in den westlichen Teilen Deutschlands lebenden Mitglieder (knapp ein Drittel) hielten nach der Austrittswelle zu Beginn der 1950er Jahre an ihrer Mitgliedschaft fest. Dort hatte man nun weniger „Sorge vor Infektionsgefahren"78, und mit der Feier zum 100. Geburtstag von Max Planck wurde 1958 eine erste große „gesamte Nationalfeier"79, wie Max von Laue sie nannte, zelebriert. Für die ostdeutschen Wissenschaftler war der besondere Akademiestatus sehr hilfreich, die Verbindung zur internationalen Community zu knüpfen. Selbst als man bei der angestrebten Verflechtung der Akademieforschung mit der ostdeutschen Wirtschaft ein theoretisches Mitspracherecht der westlichen Mitglieder befürchtete, wurde ein Lösungsweg gewählt, der den gesamtdeutschen Akademiecharakter erhielt. Erst nach dem Bau der Berliner Mauer wurde die „Zweigleisigkeit"80 in der Arbeit der Akademie, die durch ihren gesamtdeutschen Charakter und durch ihre Funktion in der DDR gegeben war, im Sommer 1962 durch die Feststellung beendet: „Die Deutsche Akademie der Wissenschaften ist in eine sozialistische Akademie umzugestalten."81 Der Mauerbau hat den Mut zu einer radikaleren Umgestaltung der DAW noch auf andere Weise befordert. Mit ihm entfiel das Problem der „Republikflucht", denn der westdeutsche Arbeitsmarkt war nun abgeschnitten - zwischen 1955 und 1961 hatte die Akademie auf diese Weise etwa 12 - 15 % ihres wissenschaftlichen Potentials verloren, insgesamt lag der jährliche „Akademikerschwund" zwischen 1,5 bis 3 %.82

78 79 80 81 82

E. Lemmer. Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen (1957-1962), in: Süddeutsche Zeitung vom 20.2.1958, S. 3. D. Hoffinann: Wider die geistige Trennung. Die Max-Planck-Feier(n) in Berlin 1958, in: Deutschland Archiv, 29, 1996, H. 4, S. 525-534. SAPMO IV2/ 9.04/ 372/ Bl. 158. Vgl. Vorlage für das Politbüro des ZK der SED, SAPMO IV2/ 9.04/ 372/ Bl. 416—183. 1,6 % (1955), 1,4 % (1956), 1,5 % (1957), 3 % (1958), 2 - 3 % 1959 und 1960. Vor allem die Humanmedizin und die Naturwissenschaften waren betroffen; Vgl. SAPMO IV2/ 9.04/ 370/ Bl. 52, 384, 111, 210, 247.

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Die Vorstellungen zu einer weiteren Umgestaltung der Akademie waren Anfang 1962 teilweise sehr radikal und reichten „bis zu deren Auflösung"83.. Auch im Parteiapparat wurde die Meinung geäußert, daß es „am zweckmäßigsten wäre, zu der Akademie in der ursprünglichen Form einer Gelehrtenvereinigung ... zurückzukehren und alle naturwissenschaftlich-medizinischen Institute gesondert zu leiten (als Forschungsgemeinschaft, wie die frühere Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und jetzige Max-Planck-Gesellschaft in Westdeutschland). Diese Forschungsgemeinschaft könnte organisatorisch selbständig sein, aber direkt vom Forschungsrat angeleitet werden. Doch ist dieser Schritt, der logisch richtig wäre, wohl im Augenblick nicht zu realisieren."84 Hier wird ein Dilemma der DDR deutlich: „Um den Charakter der Akademie zu wahren, der sich in den sozialistischen Ländern herausgebildet hat", war nicht nur das Herauslösen der Forschungsgemeinschaft aus der Akademie unmöglich, sondern es mußte „eine Form gefunden werden, die dem Präsidenten bzw. dem Präsidium ... die Vertretung der Gesamtinteressen ... in den Forschungsgemeinschaften ermöglicht".85 Das bedeutete endgültig, sich den sowjetischen Strukturen der Forschungsorganisation anzupassen und eine erneute Reorganisation der Akademie vorzunehmen. Ein zweiter Grund für das Festhalten an der Akademie lag nach wie vor in ihrer gesamtdeutschen Funktion. Zwar hatte der SED-Apparat beschlossen, ihren gesamtdeutschen Charakter zu beseitigen, da „eine 'Einheit der deutschen Wissenschaft' bei der Existenz zweier diametral entgegengesetzter deutscher Staaten nicht möglich ist und nicht praktiziert werden kann"86, doch war die generelle Orientierung: Keine radikalen Änderungen, da noch immer ein Drittel der Ordentlichen Mitglieder aus Westdeutschland oder Westberlin kam, aber alles abbauen, was uns nicht nützt und wo dies ohne großes Aufsehen geht und dabei so vorgehen, „daß die Gegenseite sagt, wir machen nicht mehr mit".87 Insbesondere Walter Ulbricht mahnte, nicht übereilig zu handeln: „Die DAW kann für uns noch einmal von grosser Bedeutung für die gesamtdeutschen Beziehungen werden. Man soll dies immer im Auge behalten." Er beließ es nicht bei Worten - den Statutenentwurf der Akademie von 1962, der die Umwandlung des Status' der Ordentlichen „West-Mitglieder" in Korrespondierende Mitglieder vorsah, wies er zurück.88 Der dritte Grund für den weiteren Ausbau der Akademie lag darin, daß trotz aller Unzulänglichkeiten, die die SED-Führung an dieser Form der Forschungsorganisation bemängelte, durch sie eine zentrale Steuerung wichtiger Teile des Forschungspotentials der DDR 83

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Vgl. Konzeption der ZK-Abteilung Wissenschaften für die Aussprache mit leitenden Genossen der DAW vom 13.2.1962, SAPMO IV2/ 9.04/ 370/ Bl. 135f; W. Hartke: Beratung bei K. Hager am 22.6.1962, SAPMOIV2/ 9.04/ 372/ Bl. 400. Bemerkungen zur Beschlußvorlage (für das Politbüro) über die Rolle, Aufgaben und die weitere Entwicklung der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ohne Namensangabe in den Unterlagen der ZK-Abteilung Wissenschaften vom Sommer 1962, SAPMO IV2/ 9.04/ 372/ Bl. 414f. Vgl. Konzeption der ZK-Abteilung Wissenschaften für die Aussprache mit leitenden Genossen der DAW vom 13.2.1962, SAPMO IV2/9.04/370/Bl. 136. Ebenda, Bl. 131. Vgl. K. Hager: 22.6.1962, SAPMO IV2/ 9.04/ 372/ Bl. 397. Vgl. Organisation und Leitungsformen der akademischen wissenschaftlichen Arbeit: „Ordentliche Mitglieder der Akademie können nur Bürger der DDR sein"; W. Steinitz, Bemerkungen zu den Dokumenten über die DAW vom Dezember 1962, beides BBAA, NL W. Steinitz, Nr. 63. Die Rolle von W. Ulbricht schilderte W. Steinitz in einem Brief an den Generalsekretär der Akademie, G. Rienäcker, vom 6.4.1966, BBAA, NL W. Steinitz, Nr. 37.

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Forschungsakademie "

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möglich erschien. In der Forschungsgemeinschaft waren seit deren Gründung der Vorsitzende, die Mehrheit der Vorstandsmitglieder und nahezu alle wissenschaftlichen Mitarbeiter der Leitung Mitglieder der SED, womit direkte Einflußmöglichkeiten der SED gegeben waren. Nach der Neuwahl der gesamten Akademieleitung zwischen 1957 und 1959 war nicht nur das Präsidentenamt durch ein SED-Mitglied besetzt, gleichfalls wurde das Präsidium mehrheitlich (54 %) durch Parteigänger der SED repräsentiert. Selbst im problematischen Bereich der geisteswissenschaftlichen Klassen gelang es bis 1961, in beiden Sekretare mit SED-Parteibuch wählen zu lassen. Lediglich der Anteil der SED-Mitglieder unter den Wissenschaftlern stagnierte bei 21 % und lag damit vergleichsweise bei etwa der Hälfte des Anteils im Hochschulbereich und bei staatlichen Wissenschaftsinstitutionen. Der wohl wichtigste Erfolg aus SED-Sicht war, daß ab 1960 mit der Gründung einer Parteileitung für die gesamte Akademie die Parteistrukturen endgültig etabliert und allmählich keine zentralen Entscheidungen an der Akademie ohne deren Zustimmung getroffen wurden. Den erreichten Stand wollte die SED-Führung zwar weiter ausbauen, doch dadurch nicht die prinzipiell neue Organisationsform der außeruniversitären Forschimg in der DDR gefährden. Dies allein schon deswegen, weil zu Beginn der 1960er Jahre der Glaube an die generelle Problemlösungsfähigkeit der Wissenschaft bei der SED-Führung immer ausgeprägter wurde und die Hoffnung nährte, dadurch im Systemwettbewerb und der konkreten Auseinandersetzung mit der BRD bestehen zu können. 1961 sprach der Akademiepräsident erstmals von der Wissenschaft als „materieller Produktivkraft (und) als ein Hauptmittel der Erziehung der Menschen zum sozialistischen Bewußtsein".89 Noch im selben Jahr beschäftigte sich die erste ZK-Tagung nach dem Bau der Berliner Mauer mit den zukünftigen Richtungen der Forschungspolitik.90 Anfang 1963 beschloß der VI. Parteitag der SED ein neues Parteiprogramm, das erstmals der Wissenschaft einen ganzen Abschnitt widmete. Sie wurde nun neben den drei klassischen Produktivkräften, Arbeit, Boden und Kapital, als „unmittelbare Produktivkraft" betrachtet und sollte bei der Verwirklichung des „Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft" (NÖS) eine entscheidende Rolle übernehmen.91 Diese Entwicklung führte schließlich zum Reformpaket der späten sechziger Jahre (3. Hochschulreform, Akademiereform und Reform der Industrieforschung)92 und bewirkte, daß die Veränderungen in der Akademieentwicklung nun immer stärker außerwissenschaftlichen Einflüssen unterlagen. Äußeres Zeichen hierfür war, daß 1963 nach einem erneuten Beschluß des Politbüros der SED die weitere Reorganisation der Akademie auf den Weg gebracht und dazu ein neues Statut in Kraft gesetzt wurde.

89 90 91 92

W. Hartke: Bericht über die Entwicklung der Akademie, in: JB, 1961, S. 10. Vgl. 14. Tagung des ZK der SED im November 1961. Vgl. Programm der SED, Die Rolle der Wissenschaft bei der umfassenden Verwirklichung des Sozialismus, in: Einheit, 1963, H. 1, S. 44. Vgl. den Beitrag von H. Laitko in diesem Band.

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Der Aufbau einer „sozialistischen Akademie" der Wissenschaften in der DDR (1963-1968) Vergleicht man die SED-Beschlüsse von Anfang 1953 mit denen zehn Jahre später, zeigen sich folgende Veränderungen. Die Einheit der deutschen Wissenschaft wurde nun als nicht mehr existent, sogar als gefährlich bezeichnet. War eine Vertiefung der Zusammenarbeit unmittelbar vor dem Mauerbau noch erwünscht 93 - so der Präsident auf dem Leibniz-Tag im Juli 1961 - galt sie wenig später mit der „Würde der DDR-Gelehrten" als nicht mehr vereinbar94 - so der Vorsitzende der Forschungsgemeinschaft Hermann Klare im Dezember 1961. Die gesamtdeutsche Funktion der Akademie sollte beseitigt werden, indem wissenschaftliche Unternehmungen, in denen Wissenschaftler aus beiden deutschen Staaten zusammenarbeiteten, radikal auf ein Minimum und bei Kontrolle des Akademiepräsidiums begrenzt wurden. Es galt Wege zu finden, das Stimmrecht der „West-Mitglieder" drastisch einzuschränken, ohne daß man spektakuläre Austritte riskierte. Die viel gepriesene „Bündnispolitik" mit den „bürgerlichen Wissenschaftlern" wurde nur noch mit wenigen herausgehobenen Spitzenwissenschaftlern gepflegt. Für die SEDFührung war die Zeit gekommen, der „neuen Intelligenz" Einfluß und Macht zu übertragen. Hinter den Schlagwörtern Kaderfrage, Kaderreserve und Kaderentwicklung im Politbürobeschluß standen als Hauptziele: erstens den Anteil der SED-Mitglieder bei den Wissenschaftlern deutlich zu steigern und zweitens das Durchschnittsalter in allen Leitungsebenen drastisch zu senken. Letzteres radikal „bis in die höchsten Spitzen ... schön wäre es, wenn wir auf ein Durchschnittsalter von 38 Jahren kämen".95 Zehn Jahre nach dem ersten Politbürobeschluß zur Akademie formulierte die SED-Führung nun deren wissenschaftliche Aufgabenstellung wesentlich präziser und legte fest, daß sie künftig stärker von außerhalb der Akademie bestimmt werden müsse. „Die Deutsche Akademie der Wissenschaften ist in eine sozialistische Akademie umzugestalten", bedeutete, sie „in vollem Umfange und auf allen Gebieten ihrer Tätigkeit an der Verwirklichung des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik zu beteiligen und ... in enger Zusammenarbeit mit den sozialistischen Ländern entsprechend der neuen Etappe der Entwicklung des sozialistischen Weltsystems einzubeziehen".96 Dies erforderte eine Schwerpunktbildung der Forschung entsprechend den wirtschaftlichen und erzieherischen (zum sozialistischen Menschen) Notwendigkeiten sowie eine umfassende Sparsamkeit.97 Letzteres insbesondere deswegen, weil die bisherige extensive Entwicklung der Akademie93 94

95 96 97

Vgl.. W. Hartke: Bericht über die Entwicklung der DAW, in: JB, 1961, S. 12. Vgl. H. Klare: Die Würde der DDR-Gelehrten, in: Neus Deutschland vom 23.12.1961: „Von besonderen Ausnahmen abgesehen (kann es) keine wirkliche Arbeitsteilung im Sinne einer wissenschaftlichen Kooperation zwischen Einrichtungen Westdeutschlands und der Deutschen Demokratischen Republik als sozusagen „gesamtdeutsche" Unternehmungen oder in ähnlicher Form geben." K. Hager: Beratung mit W. Hartke u. a. am 22.6.1962, SAPMOIV2/ 9.04/ 372/ Bl. 395f. Vgl. Vorlage für das Politbüro der SED; K. Hager: Beratung mit W. Hartke u. a. am 22.6.1962, SAPMO IV2/ 9.04/ 372/ Bl. 416-483, 319-405. Das war nach dem Mauerbau und dem Scheitern des Siebenjahrplanes sehr ernst gemeint, wie wenig später ein Brief des für die Grundlagenforschung im Forschungsrat zuständigen Max Steenbeck an die Forschungsgemeinschaft zeigte. Vgl. Beschluß Nr. 220/9 zur Konzeption des Forschungsrates über die Rangordnung von Forschungsthemen in der Grundlagenforschung vom 19.9.1962, in: Beschlüsse und Mitteilungen der DAW zu Berlin, 1962, H. 10, S. 75.

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forschung, die zu einer Verneunfachung der Zahl der Wissenschaftler während der 1950er Jahre geführt hatte, nicht fortgeführt werden konnte.98 In der „sozialistischen Akademie" sollten neben einer Gelehrtengemeinschaft zwei eigenständige Institutsgemeinschaften bestehen, die zwar zur Akademie gehörten, aber von Staats- oder Parteigremien geleitet wurden. Die bereits bestehende Forschungsgemeinschaft arbeitete „im Auftrag des Forschungsrates", der die höchste Entscheidungsebene des 1961 gegründeten Staatssekretariats für Forschung und Technik der DDR bildete." Die noch zu gründende zweite Institutsgemeinschaft, die Arbeitsgemeinschaft der gesellschaftswissenschaftlichen Institute und Einrichtungen der Akademie (AG), sollte, wie Kurt Hager betonte, für die Geisteswissenschaften zum „koordinieren(den) und kontrollierenden Zentrum (werden). Die Hauptorientierung wird von der Partei kommen. Im gesellschaftswissenschaftlichen Bereich liegen der Forschungsplanung der Hauptzweige (Geschichte, Philosophie, Staat- und Recht, Literaturwissenschaft) die bestätigten Pläne der Parteiführung zugrunde. Die Altertumswissenschaften müssen die Linie von der DAW erhalten."100 Damit war die nahezu vollständige Kontrolle dieses Forschungspotentials durch die SED beschlossene Sache. Ein sehr kleiner Teil des Forschungspotentials wurde wieder direkt mit der Gelehrtengesellschaft bzw. mit dem Präsidium verknüpft, was unnötige Konflikte mit den westlichen Akademiemitglieder vermeiden sollte.101 Ordentliche „West-Mitglieder" konnten damit im begrenzten Umfang weiterhin in der Akademie tätig werden. Vom Wahlrecht versuchte man sie praktisch auszuschließen, da dies nur noch bei „persönliche(r) Anwesenheit und Teilnahme an den Arbeiten am Sitz der Akademie" ausgeübt werden konnte. Die alte Residenzpflicht für Akademiemitglieder wurde zur Ausgrenzung dieser Gruppe genutzt.102 Wie stark sich die SED Anfang der 1960er Jahre bereits im Leitungsbereich der Akademie verankert fühlte, verdeutlicht das Zustandekommen der Dokumente zum neuen Akademiestatut. Die Diskussion hierzu wurde über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr geführt - nicht wie früher von einer wie auch immer zusammengesetzten akademischen Kommission, sondern zwischen dem ZK-Apparat und wenigen Mitgliedern der Akademieparteileitung. Von den Akademiemitgliedern war nur der Präsident beteiligt - in seiner Eigenschaft als Parteileitungsmitglied.103 Die vom Präsidium am 20. Dezember 98 99

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103

Vgl. Große Aufgaben der Wissenschaftler beim voll entfalteten Aufbau des Sozialismus, in: Spektrum, 1962, H. 3, S. lOlf. Vgl. Beschluß des Ministerrates, Neue Aufgaben für den Forschungsrat, in: Der Morgen vom 15.6.1961. Zur Unterstellung: Der Staatssekretär war zunächst „nur" Sekretär des Forschungsrates und 1. Stellvertreter des Vorsitzenden; Vgl. Tätigkeitsberichte der Forschungsgemeinschaft 1961, S. 45, 61. K. Hager: Beratung mit W. Hartke u. a. am 22.6.1962, SAPMOIV2 /9.04/ 372/ Bl. 403f. 19 % bei den Naturwissenschaften aber immerhin noch 45 % bei den Geisteswissenschaften. Entsprechend dem klassischen Akademiemodell konnten die Mitglieder in Kommissionen „solche wissenschaftlichen Unternehmungen übernehmen, an denen die Akademiemitglieder unmittelbar beteiligt sind, wie Editionen, Wörterbücher, geeignete Arbeiten auf dem Gebiet der Astronomie. Etwa erforderliche eigene Apparate für diese Unternehmungen sollen einen mäßigen Umfang behalten." Plenum und Klassen dienten künftig ausschließlich dem gelehrten Meinungsaustausch zu grandlegenden wissenschaftlichen Fragen. Beschlüsse waren nur möglich, „sofern sie nicht in die ökonomische und politische Einzelverantwortung des zuständigen Leitungsorgans fallen". Vgl. Beschluß des Ministerrates vom 27.6.1963, Abschnitte V und VI, in: W. Hartkopf, G. Wangermann: Dokumente zur Geschichte der Berliner Akademie der Wissenschaften von 1700 bis 1990, Berlin 1991, S. 520-523, und SED-Beschlüsse, SAPMO IV2/ 9.04/ 372/ Bl. 416ff. Nur der Akademiepräsident und vier weitere SED-Vertreter der DAW (keine Mitglieder) erscheinen in den Dokumenten, SAPMO IV2/ 9.04/ 372/ Bl. 405, 411.

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1962 eingesetzte Statutenkommission, die „ein neues Statut auszuarbeiten" hatte, sanktionierte damit bestenfalls, was bereits ausgearbeitet vorlag und schon am folgenden Tag von der Akademieparteileitung bestätigt wurde.104 Bezeichnend war, daß die Statutenkommission aus dem Akademiepräsidium und den Vorstand der Forschungsgemeinschaft gebildet wurde und damit aus SED-Genossen und SED-konformen Wissenschaftlern bestand.105 Trotzdem stand die SED in der Akademie vor Kaderproblemen. Wie bereits Anfang der 1950er Jahre verfugte die SED unter den Ordentlichen Mitgliedern und in den Leitungsgremien der Akademie über einen ansehnlichen Anteil, doch waren diese Wissenschaftler nicht immer die bequemsten Gefolgsleute - so waren Ende der fünfziger Jahre sowohl der Vizepräsidenten Wolfgang Steinitz als auch der Klassensekretar Robert Rompe in die Schußlinie der Parteikritik geraten und gemaßregelt worden. Außerdem war der Anteil der SED-Mitglieder und damit ihr Einfluß in den einzelnen Klassen sehr unterschiedlich: Mathematik, Physik und Technik 12 %, Chemie, Geologie und Biologie 24 %, Bergbau Hüttenwesen und Montangeologie 13 %, Medizin 14 %, Sprachen, Literatur und Kunst 36 % und Philosophie, Geschichte, Staats-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften 73 %.106 Noch differenzierter muß der Einfluß der SED in den Forschungseinrichtungen bewertet werden, weil auch hier eine außerordentliche Schwankungsbreite zu verzeichnen war und vor allem nach wie vor sogenannte „bürgerliche Wissenschaftler" an der Spitze der meisten Einrichtungen standen, deren wissenschaftliche Autorität das Institutsgeschehen prägte. Bereits eine Zusammenfassung der über 100 Forschungseinrichtungen der Akademie nach Fachgebieten verdeutlicht die großen Unterschiede im SED-Anteil bei den Wissenschaftlern im Jahr 1962:107 Fachgebiet Physik, Mathematik, Technik, Astronomie und Geophysik Chemie, physikalische Chemie und Geologie Medizin und Biologie Kulturpflanzenforschung Sprachen und Literatur Altertumskunde Volkskunde Kunstgeschichte Philosophie Geschichte Wirtschaftswissenschaften

SED-Anteil (%) 16 20 17 6 25 4 12 5 71 70 78

Trotz dieser nach wie vor nur punktuellen Dominanz der SED in den Instituten wurde mit der Reorganisation der Akademie im Jahre 1963 eine Entwicklung eingeleitet, die bereits wesentliche Punkte der späteren Akademiereform vorwegnahm. Dies wurde möglich, weil in der Akademie systematisch neue Leitungsebenen und Strukturen etabliert wurden, in denen für kritische Akademiemitglieder kein Platz mehr war und sie durch 104 Vgl. W. Steinitz: Stellungnahme zum Beschlußentwurf; BBAA, NL W. Steinitz, Nr. 73. 105 Vgl. G. Rienäcker. Bericht des Generalsekretärs, in: JB, 1962, S. 229. 106 Vgl. Kaderspiegel der Ordentlichen Mitglieder des Plenums, Stand 31.12.1963 (die Prozentangaben beziehen sich nur auf die Mitglieder mit Wohnsitz in der DDR), BBAA, NL R. Rompe, Nr. 55. 107 Vgl. Kaderstatistische Übersicht über die Mitarbeiter von 1962, SAPMO IV2/9.04/383/S. 367ff.

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SED-loyale Wissenschaftler ersetzt wurden. Begonnen hatte dies in der Forschungsgemeinschaft, an deren Spitze - bei gesicherter SED-Mehrheit im Vorstand - ein vertrauenswürdiger parteiloser Wissenschaftler stand. In der Leitung der Arbeitsgemeinschaft war der SED-Einfluß ebenso gesichert wie im Präsidium der Akademie, insbesondere im 1963 neu eingeführten Geschäftsfuhrenden Präsidium (57 %). Die wichtigen Posten des Akademiepräsidenten und des Generalsekretärs wurden ohnehin von Akademiemitgliedern mit SED-Parteibuch bekleidet. Nachdem die zentralen Leitungspositionen im Sinne der SEDKaderpolitik besetzt waren, konnte es nur noch eine Frage der Zeit sein, daß die SED auch sonst in Akademie und Forschungsgemeinschaft ihre Ziele würde durchsetzen können. Besonders drastisch und bald bekamen die neue Poltik jene Wissenschaftler und Institute zu spüren, die eine kritische Position zur Gründung der Arbeitsgemeinschaft in den Geisteswissenschaften eingenommen hatten. Für 1967 wurden von der Leitung der Arbeitsgemeinschaft „zum ersten Mal Jahrespläne einzelner Institute nicht bestätigt" bzw. „Auflagen erteilt". Der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Leo Stern warnte unmißverständlich: „Es hat sich gezeigt, daß der Plan der Schwerpunkte als ein Instrument der Auseinandersetzung mit solchen Auffassungen wirksam wird, unter dem Schirm dekorativer Zustimmung zum Perspektivplan bei der konkreten Planung der Arbeiten die Profilierung des eigenen Instituts zugunsten individueller wissenschaftlicher Neigungen und Gewohnheiten zu verzögern. Ich möchte unmißverständlich erklären, daß die Leitung der Arbeitsgemeinschaft keinen Institutsplan bestätigen wird, der in den Grundrichtungen von dem bis 1970 festgelegten Perspektivplan der Arbeitsgemeinschaft abweicht."108 Ein weiterer wichtiger Grund, warum sich die SED an der Akademie seit Beginn der 1960er Jahre zunehmend durchsetzen konnte, lag im erfolgreichen Aufbau einer flächendeckenden Parteistruktur, die zudem an den zentralen Punkten mit den Leitungsstrukturen der Akademie verknüpft war. An der Spitze stand die Akademieparteileitung, der der Akademiepräsident ebenso angehörte wie der Generalsekretär. War sie noch 1963 „Nebenregierung" an der Akademie, so entwickelte sie sich in den folgenden Jahren zum faktischen Machtzentrum. Sie besaß nun das Vorschlags- und Vetorecht für alle Personalentscheidungen vom Akademiepräsidenten bis zum Archivdirektor.109 Sie war es schließlich, die 1967 die Akademiestrukturen erneut in Frage stellte. Nachdem die gewünschten Ordnungen in Kraft gesetzt, in der Gelehrtengesellschaft durch weitere Zuwahlen und Veränderungen im Status der Mitglieder ein gravierender Wandel erreicht sowie die Liquidierung der letzten Merkmale der gesamtdeutschen Akademie beschlossen waren, konnte zum Zwecke weiterer Machtausdehnung auch wieder zu einer Einheit zusammengefügt werden, was man vorher aufgesplittert hatte. Es wurde jene Diskussion eingeleitet, die unmittelbar zur Akademiereform führte.110 Vorangegangen war der VII. Parteitag der SED 1967, auf dem für die Wissenschaften neue Aufgaben formuliert wurden, und nicht zuletzt die Selbsteinschätzung des Akademiepräsidenten, daß „im Wirkungsgrad unserer Arbeit gerade im Hinblick auf die wichtigsten Probleme nur ungenügende Fortschritte zu verzeichnen" seien.111 „Das gesellschaftliche System des Sozialismus umfassend zu gestalten" erfordere „die bewußte Ausnutzung (der) wissenschaftlich-technischen Revolution", 108 Vgl. L. Stern-, Aus der Tätigkeit der Arbeitsgemeinschaft im Jahre 1967, in: JB, 1967, S. 133f. 109 Kadernomenklatur der Akademieparteileitung vom 22.2.1967. Bei hohen Funktionen war außerdem die Bestätigung des ZK-Apparates erforderlich, BBAA, Nachlaß R. Rompe, Nr. 66. 110 Vgl. den Beitrag von H. Laitko in diesem Band. 111 (V. Hartke: Hauptversammlung der Akademie 1967, in: JB, 1967, S. 121.

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und dies hieß für die Akademie und ihre Institutsgemeinschaften, „solche Prinzipien des Aufbaus, der Leitung und der Organisation überwinden, die gewissermaßen aus der Manufaktur-Periode der Wissenschaft herrühren."112 Ziel sei eine „Forschungsakademie", in der unter einer „einheitlichen Führung" wieder „alle wissenschaftlichen Potenzen" zusammengefaßt sind, verkündete 1968 der neue Akademiepräsident und einstige Leiter der Forschungsgemeinschaft, Hermann Klare.113 Eine „besondere Potenz" der DAW sah man jetzt in „der in ihr bestehenden Verflechtung von gesellschaftswissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Forschung".114 Als integrierendes Element schloß dies ausdrücklich die Gelehrtengesellschaft ein, freilich eine neue, in der in den Jahren von 1963 bis 1967 durch die Zuwahl von 37 Ordentlichen Mitgliedern aus ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Einrichtungen der DDR neue Mehrheiten geschaffen worden waren. Damit existierten wichtige Voraussetzungen, um eine DDR Forschungsakademie, d.h. eine Nationalakademie, zu verwirklichen, deren Forschungsziele vorrangig durch die Wirtschaft bzw. durch die Gesellschaftsentwicklung definiert wurden - eine „sozialistische Forschungsakademie", deren stimmberechtigte Mitglieder ausschließlich aus diesem Staate kamen. Die Akademiereform am Ende des zweiten DDR-Jahrzehnts erscheint so weniger als Beginn eines neuen als vielmehr der Abschluß eines langjährigen dynamischen Prozesses. Mit dem ursprünglichen Ansatz von 1945, der Gelehrtengesellschaft der Akademie zur freien Disposition Forschungspotential zu übergeben, hatte dies freilich kaum noch etwas zu tun. Gleichwohl darf nicht unbeachtet bleiben, daß innerhalb eines Zeitraumes von 45 Jahren eine Vielzahl wissenschaftlicher Ergebnisse vorgelegt wurde und daß die Evaluation des Wissenschaftspotentials der Akademie durch den Wissenschaftsrat der BRD 1989 eine „beachtliche Zahl von Leistungen ausmachen und zahlreiche Projekte zur Weiterführung empfehlen" konnte. Dem lagen wissenschaftliche Leistungsanalysen zugrunde. „Sie ließen die Frage außer acht oder betrachteten sie als untergeordnet, ob die ermittelten Leistungen trotz oder wegen der Einordnung der Institute in die Akademie erbracht worden sind."115

112 H. Klare-, Zu Fragen der Akademiereform, Vortrag am 31.7.1968. 113 Hermann Klare (OM 1961), Präsident 1968 bis 1979. Der aus der Industrie stammende Chemiker, der von 1961 bis 1968 der FG vorstand und nicht der SED angehörte, löste zwar turnusgemäß, aber auch mit gewisser Symbolkraft für die dominierende Richtung der Forschungsakademie, den Geisteswissenschaftler Werner Hartke ab. 114 Vgl. Aufgaben, Profil und Struktur der DAW nach dem VII. Parteitag der SED, Akademieparteileitung 1967, S. 11, BBAA, Nachlaß R. Rompe, Nr. 66. 115 C. Grau: Die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Heidelberg, 1993, S. 254.

KRISTIE MACRAKIS

Einheit der Wissenschaft versus deutsche Teilung: Die Leopoldina und das jj( Machtdreieck in Ostdeutschland

Während der gesamten Geschichte der DDR betrachtete sich die Leopoldina (Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina), Deutschlands älteste Akademie, als gesamtdeutsche Institution, die in einer Zeit der nationalen Teilung am Wert der Einheit der Wissenschaft festhielt. Um sich von der Vorstellung einer eigenen, nationalen und kommunistischen Wissenschaft der DDR zu distanzieren, vertrat sie eine gesamtdeutsche Konzeption, derzufolge sie als eine Art Klammer zum Zusammenhalt der beiden deutschen Wissenschaftskulturen beitrug. Weil sie die Teilung Deutschlands nicht anerkannte, gab es für sie weder eine ostdeutsche , noch eine westdeutsche Wissenschaft, sondern nur die von Staatsgrenzen unberührte, einheitliche und wertfreie Wissenschaft. Dagegen kennzeichneten die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) und das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) die Leopoldina als ein reaktionäres Zentrum feindlicher Aktivitäten, von dem Widerstand gegen Maßnahmen der Partei und des Staates ausging. Dem Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen (MHF), das die Aufsicht über unmittelbare Leopoldina-Angelegenheiten hatte, gelang es nie, seine Kontrolle durchzusetzen, obwohl es für die finanzielle Unterstützung zuständig war In der Tat wurde die Leopoldina nicht in eine, wie es im SED-Sprachgebrauch lautete, „sozialistische Einrichtung" umgewandelt, wie etwa die Akademie der Wissenschaften (der DDR) oder die Universitäten. Vielmehr stellte die Leopoldina in der Wissenschaftslandschaft der DDR eine Besonderheit dar.1 Nach dem Fall der Mauer wurde die Leopoldina als einziger „von kommunistischer Einflußnahme frei gebliebener" Ort der Wissenschaft gepriesen.2 Allerdings müssen wir als Historiker solchen Behauptungen gegenüber skeptisch sein. Unsere erste Aufgabe besteht darin, den Wahrheitsgehalt dieser Aussage zu überprüfen und gegebenenfalls die Gründe dafür zu untersuchen, warum die Akademie von kommunistischen Einflüssen * Ich möchte Cathy Carson für zahlreiche Anregungen danken. 1 Was die SED-Politiker normalerweise unter dem Begriff „sozialistische Einrichtung" verstanden, war eine Institution mit einer hohen Anzahl von Parteimitgliedern, die die politische Linie des Staates befolgten und die Werte der Partei teilten. Darüber hinaus wurden die Strukturen entsprechend der marxistisch-leninistischen Ideologie und ihrer Werte umgeformt. Die Politik solcher Institutionen wurde gewöhnlich von der SED festgelegt. Beispiele für „sozialistische Einrichtugen" finden sich in den Beiträgen zu den Universitäten und zur Akademie der Wissenschaften. 2 Zum Beispiel S. Dickman: Rieh Uncle of Big Brother, in: Nature, 344, 12. April 1990, S. 604-606, hier S. 605.

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verschont blieb. Am besten lassen sich diese Fragen durch eine Untersuchung der Absichten der Partei und anderer „Staatsorgane" sowie der Reaktion der Leopoldina auf diese Pläne beantworten. Das vorliegende Kapitel untersucht daher das Verhältnis zwischen der Leopoldina und dem ostdeutschen Machtzentrum im Bereich von Wissenschaft und Bildung, einem Dreieck aus SED, MHF und MfS. Durch diese Analyse werden wir offenlegen, wie und warum es der Leopoldina gelang, in einem Staat zu überleben, der mit dem Gedanken spielte, sie abzuschaffen. Welche Funktion hatte die Leopoldina für die SED? Gelang es ihr tatsächlich, die wissenschaftlichen Kontakte zwischen Ost und West zu fördern und aufrechtzuerhalten und dabei eine „gesamtdeutsche Einrichtung" zu bleiben? Was sagt uns diese Geschichte über das Wesen der herrschenden Machtstrukturen im „real existierenden Sozialismus" und etwaige Möglichkeiten zum „Widerstand"? Wie erfolgreich waren letztlich die Staatsorgane als Instrumente totalitärer Kontrolle, und wie nützlich ist das Totalitarismuskonzept zur Beschreibung des ostdeutschen Sozialismus? Nach einer kurzen Darstellung des Charakters und der Geschichte der Leopoldina geht dieses Kapitel nacheinander auf das jeweilige Verhältnis zwischen Leopoldina und SED, MHF und MfS ein.

Das Wesen der Leopoldina: Ein kurzer historischer Überblick Die Hauptaufgaben der Leopoldina bestanden in der Ausrichtung zweijährlich stattfindender Konferenzen, der Herausgabe wissenschaftlicher Zeitschriften und der Veranstaltung monatlicher Vorträge, in erster Linie für Mitglieder. Sie war eine internationale Gelehrtengesellschaft, unterhielt keine Institute und hatte zwischen 600 und 1000 Mitglieder aus der ganzen Welt (im Zeitraum von 1952 bis 1989). Die Mitglieder stellten den Kern der Akademie dar. Unter anderem rühmte sie sich auch der Mitgliedschaft von Charles Darwin. Zu DDR-Zeiten gehörten zu ihren auch im Westen bekannten Mitgliedern z. B. Carl Friedrich von Weizsäcker, Alexander Oparin, Manfred Eigen, Adolf Butenandt, Konrad Lorenz und James B. Conant. Der Sitz der Akademie befand sich bis 1878 vor allem in Schweinfurt, wo die Gesellschaft gegründet worden war, und danach die meiste Zeit in Halle. Bis das Anwachsen der Bibliotheksbestände häufige Umzüge unmöglich machte, wechselte der Sitz mit dem jeweiligen Wohnort des amtierenden Präsidenten. 1652 von Wissenschaftlern und Ärzten gegründet, gehört die Leopoldina zu den ältesten Akademien der Welt. Von Anfang an betrachtete sie ihr Aufgabengebiet als staatenübergreifend. Bei den Dreihundertjahrfeiern 1952 wurde z. B. die Zeit ihrer Gründung als eine Epoche der territorialen Zersplitterung Deutschlands charakterisiert. Die Leopoldina sah sich von Anfang an als ein verbindendes Element in Zeiten der politischen Teilung Deutschlands. Nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 galten alle Gesellschaften, einschließlich der Leopoldina, zunächst als aufgelöst. Die Mitglieder der Leopoldina trafen sich jedoch inoffiziell weiter und versuchten die sowjetischen Besatzungsbehörden und die Landesregierung von Sachsen-Anhalt für eine offizielle Zulassung zu interessieren. Ab 1947 wurden Goethes naturwissenschaftliche Werke unter der Ägide der

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Gesellschaft veröffentlicht, während die Vortragstätigkeit 1948 wieder aufgenommen wurde.3 Offiziell wurde die Akademie erst 1952 zum dreihundertsten Jahrestag ihrer Gründung wieder eröffnet. Da der langjährige Präsident und bekannte Physiologe Emil Abderhalden 1951 verstorben war, leitete Otto Schlüter, der Vizepräsident (und spätere Präsident von 1952-53), die Feierlichkeiten. Diese Feier stellte die offizielle Anerkennung der Leopoldina durch die Deutsche Demokratische Republik dar. Auch stellte der Staat die Unterstützung der wissenschaftlichen Projekte der Akademie in Aussicht. Die Neugründung erfolgte zu einer Zeit, als die Einheit Deutschlands noch möglich schien und die kommunistische Partei alles daransetzte, Wissenschaft und Technik zu fördern. In diesem Sinne sandte Otto Grotewohl, Ministerpräsident der DDR, ein Gratulationsschreiben mit Glückwünschen an Otto Schlüter und die übrigen Akademiemitglieder, in dem er die Bedeutung der Wissenschaftler in einer Zeit des „Kampfes um die deutsche Einheit" betonte.4 Auf ihren Versammlungen, die im zweijährigen Turnus stattfanden und die Haupttätigkeit der Akademie bildeten, wurden wissenschaftliche Themen behandelt, die gewöhnlich die traditionellen Grenzen der Fachdisziplinen überschritten. Ein weiterer Einflußfaktor bei der Themenauswahl für diese Treffen schienen die Interessensgebiete der jeweiligen Präsidenten gewesen zu sein. Wie die Themenübersicht der letzten Jahrzehnte zeigt, dominierten unter der Präsidentschaft Kurt Mothes' die Biowissenschaften, während unter Heinz Bethge die physikalischen Disziplinen im Vordergrund standen: Themen der Mothes

Akademieversammlungen5

1957: Das Virusproblem 1959: Das Zeitproblem 1961: Energie (abgesagt) 1963: Nervenphysiologie 1965: Strahlung 1967: Biologische Modelle (Delbrück) 1969: Struktur und Funktion 1971: Informatik 1973: Evolution

Bethge

1975: Systeme und ihre Grenzen 1977: Prozeßkinetik 1980: Raum und Zeit 1983: Dynamische Strukturen - instabile Prozesse 1985: Singularitäten 1987: Das Elementare 1989: Anomalien

Kurt Mothes (1900-1982), der bekannte Biochemiker, übernahm 1954 die Präsidentschaft der Akademie und prägte ihren Stil und Charakter für die gesamte DDR-Periode. Sein Spezialgebiet war die Biochemie der Pflanze. Von 1934-45 war er Professor für Botanik an der Königsberger Universität und anschließend bis 1949 in russischer Kriegsgefangenschaft. Passend zu seiner konservativen politischen Einstellung, war er im Dritten Reich NSDAP-Mitglied. Seine Amtszeit als Akademiepräsident dauerte bis 1974. 3 Nova acta Leopoldina, Bd. 36, Nr. 198, 1970, S. 27. Zur neuesten Literatur zur Geschichte der Leopoldina siehe den Beitrag des derzeitigen Akademiepräsidenten B. Parthier. Die Leopoldina. Bestand und Wandel der ältesten deutschen Akademie, Halle 1994. 4 Glückwunschschreiben Otto Grotewohls zur 300-Jahr-Feier der Leopoldina, in: Neues Deutschland, 16. 2. 1952. Zahlreiche Zeitungsartikel ohne Quellenangaben in: Bundesarchiv, Abteilung Potsdam (im folgenden: BAP), R-3, Ministerium für das Hoch- und Fachschulwesen (im folgenden: MHF). 5 Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina. Geschichte, Struktur, Aufgaben, Halle 1993, S. 12.

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Mothes' Nachfolger wurde der Physiker Heinz Bethge, der das Präsidentenamt vom 15. November 1974 bis zum 30. Juni 1990 innehatte. Obwohl er sich in der Art von seinem Vorgänger unterschied, trat auch Bethge ziemlich deutlich gegenüber der Regierung auf. Im Jahre 1919 in Magdeburg geboren, schloß er 1949 sein Physikstudium mit dem Diplom an der Martin-Luther-Universität in Halle ab; 1954 folgte dort auch die Promotion. Im Gegensatz zu Mothes war er in der DDR ausgebildet worden und nicht durch eine bürgerliche oder gar Nazi-Vergangenheit belastet. Er verbrachte den Großteil seiner Laufbahn an der Universität in Halle, bis er zum Leiter des dortigen Instituts für Elektronenmikroskopie der Akadamie der Wissenschaften ernannt wurde. Seine Forschungsarbeiten konzentrierten sich auf Probleme der Festkörperphysik. Er war nicht Mitglied der SED.6 Zwar hatte die Leopoldina auch im Westen einen sehr guten Ruf, im Osten aber wurde sie zu einem regelrechten Mekka für jüngere Wissenschaftler und Studenten - insbesondere für solche, die der DDR-Gesellschaft kritisch gegenüberstanden. Die Gastvorträge von Konrad Lorenz, Carl Friedrich von Weizsäcker und anderer prominenter Wissenschaftler aus dem Westen waren legendär, und viele Studenten strömten zu diesen Veranstaltungen.

Das Dreieck der Macht im Bereich von Wissenschaft und Bildung Die Sozialistische Einheitspartei stand an der Spitze des (von mir so genannten) Machtdreiecks im Wissenschafts- und Bildungswesen Ostdeutschlands. Dies gilt zumindest für die Beziehungen zwischen der Leopoldina und den Staatsorganen von den fünfziger bis in die siebziger Jahre. Die Partei übernahm die „Führungsrolle", während die anderen Staatsorgane entweder die Ziele der Partei zu verwirklichen oder ihre Interessen zu verteidigen hatten. Im Falle der Leopoldina oblag die Umsetzung der Parteiziele dem Staatssekretariat bzw. Ministerium für das Hoch- und Fachschulwesen, das für die konkrete Aufsicht und Betreuung zuständig war. Das Ministerium für Staatssicherheit, als „Schild und Schwert der Partei" bezeichnet, stellte die Präsidiumsmitglieder der Leopoldina unter operative Beobachtung und Kontrolle wegen des Verdachts auf „Widerstand gegen staatliche Maßnahmen" und mögliche Verstöße gegen DDR-Gesetze. Seit dem Fall der Mauer wird die Hypothese vertreten, das MfS sei nicht nur Schwert und Schild der Partei, sondern ein Staat im Staate, also ein eigenständiges Machtzentrum gewesen. Dies mag für die Spätphase der DDR vielleicht zutreffen, aber die im folgenden darzulegende Geschichte der Leopoldina bestätigt eher die Schwert-und-Schild-These, zumindest für die Zeit bis 1969, als der Operative Vorgang eingestellt wurde. „7

6 S. Gerstengarbe: Heinz Bethge, in: J. Cerrty (Hg.): Wer war wer - DDR. Ein biographisches Lexikon, Berlin 1992, S. 40. 7 Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (im folgenden: SAPMO), IV 2/ 9.04/ 382, 10. 2.1956, Notizen zu einer Diskussion zwischen Kurt Hager und Kurt Mothes im Gästehaus des Zentralkomitees.

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SED und Leopoldina „... so kann ich mit aller Deutlichkeit sagen, daß die SED sehr an einer Förderung unserer Naturwissenschaftler interessiert ist" K. Hager zu K. Mothes, 1956

1958 kam SED-Chef Walter Ulbricht zu einem legendären Besuch nach Halle, um zur Intelligenz des Landes zu sprechen. Bei diesem Treffen stellte er öffentlich den Standpunkt der Partei zu Fragen der Wissenschaft und der intellektuellen Elite dar. Ulbrichts Besuch in Halle war bedeutsam, weil er der politisch mächtigste Mann der DDR war, auch wenn er nur bekräftigte, was die Partei schon fünf Jahre früher, 1953, als Teil des Neuen Kurses bekanntgegeben hatte. Der Neue Kurs bzw. der „Aufbau des Sozialismus", waren Begriffe aus der kommunistischen Theorie, wonach auf den revolutionären Sturz des Kapitalismus bis zur Vollendung des sozialistischen Systems eine Übergangsperiode folgte, in der die Grundlagen des Kommunismus errichtet werden sollten. Für die Wissenschaftspolitik der DDR in den frühen fünfziger Jahren implizierte der Neue Kurs, daß eine gesamtdeutsche Wissenschaft in einem friedlichen und vereinten Deutschland unter ostdeutscher Herrschaft anzustreben sei.8 Die fünfziger Jahre waren dadurch gekennzeichnet, daß die Partei der Intelligenz materielle Absicherung und Unterstützung ihrer Arbeit versprach. Gleichzeitig war die Partei angesichts des anfanglichen Widerstands zur „Toleranz" gegenüber Intellektuellen bereit. In den fünfziger und sechziger Jahren galt die Vorstellung von einer alten und einer neuen Intelligenz, wobei letztere aus Arbeiter- und Bauernfamilien rekrutiert werden sollte. Ihre Mitglieder sollten die Kader, d.h. die neue technische Intelligenz des Sozialismus sein. Auf einer Konferenz über die Rolle der Universitäten und Wissenschaft im Neuen Kurs erklärte die Parteiführung 1953, sie wolle keinen Kurs gegen (Hervorhebung der Verfasserin) die parteilose und bürgerliche Intelligenz einschlagen, sondern einen solchen, mit dem sie die parteilosen und bürgerlichen Intellektuellen für sich gewinnen könne. 9 Dieses Ziel wurde teilweise durch die Gewährung materieller Vorteile verfolgt, aber auch durch politische Diskussionen oder Aussprachen als Mittel der Überzeugungsarbeit. Solche Überzeugungsmethoden benutzte das Zentralkomitee in den fünfziger Jahren gegenüber vielen parteilosen Wissenschaftlern. So hatte z. B. das ZK-Mitglied Kurt Hager, Leiter der Abteilung Wissenschaft, derartige Aussprachen mit Wissenschaftlern wie Gustav Hertz, dem einzigen in der DDR lebenden Nobel-Preisträger, Hans Stubbe und nicht zuletzt mit Kurt Mothes, mit dem Hager im Laufe der Jahre zahlreiche Gespräche führte, ohne jedoch dessen gesamtdeutsche Einstellung jemals ins Wanken bringen zu können. Mothes galt als Vertreter der „alten bürgerlichen Intelligenz" und wurde deshalb von der Partei trotz seiner abweichenden Meinungen toleriert. Allerdings war das nicht der einzige Grund, warum die Partei Mothes nicht ausgrenzte und selten die direkte Konfrontation mit ihm suchte. In den fünfziger Jahren hatte Walter Ulbricht entschieden, daß ein 8 SAPMOP, IV 2/ 9.04/ 8, Universitätskonferenz der Abteilung Wissenschaft und Universitäten des Zentralkomitees am 31.10.-1.11.1953, Leipzig, Protokoll. 9 Ebenda, Sektion zur Ausbildung der neuen Intelligenz.

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modus vivendi für die Zusammenarbeit mit Mothes zu finden sei, weil ein Streit mit der renommiertesten wissenschaftlichen Gesellschaft ihre Abwanderung ins westdeutsche Schweinfurt nach sich zöge. Die Regierung beschrieb ihre Aussprachen mit Mothes als vorsichtig und durch ein schrittweises Vorgehen gekennzeichnet.10 Die Leopoldina war nicht nur eine gesamtdeutsche Einrichtung, sie hatte darüber hinaus statutengemäß die Möglichkeit, ihren Sitz nach Westen zu verlegen, ein Schritt, den die DDR-Führung fürchtete und zu vermeiden suchte. Die Kader- und Personalpolitik zeigte sich auch in den Bemühungen der Partei, „fortschrittliche" Wissenschaftler als Mitglieder der Leopoldina zu rekrutieren. Ein Mitarbeiter der Abteilung Wissenschaft des Zentralkomitees markierte auf einer Mitgliederliste der Leopoldina mit Farbstiften, ob ein Neumitglied aus dem „sozialistischen" (rot) oder „kapitalistischen Ausland" (blau) kam. Die Mitgliederliste weist 1959 nur drei neue DDR-Mitglieder aus, fünf kamen aus der Sowjetunion, zwölf aus dem „kapitalistischen Ausland", neunzehn aus Westdeutschland und dreizehn aus blockfreien Staaten.11 Hager, der für die Leopoldina zuständige Parteiführer, beschrieb sein Verhältnis zur ihr als freundlich und gut, was jedoch Meinungsunterschiede in der einen oder anderen Frage keineswegs ausschloß. Wie alle staatlichen Funktionsträger und die meisten Wissenschaftler, hatte Hager eine sehr hohe Meinung von der Leopoldina. Dies belegt seine Aussage, daß die Akadamie eine große Rolle bei der Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse spiele. Ihre Veröffentlichungen seien ein Geheimtip. Es sei zwar schwierig, an die Wissenschaftler heranzukommen, aber ihr (wissenschaftliches) Niveau sei sehr hoch und die Konferenzen in Halle eine Erfahrung für junge Wissenschaftler. Entgegen dieser Einschätzung versuchten manche Politbüromitglieder, darunter auch Hager selbst, die Akademie aufzulö-

Der „antifaschistische Schutzwall" In den fünfziger Jahren konzentrierte sich die Partei auf die politischen Aussprachen mit Mothes, während das MHF die eigentliche und konkrete Aufsichts- und Betreuungsarbeit leistete. Einen Wendepunkt stellte, wie in allen anderen Lebensbereichen auch, der Mauerbau am 13. August 1961 dar. Die Versammlung der Leopoldina sollte im Oktober des Jahres im westdeutschen Schweinfurt zum Thema „Energie" stattfinden. Die Einladungen waren im Juni verschickt worden, wobei Mothes, wie schon zuvor, die Gelegenheit wahrgenommen hatte, in den Einladungen die Rolle und Funktion der Leopoldina in der DDR hervorzuheben. Er berichtete, daß die Akademie seit ihrer Neugründung im Jahre 1952 stark zusammengewachsen und ihre Funktion in einer Zeit der Teilung des Vaterlandes und der ganzen Welt wohlbekannt sei.13 Zwei Monate nach der Versendung dieses Schreibens wurde die Berliner Mauer gebaut. Ende August verschickte Mothes ein neues Rundschreiben, um die Versammlung abzusa10 11 12 13

SAPMO, IV A 2/ 9.04/ 363, F. Dahlem an Gießmann in Sachen Leopoldina, 8. Juli 1969. SAPMO, IV A 2/ 9.04/ 363, 31. März 1959: Leopoldina. Struktur und Mitgliedschaft. Interview von K. Macrakis mit K. Hager, 10. August 1993. Einladung zur Versammlung, Juni 1961, zitiert nach einem Exemplar in den Parteiakten.

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gen. Darin teilte er mit, daß er sich zu diesem Schritt gezwungen sehe, weil es für die Mitglieder aus der DDR offenbar unmöglich sei, eine unbeschränkte Reiseerlaubnis zu erhalten. Auch brachte er die Besorgnis zum Ausdruck, daß die Reisebeschränkungen Wissenschaftler davon abhalten könnten, zu Vorträgen und Konferenzen in die DDR zu kommen.14 Den Rundbrief erhielten alle Akademiemitglieder, einschließlich der fünf SED-Mitglieder, die sofort das Büro des Vorsitzenden des Ministerrates darüber unterrichteten. Die Absage galt als ein Akt der Provokation, weshalb Mothes am 30. November 1961 zu einer Aussprache mit Alexander Abusch, dem Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates, zitiert wurde. Das Treffen war offensichtlich von erheblicher Bedeutung, denn in Walter Ulbrichts Unterlagen findet sich ein umfangreiches Protokoll dieser Sitzung. Die Staatsführung war besorgt über das, was ihrer Meinung nach eine regimefeindliche politische Aussage Mothes darstellte. Abusch argumentierte, daß sich die Leopoldina auf dem Gebiet der DDR befinde, die Regierung sie unterstütze und Loyalität oder zumindest Verständnis dafür erwarte, daß der Mauerbau und die neue politische Linie eine Reaktion auf die Bonner Politik seien. Abusch wies darauf hin, daß keine andere Gesellschaft oder Akademie ein derartiges Schreiben mit der Andeutung einer gesetzwidrigen Handlungsweise durch die Deutschen Demokratische Republik verschickt habe. Er beschrieb „aggressive" westdeutsche Maßnahmen, die auf die Herbeiführung eines Bürgerkrieges angelegt seien.15 Mothes war vom Mauerbau schockiert und teilte dem Minister mit, daß man die Grenzen der Menschlichkeit erreicht habe, wenn eine Mutter nicht nach Frankfurt reisen könne, um ihr krankes Kind zu besuchen. Der Staat müsse für die Menschen da sein, und nicht umgekehrt. Darüber hinaus machte er aus seinen generellen politischen Ansichten kein Geheimnis. Abusch entgegnete, daß man bereit sei, eigene Fehler anzuhören, fuhr aber fort, die Westdeutschen zu beschuldigen und ihnen die Abwerbung von DDR-Bürgern vorzuwerfen.16 Abusch legte weiterhin dar, daß die DDR nun gesichert und durch die „Maßnahmen vom 13. August", wie der Mauerbau in offiziellen Regierungskreisen hieß, gestärkt worden sei. Ferner sagte er, daß die Reisemöglichkeiten für Wissenschaftler eine Zeitlang eingeschränkt werden müßten, danach aber wieder hergestellt würden. Abusch erklärte Mothes, er verlange von ihm keineswegs, Marxist zu werden oder seine Weltanschauung aufzugeben, aber eine gewisse Loyalität gegenüber der DDR.17 Im Januar 1962 fand ein weiteres Treffen zwischen Mothes und Abusch statt, um die künftige Zusammenarbeit von Leopoldina und Regierung zu diskutieren, wobei nicht ganz klar ist, wer die Aussprache anberaumt hat, vermutlich jedoch Abusch. Zwei Hauptpunkte der Diskussion betrafen die „Pensionierung" des Vizepräsidenten der Leopoldina, Reichenbach, und die Politik der Zweistaatlichkeit in Deutschland.18 Während die Wiedervereinigung Deutschlands zur Zeit der Neugründung der Leopoldina noch denkbar schien, war es 1962 kein Thema mehr. In beiden deutschen Staaten 14 15 16 17 18

Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (im folgenden: BBAA), Nr. 431, Mothes an alle Akademiemitglieder, Ende August 1961. SAPMO, Nachlaß Walter Ulbrichts, NL 182/ Bd. 936, gekürzte Mitschrift der Aussprache zwischen Alexander Abusch und Kurt Mothes, 30. November 1961. Ebenda. Ebenda, S. 4-5. BAP, R-3, MHF, 4547, Sitzungsprotokoll, Abusch und Mothes, 24. Januar 1962.

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hatten sich entgegengesetzte Gesellschaftsstrukturen herausgebildet. Einer der beiden Staaten war kapitalistisch, der andere versuchte sich am „Aufbau des Sozialismus". Der Mauerbau stellte die physische Markierung dieses Zustands dar. Aus dieser Entwicklung ergaben sich Komplikationen für die Rolle und Funktion der Leopoldina, weil der Staat nach der durch den Mauerbau bewirkten Festigung seiner Machtposition versuchte, seine Weltanschauung in allen Bereichen der DDR-Gesellschaft durchzusetzen. Mothes betonte demgegenüber die Rolle, die er und die Akademie durch die Bindung von Wissenschaftlern für den Wiederaufbau der Nachkriegswissenschaft gespielt hatten.19 Offenbar erwarteten die Repräsentanten des Staates, daß die Leopoldina in der Sitzung einen Plan vorlegen würde, wie man der neuen politischen Situation Rechnung trägt. Es wurde sogar gedroht, daß die Akademie nicht sehr weit käme mit ihren Versuchen, sich an überholten Traditionen festzuklammern, und man rechtfertigte die Kontrolle des Staates über die von ihm finanziell geförderten Einrichtungen. Mothes dagegen wiederholte die Vorstellung von der Einheit der Wissenschaft in einer Zeit der nationalen Teilung und äußerte sich nur vage zu den aufgeworfenen Problemen. Zweifellos markiert der Mauerbau einen tiefen Brach in der historischen Entwicklung der DDR. Künftigen Vertretern einer revisionistischen Geschichtsschreibung wird es schwerfallen, seine Bedeutung als Meilenstein, tiefgreifenden Bruch und historischen Wendepunkt umzudeuten oder gar zu leugnen. Die oben skizzierte Diskussion zeigt das wiedererstarkte Selbstvertrauen des Staates bei der Durchsetzung seiner Ziele und Interessen. Auch wenn in dieser offiziellen Unterredung nur angedeutet, war die Einheit der Wissenschaft durch die neue physische Barriere und die damit einhergehenden Reisebeschränkungen doch auf tiefergehende Weise gefährdeter als zuvor. Erneut kam es unter besorgten Wissenschaftlern zu Debatten über die Zerstörung der Einheit der Wissenschaft durch die politische und nunmehr vollständige physische Teilung. Obwohl die SED von der Leopoldina ein neues Konzept verlangte, wurde ein solches in den sechziger Jahren eigentlich nie richtig entwickelt. Allerdings wurde zunehmender Druck ausgeübt, um eine Überarbeitung der Satzung zu erzwingen, wobei dieser Druck nicht nur von Regierungsstellen, sondern auch von den Präsidenten der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin, W. Hartke und H. Klare ausging. In den Parteiakten findet sich ein Exemplar eines Satzungsentwurfs von 1969. Die Frühphase der DDR war für die Leopoldina durch eine Politik der Förderung und Unterstützung von Wissenschaft und Technik durch die SED geprägt. Anders als die nationalsozialistische Weltanschauung, der oft eine wissenschafts- und technikfeindliche Grandhaltung nachgesagt wird, verherrlichte die kommunistische Ideologie Wissenschaft und Technik, da sie in ihnen einen Antrieb für den Wandel zum Sozialismus sah. Diese Auffassung, gepaart mit Hoffnungen auf eine Wiedervereinigung in den frühen fünfziger Jahren, hatte den Weg für die Neugründung der Leopoldina im Jahre 1952 geebnet.

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Ebenda.

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„Betreuung und Kontrolle" durch das MHF Während die SED die Richtlinien der Politik gegenüber Wissenschaft und Wissenschaftlern formulierte und engen Kontakt zu Spitzenwissenschaftlern hielt, war das Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen (MHF) primär für die tägliche Ausübung der Kontrolle zuständig. Wie seine Bezeichnung nahelegt, oblag dem MHF in erster Linie die Aufsicht über die Universitäten und, insbesondere in den Anfangsjahren der Republik, die Umwandlung bestehender Einrichtungen in sozialistische Universitäten sowie die Gründung neuer Hochschulen. Insofern war die Zuordnung der Leopoldina zu seinem Aufgabenbereich bis zu einem gewissen Grad unpassend und ein Ergebnis des Zusammenspiels von Tradition und Persönlichkeiten. Anscheinend spielte der Wissenschaftshistoriker Gerhard Harig, erster Staatssekretär für das Hochschulwesen in der DDR, eine Rolle bei der Wiederbelebung der Leopoldina, weshalb diese dem MHF unterstellt blieb. Die Deutsche Akademie der Wissenschaften und spätere Akademie der Wissenschaften der DDR hingegen war direkt dem Ministerpräsidenten unterstellt. Die engen Beziehungen der Führung der Leopoldina zur Universität in Halle, wo sie alle Professuren innehatten, mögen ein weiterer Grund für die Unterstellung der Akademie unter das Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen gewesen sein. Da sich die Leopoldina nicht direkt mit der Lehre befaßte und auch keine Forschungsinstitute unterhielt, spielte sie für die Wissenschafts- und Forschungspolitik der DDR keine zentrale Rolle. Die Beziehungen zwischen dem MHF und der Leopoldina begannen 1952 bei der Neugründung am dreihundertsten Jahrestag der ursprünglichen Gründung. Das Ministerium entsandte Vertreter zu dieser Eröffnungsversammlung und zu allen folgenden zweijährlichen Konferenzen. Die Anwesenheit eines Vertreters des für die Betreuung zuständigen Ministeriums löste bei den Akademiemitgliedern nicht immer Begeisterung aus. Entsprechend wurden die Eröffnungsreden der Vertreter normalerweise nicht mit Beifall bedacht. Einmal verließ die gesamte westdeutsche Delegation den Saal. Von Beginn an fertigte das Ministerium Berichte über die Leopoldina an und entwarf Strategien für den Umgang mit ihr. Das MHF neigte dazu, seine Beziehungen zur Leopoldina unmittelbar vor, während und nach einer Konferenz zu intensivieren. Im Verlauf der Jahrzehnte schälte sich ein bestimmtes Muster heraus, allerdings mit Variationen je nach Änderungen und Entwicklungen in der DDR-Politik. In den fünfziger Jahren konzentrierten sich die Berichte auf die Geschichte der Institution und auf die Versuche des MHF, eine Überarbeitung und Änderung der Satzung aus dem Jahre 1944 zu erreichen. Tatsächlich blieb die Satzungsfrage ein Streitpunkt für die gesamte Dauer der DDR, wobei es der Leopoldina gelang, das Verfahren der Überarbeitung so in die Länge zu ziehen, daß es nie zur Verabschiedung einer neuen Satzung kam. Partei und MHF versuchten auch, den Anteil der Wissenschaftler aus der DDR und dem übrigen Ostblock unter den Akademiemitgliedern zu erhöhen. Dies galt insbesondere für „fortschrittliche Wissenschaftler" (Parteimitglieder).20 Von den fünfziger bis in die siebziger Jahre hinein versuchte das MHF weitgehend erfolglos, die Frage der Akadmiesatzung zu klären. Das einzige gültige interne Akademiereglement stammte von 1944, während andere Bestimmungen noch um Jahrzehnte älter waren. Es kann daher nicht überraschen, daß diese Frage mindestens alle zwei Jahre wie20

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der aufgeworfen wurde. Ende der fünfziger Jahre wandte sich das MHF an das Justizministerium und einen Juristen, um diese Streitfrage im gewünschten Sinne klären zu lassen.21 Ein allen totalitären Staaten gemeinsames Merkmal ist der Versuch, alle Institutionen, besonders aber jene im Bereich Wissenschaft und Bildung, durch die Beinflussung des Inhalts interner Bestimmungen zu kontrollieren. Hier liegt ein günstiger Ansatzpunkt für die Formulierung politischer Vorgaben und die Sicherstellung ihrer Umsetzung. Erst 1967 präsentierte die Leopoldina endlich einen Satzungsentwurf, der bei der Akademieversammlung 1971 zur Verabschiedung vorgelegt werden sollte. Jedoch hatten die Mitglieder des Leopoldina-Präsidiums ihre Fähigkeit, immer wieder neue Ausflüchte zu finden, zu einer wahren Kunst entwickelt, so daß derartige Entwürfe niemals den Status einer offiziell gültigen Satzung erreichten. Kurz nach der Dreihundertjahrfeier wollte das MHF neben der Klärung der Satzungsfrage auch die Mitgliedschaft „fortschrittlicher" Wissenschaftler aus der DDR und den sozialistischen „Bruderländern" ausweiten. Auch versuchte es, Änderungen in der Arbeitsweise und bei den Aufgaben für die neue Periode zu veranlassen und die Wahl von Präsident und Vizepräsident zu beeinflussen. Schlüter allerdings verweigerte sich dem Drängen des MHF und schuf so einen Präzedenzfall für seinen Nachfolger Mothes.22 1953 berief sich Schlüter auf die Vorstellung einer gesamtdeutschen Gemeinschaft und die geschichtlich gewachsene Struktur der Leopoldina. Er grenzte die Leopoldina von anderen Akademien dahin gehend ab, daß sie über keine Institute verfuge und nicht an eine bestimmte Region gebunden sei. Keinesfalls sollte sie nur eine regionale Gelehrtengesellschaft in Halle sein. 23 Nach der ersten Nachkriegskonferenz beschwerte sich das MHF im Herbst 1955 darüber, daß es aus zwei Gründen schwierig gewesen sei, die Durchführung und den Verlauf der Konferenz zu beeinflussen. Über viele Jahre hatte es keine persönlichen und organisatorischen Beziehungen zwischen MHF und Leopoldina gegeben, sondern nur eine rein finanzielle Verbindung. Ein tiefergehendes Problem erkannte das Ministerium in der Einstellung des Präsidiums, die geprägt war durch seine „konservative Tradition" und das Bemühen, gegenüber staatlicher Einmischung unabhängig zu bleiben. Insbesondere wollte die Leopoldina nicht von ihren westdeutschen und ausländischen Mitgliedern einer engen Anbindung an die DDR-Regierung verdächtigt werden.24 Das MHF war der Meinung, daß sich die Beziehungen zwischen den Staatsorganen und der Akademie ganz besonders bei der großen Versammlung im November 1955 konfliktartig zuspitzten. Vor allem Mothes lehnte jede Anregung des Ministeriums ab. Nur mit großer Mühe sei es möglich gewesen, die Rolle des Staates bei der Förderung wissenschaftlicher Einrichtungen darzulegen.25 Fazit der Konferenz war für das MHF die Erkenntnis, man müsse geduldig Einfluß auf die Leopoldina nehmen, ständigen Kontakt zu ihr halten und vor allem ein besseres Verhältnis zu ihrer Führungsspitze aufbauen.26 Unter den Mitarbeitern des Ministeriums herrschte eine kleinere Meinungsverschiedenheit darüber, wie mit der Leopoldina zu ver21 22 23 24 25 26

Ebenda. Ebenda, Goßens (Stellvertreter des Staatssekretärs) an Otto Schlüter, 3. April 1952; Schlüter an das MHF, 17. April 1952. Ebenda, Otto Schlüter an das MHF, 12. Februar 1953. BAP, MHF, R-3, Memorandum , gezeichnet von F. Dahlem, 21. November 1955. Ebenda, Memorandum von Müller, 28. April 1956. Ebenda, Memorandum, gezeichnet von F. Dahlem, 21. November 1955.

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fahren sei. Franz Dahlem, der Chef des MHF im Jahre 1955, tadelte einen Abteilungsleiter, Dr. Müller, für den Ton seines Berichts an das Zentralkomitee, den er als „ich kam, ich sah, ich siegte" charakterisierte.27 Mitte der fünfziger Jahre vertrat die Leopoldina die Position, daß die deutsche Einheit die Hauptaufgabe aller Deutschen sei und daß sie seit ihrer Gründung an einer gesamtdeutschen Tradition festgehalten habe.28 Noch schien die politische Einheit möglich zu sein. In den späten fünfziger Jahren machte das MHF konkrete Pläne für eine stärkere Anbindung der Leopoldina. Obwohl das Ministerium Walter Ulbricht 1957 berichten konnte, daß die Zahl der Mitglieder aus dem Osten gestiegen sei, war es entschlossen, die Leopoldina aus der Isolation herauszuholen und wie die anderen Akademien zentral zu kontrollieren. 1959 waren die Mitglieder aus dem Westen immer noch in der Mehrzahl. Trotz jährlicher Zuwendungen von 100 000 Mark hatte das MHF keinen nennenswerten Einfluß. In diesem Jahr entstand die Idee, ein wissenschaftshistorische Institut zu gründen, um darüber die Leopoldina besser kontrollieren zu können. Auch sollte die Kaderpolitik beeinflußt und wie üblich die Zahl der Wissenschaftler aus sozialistischen Ländern erhöht werden. 1959 entwarf das MHF einen Aktionsplan zur Verbesserung des politischen und wissenschaftlichen Einflusses. In Halle sollte ein Büro für die organisatorische Zusammenarbeit mit Ministeriumsangehörigen eingerichtet werden. Das MHF versuchte, die Leopoldina durch die Betreuung der Konferenzen zu beeinflussen, was Übersetzungsarbeiten, die Beantwortung von Anfragen und die Abfassung täglicher Berichte einschloß.29 Das MfS war also nicht die einzige Behörde, die das tägliche Leben und die Wissenschaft in der DDR überwachte. Die Leopoldina setzte jedoch ihre gesamtdeutsche Rhetorik fort und verkündete in der Einladung an ihre Mitglieder zur Konferenz im Frühjahr 1959, daß sie in einer Zeit der drohenden Entfremdung der getrennten Teile des Vaterlandes versucht habe, die Einheit der Kultur auf dem Gebiet der Wissenschaft zu bekräftigen und dafür einzutreten sowie bei jeder sich bietenden Gelegenheit den humanitären Charakter der Wissenschaft zu kultivieren.30 In seiner Eröffnungsrede zu dieser Konferenz fügte Mothes dem Thema noch eine weitere Nuance hinzu, indem er auf Galilei und den fortlaufenden Kampf um die Freiheit der Wissenschaft verwies: Galilei sei ein Symbol und jede Zeit habe ihren ungenannten Galilei.31 In den frühen sechziger Jahren änderte sich das Verhältnis zwischen Leopoldina und MHF nicht wesentlich: Die Akademie hielt weiterhin an ihrem Credo fest, während das Ministerium immer noch seinem Angriffsplan aus den fünfziger Jahren folgte. Nach dem Mauerbau 1961 verlagerte sich die staatliche Kontrolle für das folgende Jahrzehnt auf die Partei und das Büro des Vorsitzenden des Ministerrats. In Übereinstimmung mit dem regierungsoffiziellen Postulat der Existenz zweier deutscher Staaten erwartete das MHF von der Leopoldina, ihre Angelegenheiten entsprechend dieser politischen Realität zu regeln.

27 28 29 30 31

Ebenda. BAP, R-3, 4547, Dr. G. Meinert: Leopoldina: Tradition und Verpflichtung, 11. November 1955, ohne Angabe der Zeitung. BAP, R-3, 4547. Einladung der Leopoldina an die Akademiemitglieder, 15. November 1958, zitiert nach einem Exemplar in SAPMO, IV A2/9.04/363; die Einladung ist aber auch anderweitig verfügbar. Ebenda.

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Als die DDR in den späten sechziger Jahren plante, alle gesamtdeutschen Gesellschaften zu verbieten, wurde im Politbüro die Auflösung der Leopoldina diskutiert - in den Akten des MHF fand ich allerdings hierzu keinerlei Hinweise. Ganz im Gegenteil dazu wird dann Anfang der siebziger Jahre das Verbleiben der Leopoldina in der DDR nachdrücklich befürwortet. Im Zuge der weltweiten internationalen Anerkennung der DDR und im Zusammenhang mit den außenpolitischen Erfolgen der DDR-Politik sah das MHF seit dem Ende der sechziger Jahre und während der siebziger Jahre die Zukunft der Leopoldina im Rahmen dieser Außenpolitik: Der Charakter der Leopoldina als eine internationale wissenschaftliche Gesellschaft mit Sitz in der DDR sollte verstärkt zur Geltung kommen. Auch die Akadamie selbst betonte ihren internationalen Charakter. Von daher überrascht es nicht, daß die Zuständigkeit für die Akademie innerhalb des MHF auf die Auslandsabteilung und schließlich die Abteilung für internationale Beziehungen überging.32 Offenbar nahm die Zahl von Aktionsplänen zur Behandlung der Leopoldina in den siebziger Jahren zu, weil das Ministerium der Meinung war, in den sechziger Jahren zuviel Zurückhaltung geübt zu haben: Es sei in einer Verteidungsposition verharrt und habe meistens erst kurz vor einer bestimmten Aktion reagiert, anstatt aktiv eine eigene Politik zu entwickeln. In Ermangelung einer offensiven, zielgerichteten Leitlinie habe das Ministerium einige notwendige Maßnahmen entworfen. Obwohl das MHF weiter seine ursprünglichen Ziele verfolgte, kam es doch zu einigen Abweichungen.33 Hinsichtlich der anstehenden Herbsttagung über Informatik hatte das Ministerium schon im Februar 1971 Überlegungen angestellt, wie die weitere Entwicklung der Leopoldina beeinflußt werden könnte. Das MHF konstatierte, daß die Akademie bürgerlich geblieben sei und von sich glaube, über den weltweiten Klassenkampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus erhaben zu sein. Weil sie eine wertfreie Wissenschaft kultiviere und sich in solchen Fragen nicht an staatliche Vorgaben gebunden fühle, verkörpere sie eine typisch bürgerlich-konservative Gelehrtengesellschaft. Die Leopoldina hingegen betrachtete sich weiterhin als eine „deutsche" wissenschaftliche Gesellschaft, wobei sich „deutsch" auf alle deutschsprachigen Länder in Mitteleuropa bezog, also Deutschland, Österreich und die Schweiz.34 Obgleich dem MHF klar war, daß sich die Leopoldina aus international anerkannten Gelehrten zusammensetzte, war man nicht glücklich über die Vielzahl westdeutscher Mitglieder. Viele der älteren westdeutschen Mitglieder waren in der NSDAP gewesen und hatten während der Nazi-Zeit wichtige Funktionen an den Universitäten oder in der Kaiser* Wilhelm-Gesellschaft ausgeübt. Das Ministerium beschuldigte etliche, nun einflußreiche Positionen innerhalb des „staatsmonopolistischen" Universitäts- und Wissenschaftsbetriebes Westdeutschlands einzunehmen. Ihr beruflicher Hintergrund führe zur Fortsetzung einer imperialistischen Universitäts- und Wissenschaftspolitik. Als Beispiel nannte das MHF Adolf Butenandt, den damaligen Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft und früheren Vizepräsidenten der Leopoldina. Er sei sowohl aufs engste mit den staatsmonopolistischen westdeutschen Wissenschaftsstrukturen verbunden als auch im Senat der Leopoldina. Wenn die Zahl der Mitglieder aus der sozialistischen Welt auch leicht gestiegen war, 32 33 34

BAP, R-3, 4547, Konzept für eine Aussprache mit Mothes, 5. Oktober 1967. BAP, R-3, 1277/1, Konzeptentwurf zu den Aufgaben des Ministeriums für Hoch- und Fachschulwesen bei der Weiterentwicklung der Deutschen Akadamie der Naturforscher „Leopoldina", 14. Februar 1971. Ebenda.

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hatte die Akademie die politische Zusammensetzung ihrer Mitgliederliste noch immer nicht grundlegend verbessert. Westler mit „bürgerlichen und kleinbürgerlichen Vorstellungen", die auch „antikommunistische und antisozialistische" Ideen einschlössen, seien nach wie vor in der Mehrheit. Der Mitarbeiter des Ministeriums befand, daß unter den Präsidiumsmitgliedern kein einziger Genosse sei und überhaupt nur drei DDR-Mitglieder in der Partei seien.35 Die Maßnahmen zur Bekämpfung dieses Zustandes umfaßten auch die Gründung einer ständigen „Arbeitsgruppe Leopoldina" unter der Leitung des Ministers. Dieser Arbeitsgruppe sollten neben Vertretern des MHF und der Akademie der Wissenschaften auch die „fortschrittlichen" Mitglieder der Leopoldina angehören. Die Aufgabe der Gruppe bestand darin, die Entwicklung der Akademie fortlaufend zu analysieren und Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten sowie Mitgliedschaftskandidaten aus sozialistischen Ländern zu benennen. Die „Aussprachen" mit den Präsidenten sollten fortgesetzt werden.36 Der Wert der Leopoldina für die DDR bestand laut MHF darin, daß sie Wissenschaftler aus der ganzen Welt in der DDR zusammenbrachte und somit diese geballte wissenschaftliche Kraft für die Forschung und Wissenschaft in der DDR nutzbar machte. Das Ministerium schätzte das wissenschaftliche Niveau der Versammlungen, Kolloquien, Vorträge und Veröffentlichungen als hoch ein. Es beabsichtigte ferner, aus den wissenschaftlichen Veranstaltungen für die „sozialistische Gemeinschaft" Nutzen zu ziehen durch die Erörterung grundlegender wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Probleme vom Standpunkt des dialektischen Materialismus aus und durch die Ernennung von Anhängern des dialektischen und historischen Materialismus zu Akademiemitgliedern. Auch sollte der internationale Zuschnitt der Leopoldina durch die Aufnahme einer entsprechenden Klausel in die Satzung garantiert werden. Mit Hilfe des internationalen modus vivendi sollte dann der imperialistische westdeutsche Einfluß zurückgedrängt und gleichzeitig die Repräsentanz „fortschrittlicher" Wissenschaftler verstärkt werden, damit diese zur Umsetzung der „angepaßten Entwicklung" des Sozalismus in der DDR beitragen könnten.37 1972 beschrieb die Abteilung für internationale Beziehungen des MHF ihre prinzipiellen Richtlinien wie folgt: - die Leopoldina in Halle behalten - den westdeutschen Einfluß unterbinden - Schritt für Schritt den eigenen Einfluß ausdehnen - wissenschaftliche Veranstaltungen zur wissenschaftlichen Weiterentwicklung nutzen.38 Zur politischen Absicherung der bevorstehenden Konferenz im Oktober 1972 plante die Abteilung für internationale Beziehungen jede sich bietende Gelegenheit nutzen, sämtliche Versuche einer Demonstration der Einheit der deutschen Wissenschaft zu unterbinden.39 1974 beschwerte sich das MHF über verstärkte Bemühungen der Leopoldina, gesamtdeutsche Aktivitäten in Gang zu setzen und selbst dabei als gesamtdeutsche „Klammer" zu

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Ebenda, S. 3. Ebenda, S. 10-12. BAP, R-3, 1277/1, Konzeptentwurf zu den Aufgaben des Ministeriums für Hoch- und Fachschulwesen bei der Weiterentwicklung der Deutschen Akadamie der Naturforscher „Leopoldina", 14. Februar 1971. BAP, R-3, 1998, Hinweise für die Aussprache des Genossen Minister in Halle, 26. Oktober 1972. Ebenda.

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fungieren. Als Beispiele nannte das Ministerium einige Vorträge, die gemeinsam von West- und Ostdeutschen präsentiert wurden.40 Als Hans Bethge 1975 Präsident wurde, trat, oberflächlich betrachtet, ein scheinbarer Wandel im Verhältnis zwischen Leopoldina und Ministerium ein. In einer vertraulichen Unterredung mit einem MHF-Mitarbeiter machte Bethge die Absicht deutlich, ganz im Interesse der DDR die Arbeit der Akademie so gestalten zu wollen, daß vollkommen offene und vertrauensvolle Beziehungen zum Ministerium und zur Akademie der Wissenschaften möglich seien. Ferner sagte er in dieser vertraulichen Aussprache, daß er Mothes' Stil für zu feierlich und überzogen halte und nicht immer mit Mothes' Einschätzung der Wissenschaftspolitik übereinstimme.41 1979 werden durch das MHF gewisse Fortschritte notiert: Ein Wissenschaftler aus der DDR sollte bei der Hauptversammlung der Leopoldina 1980 den Eröffhungsvortrag halten und sechs Akademiemitglieder kamen mittlerweile aus den Reihen der SED. Das MHF meinte allerdings, daß die westdeutsche Präsenz bei den wissenschaftlichen Zusammenkünften immer noch zu stark sei. Von insgesamt 1010 Mitgliedern kamen 718 aus kapitalistischen und 292 aus sozialistischen Ländern, darunter waren 356 aus Westdeutschland und 143 aus der DDR.42 Offenbar normalisierten sich in den achtziger Jahren die Beziehungen zwischen Leopoldina und MHF. Die Korrespondenz dieser Zeit widmet sich überwiegend organisatorischen Fragen, wie z. B. dem Bau eines neuen Auditoriums und der alljährlichen Übermittlung von Arbeitsplänen. Sehr häufig ging die Anregung für die Treffen mit dem Ministerium von Bethge aus. Es gibt weder Aktionspläne noch Offensivmaßnahmen, selten ist von Politik die Rede und die Satzungsfrage scheint kein Thema mehr zu sein. Der Respekt für das Renommee der Wissenschaftler in der Akademie und das hohe Niveau ihrer Forschungsarbeit ist nach wie vor sehr groß.43 1986, dem Jahr des XI. Parteitags, auf dem Wissenschaft und Technik ein Schwerpunkt waren, formulierte das MHF einige Erwartungen an die künftige Arbeit der Leopoldina, die teilweise die etwas verschwommenen Schwerpunkte für den Universitäts- und Wissenschaftsbetrieb widerspiegelten: Freiheitssicherung, Intensivierung und Wissenschaft, Produktion und Wissenschaft sowie Effektivitätssteigerung in Forschung und Ingenieursausbildung. Im Rahmen ihres Dialogs zwischen Wissenschaftlern aus Ost und West sollte die Akademie den „Geist des Humanismus" zur Geltung bringen, im klaren Glauben an die Verantwortung der Wissenschaftler für die Sicherung der Freiheit und den gesellschaftlichen Fortschritts. Der Mitarbeiter des MHF fügte hinzu, daß die Leopoldina angesichts ihrer historisch bedingten Sonderstellung und Verankerung in den deutschsprachigen Ländern Distanz halten sollte zu allen bürgerlichen Politikern und Ideologen, die von der „Einheit der deutschen Wissenschaft" und dem Fortbestand einer „geeinten deutschen Kulturnation" redeten.44

40 41 42 43 44

Ebenda, „Leopoldina" an den Minister Professor Böhme, 12. Februar 1974. Ebenda, Aktennotiz zum Treffen mit Bethge am 21. Januar 1975. BAP, R-3, 1998, Diskussion mit dem Genossen Hörnig am 18. Oktober 1979. BAP, R-3, die Akten 1998 und 2006 decken die achtziger Jahre ab. BAP, R-3, 1998, erste Hinweise für die Aussprache des Genossen Minister mit dem Präsidenten der Leopoldina, 11. November 1986.

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KOMET (MfS) Im November 1958 wurde von der Bezirksverwaltung Halle des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) ein Operativer Vorgang unter dem Decknamen „Komet" angelegt. Leider ist keine Erklärung füir die Wahl des Decknamens angegeben, aber man darf wohl vermuten, daß die Leopoldina aus der Sicht des MfS innerhalb der DDR einen Fremdkörper darstellte, der sich, wie bei Kometen recht häufig der Fall, auf einer exzentrischen Bahn bewegte. Der Grund für diese Überwachung der Leopoldina war der Verdacht, es gebe in Halle eine von Mothes selbst mit dem Spitznamen „Hallesches Zentrum" bedachte Wissenschaftlergruppe, die den harten Kern des Widerstands gegen die Maßnahmen von Partei und Staat bei der Schaffung sozialistischer Universitäten darstelle. Im gleichen Jahr hatte das MfS schon eine Gruppe von zwölf Universitätsprofessoren namens „Spiritus Ring" zerschlagen, fand nun aber, daß diese andere Gruppe im Vordergrund stand. Das Ministerium begann daher mit der Aufklärung des Charakters dieser Organisation, wobei es sich auf ihre Führer, zehn Professoren der Universität Halle, konzentrierte.45 Zusätzlich zu ihrem Widerstand gegen die Bemühungen der Regierung zur Schaffung sozialistischer Universitäten propagierte die Gruppe offen ihre bürgerliche Ideologie.46 Die Leopoldina wurde auch beschuldigt, möglicherweise gegen vier DDR-Gesetze verstoßen zu haben, indem sie u. a. Verrat, staatsfeindliche Propaganda und Agitation, Staatsverleumdung sowie schädliche Handlungen und Sabotage begangen habe.47 Innerhalb von zehn Jahren produzierte die Bezirksverwaltung Halle des MfS über 18 Bände Material zur Leopoldina mit ungefähr 2700 Seiten. Die Akten bestehen aus Informantenberichten, zusammengefaßten Protokollen abgehörter Telefongespräche, Kopien von Kurt Mothes' Briefen und, besonders bedeutsam, den zusammenfassenden Berichten der für die politisch-operativen Aktionen zuständigen Mitarbeiter zum Fortgang der Maßnahmen und zum Stand der Planung. Die „Freunde des MfS", wie der KGB manchmal genannt wurde, erhielten Kopien der zusammenfassenden Berichte. Operative Vorgänge wurden normalerweise angelegt, wenn eine Person oder Gruppe eines Fehlverhaltens verdächtigt wurde. Unklar bleibt, wie die Aufmerksamkeit des MfS auf die Akademie gelenkt wurde, vermutlich aber wegen des Kontakts der Mitglieder zur Universität in Halle. Mehrere vom zuständigen operativen Mitarbeiter eingesetzte Informanten hatten schon vor der offiziellen Anlage des Vorgangs im Jahre 1958 Berichte über einige Leopoldina-Mitglieder erstellt. Der erste Bericht von „Gisela" stammt von der Konferenz 1955. Obwohl es schwierig ist, die wahre Identität und die Namen der Spitzel durch die Lektüre der Akten zu bestimmen, scheint es sich bei einem der vier regelmäßigen Berichterstatter um einen Professor und bei einem weiteren um eine Sekretärin zu handeln. Die Decknamen der durchweg in „Schlüsselpositionen" plazierten ursprünglichen sechs Informanten waren Egon, Pohl, 45

46 47

Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Zentralarchiv, Nr. 3557/ 69, Operativer Gruppenvorgang Nr. 36/58, 1. April 1995, erste Materialzusammenfassung, „Streng geheim". Die Professoren waren: Kurt Mothes, Erwin Reichenbach (Vizepräsident), Bernd Lueken, Franz Runge, Robert Mark, Theodor Grüneberg, Horst Hanson, Wilhelm Messerschmidt, Rudolf Zaunick, Rudolf Käubier, zeitweise Günther Mönch. Ebenda, Bd. 1, Befehl vom 5. Dezember 1958, S. 167. Ebenda, Bl. 33-34, Zusammenfassung des Materials über das „Zentrum Halle" der Akademie der Naturforscher'Leopoldina', 1. April 1959, S. 12, 13; Strafgesetzbuch der DDR, §§ 13, 19, 20, 23.

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Fink, Sternheim, Paul und Förster. Zahlreiche Berichte betrafen Fakultätsversammlungen der medizinischen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultäten der Universität Halle.48 Die Informanten sollten die Mitglieder der Leopoldina und ihre Kontaktpersonen bespitzeln. Auch sollten sie Nachforschungen zur Kaderpolitik der von Leopoldina-Mitgliedern geleiteten Institute anstellen und den Effekt der Akademiepolitik auf die Universität in Halle und die Entwicklung des Universitätswesens in der DDR überhaupt bestimmen.49 Alfred Trautsch war der operative Mitarbeiter, der den drei Hauptinformanten - Fink, Sternheim und Egon - kurz nach der Anlage des Vorgangs mitteilte, wonach sie vor allem Ausschau halten sollten. Zu den üblichen Spitzelaufgaben gehörten die Anfertigung von Charakterskizzen der bekannten Mitglieder, einschließlich ihrer politischen Überzeugung, die Analyse der Kaderpolitik, die politische Beurteilung der Leopoldina und ihrer Bedeutung sowie ihrer Rolle für und ihres Einflusses auf die Universitätsentwicklung in der DDR. Trautsch war daran interessiert, einerseits „fortschrittliche" Akademiemitglieder zu identifizieren und andererseits herauszufinden, ob es auch „Reaktionäre" oder gar ein „reaktionäres Zentrum" gebe.50 Über den Einsatz von Informanten hinaus, der wichtigsten operativen Bespitzelungsmethode, ließ Trautsch alle Leopldina-Mitglieder anhand der „Belastungskartei", d.h. des NSDAP-Archivs überprüfen. Diese Kartei wurde vor allem in den fünfziger Jahren dazu benutzt, Personen mit einer politisch angreifbaren Vergangenheit, wie z. B. die Zugehörigkeit zur NSDAP, zu erpressen.51 Die Nachforschungen des MfS forderten bei mindestens 88 Akademiemitgliedern eine „Nazi-Vergangenheit" zutage. Der Berichterstatter unterteilte diese „Nazis", darunter offenbar auch jemand, der nur im NS-Lehrerbund gewesen war, nach ihrer Mitgliedschaft in anderen NS-Organisationen, wodurch zahlreiche Mehrfachmitgliedschaften sichtbar wurden: 25 Offiziere oder Professoren, die besonders aktive gewesen waren; 58 NSDAP-Mitglieder; 33 SA-Mitglieder; 9 SS-Mitglieder; 63 Mitglieder von NS-Dozentenbund u. ä.; 19 höhere Offiziere; 30 Freikorpsangehörige und Deutschnationale. Die Mehrzahl der zwölf Professoren des „Hallesches Zentrum" waren auf die eine oder andere Art mit NS-Organisationen verbunden gewesen. Das MfS fand sogar einen Brief Mothes' an Hitler, in dem er sich für seine Ernennung zum Professor der Universität Königsberg bedankte und deren wichtige Rolle im Osten betonte; zugleich gab er seiner Verehrung für den Führer Ausdruck.52 Manchmal setzte das Ministerium Mikrophone, also die damals sogenannte Abteilung O, ein, um mehr über Pläne und Ziele der führenden Mitglieder zu erfahren, allerdings längst nicht so häufig, wie oft vermutet wird. Dies war im Falle der Leopoldina nicht leicht zu bewerkstelligen, da das MfS bestimmt hatte, daß die Treffen sowohl in Mothes' Haus als auch in der Leopoldina stattfinden sollten.53 48 49 50 51 52

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Ebenda, Bd. 1, S. 164. Ebendad, S. 165. Ebenda, Bd. 3, Bl. 89, 91, 95, Fink erhielt seinen Auftrag am 8. Dezember 1958, Sternheim am 5. Januar 1959 und Egon am 8. Januar 1959. Ebenda, S. 165. Ebenda, Bd. 5, Vorläufige Zusammenstellung früherer Nazis in der Leopoldina; Bd. 18, Bl. 34, Abschlußbericht, 26. Juni 1969; Bd 3, Bl. 99,Zusammenfassung des Materials zur Leopoldina, 1. April 1959. Ebenda, Bd. 6, Bl. 135-145, Operationsplan zur Zerschlagung des feindlich-negativen Einflusses, der vom reaktionären „Zentrum Halle" ausgeht.

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Bis zum April 1959 schrieb Trautsch einen zusammenfassenden Bericht über das Material zum „Hallesches Zentrum", von dem fünf Kopien für diverse Abteilungen und die „Freunde" angefertigt wurden. Nach einer Einleitung über die Gründe für den Vorgang und einem Überblick über Geschichte und Struktur der Leopoldina sowie Ziele und Vorstellungen des „Zentrums" nahm der hundertseitige Bericht die Form einer Anklageschrift an, in dem mit Zitaten aus Informantenberichten die Art der feindlichen Tätigkeit und ihr Einfluß auf die DDR illustriert wurde. Nach dieser Lesart bestand das Ziel des „Halleschen Zentrums" darin, die DDR zu unterminieren und letztendlich den verfassungsgemäßen Staat und die gesellschaftliche Ordnung der Deutschen Demokratischen Republik abzuschaffen. Die Mitglieder des „Zentrums" hätten die Vorteile der DDR-Politik gegenüber der Intelligenz dazu ausgenützt, sich selbst in den Mittelpunkt des Geschehens zu rücken.54 Trautsch gab mehrere vorläufige Empfehlungen dazu ab, wie der politische Kurs des „Zentrums" geändert werden könne. Er dachte, die Leopoldina könne zu einer Anpassung an die gesellschaftlichen Gegebenheiten der DDR veranlaßt werden, und betrachtete es als einen großen Vorteil und internationalen Erfolg für die DDR, wenn die Leopoldina dazu gebracht werden könnte, die politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Interessen der DDR zu vertreten. Trautsch wies auf den großen Einfluß und die weitreichenden Kontakte der Akademie hin, aus denen sich Möglichkeiten zur wissenschaftlich-technischen Aufklärung durch die Einheiten für Auslandsspionage ergäben (z. B. durch die Abteilung XV (Auslandsaufklärung) der Bezirksverwaltung). So könnten insebesondere die zahlreichen Westkontakte der Leopoldina zur Beschaffung wissenschaftlich-technischer Informationen genutzt werden. Seiner Meinung nach sollte der Staat der Leopoldina einen „Direktor" zuordnen, da er sie finanziell unterstütze. Auch sei es notwendig, die Satzung zu ändern, damit sich die Akademie den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR anpassen könne. Er glaubte, die Leopoldina könne durch persönliche Kontakte mit Spitzenfunktionären und die Schaffung einer Opposition bzw. Spaltung innerhalb des reaktionären Zentrums durch die Förderung von Rivalen wie Hans Stubbe beeinflußt werden. Das endgültige Ziel sei die Isolierung der Gegner. Die komplizierte Umgestaltung der Akademie zu einem Werkzeug der Arbeiter- und Bauernmacht erfordere den Einsatz aller verfügbaren Mittel des MfS und darüber hinaus.55 Etwas mehr als ein Jahr später entwarf die Abteilung V der Bezirksverwaltung Halle im August 1960 einen weiteren Plan zur Zerschlagung des feindlich-negativen Einflusses des „reaktionären Zentrums Halle". Man hob hervor, daß sich die Leopoldina als einzige Akademie jeglicher Einflußnahme des Staates entzogen habe und jedem Versuch einer Durchsetzung des staatlichen Kontrollanspruchs ausgewichen sei. Das Ziel des Operationsplanes war es, das reaktionäre Zentrum durch die Verbreitung von Mißtrauen in allen Lebensbereichen der Beteiligten mit Hilfe konspirativer Methoden zu vernichten. Auch sollte der aktive Feind durch die Schaffung von Beweismitteln für seine feindlichen Handlungen bloßgestellt, isoliert und liquidiert werden. Um etwaigen Widerstand von seiten Mothes' zu unterbinden, sollten ihm staatliche Auszeichnungen für seine Arbeit als Botaniker verliehen werden.56

54 55 56

Ebenda, Bd. 3, Bl. 120-126, Zusammenfassung des Materials über das „Zentrum Halle", 1. April 1959. Ebenda, Bd. 3, Bl. 166-168, Anhang zur Zusammenfassung. Ebenda, Bd. 6, Bl. 135-145, Operationsplan zur Zerschlagung des feindlich-negativen Einflusses, der vom reaktionären „Zentrum Halle" ausgeht.

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Um Mißtrauen unter den Mitgliedern des „Halleschen Zentrums" zu säen, plante das MfS eine Aussprache zwischen einigen Mitgliedern des Zentrums und dem 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Halle, Franz Bruck, in die einige Bemerkungen aus internen Leopoldina-Sitzungen eingestreut werden sollten. Als Quelle sollte Bruck einen Professor der medizinischen Fakultät nennen. Dieses Muster sollte dann mehrfach in wechselnden Variationen durchgespielt werden. Es kann kaum verwundern, daß Bruck von diesem Vorhaben nicht sonderlich begeistert war und das Ministerium bat, den Plan fallenzulassen, da seiner Meinung nach nur das Problem der „Republikflucht" dadurch verschlimmert werde.57 Die Tatsache, daß ein SED-Sekretär vom MfS zu Rate gezogen und seine Empfehlung befolgt wurde, unterstreicht die Funktion des Ministeriums als Schwert und Schild der Partei und zeigt, daß Partei und Ministerium in der Tat zusammenarbeiteten und ihre Aufgaben absprachen. Bald nach dem Mauerbau nahmen die operativen Maßnahmen in Sachen „Komet" zu. Das MfS wollte die Führungsgruppe unter stärkerer Kontrolle halten und den Einfluß der aktiven Mitglieder zurückdrängen. Dies sollte durch den vermehrten Einsatz von Informanten in Schlüsselpositionen erreicht werden. Die Bezirksverwaltung des MfS in Halle setzte sich wiederum mit Bruck in Verbindung und referierte die jüngsten Entwicklungen der feindlichen Aktivitäten. Die Empfehlungen des MfS sollten letztlich den Ersten Sekretär des Zentralkomitees der SED erreichen. Das Ministerium wollte Hagers Unterstützung für aktive und offensive Maßnahmen.58 Im Januar 1962 wurde über die feindlichen Handlungen des Leopoldina-Zentrums für die SED-Führung in Halle, die Genossen Koenen und Bruck, ein Bericht verfaßt, der für eine Unterredung mit Kurt Hager bestimmt war. Interessanterweise existieren von diesem Bericht zwei Versionen, eine für die SED-Führung und eine interne für die Akte „Komet". Der Hauptunterschied besteht darin, daß in der Version für die Partei die Quellen nicht genannt wurden. So wurde z. B. die Angabe „GM Egon" bei den aus dieser Quelle stammenden Informationen weggelassen, ebenso der Deckname und die Registriernummer des Vorgangs „Komet". Der Bericht konzentrierte sich auf Aktivitäten nach dem Mauerbau, was u.a. das Rundschreiben Mothes' zur Absage der Schweinfurter Konferenz einschloß. Als feindliche Betätigung wurden auch die Versuche des „Zentrums" angesehen, gesetzliche Änderungen in Verbindung mit den „Sicherungsmaßnahmen" vom 13. August 1961 zu erreichen. Auch gebe es Aktivitäten gegen die Versuche, eine störungsfreie Wirtschaft zu erreichen, vor allem bei der Einfuhr von Medikamenten und in der Wissenschaft, sowie feindliche Handlungen gegen das sozialistische Weltsystem. Andere Aktivitäten, die es schon vor dem Mauerbau gegeben habe, wie z. B. Widerstand gegen die Politik der Partei gegenüber der Intelligenz, würden fortgesetzt. Zum Schluß konstatierte der Bericht das Interesse einiger NATO-Geheimdienste an Mothes und spekulierte, daß er auf einer seiner Westreisen rekrutiert werden könnte.59 57 58 59

Ebenda und die Notiz zur Unterredung mit dem 1. Sekretär der Bezirksleitung Halle, dem Genossen Franz Bruck. Ebenda, Bd. 8, Geplante und teilweise verwirklichte Maßnahmen für den Operativen Vorgang „Komet", 29. November 1961. Ebenda, Bd. 10, Bericht über die feindlichen Aktivitäten des sogenannten 'Leopoldina-Zentrums' unter besonderer Berücksichtigung der Aktivitäten seit dem 13. August 1961, 18. Januar 1962, ein handschriftlicher Vermerk auf dem Text besagt, daß die Originalversion ftlr die Genossen Koenen und Bruck

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Als Resultat des Treffens zwischen Bruck und Hager wurden die operativen Handlungen im Umfeld des „Halleschen Zentrums" durch zusätzliche Maßnahmen verstärkt. Zunächst sollte die künftige Zusammenarbeit zwischen Partei und Ministerium noch enger werden. Trautsch, der zuständige operative Mitarbeiter, sollte gemeinsam mit dem SED-Bezirkschef und einem weiteren Abteilungskollegen mit der Universitätsparteileitung zusammentreffen. Auch sollte die Zahl der Spitzel an der Universität Halle erhöht werden, um die Aktivitäten und den Einfluß der Leopoldina-Mitglieder besser kontrollieren zu können. Darüber hinaus sollte die politische Linie der Parteiführung offensiv verwirklicht und der Differenzierungsprozeß vorangetrieben werden. Ebenso war geplant, die Telefon- und Postüberwachung zu verschärfen.60 Das MfS versuchte mehrmals, in den Räumen der Leopoldina „Wanzen" anzubringen, mußte die Aktionen aber abbrechen, als sie zu gefährlich wurden, weil sich anscheinend jemand im Nebenzimmer aufhielt. Im August 1962 wurde beschlossen, eine neue Methode zur Installation technischer Geräte auszuprobieren, und man plante einen Einbruch in die Räume der Leopoldina. Der Einbruch wurde in einem von „N" unterzeichneten Brief an die Bezirksverwaltung Halle des MfS angekündigt. In diesem mysteriösen Brief kündigte „N" für die Nacht des 22. August einen Einbruch in die Räume einer wissenschaftlichen Gesellschaft in der August-Bebel-Straße an und fügte hinzu, aus persönlichen Gründen anonym bleiben zu wollen.61 Die ganzen sechziger Jahre hindurch wurden operative Pläne geschmiedet und Berichte verfaßt. Da keine tatsächlichen Gesetzesverstöße des „Halleschen Zentrums" nachgewiesen werden konnten und viele der Professoren sich mittlerweile im Ruhestand befanden, stellte das Ministerium am 4. September 1969 den Operativen Vorgang „Komet" ein und legte statt dessen wieder eine Objektakte an. Im Gegensatz zu Operativen Vorgängen, die Ermittlungscharakter hatten und Material und Informationen zum Nachweis eines vermuteten Fehlverhaltens beschaffen sollten, diente eine Objektakte der Materialsammlung und Überwachung eines Objekts ohne die Absicht einer strafrechtlichen Verfolgung.62

Ein Vergleich mit anderen gesamtdeutschen Gesellschaften Schon in den fünfziger, vor allem aber in den sechziger Jahren gab es auf ostdeutschem Boden nur noch wenige Institutionen, die ihre Aktivitäten sowohl im Osten als auch im Westen aufrechterhalten konnten. Dies hatte mehrere Gründe. Den sichtbarsten und deutlichsten Grund für die abnehmenden Kontakte zwischen Ost und West stellte die physische Barriere dar, zunächst in Form der Besatzungszonen mit den einhergehenden Schwierig-

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angefertigt worden sei. Der Titel der zweiten Version lautet: Bericht zum Operativen Vorgang „Komet" ... unter besonderer Berücksichtigung der Aktivitäten nach dem 13. August 1961. Ebenda, Bd. 11, Hauptsächliche Maßnahmen zur weiteren Bearbeitung des Operativen Vorgangs „Komet", 30. März 1962. Ebenda, Bd. 13, „N" an Beizirksverwaltung Halle des MfS, 19. August 1962. Ebenda, Bd. 18, Abschlußbericht, 26. Juni 1969; Anweisung zur Einstellung des Vorgangs, 4. September 1969.

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keiten beim Grenzübertritt und schließlich die Mauer. Zum anderen forderte die SED nicht gerade die Kontakte zwischen Ost und West, da sie ja sämtliche Institutionen auf dem Wege der Ersetzung des Personals durch überzeugte Kommunisten sozialistisch umgestalten wollte. Wenn eine Einrichtung nicht schon durch eine starke gesamtdeutsche Haltung geprägt war, führte die allgemeine politische Entwicklung, die mit der zunehmenden Abgrenzung des Ostens vom Westen einherging, zur Isolierung von Institutionen aus dem Westen. Unmittelbar nach dem Mauerbau war die Sorge groß, daß die zwei wissenschaflichen Gemeinschaften voneinander abgeschnitten werden könnten. Immer wieder fand ich Hinweise auf den bevorstehenden Verlust der Einheit der Wissenschaft als Folge der zunehmenden Trennimg. So gab es z. B. im Institut der Akademie der Wissenschaften in BerlinBuch nach dem 13. August 1961 mehrere Tage lang zahlreiche Diskussionen über die Einheit der deutschen Wissenschaft. Viele Forscher meinten, die Einheit der deutschen Wissenschaft werde zestört, weil z. B. nicht mehr an Konferenzen in Westdeutschland teilgenommen werden könnte.63 In Deutschland gab es noch einige andere Institutionen, die entweder je einen Sitz in Ost und West hatten, wie die Leopoldina, oder schon immer ihre gesamtdeutsche Einstellung betont und in Phasen der Teilung propagiert hatten. Die Goethe-Gesellschaft in Weimar, mit einem westlichen Sitz in Frankfurt, war eine dieser wenigen gesamtdeutschen Einrichtungen. Obwohl sie, abgesehen von Goethes naturwissenschaftlichen Beiträgen, keinen direkten Bezug zu den Naturwissenschaften hatte, durchlief sie zwar keine identische aber doch ähnliche Entwicklung wie die Leopoldina. Wie letztere versuchte auch die Goethe-Gesellschaft, die Einheit der Gesellschaft in einer Zeit nationaler Teilung zu wahren. Auf ihren Generalversammlungen bediente auch sie sich einer gesamtdeutschen Rhetorik, mit der sie die Vorstellung von der Einheit Deutschlands am Leben zu erhalten trachtete.64 Obwohl die sowjetische Besatzungsmacht die Wiedereröffnung der Gesellschaft schon 1946 genehmigte hatte, fand die erste Jahresversammlung erst 1954 statt. Ihre Kontinuität wurde durch den Tod ihres Präsidenten unterbrochen. Andreas Wachsmuth, ein Westberliner, übernahm daraufhin 1951 die Präsidentschaft. Er wurde dafür gelobt, das sinkende Schiff über Wasser gehalten und geschickt die Ost-West-Spannungen entschärft zu haben. Da er kein Marxist war, überrascht es nicht, daß die SED in der Gesellschaft ein Trojanisches Pferd zur Einschleusung bürgerlicher Vorstellungen in die DDR erblickte. Kurt Hagers Haltung gegenüber der Gesellschaft ähnelte seinen Vortsellungen über die Leopoldina, wobei er der letzteren allerdings den Vorzug gab, da sie die ostdeutsche Wissenschaft unterstützte. 1957 erklärte Hager, daß alle gesamtdeutschen Institutionen Agenten der Ideologie des Westens seien.65 Obgleich bisher keine systematische Analyse der Beziehungen zwischen SED, MHF und MfS auf der einen Seite und der Goethe-Gesellschaft auf der anderen Seite unternommen wurde, läßt das vorhandene Material weitere Ähnlichkeiten erkennen, besonders was die Rolle von SED und MHF und ihre Beziehungen zur Goethe-Gesellschaft angeht. Wie die SAPMOED, IV A 2/ 9.04/ 259:304, Einschätzung der kaderpolitischen Situation in bezug auf den 13. August 1961. 64 K. R. Mandelkow. Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers, Band II, 1919-1982, München 1989; zur Goethe-Gesellschaft als einer geamtdeutschen Institution siehe S. 164-170. 65 Ebenda, S. 166.

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Leopoldina unterstand auch die Goethe-Gesellschaft der Zuständigkeit des MHF. So beurteilten Alexander Abusch und Wilhelm Girnus die Gesellschaft und ihre Rolle für die Kulturpolitik. Zwischen der sozialistischen und der kapitalistischen Welt hatte eine Auseinandersetzung um das Erbe Goethes eingesetzt. So wurde Goethe ein Modellfall für den Kampf um die jeweils größere Leistungsfähigkeit in der wirtschaftlichen, moralischen und intellektuellen Arena. Auch die chronologische Entwicklung der Goethe-Gesellschaft von den fünfziger Jahren bis in die siebziger Jahre verlief ähnlich wie die der Leopoldina. Seit den siebziger Jahren begann die Goethe-Gesellschaft ebenfalls, ihren internationalen Charakter zu unterstreichen.66

Schlußfolgerungen Zweifellos entspricht die Behauptung, die Leopoldina sei von kommunistischen Einflüssen weitgehend frei geblieben, der Wahrheit. Die Geschichte ihrer Beziehungen zu den Staatsorganen zeigt, wie diese im großen und ganzen vergeblich versuchten, ihre Kontrolle durchzusetzen. Wir sahen, daß die Akademie zum Teil deshalb überlebte, weil sie hartnäckig und erfolgreich an ihren Traditionen und ihrer Hinhaltetaktik festhalten konnte. Da es ein erklärtes Ziel der Partei war, Wissenschaft und Technik zu fördern, entsprach es ihren Interessen, an der Leopoldina festzuhalten, obwohl sie nicht dem gültigen Bild einer sozialistischen wissenschaftlichen Einrichtung gerecht wurde. Wenn es der Leopoldina gelang, sich den Maßnahmen von Staat und Partei zu widersetzen, müßte das dann auch anderen möglich gewesen sein? Manche wollten natürlich sozialistische Universitäten und Akademien schaffen und setzten folglich den Maßnahmen zur Umgestaltung keinen Widerstand entgegen. Was die Akademie der Wissenschaften betrifft, so wurde sie, wie Peter Nötzold in seinem Kapitel zeigt, von einer Gelehrtengesellschaft in eine riesige Forschungsakademie nach sowjetischem Muster umgewandelt. Viele Universitäten wurden umgestaltet, auch wenn es einige Widerstandsnester vor allem seitens der alten Intelligenz in der Anfangsphase gab. Der Staat war jedoch viel stärker an der Brechung des Widerstandes in den Universitäten interessiert, da es sich bei diesen um Schlüsselinstitutionen des Bildungswesens handelte, welche es für eine neue Macht, die ihre Weltanschauung durchzusetzen beabsichtigte, unbedingt zu kontrollieren galt. Im Gegensatz dazu wirkte die Leopoldina wie eine eher exzentrische und relativ kleine Akademie ohne Forschungsinstitute und Studenten. Im Umgestaltungsprozeß kam ihr deshalb nur eine untergeordnete Bedeutung zu, auch wenn ein durchaus großes Interesse an ihrer Unterstützung bestand, weil sie zur Verbesserung des internationalen Prestiges der DDR beitrug und seit den siebziger Jahren auch für die Außenpolitik der DDR instrumentalisiert werden konnte.. Ein ähnliches Umgestaltungsmuster zeigte sich nach der Machtübernahme der Nazis in der Frühphase des Dritten Reiches, wobei es sich um eine Weltanschauung und politische Bewegung am entgegengesetzten Ende des ideologischen Spektrums drehte. Die Nationalsozialisten hatten ihre Aufmerksamkeit der Umgestaltung der Universitäten im Sinne ihrer

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Ideologie gewidmet, während sie die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zunächst vernachlässigten, da es sich bei ihr um eine Forschungsgesellschaft handelte. In der DDR aber profitierte die Leopoldina im Vergleich zu anderen Institutionen noch von einem weiteren Schutzfaktor: Sie konnte im Prinzip ihren Sitz ins westdeutsche Schweinfurt verlegen, was Partei und Staat unbedingt vermeiden wollten. Immer wenn die Spannungen zunahmen, drohte die Akademie mit ihrem Umzug. Mothes und die anderen Führungsköpfe waren international bekannte und hochangesehene Wissenschaftler. Ihre gesamtdeutsche Rhetorik hatte letztendlich einen hochpolitischen Charakter, selbst wenn sie damit das Ziel einer auch weiterhin wertfreien Wissenschaft verfolgten. Schließlich waren sie politisch konservativ und gehörten der älteren Generation an. Die jeweilige Rolle der einzelnen Eckpunkte des Dreiecks von SED, MHF und MfS beleuchtet sowohl die Absichten des Staates als auch die Art seiner Zieldurchsetzung im allgemeinen. Die Partei legte die grundsätzlichen Richtlinien der Politik fest, während sich das MHF um die konkreten und häufigen Direktkontakte mit der Leopoldina kümmerte. Kurt Hager, zuerst als Mitglied des Zentralkomitees und dann des Politbüros, war für die Akademie zuständig und führte zahlreiche „Aussprachen" mit Mothes und Bethge. In Krisensituationen wurde sogar der Ministerpräsident bzw. der Vorsitzende des Ministerrats hinzugezogen. Dabei ist zu beachten, daß die Partei niemals die Absicht hatte und auch nie versuchte, die wissenschaftliche Arbeit der Leopoldina-Mitglieder direkt zu beeinflussen oder die Konferenzthemen zu zensieren. Die Partei war anfangs in erster Linie daran interessiert, Personalfragen ihrer Kontrolle zu unterwerfen und die Akademiefiihrung auf ihre Seite zu ziehen, wie es ihrer Kaderpolitik, insbesondere der Intelligenz gegenüber, entsprach. Dieses Interesse, den Hintergrund der Mitglieder im Auge zu behalten und zu kontrollieren, blieb während der gesamten DDR-Zeit bestehen. Nach dem Mauerbau erwartete die Regierung von der Leopoldina, daß sie sich in die Tatsache der Teilung Deutschlands in zwei gesellschaftliche und politische Lager fuge. Letztlich paßte die Leopoldina in die neue internationalistische Politik der DDR, die in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren die verstärkte Anerkennung durch das Ausland erlangte. Von allen Staatsorganen schien das MHF, seine Kontrolle am stärksten ausüben zu wollen. Während es sich in den fünfziger und sechziger Jahren selbst als zu passiv bezeichnete und deshalb in den siebziger Jahren Aktionspläne schmiedete, wollte es nichtsdestotrotz die Akademie dazu veranlassen, ihre Satzung zu ändern und mehr „fortschrittliche" Wissenschaftler aufzunehmen. So sorgte das Ministerium auch dafür, daß Erwin Reichenbach vorzeitig in den Ruhestand ging. Schließlich und endlich war das MfS wirklich Schild und Schwert der Partei, zu deren Schutz es feindliche Aktivitäten zerschlagen sollte. Die Tatsache, daß die SED-Bezirksleitung Halle gegen einige operative Vorhaben des Ministeriums ihr Veto einlegen konnte, zeigt, in welchem Maße das MfS ein Arm der Partei und kein Staat im Staate war. In der Tat arbeiteten Ministerium und Partei in kritischen Phasen eng zusammen. Die Partei erhielt sogar ein Exemplar eines internen MfS-Berichts über die Leopoldina, so daß sie weitere staatliche Maßnahmen gegen die Aktivitäten des „Halleschen Zentrums" planen konnte. Obgleich bis zu einem gewissen Grad übertrieben, schilderte das MfS die Gruppe zutreffend als „reaktionär" und der Umgestaltung gegenüber feindlich gesinnt. Es fand bei den Führern der Gruppe sogar dunkle Flecken aus der Nazi-Zeit, verwendete dies aber nicht gegen sie. Der Operative Vorgang wurde 1969 letztlich eingestellt, weil die meisten

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der observierten Wissenschaftler sich (freiwillig) aus der Universität in den Ruhestand zurückgezogen hatten und das Ministerium glaubte, daß sie somit von der Bildfache verschwunden seien. Es gab nur sehr wenige gesamtdeutsche Einrichtungen in der DDR. Der Vergleich mit der Goethe-Gesellschaft zeigt, inwieweit der Staat gegenüber den bestehenden gesamtdeutschen Institutionen strukturell eine ähnliche Politik verfolgte. Die hier dargestellte Geschichte schildert, wie das Dreigestirn aus SED, MHF und MfS versuchte, die Entwicklungsrichtung der Leopoldina steuernd zu beinflussen und zu kontrollieren, und dies hat sicherlich Implikationen für die Interpretation der DDR als Verkörperung eines totalitären Staates in den fünfziger Jahren. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Peter Jaschner.

Disziplinen

DOLORES L. AUGUSTINE

Zwischen Privilegierung und Entmachtung: Ingenieure in der Ulbricht-Ära Genossen, Ihr habt Euch gut geschlagen, jetzt beginnt der Ernst der Revolution. Werdet Techniker, werdet Ingenieure, lernt ökonomisch denken! W.I. Lenin

In der Ulbricht-Ära wurde der technische Fortschritt zum Motor der sozialistischen Umgestaltung proklamiert; er sollte von der „neuen technischen Intelligenz" vorangebracht werden, einer neuen Klasse technischer Spezialisten, hervorgegangen hauptsächlich aus Arbeiterklasse und Bauernschaft und offen für Frauen, doch ohne professionelle Autonomie. Erfreuten sich die Ingenieure in der DDR tatsächlich jener Macht und jenem Prestige, die ihnen offiziell zugeschrieben wurde? Nahmen sie die nach sowjetischem Vorbild gestaltete technische Kultur passiv an? Dieser Beitrag konzentriert sich auf die Geschichte des Ingenieurberufs in der DDR bis zum Jahre 1971 und untersucht die Geschichte dieser Berufsgruppe und ihres Berufsethos sowie die Versuche seiner Instrumentalisierung durch Staat und Partei. Dabei werde ich auf die breite Masse der Ingenieure in der volkseigenen Industrie eingehen und dazu Archivgut heranziehen, das seit 1989 zugänglich geworden ist. Nach 1945 wurde der Beruf des Ingenieurs radikal umgestaltet; an die Stelle des westlichen Modells der freien Berufe trat das sowjetische Modell der Berufsausübung im Staatsauftrag.2 Auch wenn nach 1945 die Berufspraxis in vielen Bereichen keine radikale Umgestaltung erfuhr und der Beruf nach wie vor ein organisierendes Prinzip der Gesellschaft bildete, waren alle Berufe nun der staatlichen Kontrolle unterworfen, von ihren historischen Bindungen an das Bürgertum gelöst und ihrer Fähigkeit beraubt, sich gegenüber Staat und Industrie als Interessengruppen selbst zu regulieren und zu organisieren.3 Grundlegend verändert wurde die Arbeit der Ingenieure auch durch die staatliche Wirtschaftspolitik, besonders durch die Einfuhrung der Planwirtschaft und des Neuen Ökonomischen Systems/NÖS (seit 1963), das eine Dezentralisierung der wirtschaftlichen Entscheidungen ebenso wie die Förderung des technischen Fortschritts versprach. Dieser Aufsatz wird versuchen, die Inkonsistenzen der staatlichen Politik offenzulegen, die Wege, auf denen sie * Die Forschungsarbeiten für diesen Beitrag wurden teilweise durch ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) gefordert. Der DAAD trägt keine Verantwortung für den Inhalt. 1 Der Redner auf einer Kreisdeligiertenkonferenz der SED im Jahre 1949 namens Richter schrieb dieses Zitat einer Arbeit Lenins aus dem Jahre 1923 zu. Die Quelle konnte jedoch nicht identifiziert werden. Protokoll einer Kreisdelegiertenkonferenz der Partei in Köpenick am 12.-13. November 1949, Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (im folgenden: SAPMO) IV2/ 5/1196. 2 Siehe AT. Jarausch: TheUnfree Professions. German Lawyers, Teachers, and Engineers, 1900-1950, New York 1990, insbes. S. 22-23. 3 Zu den historischen Erscheinungsformen von Beruf und Professionalisierung, Siehe H. Siegrist: Bürgerliche Berufe. Die Professionen und das Bürgertum, in: Derselbe (Hg.): Bürgerliche Berufe, Göttingen 1988.

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einander durchkreuzende Ziele verfolgte oder soziale und wirtschaftliche Veränderungen mit unbeabsichtigten Konsequenzen herbeiführte. Wenngleich der Ingenieurberuf in der DDR revolutionären Veränderungen unterworfen war, gab es auch Kontinuitäten mit der vorsozialistischen Vergangenheit. Zum einen existierte weiterhin eine gewisse „Ingenieursmentalität", bei der eine technische, nichtideologische Sicht, Probleme zu lösen, zentral war und die man als technokratisch bezeichnen kann. Zum zweiten stellte die Geschichte des Ingenieurberufs in der vorsozialistischen Ära eine wichtige Referenzebene für das Selbstbewußtsein der Ingenieure dar. Verglichen mit solchen Berufen wie Arzt und Anwalt, erfuhren die Ingenieure vor 1933 nur eine unvollständige Professionalisierung.4 Konrad Jarausch zufolge gewann jedoch der NS-Staat die Loyalität vieler Ingenieure, indem er diese Trends umkehrte und die Ingenieure so mit beruflichen Möglichkeiten und Prestige ausstattete, wie es die Weimarer Republik nicht getan hatte. Diese kollektive Erinnerung an eine Pseudo-Professionalisierung (vielleicht bestärkt durch Vergleiche mit dem Ingenieurberuf in Westdeutschland) bildete einen hintergründigen Bezugsrahmen für die Beziehungen zwischen den Ingenieuren und dem politischen System in der DDR. Es muß angemerkt werden, daß der Gebrauch des Begriffs „Ingenieur" hier nicht ganz unproblematisch ist. Theoretisch gingen die Ingenieure in die technischen Intelligenz auf, eine Schicht, die alle Personen mit einer formalen höheren Ausbildung auf technischem oder naturwissenschaftlichem Gebiet umfaßte5; in der Praxis wurden sie jedoch von vielen weiterhin als ein besonderer Berufsstand angesehen, wie aus Akten von Partei, Staat und Industrie ebenso wie aus Literatur und Film, aus ostdeutschen soziologischen Untersuchungen und aus den Erinnerungen vieler früherer DDR-Bürger ersichtlich ist. In der Volkszählung des Jahres 1950 waren Ingenieure mit Technikern6 und anderen verwandten Berufen zusammengefaßt, während sie bei der Zählung von 1964 eine separate Kategorie bildeten. Die Bezeichnung „Ingenieur" nutzt auch bei der Untersuchung von Kontinuitäten zur Vorkriegszeit. Eine weitere terminologische Schwierigkeit liegt in dem Umstand, daß es für den Begriff des „Ingenieur" in der deutschen Sprache lange keine exakte Definition gab, da er sämtliche technischen Tätigkeiten oberhalb des Niveaus von Facharbeitern und Meistern einschloß. In der DDR war der Titel Ingenieur generell für Absolventen der Technischen Fachschule („Ingenieure") und der Technischen Hochschule („Diplom-Ingenieure") reserviert, wenngleich er in Ausnahmefällen (vermutlich in der Hauptsache an ältere Ingenieure) auch allein für berufliche Erfahrung und Kompetenz verliehen wurde.7 Der erste Abschnitt behandelt die staatliche Bildungspolitik und die Rekrutierung von Ingenieuren und geht darauf ein, wie gut die staatliche Bürokratie diese plante, welchen 4 Beispielsweise waren die Ingenieure außerstande, standardisierte Eintrittsbedingungen für ihren Beruf (wie universitäre Grade oder Staatsexamina) durchzusetzen, Siehe: K. Jarausch. a. a. O.; K. Gispen: New Profession, Old Order. Engineers and German Society, 1815-1914, Cambridge 1989; K.-H. Ludwig: Technik und Ingenieure im Dritten Reich, Düsseldorf 1974; J. Herf. Reactionary Modernism. Technology, Culture and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge 1984. 5 Dazu gehörten alle mit Forschung und Lehre auf technischen Gebieten befaßten Personen, neben den Ingenieuren ebenso auch Techniker, Chemiker und mitunter sogar hochqualifizierte Facharbeiter. 6 Nach Ausbildung, Fähigkeiten und Verantwortung stand der Beruf des Technikers auf halbem Wege zwischen den Ingenieuren und den Meistern bzw. Brigadieren. Techniker wurden in einer Ingenieur-Fachschule oder einer Betriebsakademie ausgebildet. Siehe G. Erbe: Arbeiterklasse und Intelligenz in der DDR, Opladen 1982, S. 76. 7 H. Zimmermann u. a.: Artikel „Intelligenz", in: DDR-Handbuch, Köln 1985, Bd. 1, S. 658.

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Einfluß die Abwanderang von Ingenieuren nach dem Westen ausübte, wie der Staat versuchte, die soziale Zusammensetzung des Ingenieurbestandes und die Anteile der Geschlechter zu verändern. Im zweiten Abschnitt werden die beruflichen Interessen der Ingenieure untersucht, insbesondere ihre Bezahlung, die gewährten Vergünstigungen und die betrieblichen Machtstrukturen. Dabei gehen wir der Frage nach, wie diese Aspekte des Berufslebens die Haltungen der Ingenieure zum Staat beeinflußt haben, insbesondere ihre Entscheidung, in der DDR zu bleiben oder in den Westen zu gehen. Drittens wird das Verhältnis der Ingenieure zur SED analysiert. Abschließend gehe ich anhand einer Fallstudie aus einem Berliner Großbetrieb auf die unmittelbare Arbeit der Ingenieure ein, insbesondere im Bereich von Forschung und Entwicklung.

Die staatliche Politik auf dem Gebiet der höheren technischen Bildung und der Rekrutierung von Ingenieuren Die Abwanderung technischer Spezialisten stellte ein zentrales Problem der DDR-Politik bis zum Mauerbau dar. Im Jahre 1950 gab es 106 777 Ingenieure und Angehörige verwandter technischer Berufe (Techniker) bei insgesamt 7,2 Millionen Beschäftigten8; auf dem Höhepunkt der Fluchtbewegung in den Jahren 1958/1959 verließen pro Monat etwa einhundert Ingenieure die DDR9. Die Auswirkungen des Exodus an technischen Experten war weit größer, als die bloßen Zahlen vermuten lassen. Der gleichzeitige Verlust mehrerer technischer Spezialisten konnte in bestimmten Industriezweigen oder Betrieben eine Krisensituation hervorrufen. Beispielsweise quittierten im dritten Quartal 1950 in den ElektroApparate-Werken Berlin-Treptow 11 Ingenieure ihren Dienst und nahmen Stellen in WestBerlin an. Der Werkdirektor floh etwa zur selben Zeit.10 Ein wichtiges Forschungsprojekt im VEB Farbenwerk Wolfen wurde 1958 eingestellt, nachdem drei Angehörige des Forschungsteams die DDR verlassen hatten.11 Der Maschinenbau war der am stärksten betroffene Industriezweig; in den Jahren 1958-1960 verzeichnete er monatliche Verluste von etwa 25 bis 30 Beschäftigten mit höherer Ausbildung.12 Die verantwortlichen Politiker der DDR gewannen den Eindruck, daß der Mangel an Ingenieuren den technischen Fortschritt bremsen würde, insbesondere so ehrgeizige Vorhaben wie das Chemieprogramm. 1958

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Diese Berechnungen der Verf. (in der Originalquelle werden keine Gesamtzahlen angegeben) beruhen auf: Statistisches Bundesamt, Außenstelle Berlin-Mitte (im folgenden: SB): Volks- und Berufszählung in der DDR am 31. August 1950, S. 200- 209 und nichtnumerierte Seiten für Berlin. Schätzungen der Verf., gestützt auf: Berichte der Abteilung für Staats- und Rechtsfragen vom 12. 12. 1958, 23. 1. 1959, 2. 2. 1959, SAPMOIV2/2.029/ 114. Rundschreiben vom 5.10. 1950, Bundesarchiv, Abteilung Potsdam (im folgenden: BAP), F-4 461. Analyse über die Republiküuchten aus der chemischen Industrie, undatiert (am 8. Juni 1959 an Erich Apel übermittelt), S. 3, SAPMO IV2/ 2.029/ 114. Berichte der Kaderabteilung der Staatlichen Plankommission vom 12. 12. 1958, 30. 7. 1960, 9. 4. 1960, SAPMO IV2/2.029/114.

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wurde die Befürchtung geäußert, daß der DDR in der Zukunft 30 000 Ingenieure fehlen könnten.13 Der Staat antwortete mit einer Doppelstrategie: Er bot erfahrenen Ingenieuren (meist solchen, die vor 1945 ausgebildet waren) besondere Anreize, in der DDR zu bleiben; gleichzeitig begann er das höhere technische Bildungswesen auszubauen, wobei es ähnliche Bemühungen auch in anderen Ostblockländern gab14. Von 1951 bis 1955 nahmen die Immatrikulationen von Direktstudenten an Fachschulen um 41,4 % zu, von 34 737 auf 49 132 Hauptfachstudenten.15 Die Anzahl der Absolventen technischer Fachschulen in den sechs wichtigsten ingenieurtechnischen Fachgebieten verdoppelte sich zwischen 1957 und 1961, und zwar von 8 884 auf 17 144, während die Zulassungen um 78,3 % zunahmen, nämlich von 15 648 auf 27 898.16 An den Technischen Hochschulen stieg die Zahl der Neu-Immatrikulationen für das Ingenieurstudium (nur Direktstudenten) von 14 860 im Jahre 1956 auf 18 670 im Jahre 1961 (ein Anstieg um 25,6 %), während insgesamt in dieser Periode die Einschreibungen an den Universitäten und den Technischen Hochschulen nur um 17,3 % zunahmen.17 In den späten fünfziger Jahren kamen in der DDR neun Ingenieurstudenten auf 10 000 Einwohner, wogegen es in der Bundesrepublik nur vier waren.18 In der Zeit des NÖS wuchsen die Immatrikulationszahlen für technische Fächer an den Hochschulen in besonders raschem Tempo, zwischen 1960 und 1965 um 51,8 % (von 18 670 auf 28 344) und zwischen 1965 und 1970 um 62,2 % (auf 45 967). Demgegenüber nahm die Gesamtzahl der Hochschulstudenten zwischen 1965 und 1970 nur um 16,8 % zu19. Die Anzahl der Beschäftigten mit Ingenieurabschluß stieg von 189 604 im Jahre 1964 auf 281 219 im Jahre 1971.20 Verschiedene Faktoren beeinträchtigten jedoch den Einsatz der ausgebildeten Ingenieure und führten nach dem Mauerbau zu einer Stellenknappheit im Ingenieurwesen.21 Viele Ingenieurpositionen waren noch von Beschäftigten ohne Abschlüsse besetzt, und die Werkleiter waren nicht geneigt, sie aus diesen Stellen zu entfernen - teilweise wegen der in 13 14 15

Analyse über die Republikfluchten aus der chemischen Industrie, SAPMOIV2/ 2.029/114. Vgl. den Beitrag von J. Connelly im vorliegenden Band. Studierende an sämtlichen Ing.- und Fachschulen nach sozialer Herkunft (Tabellen), SAPMO IV2/ 9.04/ 478. Diese Daten (erfaßt sind ausschließlich Direktstudenten) unterscheiden sich von denen des Statistischen Jahrbuches der Deutschen Demokratischen Republik 1956 (Berlin 1956, S. 117). Im Unterschied zu den SAPMO-Daten schließen die veröffentlichten Daten die Ingenieurschulen nicht mit ein, enthalten aber jene Fachschulen, die direkt einzelnen Fachministerien unterstellt waren und bei den nicht veröffentlichten Daten nicht berücksichtigt wurden (Ziffern 18-23). 16 Ingenieur- und Fachschulen / DDR / sämtliche Ausb.-Ziele (Tabellen), SAPMO IV A2/ 9.04/ 379. Die Zahlen schließen Fern- und Abendstudenten ein. 17 Vorlage über die Planung, Ausbildung, Erziehung und Verteilung der Hochschulabsolventen auf dem Gebiet der Elektrotechnik..., 1962, S. 3, BAP, F-4 Nr. SFT 47. 18 Bericht der Parteiorganisation der Akademie vom 6. 1. 1958: „Warum können nicht alle Abiturienten studieren?", SAPMO IV2/ 9.04/ 477. 19 Siehe S. Baske: Bildungspolitik in der DDR 1963-1976, Wiesbaden 1979, S.469 und Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1971, Berlin 1971. 20 1964 waren in der DDR 159 921 Personen als Ingenieure beschäftigt. Die Volkszählung von 1971 macht keine Angaben über die Anzahl der als Ingenieure tätige Personen. Die Berechnungen der Verf. beruhen auf SB: Ergebnisse der Volks- und Berufszählung am 31. Dez. 1964, Berlin (DDR) 1967, Bd. 1, S. 276278, 291-294; Volks-, Berufs-, Wohnraum- und Gebäudezählung am 1. Jan. 1971, Bd. 5: Wirtschaftlich tätige und nicht wirtschaftlich tätige Wohnbevölkerung, Berlin (DDR) 1972, S. 114-119. 21 Bericht der Parteiorganisation der Akademie vom 6. 1. 1958, SAPMO IV2/9.04/477.

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der DDR-Industrie vorherrschenden Auffassung, daß Erfahrung mehr zähle als akademische Ausbildung.22 Ein Resultat der Tatsache, daß das staatliche Planungsregime die industrielle Produktion (und dabei mehr die Mengen als die Qualität) und weniger den Bereich Forschung und Entwicklung betonte. Außerdem befürchteten die Werkleiter gerade in der NÖS-Periode, ihre Stellungen an akademisch ausgebildete Experten zu verlieren. Deshalb waren sie kaum bereit, Personal mit Ingenieurabschlüssen einzustellen und zu fördern.23 Nach und nach wurden diese Probleme überwunden, und die Zahl der Ingenieure wuchs von 31 pro tausend Beschäftigte im Jahre 1961 auf 68 im Jahre 1970.24 In den fünfziger und frühen sechziger Jahren - in einer Zeit, als die DDR die Anzahl der Ingenieure in der Industrie erhöhte - unternahm der Staat den Versuch, die soziale Zusammensetzung der höherqualifizierten Berufe, darunter auch der Ingenieure, zu verändern. Die DDR eröffnete jungen Leuten aus der Arbeiterklasse und der Bauernschaft Möglichkeiten zur Ingenieurausbildung, die in der deutschen Bildungsgeschichte beispiellos waren und auch in der Bundesrepublik nicht existierten. Man forderte, daß mehr als 60 % aller Ingenieurstudenten aus diesen Kreisen kommen sollten, und es wurden vor allem junge Facharbeiter zum Erwerb von Ingenieurabschlüssen ermutigt. Arbeiter unter 25 Jahren konnten dabei zu regulären Ausbildungsprogrammen an die Arbeiter- und BauernFakultäten „delegiert" werden, während ältere Arbeiter im allgemeinen an einem Teilzeit-, Fern- oder Abendstudium teilnahmen. Sozialistische Betriebe unterliefen diese Forderungen in erheblichem Maße, weil sie hochqualifizierte Arbeiter in der Produktion behalten wollten25. Es war wichtig, diesen Widerstand zu überwinden. Dies nicht allein wegen der gewünschten Rekrutierung von Arbeitern für höherqualifizierte Berufe, sondern auch um den generellen Rückgang bei den Studienbewerbungen - hervorgerufen durch die niedrigen Geburtenraten der Jahre 1940 bis 1945 - zu begegnen.26 Eine Teillösung wurde in einer Ausdehnung des Fern- und Abendstudiums gesucht.27 In der NÖS-Periode wurde zudem die einseitige Betonung der Herkunft gegenüber der Begabung bei der Auswahl der Studenten weitgehend aufgegeben, zumal dieses klassenbasierte Quotensystem von Anfang an Gegenstand kontroverser Diskussionen war.28

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Information an die Abt. Wissenschaften beim ZK der SED über die Schwierigkeiten beim Einsatz von Hoch- und Fachschulabsolventen, undatierter Bericht, SAPMO IV A2/ 9.04/ 402. Eine in den fünfziger Jahren angefertigte Übersicht zeigt, daß die Hälfte der unteren Leitungskräfte und der Lehrer nur über Volksschulbildung verfugte, Siehe Th. A. Baylis: The Technical Intelligentsia and the East German Elite, Berkeley 1974, S. 28. Einschätzung des Berufseinsatzes der Hochschulabsolventen 1957 (insbes. S. 3), SAPMO IV2/ 9.04/ 607. Daten übermittelt von der Kammer der Technik (R.Höntzsch). Keine Registriernummer. Die Daten basieren auf Übersichten und auf den Statistischen Jahrbüchern der DDR (keine genaue Quelle angegeben). Dies wird beispielsweise von Franz Dahlem (Stellvertreter des Staatssekretärs für das Hochschulwesen) in seinem Diskussionsbeitrag (S.3) auf der SED-Wirtschaftskonferenz (10./11. 10. 1961) festgestellt, SAPMO IV2/2.029/15. Information über den Stand der diesjährigen Immatrikulation ... (Bericht vom 28. 4. 1958, S. 1), SAPMO IV2/ 9.04/ 477; Vorlage für das Sekretariat des ZK der SED über Maßnahmen zur Auswahl und Zulassung zum Direkt-, Fern- und Abendstudium ...(1.1. 1959, S. 2) SAPMO IV2/ 9.04/ 478. Vgl. die Diskussionsbemerkung von Franz Dahlem auf der SED-Wirtschaftskonferenz vom 10./11. 10. 1961, SAPMO IV2/2.029/ 15. Vgl. das Rundschreiben vom 7. 12. 1951, SAPMO IV2/ 5/1177.

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Der Staat ermunterte die Frauen, Ingenieurberufe zu ergreifen - einerseits aus ideologischen Gründen (d.h. wegen der Gleichberechtigung von Mann und Frau im Sozialismus) und andererseits wegen des ausgeprägten Ingenieurmangels. Studentinnen erhielten im Fall einer Schwangerschaft besondere Unterstützungen, und Fabrikarbeiterinnen wurden spezielle Kinderbetreuung und andere Vergünstigungen gewährt, wenn sie ein Hoch- oder Fachschulstudium aufnahmen.29 Im Zulassungsverfahren wurden Frauen bevorzugt behandelt, doch gab es keine speziellen Quoten. Frauen wurden besonders für ein technisches Fachschulstudium gewonnen, weil es kürzer war als ein Hochschulstudium. Andererseits machten Frauen, die die schwere Last der Haushalts- und Familienpflichten zu tragen hatten, nur selten von einem Fern- bzw. Abendstudium Gebrauch.30 Das NÖS erweiterte die Möglichkeiten für Frauen in den Ingenieurwissenschaften, denn ihr Anteil an der Zahl der zum Ingenieurstudium Zugelassenen stieg an den Fachschulen von 12 % im Jahre 1961 auf 17 % im Jahre 1964 und an den Hochschulen von 6 % im Jahre 1961 auf 8 % im Jahre 1964 bzw. 9 % im Jahre 1966.31 Während 1950 nur 3,3 % aller Ingenieure und Techniker weiblich waren, machte 1964 ihr Anteil 7,5 % aller Ingenieure und 1971 bereits 8,6 % aller Beschäftigten mit Ingenieurabschlüssen aus.32 Obwohl einige weibliche Ingenieure besonders wenn sie jung waren und Kinder hatten - zu Tätigkeiten eingesetzt wurden, die nicht ihrer Ausbildung entsprachen, scheinen doch die meisten von ihnen in „echte" Ingenieurstellen gelangt zu sein.33 Bildungsexpansionen haben in der Geschichte oftmals unterprivilegierten Gruppen der Gesellschaft neue Möglichkeiten und Aufstiegschancen geboten - in einigen Fällen gilt das auch für Frauen. Ein Beispiel wäre die Bundesrepublik Deutschland der siebziger Jahren. Für die DDR fällt das Urteil etwas differenzierter aus. Wegen der Schwierigkeit, genügend Studenten mit gewünschter Klassenherkunft zu rekrutieren, war das Quotensystem tatsächlich für die Bildungsexpansion hemmend. Der größte Anstieg bei den Immatrikulationen zum Ingenieurstudium trat ein, nachdem (als Teil des NÖS) die Quoten aufgehoben wurden. Nichtsdestoweniger nahm die absolute Zahl der Studenten aus der Arbeiterklasse weiterhin zu, ebenso die absolute und relative Zahl der Frauen in der Ingenieurausbildung.

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Probleme der Qualifizierung und Förderung von Frauen, S. 3SM0, SAPMOIV2/ 9.04/ 618. Zu Fragen der Beteiligung der Frauen am Hoch- und Fachschulstudium ohne Unterbrechung der Berufsarbeit, SAPMO IV2/ 9.04/618. Bericht des Staatssekretärs für Hoch- und Fachschulwesen über Maßnahmen zur Förderung der Frauen (undatiert, wahrscheinlich 1966), SAPMO IV A2/ 9.04/ 238. SB: Volks-und Berufszählung in der DDR am 31. August 1950, S. 200-209 und nichtnumerierte Seiten für Berlin; Ergebnisse der Volks- und Berufszählung am 31. Dez. 1964, Berlin (DDR) 1967, Bd. 1, S. 233-235; SB: Volks-, Berufs-, Wohnraum- und Gebäudezählung am 1. Jan. 1971. Bd. 5: Wirtschaftlich tätige und nicht wirtschaftlich tätige Wohnbevölkerung, Berlin (DDR) 1972, S.l 14-119. Probleme der Qualifizierung und Förderung von Frauen, S. 13-14, SAPMO IV2/ 9.04/ 618; Information über die Durchführung des Beschlusses des Politbüros vom 5. 12. 1961... (vom 24. 1. 1962), SAPMO IV2/ 5/ 998.

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Berufliche Interessen: Bezahlung, Vergünstigungen, Macht Der Ingenieurberuf in der DDR war durch eine grundlegende Generationsschranke zwischen jenen, die bis 1945 den Beruf ergriffen hatten, und der „neuen technischen Intelligenz" gekennzeichnet. Diese Kluft wurde vertieft durch eine Politik der hochdotierten Einzelverträge, Zusatzrenten und besseren Wohnungsversorgung für technische Experten, die man in der DDR behalten wollte. Nach regulärem Tarifvertrag lag der Verdienst der Mehrzahl der Ingenieure und Techniker - nach einer Untersuchung aus dem Jahre 1958 nur ein Viertel bis ein Drittel über dem eines Meisters34 - in einigen Betrieben erhielten sie sogar weniger als mancher hochqualifizierter Facharbeiter35. Hinzu kam, daß vor dem NÖS die Ingenieure nicht einmal mit Prämien für besondere Leistungen rechnen konnten.36 Durch diese Politik (ebenso wie durch Berufserfahrung und eine bevorzugte Position auf dem Stellenmarkt im Westen) gewannen ältere Ingenieure eine Machtposition, die sie zum Nachteil der jüngeren ausnutzen konnten. Viele junge Ingenieure erhielten keine ihrer Qualifikation entsprechenden Stelle, sondern wurden als Vertretungskräfte oder gar als „Laufburschen" (bzw. ,,-mädchen") eingesetzt. Ihre Vorgesetzten hielten sie oft auf Jahre hinaus in einem ungeregelten Zustand, ohne sie wissen zu lassen, wann der Übergang zu einer verantwortlicheren und interessanteren Arbeit zu erwarten wäre. Vielfach sprachen die älteren Ingenieure ihren jüngeren Kollegen die berufliche Selbstbestimmung ab; sie und auch die Brigadiere behielten häufig Spezialwissen für sich, was dazu fuhren konnte, daß im Krankheitsfall die jungen Ingenieure nicht voll arbeitsfähig waren.37 Die Diskriminierung der jungen Ingenieure war für den Staat in vieler Hinsicht von Nachteil. Unzufriedenheit über niedrige Bezahlung war eine allgemeine Klage von Ingenieuren, die in den Westen gegangen waren. Die geringe Bezahlung hielt auch Facharbeiter davon ab, eine Ingenieurqualifikation zu erwerben.38 Die Behinderung der beruflichen Entwicklung junger Ingenieure vergeudete zudem Humankapital. Darüber hinaus war es politisch kontraproduktiv, die Ingenieure aus der NS-Zeit (von denen viele bürgerlicher Herkunft waren39) gegenüber der „neuen technischen Intelligenz" zu bevorteilen, die vor34 35 36 37

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SAPMO FDGB BuVo A 3383. Vgl. den Bericht der Instrukteurgruppe des ZK, der Landesleitung Berlin und der Kreisleitung Pankow im VEB Bergmann-Borsig vom 13. 9. 1950, S. 6, SAPMO IV2/ 5/1196. Vgl. den Bericht der Instrukteurgruppe des Parteivorstandes über die Tätigkeit im VEM Transformatoren- und Röntgenwerk Dresden in der Zeit vom 6.-8. Dez. 1949, S. 6, SAPMO IV2/ 5/1177. Vgl.: Einschätzung des Berufseinsatzes der Hochschulabsolventen 1957, S. 3, SAPMO IV2/ 9.04/ 607; Beratung des Präsidiums des Bundesvorstandes des FDGB mit der ... Intelligenz am 16.2. 1961. Protokoll, S. 8-9, 34, SAPMO FDGB BuVo A 3782; Dokumente zum Einsatz einer Komplexbrigade ... in den Chemischen Werken Buna 15. 1.-20. 4. 1959, S. 14, SAPMO IV 2/5/1349/1; Instrukteur- und Brigadeberichte über Berlin vom 5. 8. 1955, S. 6, SAPMO IV2/ 5/ 1308. Rundschreiben vom 7. 5. 1951, BAP, F^t Nr. 461; Bericht über die Republikabgänge, Rückkehrer und Zuziehenden im Bereich des Maschinenbaus vom 30. 7. 1960, S. 9, SAPMO IV2/ 2.029/ 114; FDGBBericht (undatierter Bericht, wahrscheinlich 1970), S. 10-11, SAPMO FDGB BuVo A 3385; Probleme der materiellen und ideellen Stimulierung in den produktionsvorbereitenden Bereichen (28. Dezember 1967), Anhang, S. 4, SAPMO FDGB BuVo A 3384. Siehe K. Jarausch: a. a. O., S. 19.

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geblich die Zukunft des Sozialismus repräsentierte. Weder die Westflucht von Ingenieuren noch das NÖS brachten eine signifikante Änderung. In einigen Industriebetrieben galt selbst 1970 noch die Gehaltstabelle für Ingenieure aus der Zeit von 1952/53, während die Löhne der Arbeiter so weit gestiegen waren, daß viele Facharbeiter ebensoviel wie Ingenieure verdienten. Das Steuersystem verschärfte die Situation noch, denn es sah für Ingenieure eine höhere Steuerrate vor als für Produktionsarbeiter.40 Der Staat appellierte an die Betriebsleiter, die berufliche Entwicklung der jungen Ingenieure stärker zu unterstützen, und man förderte durch Arbeits- und Forschungsgemeinschaften das Zusammenwirken von jüngeren und älteren Ingenieuren, doch blieben all diese Maßnahmen ohne sichtbaren Erfolg.41 Der Generationenkonflikt wurde schließlich nicht durch die eingeleiteten politischen Maßnahmen gelöst, sondern vor allem durch die demographische Entwicklung. Die Berufszählungsdaten zeigen, wie sich das Verhältnis zwischen den Ingenieurgenerationen in den ersten zwanzig Jahren der DDR veränderte. 1950 waren rund 30 % aller Ingenieure und Techniker 50 Jahre alt oder älter, und rund 60 % waren 40 Jahre oder älter42, d.h. die meisten dieser älteren Ingenieure hatten bereits im Dritten Reich ihre berufliche Tätigkeit aufgenommen. 1964 waren dagegen etwa zwei Drittel aller Ingenieure unter 40; weitere 13,2 % waren in den Vierzigern, also alles in der Regel Absolventen der Nachkriegsjahre. 43 Gerade ein Fünftel war 50 Jahre oder älter, und davon waren etwa 60 % vor 1946 ausgebildet worden.44 Um 1964 nahm die „alte technische Intelligenz" vermutlich nicht wesentlich mehr als ein Zehntel aller Ingenieurpositionen ein45, wenngleich ihre wirkliche Macht sicherlich sehr viel höher zu veranschlagen ist. Zum Ende der Ulbricht-Ära waren die alten Strukturen und ihre Repräsentanten faktisch verschwunden, und eine erneute Änderung der Altersstruktur des Ingenieurberufs vollzog sich - Personen im Alter von 50

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FDGB-Bericht (undatiert, wahrscheinlich 1970), S. 10-11, SAPMO FDGB BuVo A 3385; Analyse über einige Probleme der volkswirtschaftlichen und arbeitsökonomischen Entwicklung im I. Halbjahr 1967, SAPMO FDGB BuVo A 3383. Eine Vorlage vom 1.1. 1962 beauftragte leitende Funktionäre damit, junge Hoch- und Fachschulabsolventen gemäß ihrer Qualifizierung einzusetzen: Arbeit mit der jungen Intelligenz 1960-63, Landesarchiv Berlin (im folgenden: LAB), Rep. 411 Nr. 625; Ein Beispiel für die Arbeits- und Forschungsgemeinschaften liefern die „Dokumente zum Einsatz einer Komplexbrigade... in den Chemischen Werken Buna 15. 1.-20.4. 1959", S. 14, SAPMO IV2/5/1349/1. SB: Volks- und Berufszählung in der DDR am 31. August 1950, S. 200-209 und nichtnumerierte Seiten für Berlin. SB: Ergebnisse der Volks- und Berufszählung am 31. Dez. 1964, Berlin (DDR) 1967, Bd. 1, S.233-235. Nur 1829 von den 412 490 DDR-Bürgern unter 40 Jahren, die einen Hoch- oder Fachschulabschluß (alle Fächer) besaßen, hatten ihre Ausbildung vor 1945 abgeschlossen. Von den 91 436 DDR-Bürgern zwischen 40 und 49 Jahren mit höherer Bildung hatten 13 258 (14,5 %) ihr Studium bis 1945 beendet. Die Berechnungen der Verf., basieren auf SB: Ergebnisse der Volks-und Berufszählung, S. 275. Es besteht kein Grund zu der Annahme, daß die Altersverteilung der Ingenieurabschlüsse davon abweichen könnte. Es ist jedoch unmöglich abzuschätzen, wieviele Ingenieure ohne einen Hoch- oder Fachschulabschluß bis 1945 in ihren Beruf eingetreten sind. Das ist nur eine begründete Vermutung, die darauf basiert, daß 59,9 % der DDR-Einwohner mit Hochoder Fachschulbildung im Alter von 50 Jahren oder darüber ihre Ausbildung bis 1945 abgeschlossen hatten. Berechnungen der Verf. fußen auf SB: Ergebnisse der Volks- und Berufszählung am 31. Dez. 1964, Bd. 1,S. 275. Diese Schätzung ist eventuell etwas zu niedrig, weil der Prozentsatz der Ingenieure ohne Hoch- oder Fachschulbildung in den höheren Altersgruppen sehr wahrscheinlich höher war.

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Jahren und darüber machten nun nur noch 7,7 % aller Ingenieure aus.46 Während in den fünfziger Jahren die „alte Intelligenz" in der Lage war, ihre sich auf Sonderverträge, Erfahrung, potentielle Republikflucht und autoritäre Machtstrukturen stützende Stellung zu behaupten, setzte in den siebziger Jahren ein tiefgreifender Generationswechsel und eine starke Verjüngung des Ingenieurberufs ein.

Das Verhältnis der Ingenieure zur Partei In den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren machte sich an der Parteibasis die Tendenz bemerkbar, die Intelligenzpolitik der Parteispitze zu unterminieren. Auf Betriebsebene wurden vielfach die Ingenieure mit Einzelverträgen von den Parteifunktionären als Repräsentanten der reaktionären Bourgeoisie, als Klassenfeinde behandelt. Diese Haltung hatte Einfluß darauf, wie manche Arbeiter die Ingenieure wahrnahmen. In Diskussionen mit Parteibevollmächtigten im VEB Transformatorenwerk „Karl Liebknecht" (TRO) klagten Arbeiter darüber, daß die Intelligenz besondere Verträge und höhere Gehälter und Renten erhielt, während die neuen Kollektivverträge bei den Arbeitern zu niedrigeren Löhnen führten. Ein Arbeiter äußerte den Verdacht, daß alle Angehörigen der alten Intelligenz in den Westen fliehen würden, wenn es nicht diese Anreize gäbe.47 Auf einer Kreisdelegiertenkonferenz der Partei in Berlin 1950 erhielt ein Delegierter langanhaltenden Beifall, als er die Privilegien der Intelligenz kritisierte.48 Der Unmut war indes nicht auf die privilegierten Angehörigen der „alten Intelligenz" beschränkt. Für einige Dogmatiker waren zuweilen alle Ingenieure „Klassenfeinde". Ein Parteisekretär in einem Dresdener Stahlwerk beauftragte Parteimitglieder, über Angehörige der technischen Intelligenz Material zu sammeln, das ihre reaktionäre Gesinnung belegen sollte: „Er schaffte im ganzen Betrieb eine Atmosphäre der Furcht und des Mißtrauens". Daraufhin wurde er von seinen Pflichten entbunden.49 Solche Dogmatiker waren auch in anderen Betrieben zu finden. Auf einer Kreisdelegiertenkonferenz im Jahre 1949 berichtete ein Parteimitglied: „Wir hatten bei uns einen Genossen, der glaubte der radikalste zu sein... Seine Stellung zur Intelligenz war vollkommen verkehrt"50. In einem anderen Betrieb wurden durch einen Betriebsangehörigen Leiter angegriffen, die Mitglieder der NSDAP gewe46

47 48 49 50

Diese Zahl wurde auf der Grundlage der Volkszählungsdaten von 1971 berechnet und bezieht sich unmittelbar auf Beschäftigte mit Ingenieurabschlüssen. Gründe für diese enorme Verschiebung waren sowohl der Bildungsboom als auch das durch den Krieg verursachte demographische „Loch". Hier ist auch eine Verzerrung möglich, weil die Zahl für 1964 die praktizierenden Ingenieure betrifft, die Zahl für 1971 hingegen die Personen mit Ingenieurabschlüssen. (Wahrscheinlich gab es mehr ältere Ingenieure, die ihre Ausbildung nicht abgeschlossen hatten). Quelle: SB: Volks-, Berufs-, Wohnraum- und Gebäudezählung am 1. Jan. 1971, Bd. 5: Wirtschaftlich tätige und nicht wirtschaftlich tätige Wohnbevölkerung, Berlin (DDR) 1972, S. 114-119. Bericht über die Tätigkeit der Parteiorganisation und der Parteigruppen und die Lage im Transformatorenwerk „Karl Liebknecht" Oberschöneweide, Kreis Köpenick, 18.-26. 9. 1951, SAPMOIV2/ 5/1196. Bericht von der Kreisdelegiertenkonferenz Berlin-Lichtenberg am 24. und 25. Juni 1950. Von den 368 Delegierten waren nur vier Techniker und Ingenieure, SAPMO IV2/ 5/1196. Bericht über den Instrukteureinsatz im Edelstahlwerk Döhlen, Dresden-Freital vom 8.-10. 3. 1951, S. 1, SAPMO IV2/ 5/1177. Protokoll der Kreisdelegiertenkonferenz Köpenick vom 12./ 13. 11. 1949, S. 10 a, SAPMO IV2/ 5/1196.

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sen waren. Auch nachdem diese versetzt wurden, gingen die Klagen weiter: „... unsere Führung ist faschistisch geworden". Obwohl man diesen Genossen zur Partei-"Schulung" schickte, konnte er nicht beruhigt werden.51 Während ein so offen aggressives Verhalten nicht geduldet wurde, hielt sich bei den Parteifunktionären der betrieblichen Grundorganisationen eine subtilere Art des Mißtrauens. Beispielsweise erklärte auf der eben schon erwähnten Kreisdelegiertenkonferenz ein anderer Delegierter, „daß die SED eine Partei der Arbeiter ist und daß wir in der Gefahr sind, dieses Arbeiterelement in der Partei etwas unter den Tisch fallen zu lassen. (...) Es gibt einen grossen Teil der Intelligenzler und Angestellten, die voll und ganz unsere Genossen sind. Aber auch einen grossen Teil die rot angestrichen sind"52. Manche Ingenieure wurden von dieser Atmosphäre abgeschreckt und eingeschüchtert. Das führte dazu, daß sich die technische Intelligenz auf Betriebsversammlungen größtenteils passiv verhielt. Mit der Bemerkung, „Ich habe noch Frau und Kinder zu Hause!", versuchte ein Ingenieur seine Zurückhaltung zu erklären.53 Vermutlich geht es hier darum, daß die Parteibasis sich nicht schnell genug mit Kursänderungen anfreunden konnte, und lange an der früheren Parteilinie festhielt. Das hatte natürlich Einfluß auf die Einstellungen der Ingenieure zur Partei. Partei- und Gewerkschaftsberichte aus dieser Periode sind voll von oft erfolglosen Ermahnungen, sich mehr um die Gewinnung der technischen Intelligenz zu bemühen.54 Im Elektrounternehmen „Elpro" traten 1959 von sechzig neu eingestellten jungen Ingenieuren vierzig innerhalb ihrer ersten beiden Arbeitswochen aus der FDJ aus.55 Auf einer Berliner Bezirksdelegiertenkonferenz der Partei im Jahre 1956 wurde festgestellt, daß viele Mitglieder der wissenschaftlich-technischen Intelligenz in der Industrie „politisch schwankend und mit falschen Auffassungen behaftet" seien.56 Nichtsdestoweniger lag zwischen 1946 und 1957 bei den Ingenieuren und Technikern der Anteil der Parteimitglieder bei knapp 18 %, während 13,8 % aller Beschäftigten im Jahre 1952 der Partei angehörten. Dies zeigt, in welchem Maße auch im ingenieurtechnischen Bereich die Parteimitgliedschaft für das berufliche Fortkommen unerläßlich war. Dieser Anteil entsprach der Gesamtzahl für die Angestellten, zu denen die Ingenieure gerechnet wurden, von denen damals ebenfalls etwa 18 % der SED angehörten.57 51 52 53 54

55 56 57

Ebenda, S. 4. Ebenda, S. 26. Ebenda, S. 3. Beispielsweise in der Stellungnahme des Sekretariats des Bundesvorstands des FDGB zur Verbesserung der Arbeit der Gewerkschaften mit der Intelligenz vom 14. Dezember 1951, S. 2-5, SAPMO FDGB BuVo A 4131, oder im Beschluß des Bundesvorstandes des FDGB vom 9. März 1956, Nr.P 7/56, SAPMO FDGB BuVo A 6040. Analyse der Republikfluchten der Intelligenz aus der Elektroindustrie vom 10. 7. 1959, S. 7, SAPMO IV2/2.029/114. Material für die Bezirksdelegierten-Konferenz Berlin vom 25. 2. 1956, S. 13, SAPMO IV2/ 5/ 1308. Berechnungen und Schätzungen der Verf., basierend auf: Analysen über die Mitgliederbewegung in der Gesamtpartei: Stand der Organisation am 31. Juli 1946, Stand der Organisation am 30. September 1947, SAPMO IV2/ 5/ 1367; Stand der Organisation am 31. Oktober 1948, SAPMO IV2/ 5/ 1368; Organisationsstatistik für den Monat Juli 1950, SAPMO IV2 /5/ 1369; Berichtsbogen zur Organisationsstatistik nach dem Stand vom Dezember 1952, SAPMO IV2/ 5/ 1370; Statistischer Jahresbericht über die Zusammensetzung der Parteiorganisation Gesamtpartei zum 1. Januar 1957, SAPMO IV2/ 5/ 1371. Daten zur Gesamtzahl der Beschäftigten und zur Zahl der Angestellten aus: Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1956, Berlin 1956, S. 154, 166. Leider waren für diesen Aufsatz keine Daten über die Parteimitgliedschaft in den sechziger Jahren verfügbar.

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Viele Ingenieure waren in der staatlich gelenkten Ingenieurorganisation „Kammer der Technik" organisiert, deren Mitgliederbestand von 44 707 im Jahre 1956 auf 110 733 im Jahre 1961 und 192 996 im Jahre 1971 wuchs.58 Sie war kein echter Berufsverband, beschäftigte sich kaum mit den grundsätzlichen beruflichen Fragen der Ingenieure, doch war sie auch nicht der Ort spezieller ideologischer Indoktrination. Auf nationaler Ebene war die Technik der Hauptschwerpunkt ihrer Tätigkeit, und sie veranstaltete Konferenzen über neue Technologien, gab die wichtigsten technischen Zeitschriften in der DDR heraus u.ä.m. Diese Arbeit wurde von vielen Ingenieuren geschätzt und machte die Organisation nicht nur für die technische Intelligenz, sondern insgesamt für Techniker, Facharbeiter und andere technisch orientierte Berufsgruppen interessant und hat die Integration der Ingenieure in die DDR-Gesellschaft wahrscheinlich mehr voran getrieben als die offizielle Politik der SED. Die KdT, die zu einer Berufsvertretung nicht fähig war, man andererseits aber auch nicht wollte, ein ideologisch geprägtes Modell des technischen Fortschritts voranzutreiben, griff auf das ältere Bild des Ingenieurs als eines unpolitischen Sachwalters der Technik zurück.

Forschung und Entwicklung Wir wenden uns nun der Tätigkeit der Ingenieure auf dem Gebiet von Forschung und Entwicklung (FuE) und den Auswirkungen ihrer Arbeitsbedingungen auf ihr Berufsethos zu. In einem Bericht aus dem Jahre 1953 heißt es: „Das Hauptinteresse aller Wissenschaftler und Ingenieure richtet sich auf ihre Arbeitsbedingungen. Die Sicherung solcher Bedingungen, die ihnen den vollen Einsatz ihrer Kräfte für ihre fachliche Arbeit ohne störende Hindernisse gewährleisten, ist den schöpferischen Wissenschaftlern und Ingenieuren wichtiger als die Frage ihrer Besoldung"59. In der Frühzeit der DDR riefen Veränderungen ihrer beruflichen Tätigkeit bei den Ingenieuren beträchtliche Unzufriedenheit hervor und veranlaßten manche zur Flucht in den Westen. Die Ingenieure hatten sich zunehmend den von der staatlichen Planung vorgegebenen Terminen und Zielstellungen anzupassen, gerieten hinsichtlich der Voraussetzungen ihrer Arbeit in immer stärkere Abhängigkeit von anderen Wirtschaftseinheiten, verloren ihren Einfluß auf Anstellungen und Entlassungen und wurden genötigt, in Forschungsabteilungen und Produktionsberatungen mit Arbeitern zusammenzuwirken. Auf einer Kreisdelegiertenkonferenz der Partei in Köpenick 1949 wurde festgestellt, daß in einem jüngst verstaatlichten Betrieb einige Mitarbeiter „gegen jede Planung mit der Begründung (waren), daß man Wissenschaftler, Forscher und Ingenieure nicht in einen engen Rahmen einpressen kann"60. Die Ingenieure waren frustriert über die ausufernde Bürokratie, die ihnen u.a. für die Berichterstattung und bei der Bestellung von Bauteilen abverlangt wurde und sie von der eigentlichen Arbeit abhielt; auch

58 59 60

Die Daten wurden von der Kammer der Technik (R. Höntzsch) zur Verfügung gestellt. Keine Registriernummer. Angaben nach internen Aulzeichnungen. Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der technischen Intelligenz 195053. Entwurf vom 31. 8. 1953, S. 2, BAP Rep. F-4 Nr. 464. Protokoll der Kreisdelegierten-Konferenz Köpenick, 12./13. 11. 1949, S. 22 a, SAPMO IV2/ 5/ 1196.

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klagten sie über die zahlreichen Versammlungen, die zumeist während der Arbeitszeit stattfanden.61 FuE bilden zwar nur einen Teil des Tätigkeitsbereiches von Ingenieuren62, doch sie waren für die internationale Wettbewerbsfähigkeit der DDR-Wirtschaft von wesentlicher Bedeutung. W. Ulbricht erklärte, der Ausgang des friedlichen Wettbewerbs zwischen den beiden Weltsystemen werde hauptsächlich davon bestimmt, welche Gesellschaftsordnung Wissenschaft und Technik am wirksamsten fördere und von den geschaffenen Möglichkeiten den besten Gebrauch mache.63 Die wichtigsten Forschungs- und Entwicklungsarbeiten für die Industrie wurden in fünf Zentralinstituten, bis 1965 dem Volkswirtschaftsrat, dann den Industrieministerien unterstellt, sowie in industriellen Zentralinstituten, Industrielaboratorien oder anderen Einrichtungen durchgeführt, die den Kombinaten, der Vereinigungen Volkseigener Betriebe (WB) oder einzelnen Betrieben zugeordnet waren. Die größeren FuE-Einrichtungen wurden als Wissenschaftlich-Technische Zentren" bezeichnet. Zudem gab es eine Vielzahl kleinerer betrieblicher Forschungs-und Entwicklungsstellen in den W B s und den regional geleiteten Sektoren der Wirtschaft64. Vor diesem Hintergrund soll die Entwicklung der industriellen FuE anhand einer Fallstudie über das Transformatorenwerk „Karl Liebknecht" in Berlin-Schöneweide (TRO) illustriert werden. Vor dem Krieg Teil der AEG, war das Werk Mitte der sechziger Jahre eines der drei größten Hersteller von Transformatoren und Schaltern in Europa (1966 hatte es 4000 Beschäftigte) und der einzige Produzent von elektrischen Hochspannungstransformatoren (bis 400 kV), Schaltern und anderen Hochspannungsanlagen in der DDR.65 Anhand von Berichten über die gesamte DDR-Industrie soll im folgenden analysiert werden, inwieweit das TRO typisch war.66 Sechs Problemkreise machen dies deutlich.67 Zum ersten beklagten die Ingenieure, daß sich das TRO zu sehr auf die tägliche Produktion konzentriere, speziell auf Sonderanferti61 62

63 64

65 66

67

Bericht betr. Beobachtungen während der Dienstreise nach Jena am 27. 11. 50, S. 1, BAP, Rep. F-4 Nr. 634. 1950 arbeiteten rund 60 % aller DDR-Ingenieure auf dem Gebiet der technischen Produktionsvorbereitung (Forschung und Entwicklung, Konstruktion, Projektierung, Technologie, Standardisierung usw.). Bis 1970 war der Anteil auf 40 % gesunken. Der Anteil der Ingenieure, die in der Produktion tätig waren, stieg zwischen 1950 und 1970 von 5 % auf 10 %. Mit Absatz und Materialwirtschaft waren 1950 6 % und 1970 8 % aller Ingenieure beschäftigt. 3 % aller Ingenieure waren 1950 bei der Ökonomie, HBH oder EDV; 1970 waren es 9 %. 1950 hatten 18 % aller Ingenieure Leitungsfunktionen, 1970 hatten 23 % eine solche Stellung. (Andere Arbeitsbereiche machten 8 % resp. 10 % aller Fälle aus.) Vgl. G. Erbe: a. a. O., S. 142. Ursprüngliche Quelle: W. Draeger. Wachsender Bestand an Ingenieuren erfordert neue Maßstäbe für ihren effektiven Einsatz, in: Sozialistische Arbeitswissenschaft 20 ,1976, S. 32. W. Ulbricht Die Durchführung der ökonomischen Politik im Planjahr 1964 unter besonderer Berücksichtigung der chemischen Industrie, Berlin 1964, S. 53. R. Bentley. Technological Change in the German Democratic Republic, Boulder 1984, S. 27 ff., Bentley schätzt, daß 1964 die Institute durchschnittlich 250 Beschäftigte und die betrieblichen FuE-Einheiten 40 Beschäftigte hatten. Betriebs-Chronik, datiert 1949; Entwicklung des Transformatorenwerk „Karl Liebknecht", undatiert (wahrscheinlich 1966), LAB, Rep. 411, Nr. 1. Zusammengefaßte Auswertung der Jahresberichte der Forschungs- und Entwicklungsstellen 1961 unter Berücksichtigung weiterer Quellen (aus dem Jahr 1962), BAP, F-4 Nr. SFT 8; Information über Ergebnisse und Probleme bei der Durchführung des Staatsplanes Wissenschaft und Technik und des Planes der Naturwissenschaftlichen Forschung im Jahre 1966, BAP, F-4 Nr. 21184. Dazu vergleiche auch den Beitrag von R. Stokes im vorliegenden Band.

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gungen (viele davon für andere Ostblockstaaten). Die FuE-Mitarbeiter wären fast gänzlich durch kurzfristige Projekte in Anspruch genommen, die wenig zum technischen Fortschritt beitrügen. Bis 1966 fanden kaum innovative Forschung und wirkliche Produktentwicklung statt.68 Das war typisch. Untersuchungen aus dem Jahre 1962 zeigen, daß in den DDRBetrieben ingesamt die Tendenz vorherrschte, die Bedeutung von FuE gegenüber der Produktion zu vernachlässigen. Selbst die W B nötigten die ihnen unterstellten FuE-Institute, eine Fülle administrative Arbeiten auszufuhren: Berichte zu schreiben, Informationen zusammenzustellen und zu verbreiten und sich mit aktuellen Problemen der Produktion zu befassen - mitunter mußten hochqualifizierte Ingenieure zur Sicherung der Planerfüllung sogar in der Produktion aushelfen. 9 Zweitens wird in den Berichten über das TRO der Mangel an Ingenieuren und anderen Spezialisten mit Fach- oder Hochschulabschluß beklagt70 - eines der endemischen Probleme der DDR. 1963/1965 waren 13 % der FuE-Spezialisten in der DDR und in der Bundesrepublik Hochschulabsolventen. Während 43 % der westdeutschen FuE-Mitarbeiter über Fachschulabschlüsse verfügten, standen dem in der DDR nur 26 % gegenüber. In einer Übersicht aus dem Jahre 1971 stellten FuE-Mitarbeiter fest, daß das Haupthindernis für eine effektive Forschungs- und Entwicklungsarbeit im Mangel an technischem Personal liege.71 Drittens stand das TRO vor ernsten Strukturproblemen, die aus dem Geld- und Platzmangel seiner Laboratorien resultierten.72 Da ihr die notwendigen Produktionseinrichtungen fehlten, mußte die FuE-Abteilung Versuchsmodelle in den (mit der Produktionstechnik befaßten) Technologieabteilungen oder in regulären Betriebsabteilungen bauen lassen. Das führte zu beträchtlichen Verzögerungen. Da sich die Eröffnung eines DDR-Instituts zur Prüfung elektrischer Anlagen über Jahre verzögerte, mußte das TRO Prüfeinrichtungen in der CS SR nutzen. Die Knappheit an Prüfkapazität reflektierten die Ingenieuren mit großer Sorge. Das konnte sogar dazu führen, daß sich ein TRO-Mitarbeiter um eine Stelle in West-Berlin bewarb, da er fürchtete, in der DDR nicht weiter auf seinem Spezialgebiet arbeiten zu können.73 Solche Probleme waren für die gesamte DDR typisch und wurden vielerorts registriert.74 Viertens lagen im TRO und allgemein in der DDR die Qualität und das Sortiment von Bauteilen und anderen Materialien deutlich unter dem internationalen Standard; auch gab 68

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72 73 74

Jahresbericht über die Kaderarbeit im Jahre 1957, S. 3, LAB, Rep. 411 Nr. 654; Analyse der Entwicklung der Effektivität der Forschungs- und Entwicklungsabteilungen des VEB TRO, datiert vom 25. Juli 1968, Die Lage in den Entwicklungsbereichen des VEB Transformatorenwerk „Karl Liebknecht", ohne Datum (aus dem Jahr 1966), LAB, Rep. 411 Nr. 804; Vorlage für das Produktionskomitee: Untersuchung der Möglichkeiten und der einzuleitenden Maßnahmen zur Verkürzung der Entwicklungszeiten ... , LAB, Rep. 411 Nr. 1196. Zusammengefaßte Auswertung der Jahresberichte, S. 23, 65, 75, BAP, F-4 Nr. SFT 8; Information über Ergebnisse und Probleme, S. 19-22, BAP, F-4 Nr. 21184. Weiterhin siehe R. Bentley: a. a. O., S. 3 5 ^ 1 . Jahresbericht der Forschungs- und Entwicklungsstelle 1955, LAB, Rep. 411 Nr. 780; Jahresbericht 1956 der Forschungs- und Entwicklungsstelle, LAB, Rep. 411 Nr. 800. Siehe R. Bentley. a. a. O., S. 41; Originalquellen für die DDR-Daten: H. Kusicka, W. Leupold: Industrieforschung und Ökonomie, Berlin 1966, S. 44; Autorenkollektiv. Das Forschungspotential im Sozialismus, Berlin 1977, S. 113. Vorlage für das Produktionskomitee, LAB, Rep. 411 Nr. 1196. Kaderakte J. Jerratsch, 8. 8. 1955, LAB, Rep. 411 Nr. 1076. Zusammengefaßte Auswertung der Jahresberichte, S. 6-13, 68, BAP, F-4 Nr. SFT 8; Siehe auch: R. Bentley. a. a. O., S. 34.

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es bei der Lieferung von Materialien oft Verzögerungen. 1962 berichteten 35 von 138 FuEEinrichtungen, daß ihnen Bauteile und Instrumente fehlten. Als Ursache solcher Engpässe (die nicht nur den FuE-Bereich betrafen) wird die fehlende Koordinierung zwischen den Kombinaten bzw. Betrieben genannt. So informierten Betriebe die Hersteller nicht rechtzeitig über ihren Bedarf an Bauteilen; diese wiederum weigerten sich, mit ihren Abnehmerfirmen vertragliche Vereinbarungen abzuschließen. In anderen Fällen standen Bauteile (wie etwa Halbleiter) auf westlichen Embargolisten, waren also grundsätzlich knapp. Weiterhin standen bestimmte Ausrüstungen nicht in ausreichendem Maße zur Verfugung, weil sie fast vollständig für den Export produziert wurden. Oftmals verschwendeten Ingenieure einen Großteil ihrer Arbeitszeit, um rare Bauteile, Instrumente und dergleichen zu „organisieren". Seit Ende der sechziger Jahre bemühte man sich intensiv darum, die Qualität der FuE-Materialien spürbar zu verbessern.75 Fünftens verweist ein Bericht aus dem TRO im Jahre 1966 auf Defizite im Informationssystem; insbesondere wird betont, daß die DDR-Industrie technisch nicht Schritt halten könne, weil es an staatlicher Anleitung ebenso mangele wie an Informationen über neueste Technik, über Kosten und über die Produkte bzw. Produktionsmethoden der Konkurrenz. Die Zusammenarbeit mit Universitäten und anderen Forschungsinstituten wurde ebenfalls beklagt. Viel Zeit wurde benötigt, um wichtige technische Literatur zu beschaffen, wobei westliche Publikationen wegen des Devisenmangels faktisch nicht zu bekommen waren. Aufsätze über neue technische Entwicklungen (darunter Übersetzungen amerikanischer und sowjetischer Arbeiten) wurden in einem internen Informationsblatt veröffentlicht. Bis 1962 zirkulierten technische Zeitschriften fast nur unter den Abteilungsleitern ,76 In der DDR hemmte das Fehlen einer Zivilgesellschaft und marktwirtschaftlicher Mechanismen sowohl den Fluß von Informationen über technische Entwicklungen und Produktionsmethoden, als auch über Kosten, Nachfrage und Märkte. Der Staat vermochte es nicht, diese Systemmängel durch eigene Aktivitäten wettzumachen. Trotz der engagierten Arbeit der Kammer der Technik war es für den Großteil der Ingenieure schwierig, technisch auf dem laufenden zu bleiben. Berichten über Republikflucht zufolge waren Ingenieure und Chemiker verärgert, weil man ihnen die Erlaubnis zum Besuch von Konferenzen und Handelsmessen im Westen, ja selbst die Reise in sozialistische Länder verweigert hatte. Dieses Problem, das die Republikflucht von manchen technischen Spezialisten forderte, wurde durch den Bau der Mauer „gelöst". Die Schwierigkeiten der TRO-Mitarbeiter bei der Beschaffung von technischer Literatur scheinen typisch gewesen zu sein, insbesondere in den fünfziger Jahren, da später - nach einer Analyse aus dem Jahre 1962 - die Zahl der entsprechenden Klagen erheblich zurückging.77 Die staatliche Planung von Forschung und Entwicklung versprach zwar eine größere Rationalität der Projektauswahl als im Kapitalismus und hätte als ein Substitut für das mangelnde Informationssystem dienen können, doch wurden die Themen größtenteils vom 75 76

77

Informationen über Ergebnisse und Probleme, S. 10 ff., 22, BAP, M Nr. 21184; Zusammengefaßte Auswertung der Jahresberichte, S. 6-13, 68, BAP, F-4 Nr. SFT 8. Die Lage in den Entwicklungsbereichen ... und Schlußfolgerungen zur Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts (1965, 1966), S. 1-3, LAB, Rep. 411 Nr. 804; Jahresbericht 1958 der Forschungs- und Entwicklungsstelle, Jahresbericht 1962 der Forschungs- und Entwicklungsstelle, LAB, Rep. 411 Nr. 800. Bericht über die Republikabgänge aus der chemischen Industrie vom 29. 4. 1959, S. 10, SAPMO IV 2/2.029/114; Zusammengefaßte Auswertung der Jahresberichte, S. 24 ff., 3 5 ^ t l , 54 ff., BAP, F^t Nr. SFT 8.

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FuE-Personal selbst ausgewählt, so daß die eigentlichen Vorzüge des System weitgehend lahmgelegt wurden. In dem Maße, in dem Forschung und Entwicklung tatsächlich zentral geplant wurden, brachte die bürokratische Einmischung ein starkes Element von Irrationalität in den Prozeß. Dies resultierte sowohl aus der fehlenden technischen Kompetenz der Planer und ihrer mangelhaften Kenntnis der konkreten Bedingungen in den einzelnen Branchen, als auch aus der Allmacht der Bürokratie, die an ökonomischem Kosten-Nutzen-Denken und marktwirtschaftliche Überlegungen nicht interessiert war; überhaupt wurden die Bedürfnisse der Verbraucher sowie der Industrie weitgehend ignoriert78. Sechstens waren Verzögerungen bei der Überführung neu entwickelter Erzeugnisse in die Produktion ein permanentes Problem der DDR-Industrie. Die Ursachen waren: (a) Den Betrieben wurden flir die kurzfristige Einführung neuer Entwürfe in die Produktion keine Vorteile gewährt, (b) Die staatlichen Investitionsfonds waren nicht immer ausreichend, um die Produktion aller fertiggestellten Projekte aufzunehmen; insbesondere vor Einführung des Neuen Ökonomischen Systems, (c) Die Produktion eines neuen Erzeugnisses scheiterte häufig an der schlechten Koordinierung zwischen FuE und Produktionsplanung, am mangelhaften Zustand von Maschinen und Ausrüstungen, an Platzmangel oder am Fehlen von qualifiziertem Personal, (d) In einigen Betrieben und Kombinaten war die Zahl der FuEThemen zu umfangreich.79 Mit dem Neuen Ökonomischen Systems stellte man im TRO Untersuchungen an, wie die Forschungs- und Entwicklungsprozesse zu beschleunigen wären. In diesem Zusammenhang führte man Prämien ein, mit denen das FuE-Personal zur termingerechten oder gar vorfristigen Fertigstellung von Projekten angeregt werden sollte. Gemäß einer internen Studie sank jedoch die Zuwachsrate der Produktion zwischen 1960 und 1968 und der Plan konnte über Jahre hinweg nicht erfüllt werden, was mit den Schwächen im Bereich FuE erklärt wurde. Man stellte auch fest, daß das TRO weniger für FuE ausgab als ein vergleichbarer westlicher Konzern.80 Bis 1966 waren alle drei FuE-Abteilungen hinter das „Weltniveau" (d.h. den internationalen technischen Standard) zurückgefallen. Zu einer Zeit, als westliche Spitzenfirmen schon den Bau und die Entwicklung von 750 kV bzw. 1000 kV-Anlagen betrieben, hatte das TRO Schwierigkeiten, sein Programm für die 380 kV-Übertragung erfolgreich abzuschließen - obwohl es seit Ende der fünfziger Jahre als Aufgabe des zentralen Plans (Z-Plan) hohe Priorität besaß. Nichtsdestoweniger konnte das TRO Erfolge verbuchen, beispielsweise seinen 125 MV-Leistungstransformator; weiterhin wurde eine neue Generation von arbeits- und materialsparenden Hochspannungsschaltern 78 79 80

Ein Beispiel ist die Rohstoffabteilung des Instituts für Leichtbau, vgl. den Bericht über den Besuch der Gen. Kraaß und Richter am Institut für Leichtbau vom 6. 2. 1965, S. 3., BAP, F-4 Nr. SFT 1720; Siehe auch R. Bentley. a. a. O., S. 61-67. Zusammengefaßte Auswertung der Jahresberichte, S. 18-23, BAP, F-4, Nr. SFT 8; Bericht über den Besuch, S. 34 ff., 45 ff., BAP, F ^ Nr. SFT 1720; Information über Ergebnisse und Probleme, S. 22 ff., BAP, F-4 Nr. 21184; Siehe auch«. Bentley. a. a. O., S. 67, 78 ff., 97 ff. Geschäftsbericht, 31. Dezember 1953, S. 2, LAB, Rep. 411 Nr. 944; Niederschrift einer Beratung der Werkdirektoren mit der Abteilung Z am 13. November 1962, LAB, Rep. 411 Nr. 654; Analyse der Entwicklung der Effektivität der Forschungs- und Entwicklungsabteilungen des VEB TRO vom 25. Juli 1968, insbes. S. 3-4, LAB, Rep. 411 Nr. 804; Nach diesem Bericht betrugen die FuE-Ausgaben in westlichen Konzernen etwa 5-11 % des Umsatzes oder der Produktion. In der DDR wurden (anders als im Westen) die Aufwendungen für Versuche, Pilotprojekte, Materialien und Inbetriebnahme in die FuEAusgaben einbezogen. Wenn man diese Aufwendungen abzieht, so ergibt sich für das TRO ein FuE Aufwand von etwas weniger als 5 %.

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entwickelt und Ende der fünfziger Jahre in die Produktion überführt. 1961/62 bestanden 15 bis 20 % der Produktion aus neuen oder verbesserten Erzeugnissen.81 Wie effektiv war das FuE-Potential der DDR generell? Raymond Bentley macht geltend, daß die DDR - obwohl sie zu den zehn wirtschaftlich stärksten Ländern der Welt gehörte und hinsichtlich ihres Personalaufwandes für FuE weltweit den dritten Platz einnahm dennoch (selbst auf ihren stärksten Feldern) technisch nicht an der Spitze stand, durch die Bundesrepublik überholt wurde und in der Arbeitsproduktivität zurückfiel. Er meint, daß die Versuche des NÖS größtenteils fehlgeschlagen seien, Forschungen auf jenen Gebieten voranzutreiben, die für den technischen Fortschritt und die Nutzerbedürfhisse von hoher Priorität waren. Die Dezentralisierung und partielle Eigenfinanzierung der Projekte und die Gewährung von Prämien auf der Basis individueller Leistungen seien weitgehend ohne Erfolg geblieben.82 Die Bedingungen in der industriellen FuE hatten offenkundig einen großen Einfluß auf die Art und Weise, wie die Ingenieure ihre berufliche Identität und das System sahen, in dem sie arbeiteten. Im TRO gab es eine weitverbreitete Unzufriedenheit unter der technischen Intelligenz, die nicht zuletzt die Schwächen des Betriebes im FuE-Bereich reflektierte; dies führte zum Verlust von 90 der insgesamt 233 Beschäftigten mit Hoch- oder Fachschulabschluß.83 Die Berichte über die Republikflucht von Ingenieuren zeigen, daß die mangelhaften Arbeitsbedingungen zu den zentralen Motiven ihrer Flucht gehörten. Die starke Identifikation des Ingenieurs mit seiner Arbeit fällt sehr auf, sowie sein Berufsstolz und die Empörung über die Arbeitsbedingungen, die ihn an der Erfüllung „seiner Aufgaben" hinderten, Aufgaben, die sie weitgehend „technisch" auffaßten. Ganz typisch für die Haltung von FuE-Ingenieuren in weniger erfolgreichen Sektoren der DDR-Wirtschaft in den fünfziger Jahren scheint die der Fernseh- und Rundfünktechniker zu sein: „(Sie) betrachten es als persönliche Beleidigung, daß der Stand ihrer Forschungsarbeit gegenüber der des Westens rückläufig ist"84.

S chlußbemerkungen In diesem Kapitel konnte auf Widersprüche und Unzulänglichkeiten in der Politik der DDR gegenüber der technischen Intelligenz hingewiesen werden. Erstens wurden die Versuche, Produktionsarbeiter für ein Ingenieurstudium zu gewinnen, häufig durch die Betriebsleiter sabotiert, da diese nur ihre Produktionsziele im Auge hatten. Zweitens konnte die Bildungsexpansion in der technischen Ausbildung erst dann größere Ausmaße annehmen, nachdem die 60 %-Quote für Arbeiter- und Bauern-Studenten aufgehoben wurde. Drittens untergrub die Politik besonderer Privilegien für Ingenieure aus der vorsozialisti81

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Jahresbericht 1959 der Forschungs- und Entwicklungsstelle, Jahresbericht 1961 der Forschungs- und Entwicklungsstelle, Jahresbericht 1962 der Forschungs- und Entwicklungsstelle, Jahresbericht 1963 der Forschungs- und Entwicklungsstelle, LAB, Rep. 411 Nr. 800; LAB Rep. 411 Nr. 804: Analyse (wie Anm. 70) und: Die Lage (wie Anm. 70). R. Bentley: a. a. O., Kap. 2, S. 97ff. Brief vom 25. Oktober 1961 an den Rat des Clubs der jungen Intelligenz, LAB, Rep. 411 Nr. 362. Instrukteur- und Brigadeberichte Berlin: Material für die Bezirksdelegierten-Konferenz Berlin, 25. 2. 1956, S. 13, SAPMO IV2/ 5/1308.

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sehen Ära die Position der „neuen technischen Intelligenz", da sie sowohl große Einkommensunterschiede als auch eine Machtbasis schuf, die die älteren Ingenieure zum Nachteil der jüngeren nutzen konnten. Viertens vermochte die staatliche Planung nicht, die nötigen Mittel und Anreize für den Bereich von Forschung und Entwicklung bereitzustellen. Das Neue Ökonomische System korrigierte gewisse Inkonsistenzen des Systems und führte zu einigen grundsätzlichen Veränderungen. Dazu zählten insbesondere ein starkes Wachstum der höheren technischen Ausbildung, die Betonung der wissenschaftlichen Befähigung im Zulassungsverfahren, die Abschaffung der klassenbezogenen Zulassungsquoten, die nicht zuletzt den Frauen neue berufliche Möglichkeiten eröffnete, doch andererseits zu einem signifikanten Rückgang des Anteils von Ingenieurstudenten mit proletarischer Herkunft führte. Für die Veränderungen gab es auch Schranken. So sperrten sich Betriebe gegen die Einstellung von Hoch- und Fachschulkadern. Leistungsorientierte Prämien wurden zwar eingeführt, doch änderten sich in vielen Industriezweigen die Grundgehälter für Ingenieure kaum, so daß sich der Abstand zwischen den Einkünften der Ingenieure und denen der Facharbeiter verringerte. Forschung und Entwicklung wurden zwar teilweise zentralisiert und konnten damit ein solideres finanzielles Fundament erhalten, doch blieben die strukturellen Probleme auf der betrieblichen Ebene weitgehend bestehen: der Einsatz von FuE-Personal in der Produktion; die Knappheit von Ingenieuren beim FuE-Personal; Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Bauteilen und anderen Produktionsmitteln; der Export von Instrumenten, die in der DDR-Industrie dringend benötigt wurden; das Fehlen zwischenbetrieblicher Koordinierung in Forschung und Entwicklung; die unzureichende Fähigkeit des Staates, Forschungsfelder mit hoher Priorität zu identifizieren. Veränderte sich in den sechziger Jahren das Verhältnis zwischen der Ideologie und den Erfordernissen des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts? Ohne Zweifel wurde in dieser Zeit die klassenkämpferische Rhetorik zurückgenommen und Ingenieure nicht mehr von Dogmatikern als Klassenfeinde diffamiert. Die Abschaffung der klassenmäßigen Quotierung im Hoch- und Fachschulbereich während des Neuen Ökonomischen Systems sprach ebenfalls für eine Entideologisierung, doch verhinderte das Machtmonopol der SED weiterhin die volle Entfaltung technischer Rationalität. Beispielsweise hielt der Widerstand von Werkleitern gegen Einstellung und Ausbildung von Ingenieuren an, ein Ausdruck des Gefühls von Rivalität, das Funktionäre gegenüber hochgebildeten technischen Experten empfanden, und des (seiner Natur nach antibürgerlichen wie auch vom Standpunkt des technischen Fortschritts kontraproduktiven) Glaubens, Erfahrung sei wichtiger als Berufsabschlüsse. Nach dem Bau der Mauer wurde es zudem immer schwieriger, westliche technische Literatur zu beschaffen oder die Erlaubnis zum Besuch von Konferenzen im Ausland zu erhalten und sich damit auf der Höhe des technischen Fortschritt zu halten. Ein weiterer wesentlicher Befund dieser Studie ist, daß eine nichtoffizielle „technische Kultur" existierte, die von der offiziell propagierten abwich. Allerdings konnte sie sich nicht zu einem Subsystem organisieren, das imstande gewesen wäre, die Staatsmacht herauszufordern und die führende Rolle der Partei in Frage zu stellen85. Es gibt deutliche Hinweise auf eine technokratische Orientierung unter den DDR-Ingenieuren, die durch die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit gewisser Sektoren der DDR-Wirtschaft ebenso frustriert waren wie durch Arbeitsbedingungen und Aufgabendefinitionen, die die Ingenieure von 85

Zur „sozialen Entdifferenzierung" und zum Fehlen unabhängiger Subsysteme in der DDR, Siehe: S. Meuschel. Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR, Frankfurt a. M. 1992.

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dem abhielten, was sie als ihr eigentliches, gemeinhin technisch definiertes Anliegen ansahen. Damit verbunden war ein Berufsethos, das bisweilen gegen die Einschränkung der beruflichen Selbstbestimmung, den niedrigen Status und die geringe Bezahlung der Ingenieure nach 1945 rebellierte. Diese Haltungen könnten vielleicht als „proto-professionell" bezeichnet werden, sofern sie einen stillschweigenden Anspruch auf einen hohen beruflichen Status erhoben. Diesem Anspruch blieb dem die Möglichkeit kollektiver oder öffentlicher Äußerung allerdings versagt. Im Rahmen dieser Perspektive schufen die Erfahrungen eines Generationenkonflikts sowie die Diffamierung als „Klassenfeind" durch Parteidogmatiker ein Gefühl von Entfremdung, das nur dazu beitragen konnte, die langfristigen technischen, ökonomischen, sozialen und politischen Probleme der DDR weiter zu vergrößern. Diese Schlußfolgerungen können mit den zentralen Fragestellungen des vorliegenden Bandes in Beziehung gesetzt werden. Der Vergleich mit der Sowjetunion ist beispielsweise ein solcher Bezugspunkt, denn das sowjetische Modell einer „neuen technischen Intelligenz" konnte in der DDR nur unvollständig realisiert werden. Gründe dafür liegen u.a. im Fortbestehen vorsozialistischer Mentalitätsstrukturen, auch in der großen Inkonsistenz und in den strukturellen Mängeln des realsozialistischen System. Das Neue Ökonomische System hat nicht zu den tiefgreifenden Veränderungen geführt, die nötig gewesen wären, um die Gruppe der Ingenieure mit dem Parteistaat in Einklang zu bringen. Generell führten politische Wendungen wie das NÖS (ein zweites Hauptthema dieser Studie) kaum in jenen Bereichen zu grundlegenden Reformen, die die Ingenieure als zentral für ihre Tätigkeit ansahen. Zum Dritten ist es nicht überraschend, daß die Ingenieure weniger als manche anderen Berufsgruppen dazu neigten, sich der Partei anzuschließen. Viertens wurde in diesem Beitrag gezeigt, daß die Errichtung der Planwirtschaft einen großen Einfluß auf das Ingenieurwesen hatte. Sie reduzierte in erheblichem Maße die berufliche Selbstbestimmung und Autorität des Ingenieurs bei der Auswahl von FuE-Projekten, der Bestellung von Material, dem Einfluß auf Einstellungen und Entlassungen, der Einflußnahme auf die Finanzierung von FuE und dem Zugang zu Informationen (Beschaffung technischer Literatur, Besuch von Konferenzen usw.). FuE-Ingenieure wurden zur Übernahme administrativer Pflichten und bisweilen sogar zur Arbeit in der Produktion genötigt. Zudem hatte in der Planwirtschaft (insbesondere vor dem NÖS) die Produktion die Priorität gegenüber FuE, und das führte zu Widerständen gegen die Anstellung von Ingenieuren und zur Untergrabung ihrer Tätigkeit. Dieser Beitrag liefert einige Ausgangspunkte für Vergleiche zwischen der DDR und der Bundesrepublik - ein weiteres zentrales Thema dieses Bandes. Mit der Flucht nach dem Westen zogen manche Ingenieure ihr persönliches Fazit des Für und Wider der beiden Systeme, wobei natürlich auch bei negativer Bilanz viele in der DDR blieben. Bei der Rivalität zwischen Ost- und Westdeutschland blieb das Ingenieurwesen nicht ausgeklammert. Beispielsweise stand hinter der umfassenden Erweiterung des technischen Bildungswesen in der DDR die Erwartung, die Bundesrepublik auf dem Gebiet der technischen Forschung und Entwicklung zu überflügeln. Interessanterweise hatte die DDR schließlich eine größere Zahl von Ingenieuren aufzuweisen, doch konnte der Anschluß an das westliche Niveau im FuE-Bereich trotzdem nicht erreicht werden. Es gab in den beiden deutschen Staaten Gemeinsamkeiten, die historisch begründet sind und selbst in Zeiten schärfster Konfrontation erhalten blieben. Beispielsweise das technisch orientierte Berufsethos des Ingenieurs in Ost und West oder das zweigliedrige System von Fach- und Hochschulen. Allerdings lassen

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sich aus den Akten für die DDR nicht jene signifikanten Statusunterschiede zwischen Diplom- und Fachschulingenieuren ausmachen, wie sie für die Bundesrepublik typisch sind. Hinsichtlich der beruflichen Aufstiegtendenzen läßt sich eine gewisse Konvergenz ausmachen. Während mit dem NÖS in der DDR die klassenbedingten Quoten für die Studienplatzvergabe nämlich fielen, erweiterten die westdeutschen Technischen Hochschulen die Bildungsmöglichkeiten für bisher unterprivilegierte Schichten. Als ein dauerhafter Vorzug des ostdeutschen Systems erwiesen sich jedoch die Chancen für Frauen in Ingenieurberufen. Der vorliegende Beitrag weist ebenfalls auf Kontinuitäten und Ähnlichkeiten zwischen dem Dritten Reich und der DDR hin. Das beschriebene Berufsethos des DDR-Ingenieurs ist zwar vor der NS-Zeit entstanden, doch kam es erst in jenen Jahren zur vollen Blüte. Durch eine Politik, die die „alte Intelligenz" begünstigte, wurde die personelle Kontinuität und damit die Stabilität des Berufsethos zwischen den Perioden vor und nach 1945 verstärkt. Erst die Einführung der Planwirtschaft und die Herausbildung der „neuen technischen Intelligenz" führten zu gravierenden Diskontinuitäten. Die Ingenieure empfanden die Veränderungen, die der Sozialismus mit sich brachte, als aufdringlicher und penetranter als die im Dritten Reich. Wenn man die DDR als eine „moderne Diktatur" (analog zu Nazideutschland) ansieht, dann gerät die Spannung zwischen Ideologie und Erfordernissen des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts in den Blick. Das in diesem Aufsatz vorgestellte Material zeigt, daß selbst in Phasen, in denen dem technischen Fortschritt eine hohe Priorität beigemessen wurde, namentlich unter dem Neuen Ökonomischen System, Ideologie und Parteiherrschaft letztlich triumphierten. Es war diese untergeordnete Rolle von Wissenschaft und Technik, die die Ingenieure davon abhielt, das System uneingeschränkt zu unterstützen. Sie waren vielfach kritische Beobachter der ostdeutschen technischen und ökonomischen Politik, haben aber nichtsdestoweniger weder politischen Widerstand noch alternative Modelle des technischen Fortschritts entwickelt. Davor wurden sie nicht nur durch ihren Mangel an beruflicher Autonomie und die allgemeinen Defizite der Zivilgesellschaft in der DDR abgehalten, sondern auch durch ein Berufsethos, das sie zu weitgehend unpolitischen Sachwaltern der Technik erklärte. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hubert Laitko.

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Die Transferfalle: Zum DDR-Flugzeugbau in den fünfziger Jahren

Einführung Der 3. Juli 1954 war für die noch im Aufbau befindliche Flugzeugindustrie der DDR ein bedeutsamer Tag. Auf dem kleinen deutsch-polnischen Grenzbahnhof Guben traf der letzte und zugleich wichtigste Rückkehrertransport mit deutschen Flugzeug- und Triebwerksspezialisten aus der Sowjetunion ein. Sie waren Teil der insgesamt rund 3000 deutschen Naturwissenschaftler und Techniker, 1 die nach Kriegsende in der UdSSR tätig gewesen waren. 2 Mehr als 80 Prozent dieser Spezialisten hatte der sowjetische Staatssicherheitsdienst in den letzten Oktobertagen des Jahres 1946 dorthin zwangsverschickt. 3 Etwa die Hälfte der in der Sowjetunion tätigen deutschen Fachleute arbeitete im Bereich der Flugzeugentwicklung, 4 die andere Hälfte vor allem in den Bereichen Chemie, Optik, U-Boote, 1 Hinzu kamen noch etwa 5000 Familienangehörige. 2 Der an der Universität Tübingen tätige Historiker Christoph Mick hat als einer der ersten deutschen Historiker die Möglichkeit erhalten, das Thema des Spezialistentransfers in die UdSSR auf der Grundlage russischer Quellen zu untersuchen. Seine noch laufenden Recherchen in verschiedenen russischen Archiven bestätigen weitgehend die bisher vorliegenden Forschungsergebnisse und vorgenommenen Abschätzungen des zahlenmäßigen Umfangs. Für seine Informationen in einem Gespräch vom 16. 4. 1996 und die Überlassung der Mitschriften von zwei Dokumenten über den Aufbau der DDR-Flugzeugindustrie aus dem Rossijskij Gosudarstvennij Archiv Ekonomiki (RGAE) in Moskau möchte ich mich bedanken. Vgl. u.a. U. Albrecht, A. Heinemann-Griider, A. Wellmann-. Die Spezialisten. Deutsche Naturwissenschaftler und Techniker in der Sowjetunion nach 1945, Berlin 1992; B. Ciesla: Der Spezialistentransfer in die UdSSR und seine Auswirkungen in der SBZ und DDR, in: Das Parlament. Beilage Aus Politik und Zeitgeschichte, B 49-50/93, 3. Dezember 1993, S. 24-31. 3 Vgl. zum System der sowjetischen Wissenschafts- und Technologienutzung in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bis zur Zwangsverschickung im Oktober 1946 u. a. den Abschnitt „Inseln im Chaos" im Beitrag von R. Karisch, B. Ciesla: Vom „Karthago-Frieden" zum Besatzungspragmatismus - Wandlung der sowjetischen Reparationspolitik und ihre Umsetzung 1945/46, in: H. Möller (Hg.): Erobert oder befreit? Deutschland im internationalen Kräftefeld und die Sowjetische Besalzungszone, im Druck; Beiträge von B.Ciesla, M. Judt, W. Mühlfriedel in: Ch. Buchheim (Hg.): Wirtschaftliche Folgelasten des Krieges in der SBZ/DDR, Baden-Baden 1995, S. 79-140; J. Michels, J. Werner (Hg.): Luftfahrt Ost 1945-1990. Geschichte der deutschen Luftfahrt in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), der Sowjetunion und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) (=Die deutsche Luftfahrt, Bd. 22), Bonn 1994, S. 18-35.

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Raketentechnologie und Atomforschung. Je nach Entwicklungsstand der sowjetischen Forschung konnte das Wissen der Deutschen innerhalb eines Zeitraumes von ein bis fünf Jahren abgeschöpft werden. Ab 1950 begannen die „Sowjets" deshalb, die ersten Transporte mit Spezialisten wieder zurückzuschicken. Die Abteilung Bevölkerungspolitik des Ministeriums des Innern der DDR (Mdl) erhielt damals von der SED-Führung die Anweisung, die „Wiedereingemeindung" zu organisieren. Die Aktion lief zeitweise unter der Bezeichnung „S" - wie Spezialisten. Mitte der fünfziger Jahre hatten schließlich mehr als 90 Prozent der Spezialisten wieder deutschen Boden betreten. Die letzte Gruppe kam 1958 zurück. Über den personellen Umfang und zeitlichen Rahmen herrschte jedoch sowohl beim Mdl als auch bei der SED-Führung lange Zeit Unklarheit, da anfangs den ostdeutschen Stellen von der sowjetischen Seite oftmals nur kurzfristig mitgeteilt wurde, daß wieder ein Transport zusammengestellt sei. Hieraus ergaben sich eine Reihe von Problemen bei der Wiedereingliederung. Als der oben erwähnte Transport eintraf, verfügte das Mdl aber schon über ein gehöriges Maß an Routine bei der Empfangsorganisation. Zwar kam es auch am 3. Juli 1954 zu kleineren Pannen, doch waren die Verantwortlichen sehr darum bemüht, die Heimkehrer nicht zu verärgern. Immerhin befand sich unter diesen die Elite der in der UdSSR tätig gewesenen deutschen Flugzeugfachleute. Das Bedeutsame war, daß die SED-Führung die 196 Luftfahrtforscher, Konstrukteure und Techniker als das „geistige Kraftzentrum" der künftigen Flugzeugindustrie der DDR betrachtete. Und sie stellten in der Tat das Reservoir dar, aus dem die späteren Führungskader für die Bereiche Forschung, Entwicklung und Fertigung angeworben wurden.5 Diese Kerngruppe war jedoch erst wenige Monate zuvor, Ende 1953, in der Sowjetunion entstanden. Ihre Aufgabe bestand in der Projektierung eines zivilen strahlgetriebenen Passagierflugzeuges (Typ „152"), das in der DDR in Serie produziert werden sollte. Zugleich wurde im Osten Deutschlands in aller gebotenen Stille damit begonnen, die materiellen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für die produktionstechnische Umsetzung des Projektes zu schaffen.6 Die den Planungen zugrundeliegende Überlegung schien einfach und erfolgversprechend zu sein: Die Errichtung der materiellen Voraussetzungen für eine Flugzeugproduktion in der DDR und die Entwicklungsarbeiten am Flugzeugprojekt in der Sowjetunion mußten nur zum richtigen Zeitpunkt zusammengebracht werden, und die 4 Zur Organisation und Struktur der deutschen OKB (Opytnoje Konstruktorskoje Bjuro: sinngemäß Sonderkonstruktionsbüro) für Flugzeugentwicklung, Triebwerkskonstruktion und Luftfahrtausrüstungen in der Sowjetunion bei B. Ciesla: Von der Luftkriegsrüstung zur zivilen Flugzeugproduktion. Ober die Entwicklung der deutschen Luftfahrtforschung und Flugzeugproduktion in der SBZ/DDR und UdSSR 1945 bis 1954, in: H.~J. Teuteberg (Hg.): Schriftenreihe der Deutschen Verkehrswissenschaftlichen Gesellschaft (=Arbeitskreis Verkehrsgeschichte derDVWG, B 169), Bergisch Gladbach 1994, S. 189 ff.; J. Michels, J. Werner (Hg.): a. a. O., S. 36-71; Ch. Mich Deutsche Spezialisten in der Sowjetunion 1945-1958, Tübingen 12.12.1995 (Vortragsmanuskript beim Vf.). 5 Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (im folgenden: SAPMO), Zentrales Parteiarchiv der SED (ZPA), ZK-Abteilung Staat und Recht IV2/ 13/ Nr. 389, Bericht über den Transport mit deutschen Spezialisten aus der UdSSR vom 3. 7. 1954, 12.7. 1954; Bundesarchiv Abteilung Potsdam (im folgenden: BAP), Mdl, Paß- und Meldewesen 08.0, Nr. 30803, Zurückgekehrte deutsche Spezialisten aus der UdSSR, Transport vom 3. 7. 1954; BAP, Mdl, Hauptabteilung Innere Angelegenheiten 34.0, Nr. 8270-8272, Spezialistenaktion „S" 1952-1953; B. Ciesla, Der Spezialistentransfer, S. 24-31. 6 Derselbe: Von der Luftkriegsrüstung, S. 196.

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gewünschten Effekte würden sich einstellen. Doch recht bald zeigte sich, daß das Puzzle nicht zusammen paßte. Am Ende der fünfziger Jahre stand den Investitionen in Milliardenhöhe ein gesicherter Absatz von maximal jeweils 13 Maschinen des Typs „152" und eines Nachfolgemusters gegenüber.7 Nachdem von sowjetischer Seite im Februar 1961 „grünes Licht" gegeben worden war, beschloß das Politbüro der SED am 28. des gleichen Monats die Auflösung des Industriezweiges.8 Im vorliegenden Beitrag werden vor allem die Wirkungen des Technologietransfer aus der UdSSR für den DDR-Flugzeugbau untersucht. Im Mittelpunkt steht die im Sommer 1954 zurückgekehrte Kerngruppe der deutschen Flugzeugspezialisten und ihr Flugzeugprojekt „152". Obwohl der Beitrag wichtige Faktoren für das Scheitern des Industriezweiges aufzeigt, bleibt das vorgestellte Bild aufgrund des Fehlens anderer wichtiger Aspekte9 zwangsläufig an vielen Stellen unscharf, d. h. es können nicht alle maßgeblichen Gründe für das Scheitern des Industriezweiges erfaßt und erklärt werden. Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei an dieser Stelle ausdrücklich auf die weiterführende Forschungsliteratur verwiesen.10 Generell muß für die Erklärung des Scheiterns der DDR-Flugzeugindu-

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Bei dem Nachfolgemuster handelte es sich um das Schnellverkehrsflugzeug 155. Generell war das spätere Produktions- und Entwicklungsprogramm vielfaltiger als hier stark zugespitzt dargestellt wird, d. h. es wurden die Projekte dreier Propellerturbinenflugzeuge (PTL) mit der Bezeichnung 153, 154 und der oben genannten 155 entwickelt. Hinzu kamen das Projekt eines vierstrahligen Langstreckenverkehrsflugzeuges (Turbinenluftstrahltriebwerke - TL) Typ 160, Kleinflugzeug-Projekte, Segelflugzeuge und es existierten Pläne zum Bau eines „Turbinenautos" ; Vgl. ausfuhrlich bei J. Michels, J. Wem er (Hg.): a. a. O., S. 97ff.; BAP, SPK DE-1/11958, Bericht über die Perspektive der Flugzeugindustrie, 7.9.1960, Bl. 72-73. 8 SAPMO, ZPA IV/ 2/ 2029/ Nr. 150, Aktenvermerk über eine Unterredung zwischen den Genossen Mikojan und Rau anläßlich der Unterzeichnung des Abkommens am 23. 2. 1961 in Moskau, 3.3. 1961; SAPMO, ZPA JIV2/ 2/ Nr. A-805, Arbeitsprotokoll Politbüro, Protokoll Nr. 10, 28. 2. 1961. 9 Gemeint sind z. B. die Außenhandelsbeziehungen zur UdSSR, der Einfluß der Systemtransformation, die Entscheidungskompetenz der SED-Führung bzw. die Rolle Moskaus, die Unternehmensgeschichte unter betriebswirtschaftlichen und technischen Aspekten, die Wirkungen der wirtschaftlichen Folgelasten des 2. Weltkrieges oder das Thema Kalter Krieg und MfS. 10 Vgl. z.B. W. Mühlfriedel, K. Wießner. Die Geschichte der Industrie der DDR (=Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte, Bd. 25), Berlin (Ost) 1989, S. 300-303; Beiträge in der Fliegerrevue (im folgenden: FR) 1990, H. 8, 9, 12 und 1991, H. 3; DDR-Flugzeugbau Aufstieg und Fall, in: FR Extra, 1. Sonderausgabe 1991; H. Hartlepp: Entwicklung des Turbostrahltriebwerkes Pirna 014 und des Verkehrsflugzeuges 152. Eine Chronik über 15 Jahre Luftfahrtentwicklung im Osten Deutschlands, München 1991; A. Kieselbach. Der sächsische Raum als Zentrum des DDR-Flugzeugbaus 1954/55 bis 1961, in: Sächsische Heimatblätter 1991, H. 1, S. 38—41; Derselbe-, Ursachen und Hintergründe für das Scheitern des DDR-Verkehrsflugzeugbaus, in: Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt (im folgenden: DGLR) 1992/11, S. 891-898; U. Albrecht u.a.: a. a. O.; D. A. Soboljew: Über die Arbeit von deutschen Flugzeugkonstrukteuren in der UdSSR, 1920-1950, in: Jahrbuch der DGLR 1992/11, S. 887-890; B. Ciesla: Von der Luftkriegsrüstung, S. 179-202; A. Kieselbach. Das Verkehrsflugzeugbauprogramm der DDR 1953/54-1959. Möglichkeiten und Grenzen eines Industriezweiges, in: H. J. Teuteberg (Hg.): S. 203-226; Derselbe: Die Pläne zum Militärflugzeugbau in der DDR 1952/1953, in: Jahrbuch der DGLR 1994/11, S. 1027-1034; J. Michels, J. Werner (Hg.): a. a. O.; B. Ciesla: Problemy razvitya aviatsionnoy promyshlennosti v GDR (1954-1961): Iz Istorii i Kosmonavtiki (=Russkaya Akademiya Nauk, Vypusk 66), Moskau 1995, S. 29-40; G. Barkleit, H. Hartlepp: Zur Geschichte der Luftfahrtindustrie in der DDR 1952-1961 (=Berichte und Studien Nr. 1), Dresden 1995; G. Barkleit: Die Rolle des MfS beim Aufbau der Luftfahrtindustrie der DDR (=Berichte und Studien Nr. 5), Dresden 1995.

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strie ein Geflecht von kleinen und großen Einflußfaktoren verschiedenster Herkunft berücksichtigt werden. Jeder einzeln für sich genommen greift als Erklärung des Prozesses zu kurz. Insofern tragen die hier vorgestellten Überlegungen den Charakter von Teilantworten innerhalb eines komplexeren Erklärungsmusters. Nachfolgend wird die Untersuchung mit einem kleinen Exkurs über die ost- und westdeutsche Technikpolitik und einige wichtig erscheinende Transferbedingungen in der DDR in den fünfziger Jahren eingeleitet. Dadurch soll etwas von der Atmosphäre vermittelt werden, in der damals die Rückkehr der deutschen Spezialisten und die Entscheidung zum Aufbau des DDR-Flugzeugbaus erfolgte. Ein solcher Zugang kann helfen, daran zu erinnern, daß die Geschichte der Flugzeugindustrie nicht nur mit dem wissenden Blick derjenigen beurteilt werden darf, die bereits ihr Ende kennen.

Exkurs: Technikeuphorie und Transferbedingungen Technische Modernität in Ost und West: Bis in die späten fünfziger Jahre bestimmten unterschiedliche Herangehensweisen im Osten und Westen Deutschlands die jeweilige Wissenschafts- und Technikpolitik. Während in der DDR schon zu Beginn des Jahrzehnts Wissenschaft und Technik zu maßgeblichen Faktoren beim Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung erklärt wurden, hielten sich die tonangebenden politischen Kreise der Bundesrepublik bei diesem Thema eher zurück. Zugleich verband die SED-Führung ihre offensiv geführte Wissenschafts- und Technikpolitik mit einer „Sowjetisierungs"-Kampagne. Dahinter verbarg sich zeitweise die Vorstellung, mit Hilfe der Sowjetunion einen eigenen „deutschen Weg"11 in der Wissenschaft und Technik gehen zu können. Im Sommer 1952 hatte hierzu der Generalsekretär der SED Walter Ulbricht verkündet: „Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die deutsche Wissenschaft und Technik in unserer Republik einer neuen Blüte entgegengehen. Je rascher und gründlicher wir von der Sowjetwissenschaft lernen, desto besser werden sich unsere eigenen Forschungsarbeiten entwickeln und neue Siege der deutschen Wissenschaft und Technik errungen werden."12 Die Stimmung entwickelte sich damals geradezu euphorisch. Einen Höhepunkt erreichte die Begeisterung und die damit einhergehende Diskussion13 in der DDR, als die Sowjet11

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Der Begriff ist von J. Radkau: Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M. 1989 übernommen. Hierbei ist die Frage von Interesse, ob es einen „ostdeutschen Weg" in der Technikgeschichte gegeben hat. Mit dem „deutschen Weg" ist jedoch keinesfalls die bei Kriegsende in der KPD-Führung vertretene Vorstellung vom „besonderen deutschen Wege zum Sozialismus" gemeint. Der KPD/SED Funktionär A. Ackermann (1905-1973) veröffentlichte im Auftrag des Sekretariats des ZK der KPD im Februar 1946 hierzu den Aufsatz: „Gibt es einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus?" Ackermann mußte diesen Artikel im September 1948 widerrufen; J. Cerny (Hg.): Wer war wer - DDR. Ein biographisches Lexikon, 2. durchgesehene Aufl., Berlin 1992, S. 10. W. Ulbricht Die gegenwärtige Lage und die neuen Aufgaben der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Referat und Schlußwort auf der II. Parteikonferenz der SED, 9.-12. 7. 1952, Berlin (Ost) 1952, S. 105. In dieser Zeit wurde in der Sowjetunion und später auch in der DDR aus dem terminologischen Reservoir des Marxismus der sowohl analytische als auch programmatische Begriff der „Produktivkraft" in die theoretische Diskussion um Wissenschaft und Technik eingeführt. Unter dem Begriff „Produktivkraft Wissenschaft" erhielten die Technik- und Naturwissenschaften die Funktion einer gesell-

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union am 4. Oktober 1957 den ersten Weltraumsatelliten der Welt, den „Sputnik" (Weggefahrten), startete. Dieses Ereignis führte auch in der Bundesrepublik zu einem Umschwung in der Wissenschafts- und Technikpolitik. Diese Bereiche galten bis zu diesem Zeitpunkt unter dem damals vorherrschenden Neoliberalismus nicht als Wirtschaftsfaktoren eigener Art. Vielmehr setzten die Politiker und Wirtschaftsmanager des westdeutschen „Wirtschaftswunders" auf einen eher nüchtern-pragmatisch zu bezeichenden Umgang mit Technik und Wissenschaft. Von seiten der neoliberalen Schule gab es erhebliche Widerstände gegen die technizistische Fortschrittsgläubigkeit, die unter anderem der Abwehr zentralistischer Planung und der damit einhergehenden Technikeuphorie entsprangen.14 Ein herausragender Kritiker war der Wirtschaftsminister Ludwig Erhard (1949-1963), der die staatliche Förderung von technischen Großprojekten und Großforschung rundweg ablehnte.15 Erst die berühmte Schockwirkung des „Sputniks" und die damit angestoßene Raketendebatte im Rahmen des Wettrüstens führte auch in der Bundesrepublik dazu, daß eine neue Ära der technischen Innovation und wissenschaftlichen Forschung von der Mehrzahl der Politiker wahrgenommen und ein bedrohlicher Rückstand beklagt wurde.16 Im Westen glaubten damals viele Menschen „in einem heute kaum noch nachvollziehbaren Maße an die technische Fortschrittlichkeit des Ostens"17. Transferbedingungen: Die Realität sah freilich in der DDR etwas anders aus. Die Folgelasten des Zweiten Weltkrieges und besonders die Systemtransformation ließen dort - trotz einer annähernd gleichen Anfangsausstattimg mit Produktionsfaktoren wie in den Westzonen Deutschlands - schon in den fünfziger Jahren einen deutlichen Innovations- und Produktivitätsrückstand im Vergleich zur Bundesrepublik entstehen.18 Verdeckt wurde diese Entwicklung vorerst jedoch dadurch, daß die industriellen Erzeugnisstrukturen zu Beginn der fünfziger Jahre durch Technologieentwicklungen bestimmt wurden, die schon in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen als Innovationsprozesse begonnen hatten und sich nun weltweit in den entwickelten Industriestaaten entfalteten. Über dieses Technologieniveau verfugten die meisten ostdeutschen Industriebetriebe trotz sowjetischer Demontagen und Know-how Transfers noch hinreichend, so daß der Rückstand im Bereich innovativer Technologien leicht aufholbar erschien.19

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schaftlichen „Triebkraft"; H. Lades, CI. Burrichter (Hg.): Produktivkraft Wissenschaft. Sozialistische Sozialwissenschaften in der DDR, Hamburg 1970, S. X; G. Kosel. Unternehmen Wissenschaft. Die Wiederentdeckung einer Idee. Erinnerungen, Berlin (Ost) 1989, S. 205£f., 258ff. J. Radkau: „Wirtschaftswunder" ohne technologische Innovation? Technische Modernität in den fünfziger Jahren, in: A. Schildt, A. Sywottek (Hg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der funfeiger Jahre, Bonn 1993, S. 133. F.J. Strauß: Die Erinnerungen, Berlin 1989, S. 226f. O. Grinevskij: Tauwetter. Entspannung, Krisen und neue Eiszeit, Berlin 1996, S. 125ff.; J. Radkau: „Wirtschaftswunder", S. 146. Ebenda, S. 129. Vgl. hierzu u. a. A. Ritsehl: Aufstieg und Niedergang der Wirtschaft der DDR. Ein Zahlenbild 19451989, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1995, H. 2, S. 11 —46; H.-J. Wagener. Anlage oder Umwelt? Überlegungen zur Innovationsschwäche der DDR-Wirtschaft, in: Berliner Debatte INITIAL, 1995, H. 1 S. 67-82; R. Karisch: Allein bezahlt? Die Reparationsleistungen der SBZ/DDR 1945-53, Berlin 1993. W. Muhlfriedel: Zur technischen Entwicklung in der Industrie der DDR in den fünfziger Jahren, in: A. Schildt, W. Sywottek {Hg.): a. a. O., S. 155-160.

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Hinzu kam die scheinbar günstige Situation, daß in den fünfziger Jahren deutsche Naturwissenschaftler und Techniker aus der Sowjetunion in die DDR zurückkehrten. Die SED-Führung versprach sich vor allem innovationsfördernde Impulse für die wissenschaftlich-technische Entwicklung und damit insgesamt einen Reputationsgewinn, da anfangs noch davon ausgegangen wurde, daß die deutschen Rückkehrer in die sowjetischen Forschungs- und Entwicklungsstrukturen integriert gewesen waren. Von den heimkehrenden Spezialisten wurde deshalb eine Vorbildwirkung hinsichtlich der oben erwähnten „Sowjetisierung" erwartet. Die Enttäuschung war jedoch groß, als sich zeigte, in welcher Isolation die Deutschen in der Sowjetunion tätig gewesen waren und wie wenig ideologisch „inspiriert" sie zurückkamen. Im Juli 1952 wurde hierzu in einem Bericht über die Betreuung der Spezialisten vermerkt: „1. Die Rückkehrer kennen unsere Aufbauerfolge nur aus der Presse. 2. In vielen Fällen sind sie ideologisch noch nicht in fortschrittlichem Sinne beeinflusst worden. 3. Sie waren weitgehend auf sich selbst gestellt. 4. Die befähigsten Spezialisten haben die Überzeugung, dass sie in Westdeutschland sofort eine neue Tätigkeit finden."20 Besonders bei den in den Jahren 1950 bis 1953 zurückkehrenden deutschen Fachleuten, die im Flugzeugbau oder allgemein in der Waffentechnik gearbeitet hatten, wurde immer wieder ihr rüstungsorientiertes Aufgabenfeld - trotz des bestehenden Arbeitskräftemangels bei qualifizierten Fachleuten - für die weitgehend „abgerüstete"21 Wirtschaft und Grundlagenforschung zu einem Beschäftigungsproblem.22 Durch die Initiierung von Forschungsprogrammen, die Gründung von wissenschaftlichen Einrichtungen bzw. Forschungsinstituten sowie durch den Neuaufbau eines ganzen Industriezweiges - der Flugzeugindustrie sollte nun einerseits Wissenschaft und Technik einen entscheidenden Entwicklungsschub erfahren und andererseits die sich seit 1950 aufstauenden Beschäftigungsprobleme gelöst und dadurch auch der Westabwanderung entgegengewirkt werden.23 Diese hohen Erwartungen erfüllten sich jedoch nicht. Rückblickend wohl auch deshalb nicht, weil sich folgender Gegensatz im sowjetischen und damit auch von Anfang an im ostdeutschen Wissenschafits- und Techniksystem in paradoxer Weise verstärkte: Einmal wurde eine unbegrenzte wissenschaftliche und technische Leistungsfähigkeit des Sozialismus propagiert 20 21

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SAMPO, ZPAIV2/13/ Nr. 389, Betreuung der Spezialisten, die aus der Sowjetunion zurückkehren, 18. 7. 1952. Ohne Zweifel hatte eine Rüstungsindustrie in der SBZ nach 1945 aufgehört zu existieren und für die naturwissenschaftliche Forschung bzw. Industrieforschung galten noch bis Mitte der fünfziger Jahre pro forma eine ganze Reihe alliierter Verbote und Beschränkungen weiter. Doch gerade die Forschungsbeschränkungen wurden von allen alliierten Siegern schon zum Zeitpunkt der Verhängung (1945/46) unterlaufen bzw. mit dem schärfer werdenden Kalten Krieg offen mißachtet. Es muß deshalb berücksichtigt werden, daß die sowjetische Seite aufgrund der Einbindung der SBZ/DDR in das östliche System mehr und mehr dazu bereit war, die Beschränkungen und Kontrollen zu lockern. Vgl. hierzu M. Judt: Die sowjetische Nutzung des Produktions- und Wissenschaftspotentials der ostdeutschen elektrotechnischen und feinmechanisch-optischen Industrie 1945-1955, in: Ch. Buchheim (Hg.): a. a. O., S. 123, 126-129; B. Thoß (Hg.): Volksarmee schaffen - ohne Geschrei! Studien zu den Anfangen einer „verdeckten Aufrüstung" in der SBZ/DDR, (=Beiträge zur Militärgeschichte, Bd. 51), München 1994. SAMPO, ZPAIV2/13/Nr. 389. B. Ciesla: Der Spezialistentransfer, Derselbe'. „Intellektuelle Reparationen" der SBZ an die alliierten Siegermächte? Begriffsgeschichte, Diskussionsaspekte und ein Fallbeispiel - Die deutsche Flugzeugindustrie 1945-1946, in: Ch. Buchheim (Hg.): S. 99-109; A. Steiner. The Return of German „Specialists" from the Soviet Union to the German Democratic Republic. Integration and Impact, in: M. Judt, B. Ciesla (ed.): Technology Transfer Out of Germany After 1945, Amsterdam 1996, S. 119-130.

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und anscheinend alles dafür getan, gleichzeitig gab es eine weitreichende Geheimhaltung des wissenschaftlich-technischen Wissens und damit verbunden den Versuch einer Abschottung der institutionellen Strukturen, d. h. die Selbsterhaltung des Systems zog eine massive Isolierung nach sich. Auf die Innovationsfahigkeit der Wirtschaft und Leistungsfähigkeit der wissenschaftlichen Forschung mußte ein solcher Mechanismus eines geschlossenen Systems freilich fatale Folgen haben.24 Das Verhältnis von Staat, Wissenschaft und Technik geriet dadurch frühzeitig in eine selbstinduzierte Krisensituation, die jedoch durch den Systemwettstreit während des Kalten Krieges, die Innovationswirkungen aus der Zwischenkriegszeit und durch die große Technikbegeisterung der fünfziger Jahren verdeckt wurde.

Die Transferfalle Am 20. Oktober 1953 lag dem Staatssicherheitsdienst der DDR die Fotokopie eines Berichtes des westdeutschen Nachrichtendienstes über die im Aufbau befindliche Flugzeugproduktion in der DDR vor. Der Bericht war erst fünf Tage alt und ließ erkennen, daß die andere Seite weitgehend zutreffende Informationen über die Vorgänge im Osten Deutschlands und in der Sowjetunion (SU) hatte.25 Quelle dieser Informationen waren vor allem die heimgekehrten deutschen Spezialisten („SU-Heimkehrer"). Im Bericht wurde hierzu vermerkt: „Die besten und nahezu einzigen wirklich brauchbaren Ansatzmöglichkeiten sind im Kreise der meist im Raum Dessau wohnenden SU-Heimkehrer der F(irm)a Junkers zu finden. In der bisherigen Aufklärung wurde von dieser Möglichkeit viel zu wenig Gebrauch gemacht. Dieser Personenkreis ist informiert über die Vorgänge in der SU wie in der SBZD (Sowjetische Besatzungszone Deutschlands). Alle Ereignisse, sei es Nachrichten in Briefen oder Vorgänge in der SBZD, sprechen sich in dieser Junkers-Familie überraschend schnell herum."26 Für die westdeutsche Seite waren diese Informationen unter anderem deshalb wertvoll, weil auch in der Bundesrepublik ein starkes Interesse bestand, eine Flugzeugindustrie wiederaufzubauen.27 Doch anders als in der DDR gab es - wie schon deutlich gemacht - erhebliche Widerstände. Noch in den späten fünfziger Jahren stieß der Verteidigungsminister Franz Joseph Strauß bei seinen Bemühungen um finanzielle Unterstützung beispielsweise „auf völliges Unverständnis" beim Wirtschaftsminister Erhard.28 Im Osten Deutschlands existierten dagegen schon Anfang der fünfziger Jahre umfangreiche und großzügige Planentwürfe für eine militärische Flugzeugproduktion. Die auf der 24

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26 27 28

K. Städtke: Wandel im Technikbewußtsein. Zur Geschichte eines sowjetischen Ideologems, in: W. Emmerich, C. Wege (Hg.): Der Technikdiskurs in der Hitler-Stalin-Ära, Stuttgart 1995, S. 182; O. Grinevskif. a. a. O., S. 340. Der Bundesbeauftrage für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (im folgenden: BStU), AOP 4672/ 73, Band 6, Luftrüstung in der SBZD, 15. 10. 1953, Blatt 267-269. Ebenda, Bl. 269. F. Jastrow. Die deutsche Luftfahrtindustrie, in: Luftfahrtindustrie im Aufbau (=Verkehrswissenschaftliche Veröffentlichungen, H. 28), Düsseldorf o. J., S. 5 ff. F. J. Strauß: Erinnerungen, S. 227.

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2. Parteikonferenz der SED im Sommer 1952 offiziell verkündete Wiederaufrüstung war freilich primär ein Ergebnis der Verhärtung der Fronten zwischen den Westalliierten und der Sowjetunion im Rahmen des Kalten Krieges gewesen. Die militärischen Planungen der SED zur Bildung von Fliegerstreitkräften und zur Schaffung einer dazugehörigen rüstungsindustriellen Basis wurzelten vor allem in der sowjetischen West- und Deutschlandpolitik.29 Welche Rolle die deutschen Spezialisten in der SU bei den ersten Überlegungen und Planungen gespielt haben, ist jedoch aufgrund der gegenwärtigen Quellenlage schwierig zu beantworten. Aufschlußreich erscheint in diesem Zusammenhang der Hinweis, daß es schon 1947/48 im sowjetischen Luftfahrtministerium kritische Stimmen gegen die deutschen Flugzeugspezialisten gegeben hatte. Die Kritik lief darauf hinaus, daß die Deutschen wieder nach Hause geschickt werden sollten, da man sie wissenschaftlich genügend „abgeschöpft" hätte, die „Betreuung" zu teuer sei und ihre Tätigkeit an einen Punkt angelangt wäre, wo die Deutschen mit den aktuellen sowjetischen Entwicklungen vertraut gemacht werden müßten, sollte ihre Arbeit für die sowjetische Flugzeugentwicklung noch profitabel sein.30 Diese kritischen Stimmen haben möglicherweise auf die sowjetische Entscheidungsfindung bei der Rückführung der deutschen Flugzeugspezialisten und den ersten Aufbauplanungen in der DDR Gewicht gehabt. Eine verläßliche Antwort hierauf steht jedoch noch aus, da die Forschungen auf der Grundlage russischer Quellen erst am Anfang stehen. Die auf deutschen Quellen basierenden neuere Untersuchungen31 lassen dagegen nicht den Schluß zu, daß die 1950/51 zurückgekehrten deutschen Flugzeugspezialisten bei den ersten militärischen Aufbauplanungen eine Rolle gespielt haben. Erst ab 1952 wird erkennbar, daß sie zu einer wichtigen Denkgröße bei den Planern und Entscheidungsträgern geworden waren.32 Das Jahr 1953 mit seinen politischen Erschütterungen führte zur Aufgabe der teuren militärisch geprägten Planungen in der DDR. Einmal löste der Tod Stalins (5. 3. 1953) einen politischen Machtkampf in der Führungsspitze der Sowjetunion aus, der deutliche Veränderungen in der sowjetischen Deutschlandpolitik nach sich zog.33 Andererseits wirkte sich die durch den Beschluß zum Aufbau des Sozialismus (Sommer 1952) heraufbeschworene gesellschaftliche Krise in der DDR, die in den Ereignissen um den 17. Juni 1953 ihren Höhepunkt fand, unmittelbar auf die militärischen Planungen aus. Durch die entstandene Krise war die SED-Führung dazu gezwungen worden, wirtschaftliche und soziale Stabilisierungsmaßnahmen durchzuführen, um so ihre Machtpositionen halten zu können. Die damit einhergehenden Kürzungen im Rüstungsbudget und neuen politischen 29

Vgl. hierzu ausführlicher B. Thoß (Hg.): a. a. O,;A. Kieselbach, Die Pläne, S. 1027-1034; J. Michels, J. Werner (Hg.): a. a. O., S. 72-77, 196-200; B. Cieslcr. Von der Luftkriegsrüstung, S. 193-195. 30 Der Hinweis stammt von Ch. Mick (vgl. Anm. 2). D. A. Soboljew bestätigte in seinem Vortrag The transfer of German technology to Soviet aviation after the second World War auf dem Annual Meeting der Society for the History of Technology (SHOT) in London, 1.-4. August 1996, noch einmal diesen Hinweis. Seine Forschungsergebnisse beruhen ebenfalls auf Archivmaterial über das Ministeriums der Flugzeugindustrie im RGAE. 31 A. Kieselbach: Die Pläne, S. 1027-1028; B. Ciesla: Von der Luftkriegsrüstung, S. 193-195; J. Michels, J. Werner(Hg.): a. a. O., S. 72-77; G. Barkleit, H. Hartlepp: a. a. O., S. 6-7; G. Barkleit: Die Rolle des MfS, S. 8f. 32 RGAE, Fond 8044, Opis No. 1, Djelo 2461, Bericht Baades über seine Dienstreise in die DDR vom 20. 9. 1952 bis 14.12. 1952, 14. 12. 1952 (Vgl. Anm. 1); A. Kieselbach. Die Pläne, S. 1027f. 33 Vgl. u.a. Der Fall Berija. Protokoll einer Abrechnung. Das Plenum des ZK der KPdSU. Stenographischer Bericht, V. Knoll, L. Kölm (Hg.): Berlin 1993; O. Grinevskij: a. a. O..

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Prioritätensetzungen führten im Sommer 1953 zur Einstellung der schon angelaufenen Militärflugzeugproduktion.34 Genaugenommen wurde jedoch nur umdisponiert, da ein gänzliches Fallenlassen aufgrund der getätigten Investitionen, der inzwischen stattgefundenen baulichen Vorleistungen, der weitreichenden organisatorischen Vorbereitungen und der seit 1952 direkt in die Planungen miteinbezogenen deutschen Flugzeugspezialisten in der UdSSR nicht in Frage kam. Generell dominierte wiederum die sowjetische Seite das Geschehen in den Grundsatzfragen, so daß die Entscheidung für den Aufbau einer zivilen Flugzeugindustrie maßgeblich von den Interessen der „Sowjets" beeinflußt wurde. Ein ziviles Aufbaukonzept wurde nun favorisiert, das im Herbst 1953 konkrete Formen annahm.35 In der Anfangsphase war die schon zu Beginn dieses Beitrages erwähnte Strategie bestimmend: Erstens die Errichtung der produktionstechnischen Vorraussetzungen für die spätere Serienfertigung moderner Verkehrsflugzeuge in der DDR, d. h. Vorbereitung der Lizenzproduktion des einfach konstruierten sowjetischen Kurz- und Mittelstreckenflugzeuges IL-14 mit zwei Propellertriebwerken. Des weiteren sollte der Aufbau von Forschungsund Ausbildungsstätten erfolgen; Zweitens die Entwicklung eines modernen Strahlverkehrsflugzeuges (Typ „152") und des dazugehörigen Turbinen-Triebwerkes („014") in der UdSSR; und Drittens die Zusammenführung dieser beiden „Komponenten" zum geeigneten Zeitpunkt.36 Bei dem geplanten Flugzeugprojekt „152" handelte es sich keinesfalls um eine rein „zivile" Neuentwicklung. Die Maschine war eine Variante des von Junkers-Konstrukteuren in der Sowjetunion entwickelten strahlgetriebenen Mittelstreckenbombers „150" (1948-1953).37 In einem zeitgenössischen Bericht über die Entwicklungsgeschichte des Verkehrsflugzeuges „152" am Ende der fünfziger Jahre wurde vermerkt: „Um die Entwicklungszeit und das Entwicklungsrisiko herabzusetzen, sollte davon ausgegangen werden, den aerodynamischen Gesamtaufbau sowie die wesentlichen Elemente in der konstruktiven Gestaltung vom Muster 150 zu übernehmen, das vom Kollektiv in der SU entwickelt worden war."38 Mit anderen Worten, das erste zivile Verkehrsflugzeug der DDR war ein „zivilisierter Bomber", ein militärisches „Abfallprodukt". Die gegen Ende 1953 begonnenen Projektierungsarbeiten für die „152" wurden in der UdSSR unter Hochdruck vorangetrieben. Der Abschluß der Projektierung war auf April 1954 festgesetzt worden. Danach sollte die Rückführung der letzten deutschen Flugzeugspezialisten, der technischen Dokumentationen der „152" und wichtiger Ausrüstungen in die DDR erfolgen. Termingerecht wurden die Arbeiten fertig, schließlich sollte es auch endlich nach Hause gehen.39

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B. Thoß (Hg.): a. a. O., S. 273 ff.; A. Kieselbach. Die Pläne, S. 1033-34; Derselbe: Das Verkehrsflugzeugbauprogramm, S. 205-207; J. Michels, J. Werner (Hg.): a. a. O., S. 76; BStU, AOP 4572/73, Bl. 267. A. Kieselbach: Das Verkehrsflugzeugbauprogramm, S. 205f. Vgl. u. a. ebenda. Der Bomber „150" beruhte wiederum auf den Konstruktionserfahrungen der Junkers-Leute bei vorhergehenden Bomberprojekten wie der am Ende des 2. Weltkrieges in Erprobung befindlichen Ju-287 bzw. den später für die Sowjetunion entwickelten Projekten EF-131, 132 und 140; Vgl. B. Ciesla: Von der Luftkriegsrüstung, S. 191-193;/ Michels, J. Werner (Hg.): a. a. O., S. 41-54. BStU, AOP 2087/ 62, Band 1, Entwicklungsgeschichte des Verkehrsflugzeuges 152 (Abschrift), Bl. 13. F. Brandner. Ein Leben zwischen Fronten. Ingenieur im Schußfeld der Weltpolitik, 3. Auflage, München 1987, S. 212-214, 224; A. Kieselbach: Das Verkehrsflugzeugbauprogramm, S. 204-209.

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Wie sah es zu diesem Zeitpunkt mit den Vorbereitungen in der DDR aus? Wohl eher schlecht. Die Errichtung der institutionellen und produktionstechnischen Grundlagen sowie die Reaktivierung personeller Ressourcen waren erheblich in Verzug geraten. Obwohl beispielsweise den noch in der DDR verbliebenen Flugzeugfachleuten der ehemaligen mitteldeutschen Luftkriegsrüstung und den inzwischen zurückgekehrten SU-Spezialisten sehr lukrative Angebote gemacht wurden, gab es empfindliche Lücken im Bereich des qualifizierten Forschungs- und Entwicklungspersonals bzw. blockierten die verschiedenen Industrieministeriem oftmals erfolgreich die Freisetzung von Flugzeugfachleuten.40 Mitunter hatten aber auch die Kriegserfahrungen und die jahrelangen Einschränkungen im persönlichen Leben in der UdSSR zu einer starken Abneigung gegenüber militärisch anwendbarer Forschung und Entwicklung geführt. Ein SU-Heimkehrer erklärte in diesem Zusammenhang unmißverständlich: „Ich will mit Flugzeugkonstruktion nichts mehr zu tun haben, (...), ich will endlich meine Ruhe haben".41 Im Forschungs- und Entwicklungsbereich (FuE), der für eine erfolgreiche Fortsetzung der Projektierung und den Abschluß der Erprobung der „152" die Basis darstellte, fehlten vor allem wichtige Testeinrichtungen wie Prüfstände und Windkanäle. Sie waren entweder nicht vorhanden, befanden sich im Bau oder besaßen nicht die erforderlichen Leistungsparameter.42 Konkret verfugte die DDR Mitte der fünfziger Jahre über keinerlei Forschungsund Erprobungseinrichtungen, die einem solchen Vorhaben auch nur annähernd gerecht werden konnten.43 Scheinbar hatten die noch ein Jahr zuvor im Rahmen der Entstehung eines Militärflugzeugbaus anzutreffenden Verhältnisse beim Bau eines Entwicklungszentrums in Pirna („Materialamt") kaum eine grundlegende Veränderung erfahren. Anfang März 1953 beklage zumindest ein ZK-Mitarbeiter, daß es hier „bis zur Sabotage gehende Zustände" gäbe und beschrieb folgende Situation: „nachdem man bereits einige Millionen verbaut hat, ruht seit einigen Wochen die gesamte Bautätigkeit. Wir konnten uns selbst davon überzeugen, daß monatelang hunderte von Mark für die dort lagernde Baustelleneinrichtung bezahlt werden muß und darüber hinaus Gebäudeteile halbfertig im Rohbau dastehen und den Witterungseinflüssen ausgesetzt sind."44 Zugleich zeigten sich im produktionstechnischen Bereich eine Reihe schwerwiegender externer und interner Probleme: Besonders war durch die sowjetischen Demontage- und Reparationspolitik die für einen Flugzeugbau einst vorhandene hochentwickelte Produkti40 41 42

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SAMPO, ZPA JIV2/ 202/ Nr. 56, Auszüge aus einer Unterredung mit Prof. Baade, 16.10.1955. BAP, Mdl 34.0, Nr. 8709, Schreiben der Hauptabteilung Innere Angelegenheiten des Mdl vom 29.11.1954. Erst zwischen 1956 und 1958 standen dem FuE-Bereich nach und nach die notwendigsten materiellen Grundvoraussetzungen (so z. B. Triebwerkstestanlagen oder Windkanäle für verschiedene Geschwindigkeitsbereiche) zur Verfügung. Die FuE war jedoch weitgehend auf die laufenden Entwicklungsprojekte des Industriezweiges „zugeschnitten". BSUT, AOP 2087/ 62, Band 1, Entwicklungsgeschichte des Verkehrsflugzeuges 152 (Abschrift), Bl. 16; Archiv der Technischen Universität Dresden (im folgenden: TUDA), Fakultät für Luftfahrtwesen Verwaltung XX/Nr. 6, Bericht über den Wasserkanal, 10.11.1953; TUDA, Fakultät für Luftfahrtwesen Dekanat XX/Nr. 16 , Dissertationsverteidigung des Diplom-Ingenieurs Werner Richter, 1. 6. 1960; TUDA, Fakultät für Luftfahrtwesen - Institut für Angewandte Aerodynamik XX/Nr. 35, Jahresbericht des Institutes 1955; SAPMO, ZPA J IV2/ 202/ Nr. 56, Bericht über die Besprechung anläßlich des Besuches vom 18.-24. Mai 1954, 24. 5. 1954. SAMPO, ZPA J IV2/ 202/ 56, Bericht über die Einschätzung der Lage beim Aufbau der Hauptverwaltung Transportmaschinenbau, 3. 3. 1953.

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onskultur stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Vieles konnte erst nach längeren Fristen, mit hohem Aufwand oder gar nicht mehr produziert werden. Die wirtschaftlichen Folgelasten des Krieges45 hatten zu einer Verlagerung der Industriestruktur geführt, d. h. zur Stärkung der schwerindustriellen Strukturen. Diese Strukturverschiebung hatte unter anderem den traditionell entwickelten Leichtmaschinenbau und die elektrotechnische Ausrüstungsindustrie geschwächt, die gerade für die Flugzeugindustrie wichtige Zulieferer waren. Immerhin betrug der Zulieferanteil im Bereich des Zellenbaus für ein Flugzeug der Größenordnung der „152" etwa 70 Prozent.46 Die mit der Systemeinbindung in den Ostblock einhergehende Ausrichtung auf die Anforderungen des osteuropäischen Marktes hatte außerdem zur Folge, daß weniger anspruchsvolle Produkte von diesen Ländern bevorzugt wurden als beispielsweise das wartungsintensive und technologisch anspruchsvolle Passagierflugzeug „152". Zusätzlich war bei den traditionellen Verflechtungs- und Zulieferbeziehungen zwischen der ost- und westdeutschen Industrie infolge des Kalten Krieges eine fortschreitende Auflösung zu beobachten. Dadurch gab es weitere empfindliche Einbrüche bei den schon bestehenden Rückständen und Lücken im Zulieferbereich. Begleitet wurde diese Entwicklung vom Sichtbarwerden erster Gestaltungsgrenzen des sich etablierenden Systems der Leitung und Planung.47 Als problematisch erwies sich für den Flugzeugbau beim zentralen Planungssystem vor allem, daß in den fünfziger Jahren Wirtschaftswachstum als Wirtschaftsexpansion nach sowjetischen Vorbild verstanden wurde. Dadurch galt die Ausweitung des Mengenvolumens (Bruttorechnung) als maßgeblicher Gradmesser für die ökonomische Verfaßtheit der Wirtschaft. Im Hinblick auf eine günstige Abrechnung wurden deshalb von den Betrieben besonders materialaufwendige und qualitätsmindere Erzeugnisse bevorzug. Auf diese Weise ergab sich eine Zunahme der Materialkosten, die sich in einem höheren Gesamtpreis des Erzeugnisses niederschlagen konnten und damit wiederum eine bequemere Planerfüllung bewirkten. Eine solche Interessenlage entsprach kaum den qualitativ hohen und mengenmäßig anfangs eher geringen Produktionsanforderungen einer im Aufbau befindlichen Flugzeugindustrie. Kurz, was im planwirtschaftlichen Alltag zählte waren Quadratmeter, Tonnen oder enorme prozentuale Steigerungsraten bei der Planerfüllung.48 Für eine kostenintensive, flexibel und stark arbeitsteilig ftinktionierende Flugzeugindustrie, die nur auf langfristige Sicht die erwarteten technologischen und ökonomischen Vorteile entwickeln konnte, waren in einem solchen wirtschaftlichen Gefüge kaum ausreichende Spielräume vorhanden. Doch zurück zu der hier interessierenden und noch in der Sowjetunion befindlichen Kerngruppe der deutschen Luftfahrtspezialisten. Die Ankündigung, daß sich durch noch 45 46

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Gemeint ist hier vor allem die sowjetischen Reparationspolitik; und die Etablierung des planwirtschaftlichen Systems; Vgl. hierzu die Beiträge In: CA. Buchheim (Hg.): a. a. O.. SAMPO, ZPA, Nachlaß Walter Ulbricht 182/ Nr. 1015, Analyse über den Aufbau, die Entwicklung und die Perspektive der Luftfahrtindustrie in der DDR, Technischer Direktor und Chefkonstrukteur Roessing an Ulbricht, 30. 1. 1960. Ebenda; RGAE, Fond 8044, Opis No. 1, Djelo 2461; D. Cornelsen: Die Industriepolitik der DDR. Veränderungen von 1945 bis 1980, in: Der X. Parteitag der SED. 35 Jahre SED-Politik. Versuch einer Bilanz (=Edition Deutschland Archiv), Köln 1980, S. 50-53; B. Ciesla: „Intellektuelle Reparationen", S. 108f. SAMPO, ZPA, Nachlaß Ulbricht 182/Nr. 1015; RGAE, Fond 8044, Opis No. 1, Djelo 2461; B. Gleitze: Die Industrie der Sowjetzone unter dem gescheiterten Siebenjahrplan (=Wirtschaft und Gesellschaft in Mitteldeutschland, Bd. 2), Berlin 1964, S. 12 ff.

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laufende „Quartier- und Arbeitsvorbereitungen" in der DDR eine Verzögerung der Abreise ergeben würde, führte bei diesen zur offenen Empörung.49 Die meisten ahnten nicht, daß dahinter diesmal die ostdeutsche Seite steckte, die ausdrücklich bei der sowjetischen Führung darum gebeten hatte, „mit der Rückführung der deutschen Spezialisten erst am 15. Juni 1954 zu beginnen, so daß für uns die Möglichkeit besteht, nach der stattgefundenen Beratung der Spezialistengruppe den endgültigen Abschluß der Quartier- und Arbeitsvorbereitung durchzuführen."50 Diesem Wunsch wurde entsprochen und nach einer etwa zweiwöchiger Reise traf die Gruppe - wie schon geschildert - am 3. Juli in der DDR ein. Außer ihrem Wissen über das Verkehrsflugzeugprojekt und ihren Erfahrungen stand den Spezialisten jedoch wenig konkretes Material für eine schnelle Fortsetzung der Arbeit in der DDR zur Verfugung. Die wichtigsten Dokumentationen, Erprobungsmaterialien und Ausrüstungen waren in der UdSSR verblieben. Es fehlten Unterlagen über Windkanalversuche, Rollstabilität, Werkstoffe bis hin zur Korrespondenz mit den sowjetischen Entwicklungswerken und Forschungsinstituten. Zum Teil befanden sich diese noch Ende 1955 in der Sowjetunion oder tauchten überhaupt nicht mehr auf. Als beispielsweise im Frühjahr 1955 endlich die dringend benötigten Ergebnisse der Testreihen des deutschen Modells im Windkanal und die darauf beruhenden konstruktiven Empfehlungen eintrafen, mußte auf deutscher Seite überrascht festgestellt werden, daß die Konstruktionsempfehlungen des Zentralen Aero- und Hydrodynamischen Institutes (ZAGI) in Shukowski bei Moskau auf Messungen beruhten, die an einem veränderten Windkanalmodell durchgeführt worden waren. Hierzu hatte es weder Informationen an die, geschweige denn Absprachen mit den Deutschen gegeben. Wobei die Veränderungen am Modell von den „Sowjets" nicht mit der Absicht vorgenommen wurden, die Eigenschaften eines Flugzeuges mit zivilem Charakter zu verbessern. Insgesamt ergaben sich dadurch ungünstige Veränderungen in den technischen und ökonomischen Eigenschaften der „152". Erstmals wurde das Nichtvorhandensein leistungsfähiger Test- und Prüfeinrichtungen in der DDR zu einem ernsthaften Problem. Die sowjetische Vorgehensweise rief bei den Deutschen Verstimmungen hervor, weil die aerodynamische Auslegung des deutschen Windkanalmodells auf der des Bombers „150" beruhte, der schon 1951 erfolgreich in der Luft erprobt worden war. Weitere Zeitverzögerungen durch Umarbeitungen des Projektes mußten daher in Kauf genommen werden. Zusätzlich verwiesen die „Sowjets" permanent auf Bestimmungen der Geheimhaltung. Zugleich war ihnen in der DDR alles zugänglich. Insofern herrschte in der deutschsowjetischen Zusammenarbeit von Anfang an kaum Gleichberechtigung. Mit wachsenden Schwierigkeiten bei der Erprobung der „152" wurden unter den SU-Spezialisten außerdem die alten Vorurteile und schlechten Erfahrungen aus der Zeit des sowjetischen Zwangsaufenthaltes wieder wachgerufen. Das wachsende Mißtrauen wirkte sich - natürlich nicht offen erkennbar - zusätzlich negativ auf die Zusammenarbeit aus. Zwar gab es vollmundige Absichtserklärungen und bei Besuchen schien eine „offene Atmosphäre" zu herrschen, doch eine wirkliche Zusammenarbeit in Sachen Luftfahrtforschung konnte sich auf dieser Basis zu keinem Zeitpunkt entwickeln.51 49 F. Brandner. a. a. O.. 50 SAMPO, ZPA JIV2/ 202/ Nr. 56, Entwurf für die Bitte an die Sowjetunion, o. Datum. 51 BAP, Staatliche Plankommission (SPK) DE-l/Nr. 11958, Lage der Luftfahrtforschung in der DDR, 27. 6. 1960, Bl. 51; SAMPO, ZPA J IV2/ 202/ Nr. 56, Schreiben Ulbrichts an das Präsidium des ZK der KPdSU vom 24.12.1954; BStU, AOP2087/62, Band 1, Bl. 13-20; BStU, AIM 890/ 59, Band 1, Bl. 19, 26.

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Die Rückkehrer mußten vor allem sehr schnell feststellen, daß ihre Kenntnisse über die weltweit geltenden Verkaufskriterien für ein strahlgetriebenes Verkehrsflugzeug (Masse, Reichweite, Passagierzahl) auf keinen Fall den internationalen Standards entsprachen.52 Als technisches Kardinalproblem erwies sich immer wieder der notwendige Rückgriff auf die aerodynamische und konstruktive Konzeption des Bombers „150", der notwendig wurde, da die entsprechenden Testanlagen nicht bzw. noch nicht zur Verfügung standen und das Risiko klein gehalten werden sollte. Dieser Rückgriff bedeutete zugleich die Konservierung technischen Eigenschaften eines nach sowjetischen Vorgaben konzipierten Militärflugzeuges, die sich bei einem nach ökonomischen Kriterien zu bauenden Verkehrsflugzeug katastrophal auswirken mußten.53 „Die gesamte Entwicklung des Baumusters wurde dadurch behindert," so eine zeitgenössische Einschätzung, „daß die Kenntnisse über den Stand und die Entwicklungstendenzen im Verkehrsflugzeugbau der übrigen Welt nur gleichzeitig mit der Entwicklung des Flugzeuges erarbeitet werden konnten".54 Als sich die Probleme und Mißerfolge zu häufen begannen, suchten sowohl die staatlichen und Partei-Stellen (z.B. SED, SPK, MfS) als auch die „leitenden technischen Kader" des Industriezweiges nach den Schuldigen. Im Industriezweig vertraten einige hinter vorgehaltenem Mund zugespitzt die Meinung, „daß die SED-Bonzen doch nichts verstehen. Wenn in der Flugzeugindustrie nur 10-15 der leitenden Männer abhauen, dann können ,die' einpacken."55 Besonders wurde über die sowjetische Seite „geschimpft". Das Spektrum der Vorwürfe gegenüber den „Freunden" reichte von Konkurrenzverhalten, „Geheimniskrämerei" bis zur Industriespionage. Auf staatlicher Seite wurden dagegen die noch aus der Zeit vor 1945 herrührenden „alten Firmenideologien" immer schärfer kritisiert. Und in der Tat waren die alten „Netzwerke" solcher Finnen wie Junkers, Siebel oder BMW (Bayrische Motorenwerke) durch den Aufenthalt in der Sowjetunion kaum beeinträchtigt worden, so daß der alte Finnenzusammenhalt im Flugzeugbau der DDR weiter existierte. Maßgeblich bildeten die Konstruktionsgruppen von Junkers und Siebel im Industriezweig einen solchen starken Zusammenhalt heraus: „Wir alten ,Siebel-Leute' haben schon so manche Schlacht geschlagen, und es hat sich dabei immer wieder gezeigt, daß, wenn wir weiterhin zusammenhalten, (wir) eine verschworene Gemeinschaft sind, die durch dick und dünn geht."56 Ähnliche Töne gaben auch die Junkers-Leute von sich. Der Staatssicherheitsdienst beobachtete diese „Kreise" schon aufgrund einer möglichen „imperialistischer Feindtätigkeit" sehr aufmerksam. Der größte Einfluß ging hierbei von den Junkers-Leute aus, da sie die zahlenmäßig umfangreichste Gruppe bildeten und ihr Flugzeugprojekt zugleich den Kern des Industriezweigkonzeptes darstellte. Sie kamen dadurch in führende Positionen und agierten durchaus im Sinne der alten Firmentraditionen. Die Staatssicherheit vermerkte unter anderem, „daß die Junkers-Leute keinen ehemaligen) Siebel-Mann in ihr Kollektiv aufnehmen wollen."57 Hinzu kam, daß die SEDFührung die ehemaligen SU-Spezialisten materiell großzügig forderte und ihnen nach dem Vorbild des sowjetischen Privilegiensystems eine Sonderstellung einräumte. Die in der DDR ausgebildete „neue" Intelligenz reagierte darauf zunehmend verärgert und frustriert. 52 53 54 55 56 57

BStU, AOP 2087/ 62, Band 1, Bl. 14, 16. Ebenda, Bl. 13. Ebenda, Bl. 17. BStU, AIM 12829/ 68, P-Akte, Bl. 79. Ebenda, Bl. 281. Ebenda, Bl. 27.

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Zumal die SU-Spezialisten mitunter als verkappte Vertreter der „Bourgeoisie" bezeichnet wurden. Die Bevorzugung stand deshalb für die „neue" Intelligenz im Widersprach zum ideologischen Anspruch vom Arbeiter- und Bauernstaat. Ein nicht zu unterschätzender sozialer Konfliktherd entstand dadurch.58 Das seit der Rückkehr der Kerngruppe bestehende Dilemma der FuE im Flugzeugbau wurde durch eine Stellungnahme der Luftfahrtforscher Backhaus und Cordes an den Abteilungsleiter für Maschinenbau in der Staatlichen Plankommission (SPK) Helmut Wunderlich (1959-60) vom 27. Juni 1960 erkennbar, der das Schreiben damals zur Bearbeitung an seinen Stellvertreter Stock weiterreichte.59 In der Stellungnahme analysierten Backhaus und Cordes die Lage und den Stellenwert der Luftfahrtforschung sowohl im Flugzeugbau als auch in der gesamten Industrie der DDR und stellten zudem internationale Vergleiche an. Ihre Argumente spiegeln viele der Gründe für das wenig später folgende Scheitern des Industriezweiges wider. Einleitend kritisierten sie unter anderem, daß nach anfänglicher Sonderstellung der Flugzeugindustrie der Industriezweig in einen „normalen" Status der Volkswirtschaft zurückgestuft worden sei.60 Die SED-Führung hätte damit wenig Verständnis für die Tatsache aufgebracht, daß es wohl kaum eine zweite Industrie gibt, „die ein so großes technisch-ökonomisches Risiko trägt wie die Luftfahrtindustrie."61 Es wurde auch zu verstehen gegeben, daß gerade der Flugzeugbau „neue Konstruktionsarten, technologische Verfahren, Berechnungs- und Versuchsmethoden entwickelt, die auf andere Industriezweige übertragen werden und dort den technischen Stand, die Qualität und die Arbeitsproduktivität steigern helfen. Dieser nicht unmittelbar zu errechnende Nutzen der Luftfahrtindustrie muß bei der Beurteilung der Ökonomie mitbewertet werden."62 Zur Erreichung solcher möglichen Nutzeffekte, so gaben sie zu bedenken, verfugt die Luftfahrtforschung in der DDR gerade einmal über 50 tätige Forscher, bei gleichzeitig rund 25.000 Industriezweigbeschäftigten; und die Relation des Ausgabenetats für die Flugzeugentwicklung und Luftfahrtforschimg betrage 9 zu l. 63 Backhaus und Cordes bemängelten besonders die innovationsfeindliche Einstellung der DDR-Wirtschaftsführung, die von der Luftfahrtindustrie sofort volle Rentabilität erwarte. Diese Vorstellung wäre letztlich überzogen, da es nicht möglich sei, „aus den großen in sie investierten Summen nach Ablauf einer bestimmten Reihe von Jahren einen genau vorausberechenbaren Gewinn zu erhalten."64 Zugleich machten sie mit Hinweis auf die Folgelasten des Krieges geltend, daß die den Weltstand bestimmenden Staaten über eine ununterbrochene jahrzehntelange FuE-Tradition zurückblicken könnten, die maßgeblich durch militärische Forschungen und Finanzierung erreicht wurde. Die Flugzeugindustrie der DDR sei jedoch eine rein zivilen Zwecken dienende und erst seit kurzer Zeit existierende Industrie, die ihre hohen Investitionen nicht durch ein Militärbudget verschleiern könne. Rein buchmäßig, wird in der Stellnahme ar58

59

60 61 62 63 64

SAMPO, ZPAIV2/ 202/ Nr. 56; SAMPO, ZPAIV2/ 2.029/ Nr. 53; G. Barkleit, H. Hartlepp: a. a. 0., S. 24-27; G. Barkleit Die Rolle des MfS, S. 10 ff.; Vgl auch den Beitrag von D. L. Augustine in diesem Band. BAP, SPK, DE-l/Nr. 11958, Bl. 48-54. Georg Backhaus und Gerhart Cordes hatten diese Stellungnahme als leitende Mitglieder des Zentralen Arbeitskreises für Forschung und Technik „Flugzeugbau" beim Forschungsrat der DDR verfaßt. Ebenda, Bl. 49. Ebenda. Ebenda, Bl. 51. Ebenda, Bl. 52. Ebenda, Bl. 49.

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gumentiert, müßte der ökonomische Nutzen deshalb unbefriedigend ausfallen.65 „Das scheint", so Backhaus und Cordes, „in einigen Staats- und Verwaltungsstellen der DDR nicht klar erkannt zu sein."66 Einmal jedoch scheinen die beiden Luftfahrtforscher den mit der Auswertung beauftragen stellvertretenden Abteilungsleiter Stock leicht aus seiner ideologisch „gefestigten" Fassung gebracht zu haben. Das läßt zumindest seine Randbemerkung bei folgender Textstelle erkennen: „Der in der Luftfahrt tätigen technisch-wissenschaftlichen Intelligenz ist eine besondere Verantwortung auferlegt. Ihre Erzeugnisse repräsentieren im In- und Ausland den Stand der Technik in der DDR. Aber sie entstehen unter sehr ungünstigen wissenschaftlich-technischen Vorbedingungen, so daß die Verantwortung diese Intelligenz sehr schwer belastet. Die der Luftfahrtindustrie in der DDR von der SU gewährte Hilfe war vorwiegend materieller Art und erfolgte auf wissenschaftlichen Gebiet nur in geringem Umfange. Es wurden in der DDR zwar umfangreiche Produktionsstätten errichtet und Anlagen für die Entwicklungsarbeit geschaffen, für die Forschung jedoch sehr wenig getan, insbesondere auf dem Triebwerksgebiet (und der Aerodynamik B.C.) so gut wie gar nichts."67 Diese, den gescheiterten Transfer und die mangelnde deutsch-sowjetische Zusammenarbeit kommentierende Argumente, quittierte Stock mit der Randbemerkung „Anmaßung".68 In der SPK gab es zu diesem Zeitpunkt bereits seit längerem weitreichende Überlegungen zur Auflösung des Industriezweiges.69 Besonders nach dem Absturz der Versuchsmaschine „152 V-l" bei ihrem 2. Erprobungsflug am 4. März 195 970 und durch den sich daraus ergebenden zusätzlichen Rückschlag in der Entwicklungsarbeit wurde in der Tat erkennbar, daß die wirtschaftsleitenden Organe der Flugzeugindustrie keine Sonderstellung mehr einräumen wollten. Die Stimmen gegen die „unwirtschaftliche" Luftfahrtindustrie waren immer deutlicher zu vernehmen, zumal der Siebenjahrplan (1959-1965) mit seinen hochgeschraubten Zielsetzungen die vorhandenen Kapazitäten weit überforderte. Die Hauptschwierigkeit der DDR-Wirtschaft bestand damals in der Notwendigkeit, gleichzeitig drei Aufgaben bei gleicher Dringlichkeit lösen zu müssen: die Erhöhung des privaten Verbrauchs, den Ausbau und die Modernisierung der Infrastruktur und die Absicherung der Investitionen in allen Industriezweigen. Angesichts der knappen Ressourcen, der sich zeigenden begrenzten ökonomischen Spielräume des planwirtschaftlichen Systems und der sich nach 1956 ändernden wirtschaftspolitischen Maßgaben (z.B. das Kohle- und Energieprogramm oder das Chemieprogramm) mußte jede Bevorzugung zur Vernachlässigung anderer Zwecke fuhren und in schwierigen Situationen krisenhafte Wirkungen wie 1953 und 1956 hervorrufen. Tatsächlich kam es 1960/61 zu einer neuerlichen Krise; der Siebenjahrplan wurde abgebrochen und mit ihm endete auch die Flugzeugindustrie.71

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Ebenda, Bl. 50. Ebenda, Bl. 50-51. Ebenda, Bl. 51. Ebenda. Ebenda, Dispostion für den Bericht Luftfahrtindustrie, 7. 9. 1960, Bl. 69-71; ebenda, Bericht über die Perspektive der Luftfahrtindustrie, Bl. 72-87. Vgl. J. Michels, J. Werner (Hg.): a. a. O., S. 111-113; FR Extra, a.a.O., S. 9 ff. D. Comelsen: a. a. O., S. 50-53; B. Ciesla: Zwischen den Krisen. Sozialer Wandel, ökonomische Rahmenbedingungen und Lebenslage in der DDR 1953 bis 1956, in: J. Foitzik (Hg.): Entstalinisierung in Osteuropa, im Druck.

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Zeitweise blockierte auch das besondere Interesse Ulbrichts an der Flugzeugentwicklung eine realistische Lageeinschätzung, da er aus Prestigegründen nach dem erfolgreichen Start des sowjetischen „Sputnik" der Sowjetunion einen „DDR-Sputnik" - das Verkehrsflugzeug „152" - präsentieren wollte. Mit der Flugzeugindustrie sollte demonstriert werden, daß die Supermacht UdSSR mit der DDR einen kleinen und leistungsfähigen Bundesgenossen zur Seite hatte.72 Doch die harten wirtschaftlichen Realitäten zwangen Ulbricht spätestens 1959/60 zur Aufgabe solcher Wunschvorstellungen. Ausschlaggebend dürfte letztlich gewesen sein, daß der potentielle Hauptabnehmer Sowjetunion im Juni 1959 definitiv erklärte, daß die Flugzeugindustrie der UdSSR selbst in der Lage wäre, „den Bedarf an Kurz- und Mittelstreckenverkehrsflugzeuge der sozialistischen und befreundeten Staaten abzudecken."73 Der Hintergrund hierfür war ein Entscheidungsgefüge, das von der DDR kaum beeinflußt werden konnte. So hatte sich die überzogene und einfach strukturierte Begeisterung des sowjetischen Parteichefs Chruschtschow für die Raketentechnologie dahingehend auf das Schicksal des DDR-Flugzeugbaus ausgewirkt, daß Ende April 1959 per Beschluß der sowjetischen Führung die Raketentruppen auf Kosten der Luftstreitkräfte mit neuen Waffensystemen ausgerüstet werden sollten. Den sich mit Bomberprojekten befassenden Konstruktionsbüros wurden hierfür die Aufträge entzogen, so daß diese sich auf die zivile Flugzeugentwicklung zu konzentrieren begannen. Auf diese Weise unter Druck geraten, erklärte die Flugzeugindustrie der UdSSR ihr Desinteresse an Verkehrsflugzeugen aus der DDR. Der einzige ernsthaft in Frage kommende lukrative Absatzmark brach damit endgültig weg.74 Ende Februar 1961 wurde dem DDR-Außenhandelsminister Heinrich Rau (1955-61) bei einem Aufenthalt in Moskau schließlich durch das Mitglied des Präsidiums des Obersten Sowjets Mikojan mitgeteilt: „Es ist die Meinung des Präsidiums, daß in der DDR die Flugzeugindustrie umgestellt werden muß."75 Nach der Rückkehr Raus beschloß das Politbüro der SED am 28. Februar die Auflösung des Flugzeugbaus. Auf der 12. ZKTagung der SED im März 1961 wurde der Beschluß schließlich öffentlich bekanntgegeben.76 In der SPK liefen aber schon im Januar 1961 die unmittelbaren organisatorischen Vorbereitungen zur Auflösung des Industriezweiges an. Die in Moskau vorgeschlagene Vorgehensweise war eine Art „Absegnung" einer weitgehend in der DDR gereiften Entscheidung. Koordiniert wurde die Umprofilierung von einer sogenannten „Zentralen Kommission", die sich mit der Arbeitskräftevermittlung, der industriellen und universitären Umstrukturierung, der Neuausrichtung der Forschung sowie der Neugründung von Forschungsinstituten befaßte.77 Für die SU-Spezialisten bedeutete das Ende der Flugzeugindustrie angesichts der ursprünglich von seiten der SED-Führung geweckten Erwartungshaltung eine besonders herbe Enttäuschung; zumal sich ihre Bemühungen und Wünsche als Flugzeugbauer nach 72 73 74 75 76 77

Für diesen Hinweis bedankt sich der Verfasser bei K. H. Eyermann. BAP, SPK, DE-l/Nr. 11958, BI. 73. O. Grinevskij: a. a. O., S. 134f; B. Ciesla: Problemy razvitya, S. 35f; J. Barkleit, H. Hartlepp: a. a. O., S. 45. SAPMO, ZPAIV2/ 2029/ Nr. 150. SAPMO, ZPA JIV2/ 2/ Nr. A-805; W. Mühlfriedel, K Wießner: a. a. 0., S. 302. BAP, SPK, DE-l/Nr. 8051, Direktive des Operativstabes (verbessert später in Zentrale Kommission) zur Durchführung des PB-Beschlusses (Entwurf), 4. 1. 1961, Bl. 1-8; BAP, SPK, DE-l/Nr. 8051, Protokoll Nr. 1 der Zentralen Kommission, 21. 3. 1961, Bl. 69-70.

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dem Zusammenbruch des Dritten Reiches und der für sie insgesamt wenig erfolgreichen Tätigkeit78 in der Sowjetunion nun ein drittes Mal als nicht erfolgreich erwiesen. Doch für ihre berufliche Sicherheit wurde von staatlicher Seite schnell und umfassend gesorgt. Nicht zuletzt deshalb, weil wiederum eine massive Westabwanderung79 verhindert werden sollte und es eine konkursbedingte Arbeitslosigkeit in einem sozialistischen Wirtschaftssystem nicht geben durfte. Ein Teil der SU-Spezialisten des letzten Rückkehrertransportes vom Juli 1954 kamen im neugegründeten Institut für Leichtbau (IfL) in Dresden unter, das vom Chef der Flugzeugindustrie Brunolf Baade bis zu seinem Tod im Jahre 1969 geleitet wurde. Andere fanden an Fach- und Hochschulen, in dem von Jena nach Dresden verlagerten Zentralinstitut für Automatisierung (ZIA) oder in den FuE-Abteilungen der Industrie (z.B. Carl-Zeiss Jena) ein neues Tätigkeitsfeld.80 Gerade die Gründungsgeschichte des ZIA in Dresden läßt stellvertretend einige der negativen Folgewirkungen der Auflösung des Zweiges im Technologiebereich erkennen, da die aus rein sozialen Gesichtspunkten heraus erfolgte Verlagerung des ZIA dazu führte, daß die Aufnahme von Forschungs- und Entwicklungsaufgaben zur Automatisierung für die nun „beschäftigungslosen" Flugzeugspezialisten ein Neubeginn ohne Berufserfahrung war. Der in Jena im engem Kontakt mit Carl-Zeiss erarbeitete Forschungsvorlauf wurde verschenkt und eine „Pause im Innovationsprozeß" auf dem Gebiet der automatisierten Informationsverarbeitung trat dadurch bis etwa 1963 ein.81 Die Entwicklungs- und Produktionsbetriebe der Flugzeugindustrie wurden zu Werken für Sondermaschinen und Transportausrüstungen, Chemie- und Klimaanlagen oder Kraftwerksausrüstungen umstrukturiert. Auch hier gab es eine Reihe von Umstellungsproblemen bei der Neuprofilierung der Produktion, der Eingliederung in bestehende Zulieferstrukturen oder auf dem Gebiet der Produktionserfahrungen. Ein Teil des Flugzeugwerkes in Dresden-Klotzsche blieb als Flugzeugwerft für die Nationale Volksarmee (NVA) und für die Reparatur von zivilen Flugzeugen erhalten.82

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Gemeint ist damit, daß eine wirkliche Übernahme von deutschen Flugzeugprojekten in der UdSSR nie ernsthaft in Erwägung gezogen wurde. Dafür war die Unterstützung und Förderung der Entwicklungsarbeiten zu begrenzt und die Konkurrenz unter den sowjetischen Konstruktionsbüros zu stark. Lediglich bei der Triebwerksentwicklung bestand auf sowjetischer Seite ein sehr großes Interesse: So entwickelten die Deutschen in Kuibyschew eine Triebwerk, das später in Großserie für die Riesenflugzeuge Tupolew Tu-95 (Bomber/Aufklärer) bzw. -114 (zivile Version) und Antonow AN-22 (Transporter) produziert wurde; B. Ciesla: Intellektuelle Reparationen, S. 106. Wieviele hochqualifizierte Spezialisten aufgrund der Auflösung des Industriezweiges in den Westen gegangen sind, muß noch näher untersucht werden. Bekannt geworden ist, daß verschiedene „Erfahrungsträger"der Triebwerksentwicklung beispielsweise nach Ägypten gegangen sind, um dort unter Leitung des ehemaligen Chefs der deutschen Triebwerksentwicklung in der Sowjetunion, dem Österreicher Ferdinand Brandner, zu arbeiten; Vgl. F. Brandner. a. a. O., S. 278; H. Hartlepp: Entwicklung, S. 35. BAP, SPK, DE-l/Nr. 8051-8055, Protokolle der „Zentralen Kommission"; Brunolf Baade 65 Jahre, in: IfL Dresden Mitteilungen , 3/1969; J. Michels, J. Werner (Hg): a. a. O., S. 164 ff.; H. Hartlepp: Entwicklung, S. 35. M. Judt : Zur Geschichte des Büro- und Datenverarbeitungsmaschinenbaus in der SBZ/DDR, in: W. Plumpe, Ch. Kleinschmidt (Hg.): Unternehmen zwischen Markt und Macht. Aspekte deutscher Unternehmens* und Industriegeschichte im 20. Jahrhundert (=Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte, Bd. 1), Essen 1992, S. 146. BAP, SPK, DE-l/Nr. 8051-8055, Protokolle der „Zentralen Kommission"; J. Michels, J. Werner (Hg.): a. a. O., S. 164 ff.;H. Hartlepp: Entwicklung, S. 35.

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Resümee Die späteren Probleme des Flugzeugbaus in der DDR zeichneten sich schon in den konzeptionellen Überlegungen zum Aufbau des Industriezweiges ab. Besonders nachteilig wirkte sich die mangelnde Förderung der Luftfahrtforschung aus. Sie hatte zur Folge, daß der in einem solchen Industriezweig notwendige Forschungsvorlauf von Anfang an fehlte. Andererseits entwickelte sich die deutsch-sowjetische Zusammenarbeit im Bereich der Grundlagenforschung wenig effektiv. Es fehlte vor allem der damals zwangsläufig dringend erforderliche Zugriff auf die neueren Ergebnisse der militärischen Luftfahrtforschung in der Sowjetunion. Die „Sowjets" verfolgten jedoch eine ähnlich restriktive Informationspolitik gegenüber den DDR-Forschern wie schon zuvor bei den deutschen Luftfahrtspezialisten während ihres sowjetischen Zwangsaufenthaltes. Dieses Manko versuchte die ostdeutsche Seite unter anderem mit Hilfe der Wirtschaftsspionage im Westen zu kompensieren. Letztere wurde von der UdSSR sogar ausdrücklich gewünscht.83 Zugleich verlor die SED-Führung aufgrund ausbleibender Erfolge und sich verändernder wirtschaftspolitischer Prioritäten schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit das Interesse am Flugzeugbau. Die Forderungen von seiten des Industriezweiges wurden immer mehr als „lästig" und für die allgemeine Wirtschaftsentwicklung als störend empfunden. Die Installierung eines hochinnovativen Industriezweiges - ohne militärische Ausrichtung bzw. Präferenz - in ein planwirtschaftliches System hatte außerdem frühzeitig gezeigt, daß die Prinzipien der zentralen Leitung und Planung davon abhielten, das Innovationsverhalten im größeren Maßstab zu stimulieren. Die durch technische Neuerungen bewirkten weitreichenden Veränderungen und die damit verbundenen Störungen in der laufenden Produktion wurden im zentralen Planungssystem ökonomisch und moralisch wenig honoriert. Der Versuch, eine traditionelle Industriestruktur aus der Zeit vor 1945 als technologischen Schrittmacher zu aktivieren, mißlang. Die Rückführung deutscher Spezialisten aus der Sowjetunion erwies sich trotz der Technikeuphorie und der anfangs eingeräumten Sonderstellung als „Transferfalle". Die sich vollziehende gesellschaftliche Systemtransformation, die wirtschaftlichen Autarkiebestrebungen, die Geheimhaltungsmanie, ein fehlender Forschungsvorlauf sowie eine mangelnde deutsch-sowjetische Kooperation wirkten einer erfolgreichen Entwicklung entgegen. Insofern tappten die zurückkehrenden Spezialisten in eine „Falle". Wohl aber auch deshalb, weil die sowjetische Reparationspolitik und der damit einhergehende Übergang zur sozialistischen Planwirtschaft schon Anfang der fünfziger Jahre einen „bleibenden Schock" auf die Produktivität und die Innovationsfahigkeit der DDR-Wirtschaft ausgeübt hatten. Das Scheitern der Flugzeugindustrie war ein Indiz für den entstandenen technologischen Rückstand der DDR durch den stattgefundenen wirtschaftlichen Strukturwandel nach 1945. Wichtig erscheint, daß die hier skizzierte Entwicklung im Bezugsrahmen des Kalten Krieges beurteilt wird. Der Ost-West-Gegensatz rief einen enormen Anpassungsdruck hervor, wodurch rationale ökonomische Kriterien vielfach unterdrückt worden sind. Allein die hier kurz dargelegte „deutsch-deutsche" Technikpolitik zeigt, daß der Westen den Osten entgegen der realen Entwicklung als technologischen Vorreiter antizipierte und daraus einen vermeintlichen Rückstand konstruierte. Wenn auch nicht offen, so tat umge83

E. Eltgen: Ohne Chance. Erinnerungen eines HVA-Offiziers, Berlin 1995, S. 30; B. Ciesla: Der Spezialistentransfer, S. 29.

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kehrt der Osten dasselbe für sich. Der auf diesem Hintergrund ausgetragene Systemwettstreit hat für den Westen zu einer positiven Rückkopplung im Wirtschaftsgeschehen geführt, da sich dort auch in den „kältesten" Phasen des Kalten Krieges das technologische Wettrüsten in einem vergleichsweise offenen Gesellschaftssystem vollzog.

RAINER HOHLFELD

Zwischen Autonomie und staatlichem Dirigismus: Genetische und biomedizinische Forschung

Einleitung Die Formulierangen der Passagen des Artikel 38 des deutschen Einigungsvertrages von 1990, die sich auf die Angleichung der Wissenschaftssysteme beziehen, ließen sich latent von der Prämisse leiten, daß die Wissenschafts-und Forschungslandschaft der DDR einen ausgeprägt politisch fremdbestimmten Charakter trug, internationalen Standards von „Wissenschaftlichkeit" nicht standhielt und deshalb - bis auf einige wenige Ausnahmen ohne große Verluste „abgewickelt" werden könne und müsse. Zu dieser Prämisse gehörten Behauptungen wie: - Wissenschaftliche Theorien waren durch den Marxismus-Leninismus kategorial und methodologisch ideologisiert und daher unwissenschaftlich. Der Lyssenkoismus in der Biologie ist dafür ein schlagender Beweis; - durch zentrale politische Direktiven wurde die Forschung zur Lösung ökonomischer und gesellschaftlicher Entwicklungsprobleme instrumentalisiert und damit fremd- und fehlgesteuert1 - durch diesen ,Praktizismus, der Forschungspolitik wurde die Grundlagenforschung vernachlässigt und die DDR-Forschungslandsschaft „ausgetrocknet"2; - durch den Mangel an Material und Instrumenten konnte die Forschung weder experimentell noch methodisch den internationalen Stand erreichen; - durch die Kaderpolitik der SED-Führung kamen fachlich wenig qualifizierte Wissenschaftler in Führungspositionen; - das Humboldtsche Ideal der Einheit von Forschimg und Lehre wurde außer Kraft gesetzt, da an den Universitäten keine Forschung, an den DDR-Akademien keine Lehre betrieben wurde. 1 „Das Prinzip der Selbststeuerung wurde von der SED-Führung auch für die Forschung außer Kraft gesetzt." in: Deutscher Bundestag. Materialien der Enquete-Kommission .Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", Frankfurt a. M. 1995, Bd. I,Bericht der Enquetekommission, S. 319; Vgl. auch//. F. Zacher. Herausforderungen an die Forschung. Ansprache des neuen Präsidenten der Max-Plank-Gesellschaft (MPG), in: MPG-Spiegel, 4, 1990, S. 63-68. 2 Vgl. B. Faulenbach: Diskussionsbeitrag auf der öffentlichen Amhörung zum Thema „ Wissenschaft und Technik", in: Deutscher Bundestag, a. a. O., Bd. III, S. 395.

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Gerade in bezug auf die naturwissenschaftliche Forschung gibt es jedoch deutliche Hinweise, daß sich durch die gesamte DDR-Geschichte ein politisch-philosophisches Bild vom wissenschaftlich-technischen Fortschritt zieht, welches einen deutlichen Januskopf aufweist: Auf der einen Seite das ständige Bemühen um eine Anbindung der Forschung an Dialektischen Materialismus und gesellschaftliche Praxis, auf der anderen Seite immer wieder deutliche Voten zugunsten einer „erkundenden VorlaufForschung", die über die Hervorbringung von Neuem zur „vierten Produktivkraft" geworden sei und der daher auch der nötige kreative Freiraum gewährt werden müsse. Wissenschaftlich-technischer Fortschritt als Innovationsbasis für die ökonomische Entwicklung der Industriegesellschaft ist wesentlicher Bestandteil aller westlicher Modernisierungskonzepte und immanenter Bestandteil des Leitbildes der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft"3 und damit des Selbstbildes des DDR-Partei-und Staatsapparates. Das forschungs- und wissenschaftspolitische Selbstverständnis der SED und die Leitideen von „Wissenschaft als Produktivkraft" und „Wissenschaftlich-Technischer Revolution", lassen sich überhaupt nur im Kontext der Modernisierungsrhetorik bezeichnen - unabhängig vom Grade ihrer Realisierung.4 Im folgenden Beitrag über Struktur und Entwicklung der genetischen und biomedizinischen Forschung in der DDR soll in Bezug auf die Tragfähigkeit eines theoretischen Rahmens keine Vorentscheidung getroffen werden. Ich werde eklektizistisch und pragmatisch zugleich vorgehen und den jeweiligen politischen Herrschaftsanspruch, seine wissenschaftlichen Fremdbilder und politischen Strategien mit einer rekonstruierten historischen Realität konfrontieren. Die Basis bilden dafür empirischen Daten, die in jetzt zugänglichen Archiven, wissenschaftlichen, literarischen und journalistischen Publikationen in der DDR und Expertenbefragungen und Interviews im Zeitraum von 1992 - 1995 erhoben wurden.5 Die Argumentationsfuhrung des Papiers ist ein Kompromiß und beruht auf drei Strängen, in denen sowohl historisch-diachron beschrieben als auch systematisch-wissenschaftssoziologisch dargestellt wird: - einem Strang, der die Wissenschaftsentwicklung in Genetik und Biomedizin unter einer wissenschaftsinternen Perspektive zu rekonstruieren versucht; - einem Strang, der den Wechsel der Interaktions- und Dependenzverhältnisse von Politik und Wissenschaft betrachtet und

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O. Reinhold-. Die Gestaltung unserer Gesellschaft, Berlin 1986; M. Lötsch: Technological and Social Change in the GDR, in: M. Gerber (ed.): Studies in GDR Culture and Society 9, Lanham, U.S.A. 1989, S. 21-33. 4 Vgl. M. Ash: Wissenschaft, Politik und Modernität in der DDR - Ansätze zu einer Neubetrachtung, in: R. Toellner, K. Weisemann (Hg.): Wissenschaft und Politik - Genetik und Humangenetik in der DDR, Münster 1996; J. Glaeßner. Das Ende des Kommunismus und die Sozialwissenschaften, in: Deutschland-Archiv, 28, 1995, S. 920-936; R. Jessen: DDR-Geschichte und Totalitarismustheorie, in: Berliner Debatte Initial, 1995, H. 4/5. 5 Die Expertenbefragungen und Interviews erfolgten zum einen im Rahmen des vom BMFT geforderten Forschungsprojektes „Die Technologisierung der Biologie: Zur Durchsetzung eines neuen Wissenstyps in der Forschung „ (R. Hasse, R. Hohlfeld. P. Nevers, W. Ch. Zimmerli, Universität Bamberg 1994). Zum anderen stammt das Material aus Erhebungen im Rahmen des Projektes „Wissenschaft und Wiedervereinigung" der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 1995 und 1996, der ich für die freundliche Genehmigung seiner Verwendung für diese Publikation danke. Die Protokolle liegen beim Autor vor. Die Nomenklatur ist bei den jeweiligen Erstzitaten verschiedener Interviewserien erläutert.

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- einem Strang, der die Anfänge eines Diskurses von Wissenschaft und außerwissenschaftlichen nicht-politischen Repräsentanten der Gesellschaft einzufangen versucht. Der Beitrag soll eine Antwort auf die Frage versuchen, welche der zitierten Vorurteile als Urteile erhärtet werden können und welche revidiert werden müssen.

Die Entwicklung der genetischen und biomedizinischen Forschung in der DDR Für die historische und soziologische Analyse einer Wissenschaftsentwicklung in den Lebenswissenschaften in der DDR sollen exemplarisch zwei Bereiche herausgegriffen werden, die in den letzten Jahrzehnten eine stürmische Entwicklung durchgemacht haben und fiir das politische System eine besondere Relevanz besaßen: Genetik und Biomedizin. Die Genetik spielte eine wesentliche Rolle zum einen in der ideologisch-weltanschaulichen Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Wissenschaft in der Gründungsphase der DDR („Lyssenkoismus") und zum anderen - nach ihrer Rehabilitierung und dem Theorienwechsel zur Molekulargenetik - als theoretische und methodologische Basis fiir die neue „Produktivkraft Biotechnologie". Unter Biomedizin sollen hier jene Bereiche der Medizin verstanden werden, in denen unter Anwendung naturwissenschaftlicher Denk- und Arbeitsmethoden sowie moderner Technologien und Erkenntnisse im Bereich der medizinisch orientierten biologischen Forschung und der klinischen Forschung theoretisch begründete Lösungen zur Prophylaxe, Diagnostik und Therapie von Krankheiten angestrebt werden. Dabei werden biologische Theorien auf medizinische Fragestellungen gerichtet und medizinische Probleme auf dem theoretischen und methodologischem Niveau biologischer Disziplinen konzipiert. In dieser Weise werden Biowissenschaften und Medizin theoretisch miteinander zur „Biomedizin" verknüpft. Die Entwicklung wird exemplarisch beschrieben für zwei herausragende wissenschaftliche Forschungsstätten der Akademie der Wissenschaften der DDR, dem Institut für Genetik und Kulturpflanzenforschung in Gatersleben und den biologisch-medizinischen Instituten in Berlin-Buch. Diese beiden Einrichtungen illustrieren prägnant das Lavieren zwischen politischen Steuerungsversuchen und dem Festhalten an wissenschaftlicher Autonomie und lassen am ehesten, da es sich um privilegierte Einrichtungen handelte, einen internationalen Vergleich zu.

Der Wiederaufbau des Wissenschaftssystems In der ersten Phase des Wiederaufbaus des Wissenschaftssystems (1945-49) stand die Reorganisation und Entnazifizierung der Universitäten und Hochschulen sowie der wissenschaftlichen Institute durch die Sowjetische Militäradmistration (SMAD) im Vordergrund. Es mußten bürgerliche, auch völlig „unpolitische" Wissenschaftler gewonnen werden,

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denen eine weitgehende Autonomie in Forschung und Lehre zugestanden wurde.6 Sie gaben in manchen führenden naturwissenschaftlichen Instituten bis zum „Generationswechsel" Mitte der sechziger Jahre den Ton an. Das Institut für Kulturpflanzenforschung Das 1945 in Gatersleben (Sachsen-Anhalt) eröffnete Institut für Kulturpflanzenforschung verstand sich in der Selbstbeschreibimg seines alten und neuen Direktors H. Stubbe als Fortsetzung des gleichnamigen, 1943 gegründeten Instituts der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. In der „Ära Stubbe" (1945-1969) stand in der experimentellen Pflanzengenetik und -Züchtung in Gatersleben die Erzeugung eines großen Sortimentes an Mutanten an Modellorganismen (Löwenmäulchen und Arabidopsis) sowie an Kulturpflanzen im Vordergrand. Diese Mutationsforschung war getragen von dem Leitbild, daß es möglich sein müßte, die natürliche Vielfalt der Kulturpflanzensippen durch die Zusammenstellung eins Mutantensortimentes zu simulieren. Das Ergebnis dieser Bemühungen war eine reichhaltige Mutantensammlung, die einen wertvollen Fundus für die weiteren Jahrzehnte der Institutsarbeit darstellte und noch immer darstellt. In der „Ära Stubbe" wurde ein bestimmtes Forschungsprofil des Institus geprägt, welches sich sowohl durch seine wissenschaftliche Relevanz (Evolution der Kulturpflanzen, theoretische Fragen der Pflanzen -und Bakteriengenetik) als auch seine praktisch-gesellschaftliche Relevanz (Ressourcen und Methoden für die Züchtung neuer Kulturpflanzensorten) auszeichnete. Im internationalen Vergleich befand sich das Institut wissenschaftlich auf der Höhe seiner Zeit: Die Mendel-Morgan-Genetik war das herrschende Paradigma der Genetik höherer Organismen und die Bakteriengenetik mit dem Darmbakterium Escherichia coli als Modellorganismus nahm Anfang der fünfziger Jahre ihren Aufschwung und leitete den Start des molekulargenetischen Forschungsprogramms ein. In Gatersleben bildete es die Grandlage für die Entwicklung eines Mutagenitätstestes für Umweltchemikalien sowie für die Selektion von Bakterienstämmen, die in erhöhter Konzentration das „Brauereienzym" Alpha-Amylase synthetisieren konnten. Ein weiterer Eckpfeiler des Instituts war die morphologische und systematische Erfassung der genetischen Mannigfaltigkeit der Kulturpflanzen und ihrer Primitiv- und Wildformen. Das Reservoir züchterisch wertvollen Genmaterials waren Sammelreisen in die „Mannigfaltigkeitszentren" der Welt.7 Das daraus hervorgegangene Sortiment an genetischen Ressourcen von Kulturpflanzen bildete und bildet den Eckpfeiler für das internationale Ansehen und die Attraktivität des Gaterslebener Institutes. 6 In Ansehung der versuchten politische Übergriffe von Stalin und Hitler auf die Wissenschaft und in Ansehung der Willfahrigkeit von Wissenschaftlern, sich unter Verletzung wissenschaftlicher Normen vor den politischen Karren spannen zu lassen, hatte der amerikanische Wissenschaftssoziologe R. K. Merten 1942 den „Ethos" oder Verhaltenskodex autonomer Forschung als quasi antitotlitäres und demokratisches Wissenschaftsverständnis definiert, der als Maßstab auch den folgenden Ausführungen zugrunde liegt, Vgl. R. K. Merton: Die normative Struktur der Wissenschaft, in: Derselbe: Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen, Frankfurt a. M. 1985, S. 86-99; Vgl. auch die Beiträge von J. Connety, R. SiegmundSchultze, M. Ash und D. Hoffmann im vorliegenden Band. 7 Vavilow fand, daß die Formenmannigfaltigkeit der Kulturpflanzen nicht gleichmäßig über die gesamte Erde verteilt ist, sondern sich auf gewisse Gebirgsregionen der Tropen und Subtropen, die sog. Mannigfaltigkeits- oder Genzentren konzentriert; H. Stubbe: Geschichte des Instituts für Kulturpflanzenforschung Gatersleben, Berlin 1982, S. 15.

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Die Anfänge der Biomedizin in Berlin-Buch Die Anfänge der biomedizinischen Forschung in der SBZ/DDR gehen auf das Jahr 1947 zurück. Mit dem Befehl Nr. 161 vom 27. Juni 1947 verfügte die Sowjetische Militäradmistration in Deutschland die Übergabe des aus dem ehemaligen „Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung" in Berlin-Buch hervorgegangenen und bis dahin von der SMAD weitergeführten „biologisch-medizinischen Instituts" an die 1946 gegründete Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin.8 Darin heißt es: „ Zum Zwecke der Demokratisierung der deutschen medizinischen Wissenschaft und der Beseitigung der Überreste einer falschen Rassenlehre und in Berücksichtigung des Antrages der Deutschen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Verwaltung für das Gesundheitswesen befehle ich: 1. Der Deutschen Akademie der Wissenschaften ist das von der SMA in Deutschland in den Jahren 1945-46 augestattete und wiederhergestellte medizinisch-biologische Institut zu übergeben (Berlin-Buch). 2. Dem Präsidenten der Deutschen Akademie der Wissenschaften: a) unverändert das Profil und die Ausrichtung der Arbeit des medizinisch-biologischen Instituts in Berlin-Buch als eines wissenschaftlichen Forschungsinstitutes beizubehalten, dessen Aufgabe ausschließlich in der Bearbeitung von Problemen der theoretischen und klinischen Medizin besteht; (b,c); d) das in Betrieb befindliche Laboratorium für Biochemie und Biophysik weiter beizubehalten und in möglichst kurzer Frist, auf keinen Fall später als Dezember 1947, Versuchslaboratorien für das Studium des Krebsproblems in Gemeinschaftsarbeit mit der Klinik für die Bearbeitung der Diagnostik und Heilung der Krebskranken zu organisieren."9 Diese Anweisung kann als Versuch interpretiert werden, eine politisch-neutrale und selbstverwaltete (autonome) biologische und medizinische Wissenschaft aufzubauen, die aber gleichzeitig aus dem Elfenbeinturm heraustritt und ihre gesellschaftlich-praktische („heteronome") Funktion akzeptiert und internalisiert und damit die Kriterien einer „biomedizinischen" Forschung erfüllt. Beispiele dafür waren in Buch insbesondere Arbeiten über die chemische Kanzerogenese, Arbeiten zur Chemotherapie, insbesondere im Zusammenhang mit Untersuchungen über den Stoffwechsel von Tumoren und Nukleinsäureantimetabolite und ganz besonders Arbeiten zur Virusätiologie von Tumoren. Von internationalem Rang waren Forschungsarbeiten vor allem der fünfziger und sechziger Jahre zur Virusätiologie von Geschwülsten, die zur Entdeckung und Charakterisierung neuer onkogener Viren führten. Mit diesen Arbeiten bewegte sich diese Forschung auf dem Niveau der Molekularbiologie, die zu dieser Zeit nach der Entschlüsselung des molekularen Trägers der genetischen Information, der DNS-Doppelhelix, den Trend in den biologischen Wissenschaften zu bestimmen begann. Gleichfalls auf dem molekularen Niveau angesiedelt waren die Forschungen zum Energiestoffwechsel des Herzmuskels, die 1956 von der „Arbeitstelle Herz-Kreislauf-For-

8 Vgl. den Beitrag von P. Nötzoldt im vorliegenden Band. 9 H. Bielka: Beiträge zur Geschichte der Medizinisch-Biologischen Institute Berlin Buch 1930-1995, Berlin: Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin 1995, S. 33.

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schung" an den biologisch-medizinischen Instituten Berlin-Buch begonnen und international als wesentlich Beiträge zur Biochemie des Herzmuskels rezipiert wurden. Auf dem klassisch-physiologischen Niveau in der biomedizinischen Forschung bewegten sich Arbeiten zur Rolle des Gesamtorganismus bei der Regulation komplexer biologischer Prozesse wie z.B. die Rolle des Zentralnervensystems bei der Steuerung der Herzfunktionen, die allerdings nicht nur in Berlin-Buch, sondern auch an den medizinischen Fakultäten der Universitäten Berlin, Leipzig und Halle durchgeführt wurden. Als bedeutsam kann das 1953 von der Bucher Krebsklinik („Robert-Rössle-Klinik") gegründete „Krebsregister der DDR" gewertet werden, das wesentliche Informationen über Epidemiologie und genetische Komponenten der Krebsentstehung sowie zur Charakterisierung und Prognostik von Geschwulstprozessen erfaßte. Später kamen DDR-flächendeckende Register zur Erfassung von Herz-Kreislauf- und Stoffwechselkrankheiten (Diabetes) hinzu, so daß die Epidemiologie als Disziplin zur Erforschung der gesellschaftlichen Ursachen von Krankheiten eine in der medizinischen Forschung der DDR schon von Anfang an mitbestimmende Rolle spielte.

Die Ideologisierung der Biologie Der Spielraum für eine relativ autonome Forschung änderte sich in der Phase nach dem Wiederaufbau der wichtigsten Einrichtungen: in der Phase des Versuches der Ideologisierung der Naturwissenschaften durch die SED und ihre Parteiphilosophen (ab 1948/49). Zwar wurden die bürgerlichen Wissenschaftler weiterhin hofiert, um sie in der SBZ zu halten, aber gleichzeitig setzte der „Sturm auf die Festung Wissenschaft" ein, um den Aufbau einer marxistisch-leninistischen Wissenschaft in die Wege zu leiten. Am weitesten ging die Intervention der SED im Sinne des konsequenten Aufbaus einer marxistisch-leninistischen Biologie in der Lyssenko-Ära. Anfang der fünfziger Jahre. Im marxistischleninistischen Wissenschaftsveständnis bedeutete das den Aufbau einer Wissenschaft, die parteilich, dialektisch-materialistisch (im Unterschied zum mechanistischen Materialismus der westlichen Naturwissenschaft), nach dem Prinzip der Einheit von Theorie und Praxis operierte und auf die Lösung gesellschaftlicher und ökonomischer Probleme gerichtet („Praktizismus") war.10 Die marxistisch-leninistische Philosophie und Ideologie traten mit dem Anspruch der Vorgabe der Kategorien und Methodologien für die einzelwissenschaftlichen Paradigmen auf. Der Hauptvorwurf Lyssenkos und seiner Anhänger an die bürgerliche Mendel-MorganGenetik war, daß es sich bei der Genetik um eine antimaterialistische und bürgerliche Wissenschaft handelte, da sie mit idealistischen, nicht wandelbaren Begriffen wie dem des Gens operierte. Solche Begriffe jedoch stünden im krassen Widerspruch zu den Prinzipien des Dialektischen Materialismus. Dazu kam der philosophisch wenig reflektierte Vorwurf der Praxisferne. Darüber hinaus vertrat Lyssenko eine konsequent lamarckistische Position: die in der Individualentwicklung entfalteten phänotypischen Eigenschaften könnten an die folgenden Generationen weitergegeben werden. Der Lyssenkoismus ergriff als biologische Staatsdoktrin Schule und Hochschule; die Mendel-Morgan-Genetik als Theorie- und Methodengebäude wurde diskriminiert oder verboten und ihre Vertreter politischem Druck und Verfolgung ausgesetzt - zuerst in der Sowjetunion, dann auch in der CSSR und in der 10

Vgl. L. Graham: Science and Philosophy in the Soviet Union, New York 1972, S. 3-68.

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DDR. Entscheidend für diese politische Intervention in die Biologie war dabei der Umstand, daß ein Konkurrenzkampf der Lehrmeinungen zugunsten einer Meinung und Doktrin mit staatlichen Machtmitteln unterdrückt und ein Denk- und Lehrverbot für alle abweichenden theoretischen Standpunkte ausgesprochen wurde. In dieser dogmatischen Periode in der Biologiegeschichte spielten die beiden AkademieInstitute eine herausragende Rolle im Widerstand gegen die Lyssenkoschen Doktrinen. Mit Hilfe der Unterstützung der SMAD in Halle - einige sowjetische Offiziere kannten Stubbe von seinen Besuchen im Leningrader Vavilow-Institut11 - konnte sich das Institut für Genetik und Kulturpflanzenforschung seine wissenschaftliche Autonomie sichern, die Lyssenkoschen Behauptungen experimentell widerlegen und zum „Mekka" für die MendelMorgan-Genetik in Osteuropa avancieren.

Die Forschungslandschaft nach der Akademiereform Der kurzen Phase einer wissenschaftsgläubigen Reformpolitik Anfang der sechziger Jahre12 folgte der Versuch einer stärkeren Anbindung der Forschung an die Industrie und Wirtschaft; verbunden mit einem stärkeren Durchgreifen in der Kaderpolitik, das durch organisatorische Veränderungen ermöglicht werden sollte. Beispielhaft zeigte sich das an der „Akademiereform" sowie in der „III. Hochschulreform".13 Beiden gemeinsam war ein struktureller Umbruch weg von Fakultäten und Disziplinen hin zu neuen organisatorischen Einheiten wie Sektionen und Zentralinstituten, die durch Reduktion der Entscheidungsträger für klare zentralistische Unterstellungsverhältnisse sorgen sollten. Dieser organisatorische Umbruch wurde flankiert durch ein Revirement des Personals: die 1. Generation qualifizierter und renommierter wissenschaftlicher Leitfiguren wurde durch eine neue Generation loyaler Kader ersetzt.14 Durch diese „Reformen" wurden zudem die letzten Reste von akademischer Selbstverwaltung und Autonomie beseitigt. Nach dem gescheiterten Versuch, die Biologie an ideologisch-politische Vorgaben zu binden, stieg mit der Akademiereform der nunmehr zweite politische Großversuch, in die Eigenregulative der Forschung zu intervenieren. Er fand seinen Ausdruck in der Formel von der auftragsgebundenen Forschung und aufgabenbezogenen Finanzierung im Rahmen der Akademiereform. Der damalige Präsident der Akademie versuchte die Mitarbeiter auf die Reform und die neue Leitidee einzuschwören: „... Die Forschungsbereiche, vor allem die der naturwissenschaftlichen, technischen und medizinischen Bereiche, haben ferner die Aufgabe, die Durchfuhrung der auftragsgebundenen Forschung und aufgabenbezogenen Finanzierung sicherzustellen. Ich möchte hier betonen, daß man das System der auftragsgebundenen Forschung vollständig mißverstehen würde, wenn man daraus etwa eine Unterwerfung unserer Institute unter die Forderungen der auftraggebenden Institutionen ableiten würde ... Es wäre also vollständig falsch, wenn sich die Institute in eine abwartende oder gar defensive Position ergäben; sie sind vielmehr aufgerufen, ja sogar verpflichtet, aktiv auf die Ausarbeitung der wissenschaftlichen Aufgabenstellungen Einfluß zu nehmen 11 12 13 14

Vgl. P. Hanelt: Tradition und Fortschritt einer Forschungseinrichtung, in: Biologisches Zentralblatt, 113, 1994, S. 15-23. Vgl. die Beiträge von E. Förtsch und H. Laitko im vorliegenden Band. Vgl. den Beitrag von P. Nötzoldt im vorliegenden Band. H.-J. Meyer: Hochschulpolitik: in der DDR, in: Deutscher Bundestag, a. a. O., Bd. III, S. 377.

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und ihren Vertragspartnern Angebote zu unterbreiten, die dem von Institutsseite erkannten wissenschaftlichen Höchststand entsprechen."15 Diese „Reformversuche" fielen für die biologische und biomedizinische Forschung in eine Zeit, in der sich international der Siegeszug des molekularbiologischen Forschungsprogramms abzeichnete und die „klassische" biologische Forschung immer stärker in den Hintergrund gedrängt wurde. Die Molekularbiologie erfaßte nach der erfolgreichen Demonstration ihres Paradigmas - der molekularen Genetik von Bakterien und deren „Viren" den Bakteriophagen - nun auch die Erforschung komplexerer biologischer Phänomene wie höhere Zellen und Zellsysteme.16 Ihre ausgefeilten Methoden und Experimente erforderten neue technisch subtile Instrumente, Apparate und Feinchemikalien, die die Forschung im Vergleich zur konventionellen Biologie aufwendig und teuer machten. Gleichzeitig versprachen sich Biologen und Mediziner von diesem Übergang zum molekularbiologischen Methoden- und Theorieniveau - vom Übergang zum „biomedizinischen Modell"17 - neue Einsichten in die molekularen Mechanismen der Krankheitsentstehung sowie neue diagnostische und therapeutische Verfahren wie z.B. Gentherapien. Die biologische und biomedizinische Forschimg in der DDR rezipierte die internationale Entwicklung theoretisch. Eine wichtige Rolle spielten dabei die naturwissenschaftlich-philosophischen Kolloquien in dem Ostseebad Kühlungsborn („Kühlungsborner Kolloquien", vgl. Abschnitt 3.2)18. Große Probleme brachte dagegen die Einführung und Realisierung der neuen Forschungstechnologie und damit der experimentell-praktische Nachvollzug mit sich. In diesem wissenschaftlichen Kontext und im politischen der Akademiereform wurde 1970/71 für die biowissenschaftliche Forschung in der DDR ein Großforschungsvorhaben MOGEVUS (Molekulare Grundlagen der £ntwicklungs-, Vererbungs- und Steuerungsprozesse) etabliert. Es heißt dort in der Einleitung: „Die Durchführung biologischer Forschungsarbeiten zur Aufklärung der Entwicklungs-Vererbungs- und Steuerungsprozesse dient der Erweiterung grundsätzlicher Erkenntnisse mit dem Ziel, den wissenschaftlichen Vorlauf für breite Anwendungsgebiete der Industrie, der Landwirtschaft und Nahrungsgüterwirtschaft sowie des Gesundheitswesens zu schaffen."19 Aufgezählt wurden einige der theoretischen Schlüsselfragen der Molekularbiologie dieser Zeit wie die molekularen Mechanismen der Kern- und Zellteilung an Mikroorganismen, die Regulation der Differenzierungs-und Reifungsprozesse in Pflanzen und Tieren als Grundlage für Erhöhung der Erträge und molekulare Mechanismen des Membrantransports. Trotz der Zeit der Akademiereform und der damit beabsichtigten ökonomischen Auftragsbindung der Forschung gingen jedoch - wie die wiedergegebenen Schlüsselfragen zeigen - die Formulierungen des Programms nicht über eine „Anwendungsrhetorik" hinaus, greifen die molekularbiologischen Schlüsselprobleme bei höheren Zellen auf und de15 H. Klare: Zu Fragen der Akademiereform. Referat des Präsidenten der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin auf der Beratung der Direktoren und leitenden Mitarbeiter der Institute und Einrichtungen Berlin, 31. Juli 1968, Archiv Bielka. 16 Vgl. G. S. Stent: Molecular Genetics - An Introductory Narrative, San Francisco 1971. 17 Vgl. R. Hohlfeld: Das biomedizinische Modell, in: J. Herbig (Hg.): Biotechnik, Reinbeck 1981, S. 114134. 18 Vgl. E. Geissler, H. Ley (Hg.): Philosophische und ethische Probleme der modernen Genetik, Berlin 1972. 19 Arbeitsmaterial zu Vorgaben für Vorhaben der sozialistischen Großforschung, 10.4.1969, Bundesarchiv, Abteilung Potsdam, DQ 1 (Ministerium für Gesundheitswesen), 2519.

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finieren das, was auch im Westen selbstverständliches Etikett von Forschungsanträgen war und ist: die Erarbeitung der theoretischen Grundlagen als Basis für eine anwendungsorientierte Weiterentwicklung der Molekularbiologie. Diese Strategie des „Unterlaufens" der forschungspolitischen Direktiven läßt sich deutlich am Profil des nach der Akademiereform in „Zentralinstitut für Genetik und Kulturpfanzenforschung" (ZIG) umbenannten Institutes in Gatersleben ablesen. Im Kontext der Akademiereform fand hier eine Konzentration und eine Umorientierung auf die somatische Zellgenetik pflanzlicher Gewebekulturen statt. Diese Wahl folgte aus methodischen Überlegungen in Analogie zur Bakteriengenetik mit Escherichia coli als Modellorganismus. „Wenn wir die Prinzipien der Molekulargenetik, wie sie sich bei Bakterien entwickelt hatten ab der fünfziger Jahre auf höhere Organismen anwenden wollten, insbesondere hier in dieser Einrichtung an Pflanzen, dann müssen wir die Vorzüge, die die Mikroorganismen bieten, auch versuchen, bei Pflanzen zu finden. Die Vorzüge sind vor allen Dingen die Einzelligkeit und die schnelle Vermehrung."20 Die Züchtung von Pflanzenzellen in Zellkulturen sind auch die Grundlage für die Entwicklung von Techniken der Übertragung von Fremdgenen (Gentransfer) mit Hilfe gentechnischer Methoden zur Veränderung der Eigenschaften von Kulturpflanzen, die in Gatersleben am Modellobjekt der Gene für Samenspeicherproteine aus der Taufe gehoben wurden. Das konnte wiederum züchtungspolitisch legitimiert werden."21 Auch die Grundlagen für gentechnische Projekte in der Tierproduktion wurden in Gatersleben gelegt. Durch die Einführung neuer Gene sollten Tiere mit völlig neuen Eigenschaften, sogenannte „transgene Nutztiere" wie z.B. Rinder mit erhöhter Milchproduktion, hergestellt werden. Ausgearbeitet wurde das am Modellsystem der Maus. In befrachtete Eizellen wurde dazu mit Hilfe einer sehr feinen Kapillare das biochemische Substrat - die DNS - des Gens für das Wachstumshormon injiziert.22 Die alte Leitidee von der Zusammenstellung eines Mutantensortimentes von Kulturpflanzen als Basis für die Pflanzenzüchtung lebte fort in dem Projekt der Sammlung von über 700 Linien der Gerste, die mit den Methoden der zytologischen Chromosomenanalyse - also „klassisch" und noch nicht molekulargenetisch - charakterisiert wurden. Aufgebaut wurde in dieser „Forschungsnische" ein weltweit einzigartiges genetisches Gerstensortiment. Durch Kontinuität vor allen Dingen zeichnete sich die Arbeit in der pflanzlichen Ressourcenforschung mit den beiden Abteilungen „Genbank" und „Taxonomie und Evolution" (vorher: „Sortiment" und „Systematik") aus. Sie „modernisierte" sich auf ihre Weise: „Eine Taxonomie auf der Höhe unserer Zeit muß mit den Diagnosen Linnes ... und sonstigem toten Archivmaterial genauso operieren wie mit der Ermittlung karyologischer und biochemischer Merkmale ... Wenn wir jetzt molekulare Daten in laufende Forschungsprojekte des Hauses zur Taxonomie und Evolution einbeziehen, so machen diese Analysen alle anderen Untersuchungen auf organismischer oder Organ-Ebene in keiner Weise überflüssig oder gar wertlos. Nur in Zusammenschau mit ihnen ist eine sinnvolle Anwendung der molekulargenetischen Daten denkbar."23 In dieser Sichtweise wird ein Weg der Koexi20 21 22 23

EB GE = Expertenbefragung Genetik (vgl. Anm. 5). K. Müntz, in: Wie beeinflußt Gentechnik unser Leben? Bericht der Neuen Fernseh Urania DDR 1, 12.3.1986 J. Schöneich, in: Wie beeinflußt Gentechnik unser Leben? ebenda. P. Hanelta. a. O., S. 21.

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Stenz von „Fortschritt und Tradition" aufgezeigt, wie er der Molekularbiologie aus dem Blick zu geraten drohte und droht und wie er wohl außerhalb der Gaterslebener Taxonomie nur noch selten zu finden ist. Die Bucher Institute nach der Akademiereform Im Zentralinstitut für Molekularbiologie (ZIM), welches im Zuge der Akademiereform neben dem Zentralinsitut für Krebsforschung und dem Zentralinstitut für Herz-KreislaufForschung gebildet wurde, vollzog sich in Buch - jedenfalls theoretisch - schon früh der Umschwung zur Molekularbiologie: in den Konzepten zur Gentherapie, die schon 1972 als Alternativen zur pränatalen Diagnostik diskutiert wurden und Bestandteil der BiologiePrognose waren.24 Die Abteilung für somatische Zellgenetik des ZIM verfolgte das Projekt „Aufbau eines Systems zum gezielten Gentransfer" welches jedoch aus Gründen der aussichtslosen Konkurrenz mit amerikanischen Gruppen nach mehreren Jahren eingestellt wurde.25 Dennoch wurden hier die Grundlagen für die Einschleusung von Genen in Säugetierzellen gelegt, so daß ab 1980 am ZIM die verschiedenen Techniken zum Gentransfer aufgebaut und weiterentwickelt werden konnten. Diese Entwicklungen und Kompetenzen wurden ergänzt durch die Forschungen der Abteilung für molekulare Humangenetik. Sie beschäftigte sich mit der molekulargenetischen Diagnostik der neuromuskulären Erkrankungen Beckersche und Duchennesche Muskeldystrophie (MDB, MDD). Daneben wurden in dieser Abteilung die Grundlagen für eine molekulargenetische Diagnostik der genetisch bedingten Schleimdrüsenerkrankung Mucoviscidose oder cystische Fibrose erarbeitet.26 In Konkurrenz zur molekularbiologisch orientierten Abteilung des ZIM stand das erste DDR-Institut für Humangenetik, in Greifswald gegründet, welches aus der Abteilung für Medizinische Genetik der Klinik für Hautkrankheiten hervorging. Der Forschungsschwerpunkt des Greifswalder Instituts lag bis 1984 auf dem Gebiet der genetisch bedingten Störungen des Aminosäurestoffwechsels (PKU) sowie der biochemischen Diagnostik von lysosomalen Speicherkrankheiten.27 Das Forschungsprofil des Institutes wurde in den folgenden Jahren um die Möglichkeiten der pränatalen Diagnostik und der Erkennung von Merkmalsträgern („Carrier") der Blutgerinnungsstörungen Hämophilie A und Hämophilie B auf molekularem DNA-Niveau erweitert. Im Institut wurden die molekulargenetischen Methoden der Kartiemng und des Nachweises („Restriktionsfragmentlängenpolymorphismen" RFLPs) erarbeitet, und es standen DNS-Sonden für die Diagnostik zur Verfügung. In der Krebsforschung konnten in Buch die bis etwa 1975/80 international anerkannten Arbeiten insbesondere auf dem Gebiet der onkogenen Viren mit der zunehmenden Einfüh24 25

J. Schöneich. Diskussionsbeitrag, in: E. Geissler, H .Ley (Hg.): a. a. O., S. 196. „....weil es aussichtslos war, mit Paul Berg und starken ausländischen Gruppen unter Bedingungen der 'Störfreimachung' zu konkurrieren, zumal wir uns auch nicht gerade besonderer Unterstützung durch die vorgesetzten Leitungen erfreuen konnten.", E. Geissler. Genetik zwischen Angst und Hoflnung, ethischen, ideologischen und ökonomischen Zwängen, in: E. P. Fischer, E. Geißler (Hg.): Wieviel Genetik braucht der Mensch? Die alten Träume der Genetiker und ihre heutigen Methoden, Konstanz 1994, S.

26

C. Coutelle, A. Speer, H. D. Unger. Humangenetik - humane Genetik, in: spectrum, 18, 1987, H. 3, S. 10-13. Vgl. Medizinische Genetik, 2, 1990, H. 4, S. 32-34.

10.

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rang molekularbiologischer und molekulargenetischer Methoden wegen der starken internationalen Konkurrenz und der NichtVerfügbarkeit der für diese neuen Entwicklungen notwendigen materiellen Erfordernisse und intellektuellen Erfahrungen in der DDR nicht weiter durchgeführt werden. Statt dessen wurden die in Berlin-Buch vorhandenen Kapazitäten in Kooperation mit den anderen kleineren onkologischen Forschungseinrichtungen und Kliniken in der DDR vor allem auf Probleme der Ätiologie und der Mechanismen der Entstehung von Präneoplasien und Karzinomen des menschlichen Mammagewebes und deren Diagnostik orientiert. Für die damit im Zusammenhang stehenden Fragen der Epidemiologie und genetischen Disposition bot das schon erwähnte Krebsregister einmalige Möglichkeiten zur erweiterten Interpretation der klinischen Daten. Auch in der Herz-Kreislauf-Forschung in Buch war auffällig, daß neben den biochemischen, molekularbiologisch-pharmakologischen und regulationsphysiologischen Forschungen auch epidemiologische und sozialmedizinisch-präventive Fragestellungen das Forschungsprofil des Zentralinstituts für Herz-Kreislaufforschung (ZIHK) mitbestimmten. DDR- weite Hypertoniebekämpfungsprogramme wurden am ZIHK konzipiert und koordiniert. So wurde auf der Basis der epidemiologischen Studien ein Konzept für eine DDRweite Hypertonie -und Infarktbekämpfüng ausgearbeitet, das 1973 im DDR-Gesundheitswesen in Zusammenarbeit mit den Bezirks- und Kreiskardiologen und den anderen Herzzentren eingeführt wurde. Im Rahmen der klinischen Hypertonieforschung wurde eine multizentrische Studie zur Messung und Bewertung nicht medikamentöser Therapieforme bei arterieller Hypertonie konzipiert und durchgeführt (HYNON-Studie). Das Institut war seit 1984 als Kollaborationszentrum an der WHO-Studie, dem MONICA-Projekt zur international abgestimmten und vergleichbaren Erfassung der Mortalität und Morbidität von Herz-Kreislauf-Krankheiten, beteiligt.28 Bilanz Zusammenfassend ergab sich 1989 ein Bild der biomedizinischen und genetischen Forschung in der DDR, welches vom Forschungsprofil westlicher Industrienationen nicht systematisch abweicht. Die Forschungsprogramme und -ziele orientierten sich - jedenfalls in ihrer Konzeptionsphase - an der internationalen Wissenschaftsentwicklung und dem Übergang zur Molekularbiologie, hatten jedoch das große Handicap unzureichender instrumenteller und materieller Ausstattung, wobei die Akademieinstitute privilegiert waren. Der Anschluß an die internationale Trendwende zur Molekularbiologie in der genetischen und biomedizinischen Forschung wurde theoretisch mitvollzogen und z.T. - so in der viralen Onkologie und in der Molekularbiologie des Herzstoffwechsels - mit beeinflußt. Doch vor allen Dingen ab Ende der siebziger Jahre machte sich im experimentellen Bereich der materielle Mangel - vor allen Dingen bedingt durch Devisenknappheit - eklatant bemerkbar. Begünstigt durch die zunehmende Isolierung der Forschung durch eine restriktive Kaderpolitik (vgl. Abschnitt 4.2) führte dieser Mangel dazu, daß die molekularbiologische und biomedizinische Forschung in der DDR dem internationalen wissenschaftlichen Konkurrenzkampf nicht mehr gewachsen war. In einigen Fällen wurde aus dem Mangel an Forschungsinfrastruktur eine Tugend gemacht und an den „alten" Paradigmen (Mendel-Morgan-Genetik, Morphologie, Physiolo28

Vgl. Institut für Herz-Kreislauf-Forschung, Evaluierungsunterlagen, Berlin-Buch 1990.

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gie, Zytologie) länger als im Westen festgehalten. Das förderte den theoretischen und methodischen Pluralismus - in der Herz-Kreislauf-Forschung, die holistischen Konzepte in der Regulationsforschung - und führte in einigen Fällen zur Besetzung wissenschaftlicher Nischen (z.B. Gaterslebener Pflanzensortimente). Verbunden war das mit dem Preis des Verzichtes auf Spitzenpositionen an den internationalen Forschungsfronten. DDR-Spezifika, für die die Molekularbiologie eine untergeordneten Rolle spielte und die damit auch nicht ins Hintertreffen gerieten, waren das Hypertonie-, Diabetes- und Krebsregister und die darauf beruhende epidemiologische und sozialmedizinische Forschung. Sie ergänzten die an theoretischen Modellen orientierte Biomedizin und spielten weit weniger die Rolle eines Stiefkindes als dies z.B. in der Bundesrepublik der Fall war.29

Formen der disziplinaren und transdisziplinären wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Diskussion im DDR-Rahmen In diesem Abschnitt sollen vor allen Dingen die Formen wissenschaftlichen Gedankenaustausches und fachlicher Diskussion beschrieben werden, die der Idee selbstverwalteter und selbstgestalteter wissenschaftlicher Diskurse nahe kommen und de facto relativ frei von politischen Direktiven blieben. Relativ frei von politischen Machtwörtern blieb auch ein die wissenschaftlichen Dsiziplinen sprengender und in die Gesellschaft und Kultur hineinreichender „Meinungsstreit" über den wissenschaftlich-technischen Fortschritt in Gentechnologie und Medizin, der unter dem Gesichtspunkt der Gewährung von Freiräumen im politischen System der DDR in diesem Kapitel dargestellt werden soll.

Formen der fachlichen wissenschaftlichen Kommunikation: die wissenschaftlichen Gesellschaften der DDR Nach der Gründung der beiden deutschen Staaten im Jahr 1949 existierten gesamtdeutsche wissenschaftliche Fachgesellschaften als einigende Klammer gesamtdeutscher Communities fort. In diesen Fachgesellschaften wurde versucht, die deutsche Teilung weitgehend zu ignorieren und sich rein auf das fachliche zurückzuziehen, was die SED von Beginn an störte. Nach dem Mauerbau 1961 wurden die Wissenschaftler genötigt, die Kontakte zu ihren westdeutschen Kollegen abzubrechen, aus westdeutschen bzw. gesamtdeutsch geprägten Gesellschaften auszutreten und eigenständige DDR-Fachgesellschaften zu gründen. Der Widerstand gegen diese Trennung war z.T. erheblich und hatte nur bei der Leopoldina langfristig Erfolg.30 Nolens volens ließen sich die meisten Naturwissenschaftler aus Gründen der professionellen Zweckmäßigkeit auf die neuen Strukturen ein und entwickel-

29

30

Vgl. R. Hohlfeld: Two Scientific Establishments which Shape the Pattern of Cancer Research in Germany: Basic Science and Medicine, in: N. Elias, H. Martins, R. Whitley (eds.): Scientific Establishments and Hierarchies. Sociology of the Sciences Yearbook ,Vol. VI, Dordrecht 1982, S. 145-168. Vgl. den Beitrag von K. Macrakis in diesem Band.

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ten z.T. Fachgesellschaften mit einem eigenen Profil und einem eigenen Selbstbewußtsein, welches partiell in den Vereinigungsprozeß eingebracht werden konnte. In ihrem offiziellen Selbstverständnis dienten diese Gesellschaften dem nationalen fachlichen Erfahrungsaustausch, der Behauptung, Durchsetzung und Bewertung wissenschaftlicher Ergebnisse („wissenschaftlicher Meinungsstreit") sowie der fachlichen Weiterbildung. In der offiziellen Definition der DDR-Gesundheitspolitik hieß es zu ihrer Funktion: „Das dringlichste Anliegen der Gesellschaften ist die Förderung des wissenschaftlichen Fortschritts, die Realisierung neuer wissenschaftlicher Erkenntnise, der wissenschaftliche Erfahrungsaustausch im nationalen und internationalen Rahmen, die Förderung der beruflichen Qualifizierung, die Förderung der sozialistischen Gemeinschaftsarbeit und der kollegialen Kontakte."31 Neben der Wahrnehmung der Aufgaben einer fachinternen wissenschaftlichen Kommunikation wurden diesen Gesellschaften explizite politische Funktionen zugewiesen wie die Planung und Durchfuhrung medizinisch-wissenschaftlicher Veranstaltungen, die Beratung des Ministers für Gesundheitswesen sowie die Ausarbeitung von Vorschlägen für die Zusammenstellung von Delegationen für internationale Tagungen und für die Mitarbeit der DDR in internationalen wissenschaftlichen Gesellschaften. Die Aktivitäten der Gesellschaften wurden durch den „Koordinierungsrat der medizinisch-wissenschaftlichen Gesellschaften der DDR" aufeinander abgestimmt. Eine wechselseitige Information und eine Zusamenarbeit mit dem Rat für Medizinische Wissenschaft, der Akademie für Ärztliche Fortbildung sowie den biologischen und medizinischen Forschungsverbänden und Forschungsrichtungen war vorgesehen.32 Was davon wurde politische Realität? Gemeinsame Tagungen verschiedener Fachgesellschaften dienten nach Aussagen beteiligter Wissenschaftler der interdisziplinären Zusammenarbeit und werden im Rückblick von DDR-Wissenschaftlern und Ärzten positiv bewertet, als „wissenschaftliche Heimat" wahrgenommen, wobei über wissenschaftliche Gemeinsamkeiten hinaus die menschlich-kollegialen Beziehungen gefordert wurden. Fast alle Beteiligten unterstrichen in Gesprächen oder publizierten Rückblicken, daß die Fachgesellschaften eine wesentliche Rolle für die fachliche und überfachliche Kommunikation und das Anbahnen von Kooperationen unterhalb der „offiziellen" Ebene gehabt hätten. Auch die fachexterne und -übergreifende Kritik und Kommentierung, die durch die spezifische Mischzusammensetzung der Gremien gewährleistet wurde, hätte die wissenschaftliche Kommunikation gefördert und sei für die eigenen Vorhaben fruchtbar gewesen. Nach diesen Aussagen von Beteiligten, die unisono in dieselbe Richtung gingen, stellten die wissenschaftlichen Gesellschaften in der DDR ein Äquivalent dessen dar, was im Westen als der nationale Teil der wissenschaftliche Öffentlichkeit gilt, durch die Internationalisierung des wissenschaftlichen Lebens jedoch zunehmend an Bedeutung verliert. Doch gerade wegen dieser Abschottung gegenüber dem westlichen Ausland unter DDR-Bedingungen versuchten die Fachgesellschaften, diesen Mangel an wissenschaftlichem Gedankenaustausch wenigstens teilweise zu kompensieren.

31 32

K. Winter. Das Gesundheitswesen in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1980, S. 191-196. Vgl. T. H. Matthes, L. Rohland, H. Spaar. Die medizinisch-wissenschaftlichen Gesellschaften der DDR, Berlin 1981.

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Der transdisziplinäre und (teil)öffentliche Diskurs über den biomedizinischen und gentechnischen Fortschritt Es erscheint zunächst paradox, in einem politischen System mit einem zentralistischen Herrschaftsanspruch von einem gesellschaftlichen Diskurs in Abgrenzug von einer erwarteten gelenkten Öffentlichkeit reden zu wollen. Doch die wissenschaftlichen und technischen Fortschritte der Molekulargenetik und Biomedizin eröffneten Dimensionen der Anwendung, die apriori weder kategorial noch methodologisch von den ML-Gesellschaftswissenschaften und der Philosophie gelöst werden konnten. Aus dem präskriptiven Verhältnis der ML-Philosophie gegenüber der Biologie der fünfziger Jahre und dessen Scheitern entwickelte sich in der DDR zwischen Naturwissenschaften, Philosophie und Gesellschaftwissenschaften ein abtastendes Bemühen um gleichberechtigte, auch kontroverse Diskussionsformen über gesellschaftliche und erkenntnistheoretische Probleme der modernen Biologie. Dazu gehörte eine frühe Thematisierung des möglichen Mißbrauchs molekularbiologischer Forschung in der B-Waffen-Forschung im Rahmen der „Kühlungsborner Kolloquien"33, die seit 1971 in einer allerdings handverlesenen Runde Naturwissenschaftler, Philosophen, Gesellschaftswissenschaftler und Künstler zum „Meinungsstreit" über philosophische und ethische Probleme der Naturwissenschaften in dem Ostseebad Kühlungsborn zusammenführten und zu denen auch Wissenschaftler aus dem nichtsozialistischen Ausland (NSW) eingeladen wurden. Die Kolloquien sprengten damit den Rahmen einer rein wissenschaftsinternen Diskussion. In Kühlungsborn wurde nahezu simultan zur westlichen Debatte ab 1975 - nach der berühmten Konferenz im kalifornischen Asilomar über die potentiellen Risiken der Neukombination von genetischem Material im Reagenzglas - diese Problematik rezipiert und diskutiert. Am Rande der Kolloquien konstituierte sich eine informelle Gruppe, die die Notwendigkeit von Sicherheitsauflagen für gentechnische Forschung in der DDR erörterte. Die Vorschläge dieser Gruppe führten mit allerdings erheblicher Zeitverzögerung zur „Richtlinie zur in-vitro-Rekombination von genetischem Material vom 26. November 1985" des Ministeriums für Gesundheitswesen der DDR34, die von einer Kommission überwacht wurden und sich am internationalen Standard orientierten. Dieser Kontext war auch Nährboden für weitgehende Spekulationen über die Möglichkeiten der neuen Genetik - und für heftigen Widerspruch. Nach dem VII. Kolloquium über das Thema „Genetic engineering und der Mensch" 197935 resümierten zwei Philosophen und der Initiator der Kolloquien, E. Geißler, „daß Experimente mit dem Ziel, ins Erbgut des Menschen einzugreifen, nunmehr methodisch möglich sind ... Damit dürfte klar sein, daß man sich durchaus Experimente vorstellen kann, in denen überprüft wird, ob der Mensch nicht eines Tages in seiner typischen Individualität verbessert werden kann."36 Eugenische und fortschrittsoptimistische Phantasien dieser Art - die zitierte war weder die 33 34 35 36

Vgl. den Rückblick von E. Geißler. Genetik zwischen Angst. Verfügungen und Mitteilungen des Ministerium für Gesundheitswesen, Berlin, 10.2. 1986. E. Geißleretal. (Hg.): Genetic engineering und der Mensch, Berlin 1981. E. Geißler, H. E. Hörz, H. Hörz: Eingriffe in das Erbgut des Menschen, in: Wissenschaft und Frotschritt, 1980, H. 5, S. 188. Mit dieser Position standen die Autoren weder allein noch war sie neu in der DDRGenetik-Debatte; Vgl. R. Hohlfeld, H. B. Nordhoff. Probleme gesellschaftlicher Entwicklung und die Rolle der humanwissenschaftlichen Forschung in der DDR, in: I. Spittmann-Riihle, G. Heibig (Hg.): Die DDR vor den Herausforderungen der achtziger Jahre, Köln 1984, S. 141-157.

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erste noch die einzige37 - wurden Gegenstand einer lang anhaltenden Kontroverse in der Kulturzeitschrift „Sinn und Form". Die Kontroverse fing an mit einem Interview des Autors von „Krabat oder die Verwandlung der Welt", Jurij Brezan: „Hier könnte die Wissenschaft ein anderes, ein unblutiges Ende der Menschheit vorbereiten: das Ende des Menschen, wie wir den Menschen sehen. Ich jedenfalls habe Angst vor den Biologen, und ich furchte, wir alle müssen Angst haben."38 An der Sinn-und Form-Debatte beteiligten sich neben Geißler und Brezan als Hauptkontrahenten weitere Schriftsteller, Biologen, Philosophen und Genetiker mit sehr unterschiedlichen Positionen gegenüber dem gentechnischen Fortschritt. Auch die Politik sprach kein Machtwort, sondern nahm eine eher vermittelnde, Orientierung suchende Position ein: „Es darf natürlich nicht übersehen werden, daß bestimmte Ergebnisse der modernen Wissenschaft und Technik auch in unserer Republik Diskussionen über die gesellschaftlichen Auswirkungen und die Zweckmäßigkeit mancher Technologien hervorrufen. Ich erinnere an die Diskussion, die in „Sinn und Form" über den Nutzen oder Schaden der Gentechnologie zwischen Schriftstellern und Natruwissenschaftlern gefuhrt wurde oder an die Sorgen vieler Bürger über Umweltschäden durch Verschmutzung der Luft oder von Gewässern."39 Die Sinn-und-Form-Debatte wurde aufgenommen in den „Gaterslebener Gesprächen", die ab 1985 auf Initiative einiger Wissenschaftler im Zentralinsitut für Genetik und Kulturpflanzenforschung regelmäßig (alle zwei Jahre) durchgeführt und von einem kleinen Kreis kulturell interessierten Personen getragen wurden.40 Die Initiatoren der Veranstaltung sahen die Bedeutung der Künstler darin, daß sie die Wissenschaftler dazu veranlaßten, „immer wieder über Ziele, die Methoden und vor allem über mögliche Folgen unserer Experimente nachzudenken."41 Sie übernahmen hier wie auch in der vorangegangenen Debatte in einer Art Stellvertreterfunktion die Rolle des „vox populi". Themen waren Folgeprobleme molekularbiologischer und gentechnischer Forschung, potentielle ethische Grenzüberschreitungen der Humangenetik und Fortpflanzungsmedizin sowie Diskrepanzen zwischen wissenschaftlichen und sozialen Fortschritts- und Modernitätsvorstellungen. Themen der molekularbiologischen und biomedizinischen Forschung wurden in den DDR-Medien (Presse, Fernsehen, Rundfunk) sowie in Vortragsveranstaltungen, vor allem der „Urania", sachkundig und weitgehend ohne Tabus behandelt. Dabei bestand Interesse vor allem an Themen, die neue Entwicklungen und Erkenntnisse zum Inhalt hatten, also etwa Grundlagen und Nutzung gentechnischer Verfahren. Ein Beispiel dafür war die Urania-Fernsehsendung „Wie beeinflußt Gentechnik unser Leben?"42, in der weitgehend korrekt und präzise über die in der DDR laufenden Projekte berichtet wurde. Im Anschluß an diese Sendung konnten Zuschauer telefonisch Fragen stellen, die von den wissenschaftlichen Berichterstattern der Sendung erörtert und beantwortet wurden. 37 38 39

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41 42

Vgl. R. Hohlfeld, H.B. Nordhoff. Probleme. Sinn und Form, 36, 1979, S. 1006. K. Hager. Marxismus-Leninismus und Gegenwart, in: Neues Deutschland vom 6.11.1986, S. 4; Vgl. auch E. Geißler, R. Mocek: Gentechnik - Fluch oder Segen, in: Einheit, 1989, H. 5, S. 446-453, mit einer differenzierten Problemübersicht für das SED-Publikum. R. Hohlfeld, H.B. Nordhoff -. „Organismen als Produktivkraft", in: Deutschland-Archiv, 21, 1988, S. 182-196; A. M. Wobus, U. Wobus (Hg.): Genetik zwischen Furcht und Hoffnung, Berlin 1991, hier vor allen Dingen das Vorwort der Herausgeber (S. 7-10). U. Wobus: Gewinn für beide Seiten, in: spectrum 18, 1987, H. 2, S. 25-28. Bericht der Neuen Fernseh Urania.

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Der historische Verlauf der geschilderten Debatte, das Spektrum der Teilnehmer, die wechselnden Foren, die Verbreitung der Argumente in verschiedenen Medien, die Meinungsvielfalt, die offen ausgetragenen Kontroversen und die ausgebliebenen politischen Direktiven und Machtwörter lassen den Schluß zu, daß sich über die Probleme des gentechnischen und biomedizinsichen Fortschritts eine, „wenn auch begrenzte, öffentliche Diskussion entwickeln konnte"43, die nicht in das Bild einer streng gelenkten und verordneten Öffentlichkeit paßt. In dieser Diskussion nahmen - DDR-spezifisch - Schriftsteller und Künstler die Rolle ein, die im Westen Journalisten, kritische Wissenschaftler, Parteien oder außerparlamentarische Initiativen spielen.

Die Interaktion von Wissenschaft und Politik und die Politisierung der Forschung Die Forschungs-und Wissenschaftspolitik der DDR gegenüber Biologie und Medizin kann durch ein grundlegendes Dilemma gekennzeichnet werden: einerseits bestand der Herrschaftsanspruch der SED, alle gesellschaftlichen Sektoren inhaltlich, personell, institutionell und organisatorisch zu durchdringen und zu kontrollieren. Andererseits hatte die Wissenschaft im Selbstverständnis des Sozialismus als „wissenschaftlicher Weltanschauung" und als Motor der „Entfesselung der Produktivkräfte" eine privilegierte Rolle. Die erwartete Leistung konnte von der Forschung aber nur erbracht werden unter den Bedingungen wissenschaftlicher Kreativität und Autonomie als unabdingbare Voraussetzungen für theoretische und methodische Innovationen. Genau aber diese Bedingungen standen in einem diametralen Gegensatz zur Durchsetzung des Herrschaftsanspruches und widersprachen in einem hohen Maße dem extremen Sicherheits- und Kontrollbedürfnis der SED-Führung. Der forschungspolitische Weg der SED war dementsprechend ein Lavieren zwischen Skylla und Charybdis, das sich darin zeigte, daß zumindestens in der naturwissenschaftlichen Forschung in der kognitiven Dimension gewisse Freiräume gewährt wurden, in allen anderen Dimensionen jedoch der Zugriff durch Partei und Staat in der Honecker-Ära eisern war. Steuerung der kognitiven Struktur der Forschung Steuerungsversuche über wissenschaftspolitische Einrichtungen Biomedizinische Forschungsaufgaben wurden in der DDR seit etwa 1970 in sog. Forschungsverbänden zusammengefaßt. Aufgrund eines Beschlusses des Politbüros des ZK der SED vom 16. Januar und des Ministerrats vom 24. Januar 1980 zur „Analyse der medizinischen Forschung und ihrer Entwicklung bis zum Jahr 1990" wurden sog. Hauptforschungsrichtungen (HFR) gebildet, die dem Ministerium für Gesundheitswesen (MfG) und dem Programm „Biowissenschaften" der Akademie der Wissenschaften, das in dieser 43

K. v. Lampe: Die öffentliche Diskussion über die Gentechnik in der DDR, Diplomarbeit, Freie Universität Berlin 1989, S. 82.

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Hinsicht dem Ministerium für Wissenschaft und Technik (MWT) unterstand, zugeordnet waren. Die Aktivitäten in den Hauptforschungsrichtungen beider Einrichtungen wurden durch Programmräte koordiniert, denen Vertreter verschiedener Hauptforschungsrichtungen, der Ministerien, der Universitäten und der Akademie angehörten. Die in Hauptforschungsrichtungen zusammengefaßten Aufgaben der Grundlagenforschung wurden trotz der zahlreichen koordinierenden und weisungsbefugten Gremien im wesentlichen durch die in den Instituten unter der Verantwortung ihrer Leiter bearbeiteten Themen bestimmt, die finanziert wurden (vom Zeitraum 1969-1971 abgesehen: themenund leistungsgebundene Finanzierung über Projektgruppen) über Haushaltmittel der entsprechenden Einrichtungen (z.B. der Institute der Akademie). „Die Forschungsthemen wurden von den Instituten im sog. Planangebot vorgeschlagen, im Forschungsverband bei „Eröffnungsverteidigungen" beraten und koordiniert, mitunter abgelehnt und andere vorgeschlagen und dann in der Regel vom Ministerium für Gesundheitswesen bestätigt."44 Die forschungspolitischen Steuerungsversuche zur Orientierung der biomedizinischen Forschung hatten also - jedenfalls in den hier analysierten Bereichen - einen zur westlichen Forschungsplanung analogen Charakter: Die staatlichen Vorgaben wurden in den meisten Fällen von der forschenden Community in Planungskommissionen, Beraterstäben und Forschungsräten mitdefiniert, so daß von einer durchgehenden direktiven Lenkung der Forschung nicht gesprochen werden kann, sondern eher von einer Interaktion von Wissenschaft und Politik mit Elementen von Selbststeuerung und Autonomie. Das Einschneidende an diesem Mechanismus der Festschreibung bestimmter Ziele und Projekte in den Plänen war die daraus resultierende Situation für Wissenschaftler, die andere Projekte verfolgten oder verfolgen wollten. Es gab keine Kompensationsmöglichkeiten für die Fortsetzung bestimmter, von ihnen als erfolgversprechend und wissenschaftlich relevant eingeschätzter Projekte durch andere Forschungseinrichtungen oder Drittmittel. Die direkte politische Intervention in die Forschung: Aufgaben unter Parteikontrolle Bestimmte Themen, die von der Abteilung Gesundheit beim ZK der SED aus ökonomischen- und Prestigegründen für vordringlich gehalten wurden, konnten „unter Parteikontrolle" gestellt werden. Die politische Anweisung des Abteilungsleiters in Bezug auf die Entwicklung des Tumortestbesteckes „Onkotest" vom 27.10.1976 las sich beispielsweise so: „Es handelt sich hierbei um eine gegenwärtig das internationale Niveau bestimmende medizinisch-wisenschaftliche Leistung, die außerordentliche Bedeutung für die medizinische Betreung und den Gesundheitschutz unserer Bürger erlangen kann und die geeignet ist, das internationale Ansehen der DDR weiter zu stärken ... Ich möchte Dich herzlich darum bitten, dieses streng vertraulich zu behandelnde Vorhaben in jeder Beziehung zu unterstützen ... Darüber hinaus könnten sich hieraus nicht unbedeutende Möglichkeiten des Geräteexports oder der Lizenzvergabe ergeben. Deshalb wende ich mich direkt an Dich ... mit soz. Gruß."45

44 45

Expertenbefragung Onkologie 1995 Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, DY 30/ 34836/ 2, 1976, Brief des Abteilungsleiters Gesundheit beim ZK der SED an den 1. Sekretär der AdW, H. Klemm. Nahezu - bis auf den politischen Auftrag - gleichlautende Briefe wurden an die 1. Sekretäre der SEDBezirksleitungen von Dresden, Leipzig und Rostock geschickt.

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Es wird geschätzt, daß etwa 10% des wissenschaftlichen Potentials des ZIK und des ZIM für die importablösende und devisenerwirtschaftende Forschung und Entwicklung eingesetzt wurden. Die zentral gelenkten Forderungen nach praxisorientierter Forschung bedeuteten in den meisten Fällen, gemessen am internationalen Stand, meist nichts anderes, als „das Fahrrad noch einmal zu erfinden". Hinzu kam, daß wegen Mangel an Devisen in den Instituten im Rahmen eines staatlich organisierten Programms für die Forschungsarbeiten notwendige Forschungshilfsmittel für präparative und analytische Arbeiten einschließlich der Herstellung von Ausgangsmaterialien (Chemikalien, Biomasse, Kleingeräte) unter meist unrationellen Bedingungen hergestellt werden mußten. Damit wurden Wissenschaftler und qualifizierte technische Kräfte unter dem Niveau ihrer fachlichen Ausbildung und Kompetenz mit Routine- und Produktionsaufgaben betraut. Diese Beobachtungen lassen sich vorsichtig so generalisieren: In wissenschaftlichen Instituten mußten bis zu einem gewissen Prozentsatz Arbeiten gemacht werden, die dort nicht hin gehörten, d.h. Forschergruppen unter dem Niveau ihrer wissenschaftlichen Kompetenz zur Bearbeitung von „Brot-und-Butter-Problemen" beschäftigt wurden. Die empirischen Belege lassen jedoch nicht den Schluß zu, daß durch diese Form des „Praktizismus" die an rein wissenschaftlichen Fragen orientierte „Grundlagenforschung" auf der Strecke blieb. Politische Eingriffe von Partei und Staat in die personelle Infrastruktur der biologischen und biomedizinischen Forschung: Kaderpolitik Direkte politische Eingriffe in die institutionelle, organisatorische und personelle Infrastruktur der Forschung - mit indirekten Auswirkungen auf die Qualität der Forschung erfolgten über die Kaderpolitik hinsichtlich der Berufung bzw. Ernennung leitender Mitarbeiter sowie der Selektion von „Reisekadern". Über die Zugehörigkeit zur Nomenklatur entschieden sowohl wissenschaftliche Qualifikation als auch Kriterien „sozialistischer" Führungskompetenz. Die Nomenklaturfunktionen wurden in einem Verfahren, bei dem die Nomenklaturverantwortlichen der Institute und Forschungsstellen dem Leiter der Abt. Arbeit/Kader der Forschungsgemeinschaft Vorschläge unterbreiteten, besetzt. In die Kaderreserve wurden Mitarbeiter aufgenommen, die ein besonderes wissenschaftliches Leistungsprofil aufwiesen, über sozialistische Leitungs- und Erziehungseigenschaften verfügten sowie ideologisch zuverlässig waren. Die Beantragung der Kaderschaft erfolgte in der Regel durch den Institutsleiter (die Fachinstitutionen hatten hierauf keinen Einfluß), der einen Vorschlag in den „Direktorendienstberatungen (DDB)" vorlegte, bei denen immer der Kaderleiter, der Parteisekretär und der „Beauftragte für Sicherheit und Ordnung" (also der Vertreter des MfS) des Institutes/der Einrichtung zugegen waren. Nach einer Vorselektion wurde dann in jedem Falle eine Personenüberprüfung durch alle Instanzen ausgelöst und im zustimmenden Falle der Vorschlag „betätigt". Bei der Einstellung in die AdW, für den Aufstieg zum Abteilungs- oder Bereichsleiter vor allem aber für die Nominierung als Kader war die Mitgliedschaft in der SED ein wichtiger, wenn auch nicht zwingender Aspekt, wie umgekehrt die fachliche Qualifikation eine notwendige, nicht jedoch hinreichende Bedingung zur Erlangung des Kaderstatus war. Bei Vorliegen der gleichen fachlichen Qualifikation wurden SED-Mitglieder bevorzugt. Durch andere „gesellschaftliche Aktivitäten" z.B. Mitgliedschaft in Blockparteien oder Funktio-

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nen in der Gewerkschaft konnte eine Nicht-SED-Mitgliedschaft teilweise kompensiert werden. Eingereichte Kaderanträge für fachlich hervorragende Nicht-Parteimitglieder seien von der Kaderabteilung des ZIM in mehreren Fällen nicht zur Kenntnis genommen worden oder an der MfS-Überprüfung gescheitert. Besonders einschneidend für das wissenschaftliche Leben in der DDR war die Reisekaderpolitik. Reisen in das westliche Ausland (Kongreßteilnahmen, Arbeitsaufenthalte, Mitwirkung in internationalen Gremien) waren etwa ab Ende der siebziger Jahre nur noch für sogenannte Reiskader möglich. „Die Einbindung in die internationale wissenschaftliche Gemeinschaft war für einen DDR-Wissenschaftler nur unter Schwierigkeiten möglich. Die Kontakte zu westlichen Wissenschaftlern waren auf einen kleinen Kreis selektierter Reisekader begrenzt, der immer mehr verkleinert wurde. Diese Wissenschaftler konnten teilweise lange Aufenthaltszeiten in westlichen Laboratorien für sich in Anspruch nehmen und damit moderne Forschung betreiben und international bedeutsame Ergebnisse erzielen. Der Entwicklung der Wissenschaft in der DDR dienten diese Aufenthalte jedoch nicht, da die Arbeitssituation für das Gros der Wissenschaftler dadurch nicht verbessert wurde."46 Als der wissenschaftlichen Arbeit in höchstem Maße abträglich beklagt wurden der fehlende Informationsaustausch mit der internationalen Fachwelt, das fehlende Kräftemessen mit der Konkurrenz, welches erst eigentlich die Beurteilung der Qualität der eigenen Arbeit erlaubt hätte. Die fehlende Kommunikation und der fehlende Informationsaustausch hatten bestimmte Konsequenzen für mangelnde Kompetenzen, die sichtbar wurden, als nach der Wende ab 1990 der Kampf um Fördermittel und Jobs einsetzte. „Das Selbstbewußtsein der Leute war schon viel weniger entwickelt, besonders der jüngeren Wissenschaftler, als das vergleichbarer Kollegen aus den westeuropäischen Ländern oder gar aus den USA, die da ganz anders trainiert sind ... damit waren sie schon immer auf der Verliererstrecke, weil sie sich selber gar nicht richtig darstellen konnten. Dazu kamen die sprachlichen Hindernisse ... Das dritte war, sie gehörten nicht zur Insider-Familie. Da war sehr schwer reinzukommen. " 47 Die Intervention von Partei und Staatsapparat in die internationale wissenschaftliche Kommunikation durch die politisch selektive Reisekaderpolitik - so die nahezu einhellige Meinung - hätte die Mitarbeiter in zwei Klassen gespalten und die von der wissenschaftlichen Kompetenz her mögliche Teilnahme und Teilhabe der DDR am internationalen wissenschaftlichen Leben in der Biomedizin verhindert und der Wissenschaft schwer geschadet. Auf der Basis der Antworten und Quellen schält sich so eine bestimmte ordnungspolitische Grundstruktur der Forschung heraus, die offensichtlich generelle Züge trägt. Neben den koordinierenden und wissenschaftliche Vorhaben bestätigenden eigentlichen Fachgremien ohne Entscheidungsbefugnis lag die Macht bei den lokalen Leitern der jeweiligen Einrichtungen, denen jeweils eine Parteileitung und eine Kaderleitung zur Seite standen, die gegenüber den übergeordneten Organen immer strikt weisungsgebunden handeln mußten. Deren Aktivitäten waren oft - nicht immer - nicht konform zu den forschungspolitischen Plänen und Empfehlungen. Zusätzlich wirkten die konspirativen Kontrollorgane des MfS. So kristallisierte sich eine Doppel-und Dreifachstruktur der Personen- und Kommunikationskontrolle heraus, bei der es in erster Linie nicht um die Forschungsinhalte und 46 47

Expertenbefragung Onkologie 1995. Expertengespräch Genetik 1993.

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ziele, sondern um Kaderpolitik und Personenkontrolle ging, und die die eigentliche kognitive und institutionelle Infrastruktur wissenschaftlicher Tätigkeit überlagerte und konterkarierte. Durch diese zentralistisch-autoritäre und antimoderne Ordnungspolitik und nicht durch die politischen Interventionsversuche in die kognitive Struktur der Wissenschaft - verletzten SED und Staatsapparat die funktionalen Imperative des Wissenschaftssystems.

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Biologen in der DDR zwischen Tradition und Innovation, Wissenschaft und Politik*

Einleitung Eine Biologie im weiteren Sinne mit ihren vielfältigen Bildungsfunktionen und theoretischen wie praktischen Forschungszielen fußte in der DDR auf einem unverwechselbaren, breiten Netz institutioneller Strukturen, wie es im Ergebnis verordneter wie gewachsener, beabsichtigter wie zufalliger Entwicklungen, als Resultante staatlicher Direktiven und persönlicher Initiativen, verändernder Reformen und bewahrender Traditionen, entstanden war. So reizvoll die Beschreibung dieses DDR-typischen Profils der Biologie in Anbetracht des geschichtlich überschaubaren Rahmens auch erscheint, so sind wir noch weit von einer realitätsnahen ursächlichen Analyse der entscheidenden Entstehungs- und Gestaltungsmechanismen entfernt. Es gibt einfach noch zu wenig dokumentarisch begründete Einzelstudien, die erst die Mosaiksteine für ein umfassendes Bild mit allgemeineren Konturen liefern. Vorschnelle, den Zeitgeist bedienende Reflexionen mit ihrer oberflächlichen, mehr ver- als beurteilenden Vermengung von Konzeptionen und Wirklichkeiten folgen eher durchsichtigen politischen Absichten, als daß sie historisch Aufschluß geben. Im Wissen um die komplexe Einbindung der Lebenswissenschaften in ganz verschiedene Ebenen und Strukturen der DDR möchte ich mich räumlich und zeitlich eingrenzen. Biologische Themen wurden nicht nur in den großen Einrichtungen, den bekannten Universitäten, Hochschulen und Akademien, behandelt, sie spielten natürlich auch in vielen kleineren Institutionen, in naturkundlichen Museen, botanischen und zoologischen Gärten, in Fachgesellschaften und Interessengruppen, in staatlichen Ämtern und ungezählten, * Die Studie ist die verkürzte Fassung einer detaillierteren Analyse „Zur Profilierung der Biologie an den Universitäten der DDR bis 1968" (Preprint 72 des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte, Berlin 1997) und entstand im Rahmen eines Projektes, das von der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung, Forschung und Technologie unter dem Förderzeichen LPD 1995/96 unterstützt wurde. Der Verfasser ist den Dozentinnen i.R. Frau Dr. Ingeborg Frommhold, Leipzig, Frau Dr. Ilse Jahn, Berlin, und Frau Dr. Brigitte Steyer, Rostock, den Herren Emeriti Prof. Dr. H. Ambrosius, Leipzig, H. Augsten, Jena, P. Hoffmann, Berlin, L. Kämpfe, Greifswald, und K. Senglaub, Berlin, sowie Herrn Prof. Dr. H. Heinecke, Jena, und Herrn Dr. D. Hoffinann, Berlin, für ihre Quellenhinweise bzw. ergänzenden und kritischen Anmerkungen zum Manuskript sehr verbunden und dankt allen weiteren Brief- und Gesprächspartnern für ihre, im einzelnen in den Fußnoten vermerkten, persönlichen Mitteilungen.

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geförderten oder behinderten Bürgerinitiativen, in der Medizin, Landwirtschaft und Industrie, im Arbeits- und Freizeitbereich eine Rolle. Ich werde mich im folgenden auf die Profilierung der Biologie in den Naturwissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten mit ihren traditionellen, systemübergreifenden disziplingenetischen Bahnen, die am ehesten Kontinuitäten und Brüche widerspiegeln, und auf die Zeit bis zur Dritten Hochschulreform (1968) beschränken. Wissenschaftliches Neuland wird nicht selten gegen den Widerstand konservativer Fachvertreter von randständigen, interdisziplinären oder praxisorientierten Positionen aus betreten, womit für eine Geschichte der Biologie an den Universitäten der DDR auch die Entwicklungen an den Medizinischen, Pharmazeutischen, Veterinärmedizinischen, Landund Forstwirtschaftlichen Fakultäten von Bedeutung wären. So wurzeln z.B. Biochemie und Molekularbiologie auch in ursprünglich klinischen und pathologischen Themen. Allein aus methodischen Gründen möchte ich aber diese Seite ausblenden, um nicht durch die Überlagerung weiterer Ebenen, hier der Grundlagen- und Anwendungsforschimg, das zu analysierende Beziehungsgefüge unentwirrbar zu verdichten. Die Studie verdeutlicht, daß die Konturen der Biologie in der DDR weniger das Ergebnis staatlicher Weichenstellungen und Vorgaben als eher der Ausdruck einer erstaunlich stabilen Interessenlage wissenschaftlicher Schulen waren, deren Protagonisten das Bild der ostdeutschen Biologie mehr prägten als zentrale Planspiele. Damit reichte der Einfluß einzelner Biologen, nicht zuletzt der Generation bürgerlicher Wissenschaftler aus den Anfangsjahren der DDR mit ihren ureigenen Interessen und Visionen, weiter, als gemeinhin angenommen wird. Frühe Versuche, die wissenschaftliche Biologie mit politischen Inhalten zu indoktrinieren, scheiterten kläglich und zogen eine klare Grenze zwischen Methodologie und Ideologie, Wissenschaft und Politik, die allgemein respektiert wurde. Staatliche Eingriffe zeitigten hauptsächlich strukturelle Konsequenzen, während die konzeptionellen und methodischen Schwerpunkte aus einem permanenten Interessenkonflikt und -ausgleich der Biologen selbst resultierten, die sich im Wandel der politischen Verhältnisse und im Wechsel der Generationen immer selbstverständlicher auch staatlicher Instrumente zur Durchsetzung ihrer persönlichen Ziele bedienten. Es gab demzufolge keine Biologie der DDR als vielmehr spezifische Interessen und Behauptungsmechanismen der Biologen in der DDR, die es lokal und temporal zu differenzieren gilt.

Bilanz und Entwicklung der Biologie - eine Dokumentation Die Ausgangssituation 1945 Die Hinterlassenschaft von Naziregime und Weltkrieg waren Millionen und aber Millionen Tote, Versehrte und unübersehbare Trümmerberge. Auch viele biologische Institute waren zerstört. Der Wiederaufbau schien eine Aufgabe für Generationen. Sieht man von den z.T. erheblichen Glas- und Dachschäden ab, so blieben von zehn zoologischen Anstalten in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ) die Institute in Greifswald, Halle, Jena,

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Leipzig und Rostock ohne größere Schäden.1 Besonders stark wurden das Berliner Zoologische Institut und das benachbarte Museum für Naturkunde mit dem Zoologischen Museum zerstört, die einzigartige Lehr- und Schausammlungen unter sich begruben.2 Das Schicksal der kleineren, in der SBZ gelegenen naturkundlichen Museen und zoologischen Stationen soll hier unberücksichtigt bleiben. Weit schwerer noch wog der Verlust so vieler Menschen. In einem ersten, authentischen Lagebericht wurden für die zehn näher betrachteten Hochschuleinrichtungen 92 Zoologen genannt, von denen bis Anfang 1946 13 als verstorben oder gefallen, sechs als kriegsgefangen und 17 als abwesend galten. Von letzteren hatten einige ihrer Entlassung im Zuge der politischen Überprüfungen vorgegriffen, wie sie bereits für weitere 16 angezeigt wurde. Die so entstandenen Lücken wurden durch 15 Vertreter bzw. Gäste, besonders aus den verlorenen Universitäten des Ostens, teilweise geschlossen. Nur etwa jeder Vierte, d.h. 25 Zoologen, war in der SBZ an seinem Institut verblieben oder zurückgekehrt und vorerst wieder „im Dienst", wie überhaupt nur ein Direktor (Harms in Jena) im Amt blieb.3 Gemessen an der baulichen Lage der zoologischen Institute hatten die botanischen Anstalten, vor allem in Berlin, Dresden, Jena und Leipzig, noch schlimmere Kriegsfolgen zu tragen. Bereits im März 1943 war das Berliner Botanische Museum weitgehend ausgebrannt. Unersetzliche Sammlungen ganzer Botanikergenerationen verbrannten. Selbst gerettete und eilig ausgelagerte Bestände, wie etwa in Buckow und Eberswalde, gingen in den Folgemonaten noch verloren.4 Die Berliner Ereignisse bildeten indes nur den Auftakt weiterer, bedrückender Verluste. Im Dezember 1943 wurde das traditionsreiche Leipziger Institut zerstört.5 Zum Schreckensmonat der mitteldeutschen Botanik sollte aber dann der Februar 1945 werden, als die Institute in Dresden und Jena nahezu völlig zerbombt wurden.6 Erheblichen Schaden erlitt auch der Botanische Garten in Rostock, wo zumindest das Institut erhalten blieb.7 Sieht man von einigen verlorengegangenen Außenposten der Greifswalder Biologischen Forschungsanstalt auf Hiddensee ab, so blieben einzig die botanischen Einrichtungen in Greifswald und Halle ohne nennenswerten Schaden. Die personelle Lage der botanischen Institute war nicht minder dramatisch. Für die zehn näher betrachteten mittel- und ostdeutschen Universitätseinrichtungen wurden in einer 1 Vgl. H.-J. Stammer: Nachrichten über Zoologen, Zoologische Institute, Museen und Anstalten, Nr. 1-8, 78 S„ Erlangen 3.9.45, 2.10.45, 10.10.45, 26.10.45, 28.11.45, 1.1.46, 20.2.46 und 10.4.46, Archiv des Instituts für Biologie der Humboldt-Universität zu Berlin (im folgenden: AIB-HUB). 2 Vgl. G. Tembrock: Das Zoologische Institut der Humboldt-Universität von 1945 bis zur Gründung der Sektion Biologie (1968), in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität. Mathematisch-Naturwissenschaftliche Reihe, 34, 1985, S. 281-290; I. Jahn: Der neue Museumsbau und die Entwicklung neuer museologischer Konzeptionen und Aktivitäten seit 1890, in: Ebenda, 38, 1989, S. 287-307. 3 Vgl. H.-J. Stammer. a. a. O., S. 1-78. 4 Vgl. T. Eckardt: 150 Jahre Botanisches Museum Berlin (1815-1965), in: Willdenowia, 4, 1966, S. 151— 182; P. Hiepko: Die Sammlungen des Botanischen Museums Berlin-Dahlem und ihre Geschichte, in: C. Schnarrenberger, H. Scholz (Hg.): Geschichte der Botanik in Berlin, Berlin 1990, S. 297-318. 5 Vgl. G. Weichsel. Der Botanische Garten der Karl-Marx-Universität. Geschichte, Zerstörung 1943-1945 und Wiederaufbau, in: Karl-Marx-Universität Leipzig 1409-1959. Beiträge zur Universitätsgeschichte, Bd. 2, Leipzig 1959, S. 452-461. 6 Vgl. Geschichte der Technischen Universität Dresden 1828-1988, Berlin 1988; G. Klotz: Der Hortus Botanicus Jenensis, in: Beiträge zur Phytotaxonomie, 13, 1988, S. 26-33. 7 Vgl. R. Richter, H. von Guttenberg, E. Libbert: Die Entwicklung der Botanik in Rostock, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock. Mathematisch-Naturwissenschaftliche Reihe, 17, 1968, S. 263-275.

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ersten Nachkriegsbilanz 41 Botaniker ermittelt, von denen drei als verstorben, einer als gefallen, zwei als vermißt, vier als kriegsgefangen und elf als abwesend gemeldet wurden.8 Sieben weitere Mitarbeiter waren inzwischen entlassen oder beurlaubt worden, während 13 wieder ihr Amt angetreten hatten. Immerhin fünf Institutsdirektoren konnten ihre Stellung behaupten (siehe Tabelle 1). Der geschilderte Zustand der zoologischen und botanischen Universitätsinstitute in der SBZ bedeutete eine schwere Hypothek für den Neubeginn. Es wäre im übrigen recht aufschlußreich, die unterschiedlichen Kriegsfolgen und Nachkriegsbedingungen zwischen den einzelnen Besatzungszonen zu vergleichen. Ganz sicher mußten die Universitäten in der SBZ besondere Verluste hinnehmen, zumal selbst nach Kriegsende der materielle und personelle Aderlaß nicht aufhörte. So berichtete Kurt Noack von der „Ausplünderung" des Berliner Pflanzenphysiologischen Instituts, das den Krieg einigermaßen unbeschadet überstanden hatte. 110 große Kisten mit Geräten und Büchern wurden in die Sowjetunion abtransportiert.9 Nach den Verlagerungen der letzten Kriegsjahre wurden dem Berliner Standort mithin weitere wertvolle Ressourcen entzogen. Noack hatte im Zuge der sowjetischen Demontage- und Reparationspolitik aber auch personelle Konsequenzen zu tragen, als sein langjähriger Assistent Wilhelm Menke (geb. 1910), gemeinsam mit anderen deutschen „Spezialisten", noch im Mai 1945 in die Sowjetunion verbracht wurde.10 Nicht weniger unfreiwillig war der Transport mitteldeutscher Wissenschaftler in die westlichen Besatzungszonen, wodurch allein die Naturwissenschaftliche Fakultät der Universität Halle 83 Mitarbeiter verlor, darunter den Lehrstuhlinhaber für Botanik Wilhelm Troll.11 Trolls Fachgenosse Otto Renner berichtete auch aus Jena von der dramatischen „Entführung einer ganzen Menge von Kollegen durch die Amerikaner vor dem Einzug der Russen"12 und einer „argen Plünderung" seiner Fakultät.13 Angesichts der allgemeinen Zerstörungen und lähmenden Sorgen verdient die Aufbauarbeit der Nachkriegsbevölkerung größten Respekt. Ihr Erneuerungswille spricht aus einem Bericht Renners vom Mai 1945: „Doch das soll nun die letzte Tiefe sein, aus der wir uns den Weg nach oben suchen, [...]14 Botaniker sind Gärtner, und Gärtner wissen verstümmeltes Leben aufzupflegen, wenn man sie gewähren läßt."15 Mehr oder weniger schwer gezeichnet, erstanden aus den Ruinen auch wieder biologische Institute, die sich mit ihren Universitäten fortentwickelten und beachtliche Arbeitsergebnisse hervorbrachten. Die schwierige Ausgangslage wirkte indes noch lange fort und konnte auch z.T. über die gesamte DDR-Zeit hinweg nicht überwunden werden.

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Vgl. R. Härder: Personalverhältnisse in der Botanik, Göttingen 14.3.1946, Nachlaß Noack. Der wissenschaftliche Nachlaß Noacks wurde dem Verfasser von Frau Gertrud Noack, Berlin, und Herrn Dr. Peter Knust, Potsdam, zur wissenschaftshistorischen Auswertung überlassen und wird später dem Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zugeführt. K. Noack, Berlin, 10.12.1945, an F. Oehlkers, Freiburg i.Br., Nachlaß Noack. Vgl. M. v. Ardenne: Mein Leben für Fortschritt und Forschung, 7. Aufl., München 1984, S. 181. Vgl. G. Nickel: Wilhelm Troll (1897-1978). Eine Biographie, Halle/S. 1996, S. 131. O. Renner, Jena, 20.11.1945, an K. Noack, Berlin, Nachlaß Noack. O. Renner, Jena 28.8.1945, an K. Noack, Berlin, Nachlaß Noack. Auslassungen des Autors in eckigen Klammern. O. Renner: Lagebericht, Jena 19.5.1945, zitiert in: G. Klotz: a. a. O., S. 29.

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Die Entwicklung der Biologie an den Universitäten der DDR bis 1968 Die ersten Nachkriegsjahre waren durch den beginnenden Wiederaufbau der zerstörten Anstalten und Anlagen, der ob der allgemeinen materiellen Engpässe oft provisorisch bleiben mußte, und deren personelle Erneuerung gekennzeichnet. Im Zuge der gegenläufigen Besatzungspolitik in Ost- und Westdeutschland mit ihren besonderen Folgen für die Stadt Berlin kam es hier zu weiteren empfindlichen Einschnitten. Schon im März 1946 wurde auf Befehl der Amerikaner der in ihrem Sektor gelegene Botanische Garten von der Universität gelöst, um damit ein Zeichen gegen die einseitige sowjetische Kontrolle über die Gesamtuniversität zu setzen.16 Nach Gründung der Freien Universität in Berlin-Dahlem (1948) ging der nachmaligen Humboldt-Universität auch das Pflanzenphysiologische Institut verloren. Die Ostberliner Botanik fristete fortan ein eher nominelles als reelles Dasein, das erst mit der Gründung neuer Institute für Allgemeine und Spezielle Botanik (1960) überwunden werden konnte. Die Universitäten strebten erst einmal nach einer Wiederherstellung ihres angestammten Fächerkanons, was für die Biologen der Naturwissenschaftlichen Fakultäten auf eine Restitution der traditionsreichen botanischen und zoologischen Institute hinauslief. Mit Ausnahme Berlins waren 1945 die beiden klassischen Richtungen der Allgemeinen und Systematischen Botanik noch in einem Institut vereint. Ihre institutionelle Trennung stellte dann eine generelle Tendenz der fünfziger Jahre dar, die in Jena (1949) begann und sich über Halle (1952), Greifswald (1953, mit der Besonderheit einer Abteilung für Pflanzengeographie und Systematik am Institut für Agrobiologie) und Rostock (1957) fortsetzte und sich nach dem Verlust der Dahlemer Einrichtungen auch in Ostberlin (1960) wieder durchsetzte (siehe Tabelle 1). In der Zoologie blieben, ebenfalls mit Ausnahme Berlins, einheitliche Institute bestehen (siehe Tabelle 2). Diese konservative, an ihren klassischen Zweigen orientierte Ausrichtung lag auch den Perspektivplanungen der Folgezeit zugrunde. So wurde 1961 gefordert, daß an allen Universitäten, wie in der Botanik, auch Lehrstühle für Allgemeine und Systematische Zoologie einzurichten wären. Zudem sollten die bestehenden mikrobiologischen Abteilungen der botanischen Anstalten schrittweise in selbständige Institute umgewandelt werden. Auch für die Genetik wurde eine durchgängige Vertretung angestrebt, allerdings erst bis 1980.17 Die Forderung selbständiger Institute für Mikrobiologie und Genetik bei den Naturwissenschaftlern war Ausdruck der inneruniversitären Rivalität zwischen den Fakultäten. Die Betonung praxisrelevanter Forschungsfelder nach der Hochschulreform von 1952 hatte zu einer bevorzugten Förderung der anwendungsorientierten Fakultäten geführt, die dann unter Berufung auf ihre volkswirtschaftliche Bedeutung sogar begannen, eigene Grundlagenabteilungen aufzubauen. So mußte das Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen 1964 feststellen, daß in den Medizinischen, Pharmazeutischen, Veterinärmedizinischen und Landwirtschaftlichen Fakultäten „heute mitunter umfangreichere biologische

16 17

Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin (im folgenden: HUA), Rektorat 310: „Botanischer Garten und Museum, 1945^17". Bundesarchiv, Abteilung Potsdam (im folgenden: BAP), DR 3, Nr. 5877, 1. Schicht: „Protokolle des Wissenschaftlichen Beirats für Biologie des Staatssekretariats für Hoch- und Fachschulwesen, 1954— 61", hier 18.5.1961.

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Tabelle 1 Die Direktoren der botanischen und mikrobiologischen (nichtmedizinischen) Universitätsinstitute in der SBZ/DDR bis 1968a und ihre Hauptarbeitsgebiete Universität Berlin Pflanzenphysiologisches Institut bzw. Institut für Allgemeine Botanik (1960) 1931-56 Kurt Noack (1888-1963), Stoffwechselphysiologie 1956-60b Ursula Nürnberg (geb. 1920), Genetik, Pflanzenzüchtung 1960-74 Konrad Ramshorn (1909-1978), Wachstums- und Stoffwechselphysiologie Bot. Garten 1921-45 1945-50 1960-85

u. Museum0 bzw. Institut für Spezielle Botanik (1960) und Arboretum (1961) Ludwig Diels (1874-1945), Taxonomie, Pflanzengeographie Robert Pilger (1876-1953), Taxonomie, Pflanzengeographie Walter Vent (geb. 1920), Taxonomie, Floristik

TH/TU (1961) Dresden Botanisches Institut und Garten 1924-46 Friedrich Tobler (1879-1957), Lichenologie, Faserpflanzenforschung 1946-48b Max Boetius (1889-1972), Organische und Klinische Chemie 1948-5 l b , 1951-74 Herbert Ulbricht (1909-1989), Faserpflanzenforschung, Pflanzensoziologie Institut für Technische Hygiene und Mikrobiologie 1952-75 Walther Ahrens (1910-1981), Bakteriologie, Serologie Universität Botanisches 1946-47b 1948-49b 1949-73

Greifswald Institut und Garten Kurt Pawlenka (geb. 1906), Pharmazeutische Botanik, Mykologie Käthe Voderberg (1910-1978), Entwicklungsphysiol., Pflanzensoziologie Heinrich Borriss (1909-1985), Keimungs- u. Zellphysiologie, Mikrobiologie

Institut für Pflanzenökologie und Biologische Forschungsanstalt Hiddensee 1947-57 Robert Bauch (189 7-195 7), Cytogenetik, Entwicklungs- und Ökophysiologie der Algen und Pilze Institut für Agrobiologied 1952-55 Heinrich Borriss 1955-62 Werner Rothmaler (1908-1962), Taxonomie, Pflanzengeographie, Geschichte der Kulturpflanzen Institut für Mikrobiologie 1955-63 Wilhelm Schwartz (1896-1987), Geomikrobiologie, Ökologie 1963-90 Friedrich Mach (geb. 1925), Bakteriologie Universität Halle Institut für Botanik bzw. Allgemeine Botanik (1952)e 1945-47b Günther Schmid (1888-1949), Pharmazeut. Botanik, Geschichte der Botanik

Biologen in der DDR 1947-57 1957-63 1964-91

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Johannes Buder (1884-1966), Entwicklungs- und Reizphysiologie Kurt Mothes (1900-1983), Stoffwechselphysiologie, Biochemie Friedrich Jacob (geb. 1926), Entwicklungs- und Reizphysiologie

Botanischer Garten und Institut für Systematische Botanik u. Pflanzengeographie (1952)° 1945-75 Hermann Meusel (geb. 1909), Morphologie, Taxonomie, Pflanzengeographie Pharmakognostisches Institut (1951) 1951-63 Kurt Mothes 1963-70

Otto Beßler (1909-1972), Pharmakognosie, Geschichte der Pharmazie

Universität Jena Botanisches Institut und Garten bzw. Institut für Allgemeine Botanik (1949) 1920-48 Otto Renner (1883-1960), Pflanzenphysiologie, Cytogenetik 1949-65 Hans Wartenberg (1900-1972), Phytopathologie, Mikrobiologie 1965-66b Otto Schwarz 1966-93 Helmut Augsten (geb. 1928), Stoflwechselphysiologie, Biochemie Botanischer Garten und Institut für Spezielle Botanik (1949) 1948-65, 1965-66b Otto Schwarz (1900-1983), Taxonomie, Geobotanik 1966-92 Gerhard Klotz (geb. 1928), Taxonomie, Morphologie Universität Leipzig Botanisches Institut und Garten 1946-5l b Anton Arland (1895-1975), Landwirtschaftliche Botanik 1952—61b, 1961-67, Gertrud Weichsel (1906-1978), Pflanzenzüchtung, Mikrobiologie, 1967-68b Pflanzengeographie Universität Rostock Botanisches Institut 1923-57 Hermann von Guttenberg (1881-1969), Physiol. Anatomie, Morphologie, Entwicklungs- u. Ökophysiologie 1957-59b Franz Pohl 1959-96

Eike Libbert (geb. 1928), Wachstums- und Entwicklungsphysiologie

Botanischer Gartenf 1950-61 Franz Pohl (1896-1988), Blütenökologie, Pflanzengeographie 1961-64b Eike Libbert 1964-66b, 1966-96 Helmut Pankow (1929-1996), Taxonomie, Algologie Institut für Mikrobiologie8 1962-64 Friedrich Mach 1965-71 Erhard Geißler (geb. 1930), Molekulargenetik

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Tabelle 2 Die Direktoren der zoologischen Universitätsinstitute in der SBZ/DDR bis 1968h und ihre Hauptarbeitsgebiete Universität Berlin Zoologisches Institut 1946-48b, 1948-51 Konrad Herter (1891-1980), Sinnesphysiologie, Tierpsychologie 1952-58b Günter Tembrock (geb. 1918), Vergleichende Verhaltensforschung 1959-68 Kurt Erdmann (1907-1980), Zellbiologie, Morphogenetik Zoologisches Museum bzw. Institut f. Spezielle Zoologie (1960) u. Zoologisches Museum 1946^9 Werner Ulrich (1900-1977), Angewandte Zoologie, Bienenkunde 1949-5 l b , 1951-57 Alfred Kaestner (1901-1971), Spezielle Zoologie 1957-59b Erwin Stresemann (1889-1972), Ornithologie 1959-61 Fritz Peus (1904-1978), Entomologie, Ornithologie, Ökologie 1961-62b Rudolph Gottschalk (1901-1971), Zellphysiologie, Evolutionsbiologie 1962-81 Konrad Senglaub (geb. 1926), Spezielle Zoologie, Evolutionsbiologie TH/TU (1961) Dresden Institut für Zoologie 1946-54b Heinrich Prell (1888-1962), Angewandte Zoologie, Entomologie 1954-57, 1957-58b Karl Jordan (1888-1972), Faunistik, Ökologie, Entomologie 1958-60b Herbert Ulbricht 1960-67 Ulrich Sedlag (geb. 1923), Entomologie, Forstschutz Universität Greifswald Zoologisches Institut und Museum 1946-5 l b Heinrich Hertweck (1906-1985), Genetik 1951-52 Rudolf Seifert (1903-1952), Hydrofaunistik, Sinnesphysiologie 1953-73 Rolf Keilbach (geb. 1908), Angewandte Entomologie, Paläozoologie Vogelwarte Hiddensee1 1948-72 Hans Schildmacher (1907-1976), Ornithologie Universität Halle Zoologisches Institut 1945-47b Ulrich Gerhardt (1875-1950), Allgemeine Zoologie der Haustiere 1947b Ludwig Brtiel (1871-1949), Zoologie der Gastropoden 1947-49b Franz Alfred Schilder (1896-1970), Tiergeographie, Biometrie, Entomologie, Malakologie 1949-53 Ludwig Freund (1878-1953), Wirbeltieranatomie, Parasitologic 1953—56b Lothar Kämpfe (geb. 1923), Nematologie 1956-77 Johannes Hüsing (1912-1990), Angewandte Zoologie, Entomologie

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Universität Jena Zoologisches Institut und Phyletisches Museum 1935-49 Jürgen Wilhelm Harms (1885-1956), Entwicklungs- und Histophysiologie 1950—51b Eduard Uhlmann (1888-1974),1 Phylogenetik, Entomologie 1951—53b, 1953-74 Manfred Gersch (1909-1981), Vergleichende Endokrinologie Institut für die Geschichte der Zoologie (Ernst-Haeckel-Haus) 1945-46b Jürgen Wilhelm Harms 1947-59 Georg Schneider (1909-1970), Entwicklungsphysiol., Evolutionsbiologie 1959-79 Georg Uschmann (1913-1986), Geschichte der Biologie, insbesondere der Evolutionstheorie Universität Leipzig Zoologisches Institut 1946-49b Anton Arland 1949-52b Cl. Fritz Werner (1896- ?), Sinnesanatomie, -physiologie und -pathologie 1952—58 Arno Wetzel (1890-1977), Protozoologie, Technische Hydrobiologie 1959-87 Günther Sterba (geb. 1922), Zell- und Neurobiologie Universität Rostock Zoologisches Institut 1945—47b Hans Georg Herbst (1920-1991), Entomologie 1947-60 Josef Spek (1895-1964), Cytologie, Entwicklungsphysiologie 1960-90 Ludwig Spannhof (geb. 1925), Tierphysiologie, Endokrinologie

a

Ich danke Frau Dr. Sybille Gerstengarbe, Halle/S., und den Herren Emeriti Prof. Dr. H. Augsten, Jena, F. Jacob, Halle/S., G. Klotz, Jena, H. Kreisel, Greifswald, G. Müller, Leipzig, und R. Schubert, Halle/S., sowie Herrn Dr. F. Ebel, Halle/S., Prof. Dr. M. Luckner, Halle/S., und Dr. H. Schaffner, Leipzig, für ihre persönlichen Mitteilungen und Quellenhinweise zu dieser Tabelle. Die Geschichte der einzelnen Institute ist in verschiedenen Zeit- und Jubiläumsschriften der Universitäten dargestellt, u. a. in den Wissenschaftlichen Zeitschriften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Reihe, der Universitäten: Berlin, 34, 1985, H. 3/4 und 38, 1989, H. 4; Greifswald, 37, 1988, H. 2/3; Halle-Wittenberg, 10, 1961, H. 5 und 38, 1989, H. 5; Jena, 37, 1988, H. 1 und 41, 1992, H. 1; Leipzig, 23, 1974, H. 4; Rostock, 17, 1968, H. 4/5. - Siehe auch diverse Beiträge in: Geschichte der Technischen Universität Dresden 1828-1988, 2. Aufl., Berlin 1988; Festschrift zur 500-Jahrfeier der Universität Greifswald, Bd. 2, Greifswald 1956; Universität Greifswald 525 Jahre, Berlin 1982; 300 Jahre Universität Halle 1694-1994. Schätze aus den Sammlungen und Kabinetten, Karlsruhe 1994; Karl-Marx-Universität Leipzig, 14091959. Beiträge zur Universitätsgeschichte, Bd. 2, Leipzig 1959; Geschichte der Universität Rostock 14191969. Festschrift zur 550-Jahr-Feier, Bd. 2, Berlin 1969; 575 Jahre Universität Rostock. Mögen viele Lehrmeinungen um die eine Wahrheit ringen, Rostock 1994. b Kommissarisch, stellvertretend oder geschäftsführend; der Direktoratsbeginn muß nicht mit dem Berufungsjahr übereinstimmen, die Jahreszahlen nach den Sektionsgründungen von 1968 zeigen die Emeritierung an. c Mit Gründung der Freien Universität (1948) gehen der Ostberliner Universität die botanischen Einrichtungen in Dahlem verloren. Vgl. T. Eckardt: a. a. O. d Nach Auflösung der Landwirtschaftlichen Fakultät (1950) errichtet und 1952 eröffnet.

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e Das Botanische Institut und der Botanische Garten wurden mit der Berufung Buders als Botanische Anstalten gefuhrt, 1951 nach Hinzutreten des neugegründeten Pharmakognostischen Instituts schließlich als Abteilungen für Allgemeine Botanik bzw. Systematik und Pflanzengeographie ausgewiesen und im Folgejahr zu selbständigen Instituten gleichen Namens erhoben. Die drei Institute blieben als Botanische Anstalten, denen Buder (1947-57), Mothes (1957-66) und Meusel (1966-69) vorstanden, vereint, f Institut und Garten blieben unter dem Direktorat v. Guttenbergs auch nach der Errichtung eines Lehrstuhls für Systematische Botanik für Pohl (1950) vereint, wurden dann aber mit Emeritierung des Direktors (1957) getrennt. g 1960 übernahm die Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät das Institut für medizinische Mikrobiologie, das schließlich zu einem Institut für Mikrobengenetik entwickelt wurde, h Ich danke Frau Prof. Dr. Holle Greil, Potsdam, und Frau Ilselotte Groth, Greifswald, sowie den Herren Prof. em. Dr. G. Tembrock, Berlin, und Dr. D. Heidecke, Halle/S., für ihre persönlichen Mitteilungen und Quellenhinweise zu dieser Tabelle, i Die Vogelwarte wurde als eine Abteilung der Biologischen Forschungsanstalt Hiddensee der Universität Greifswald geführt. Nach dem Tode Bauchs (1957) übernahm Schildmacher auch die Gesamtleitung der Anstalt. j Uhlmann wurde 1952 (bis 1954) Direktor des zeitweilig vom Institut abgetrennten Phyletischen Museums.

Forschungskapazitäten bestehen als an den entsprechenden Instituten der Math.-Nat. Fakultäten."18 Die ersten Nebenfachangebote für Biologiestudenten von 195219 mit der durchgängig an allen Universitäten ausgewiesenen Phytopathologie und der nur vereinzelt offerierten Biochemie zeugen von der starken Position der angewandten Biologie. Mitte der fünfziger Jahre begann der Wissenschaftliche Beirat für Biologie beim Staatssekretariat, sich über Spezialisierungsmöglichkeiten in der Biologenausbildung zu verständigen.20 Die Vorschläge zielten auf eine Begrenzung des Nebenfachangebots der einzelnen Universitäten, blieben aber mit ihrer Bevorzugung angewandter Disziplinen sehr konservativ. Die einzelnen Fachrichtungen wurden von den Universitäten mit unterschiedlichem Erfolg beansprucht. So hoben sich bis 1957 Greifswald und Jena deutlich von den anderen Hochschulen ab. Beide Universitäten besetzten allein 46 % aller Professoren-, 56 % aller Dozenten- und 50 % aller Assistentenstellen für Biologen im gesamten Hochschulwesen.21 Diese Verwerfung dürfte wohl kaum zentralen Vorgaben entsprungen sein, als daß sie Ausdruck von Kapazitätsunterschieden, wie sie eher zufällig aus dem Kriegsausgang resultierten, und bestimmter personalpolitischer Verhältnisse war, die im nächsten Kapitel erhellt werden. Eher konstatierend als agierend wurden in der Perspektivplanung des Jahres 1957 dann auch Greifswald und Jena zu Ausbildungsschwerpunkten für Diplombiologen erklärt.22 Entgegen dieser Absichtserklärung vermochten in den Folgejahren jedoch alle Universitäten ihre biologischen Standorte zu festigen und auszubauen.23 Während Greifswald seine 18 19 20 21 22 23

AIB-HUB, Akte: „3. Hochschulreform und Gründung der Sektion, 1968-69", „Perspektivplan zur Entwicklung der Fachrichtung Biologie, Vertrauliche Dienstsache 79/64", S. 7. HUA, Math.-Nat. Fak., Dekanat 34: Fachrichtung Biologie, 1946-68. BAP, DR 3, Nr. 5877, 1. Schicht: Protokoll vom 13.6.1956. Ebenda, DR 3, Nr. 4623, 1. Schicht: Überblick über die Arbeit des Fachreferenten für Biologie und Geographie, 18.3.1957. Ebenda, DR 3, Nr. 4624, 1. Schicht: „Studienangelegenheiten Biologie, 1955-59", Claus an Mamat, 11.9.1957. Ebenda, DR 3, Nr. 203, 1. Schicht: Perspektivische Konzeption zur Entwicklung der Fachrichtung Biologie bis 1980, 30.3.1965.

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bevorzugte Stellung halten konnte, wurde mit der seit langem drängenden Überwindung von Interimslösungen vor allem die Biologie an der Humboldt-Universität gestärkt (siehe Tabellen 1 und 2). Die Parallelentwicklungen an den Universitäten stießen aber offensichtlich an ökonomische Grenzen. Das Staatssekretariat plante daher schon 1964 eine Strukturreform der Hochschulbiologie, um den immer neuen Forderungen der einzelnen Institute effektiver und planvoller entgegentreten zu können. Ziel war, die Biologen aus den naturwissenschaftlichen und anwendungsorientierten Fakultäten zusammenzufahren, um durch eine Bündelung der Grundlagenfächer ihre historisch gewachsene Zersplitterung zu überwinden. Des weiteren sollten die vorhandenen Forschungskapazitäten auf ausgewählte Teilgebiete konzentriert werden, um bei den ohnehin begrenzten Kräften Überschneidungen zu vermeiden. Zudem erforderte der stete technische Fortschritt die Errichtung methodischer Zentren zur gemeinsamen Nutzung teurer Instrumente und aufwendiger Verfahren. Es war beabsichtigt, die Universitäten in ein Netzwerk koordinierter Ausbildungsabschnitte und Forschungsprofile einzupassen.24 So wünschenswert es für das Staatssekretariat gewesen sein mochte, eine abgestimmte und verbindliche Entscheidungsgrundlage für die planmäßige Entwicklung der Biologie zu schaffen, so bewirkte die Diskussion der Pläne doch eher das Gegenteil. Der „Perspektivplan zur Entwicklung der Fachrichtung Biologie",25 wie er im März 1965 beraten wurde (siehe Tabelle 3) und eigentlich Klarheit und Ruhe stiften sollte, schlug um in eine hektische, öffentliche und verdeckte Konkurrenz um Mittel und Stellen, die letztlich auf eine Festschreibung des Status quo hinauslief. Die schleichende Korrektur der staatlichen Pläne durch die Fachvertreter führte zu stets neuen Runden im Streit um eine differenzierte Profilgebung der Universitätsbiologie mit immer drastischeren Einschränkungen. 1967 wurde letzten Endes entschieden, die Fachstudiengänge der Biologen auf ein Minimum von vier zu begrenzen und mit Ausnahme der Mikrobiologie an jeweils nur eine Universität zu binden (siehe Tabelle 3). Die Biochemie sollte gänzlich aus dem biologischen Fachrichtungsspektrum herausgelöst werden und in unabhängigen, interdisziplinären Studiengängen in Berlin, Halle, Jena und Leipzig in größere Nähe zur Chemie und Medizin gebracht werden.26 Die wechselnde disziplinare Gewichtung und universitäre Zuordnung war Ausdruck eines dynamischen Interessenausgleichs sehr verschiedener Akteure und Instanzen, deren Motive und Methoden in den folgenden Kapiteln exemplarisch beleuchtet werden. Bei aller Intensität der mehljährigen Diskussionen blieben die Pläne zur Profilierung der Biologie an den Universitäten der DDR in wesentlichen Teilen Fiktion. Als sich 1968/69 im Zuge der Dritten Hochschulreform die einzelnen Biologie-Sektionen formierten, hatten sich, bis auf Dresden, die historisch gewachsenen Arbeitsrichtungen und -gruppen, wenngleich in veränderten Strukturen, gegenüber den radikalreformerischen Absichten durchgesetzt und z.T. sogar erheblich gefestigt. Die eigentlichen Verlierer dieser institutionellen Neuordnung waren die anwendungsorientierten Fakultäten. Als die Erneuerung der Universitätsbiologie 1964 in Angriff genommen wurde, war es das erklärte Ziel, die 24 25 26

Ebenda, DR 3, Nr. 3560, 1. Schicht: „Profilierung Botanik und Zoologie, 1961-65". Ebenda. Ebenda, DR 3, Nr. 3119, 1. Schicht: Sektion Geophysik, Psychologie und Biologie des Wissenschaftlichen Beirates für Mathematik und Naturwissenschaften beim Staatssekretariat/Ministerium für das Hoch- und Fachschulwesen, 1965-68, Beratung über die Aufnahme eines Biochemiestudiums, 7.6.1967, Halle/S.

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