Naturrecht als utilitaristische Pflichtenethik? [1 ed.] 9783428495573, 9783428095575

Wie utilitaristisch ist das klassische Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts? Diese Frage soll Angelika Dreschers Anal

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German Pages 162 Year 1999

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Naturrecht als utilitaristische Pflichtenethik? [1 ed.]
 9783428495573, 9783428095575

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ANGELIKA DRESCHER

Naturrecht als utilitaristische Pflichtenethik?

Schriften zur Rechtsgeschichte Heft 76

Naturrecht als utilitaristische Pflichtenethik? Von Angelika Drescher

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Drescher, Angelika:

Naturrecht als utilitaristische Pflichtenethik? I von Angelika Drescher. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Schriften zur Rechtsgeschichte; H. 76) Zug!.: Erlangen, Nümberg, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-428-09557-X

D29 Alle Rechte vorbehalten

© 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7379 ISBN 3-428-09557-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Inhaltsverzeichnis I. "Utilitarismus" vor dem klassischen Utilitarismus . . .

7

11. Deontologische und konsequentialistische Ethiksysteme

13

III. Samuel von Pufendorf: Die Socialitas .

20

I. Relevanz der Handlungsfolgen .

20

2. Kriterien der Folgenbewertung .

34

3. Konsequentialismus im Rahmen der Gesetzesbegründung .

37

IV. Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Liebe des Weisen

39

1. Relevanz der Handlungsfolgen .

40

2. Kriterien der Folgenbewertung .

51

3. Theologischer Regelutilitarismus

60

V. Johann Balthasar Wemher: Von der Socialitas zur Verallgemeinerung

62

1. Relevanz der Handlungsfolgen .

62

2. Kriterien der Folgenbewertung .

74

3. Verallgemeinerung . . . . . . .

79

VI. Christian Thomasius: Glück und Goldene Regel

81

1. Relevanz der Handlungsfolgen .

85

2. Kriterien der Folgenbewertung .

98

3. Konsequentialistische Ausgangsposition und die Goldene Regel als Handlungsmaßstab . VII. Johann Gottlieb Heineccius: Glück und Liebe

101 103

1. Relevanz der Handlungsfolgen .

103

2. Kriterien der Folgenbewertung .

110

3. Gesetze als ausschließlicher Beurteilungsmaßstab und konsequentialistische Gesetzesbegründung

118

VIII. Christi an Wolff: Die Vollkommenheit .

120

I. Relevanz der Handlungsfolgen .

120

2. Kriterien der Folgenbewertung .

132

6

Inhaltsverzeichnis 3. Aufhebung des Unterschieds zwischen deontologischen und konsequentialistischen Systemen; Regelhaftigkeit als Folgenbewertungskriterium . . . IX. Konsequentialistische Ptlichtenethik

140 142

Literaturverzeichnis

155

Quellen . . .

155

Sekundärliteratur

157

Sachverzeichnis . . . .

160

I. "Utilitarismus" vor dem klassischen Utilitarismus Bentham und Mill gelten als Begründer des klassischen Utilitarismus. Nach ihrem ethischen Konzept ist diejenige Handlung geboten, die die größte Summe Glücks hervorbringt. Diese Argumentation ist jedoch für den angelsächsischen Raum nicht revolutionär neu, sondern greift auf eine lange Tradition zurück. Das zentrale Charakeristikum der praktischen Philosophie Benthams und Mills, die Bewertung jeder Handlung nach ihren spezifischen Folgen, findet man dort schon in der Naturrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts. So betont bereits Richard Cumberland 1672 in seiner gegen Hobbes gerichteten Schrift De legibus naturae disquisitio philosophica 1 die Bedeutung dieser Folgen für die Bewertung einer Handlung als gut oder schlecht und bezeichnet das öffentliche Wohl, bonum commune, als das Gut, auf das alle Handlungen ausgerichtet werden müßten. In seiner History 0/ English Utilitarianism nennt E. Albee Cumberland deswegen den "true founder" der utilitaristischen Denktradition. 2 Ihre Entwicklung verfolgt Albee dann über Shaftesbury, F. Hutcheson, G. Berkeley, J. Gay, 1. Brown, D. Hume, D. Hartly, A. Tucker und W. Paley hin zu J. Bentham und J. S. Mill. Aber nicht nur bei inhaltlichen Fragen konnte auf die Überlegungen einer Reihe von Vorgängern zurückgegriffen werden, auch bei der Benennung ließ sich eine bereits vorhandene und geläufige Begrifflichkeit aufnehmen. Mill berichtet in seiner Autobiographie, wie es zu der Bezeichnung kam. Er habe im Winter 1822/23 nach einem Namen für eine Gesellschaft gesucht, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, das Prinzip der Nützlichkeit zur Grundlage der Ethik und auch der Politik zu machen. Dabei sei er auf die Bezeichnung "utilitarian" in J. Galts Roman Annals 0/ the parish gestoßen. 3 Dort beschreibt ein als Chronist auftretender Pfarrer, wie er sich im Jahr 1794 einer neu aufkommenden, utilitaristischen Strömung in seiner Gemeinde entgegen gestellt habe: "I told my people that I thougt, they had more sense than to secede from Christianity to become Utilitarians; for that it would be a confession of ignorance of the faith they deserted, seeing that

1 Der vollständige Titel lautet: "Oe legibus naturae disquisitio philosophica, in qua earum forma, summa, capita, ordo, promulgatio et obligatio e rerum natura investigantur quin etiam elementa philosophiae Hobbianae cum moralis turn civilis considerantur et refutantur", London 1672. 2

E. Albee, A history of English Utilitarianism, London 1902, Nachdruck Bristol 1990, S. I.

3 Autobiography, London 1940, S. 67. Zur Geschichte dieser "Utilitarian Society" siehe L. Stephen, The English Utilitarians, Nachdruck der Ausgabe London 1900, New York 1950.

8

I. Anfange

it was the main duty inculcated by our religion to do all in morals and manners to which the new-fangled doctrine of utility pretended. ,,4 Auf den ersten Blick scheint es sich bei dieser Entwicklung um einen britischen Sonderweg zu handeln, denn die klassiche Naturrechtslehre der Neuzeit beruht auf Annahmen, die utilitaristischen Vorstellungen völlig zuwiderlaufen. Für die klassische Naturrechtslehre ergeben sich Gebote und Verbote aus einem System von Gesetzen. Diese für alle Menschen gültigen und unabänderlichen leges naturales werden als Handlungsrnaßstab betrachtet. Die konkreten Folgen einer Handlung, auf die es dem Utilitarismus allein ankommt, sind hier ohne Bedeutung. Vordergründig betrachtet könnte man die zentrale Stellung der Gesetze in der Naturrechtslehre bereits aus der Bezeichnung der Disziplin ableiten. Sie erhielt ihren Namen von den leges naturales. Bei einer genaueren Betrachtung stößt man dann aber in vielen Naturrechtssystemen auf Argumentationsweisen, die durchaus in einem utilitaristischen System Raum finden könnten. Das Greatest Happiness Principle und damit der Kern der utilitaristischen Ethik dürfte sogar zuerst von Leibniz 1700 in einer Rezension formuliert worden sein. 5 Christian Thomasius stützt sein Naturrechtssystem in den Fundamenta Juris Naturae et Gentium von 1704 auf den Grundsatz, geboten seien alle Handlungen, die das Glück fördern und den Tod hinauszögern. 6 Gottfried Heineccius geht von der utilitaristischen Annahme aus, die Gesetze des Naturrechts müßten im Hinblick auf ihr Ziel bestimmt werden, das Glück der Menschen zu fördern. Andererseits lehnt er gleichzeitig die Thesen von Leibniz und Thomasius ab, gerade weil sie den Nutzen der Menschheit zum Prinzip des Naturrechts erklärten, "utilitatem humani generis pro iuris naturae principio habuerunt".7 Dabei handelt es sich auch keineswegs um die Kritik eines einzelnen. In ihr spiegelt sich vielmehr die Auseinandersetzung wieder, die in der Naturrechtslehre stets um die als Provokation empfundenen Behauptungen eines 4 Annals of the Parish, The Works of John Galt, hrsg. von D. S. Meldrum und W Roughead, Nachdruck der Ausgabe Edinburgh 1936, New York 1968, Vol. I, S. 208. 5 Observationes de Principio Juris, § 12, zitiert nach L. Dutens, Gothofredi Guillelmi Leibnitii Opera ornnia, Nunc primum collecta, in Classes distributa, praefationibus & indicibus exomata, Nachdruck der Ausgabe Genevae 1768, Hildesheim, Zürich, New York, 1989 (im folgenden: Dutens, zitiert nach Band, Teil, Seite), IV, iii, S. 273. Die Wirkungsgeschichte dieses Aufsatzes bis hin zum klassischen Utilitarismus beleuchtet J. Hruschka, The Greatest Happiness Principle and other Early German Anticipations of Utilitarian Theory, Utilitas Vol. 3 (1991), S. 165 Cf.

6 Fundamenta Juris Naturae et Gentium ex Sensu Communi Dedueta, in quibus ubique seeemuntur Prineipia Honesti, Justi ae Deeori, eum adjuneta Emendatione ad ista Fundamenta Institutionum Jurisprudentiae Divinae, zitiert nach der 4. Aufl., Halle und Leipzig 1718, Nachdruck Aalen 1963, lib. I, cap. VI, § XXI, S. 172. 7 Elementa Juris Naturae et Gentium, Commoda Auditoribus Methodo Adomata, Halle 1738, lib. I, cap. III, § 76, nota, S. 58.

I. Anfange

9

Karneades 8 oder Horaz 9 geführt wird. Zwar wird dabei ihrer Behauptung, der Nutzen, die utilitas, sei die Grundlage der Gerechtigkeit, entschieden widersprochen. Trotz der ablehnenden Haltung in der Sache wird durch die Diskussion aber doch die spätere utilitaristische Begrifflichkeit vorweggenommen. Vor diesem Hintergrund erweist sich der Eindruck als unzutreffend, die Entwicklung des Utilitarismus müsse als britische Besonderheit betrachtet werden, die sich aus einer besonderen Tendenz der Naturrechtslehre in diesem Raum ergab. Die Naturrechtslehre war ganz generell durch utilitaristische Annahmen gekennzeichnet. Zu klären bleibt aber, welche Rolle die utilitaristischen Argumentationsstrukturen neben und im Rahmen des deontologischen Konzepts spielen, das für das Naturrecht typisch ist. Es fragt sich, wieweit das Naturrecht durch sie geprägt wird und ob sich Faktoren ausmachen lassen, die das Entstehen eines reinen Utilitarismus verhindert und den Deontologismus Kants begünstigt haben. Dazu besteht umso mehr Anlaß, wenn man bedenkt, daß auch dem utilitaristischen System etwa Cumberlands der Bezug auf Gesetze nicht fremd ist und sich in seiner Naturrechtslehre ein ,jural aspect"l0 feststellen läßt. Die Ausgangslage, die Bentham vorfand, war damit möglicherweise nicht zu sehr von der verschieden, die sich Kant bot. Um diese Fragen beantworten zu können, muß zunächst geklärt werden, worin die Unterschiede zwischen Deontologismus und Konsequentialismus liegen. Dazu sollen im folgenden zunächst beide Argumentationsweisen einander gegenüber gestellt werden. Mit Hilfe der Unterscheidungskriterien, die aus dieser Gegenüberstellung gewonnen werden, sollen dann exemplarisch ausgewählte Systeme der neueren Naturrechtslehre auf ihre Bezüge zum Utilitarismus untersucht werden. Die hier betrachteten Werke stammen aus dem Zeitraum zwischen der Mitte des 17. und der Mitte des 18. Jahrhunderts. Als Ausgangspunkt der Untersuchung bietet sich die Naturrechtslehre Samuel von Pufendorfs (1632 - 1694) an. Wie kein anderer neben Hugo Grotius hat er die Disziplin geprägt. Pufendorfs umfangreiches Lehrbuch De lure Naturae et Gentium Libri Octo, das 1672 in Lund erscheint, leitet die Epoche eines systematischen Naturrechts ein. Das daraus entstandene, 1673 veröffentlichte Kompendi8 Bei Lactanz, Divinae Institutiones, lib. V, cap. 16, wird ihm die Behauptung zugeschrieben: ,Jura sibi homines pro utilitate sanxisse ..... 9 Quintus Horatius Flaccus, Sämtliche Werke, hrsg. von H. Färber, 10. Auf). München, Zürich 1985, Sermones,lib. I, sat. 3, S. 280: " ... atque ipsa utilitas, iusti prope mater et aequi."

10 So Albee, S. 28. Der klassische Utilitarismus selbst ist von einem Bezug auf Gesetze und damit von einem deontologischen Element nicht völlig frei. Mills Utilitarismus läßt sich durchaus in dem Sinn interpretieren, daß konkrete Handlungen nicht direkt am Greatest Happiness Principle zu messen sind, sondern an Regeln oder Gesetzen, die aus diesem Prinzip hergeleitet werden. Siehe dazu J. O. Urmson, The interpretation ofthe moral philosophy of J. S. Mill, The Philosophical Quater, vol. 3 (1953), S. 1953.

10

I. Anfänge

um De Officio Hominis et Civis Juxta Legem Naturalem Libri Duo beeinflußt die nachfolgende Diskussion über mehr als hundert Jahre hin ganz entscheidend. 11 Im Gegensatz zu dem geschlossenen System, das Pufendorf entwickelt, bleiben die Naturrechtsvorstellungen seines Kritikers Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) fragmentarisch. Er veröffentlicht nur einige wenige Schriften selbst zu diesem Thema. So befaßt er sich in der Nova Methodus Discendae Docendaeque Jurisprudentiae von 1667 auch kurz mit seinen eigenen Vorstellungen vom Naturrecht. Differenzierter werden die Ausführungen dazu in der Dissertatio I. De Actorum Publicorum Usu, Atque De Principiis Juris Naturae Et Gentium Primae Codicis Gentium Diplomati Parti Praefixa von 1693. 1700 erscheinen die Observationes de Principio Juris als Auseinandersetzung mit den Thesen Samuel und Heinrich Coccejis und 1704 die Monita Quaedam ad Samuelis Pufendorfii Principia. Die Thesen dieser wenigen Schriften wurden immer wieder aufgegriffen und diskutiert. Obwohl manches in den veröffentlichten Schriften nur angedeutet ist und manchmal widersprüchlich anmutet, kann man doch ein einigermaßen stimmiges Gesamtbild gewinnen, wenn man Äußerungen in Briefen und eine Vielzahl posthum veröffentlichter Entwürfe, wie etwa die für die Elementa Juris Naturalis aus der Zeit zwischen 1669 und 1671, zur Ergänzung und Erläuterung heranzieht. Aus der Folgezeit soll zunächst die Naturrechtslehre des heute relativ unbekannten Johann Balthasar Wernher (1675-1742)12 betrachtet werden. Ihm geht es um eine Weiterentwicklung der Pufendorfschen Ideen. Dabei finden sich die wesentlichen Grundgedanken seiner Naturrechtslehre bereits in dem Aufsatz De Apodictica Moralium Certitudine von 1699.13 In den Elementa Juris Naturae et Gentium von 1704 gestaltet Wernher die dort formulierten Ansätze zu einem Naturrechtskompendium aus. Eine Reihe von Aufsätzen, die er 1721 zusammengefaßt unter dem Titel Dissertationes Juris Naturalis, quibus inprimis genuinum, idemque unicum et adaequatum illius principium stabilitur veröffentlicht, und auch Kommentare zu Grotius und Pufendorf wiederholen die Thesen der Elementa und ergänzen sie lediglich um unbedeutende Aspekte. Auch Christian Thomasius (1655-1728) steht wie Wernher zunächst völlig unter dem Einfluß Samuel von Pufendorfs. Die Institutiones Jurisprudentiae Divi11 Ein Verzeichnis der zahlreichen Auflagen, Übersetzungen und Kommentare findet sich bei H. Denzer, Moralphilosophie und Naturrecht bei Sarnuel Pufendorf, München 1972, S. 362 ff. 12 Siehe dazu ausführlich 1. Hruschka, Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, Artikel "Wemher", Spalte 1274 ff. Bei 1. F. Zedler, Großes Vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste, welche bisher durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, Band 55, Spalten 483 ff., Nachdruck der Ausgabe Leipzig und Halle 1748, Graz 1962, findet sich ein ausführliches Verzeichnis der Schriften Wemhers. 13 Der vollständige Titel lautet: De Apodictica Moralium Certitudine Auspiciis Gratiae Divinae pro Loco in Amplissima Facultate Philosophica Academiae Lipsiensis More Majorum rite obtinendo, Leipzig 1699.

I. Anfange

11

nae Libri Tres l4 von 1688 bezeichnet Adam Friedrich Glafey geradezu als den besten Kommentar zum pufendorfschen Naturrecht. 15 Thomasius rückt in der Folgezeit aber deutlich von seinen früheren Vorstellungen ab und versucht in der Einleitung zur Sittenlehre von 1692 die Moralphilosophie auf das Prinzip der vernünftigen Liebe zu stützen. Knapp zwanzig Jahre nach dem Erscheinen der Institutiones schließt Thomasius die Entwicklung seiner Moralphilosophie mit den Fundamenta Juris Naturae et Gentium aus dem Jahr 1705 ab. Nach Thomasius' Ansicht handelt es sich dabei um ein Naturrechtssystem, das auf völlig neuen Prinzipien aufbaut. 16 Diesem System gilt hier auch das Interesse.

Die im Anschluß behandelte Naturrechtslehre des Johann Gottlieb Heineccius (1681-1741) bringt demgegenüber keine wesentlichen Fortschritte mit sich. 17 Sie vermittelt aber ein gutes Bild vom Stand Naturrechtslehre gut 30 Jahre nach dem Erscheinen der Fundamenta. An ihr lassen sich die im wesentlichen allgemein anerkannten tragenden Prinzipien ablesen. Heineccius' Naturrechtskompendium Elementa Juris Naturae et Gentium von 1738 erlangte zwar nicht den großen Einfluß seiner Lehrbücher zum Zivilrecht, etwa der Elementa Iuris Civilis Secundum Ordinem Institutionum, Amsterdam 1725, oder der Elementa Juris Civilis Secundum Ordinem Pandectorum, Amsterdam 1727, aber es hat dennoch weit über Deutschland hinaus in ganz Europa Wirkung entfaltet. Als Standardlehrbuch wurde es bis ins 19. Jahrhundert hinein in Italien und Spanien verwendet. Im britischen Raum wurde es eines der gängigen Unterrichtswerke, nachdem George Turnbull es bereits 1740 ins Englische übersetzt hatte. 18 14 Thomasius bringt diese Beziehung deutlich im vollständigen Titel des Werkes zum Ausdruck, denn er nennt es: ..Institutiones Juris Divinae Libri Tres. In Quibus Fundamenta Juris Naturalis secundum Hypotheses illustris Pufendorffii perspicue demonstrantur, et ab objectionibus dissentientium, potissimum D. Valentini Alberti, Professoris lipsiensis, liberantur, fundamenta itidem juris divini positivi universalis primum a jure naturali distincte secernuntur et explicantur." (Drei Bücher von den Institutionen des göttlichen Rechts. Es werden die Grundlagen des Naturrechts nach den Hypothesen des berühmten Pufendorf klar bewiesen und gegen die Einwürfe ihrer Gegner, insbesondere des Leipziger Professors Valentin Albert verteidigt. Darüber hinaus werden die Grundlagen des universellen positiven Göttlichen Rechts zum ersten Mal deutlich vom Naturrecht unterschieden und dargelegt. ) 15 A. F. Glafey, Vollständige Geschichte des Rechts der Vernunft, worin die in dieser Wissenschaft erschienenen Schriften nach ihrem Inhalt und wahren Wert beurteilt werden, nebst einer Bibliotheca Juris Naturae et Gentium, Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1739, Aalen 1965, Buch III, § 143, S. 216.

16 Zu dieser Entwicklung und ihren Hintergründen siehe W Schneiders, Naturrecht und Liebesethik, Hildesheim, New York 1971, S. 226 ff.

17 Zu Leben und Werk Heineccius' siehe die Biographie seines Sohnes, Johann Christian Gottlieb Heineccius, Commentarius de Vita, Fatis et Scriptis Jo. Gottlieb Heineccii, Vratislaviae 1765. Siehe auch Ch. Bergfeld, Johann Gottlieb Heineccius und die Grundlagen seines Natur- und Völkerrechts, in: 1. G. Heineccius, Grundlagen des Natur und Völkerrechts, übersetzt von P. Mortzfeld, herausgegeben von Chr. Bergfeld, Frankfurt am Main, Leipzig 1994, S. 530 f. Dort finden sich die Belege für die Wirkung, die Heineccius' Naturrechtslehrbuch ausübte.

18 Der englische Titel lautet: A Methodical System of Universal Law: Or, The Laws of Nature and Nations, deduced from certain principles and applied to proper cases, translated, and illustrated

12

I. Anfange

Heineccius' Naturrechtslehre wurde in Deutschland nicht zuletzt durch die praktische Philosophie Christian Wolffs (1679-1754) verdrängt. Diese bestimmte dann bis in Kants Zeit hinein die Diskussion. Christian Wolffs System schließt die Betrachtung ab. Aus seinem umfangreichen Werk wird sie sich vor allem auf die Vemünftige(n) Gedanken von der Menschen Thun und Lassen, zur Beförderung ihrer Glückseeligkeit mitgeteilt von 1720 und auf die Philosophia practica universalis beziehen, deren ersten Teil 1738 erschien, sowie auf das zwischen 1740 und 1748 entstandene Jus Naturae.

with notes and supplements by George Turnbull. Den Charakter als Unterrichtswerk stellt Turnbull selbst deutlich heraus, indem er schreibt: ..... to young readers, for whom this translation, with the remarks, is chiefly intended ... ", zitiert nach der Ausgabe London 1763, Book I, chap. XV, S. 323. Turnbull (1689-1749) ging es aber vor allem darum, die naturwissenschaftliche, empirische Methode Newtons auch in der Moralphilosophie zur Anwendung zu bringen, siehe dazu D. F. Norton, George Turnbull and the Furniture of the Mind, Journal of the History of Ideas, 1975, S. 703 ff. Heute wird ihm hauptsächlich nur noch als Lehrer Thomas Reids Beachtung geschenkt.

11. Deontologische und konsequentialistische Ethiksysteme Der sachliche Unterschied zwischen einem konsequentialistischen Vorgehen auf der einen und einem deontologischen auf der anderen Seite wurde bereits zu Anfang des 18. Jahrhunderts klar dargestellt. Darauf wird im Schlußkapitel zurückzukommen sein. Offensichtlich erkannte man aber trotzdem die grundlegende Bedeutung dieser Unterscheidung nicht. Erst in unserem Jahrhundert analysiert C. D. Broad dann den Gegensatz und benennt beide Konzepte.) I In •.Five Types ofEthical Theory". London 1930. zitiert nach der Ausgabe London. New York 1971. S. 206 ff.• stellt Broad die ..deontological theory" der ..teleological theory" gegenüber. Dabei entspricht ..teleological theory" dem hier verwendeten Begriff der konsequentialistischen Ethik. Diesen wiederum prägte G. W M. Anscombe in ihrem Aufsatz .,Modem Moral Philosophy". Philosophy 1958. S. 1-19. wiederabgedruckt in: W D. Hudson. The IslOught Question. London 1969. S. 175 ff. Obwohl häufig die Bezeichnung ..teleologisch" zu finden ist. wird im folgenden allein der Begriff •.konsequentialistisch" verwendet werden. Nur dadurch läßt sich unzweideutig zum Ausdruck bringen. daß es bei der Beurteilung einer Handlung auf ihre Folgen schlechthin ankommt. Der Begriff ..teleologisch" impliziert dagegen über den bloßen Folgenbezug hinaus sutljektive Aspekte. Danach scheint es auch von Bedeutung zu sein. wie der Handelnde zu den Folgen seiner Tat steht. ob sie ihm gelegen kommen oder ob er sie gar beabsichtigt und zum Ziel seiner Handlung macht. Mit dem Begriff ..deontologisch" zieht Broad ironischerweise eine Wortschöpfung des Utilitaristen Bentham heran. die dieser auch im Zusammenhang mit der Beurteilung einer Handlung nach dem Greatest Happiness Principle sah. Der Begriff dürfte um 1816 entstanden sein. Bentham verwendet ihn zum einen in der zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlichten Schrift •.Deontology". Hier definiert er: .,By Deontology. taken in its largest sense. is meant that branch of art and science which has for its object the doing on each occasion what is right and proper to be done." Deontology. together with A Table of the springs of actions and article on Utilitarianism. hrsg. von A. Goldworth. in: The Collected Works of Jeremy Bentham. hrsg. von J. R. Dinwiddy. Oxford 1983.11.1 (i). S. 249. Darüber hinaus erscheint die Bezeichnung auch in der 1817 veröffentlichten Schrift ..Chrestomathia". Part 11. die sich mit Erziehung und Unterricht befaßt. Hier schreibt Bentham: •.From two Greek words. the first of which signifies fit. fitting, right, becoming, proper. Deontology - an account or indication of that, which, on the occasion in question, whatsoever it be, is - ... - fit, fitting, becoming, proper .... Chrestomathia, Part 11, London 1817, Nachdruck Bristol 1994, S. 213, Fußnote. An dieses Verständnis des Begriffes scheint Broad bei der folgenden Definition des deontologischen Konzepts anzuknüpfen: ..The concepts of obligation are fundamental and the concepts of value are definable in terms of them. Thus it might be held that the notion of fittingness is fundamental, and that 'X is intrinsically good' means that it is fitting for every rational being to desire X. Such theories might be called Deontological.", S. 278. Bentham selbst differenziert nicht zwischen diesem Verständnis von ..fittingness". das eine Übereinstimmung mit generellen Gesetzen meint, und einem Verständnis, nachdem es um eine Übereinstimmung mit dem Greatest Happiness Principle geht. Er verwendet und definiert den Begriff aber gerade auch in diesem letzten Sinn, wenn er schreibt: ,,By Privat Deontology considered as an art, understand that art of maximizing the net amount of happiness in that part of the field ofthougt and action which is left free by the poweroflaw and govemment." Deontology, 11.1 (i), S. 249. Lediglich auf diesen engeren Gebrauch durch Bentham verweist H. Fahrenbach in seinem

II. Ethiksysteme

14

Prinzipiell unterscheiden sich deontologische und konsequentialistische Konzepte durch die Bedeutung, die sie den Folgen einer Handlung bei deren Beurteilung als geboten oder verboten, gut oder schlecht beimessen. 2 Eine konsequentialistische Ethik orientiert die Entscheidung, ob eine Handlung vorzunehmen oder zu unterlassen ist, ebenso wie die Bewertung einer Handlung als gut oder schlecht an den konkreten Folgen der fraglichen Handlung und der Bewertung dieser Folgen. Können die voraussichtlichen Folgen positiv bewertet werden, ergibt die einfachste vorstellbare Form eines konsequentialistisehen Prinzips das Gebot, diese Handlung vorzunehmen. Zugleich wird diese Handlung danach auch als gut bezeichnet. Erweisen sich die Folgen der Handlung dagegen als negativ, gebietet das konsequentialistische Prinzip, die Handlung zu unterlassen. Sie ist verboten und gilt als schlecht. Gebote, Verbote und die Bewertung einer jeden Handlung sind so in Abhängigkeit von den Folgen der Handlung und deren Bewertung definiert. Dabei ist noch keine Aussage über das Bewertungskriterium selbst getroffen. Im folgenden wird darauf noch kurz einzugehen sein. Als Grundthese konsequentialistischer Theorien formuliert v. Kutschera deswegen: "Der Wert einer Handlung bestimmt sich aus dem Wert ihrer Resultate."3 Unterscheidet man innerhalb eines ethischen Systems zwischen einem System der Pflichten, das Regeln über Gebote und Verbote enthält, und einem System der Werte, das die Urteile über gut und schlecht bestimmt, dann definieren konsequentialistische Konzepte das System der Pflichten in Abhängigkeit von einem System von Werten. In diesem Sinn charakterisiert Broad konsequentialistische Konzepte als Theorien, in denen gilt: "The concepts of value are fundamental, and the concepts of obligation are definable in terms of them. ,,4 Das Artikel ,,Deontologie" in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von J. Ritter, Dannstadt 1972. 2 Unter ,,Handlungsfolgen" werden im folgenden generell Zustände, Prozesse, überhaupt Veränderungen in der Welt betrachtet, die durch eine Handlung bewirkt werden. Ganz ähnlich definiert etwa 1. J. Smart, An Outline of a System ofUtilitarian Ethics, Melbourne 1961, S. 6: " ... consequences, states of affairs brought about by the action." Diese Definition ist nicht unproblematisch, weil sich aus ihr für bestimmte Fallgestaltungen keine eindeutigen Ergebnisse ableiten lassen. Sie läßt etwa offen, ob der Tod des B als Folge der Handlung ,,A tötet B" zu bezeichnen ist, obwohl dieser Erfolg schon Teil der Handlungsbeschreibung ist. Auch die Frage, ob eine Folge der Handlung ,,A sagt gegenüber B die Unwahrheit" darin zu sehen ist, daß nach der Handlung eine Unwahrheit in der Welt ist, kann auf der Grundlage dieser Definition nicht beantwortet werden. Ausführlich zu diesen Problemen L. Bergström, The Alternatives and Consequences of Actions, Stockholm u.a. 1966, insbesondere S. 74 ff. F. v. Kutschera, Grundlagen der Ethik, BerJin, New York 1982, S. 64, spricht dagegen von ,,Resultaten einer Handlung" und berücksichtigt in diesem Rahmen nicht nur die Wirkungen und Folgen der Handlung, sondern auch einen möglicherweise in ihr selbst liegenden Wert. R. W Trapp, Nicht-klassischer Utilitarismus, Frankfurt am Main 1988, S. 287, bezieht sich auf ,,mutmaßlich bewirkte WeltverJäufe". Für die folgenden Überlegungen haben derartig problematische Fallkonstellationen keine Bedeutung. Die eingangs gewählte Definition, die darüber hinaus auch der gängigen Redeweise entspricht, ist daher trotz ihrer Unschärfen soweit zulänglich.

3

v. Kutschera, S. 63.

4

S.278.

11. Ethiksysteme

15

System der Pflichten kann dabei in doppelter Weise von dem der Werte abhängig sein. Zum einen wird durch das System der Werte bestimmt, welche Handlungen oder Handlungsweisen geboten oder verboten sind. Zum anderen ergibt sich aus dem Umstand, daß bestimmte Handlungen wegen ihrer Folgen als gut oder schlecht bezeichnet werden, auch die Notwendigkeit, entsprechende Handlungen vorzunehmen oder zu unterlassen. Mit der Feststellung, eine Handlung sei schlecht, ist implizit die Aussage verbunden, der Handelnde sei verbunden, diese Handlung nicht vorzunehmen. Es ist aber durchaus vorstellbar, beide Aspekte zu trennen und die Verpflichtung nicht auf das Wertesystem zurückzuführen, sondern auf ein weiteres Prinzip, etwa den Willen Gottes. Folgt man einem rein konsequentialistischen Ethikkonzept, dann können Gesetze oder Regeln als Umschreibung bestimmter Handlungsweisen, die im Einzelfall vom Handelnden durch eine konkrete Handlung verwirklicht werden, allenfalls als jederzeit revidierbare Faustregeln dienen. Da die Verwirklichung einer Handlungsweise je nach den Umständen des konkreten Falles einmal positive und ein anderes Mal negative Folgen nach sich ziehen kann, kann sie nicht generell geboten oder verboten werden. Für eine rein deontologische Ethik sind die konkreten Folgen einer Handlung dagegen als solche bedeutungslos. Die Frage, ob eine Handlung geboten oder verboten ist, läßt sich nur im Hinblick auf ein Regelsystem beurteilen, das bestimmte Handlungsweisen als geboten oder verboten bezeichnet. V. Kutschera formuliert dazu zwei grundlegende Thesen eines deontologischen Konzepts. Danach gilt zum einen: "Eine Handlung ist genau dann geboten, wenn die damit realisierte Handlungsweise geboten ist." und zum andern: "Der Wert einer Handlung bestimmt sich allein aus dem Wert der Handlungsweise, die damit realisiert wird. ,,5 Gebote, Verbote, aber auch die Bewertung von Handlungen ergeben sich aus der Anwendung eines Regelsystems auf den konkreten Fall. Das System der Pflichten, das sich aus diesem Regelsystem ergibt, bildet die Grundlage, auf die das System der Werte aufbaut, zumindest soweit es um Handlungen geht. Es gilt deswegen: "The concepts of obligation are fundamental and the concepts of value are definable in terms of them. ,,6 Handlungen, die eine gebotene Handlungsweise verwirklichen, sind aus diesem Grund gut, und Handlungen, die eine verbotene Handlungsweise verwirklichen, werden als schlecht bezeichnet. Dem liegt die Annahme zugrunde, daß bestimmte, durch welche Kriterien auch immer gekennzeichnete Handlungsweisen generell und unabhängig von den konkreten Folgen ihrer Verwirklichung als ge- oder verboten gelten können, ein Ansatz der bereits sehr prägnant zum Ausdruck kommt, wenn Paulus das Ansinnen verwirft: ,,Faciamus mala, ut veniant bona?"7 5

S.66.

6

Broad, S. 278.

7

Röm. 3,8.

16

11. Ethiksysteme

Probleme ergeben sich allerdings, wenn nach diesen Kriterien ein System in die Unterscheidung eingeordnet werden soll, in dem Handlungen nach Regeln beurteilt werden, die ihrerseits durch ein konsequentialistisches Prinzip erzeugt werden. Bei diesem Vorgehen werden Handlungsfolgen zwar relevant, aber nur mittelbar, indem sie die Formulierung von Gesetzen bestimmen, an denen die konkrete Handlung gemessen wird. In einem solchen System werden deswegen nicht notwendig alle Folgen einer konkreten Handlung berücksichtigt, wie es im Rahmen sogenannter handlungskonsequentialistischer Konzepte geschieht. Abhängig von der Ausgestaltung des Prinzips, nach dem die Gesetze formuliert werden, kommen vielmehr nur bestimmte Folgen einer Handlung zum Tragen. Wenn aber die Bewertung dieser Folgen darüber entscheidet, ob eine Handlung geboten oder verboten ist, dann sind damit Pflichten über Werte definiert, und das System der Pflichten wird letztlich, wenn auch mittelbar, durch das System der Werte bestimmt. Derartige Systeme können deswegen als konsequentialistisch angesehen werden, obwohl ihnen mit der Beziehung auf Regeln, die Handlungsweisen gebieten oder verbieten, ein Element eingefügt ist, das konsequentialistischen Konzepten fremd ist und eigentlich deontologische Systeme charakterisiert. Im Gegensatz zu handlungskonsequentialistischen Systemen werden sie als regelkonsequentialistisch bezeichnet. 8 Daß es durchaus berechtigt ist, den Handlungskonsequentialismus als Konsequentialismus zu bezeichnen, wird vor dem Hintergrund der Diskussion über die Äquivalenzthese leicht nachvollziehbar. D. Lyons 9 hatte diese These in Forms and Limits 0/ Utilitarianism aufgestellt und begründet. Danach führen zumindest einige Formen regelutilitaristischer Prinzipien zu gleichen Resultaten wie ihre handlungskonsequentialistischen Entsprechungen, solange nur die betrachteten Handlungsweisen richtig, und das heißt vollständig, beschrieben werden. Entscheidend sei, daß bei der Handlungsbeschreibung, auf der das Urteil über 8 v. Kutschera, S. 172, ordnet den Regelutilitarismus dagegen den deontologischen Theorien zu, weil dieser den Wert einer konkreten Handlung nach dem Wert der Handlungsweise bestimmt, die sie verwirklicht. Aber auch er räumt die indirekte Bedeutung von Handlungsfolgen ein, sodaß konsequenterweise in regelutilitaristischen Systemen Handlungsweisen kein intrinsischer Wert zukommt, wie es an sich für deontologische Systeme typisch ist, Fn. 81. Die bewußte Beschäftigung mit regelutilitaristischen Argumenten hat zu Beginn dieses Jahrhunderts wieder eingesetzt. Die inzwischen allgemein übliche Unterscheidung zwischen ,,euleutilitarianism" und "act-utilitarianism" von der die deutschen Bezeichnungen Regel- und Handlungsutilitarismus sowie Regel- und Handlungskonsequentialismus abgeleitet sind, geht auf R. B. Brandt, Ethical Theory, Englewood Cliffs, 1959, zurück. Eine bibliographische Dokumentation der zeitgenössischen Diskussion findet sich bei O. HöjJe, Hrsg., Einführung in die utilitaristische Ethik, 2. Auft., Tübingen 1992, S. 255 ff. 9 Nach Trapp, S. 245, finden sich vergleichbare Thesen schon bei A. C. Ewing, What would happen if everybody acted like me?, in: Philosophy 1953, S. 16 - 29, und R. B. Brandt, Towards a credible form of rule-utilitarianism, in: Morality and the Language of Conduct, hrsg. von H.N. CastafiedaJG. Nakhnikian, Detroit 1965, S. 107 ff.

11. Ethiksysteme

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die Handlung dann beruht, das Handeln aller Beteiligten berücksichtigt werde. 10 Diese These hat eine lebhafte Diskussion in Gang gesetzt. 11 Ihr braucht hier aber nicht weiter nachgegangen zu werden, denn sie zeigt bereits als solche, wie gering die auf den ersten Blick grundlegenden Unterschiede zwischen den beiden Varianten konsequentialistischer Konzepte sein können. Damit stellt sich aber zugleich die Frage nach der Berechtigung und der Schlüssigkeit der regelkonsequentialistischen Konstruktion. Sie ist überflüssig, wenn sie zu denselben Ergebnissen führt wie ein handlungskonsequentialistisches Konzept. Im anderen Fall muß begründet werden, weswegen nicht alle konkreten Folgen eine Handlung bei ihrer Bewertung berücksichtigt werden sollen. Auch diese Frage braucht nicht entschieden zu werden. Im Hinblick auf den Unterschied zwischen deontologischen und konsequentialistischen Konzepten ethisch richtigen HandeIns, den es hier allein zu klären gilt, läßt sich feststellen, daß er nicht darin gesucht werden kann, daß in einem Fall Handlungen an Regeln gemessen werden, im anderen nicht. Entscheidend kann allein sein, ob die Folgen einer Handlung oder einer Handlungsweise der Sache nach darüber bestimmen, ob eine Handlung geboten oder verboten ist. Zusammengefaßt stellen sich die Unterschiede folgendermaßen dar. Eine deontologische Regel hätte die Form: "Handlungsweise h ist geboten." Danach müßte nur festgestellt werden, ob eine konkrete Handlung die Handlungsweise h verwirklicht. Ist das der Fall, so ist es geboten, diese Handlung vorzunehmen. Als einfache handlungskonsequentialistische Regel könnte man formulieren: "Handlungen, die negative Folgen haben sind verboten, und Handlungen, die positive Folgen haben, sind geboten." Danach muß geklärt werden, welche Folgen die beabsichtigte Handlung hat und ob sie nach dem jeweiligen Bewertungskriterium als positiv bezeichnet werden können. Problematisch ist die Formulierung eines regelkonsequentialistischen Prinzips. Ein Prinzip, das danach fragt, ob die Verwirklichung einer bestimmten Handlungsweise im allgemeinen gute oder schlechte Folgen hat, scheint wenig plausibel. 12 Danach müßte eine Handlung auch dann unterlassen werden, wenn sie im konkreten Fall mit Sicherheit positive Folgen hat und das ausschließlich deswegen, weil die Verwirklichung einer derartigen Handlungsweise in der Mehrzahl der Fälle schlechte Folgen hat. 10 Lyons, Fonns and Limits ofUtilitarianism, Oxford 1965, S. 115 ff. Daß wir das Handeln anderer durchaus als relevanten Teil einer Handlungssituation betrachten, zeigt sich etwa, wenn die Frage beantwortet werden soll, ob bei einem Unfall Hilfe zu leisten ist. Besitzen wir die Möglichkeit und die Fähigkeiten, um wirkungsvoll zu helfen, so kann man über eine Pflicht zu helfen diskutieren, wenn an der UnfallsteIle niemand anwesend ist, der Hilfe leistet. Dagegen wird man eine solche Pflicht nicht annehmen, wenn schon andere für die Hilfe sorgen. In diesem Fall würde sich das Tätigwerden vielleicht sogar ganz verbieten, wenn und weil dadurch eine wirksame Hilfeleistung behindert würde.

11

Eine Auseinandersetzung mit den vorgebrachten Argumenten findet sich bei Trapp, S. 253 ff.

N. Hoerster, Utilitaristische Ethik und Verallgemeinerung, 2. Aufl. Freiburg, München 1977, S. 33, bezeichnet dieses Prinzip als "Regelutilitarismusl ". 12

2 Drescher

11. Ethiksysteme

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Die Vorschrift: "Eine Handlung, deren allgemeine Ausführung wünschenswerte Folgen hätte, ist geboten"13 bringt nicht zum Ausdruck, daß es gerade um die Begründung von Regeln mit Hilfe eines konsequentialistischen Prinzips geht, auch wenn damit wohl der Grundgedanke des regelkonsequentialistischen Konzepts erfaßt ist. Lyons spricht deswegen von dieser Regel als "generalization test" oder von "utilitarian generalization" .14 Angemessener könnte man formulieren: "Handlungen sind geboten, wenn sie mit einer Regel übereinstimmen, deren allgemeine Befolgung positive Folgen hätte." Wie in einem deontologischen System wäre zur Beurteilung einer Handlung zunächst nach einer Regel hinsichtlich der fraglichen Handlungsweise zu suchen. Diese Regel müßte sich aber ihrerseits durch die Auswirkungen ihrer Befolgung rechtfertigen lassen. Jedes konsequentialistische Prinzip setzt notwendig eine Werteordnung voraus, nach der sich die Folgen von Handlungen beurteilen lassen. Das Greatest Happiness Principle im klassischen Utilitarismus repräsentiert dabei nur eines unter sehr verschiedenartigen, möglichen BewertungskriterieI;t. Abhängig von der Art dieser Kriterien ergeben sich äußerst unterschiedliche konsequentialistische Systeme. 15 Ihre Schlüssigkeit hängt dabei entscheidend von der Art der Begründung und der Konsistenz des Wertesystems ab, das Pflichten definiert und damit die Grundlage des Systems bildet. Grundsätzlich lassen sich Werteordnungen denken, die auf objektivistischen oder auf subjektivistischen Kriterien aufbauen. Jene definieren ein System der Werte unabhängig vom Willen und von den Interessen des Handelnden und der von der Handlung Betroffenen. Ein Zustand, der als Folge einer Handlung gilt, könnte danach etwa als gut bezeichnet werden, weil er der Erhaltung der menschlichen Art oder dem Funktionieren der menschlichen Gesellschaft dient oder weil er dem Willen Gottes entspricht. Man könnte von einem biologischen, einem soziologischen und einem theologischen Naturalismus sprechen. 16 Für subjektivistische Positionen sind dagegen subjektive Interessen ausschlaggebend. Auch hier lassen sich verschiedenartige Ausgestaltungen denken. Interessen können sich zum Beispiel in kasuistischen, nicht weiter überprüfbaren Gewissensentscheidungen des einzelnen äußern. Der Rationalist könnte demgegenüber dasjenige als gut bezeichnen, was sich für den einzelnen als wahrhaft nützlich erweist. Auf diesem Weg entsteht ein "egoistisches" Wertesystem. Hobbes vertritt eine derartige Position in klassischer Weise. Für den Utilitarismus dagegen ist die Forderung typisch, den Interessen aller Betroffenen das gleiche Gewicht beizumessen und einen gerechten Ausgleich zwischen ihnen herzustellen. Der Ausgleich zwischen diesen Interessen wird über das Greatest Happiness Principle erzielt, das die Einstellung aller betroffenen In13

So etwa Trapp, S. 213 f. Hoerster, S. 33, bezeichnet dieses Prinzip als "Regelutilitarismus2 ".

14

S. I.

15

Zusammenfassend Trapp, S. 288 ff.

16

v. Kutschera, S. 184 ff.

11. Ethiksysteme

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teressen in eine Gesamtrechnung verlangt. Ein Zustand ist danach umso besser und der Wert eine Handlung umso größer, je größer der Nutzenwert ist, der sich aus dieser Gesamtrechnung ergibt. Zur Erzielung eines besseren Gesamtergebnisses kann es in diesem Rahmen durchaus geboten sein, die Interessen einzelner völlig aufzuopfern. In diesem Sinn bilden "soziale", nicht "egoistische" Interessen die Grundlage des Wertesystems. Interessen werden dabei hedonistisch als Glück im Sinne von pleasure und absence of pain verstanden. 17 Aber auch hier gilt wiederum, selbst wenn man auf subjektive, soziale Interessen abstellt, müssen diese nicht notwendig hedonistisch verstanden werden, und die Aggregationsregel zum Ausgleich der betroffenen Interessen muß nicht in einer Interessenverrechnung resultieren. Die Frage nach der Verwandtschaft eines Naturrechtssystems mit dem klassischen Utilitarismus wird daher im folgenden danach zu beantworten sein, welche Bedeutung den Folgen einer Handlung bei ihrer Bewertung beigemessen wird, welches Folgenbewertungskriterium herangezogen wird und ob eine Interessenverrechnung erwogen wird.

17 Siehe dazu ausführlich W R. Köhler, Zur Geschichte und Struktur der utilitaristischen Ethik, Frankfurt am Main 1979, S. 23 ff.

III. Samuel von Pufendorf: Die Socialitas Samuel von Pufendorfs Naturrechtslehrbuch De lure Naturae et Gentium Libri Octo erschien im selben Jahr wie Richard Cumberlands De Legibus Naturae Disquisitio Philosophica. Während Cumberland deutlich folgen bezogen argumentiert, stellt sich Pufendorfs Naturrechtslehre zunächst als wesentlich stärker deontologisch geprägt dar. 1

1. Relevanz der Handlungsfolgen

Das Naturrechtsdenken Pufendorfs wird von der Vorstellung eines Systems von Gesetzen beherrscht. Dieses System bildet den Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Pufendorf sieht die Möglichkeit, menschliches Verhalten durch Normen (normae) zu lenken und den Menschen zu einem bestimmten Verhalten zu verbinden, in der Begabung des Menschen mit einem freien Willen begründet. 2 Handlungen, die dem freien Willen des Handelnden entspringen, sind als "actiones morales" zurechenbar3 und unterliegen der Regelung durch Gesetze. Alle Gesetze sind als Befehle eines Übergeordneten an Untergebene zu verstehen. Durch die Gesetze werden die Gesetzesunterworfenen verbunden, alle Handlungen nach den Vorschriften des Gesetzgebers auszurichten und ihre Freiheit einzuschränken: ,,Lex, quae est decretum, quo superior sibi subjectum obligat, ut ad istius praescriptum actiones suas componat. ..4 Sie beruhen ohne Ausnahme auf einer äußeren Gesetzgebung, das heißt auf äußerem Zwang. Wer ohne derartigen Zwang einer Regel folgt, handelt daher niemals auf Grund einer Verbindlichkeit, 1 Eine umfassende Darstellung der Naturrechtslehre Samuel von Pufendorfs lindet sich bei Th. Behme, Samuel von Pufendorf: Naturrecht und Staat, Göttingen 1995, und H. Denzer. Siehe auch H. Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, Berlin, New York 1958, und die umfangreiche Bibliographie bei D. Döring, Pufendorf-Studien, Berlin 1992. 2 De Jure Naturae et Gentium Libri Octo (im folgenden: J.), zitiert nach der Reproduktion der Ausgabe Amsterdam 1688, London 1934, lib. I, cap. VI, § 6, S. 63.

3

1., Iib. I, cap. V, § 1, S. 45 f.

De Ofticio Hominis et Civis Juxta Legern Naturalern Libri Duo (im folgenden: 0.), zitiert nach der Reproduktion der Ausgabe Cantabrigia 1682, London, New York 1927, lib. I, cap. 11, § 2, S. 12: ,,Das Gesetz wird als Dekret verstanden, durch das ein Vorgesetzter einen Untergebenen verbindet, seine Handlungen nach dessen Vorschriften einzurichtet. .. 4

1. Relevanz der Handlungsfolgen

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sondern nach eigenem Gutdünken. Denn für Pufendorf ergibt sich jede Verbindlichkeit (obligatio) und damit jede Notwendigkeit, im Einklang mit bestimmten Vorschriften zu handeln, aus der Macht des übergeordneten Gesetzgebers, einen Gesetzesverstoß zu ahnden, und daraus, daß er gerechte Gründe (justae causae) dafür vorweisen kann, daß er VOn seinen Untergebenen bestimmte Freiheitseinschränkungen verlangt. 5 Eine Verbindlichkeit kann deswegen überhaupt nur denjenigen treffen, der einem anderen untergeben ist. 6 Ein vollständiges Gesetz (lex perfecta) enthält zum einen eine Verhaltensregel, "per quam definitur quid sit faciendum, quidve omittendum",7 und zum anderen die Androhung eines Übels für den Verstoß gegen die Norm. 8 Auch die Gesetze des Naturrechts (leges naturales) sind in diesem Sinn vollständige Gesetze, die VOn Gott als einem äußeren Gesetzgeber erlassen wurden. 9 Ihre Übertretung zieht als Strafe ein schlechtes Gewissen, Schäden an Körper und Seele und die Übel nach sich, die aus der irregeleiteten Gewalttätigkeit anderer Menschen und dem Verlust ihrer Unterstützung entstehen. \0 Während die bürgerlichen Gesetze nur für die Bürger eines bestimmten Staates gelten, richten sich die natürlichen Gesetze an alle Menschen. Sie unterscheiden sich von den positiven Gesetzen (leges positivae) dadurch, daß sie im Gegensatz zu diesen durch die Vernunft erkannt werden und ihre Regelungen notwendig einen Bezug zur menschlichen Natur haben, eine "necessaria & universalis congruentia cum hominibus", die positiven Gesetzen fehlt. 11 Das Wesen eines Gesetzes sieht Pufendorf gerade darin, daß es eine von außen auferlegte Notwendigkeit erzeugt,in einer bestimmten Weise zu handeln. Es ist deswegen sorgfältig von Rat und Vertrag zu unterscheiden. Denn ein Rat begründet keine Verbindlichkeit 12 und die Verbindlichkeit des Vertrages beruht auf dem Willen der Vertragsschließenden. 13 Die Gesetze des Naturrechts treffen Regelungen, die sich beinahe ausschließlich auf äußere Handlungen beziehen, und stützen sich nicht auf Erwägungen über ein Leben nach dem Tode. 14 Diese Gesetze stehen im Mittelpunkt der moralischen Beurteilung von Handlungen. Pufendorf weist darauf sehr prägnant mit dem Titel seines Naturrechtskompendiums hin, wenn er es De Officio Hominis et Civis Juxta Legern Natura5

O.,lib. I, cap. 11, § 5, S. 13 f.

6

0., !ib. I, cap. 11, § 4, S. 13.

7 " ... durch

die festgelegt wird, was zu tun und was zu unterlassen ist. ....

8

O.,lib. I, cap. 11, § 7, S. 15.

9

1.,lib. I, cap. VI, § 18, S. 77 f.

IO

1., lib. 11, cap. III, § 21, S. 152 ff.

O.,lib. I, cap. 11, § 16, S. 18: eine ,,notwendige und universelle Übereinstimmung mit dem Menschen". II

12

1.,lib. I, cap. VI, § I, S. 60.

13

1.,lib. I, cap. VI, § 2, S. 61.

14

0., Vorrede (ohne Seitenangabe, S. 5 f.).

22

III. Samuel von Pufendorf

lern überschreibt. Er will die Pflichten des Menschen und des Staatsbürgers darstellen, wie sie sich aus dem natürlichen Gesetz ergeben. Sein Werk leitet er deswegen mit der Definition des Pflichtbegriffs ein: "Officiurn nobis heic vocatur actio hominis pro ratione obligationis ad praescriptum legum recte attemperata.,,15 Auch die Qualitäten freier Handlungen, nämlich die moralische Notwendigkeit, eine Handlung vorzunehmen, zu der keine physischer Zwang besteht, ihre Erlaubtheit, Güte, Gerechtigkeit und zu diesen jeweils die entsprechende entgegengesetze Qualität,16 ergeben sich aus der Übereinstimmung der Handlung mit den Gesetzen oder aus dem Widerspruch, der zwischen der Handlung und dem Gesetz besteht: " ... (lex), ad quam actiones morales debent exigi, & ad quam ubi congruunt vel non co(n)gruunt, peculiares qualitates sortiuntur. ,,17 Handlungen sind notwendig oder verboten, wenn sie sich unter ein gesetzliches Gebot oder Verbot subsumieren lassen. Wenn dagegen hinsichtlich einer Handlung keine gesetzliche Regelung besteht und es deswegen dem Belieben des Handelnden überlassen bleibt, die Handlung vorzunehmen oder sie zu unterlassen, ist diese Handlung erlaubt: "Actio necessaria est, quam ex lege aut jussu superioris omnino facere tenetur is, cui ea lex aut jussum fuit datum ... Opponitur autem necessariae actioni, non solum actio vetita, quae legibus aut interdicto superioris fieri prohibetur; sed etiam licita, quam leges neque praecipiunt, neque vetant, sed quam suscipere aut omittere in cujusvis arbitrio est relictum."18 Auch die moralische Güte oder Schlechtigkeit einer Handlung richtet sich nach ihrer Übereinstimmung mit dem Gesetz: "Actionem bonam moraliter, seu in genere morum, ... , dicimus, quae cum lege congruit: malarn, quae ab eadem discrepat."19 Entscheidend ist allein, daß die Handlung in jeder Hinsicht mit dem Gesetz übereinstimmt: "Porro cum 15 0., \ib. I, cap. I, § I, S.l: "Unter Pflicht verstehen wir in diesem Zusammenhang eine menschliche Handlung, die auf Grund einer Verbindlichkeit in rechter Weise an die Vorschrift der Gesetze angepaßt ist." 16 1., \ib. I, cap. VII, § I, S. 78: ,Adeoque qua!itates morales actionum moralium erunt necessitas, licentia, & bis oppositae, quae proprio vocabulo destituuntur, bonitas, & malitia, justitia & injustitia." (Also sind die moralischen Qualitäten freier Handlungen Notwendigkeit, Erlaubtheit und deren Gegensätze, für die es keinen eigenen Ausdruck gibt, Güte und Schlechtigkeit, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. ) 17 1., !ib. I, cap. VI, § I, S. 60: " ... (das Gesetz) begründet eine Notwendigkeit, bestimmte freie Handlungen auszuführen. Auch die spezifischen Qualitäten freier Handlungen werden im Hinblick darauf beurteilt, ob die Handlung mit dem Gesetz übereinstimmt oder nicht."

18 1., lib. I, cap. VII, § 2, S. 78: ,Als notwendig wird eine Handlung bezeichnet, die deIjenige, dem ein Gesetz oder ein Befehl gegeben ist, auf Grund des Gesetzes oder des Befehles des Vorgesetzten unter allen Umständen vornehmen muß ... Der notwendigen Handlung wird aber nicht nur die verbotene entgegengesetzt, deren Vornahme durch Gesetze oder das Verbot eines Vorgesetzten untersagt ist, sondern auch die erlaubte, die die Gesetze weder vorschreiben, noch verbieten, sondern deren Vornahme oder Unterlassung in das freie Belieben eines jeden einzelnen gestellt ist." 19 1.,lib. I, cap. VII, § 3, S. 79: ,Als moralisch gut wird eine Handlung bezeichnet, ... , die mit dem Gesetz übereinstimmt, als schlecht dagegen eine Handlung, die im Widerspruch zum Gesetz steht." Die natürliche oder materiale Güte einer Handlung bestimmt Pufendorf an dieser Stelle dagegen durch eine Mittel-Zweck-Relation. "Gut" in diesem Sinn ist diejenige Handlung, die zum Vorteil

1. Relevanz der Handlungsfolgen

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lex determinet vel qualitatem seu dispositionem agentis, vel objectum, vel finem, vel certas denique circumstantias actionis; inde actio aliqua est moraliter bona aut mala, vel quia agens ita est dispositus, ut lex requirit, aut secus; vel quia actio dirigitur in objectum, eo fine, iisque circumstantiis, prout lege est dispositum, aut contra. ,,20 Weicht die Handlung dagegen in irgendeiner Hinsicht vom Gesetz ab, dann ist sie schlecht: "Adeoque statim actio fit mala, si vel agentis qualitas, vel objectum, vel finis, vel aliqua circumstantiarum, vel intentio a lege discrepet."21 Jedes Urteil über die Güte einer Handlung beruht damit allein auf der Prüfung, ob durch die Handlung eine Handlungsweise verwirklicht wird, die ein Gesetz umschreibt, indem es Eigenschaften des Handelnden und bestimmte Umstände und Folgen der Handlung in einem Tatbestand zusammenfaßt. Folgen und Umstände, die das Gesetz nicht nennt, werden dagegen als irrelevant betrachtet. Deswegen bleibt die Verwirklichung einer Handlungsweise, die durch ein Gesetz verboten wird, selbst dann moralisch schlecht, wenn durch die Handlung im konkreten Fall ein gutes Ergebnis erzielt werden soll: "Inde est, quod nemo peccatis propriis possit uti velut mediis ad finem bon um adsequendum; ac non sint facienda mala, ut eveniant bona. ,,22 Der moralische Wert einer Handlung ergibt sich vollständig, aber auch ausschließlich aus dem Gesetz. Die Folgen der Handlung spielen dabei nur eine Rolle, soweit es das Gesetz bestimmt. Man kann dabei etwa an Rechtfertigungsregeln denken, wie zum Beispiel an die Regeln, die ein Notwehrrecht einräumen. 23 Pufendorf scheint aber zumindest für den Richter die Möglichkeit gesehen zu haben, besonders ungewöhnliche Folgen und Umstände einer Handlung zu berücksichtigen, auch wenn sie nicht ausdrücklich in einem Gesetz genannt sind. In solchen Fällen muß der Richter nach der Billigkeit entscheiden: "A dispensatione tarnen multum differt aequitas, quae est correctio ejus, in quo lex deficit ob universalitatem; seu dextra legis interpretatio, qua ex naturali ratione ostenditur, casum aliquem peculiarem sub lege universali non oder zur Vollkommenheit einer Person beiträgt: " ... bonitate velut naturali & materiali, per quam res aut actio in commodum & perfectionem alicujus cedere intelligitur... " 20 J., lib. I, cap. VII, § 4, S. 79: ,,Da ein Gesetz sowohl über die Eigenschaften oder Anlagen des Handelnden als auch über den Gegenstand, das Ziel oder bestimmte Umstände einer Handlung Festsetzungen treffen kann, wird eine Handlung dann als moralisch gut bezeichnet, wenn der Handelnde so veranlagt ist, wie es das Gesetz verlangt, und die Handlung auf den im Gesetz beschriebenen Gegenstand oder das gesetzlich festgelegte Ziel gerichtet ist und dabei die gesetzlich bestimmten Umstände gegeben sind. Andernfalls ist die Handlung schlecht."

21 Ebenda, S. 80 : "Deswegen ist eine Handlung schon immer dann schlecht, wenn entweder eine Eigenschaft des Handelnden oder seine Absicht oder aber der Gegenstand oder das Ziel oder irgendein Umstand vom Gesetz abweicht." 22 Ebenda: "Deswegen kann niemand seine eigenen Verfehlungen gleichsam als Mittel benutzen, um mit ihrer Hilfe ein gutes Ziel zu verfolgen. Übeltaten dürfen nicht begangen werden, um gute Ergebnisse zu erreichen." 23 Notstandsfälle deutet Pufendorf als Pflichtenkollisionsfälle, in denen die Pflicht, das eigene Leben zu erhalten, der Pflicht gegenübersteht, fremde Rechtsgüter nicht zu beeinträchtigen. Siehe etwa 1., lib. II, cap. IV, § 16, S. 176 f.

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III. Samuel von Pufendorf

comprehendi, eo quod alias absurdi quid inde foret secuturum. Nam quia ob infinitam varietatem omnes casus neque praevideri, neque exprimi possunt; ideo judices, quorum est generalia legum decreta ad speciales casus adplicare, debent a lege excipere ejusmodi casus, quos excepturus fuerat ipse legislator, si praesens adesset, aut tales casus praevidisset. ,,24 Aber auch die Fälle der Billigkeit betrachtet Pufendorf im Gegensatz zum Dispens nicht als Außerkraftsetzung der Gesetze. Es geht nicht darum, eine Ausnahme von dem generellen Gebot zuzulassen, Handlungen nach Gesetzen zu beurteilen. Pufendorf sieht in der aequitas eine Abweichung vom Buchstaben des Gesetzes, um seinen Zweck vollständig zur Geltung zu bringen: " ... hanc (d.i. aequitatem) autem etiam inferior judex adhibere non possit tantum, sed & debeat, adeo ut si nudam legis literam secutus fuerit in casu, ubi aequitati locus erat, contra mentem legislatoris fecisse sit censendus."25 Die Frage der Billigkeit stellt sich erst vor dem Richter. Pufendorf denkt nicht daran, daß der einzelne auf diese Weise die Gesetze des Naturrechts aufweichen und sie in Faustregeln verwandeln könnte. Pufendorf versteht damit das Naturrecht als ein System von Gesetzen, die Regelungen hinsichtlich bestimmter Handlungsweisen treffen. Im Hinblick darauf könnte man sein Naturrechtssystem als vollkommen deontologisch bezeichnen. Pufendorfs zentrale Aufgabe besteht aber nun darin zu begründen, worin diese Gesetze bestehen und welche Handlungen sie gebieten oder verbieten: "Postquam igitur conditio hominis non ferebat, ut ille viveret exlex, actionesque suas vago velut impetu, & citra respectum ad aliquam normam ederet; consequens est, ut dispiciamus de communissima actionum humanarum regula, ad quam quilibet homo, ut est animal rationale, sese componere tenetur... Illa lex quid sit, unde innotescat, quo indicio constet, quid ad eandem, aut quid ad positivum jus sit referendum, eo curatius est disquirendum, quod isthoc fundamento non recte posito, quae superstruuntur, ultro ruere sit necessum."26 Nach Pufendorfs Vorstellung 24 O.,lib. I, cap. 11, § 10, S. 16: ,,Die Billigkeit unterscheidet sich erheblich vom Dispens. Sie ist ein Korrektur solcher Fehler des Gesetzes, die sich aus seiner auf Allgemeinheit gerichteten Formulierung ergeben. Man versteht darunter aber auch die rechte Interpretation eines Gesetzes, die Gründe aus der natürlichen Vernunft anführt, um zu zeigen, daß ein spezieller Fall nicht unter das universelle Gesetz fallt, weil es bei der Anwendung des Gesetzes zu einem sinnwidrigen Ergebnis käme. Da wegen der unendlich vielen denkbaren FailgestaItungen nicht alle tatsächlich auftretenden Fälle vorausgesehen und umschrieben werden können, darf der Richter, dessen Aufgabe es ist, die generell gehaltenen Bestimmungen der Gesetze auf den konkreten Fall anzuwenden, das Gesetz in Fällen nicht anwenden, in denen der Gesetzgeber eine Ausnahme machen würde, wenn er die Konstellation vorausgesehen hätte oder wenn er sie selbst zu entscheiden hätte." 25 1.,lib. I, cap. VI, § 17, S. 77: " ... auch ein niederer Richter ist nicht nur befugt, nach der Billigkeit zu entscheiden, er ist vielmehr dazu verpflichtet. Folgt er dem reinen Buchstaben des Gesetzes in einem Fall, in dem die Billigkeit zur Anwendung kommen müßte, handelt er damit entgegen dem Geist des Gesetzgebers." 26 1.,lib. 11, cap. III, § I, S. 122: ,,Da es also die Lebensbedindungen des Menschen nicht erlauben, daß er gesetzlos lebe und seine Handlungen gleichsam nach unbeständigen Trieben und ohne Rücksicht auf irgendeine Richtschnur vornehme, muß die allgemeinste Regel menschlicher Handlungen

1. Relevanz der Handlungsfolgen

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soll die lex naturae fundarnentalis die Funktion der Gesetzesbegründung erfüllen. Sie stellt einen Grundsatz bereit, aus dem sich alle Gesetze des Naturrechts ableiten lassen, und ist deswegen das fundarnentum juris naturae: "Prima cura fuit circa constituendum idoneum fundamentum, seu proposition em fundamentalem, quae videlicet omnia ejusdem praecepta compendio complecteretur & ex qua ista facile & perspicua subsumtione deduci, eamque resolvi possent. .. Haec porro propositio licet eundem in disciplina juris naturalis usum praebat, quem in physicis & astronomicis exhibent hypotheses, eandem tarnen hypothesis proprie dicta non est, ideo quod non duntaxat tanquam vera supponatur, non definitio utrum revera cum natura rerum congruat, an minus; sed ejus veritas & existentia manifestis & certis demonstrationibus utique subnitatur...•