NATO-Strategie und nationale Verteidigungsplanung: Planung und Aufbau der Bundeswehr unter den Bedingungen einer massiven atomaren Vergeltungsstrategie 1952-1960 9783486711899, 9783486579048

Die Reihe "Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland" schließt nahtlos an das vierbän

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German Pages 784 Year 2005

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NATO-Strategie und nationale Verteidigungsplanung: Planung und Aufbau der Bundeswehr unter den Bedingungen einer massiven atomaren Vergeltungsstrategie 1952-1960
 9783486711899, 9783486579048

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Thoß · NATO-Strategie und nationale Verteidigungsplanung

Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland Herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt

Band 1

R. Oldenbourg Verlag München 2006

Bruno Thoß

NATO-Strategie und nationale Verteidigungsplanung Planung und Aufbau der Bundeswehr unter den Bedingungen einer massiven atomaren Vergeltungsstrategie 1952 bis 1960

R. Oldenbourg Verlag München 2006

Umschlagabbildungen: Μ 48 Kampfpanzer (Foto: SKA/IMZ); Erster Atombombentest der USA auf den Marshall-Inseln, Herbst 1952 (Foto: akg-images)

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich

© 2006 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Str. 145, D-81671 München Internet: www.oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Satz: Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam Herstellung: Wuhrmann Druck & Service GmbH, Freiburg

ISBN-13: 978-3-486-57904-8 ISBN-10: 3-486-57904-5

Inhalt Vorwort Einleitung

VII 1

Erster Teil Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags im Rahmen der Vergeltungsstrategie I.

Allianz- und Eigeninteresse: das Prinzip der »forward defense« und das Problem ihrer ökonomischen Realisierung II. Die Nuklearisierung der Bündnisstrategie als Kompromiss zwischen angenommener Bedrohung und finanzierbarer Verteidigung III. Die Implementierung der Vergeltungsstrategie im Bündnis und die Aufbaukrise der Bundeswehr 1955-1957 1. Diskrepanzen zwischen Ν ΑΤΟ-Vorgaben, deutscher operativer Planung und ihren Kritikern 2. Der Zwang zur Anpassung: von der konventionellen Planung zur atomaren Umrüstung der Bundeswehr a. Die Ausgestaltung des deutschen Kontingents im Bündnisrahmen b. Gesamtpolitische Planung und zivil-militärische Führungsstrukturen 3. Der verschleppte Aufbau der Bundeswehr und die Ausdünnung der NATO-Truppen auf deutschem Boden IV. Die Umorientierung im Bündnis auf die Realitäten atomarer Verteidigungsplanung 1. Die Suche nach einer gemeinsamen Luftverteidigung 2. Die Auseinandersetzungen um angemessene konventionelle Streitkräfte 3. Die Formelkompromisse über mögliche Kriegsszenarien

17 39 65 68 108 114 150 173 199 200 207 223

Zweiter Teil Der Aufbau der Bundeswehr unter den Bedingungen einer modifizierten atomaren Abwehrplanung der NATO 1956-1960 I.

Die geostrategische Lage der Bundesrepublik, ihre Flanken und ihr Vorfeld

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VI

1. Deutsch-dänische Dissonanzen und die Verteidigung der Ostseeausgänge 2. Die Sicherung der Südflanke und das Problem der neutralen Nachbarn 3. Der Vorposten Berlin als Testfall für glaubwürdige westliche Verteidigung II. Die Vergeltungsstrategie der NATO und die Atombewaffnung der Bundeswehr im innenpolitischen Meinungsstreit 1. Die nukleare Ausrichtung der Bundeswehrplanung und die NATO-Übung LION NOIR 2. Der öffentliche Kampf um die Atombewaffnung der Bundeswehr III. Möglichkeiten und Grenzen deutscher atomarer Rüstung und Mitbestimmung unter den Bedingungen einer modifizierten Vergeltungsstrategie 1. Der deutsche Einstieg in die Umrüstung und die Entwicklung der atomaren Fragen in der Bündnisverteidigung 2. Führungs- und Infrastrukturprobleme im Atomkrieg 3. Die Stationierung von Atomwaffen auf deutschem Boden und die Ausrüstung der Bundeswehr mit atomaren Trägersystemen 4. Mitbestimmung bei Zielplanung und Einsatz 5. Atomwaffen in deutscher Hand? IV. Die beginnende Flexibilisierung der NATO-Strategie und die deutschen konventionellen Alternativen 1. »Abgestufte Vergeltung« und »begrenzte Kriegführung«: die MC 70 und ihre Folgen 2. Die »Vorwärtsverteidigung« als gemeinsames Bündnisziel 3. Die »Vorwärtsverteidigung« als nationale Verteidigungsaufgabe V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung 1. Das zentrale Ziel: Verteidigungsplanung und Schadensbegrenzung im Atomkrieg 2. Organisatorische und führungstechnische Grundlagen: die Zusammenarbeit von ΝATO-Notstand sorganisation, Territorialverteidigung und Zivilschutz 3. Das Defizit fehlender gesetzlicher Grundlagen und die Suche nach Aushilfen 4. Ungelöste Probleme des Bevölkerungsschutzes: Schutzraumbau, Evakuierungen und Flüchtlingsfrage 5. Die Grenzen nationaler Versorgung im potenziellen Frontstaat Bundesrepublik

Inhalt

259 276 291 331 332 354

371 373 408 432 457 482 513 517 555 583 603 604

620 651 660 691

Schlussbetrachtung

723

Abkürzungen Quellen und Literatur Personenregister

741 747 771

Vorwort Im Jubiläumsjahr 2005 der Bundeswehr eröffnet das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA) mit dem vorliegenden Band seine neue Publikationsreihe »Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland«. Damit wendet sich die Darstellung der Bundeswehrgeschichte dem Aufbau und der Bewährung von Streitkräften im Kalten Krieg, ihrer Einbettung in die Sicherheitspolitik und Verfassungsordnung der zweiten deutschen Republik sowie ihrer Integration in das atlantische Bündnis zu. Die Erforschung der westdeutschen Militärgeschichte nach 1945 geht zurück auf einen Auftrag des damaligen Generalinspekteurs Ulrich de Maiziere an das MGFA vom Oktober 1970, der vorsah, zunächst die Entstehungsgeschichte der Bundeswehr bis zum Allianzbeitritt zu bearbeiten. Schon in dem daraus hervorgegangenen Reihenwerk »Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945 bis 1956« war ganz im Sinne einer modernen umfassenden Militärgeschichte der Untersuchungsrahmen weit gespannt worden. Sicherheit im geteilten Deutschland ließ sich nicht mehr rein national herstellen. Ihren internationalen Rahmen gab vielmehr der alle Bereiche von Politik, Ökonomie, Gesellschaft und Kultur durchdringende Systemkonflikt des Kalten Krieges ab. Vor diesem Hintergrund hätten weder die begrenzten politischen Spielräume der jungen Bundesrepublik, noch ihr verfügbares wirtschaftliches und militärisches Potential zum Aufbau national eigenständiger Streitkräfte ausgereicht. Seit den ersten Überlegungen über einen Verteidigungsbeitrag der Bundesrepublik 1949/50 war dazu vielmehr die feste Bündnisorientierung der eigenen Sicherheitspolitik und ihrer künftigen Streitkräfte vorgesehen. Aber auch der bewusste Neuanfang einer parlamentarischen Demokratie - die anders als ihre Vorgängerin von Weimar bereits seit 1949 etabliert war, bevor ab 1955 der Prozess ihrer Aufrüstung im Rahmen von NATO und WEU einsetzte - ließ keine von ihrem politischen wie gesellschaftlichen Umfeld unabhängige Perspektive herkömmlicher Streitkräftegeschichte mehr zu. Schließlich war seit den ersten Diskussionen darüber für die politische wie militärische Gründergeneration der Bundeswehr unbestritten, dass sich der staatlich-gesellschaftliche Neubeginn der Bundesrepublik mit seinen klaren Abgrenzungen von der unmittelbaren Vergangenheit vor 1945 analog zu den politisch-verfassungsrechtlichen Verhältnissen in einer dezidierten Reformorientierung bis in das innere Gefüge einer künftigen deutschen Armee hinein widerspiegeln musste. Nach dem Jahrzehnt einer deutschen Nachkriegsgeschichte ohne Militär von der völligen Entmilitarisierung bis zur kontrollierten Aufrüstung im Bünd-

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Vorwort

nisrahmen (1945-1955) - gerät nunmehr mit der neuen Buchreihe die Anschlussphase seit dem Bündnisbeitritt und dem davon bestimmten Start in den Streitkräfteaufbau in den Blick. Methodisch bleiben auch für dieses Folgeprojekt die prägenden Herausforderungen einer international wie interdisziplinär gleichermaßen auszugestaltenden Forschung konstitutiv. Mit dem durch NATO und WEU kontrollierten Aufwuchs der Bundeswehr und ihrer Integration in eine übernationale Allianz wie in Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik verändern sich dafür aber die Perspektiven in mehrfacher Hinsicht. Im Mittelpunkt stehen jetzt nicht mehr die grundsätzliche Frage nach der Notwendigkeit eines Verteidigungsbeitrags der Bundesrepublik und dessen generelle Ausgestaltung, sondern die Konkretisierung der Bündnisvorgaben und ihre nationale Umsetzung im Streitkräfteaufbau. Daneben erweitern sich in dem Maße, wie die Bundeswehr wächst, die sicherheits- und allianzpolitischen Spielräume für eine angemessene Sicherheitsbefriedigung und Gleichberechtigung der Bundesrepublik im Bündnis. Als Voraussetzung für den Aufbau neuer deutscher Streitkräfte nimmt zudem eine Wehrverfassung Gestalt an, auf deren Grundlage die Bundeswehr Zug um Zug in die grundgesetzliche Ordnung einer parlamentarischen Staats- und einer pluralistischen Gesellschaftsverfassung eingebunden wird. Die enge Verzahnung von politischem System und militärischem Teilbereich wirkt schließlich auf alle Aspekte des Innenlebens der Streitkräfte ein. Parlamentarische Kontrolle, haushaltsrechtliche Anbindung, rüstungswirtschaftliche Vernetzung, öffentliche Wahrnehmung und innermilitärische Ordnung sind von daher nur im engen Konnex von Militärgeschichte mit der Politik-, Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte, aber auch in Auseinandersetzung mit analogen Themenkomplexen der Sozialwissenschaften angemessen zu beschreiben. In diesem Sinne wird sich die neue Publikationsreihe der ganzen Bandbreite von Themen öffnen, die von den internationalen Rahmenbedingungen des Kalten Krieges und den allianzstrategischen Vorgaben über das Wechselverhältnis von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Militär in der Bundesrepublik bis zum Aufbau und zur Konsolidierung der Bundeswehr und ihren Teilstreitkräften im Rahmen eben dieser politisch-gesellschaftlichen Ordnung reichen. An den Anfang ist bewusst eine Studie über das Zusammenspiel von bündnisstrategischen Vorgaben und nationaler Verteidigungsplanung gesetzt. Damit soll schon bei der strategischen Einordnung von Sicherheitspolitik und Streitkräften der Bundesrepublik am vermeintlich klassischen militärgeschichtlichen Sujet wesentlichen Grundvorgaben für das gesamte Projekt Rechnung getragen werden: dass sich nationale Sicherheit nur noch im übernationalen Rahmen verwirklichen lässt; dass militärische Planung vor dem Hintergrund eines antagonistischen Systemkonflikts wie des Kalten Krieges mit seinen totalen Bedrohungsperzeptionen nicht mehr mit den herkömmlichen Mittel reiner Militärstrategie zu betreiben ist; dass schließlich solches Denken in den Kategorien potentiell totaler Kriegführung weit auf das ökonomische und gesamtgesellschaftliche Umfeld ausstrahlt. Unmittelbar daran werden sich die Folgebände über den Aufbau von Heer, Luftwaffe und Marine mit ihrer Umsetzung von gesamtstrategischen Vorgaben

Vorwort

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in den Aufwuchs nationaler Teilstreitkräfte anschließen. Erst auf diesen Ebenen der faktischen Realisierung des Bundeswehraufbaus nehmen politische und strategische Grundvoraussetzungen letztlich konkrete militärische Gestalt an. Gerade aus der Aufbau- und Konsolidierungsphase der aufwachsenden Streitkräfte nicht wegzudenken sind daneben die Aspekte des reformorientierten innermilitärischen Neubeginns, der materiellen Rahmenbedingungen und der öffentlichen wie parlamentarischen Kontrolle. Dazu können in stetiger Folge Studien über das Konzept des Staatsbürgers in Uniform« und seiner Umsetzung in den Leitvorstellungen der >Inneren Führung«, über die Wechselwirkung zwischen Streitkräften und politisch-gesellschaftlichem Umfeld am Beispiel der Planung und Verwirklichung eines breit gefächerten militärischen Infrastrukturprogramms wie über die Festigung des Prinzips parlamentarischer Kontrolle durch die neu geschaffene Institution eines Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages vorgestellt werden. Gerade mit dieser umfassenden Einbindung in die internationalen, innerstaatlichen und innergesellschaftlichen Voraussetzungen militärischen Planens und Handelns zeigt das MGFA an seinem neuen Forschungsprojekt, wie unverzichtbar seine militärgeschichtliche Analyse der deutschen Sicherheitspolitik und ihrer Streitkräfte für das Verständnis der westlichen Allianz und ihres Mitglieds Bundesrepublik im Kalten Krieg ist. Diese breite Anlage bestimmt auch die Planung für bereits laufende und noch einzuleitende Anschlussstudien, für die das MGFA schon jetzt eine Öffnung der Reihe in Richtung auf thematisch wie qualitativ dazu passende externe Arbeiten ins Auge gefasst hat. Begleitet wird die Reihe schließlich inhaltlich durch eine integrationsgeschichtlich angelegte parallele Reihe zu »Entstehung und Probleme des Nordatlantischen Bündnisses bis 1956« (Oldenbourg Verlag) sowie eine Edition der gewichtigen Quellengruppe »Protokolle des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages« (Droste Verlag). Mein Dank für das Zustandekommen der Veröffentlichung gilt vor allem dem Autor, Leitender Wissenschaftlicher Direktor Dr. Bruno Thoß, dem langjährigen Leiter des Forschungsprojektes »Militärgeschichte der Bundesrepublik Deutschland im Bündnis«, für seine außerordentliche Forschungsleistung. Die Schriftleitung des MGFA unter Dr. Arnim Lang übernahm mit Dr. Aleksandar-S. Vuletic (Koordination), Carola Klinke (Textgestaltung), Bernd Nogli/Sabrina Gherscfeld (grafische Beigaben), Marina Sandig (Bildrecherche) und Maurice Woynoski (Coverentwurf) im Zusammenwirken mit dem Lektor Oberst a.D. Dr. Roland G. Foerster (Kenzingen) die Betreuung des Werkes bis zur Druckreife. Ihnen allen sowie Herrn Christian Kreuzer M.A. und dem Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München, gilt mein aufrichtiger Dank für die gute Zusammenarbeit bei der Realisierung dieses ersten Bandes der neuen Reihe »Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland«.

Dr. Hans Ehlert Oberst und Amtschef des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes

Einleitung

An Stelle einer Regierungserklärung ließ Bundeskanzler Konrad Adenauer nach Hinterlegung der Vertragsdokumente über den Beitritt der Bundesrepublik zu NATO und WEU am 5. Mai 1955 im Parlament nur einen kurzen Brief durch den Bundestagspräsidenten verlesen. Seine Quintessenz lag in dem Satz: »Die Bundesrepublik Deutschland ist souverän1.« Im Herbst 1954, unmittelbar nach Abschluss der Londoner Konferenz über einen Bündnisbeitritt, war der Kanzler vor dem Bundesvorstand seiner Partei sogar noch einen wesentlichen Schritt weiter gegangen, wenn er schon beinahe triumphierend prognostiziert hatte: »Wir können dann mit Fug und Recht sagen, daß wir wieder eine Großmacht geworden sind2.« Die Wiederholung solcher und ähnlicher Aussagen aus seinem Munde sind Legion. Sie häuften sich immer dann, wenn trotz deutscher Allianzmitgliedschaft erkennbar wurde, wie weit solche Erwartungen auf internationaler Ebene noch von den Realitäten abwichen. Bei genauerem Hinsehen zeigten nämlich die vertraglichen Abmachungen selbst wie der faktische Standort Bonns in und außerhalb der westlichen Allianz auch in der Folgezeit, dass man zwar im Vergleich zu den unmittelbaren Gründerjahren der zweiten deutschen Republik wieder ein wesentliches Stück vorangekommen war, de facto aber als Partner im Bündnis noch längst nicht auf gleicher Ebene zu agieren vermochte wie die zum Vergleich dazu immer herangezogenen Briten und Franzosen. Um dem über eigenes militärisches Potential so rasch wie möglich näher zu kommen, hatte Adenauer deshalb schon kurz nach Unterzeichnung der Pariser Verträge in aller Öffentlichkeit vollmundig angekündigt: »Die Aufstellung der vorgesehenen deutschen Divisionen wird etwa zweieinhalb Jahre in Anspruch nehmen3.« Die Bedeutung schnell vorzeigbarer Aufrüstungserfolge nahm für ihn in dem Maße zu, wie er sich im Sommer 1955 bei den Vorbereitungen auf den ersten Ost-West-Gipfel seit Kriegsende mit Überlegungen über ein Disengagement in Mitteleuropa konfrontiert sah. Dahinter begannen für ihn nämlich bereits erste Gefahren hinsichtlich des Gewichts eines künftigen deutschen Bündnisbeitrags heraufzuziehen, noch bevor dieser überhaupt wirksam geworden war. Wollte man also sicherheitspolitisch nicht zum reinen Handelsobjekt 1

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Adenauer an Gerstenmaier, 5.5.1955, abgedr. in: KAG 1955, S. 5146A, Abschnitt 6; vgl. zu dem Vorgang auch AWS, Bd 3, S. 131 (Beitrag Thoß). Rede vor dem CDU-Bundesvorstand, 11.10.1954, Adenauer: Wir haben wirklich etwas geschaffen, S. 258. Bulletin Nr. 203, 27.10.1954, S. 1806.

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Einleitung

einer Verständigung der Supermächte über den Kopf der Deutschen hinweg werden, dann war die rasche und vollständige Umsetzung der eigenen militärischen Verpflichtungen im westlichen Lager aus Sicht des Kanzlers unabdingbare Voraussetzung für sein Kernziel einer gleichberechtigten Partnerschaft im Bündnis4. Von daher rührte auch sein erklärtes persönliches Engagement für eine Beschleunigung der Aufrüstung, mit dem er Ende Mai 1955 neben anderem die Abgabe des bisher in Personalunion wahrgenommenen Außenministeriums an Heinrich von Brentano begründete5. Aus innenpolitischen wie wahltaktischen Gründen würde er die Bundeswehrführung in den folgenden Jahren freilich dann doch nicht annähernd mit der Kanzlerautorität unterstützen, die diese zu Bewältigung der Aufbaukrise neuer deutscher Streitkräfte benötigt hätte6. Die vorrangige Zielrichtung Adenauerscher Sicherheitspolitik als Mittel zur völkerrechtlichen Souveränitätserweiterung und zum internationalen Statusgewinn darf allerdings sein damit ebenfalls eng verbundenes Verteidigungsinteresse für den Frontstaat Bundesrepublik nicht übersehen lassen. Der Bundeskanzler hatte schon 1953/54 sehr frühzeitige und durchaus treffsichere Hinweise auf die in Washington und bei der NATO eingeleitete Nuklearisierung der Bündnisstrategie erhalten. Sie drohte gerade das vorgeschobene Westdeutschland zum atomaren Schlachtfeld zu machen, da man anders seitens des Westens die ausgemachte Streitkräftelücke zum Ostblock nicht ausgleichen zu können glaubte. Deshalb stand Adenauer mit seinen in eine westdeutsche Aufrüstung gesetzten Hoffnungen sehr nahe an den militärischen Einschätzungen und Forderungen seines künftigen ersten Soldaten Adolf Heusinger, dass sich gerade über einen angemessenen deutschen Streitkräftebeitrag die einseitige Abhängigkeit der Allianz von Atomwaffen reduzieren ließe. In der ihm eigenen schlichten Beweisführung in militärischen Dingen brachte er den erwarteten Zugewinn an nationaler Sicherheit aus dem Aufbau eigener Streitkräfte noch während der Ratifizierungsdebatten um die Pariser Verträge im Frühjahr 1955 auf den Punkt: »Solange wir nicht zur NATO gehören, sind wir im Falle eines heißen Krieges zwischen Sowjetrußland und den Vereinigten Staaten das europäische Schlachtfeld [...] und wenn wir in der Atlantikpaktorganisation sind, darin sind wir dieses Schlachtfeld nicht mehr7.« Nationale Sicherheitsbefriedigung, so die einvernehmliche Grundannahme der Bonner Sicherheitspolitik zwischen dem Kanzler und seinen militärischen Beratern, war für die Bundesrepublik unter den Bedingungen des Kalten Krieges nicht mehr erreichbar, ja

Adenauer in der Kabinettssitzung, 2.6., sowie vor dem CDU-Bundesvorstand, 3.6.1955, Kabinettsprotokolle 8, S. 331 bzw. Adenauer: Wir haben wirklich etwas geschaffen, S. 500 f. Brief an Bundespräsident Heuss, 22.5.1955, Heuss/Adenauer, Unserem Vaterland zugute, S. 180-184. Vgl. dazu durchgängig den Beitrag von Christian Greiner in: AWS, Bd 3, hier insbes. S. 563-569 und 658-706. Adenauer in der Sitzung vom 25.2.1955, Verhandlungen Bundestag, 2. Wahlperiode, Bd 23, S. 3736.

Einleitung

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nicht einmal mehr sinnvollerweise anstrebenswert. Eigenes Kerninteresse musste es darin aber sein, eine kriegerische Auseinandersetzung mit ihren verheerenden Folgen für die Bevölkerung und das Territorium des eigenen Landes entweder durch eine lückenlose Abschreckung ganz zu verhindern oder im Falle ihres Scheiterns wenigstens die zu erwartenden Schadenswirkungen durch eine Verteidigung einzugrenzen, die unmittelbar an den Ostgrenzen der Bundesrepublik aufgenommen und nicht erst in ihrem Binnenraum geführt wurde. Für den Fall eines nicht zu vermeidenden militärischen Konflikts schufen die atomare Revolutionierung der Kriegsmittel und die notwendige Koordination regionaler mit globalen Interessen zwischen den kontinentaleuropäischen und den angelsächsischen Bündnispartnern freilich einige unverzichtbare Grundvoraussetzungen. Es musste eine Bündnisstrategie konsensfähig gehalten werden, in der kontinentales strategisches Denken mit dem der angelsächsischen See- und Luftmächte vereinbar blieb. Um die westlichen Verteidigungspläne aber auch finanzieren zu können, war außerdem innerhalb der Allianz eine Lastenteilung vorzunehmen, die den ökonomischen Möglichkeiten der einzelnen Partnerstaaten entsprach. Andererseits hatten die Sowjetunion und ansatzweise auch bereits ihre Satellitenstaaten seit 1948 die konventionelle Aufrüstung in einem Maße vorangetrieben, dass die Westeuropäer schnell an finanzielle Grenzen und damit zugleich an innenpolitische Akzeptanzprobleme stießen, wenn sie sich, wie mit ihrem Aufrüstungsprogramm vom Frühjahr 1952 in Lissabon geschehen, auf ein Aufholrennen bei herkömmlichen Streitkräften einlassen wollten. Von daher mussten Überlegungen an Attraktivität gewinnen, die sich auf das Feld der vermeintlich »billigeren« atomaren Gefechtsfeldwaffen konzentrierten, für die seit den frühen fünfziger Jahren in den USA die technologischen Voraussetzungen in Form von miniaturisierten Kernwaffen (Projekt Vista)8 vorlagen. Die Frage war bei solcher auf taktische Atomwaffen abgestützten Verteidigungsplanung allerdings, wie sich bei einem Scheitern der Abschreckung die dann verbleibenden Verteidigungsoptionen noch unterhalb der atomaren Schwelle halten ließen. Eine Verteidigungsführung unter voller Einbeziehung atomarer Feuerkraft hob im Übrigen, wie bereits ansatzweise in den beiden Weltkriegen erfahren, endgültig die Trennlinie zwischen Front und Heimat auf. In Westeuropa als dem unmittelbaren Anrainer des Ostblocks wurde dieses Dilemma von Verteidigung auf Kosten nicht hinnehmbarer Schäden schon bald nach der Entscheidung von 1954 über eine Nuklearisierung der Allianzstrategie wahrgenommen, während man sich in den USA zumindest bis zur Bedrohung des eigenen Raumes durch atomare Fernraketen (Sputnik-Schock) noch der Hoffnung relativer Unverletzlichkeit hingeben mochte. Militärische Gefechtsführung, verbunden mit der Notwendigkeit zu einer Zivilverteidigung der personellen wie materiellen Ressourcen mit ihrer Kernforderung nach einem wirkungsvollen Bevölkerungsschutz, bil-

Dazu insgesamt: Elliott, Project Vista.

Einleitung

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deten somit unter den Herausforderungen eines möglichen Atomkrieges letztlich eine Einheit. Verteidigungsplanung der Bundesrepublik im Rahmen der gültigen NATOStrategie, das zeigen schon diese wenigen Hinweise auf so substantiell veränderte Voraussetzungen für Sicherheit unter den Bedingungen eines derart radikalisierten Kriegsbildes und eines umfassenden Systemkonflikts zwischen Ost und West, ist mithin nicht mehr mit den eingeschränkten Fragestellungen reiner Militärstrategie zu erfassen. Ansätze zu solchem Denken in Teilen der militärischen Stäbe auf dem westeuropäischen Kontinent bis weit in die Nachkriegszeit hinein waren im Übrigen auch unvereinbar mit den weit darüber hinausreichenden Folgerungen, die man bei Amerikanern und Briten schon aus den Realitäten der beiden Weltkriegen gezogen und auf den Begriff einer jetzt erforderlichen >Grand Strategy< mit ihrer engen Verzahnung von Politik, Ökonomie und Kriegführung gebracht hatte. Einer ihrer Analytiker, der britische Historiker und Strategieforscher Sir Michael Howard, hat dafür eine Formel verwandt, die mittlerweile zu den klassischen Definitionen zu zählen ist: »Grand strategy [...] consisted basically in the mobilization and development of national resources of wealth, manpower and industrial capacity, together with the enlistment of those allied and, when feasible, of neutral powers for the purpose of achieving the goal of national policy in wartime 9 .« Weiterführend für die westdeutsche Verteidigungsplanung im NATO-Rahmen unter den Bedingungen einer massiven Vergeltungsstrategie sind daraus vor allem zwei methodische Ansätze: die Großräumigkeit, mit der darin nationale mit Allianzplanung verknüpft wird, und die innerstaatliche wie allianzstrategische Ausweitung rein militärischer Planung auf alle Ressourcen und Handlungsfelder im Einzugsbereich totaler Kriegführung. Als Beitrag zu einer modernen Strategiegeschichte wird deshalb auch in der vorliegenden Studie ganz im Sinne eines für die NATO konstitutiven Denkens in den Kategorien von >Grand Strategy< westdeutsche Verteidigungsplanung auf allen Ebenen in die politischen, ökonomischen und militärischen Vorgaben des Bündnisses wie seines westdeutschen Partnerstaates eingebettet. Da die Bundesrepublik 1955 als Nachzügler in einen bereits seit 1949 laufenden Strategiediskurs innerhalb der NATO eintrat, bei dem zu diesem Zeitpunkt schon die Grundentscheidung für eine durchgängige Abstützung der Verteidigungsplanung auf Atomwaffen gefallen war, sind zunächst einmal die zu diesem Zeitpunkt festliegenden Grundmuster aus der Allianzplanung nachzuzeichnen, die sich der deutschen politischen und militärischen Führung allerdings erst in einem nachholenden Lernprozess in ihrer vollen Konsequenz erschließen sollten. Mit dem Sicherheitsinteresse des neuen Allianzmitglieds in seiner unmittelbaren Randlage zum Warschauer Pakt voll vereinbar war dabei die zentrale Schlussfolgerung der NATO, die sie aus der Veränderung des Kriegsbildes unter nuklearen Bedingungen und aus den Bedrohungsannahmen über den Gegner gezogen hatte. Die Wahrnehmung der Sowjetunion als eines weltpolitiHistory of the Second World War, vol. 4, S. 1.

Einleitung

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sehen Kontrahenten, der im Gegensatz zu den soeben besiegten faschistischen Staaten in berechenbaren sicherheitspolitischen Kategorien dachte und handelte, vor allem aber die jederzeitige Gefahr einer atomaren Eskalation herkömmlicher Konflikte in Europa als dem eigentlichen Kernraum des Systemkonflikts zwischen Ost und West, hatten in der westlichen Allianz zu einer eindeutigen Gewichtsverschiebung im militärischen Planen geführt. Vorrang genoss von nun an Kriegsverhinderung durch Abschreckung, freilich immer verknüpft mit dem Bewusstsein, dass man im Falle eines Scheiterns der Abschreckung auch zur Kriegführung befähigt bleiben musste. Ohne dass dies den deutschen Militärplanern so von vornherein bewusst war, relativierte sich von daher natürlich durchgängig für den gesamten Zeitraum einer massiven Vergeltungsstrategie das militärische Gewicht der Bundesrepublik und ihrer aufwachsenden Streitkräfte als nichtatomares Allianzmitglied. Von entscheidender Bedeutung für das deutsche Verteidigungsinteresse war es andererseits, dass sich die NATO um ihres inneren Zusammenhaltes willen seit ihrer Gründung am Prinzip der >forward defensehinreichender< anstelle von >überlegener< Rüstung (sufficiency statt superiority) übernahmen, die bereits in den fünfziger Jahren im britischen Strategiediskurs kreiert worden waren, stand die NATO mithin zwar deklaratorisch weiterhin unter der Zielsetzung, perzipierte Bedrohung auf allen Ebenen mit angemessenen militärischen Mitteln zu beantworten. Über die Angemessenheit davon abgeleiteter militärischer Forderungen befanden aber an bevorzugter Stelle die nationalen Finanzminister mit. Innenpolitische und wahltaktische Rücksichtnahmen taten ein Übriges, um Rüstungsprogramme in aller Regel an der Untergrenze des von militärischer Seite noch für verantwortbar Gehaltenen anzusiedeln. Beim neuen deutschen Bündnispartner würde man dies in mehrfacher Weise zu spüren bekommen: Als Forderung nach Devisenausgleich für die Stationierungstruppen auf deutschem Boden, verbunden mit der gleichzeitigen Erwartung nach zügiger Erfüllung der eigenen Aufrüstungs-

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Einleitung

versprechen und parallel dazu einer teils schleichenden, teils offenen Ausdünnung eben der Bündniskontingente der Partnerstaaten, die von der militärischen Führung der NATO eigentlich als absolutes Minimum für eine funktionierende Vorneverteidigung angesehen wurden. Bei aller Betonung Mitteleuropas als der Hauptfront im Falle einer militärischen Auseinandersetzung um den alten Kontinent im NATO-Hauptcjuartier wie vor allem natürlich auf der Bonner Hardthöhe relativierte sich im Übrigen für die Führungsmächte mit ihren außereuropäischen Interessen das Gewicht Westeuropas bei näherem Hinsehen doch nicht unerheblich. Im westlichen Containment-Gürtel rund um den sino-sowjetischen Block nahm die NATO wohl einen herausgehobenen Platz ein, war und blieb aber eben nur eines unter mehreren Paktsystemen vom Vorderen Orient bis Ostasien. Eine historische Analyse der westlichen Sicherheitsziele in den fünfziger Jahren kann sich von daher nicht allein auf die potenzielle Hauptkampfzone zwischen Nordsee und Alpen beschränken, wie dies naturgemäß im Zentrum deutscher militärischer Annahmen lag. Auf einer vertikalen Stufenleiter ist vielmehr zu analysieren, wie sich im Schaukelspiel zwischen abflauender (1953-1957) und sich erneut aufladender Spannung (1958-1962) die nationalen Sicherheitsinteressen des Frontstaates Bundesrepublik zu den Zielen westlicher Sicherheitspolitik insgesamt verhielten. Die globalen Interessen und Verbindlichkeiten der USA, Großbritanniens und Frankreichs sind darin ebenso einzubinden wie die über die engere mitteleuropäische Spannungszone hinausreichenden regionalen Sicherheitsbelange der übrigen NATO-Partner. Ging man nämlich in den westlichen Bedrohungsannahmen von einem in der kommunistischen Ideologie angelegten Streben nach weltweiter Ausbreitung der östlichen Systemvorstellungen und Herrschaftsformen aus - und dies taten die NATO-Planer im politischen wie militärischen Bereich zu diesem Zeitpunkt noch durchgängig -, dann musste man sich im umfassenden Systemwettstreit darauf einlassen, solcher Herausforderung an den unterschiedlichsten Gefahrenpunkten und mit den dafür jeweils angemessenen Mitteln zu begegnen. Die globalen Dimensionen des Kalten Krieges, die ihm militärtechnisch immanenten Eskalationsgefahren herkömmlicher Konflikte zu nicht mehr eingrenzbarer atomarer Kriegführung und sein Charakter als ein alle politischgesellschaftlichen Bereiche einbeziehender Systemkonflikt schließen mithin nicht nur jede nationalgeschichtliche Verengung in der Analyse deutscher Verteidigungsplanung unter den Bedingungen der >massive retaliation aus. All dies zwingt auch zu einer methodischen Vorgehensweise, die sich zumindest ansatzweise an eine ganzheitliche Perspektive annähert, selbst wenn der Verfasser die Skepsis hinsichtlich einer modernen Militärgeschichte als »Totalgeschichte« teilt10, die im betrachteten Zeitraum allein schon von den verfügbaren Quellen her nicht zu leisten wäre. So wird auf der Bündnisebene zu zeigen sein, wie sich eine nuklearisierte Allianzstrategie aus dem Rahmen herkömmlicher 10

Vgl. dazu die gegensätzlichen Standpunkte von Roger Chickering und Dieter Langewiesche, in: W a s ist Militärgeschichte?, S. 3 0 1 - 3 1 2 und 3 2 3 - 3 2 7 .

Einleitung

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militärischer Planung löste und schließlich nicht nur den gesamten Bündnisraum, sondern auch alle politischen wie ökonomischen Einzelfelder innerhalb der Allianz wie bei ihren Mitgliedstaaten als eine Planungseinheit in ihre militärstrategischen Annahmen einbezog. Daraus resultierte für die Bundesrepublik mit ihrer vom Bündnis gewollten und von den Deutschen akzeptierten strikten Einbettung in die Allianzvorgaben seit dem Sommer 1955 eine schnell in alle Politikbereiche ausgreifende Verteidigungsplanung, die bei voller Umsetzung das politische System und die westdeutsche Gesellschaft schon im Frieden in den Dauerschatten potenziell totaler Kriegsplanung zu stellen drohte. Dabei stieß die volle Umsetzung der operativen Forderungen aus dem Bündnis wie der nationalen Überlegungen zur Schadensbegrenzung in der Bundesrepublik nicht nur schnell an ökonomische Grenzen. Auch die seit den Besatzungsjahren schrittweise etablierte politisch-parlamentarischer Ordnung mit ihrer pluralistisch verfassten Gesellschaft sperrte sich gegen eine daraus drohende schleichende Militarisierung, selbst wenn die Bundesregierung spätestens seit dem atomaren NATO-Luftmanöver CARTE BLANCHE vom Sommer 1955 nicht mehr um die Einsicht in eine wesentlich nuklear ausgerichtete Allianzplanung herumkam. Nahm man aber mit dem Allianzbeitritt die Herausforderungen aus einer so weitgehenden Hereinnahme externer Bündnisvorgaben in die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Binnenräume der Bundesrepublik hin, dann musste man solche umfassende Verteidigungsplanung zugleich kompatibel machen mit den Gegebenheiten eines föderalistisch ausgerichteten Staatswesens. Ein ausdifferenziertes System zur zivilen Landesverteidigung, das für die Sicherstellung der Gefechtsführung von NATO-Verbänden ebenso unverzichtbar war wie für die innerstaatliche Schadensbegrenzung auf dem westdeutschen Gefechtsfeld, das eben deshalb aber auch unter angemessener nationaler Interessenwahrung mit den Strukturen der Bündnisverteidigung koordiniert werden musste, bedurfte einer hochkomplexen Abstimmung von Bundes-, Länder- und Kommunalkompetenzen mit den operativen Absichten des Bündnisses auf deutschem Boden. Beim Bevölkerungsschutz und der ökonomischen Vorsorge für den Verteidigungsfall gestalteten sich die Dinge sogar noch komplizierter, da hier die Koordination zwischen staatlicher und nichtstaatlicher Ebene im Verbändestaat Bundesrepublik gesucht werden musste. Das Prinzip der Freiwilligkeit in den Schutz- und Wohlfahrtsverbänden rieb sich nämlich ebenso heftig an den Notwendigkeiten gesamtstaatlich wie bündnismäßig regulierter Schadensbekämpfung im Einsatzfalle, wie sich unter den Bedingungen einer liberalen Wirtschaftsordnung staatlich geplante Kriegsvorsorge und privatwirtschaftliche Marktorientierung nur schwer zur Deckung bringen ließen. In dem Maße, wie das der Bündnisverteidigung zugrunde liegende Kriegsbild mit seinen Folgen für Bevölkerung und Infrastruktur der Bundesrepublik in die Öffentlichkeit drang, waren schließlich auch die psychologischen Rückwirkungen einer massiven Vergeltungsstrategie mit ihren Selbstabschreckungseffekten ins sicherheitspolitische Kalkül einzubeziehen. Verteidigungsbereitschaft, wie sie von der Bundesregierung gefordert und mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit auf-

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rechtzuerhalten versucht wurde, hatte sich dazu innerhalb einer weitgehend unabhängigen Medienlandschaft zu behaupten, deren Organe sich in gewichtigen Teilen näher an der verbreiteten öffentlichen Skepsis orientierten und daher kaum für eine unterstützende Befürwortung von Landesverteidigung heranzuziehen waren. Dass vor allem die Vorbehalte gegen die mit atomarer Kriegführung verbundenen Risiken im Übrigen selbst vor dem Führerkorps der neuen Streitkräften nicht Halt machten, erschwerte es den politischen wie militärischen Verantwortlichen zusätzlich, den notwendigen vollen Rückhalt für eine Verteidigungsplanung unter nuklearen Voraussetzungen zu finden. Will man dieser Komplexität von Verteidigungsplanung im Bündnisrahmen und unter den Systembedingungen der Bundesrepublik gerecht werden, ragen einige Untersuchungsfelder in ihrem jeweiligen Eigengewicht wie in ihren Wechselbeziehungen zueinander besonders heraus. Da steht an erster Stelle das Spannungsfeld zwischen einer vorrangig an Kriegsverhinderung orientierten Bündnisstrategie im Sinne nuklearer Abschreckung einerseits und den Vorbereitungen auf eine dennoch mögliche Kriegführung unter voller Einbeziehung von Atomwaffen im Falle ihres Scheiterns andererseits. Die Logik einer wesentlich nuklear ausgerichteten Bündnisstrategie und die Verfügungsgewalt über die dazu erforderlichen Kriegsmittel führten dabei zu einer zweigeteilten Strategiedebatte im Bündnis. Ihre Grundlinien wurden in dem Dreieck der Joint Chiefs of Staff in Washington (JCS), des Committee of the British Chiefs of Staff in London (BCOS) sowie der Standing Group (SG) der NATO in Abstimmung mit dem Supreme Headquarters Allied Forces Europe (SHAPE) präfixiert. Auf der Bündnisebene wurden sie anschließend auf der Grundlage der vorhandenen militärischen Potenziale in regional konkretisierte Verteidigungspläne (Emergency Defense Plans, EDP) umgesetzt. Aus diesen militärstrategischen Planungen innerhalb der NATO als einvernehmlich getroffenen Allianzvorgaben leiteten sich dann die Rahmenbedingungen für den nationalen Streitkräfteaufbau ab. Im Unterschied zu den zunächst angesteuerten supranationalen Bündnisstrukturen innerhalb einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) ließ der Atlantikpakt als eine nur teilintegrierte Militärallianz herkömmlicher Provenienz andererseits wesentlich größere Spielräume zur Vertretung nationaler Eigeninteressen zu. Bei einer prinzipiell allianzkonformen Grundhaltung der Bundesrepublik wird daher beim westdeutschen Streitkräfteaufbau auch den nationalen Sicherheitsinteressen des neuen Partners und den Versuchen zu ihrer Umsetzung im Rahmen von NATO und WEU nachzugehen sein. Auf der innerstaatlichen Ebene wird schließlich die Balance herauszuarbeiten sein, mit der unter den Systembedingungen von Parlamentarismus und Föderalismus versucht werden musste, die Forderungen aus den übernationalen NATO-Instanzen wie aus der eigenen militärischen Führung nach einer effizienten militärischen Planung mit den finanziellen und innenpolitischen Möglichkeiten der zweiten deutschen Republik in Einklang zu halten. Eingegrenzt war dabei ein offener demokratischer Disput über ein so existenzielles Feld wie die Verteidigungsplanung freilich durchgängig durch die Wirkungsmechanismen militärischer Geheimhaltung, verbunden mit dem Bestreben der

Einleitung

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Verantwortlichen für psychologische Verteidigung im Kalten Krieg, die an sich schon verbreiteten Vorbehalte in der westdeutschen Gesellschaft gegen militärische Fragen nicht in eine einseitige Selbstabschreckung zu Lasten der offenen und zugunsten der geschlossenen Gesellschaften in den sozialistischen Ländern ausschlagen zu lassen. Das Wirkungsgeflecht zwischen Allianzstrategie, innerstaatlicher Meinungsbildung und militärischem Neuaufbau von Streitkräften wird dazu an einigen zentralen Leitfragen nachgezeichnet. Anhand der Ausgangssituation, die der deutsche Neuling bei seinem Bündnisbeitritt 1955 vorfand, lassen sich deutsches Verteidigungsinteresse und die davon bestimmten Vorüberlegungen im Amt Blank an den Realitäten der erreichten Allianzplanung abmessen. Daraus erschließen sich in der Phase der Implementierung der massiven Vergeltung (1954-1957) die Diskrepanzen zwischen einem zunächst konventionell angedachten deutschen Streitkräftezuschnitt und den schnell erkennbaren Notwendigkeiten zur atomaren Umrüstung als einem der Gründe für die von der Forschung konstatierte so genannte Aufbaukrise der Bundeswehr (1955/56)11. Begleitet wurde diese Nuklearisierung der Bündnisstrategie freilich von frühzeitigen Annahmen über ein ab Anfang der sechziger Jahre zu erwartendes >atomares Patt< zwischen den Supermächten, dessen Heraufziehen in Westeuropa spätestens mit den Weltraumerfolgen der Sowjetunion von 1957 voll realisiert wurde und zu einer nie mehr gänzlich überwundenen Vertrauenskrise im Bündnis über die Glaubwürdigkeit atomarer Zusagen der USA an die NATO führte. Noch vor der ab 1961 von der Kennedy-Administration angesteuerten Strategiereform von der >massive retaliation zur >flexible response< machte dies bereits zwischen 1957 und 1960 erste Modifizierungen in der reinen Vergeltungsstrategie erforderlich, die sich in der Bundeswehrführung wie in den Führungsstäben der anderen Partnerstaaten auch in einem innermilitärischen Disput zwischen den Teilstreitkräften über ihre Rolle in der Gesamtverteidigung niederschlugen. Beim Aufbau der Bundeswehr trat dies vor allem bei den charakteristischen Ungleichgewichten im Aufbau von Heer, Luftwaffe und Marine zutage. Trotz gemeinsamer Ausrichtung an der von der NATO mit ihren Grundsatzdokumenten MC 14/2 und MC 48/2 im Mai 1957 für verbindlich erklärten Abstützung der eigenen Abwehrplanung für Mitteleuropa auf taktische Atomwaffen setzte allein die Luftwaffe in Einsatzdoktrin, Ausbildung und Ausrüstung voll auf die nukleare Karte. Der Führungsstab der Bundeswehr bevorzugte dagegen mit Unterstützung der Heeres- und Marineführung eine mehroptionale Streitkräfteplanung, die bei aller anteiligen Ausstattung mit atomaren Trägersystemen im Kern von einer Anpassung der eigenen Kriegserfahrungen an der Ostfront und im Seekrieg des Zweiten Weltkrieges an die Herausforderungen im Kalten Krieg abgeleitet war. Dabei konzentriert sich die vorliegende Studie auf die Ebene der Gesamtverteidigung, während die Konkretisierung der Verteidigungspläne, des Streitkräftezuschnitts und der Bewaffnung den Untersuchungen über den Aufbau der Teilstreitkräfte als der 11

Vgl. dazu eingehend AWS, Bd 3, S. 561-850 (Beitrag Greiner).

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Einleitung

eigentlichen Umsetzungsebene zugeordnet bleibt12. Die infrastrukturelle Ausgestaltung des Bundeswehraufbaus und die personelle Rüstung unter den Leitvorstellungen eines neuen Führungsverständnisses (>Innere Führungmassive retaliation bis zu ihrer schrittweisen Umformung zur >flexible responseAtombewaffnung< der Bundeswehr lagen, wird wesentlich auf den Feldern der Ausstattung mit Trägersystemen, der Auslagerung von Kernwaffen und ihrer Integration in den Rahmen herkömmlicher Einsatzplanung zu überprüfen sein. Entscheidend für deutsche Interessenwahrung im Bündnisrahmen und unter den Bedingungen einer im Kern atomar ausgerichteten Allianzstrategie erscheinen dabei zwei eng miteinander vernetzte Problemfelder: das deutsche Drängen auf ein frühzeitiges Vorschieben der Verteidigungslinien nach Osten an die Grenzen der Bundesrepublik zur DDR und CSSR, um das eigene Territorium in seinem Gesamtumfang wirksam in die Bündnisverteidigung einzubeziehen sowie das Bestreben, damit gleichzeitig seine Bevölkerung wie seine Infrastrukturen über ein ausdifferenziertes System der Schadensbegrenzung vor den flächendeckenden Folgewirkungen atomarer Kriegführung wenigstens einigermaßen schützen zu können. Erst aus der Analyse dieses untrennbaren Zusammenspiels von NATO-Strategie, deren operativer Umsetzung für den Gefechtsraum Mitteleuropa und der Abstützung militärischer Planung auf ein

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breitgefächertes Netzwerk ziviler Verteidigungsvorkehrungen wird nämlich das immer wieder in der Forschung ausgemachte Grunddilemma deutscher Sicherheitspolitik in der Aufbauphase der Bundeswehr in seiner ganzen Differenziertheit greifbar: dass der vorgeschobene NATO-Partner Bundesrepublik in seiner Verletzlichkeit einerseits unbedingt auf Kriegsverhinderung durch Abschreckung angewiesen war, dass im Falle eines Scheiterns der Abschreckung als Folge der dann atomar bestimmten Operationsführung letztlich aber nicht hinnehmbare Schäden für das nationale Uberleben drohten. Oder, wie es ein amerikanischer Analytiker noch im Sommer 1989 auf den Punkt brachte: »Thus, if national defense becomes an actuality, it may turn into national suicide19.« Vor diesem Hintergrund wird abschließend der Versuch zu unternehmen sein, in einer bewertenden Zusammenschau der nacheinander vorgestellten Einzelaspekte ein einigermaßen schlüssiges Gesamtbild über Möglichkeiten und Grenzen deutscher Interessenwahrung im Rahmen der Bündnisverteidigung in der Phase der >massive retaliation zu entwerfen. Darin werden vor allem die beiden Grundannahmen der deutschen politischen wie militärischen Führung auf ihren Realitätsgehalt zu hinterfragen sein: dass sich erst über den Aufbau einer effizienten Bündnisstreitmacht der Bundesrepublik ihr Gesamtraum wirksam verteidigen und zugleich die extensive Abhängigkeit der Allianzverteidigung von Atomwaffen auf ein mit deutschen Uberlebensinteressen vertretbares Maß reduzieren ließ.

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Borinski, Mitigating West Germany's Strategie Dilemmas, S. 531.

Erster Teil Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags im Rahmen der Vergeltungsstrategie

I. Allianz- und Eigeninteresse: das Prinzip der »forward defense« und das Problem ihrer ökonomischen Realisierung

Mitte Januar 1955 ließ sich der Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages zur Vorbereitung auf die Ratifizierungsdebatten um die Pariser Verträge vom Herbst 1954 eingehend über die politischen und militärischen Konsequenzen eines deutschen Allianzbeitritts unterrichten. Dabei sah sich Theodor Blank als Sicherheitsbeauftragter des Bundeskanzlers sehr zu seinem Ärger zum wiederholten Male mit der Frage konfrontiert, wie sich denn die Größenordnungen geplanter westdeutscher Streitkräfte aus den strategischen Zielsetzungen der NATO herleiten ließen. Schließlich - so argumentierte der sicherheitspolitische Sprecher der SPD, Fritz Erler - müsse das deutsche Parlament bei seinen künftigen Etatbewilligungen doch wissen, »welches Maß an Sicherheit die Bevölkerung der Bundesrepublik mit ihrer Beteiligung an dieser gesamten Organisation einkauft«. Aus Sicht Blanks war eine derartige Debatte dagegen zum jetzigen Zeitpunkt ebenso überflüssig wie unzweckmäßig. Mit dem Umstieg von einer 1954 gescheiterten Europa-Armee unter deutscher Beteiligung auf ein Bündniskontingent im Rahmen der NATO hatte sich letztlich nur die Organisationsform eines westdeutschen Verteidigungsbeitrages, nicht aber die europäische Sicherheitslage und eine daraus abzuleitende gemeinsame Verteidigungsplanung geändert. Im Übrigen hielt er es für gänzlich unmöglich, »daß strategische Pläne vor einem Parlament verhandelt werden«1. Damit gaben sich indes die Sprecher der Opposition nicht zufrieden, und sie wurden darin selbst aus den Reihen des Koalitionspartners FDP unterstützt. »Wenn die grundlegenden strategischen Tatsachen nur zur Geheimwissenschaft der Militärs gemacht werden, dann kapituliert die Politik«, konterte Erler die Vorstellung von einem das Parlament ausblendenden Diskurs über strategische Fragen. Sein gut informierter Hamburger Parteifreund Helmut Schmidt führte zudem eine verunsicherte Öffentlichkeit ins Feld, die - »auf längere Zeit jedenfalls« - davon ausgehen müsse, dass die westliche Allianz die Verteidigung des Bündnisgebietes derzeit bestenfalls »am Rhein und notfalls auch in Frankreich« aufzunehmen gedachte. Das veranlasste den künftigen Verteidigungsminister Blank immerhin zur Erneuerung seines grundlegenden Credos über Nutzen Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages, 12.1.1955, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 2. Wahlperiode, 25. Sitzung, Zitate auf S. 33 und 35.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

und Notwendigkeit westdeutscher Verteidigungsanstrengungen im Bündnis: »Ich kann Ihnen noch einmal sagen, daß wir die Garantie haben, daß im Falle eines Angriffs - immer vorausgesetzt, daß alle dazu erforderlichen Kräfte auch durch unsere Mitwirkung vorhanden sind, und immer vorausgesetzt, daß wir dann mit unseren Kräften mitwirken - Deutschland verteidigt wird, und zwar dort, wo der Angriff stattfindet, und zwar direkt2.« In diesem rhetorischen Schlagabtausch blitzte wie unter einem Brennglas die raison d'etre deutscher Verteidigungsplanung auf. An ihr hatten sich die Auseinandersetzungen um einen deutschen Verteidigungsbeitrag seit den späten vierziger Jahren aufgeladen; sie sollte die Diskussionen um das essentielle Verteidigungsinteresse der Bundesrepublik im Allianzrahmen letztlich bis zum Ende des Kalten Krieges begleiten: Verteidigung im Bündnis als Formel westdeutscher Sicherheitsbefriedigung gewann ihre politische, militärische und moralische Rechtfertigung aus der Grundannahme, dass rein nationale Verteidigung deutschen Territoriums unter den Bedingungen eines geteilten Landes in einer bipolaren Sicherheitsarchitektur nicht mehr darstellbar war; integrierte Verteidigung durfte dann aber nicht lediglich zur Sicherung des strategischen Vorfeldes Bundesrepublik für die Nordatlantische Allianz verkommen. Deutsche militärische Experten, die im Auftrag von Bundeskanzler Konrad Adenauer im Eifelkloster Himmerod über die »operativen Bedingungen für die Verteidigung Westeuropas« nachdachten, hatten deshalb schon im Herbst 1950 jeder Bündnisverteidigung die Grundmaxime vorangestellt: »Der westeuropäische Raum muß soweit ostwärts wie möglich verteidigt werden3.« Alternative Überlegungen zu einer Verteidigung des Bundesgebietes wie die zeitweise sehr weitgehenden Forderungen des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher nach einem Vorschieben der westlichen Verteidigungslinien an die Weichsel4 oder die Pläne einer grenznahen Verteidigung des Obersten Bogislav von Bonin5 mochten andere sicherheitspolitische oder operative Schwerpunkte setzen. In einem waren sich Sicherheitspolitiker und militärische Planer über alle Parteigrenzen und militärischen Auffassungsunterschiede hinweg durchgängig einig: Der politische Zusammenhalt des westlichen Bündnisses als militärische Risikogemeinschaft, eine koordinierte militärische Operationsführung in Westeuropa, die hohe wirtschaftliche und infrastrukturelle Verwundbarkeit der östlichen Bundesrepublik und die psychologische Befindlichkeit ihrer Bevölkerung machten eine Strategie der Vorwärtsverteidigung für die westdeutsche Verteidigungsplanung zum »Wert an sich«6. Dabei nahm die deutsche Seite aus ihrer besonderen geografischen Betroffenheit heraus nur eine strategische Forderung auf, die aus Sicht der kontinen2 3 4

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Ebd., Zitate auf S. 37, 51 und 55. Rautenberg/Wiggershaus, Die »Himmeroder Denkschrift«, S. 39. Buczylowski, Kurt Schumacher, S. 1 0 2 - 1 1 2 und Löwke, Die SPD und die Wehrfrage, S. 2 2 - 3 6 . Vgl. dazu insgesamt: Brill, Bogislav von Bonin. So Buchholz, Strategische und militärpolitische Diskussionen, S. 65 f.; zur grundsätzlichen Bedeutung der »Vorwärtsverteidigung« vgl. Thoß, Deterrence and Defence.

I. Allianz- und Eigeninteresse: das Prinzip der »forward defense«

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talen Allianzpartner insgesamt von Anfang an Vorbedingung jeder Bündnisverteidigung gewesen war. Im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Gründungsakt der NATO vom April 1949 hatte der Stabschef der U.S. Army, General Omar Bradley, seinen Landsleuten bereits ins Stammbuch geschrieben, »that we cannot count on friends in Western Europe if our strategy in the event of war dictates that we shall first abandon them to the enemy with a promise of later liberation« 7 . Immerhin standen die militärstrategischen Planungen der Joint Chiefs of Staff (JCS) in Washington für einen möglichen Krieg in Europa (Codename: HALFMOON) noch während des ganzen Jahres 1948 unter der für die Westeuropäer inakzeptablen Vorgabe einer >Evakuierung< der amerikanischen Truppen vom westeuropäischen Kontinent und dessen späterer Wiedereroberung 8 . Die Fortschreibung in den parallelen amerikanischen und britischen Plänen FLEETWOOD bzw. SPEEDWAY sahen seit Ende 1948 zur politisch-psychologischen Beruhigung der westeuropäischen Partner zumindest schon einmal eine gemeinsame Verteidigungslinie auf dem Kontinent so weit ostwärts wie möglich vor 9 . Das zugrunde gelegte Kräfteverhältnis im Falle einer sowjetischen Invasion ließ dafür aber bei der erheblichen Ausdünnung Westeuropas von präsenten Bodentruppen günstigstenfalls den Rhein als ersten Rückhalt zu. In ihrem frühesten Strategiepapier MC 3 hatte die NATO daher zwar schon im Herbst 1949 als strategisches Ziel lapidar festgeschrieben: »Arrest and counter as soon as practicable the enemy offensives against North Atlantic Treaty powers 10 .« Was sich auf den ersten Blick wie eine klare Selbstfestlegung der Allianz auf eine Verteidigung des gesamten Bündnisgebietes liest, stand aber bei näherem Hinsehen ganz eindeutig unter dem essentiellen Vorbehalt seiner praktischen Umsetzbarkeit. Die Aufnahme einer Verteidigung des westeuropäischen NATO-Territoriums »so frühzeitig wie möglich« war letztlich bis auf weiteres eine politischpsychologische Absichtserklärung und noch kein realisierbares militärischoperatives Programm. Bei aller Übereinstimmung im Grundsätzlichen klafften dafür nämlich noch auf absehbare Zeit strategische Absichten und verfügbare militärische Mittel weit auseinander. So gingen die westlichen Analytiker von Ende der vierziger bis in die sechziger Jahre konstant von der sowjetischen Fähigkeit aus, im Falle einer globalen militärischen Auseinandersetzung 2,5 Millionen Soldaten und 175 einsatzfähige Divisionen aufbieten zu können. Davon würden sich mindestens 100 Divisionen schnell an der europäischen Zentralfront zum Einsatz bringen lassen. Zusätzlich würden schrittweise bis 1954 weitere 80 Divisionen der osteuropäischen Satellitenstaaten aufwachsen, die von ihrem Einsatzwert her zwar unter sowjetischen Standards bleiben würden, deren schiere Zahl aber angemessen ins westliche militärische Kalkül einzustellen war. Diese öffentlich und bündnisintern immer wieder als Grundgrößen 7 8

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Memorandum vom 5.4.1949, zit. nach Trachtenberg, A Constructed Peace, S. 101. Vgl. Α WS, Bd 1, S. 163-171 (Beitrag Greiner) sowie The History of the Joint Chiefs of Staff, vol. 2, S. 288-292. Beide Pläne wurden erstmals analysiert von Wampler, Ambiguous Legacy, S. 3 - 5 . MC 3 vom 19.10.1949, abgedr. in: NATO Strategy Documents, S. 6.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

westlicher Bedrohungsperzeptionen ausgewiesenen Kräfte verloren allerdings dies machen neuere Einblicke in die internen U.S.-Einschätzungen durchgängig für die fünfziger und sechziger Jahre deutlich11 - bei eingehenderer professioneller Bewertung einiges von ihrem furchterregenden Gewicht. Das betraf nicht nur die erheblich differierenden Divisionsgrößen von 11 000 bis 13 000 Soldaten (Ost) und 17 000 bis 19 000 Soldaten (West); das hatte zudem die gravierenden Unterschiede zwischen Soll- und Ist-Stärken in den Friedensverbänden ebenso in Rechnung zu stellen wie die starken Abstriche in Bewaffnung, Motorisierung und Ausrüstung bei der weiter rückwärts stationierten Masse der sowjetischen und bei den osteuropäischen Divisionen. Selbst bei Einbeziehung solcher relativierender Faktoren blieb aus Sicht westlicher Analytiker und Streitkräfteplaner aber eine weit überlegene kritische Masse an angriffsfähigen Boden- und Luftstreitkräften auf Westeuropa gerichtet, der man im Falle einer militärischen Auseinandersetzung wegen der eklatanten Schwäche der im Brüsseler Pakt erstmals koordinierten westeuropäischen Verteidigungsplanungen nur mit einer extrem risikobehafteten Gegenstrategie entgegentreten konnte. Die schnelle Rückführung und Demobilisierung amerikanischer Streitkräfte nach Kriegsende bereits 1945/46, die Ausdünnung Westeuropas von Präsenztruppen wegen der spätkolonialen Verwicklungen der meisten Mitgliedstaaten des Brüsseler Paktes in Afrika und Asien, schließlich der personelle und materielle Zustand der auf dem Kontinent verbleibenden militärischen Kräfte vor dem Hintergrund erheblich überlasteter Staatshaushalte - das alles ließ 1949/50 in Szenarios denken und planen, bei denen gerade einmal elf westliche Divisionen, unterstützt von 500 einsatzfähigen Flugzeugen einen konzentrierten ersten Angriffsstoß von etwa 50 sofort verfügbaren sowjetischen Divisionen und einer Luftmacht von 5000 bis 6000 Flugzeugen auszuhalten haben würden12. Nun gingen amerikanische Einschätzungen der allgemeinen Sicherheitslage bei allen gelegentlichen Schwankungen doch generell über alle Wechselfälle des Kalten Krieges hinweg davon aus, dass auch die Sowjetunion - trotz ihres nie aufgegebenen weltrevolutionären Anspruchs - nicht an einem neuen globalen Krieg interessiert und damit in ihrem Risikokalkül berechenbar war13. Als die am härtesten von den Folgen des Zweiten Weltkrieges betroffene Macht, aber 11

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Vgl. dazu und zum Folgenden: Duffield, The Soviet Military Threat; zur parallelen Gegnerwahrnehmung der deutschen politisch und militärisch Verantwortlichen: Wiggershaus, Aspekte. Aus Akten in Archiven ehemaliger Mitglieder des Warschauer Paktes wird im Übrigen neuerdings der Nachweis geführt, dass zumindest in der Stalin-Ära keine Vorbereitungen in den Ostblockstaaten auf eine Invasion Westeuropas getroffen wurden, der sowjetische Diktator vielmehr seinerseits von der Annahme einer potenziellen westlichen Aggression gegen Osteuropa und die Sowjetunion ausging, vgl. Lunak, Reassessing; zur generellen Einschätzung sowjetischen militärischen Verhaltens in den fünfziger Jahren: McGwire, Interpreting, S. 182 f. Zahlen nach Wampler, Ambiguous Legacy, S. 3; zum Zustand der Brüsseler PaktTruppen vgl. Hamilton, Monty, S. 723-776, hier insbes. S. 753-758. Dies bestätigt ein Überblick von Mastny, Did NATO win, S. 176, über bisher ausgewertete Akten aus sowjetischen Archiven nach dem Ende des Kalten Krieges nachdrücklich.

I. Allianz- und Eigeninteresse: das Prinzip der »forward defense«

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auch von ihrem Rollenverständnis her als Trägerin einer historischen Fortschrittsidee suchte sie sich für den Systemwettlauf mit dem Westen vielmehr vorrangig dort zu wappnen, wo die eigenen Schwächen am offenkundigsten zu Buche schlugen: bei der Konsolidierung des eigenen osteuropäischen Vorfeldes als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges, beim wirtschaftlichen Wiederaufbau des eigenen Landes und bei dessen weiterer ökonomischer Modernisierung 14 . Das 1945 erreichte und bis 1949 gehaltene amerikanische Atommonopol untermauerte im Übrigen zunächst auch noch die ursprünglichen Erwartungen einer seit 1947 Zug um Zug verdichteten Politik der USA zur Eindämmung (containment) der Sowjetunion in ihrem osteuropäischen Machtbereich. Im Besitz einsatzfähiger Nuklearwaffen konnte man sich auf deren kriegsverhindernde Abschreckungswirkung stützen und deshalb durchaus begrenzte militärische Risiken in Kauf nehmen 15 . Nach den Erfahrungen mit dem Umkippen labiler Demokratien in den dreißiger Jahren sah der konzeptionelle Kopf dieser Politik, George Kennan, die eigentliche Herausforderung für den Westen in Europa nämlich nicht darin, »to combat communism as such, [...] but the economic maladjustment which makes European society vulnerable to exploitation by any and all totalitarian movements« 16 . Diese ruhigere Betrachtungsweise in Washington änderte sich freilich 1949/50 dramatisch. Die Sowjetunion hatte zwar schließlich bei der BerlinBlockade eingelenkt; im August 1949 durchbrach sie aber mit ihrem ersten erfolgreichen Atomtest das absolute Nuklearmonopol der USA. Wenige Wochen später ging mit dem Sieg Mao Zedongs im chinesischen Bürgerkrieg auch noch die ostasiatische Gegenküste an ein kommunistisches Lager verloren, das sich damit aus Washingtoner Sicht zu einem weltweit operierenden sinosowjetischen Block verdichtete, der sich schnell zur doppelseitigen Bedrohung der USA in ihrem atlantischen wie pazifischen Vorfeld auswachsen mochte. Zu solcher Sorge trug nicht zuletzt das zunehmend selbstbewusstere Auftreten der Sowjetunion auf der Weltbühne seit der Jahreswende 1949/50 bei. Sie sah sich als Weltmacht an der Spitze einer global organisierten »Friedensfront«, die »von Sieg zu Sieg voranschreitet«, ja nach dem Erfolg in China vermeinte, sogar bereits »die Klänge der indischen Marseillaise« zu hören 17 . Die Truman-Administration revidierte daher nunmehr ihre vorwiegend politisch-wirtschaftliche Stabilisierungsstrategie für Westeuropa und gab gleichzeitig ihre bisherige Konzentration auf die militärische Sicherung weniger vitaler Punkte (strong point strategy) zugunsten einer globalen Widerstandslinie rund um den kom14

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Weingartner, Die Außenpolitik, S. 10, hat dieses G r u n d m u s t e r speziell für die Stalinzeit, aber auch für seine Nachfolger auf den Begriff vom »ideologischen Realismus« gebracht. Vgl. dazu insgesamt: Gaddis, Strategies of Containment, S. 54-88. M e m o r a n d u m als Planungschef im State Department für Außenminister Dean Acheson, 23.5.1947, FRUS, 1947, vol. 3, S. 225. U.S.-Botschafter Alan G. Kirk aus Moskau in einer Analyse sowjetischer Leitartikel zur Jahreswende, 4.1.1950, FRUS, 1950, vol. 4, S. 1076; z u m ersten erfolgreichen Test einer sowjetischen Atombombe und seiner internationalen Wahrnehmung: Holloway, Stalin and the Bomb, S. 265-271.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

munistischen Machtbereich (perimeter strategy) auf. Die im Grundsatz zwar auch jetzt noch favorisierte indirekte U.S.-Hilfe zur Aktivierung regionaler Selbsthilfe wurde von nun an überlagert von einem immer direkteren amerikanischen Engagement entlang der gesamten Peripherie des Ostblocks von Westeuropa bis Ostasien, unterfüttert durch die Initialzündung für eine Phase extremer Hochrüstung in den USA selbst18. Gegen eine als kollektiv und weltumspannend bewertete Bedrohung setzte Washington mithin auf ein analoges militärisches Zusammenrücken des Westens und wurde darin von entsprechenden Forderungen der Westeuropäer bestätigt. Ging man beiderseits des Atlantik auch nach wie vor nicht von einer globalen Kriegsgefahr oder einer unmittelbar bevorstehenden sowjetischen Invasion Westeuropas aus, so rückte jetzt doch militärische neben ökonomischer Stabilisierung der Region in doppelter Hinsicht zunehmend in den Vordergrund gesamtwestlicher Sicherheitsplanungen. Wenn die politisch-wirtschaftlichen Verwerfungen aus dem Zweiten Weltkrieg und dem noch nicht abgeschlossenen Wiederaufbau dauerhaft überwunden werden sollten, dann war in den Augen der transatlantischen Eliten dafür eine sicherheitspolitische Abschirmung geboten, die den westeuropäischen Kontinent im Angesicht einer dominierenden sowjetischen Militärmacht nicht erneut wie nach dem Ersten Weltkrieg sich selbst überließ. Die nachwirkende öffentliche Debatte über eine verfehlte Appeasement-Strategie als Antwort auf die faschistische Herausforderung in den dreißiger Jahren ließ es daneben aber auch gegenüber dem weltpolitischen Rivalen angeraten erscheinen, jeder Fehlperzeption mangelnder westlicher Geschlossenheit und Verteidigungsfähigkeit aktiv entgegenzutreten. In allen zentralen Lagebeurteilungen jetzt und für die Zukunft stand nämlich nicht die planmäßige Auslösung eines neuen Weltkrieges als wahrscheinlichstes Gefahrenmoment vor Augen, sondern die Nutzung begrenzter regionaler Gelegenheiten, die sich für die Sowjetunion aus der Wahrnehmung westlicher Schwächen und einer davon gespeisten Fehleinschätzung militärischer Unentschlossenheit ergeben mochten19. Sicherheitspolitische Signale westlicher Einheit und Entschlossenheit verloren indes viel an Überzeugungskraft, solange sie nicht durch integrierte Verteidigungsorganisation und angemessene militärische Mittel untermauert werden konnten. Die westliche Allianz stand daher nach ihrem Zusammenrücken in der NATO vor dem Dilemma, dass sie sich gegenüber den kontinentaleuropäischen Partnerstaaten in ihren Verteidigungsplänen auf eine >Vorwärtsverteidigung< und das hieß auf unverrückbaren Wunsch der Franzosen: am Rhein - festlegen musste, ohne dafür hinreichende Bodentruppen und Luftstreitkräfte verfügbar zu haben. Bei der maritimen Überlegenheit der angelsächsischen Seemächte 18

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Gefahrenanalyse und Gegenprogramm sind niedergelegt in dem strategischen Grundsatzpapier Ν SC 68, 14.4.1950, abgedr. FRUS, 1950, vol. 1, S. 234-306 und eingehend analysiert bei Gaddis, Strategies of Containment, S. 89-126. Beispielhaft dafür das Schlüsseldokument NSC 162/2 »Basic National Security Policy«, 30.10.1953 und dessen jährliche Fortschreibungen NSC 5501, 5602/1, 5707/8, 5810/1 und 5906/1, alle abgedr. in: The Development, vol. 1, S. 67-268.

I. Allianz- und Eigeninteresse: das Prinzip der »forward defense«

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waren wohl die Verbindungs- und Versorgungslinien über den Atlantik zu sichern, wenn es auch noch bis 1952 dauern sollte, bevor englisch-amerikanische Querelen in der Befehlshaberfrage eine gemeinsame transatlantische Kommandobehörde (SACLANT) aus der Taufe heben ließen20. Auf sicherem Boden stand man zu diesem Zeitpunkt auch immer noch bei den strategischen Waffen, selbst wenn mit dem erfolgreichen Atomtest der Sowjetunion vom August 1949 das absolute U.S.-Monopol durchbrochen und die amerikanische Nuklearmacht noch weit von ihrer späteren Einsatzstärke entfernt war. Die U.S.-Bestände konnten erst allmählich von 13 (1947) auf 170 Atombomben (1949) erweitert werden; Gewicht und Bedienung der Waffen und ihrer Einsatzmittel warfen noch erhebliche Transport- und Einsatzprobleme auf; Lagerung, Überwachung und Freigabe lagen bis Mitte der fünfziger Jahre nicht bei den militärischen Kommandeuren, sondern in den Händen der zivilen Atomic Energy Commission (AEC); die Verlegung der ersten atomwaffenfähigen Trägerflugzeuge vom Typ B-29 nach Großbritannien während der Berlin-Blockade schob auch die Einsatzbasen erst ab 1949 näher an den potenziellen Einsatzraum heran und verringerte damit für das Strategie Air Command (SAC) der USA die Anflug-, für die sowjetische Luftabwehr entsprechend die Vorwarnzeiten21. Demgegenüber gingen alle Einschätzungen der Gegenseite davon aus, dass die Sowjetunion erst Anfang der sechziger Jahre über ein nach Waffen und interkontinental einsetzbaren Trägermitteln voll ausgeprägtes Atomwaffenarsenal verfügen würde, das die USA selbst nachhaltig und umfassend bedrohen konnte22. Das alles versetzte die Vereinigten Staaten zwar noch für über ein Jahrzehnt in die Lage, mit ihren nuklearbestückten Fernbombern die Sowjetunion »in wenigen Stunden in eine rauchende, verstrahlte Ruine« zu verwandeln23 und eine globale Auseinandersetzung für sie damit zum unkalkulierbaren Risiko zu machen. Schon die ersten Wochen des im Sommer 1950 ausbrechenden Koreakrieges sollten dagegen zeigen, dass eine in globalen Dimensionen glaubhafte nukleare Abschreckung kein Garant für die Verhinderung regionaler oder lokaler Konflikte unterhalb der Schwelle zum »all-out war« war. Nun musste man nicht so weit gehen, wie dies der Verteidigungsexperte der britischen Labour Party, Denis Healey, ausgerechnet im ersten Aufbaujahr der Bundeswehr 1955 tun sollte, für den mit Blick auf die ungünstigen Erfahrungen des Westens in den Regionalkriegen der zurückliegenden Jahre die Abschreckung »nichts 20 21

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Vgl. Maloney, Securing Command, S. 167-169. Zahlen zur Entwicklung des U.S.-Nuklearpotenzials nach Trachtenberg, A Constructed Peace, S. 181 (fig. 6); zu Zustand und Einsatzproblemen der frühen Atomwaffen: Rosenberg, The Origins, S. 131-134; zur Kontroll- und Freigabeproblematik: Bracken, The Command, S. 179-237 und Maier, Die politische Kontrolle, sowie die inzwischen weitgehend herabgestufte History of the Custody, zensierte Kopie, Stand: August 2000, einsehbar im Public Reading Room, Department of Defense, Washington, D.C. Für 1949 sind die Grenzen der sowjetischen nuklearen Möglichkeiten herausgearbeitet bei Ziegler, Intelligence Assessments, zu den sowjetischen atomaren Einsatzproblemen bis in die sechziger Jahre: Trachtenberg, A Constructed Peace, S. 181 f. So die drastische Aufgabenbeschreibung für das SAC bei Bracken, The Command, S. 183.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

anderes als ein neuer politischer Mythos, ein einziger Akt der Selbsttäuschung« war24. So viel stand aber für die westeuropäischen Partner der USA in der NATO schon 1949/50 fest, dass Bündnisverteidigung zwar ihr erstes Ziel in der Verhinderung eines allgemeinen europäischen Krieges zu suchen hatte und dabei wesentlich vom nuklearen Abschreckungspotenzial ihrer Führungsmacht abhing, dass bei einem Scheitern der Abschreckung aber das eigene Territorium nicht lediglich symbolisch verteidigt werden durfte. Die britischen Stabschefs machten sich daher die drängenden Forderungen von Feldmarschall Bernard L. Montgomery als Oberbefehlshaber der Brüsseler Pakt-Truppen zu Eigen und mahnten ihrerseits bei aller Anerkennung der U.S.-Atomwaffen als »der vorrangigen Offensivwaffe« an, dass eine Verteidigung Westeuropas unmöglich sei »ohne stärkere konventionelle Streitkräfte, als wir sie derzeit verfügbar haben«25. Das war auch in Washington unstrittig, nur wurden hier die daraus zu ziehenden militärischen Konsequenzen zunächst noch ganz im Sinne einer strikten amerikanisch-westeuropäischen Lastenteilung (burden sharing) gesehen. Mit einer drastischen Erhöhung ihrer eigenen Verteidigungsausgaben - der Kongress billigte dazu allein für das Haushaltsjahr 1951 einen Anstieg von 13,5 auf fast 49 Mrd. Dollar zu26 - gingen die USA daher mit Vorrang an die Weiterentwicklung ihres strategischen Potenzials. Von ihren westeuropäischen Partnern erwarteten sie dagegen, dass diese mit erhöhten finanziellen Eigenanstrengungen und flankiert durch U.S.-Militärhilfe eine angemessene konventionelle Streitmacht aufbauten. Dabei lagen im Pentagon zwei strategische Denkschulen miteinander im Widerstreit: die Anhänger einer »peripherica! defense« in der Air Force plädierten für den absoluten Vorrang eines strategischen Luftkrieges gegen die Sowjetunion, der sich auf eine Kette von Luftbasen an der westeuropäischen Peripherie von Nordafrika bis zu den Britischen Inseln abstützen sollte. Aus politischen, militärischen und psychologischen Gründen befürwortete demgegenüber die Army eine »forward strategy«, da sie eine großräumige Landeoperation zur späteren Rückeroberung Westeuropas analog zur Invasion von 1944 unter den Bedingungen eines ebenfalls nuklear gerüsteten Gegners für aussichtslos hielt27. Im Übrigen kritisierte die Führung der U.S. Army aus grundsätzlichen Erwägungen heraus eine einseitige Konzentration auf ein Kriegsbild, die nukleare Abschreckung und - im Falle ihres Scheiterns - auf eine strategische Option, die nukleare Gegenoffensive in die Tiefe des gegnerischen Raumes, als militärisch gefährlich. Denn sie glaubte - anders als die dafür fe-

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Healey, Die Bombe, S. 440. Global Strategy Paper des Chiefs of Staff Committee (COSC) vom Sommer 1950, zit. nach Twigge/Macmillan, Britain, S. 261. Detaillierte Aufschlüsselung in: History of the Office, vol. 2, S. 233-260. Nach Einschätzung des damaligen Alliierten Oberbefehlshabers und jetzigen Präsidenten Dwight D. Eisenhower wäre ihm unter nuklearen Bedingungen niemals eine Landung in der Normandie möglich gewesen, Tagebuch seines Sekretärs Hagerty, 4.1.1955, FRUS, 1955-1957, vol. 19, S. 5. Vgl. auch Sisk, Forging the Weapon, S. 67; eingehender analysiert in: History of the Office, vol. 1, S. 386-393.

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derführende Air Force - nicht an die dauerhafte kriegsentscheidende Wirkung einer Waffe. Bei ihrem Plädoyer für eine ausgewogene nukleare und konventionelle Streitkräftestruktur hatte die Army freilich wie ihr Konkurrent in der Air Force auch die Rollenverteilung zwischen den Teilstreitkräften und ihren Etatanteil an den Verteidigungsausgaben insgesamt fest im Blick 28 . Dies sollte sich bei den Verteilungskämpfen zwischen den Teilstreitkräften mit nahezu deckungsgleichen Argumenten in den einzelnen NATO-Staaten wiederholen. Für den Interessenausgleich innerhalb der NATO zwischen Führungsmacht und kleineren Partnerstaaten, zwischen global-transatlantischer und regionalwesteuropäischer Orientierung resultierte aus diesen inneramerikanischen Divergenzen, verbunden mit der Forderung nach konsequenter allianzpolitischer Lastenteilung, ein in dreifacher Weise gespaltener Strategiediskurs: Bei aller Prioritätensetzung zugunsten ihrer westeuropäischen Gegenküste (»Europe first«) 29 mussten sich die USA in ihrem Selbstverständnis als global agierende Weltmacht - erstens - Optionen offen halten, die im Einzelfall europäischem Regionalinteresse insgesamt oder den nationalen Interessen einzelner Verbündeter zuwiderlaufen konnten. Das schlug sich nicht nur in offenen oder verdeckten Dissonanzen beim internationalen Krisenmanagement nieder. Es hatte auch ganz konkrete Auffassungsunterschiede über Umfang und Dauer des militärischen Engagements der USA auf dem westeuropäischen Kontinent selbst zur Folge. Anders als dies im Bild von der »imperialen Republik« aufscheint, das die USA als bewusste Weltmacht aus den beiden Weltkriegen hervorgehen sieht, hatten die Befürworter einer nordamerikanisch-westeuropäischen Sicherheitspartnerschaft nämlich 1948/49 noch mit erheblichen inneramerikanischen Vorbehalten zu kämpfen. Ihre Kritiker argumentierten mit der aus der Geschichte gespeisten Sorge, dass man auf diesem Wege möglicherweise wieder wie in den beiden Weltkriegen mehr oder weniger unbeabsichtigt in die europäischen Händel hineingezogen wurde. Wenn man im Kongress den Weg der Truman-Administration schließlich doch mehrheitlich mitging, dann mehr aus einem Gefühl von >Lasten und Verantwortlichkeiten^ die den USA nun einmal wegen der eigenen Stärke und den sichtbaren Schwächen der Westeuropäer von der Geschichte aufgebürdet wurden 30 . Als Washington sich daher nach monatelangen irtneramerikanischen Auseinandersetzungen, der so genannten >Great Debate< von 1950 über ein erneutes überseeisches Engagement, zu einer Verstärkung der U.S.-Streitkräfte in Europa durchrang, verstand man dies von Anfang an und durchgängig als temporären Anschub westeuropäischer Eigen-

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Zur offensiven Argumentation der U.S. Air Force: Gentile, Α-Bombs, S. 18-31. Eingehend analysiert aus der Sicht der amerikanischen Strategie der Gegenküstensicherung im Kalten Krieg bei Fröhlich, Zwischen selektiver Verteidigung, S. 125-150, hier insbes. S. 134 f. Gegen die These der revisionistischen Schule von einer bewussten, ökonomisch motivierten U.S.-Weltpolitik nach 1945 betont dies für die Gründungsphase der NATO neuerdings Rodgers, Atlantic Crossings, S. 502 — 504; vgl. dazu auch die Kanada und die USA einbeziehende und stärker auf soziokulturelle transatlantische Gemeinsamkeiten abhebende Darstellung bei English, Who Could Ask for Anything More?

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

anstrengungen und nicht als Entscheidung für eine dauerhafte Stationierung 31 . Bei aller Betonung nach innen und außen, dass die amerikanischen Soldaten »were a real physical deterrent to the Soviets and not merely a psychological one«32, ließ gerade Präsident Dwight D. Eisenhower, der sich als NATOOberbefehlshaber (SACEUR) noch 1950/51 zum beredten Fürsprecher der westeuropäischen Forderungen nach einer Verstärkung der U.S.-Truppen gemacht hatte, doch nie einen Zweifel am Grundsatz eines zeitlich begrenzten direkten militärischen Engagements der USA in Europa. Anstoß zur regionalen Selbsthilfe und zeitweilige psychologische wie militärische Abschirmung einer westeuropäischen Aufrüstung bis zu ihrem Wirksamwerden, aber keine dauerhafte konventionelle »major military role« in Westeuropa wie analog zu Korea, hieß seine Maxime. Dass er wie sein Vorgänger und seine Nachfolger dazu jedoch mehrdeutige Aussagen machte, sollte nicht nur den weltpolitischen Gegner im Unklaren über die amerikanischen Reaktionen im Krisenfalle lassen; es sorgte auch bei den Amerikanern selbst wie bei ihren europäischen Verbündeten immer wieder für Verwirrung 33 . Vor allem sollte es aber Stein des Anstoßes im deutsch-amerikanischen Disput über Stellenwert und Dauer der amerikanischen Truppenstationierung in der Bundesrepublik sein und bleiben. Im deutschen Kalkül gaben erst präsente U.S.-Truppen gemeinsam mit der aufwachsenden Bundeswehr die Grundlage für eine realisierbare Verteidigung des Bündnisgebiets an seiner mitteleuropäischen Hauptfront ab. Ohne dies dem künftigen Verbündeten immer hinreichend deutlich zu machen, erhoffte demgegenüber Washington, dass gerade der Aufwuchs westdeutscher Streitkräfte die Möglichkeit zu einem mittelfristigen Herunterfahren im Niveau des direkten militärischen Engagements der USA in Europa eröffnen würde. Im Kern stand dahinter eine strategische Grunddisposition, die regionale Selbstverteidigung mit globaler Flexibilität der Führungsmacht über eine militärische Lastenteilung zu verbinden trachtete, ohne die regionalen Partner aus ihrer Eigenverantwortung zu entlassen und die Weltmacht USA in die globale Uberspannung ihrer Kräfte (overcommitment) zu treiben. Damit einher ging - zweitens - eine kontinuierliche allianzinterne Auseinandersetzung um das Verhältnis von strategischer Abschreckungsdoktrin und operativer Verteidigungsplanung für einen potenziellen Kriegsschauplatz Europa. Unstrittig war im transatlantischen Diskurs über westeuropäische Sicherheit das gemeinsame Grundanliegen. Die Erfahrungen zweier Weltkriege und die technologische Revolutionierung der Kriegführung durch Massenvernichtungswaffen hatten ein Umdenken von herkömmlicher Kriegführungs- zu künftiger Kriegsverhinderungsstrategie befördert. Mit der Durchbrechung ihres Atommonopols durch die Sowjetunion war aber für die USA ein Zeitpunkt absehbar, an dem sich die beiderseitigen Vernichtungspotenziale wechselseitig 31 32

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Vgl. Thoß, The Presence of American Troops, S. 411-432. So Eisenhower auf eine entsprechende Nachfrage seines Sicherheitsberaters Cutler, Frühjahr 1953, FRUS,1952 -1954, vol. 2, part 1, S. 273. Vgl. Dockrill, Eisenhower's New Look, S. 197.

I. Allianz- und Eigeninteresse: das Prinzip der »fonward defense«

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neutralisieren würden. Als globale Abschreckung würden Nuklearwaffen auch dann noch wirksam bleiben, als Mittel zur regionalen Kriegsverhinderung oder Krisensteuerung mussten sie aber in dem Maße an Glaubwürdigkeit verlieren, wie sich auch über den USA ein »Fenster der atomaren Verwundbarkeit« öffnete. Der Koreakrieg, wie spätere regionale Krisen um Indochina oder Formosa, lieferten Kritikern der nuklearen Abschreckung in den USA und Westeuropa frühzeitig Anschauungsunterricht darüber, dass sich trotz eines zunehmend unwahrscheinlicher werdenden globalen Krieges internationale Krisen jederzeit und an jedem Punkt regional oder lokal militärisch aufladen konnten. In den Anfangsjahren der NATO mussten sich die Westeuropäer allerdings wegen ihrer eigenen militärischen Schwäche noch nolens volens auf ein einseitig angelsächsisch bestimmtes Kriegsszenario einlassen, bei dem die westliche Abwehrplanung auf der Vorstellung von einem Zwei-Phasen-Krieg basierte. Danach hatte sich die Allianz in einer ersten Phase der militärischen Auseinandersetzungen auf dem europäischen Kontinent mit ihren Präsenzstreitkräften solange im Wesentlichen selbst zu behaupten, bis die von den USA garantierte sofortige strategische Gegenoffensive unter Einsatz von Kernwaffen gegen das sowjetische Territorium ihre entlastenden Wirkungen für den regionalen Kriegsschauplatz entfaltete. Die Kombination aus westeuropäischer konventioneller Defensive und amerikanischer nuklearer Offensive hatte die Zeit zu erkämpfen, die für die volle Mobilisierung der angelsächsischen Potenziale erforderlich war, mit denen man in der zweiten Phase eines Krieges an die Rückeroberung zeitweilig aufgegebenen Bündnisterritoriums und die Zerschlagung des sowjetischen Restwiderstandes auf dem europäischen Kontinent gehen konnte. In den verschiedenen Versionen des Plans OFFTACKLE, die zwischen 1949 und 1952 durchgespielt wurden, hatten die Westeuropäer dabei in Kauf zu nehmen, dass sie den für eine Rückeroberung erforderlichen essenziellen Brükkenkopf auf dem Kontinent mindestens neunzig Tage im Wesentlichen allein halten mussten. Erst danach mochte sich die militärische Lage in Europa durch die Wirkungen der amerikanischen Luftoffensive gegen die Sowjetunion so weit konsolidiert haben, dass die erforderlichen überseeischen Reserven mobilisiert, ausgerüstet und antransportiert waren 34 . Gleichgültig, in welchem Umfang im Übrigen der sowjetische Angreifer zum Durchstoß an den Atlantik seinerseits Atomwaffen einsetzte, würde selbst herkömmliche Kriegführung mithin für die kontinentalen NATO-Staaten bereits strategische Wirkungen zeitigen. Die französische Grundbedingung jeder Allianzplanung als »Vorwärtsverteidigung« am Rhein unter voller Mitwirkung der amerikanischen Führungsmacht wurde damit zur Nagelprobe für den Bündniszusammenhalt. Räumliche Nähe der Kontinentaleuropäer zur angenommenen zentraleuropäischen Hauptfront hier, der geografische Abstand dazu bei den angelsächsischen Seemächten dort beeinflussten schließlich - drittens - auch die operativen Vorstellungen für den Fall eines europäischen Krieges. Der gefährlichste Kräfteansatz lag aus kontinentaleuropäischer Sicht in einem schnellen Durchstoß 34

Vgl. Wampler, Ambiguous Legacy, S. 4-12.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

überlegener sowjetischer Panzerkeile zum Atlantik - und genau darauf deutete die Dislozierung der sowjetischen Hauptangriffsarmeen in Mitteleuropa hin. Damit drohten nämlich nicht nur bereits bei Kriegsbeginn die wirtschaftlichen Zentren Westeuropas an Rhein und Ruhr, in Südbelgien und Nordfrankreich in die Hand des Angreifers zu fallen; mit dem Zugriff auf die Atlantikküste würden auch die Umschlaghäfen für die transatlantische Versorgung verloren gehen; zusätzlich würden die Verteidigungslinien der Allianz in eine nur noch über See verbundene Nord- und eine Südhälfte des NATO-Raumes zerrissen werden35. Der Alptraum eines jede koordinierte Verteidigungsführung obsolet machenden, strategischen Offensivstoßes durch die mitteleuropäische Zentralfront hindurch innerhalb weniger Tage war mithin nicht erst ein publizistischer Warnschrei der siebziger Jahre36; er gehörte zu den Urängsten einer kontinentalen Verteidigungsplanung, die noch stark aus den Erfahrungen der raumgreifenden Panzerschlachten des Zweiten Weltkrieges schöpfte. Im Unterschied zu dieser alles dominierenden Fixierung auf die große Land-Luft-Schlacht um den Zentralraum der Allianz in Mittel- und Westeuropa kreiste das operative Denken der an großräumigen Operationen geschulten Stabschefs der Seemächte dagegen stärker um die Optionen, die sich aus einer Sicherung der Flanken in Kombination mit dem Besitz des strategisch nutzbaren Nuklearpotenzials ergaben. In dieser Perspektive kam es nicht so sehr darauf an, jeden Fußbreit Boden festzuhalten, was nur unter Inkaufnahme eines frühzeitigen Verschleißes der wenigen eigenen Divisionen zu realisieren war. Unter zeitweiliger Preisgabe westeuropäischen Raumes ließen sich vielmehr die eigentlichen Stärken der nordatlantischen Allianz, ihre Beherrschung der angrenzenden Seeräume und ihr überlegenes strategisches Nuklearpotenzial voll ausspielen. Für den ersten SACEUR Eisenhower stellte die eurasische Halbinsel nämlich einen sich nach Westen hin verengenden Flaschenhals dar, in dem ein Angreifer aus dem Osten seine Kräfte extrem komprimieren musste, wenn er rasch zum Atlantik durchstoßen wollte. Verstärkte man daher die westeuropäischen Abwehrverbände in einem militärisch wie finanziell vertretbaren Ausmaße und hielt mit den eigenen überlegenen Seestreitkräften die Flanken vor der nordnorwegischen Küste wie im östlichen Mittelmeer besetzt, dann ließ sich die gegnerische Angriffswucht im Zentrum so lange verlangsamen, bis die von Norden und Süden her zangenartig angesetzten eigenen Luftoffensiven den sowjetischen Kernraum des Angreifers und damit die Quelle seiner Offensivfähigkeit nachhaltig zerstört hatten37. Ein Stück weit korrespondierten damit die in Himmerod nieder35 36 37

Greiner, Die Entwicklung der Bündnisstrategie, S. 39-48. Close, L'Europe sans defense?; Hackett, Der Dritte Weltkrieg. Vortrag des SACEUR im White House, 31.1.1951, FRUS, 1951, vol. 3, S. 454: »If the Russians tried to move ahead in the center, I'd hit them awfully hard from both flanks. I think if we build up the kind of force I want, the center will hold and they'll have to pull back.« In beinahe deckungsgleichen Kategorien dachte sein Stellvertreter Montgomery, vgl. dessen Vortrag vor dem National War College, 13.4.1953, auszugsweise zit. bei Hamilton, Monty, S. 833 f.

I. Allianz- und Eigeninteresse: das Prinzip der »forward defense«

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gelegten deutschen operativen Überlegungen, die zu Recht als »ein klassisches Konzept der stabilen Mittelfront mit Möglichkeiten zu flankierenden Gegenoffensiven« charakterisiert wurden 38 . Mit besetzt zu haltenden »Brückenköpfen« für Flankenstöße gegen einen in Mitteleuropa eingebrochenen Angreifer waren hier freilich kleinräumigere Vorstellungen einer operativ beweglich zu gestaltenden Abwehr im Mittelabschnitt der europäischen Gesamtfront verbunden 39 . Dies als Vorwurf begrenzten operativen Denkens gegen die deutschen Verteidigungsplaner zu wenden, geht allerdings zu diesem Zeitpunkt noch an deren beschränkterer Aufgabenstellung und ihrem mangelnden Einblick in die NATO-Gesamtplanungen vorbei. Mit Blick auf die operativen Diskussionen im Rahmen des Brüsseler Paktes bewegten sich die deutschen Gedankengänge nämlich durchaus auf der Höhe der westeuropäischen Debatte, übersahen indes 1949/50 noch die Vorbehalte der U.S. Army gegen eine Annahme der Schlacht in Mitteleuropa mit ungenügenden Bodentruppen. Hier erwartete man vielmehr, frühestens an den Pyrenäen einen Rückhalt für ein erfolgversprechendes Auffangen der sowjetischen Stoßarmeen zu finden, abgestützt durch eine Operationsbasis in Nordafrika 40 . Alle drei Faktoren zusammengenommen - eine angemessene amerikanischeuropäische Lastenteilung, ein ausgewogenes Verhältnis von Abschreckung und Verteidigung sowie die Organisation dieser Verteidigung - verlangten nach dem Aufbau einer integrierten westeuropäischen Verteidigungsstreitmacht schon im Frieden. Die dafür erforderlichen Kräfte zur Schließung der festgestellten Streitkräftelücke auf dem Kontinent waren wiederum aus Sicht der Stabschefs in Washington und London nur unter zusätzlicher Ausschöpfung des bisher ungenutzten westdeutschen Menschen- und Industriepotenzials aufzustellen und dauerhaft zu unterhalten. Aus westeuropäischen Mitteln allein waren noch nicht einmal die für eine Abwehrfront am Rhein benötigten Boden- und Luftstreitkräfte zusammenzubekommen 41 . Unter dem Eindruck des Kriegsausbruchs in Korea im Sommer 1950 und seinen psychologischen Rückwirkungen auf Europa konnten deshalb schließlich die politisch-psychologischen Vorbehalte in Westeuropa, allen voran in Frankreich, gegen eine Aufrüstung des ehemaligen deutschen Kriegsgegners überwunden werden 42 . Die von Bundeskanzler Adenauer angebotene aktive Beteiligung der Bundesrepublik an einer Verteidigung Westeuropas hatte freilich ihrerseits einen Preis, denn auch der nunmehr in Aussicht genommene neue Allianzpartner verlangte als Gegen38 39 40

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Buchholz, Strategische und militärpolitische Diskussionen, S. 128. Rautenberg/Wiggershaus, Die »Himmeroder Denkschrift«, S. 40 f. Zu den Auseinandersetzungen um die Operationsplanung im Brüsseler Pakt zwischen Montgomery u n d dem französischen Marschall Lattre de Tassigny: Hamilton, Monty, S. 730-766; zu den Überlegungen Bradleys als Chief of Staff, U.S. Army: Wampler, Ambiguous Legacy, S. 6-8. Vgl. dazu Montgomerys drastische Bestandsaufnahme vor den Kommandeuren der Brüsseler Pakt-Truppen nach Abschluss der Übung UNITY, Mai 1950, Hamilton, Monty, S. 762 f. Eingehend geschildert in AWS, Bd 1, S. 327—389 (Beitrag Wiggershaus); vgl. jetzt auch Trachtenberg, A Constructed Peace, S. 103-113.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

gäbe für seinen Verteidigungsbeitrag eine Sicherheitsgarantie für sein Territorium. Unterstützung fanden die deutschen Forderungen schon jetzt bei den Verteidigungsplanern von NATO und Brüsseler Pakt, die aus operativen Gründen ebenfalls an einer schrittweisen Vorverlegung der Verteidigungslinie in den Raum ostwärts des Rheins interessiert waren43. Es war daher nur konsequent, dass sich die Allianz nach ihrer grundsätzlichen Entscheidung für einen westdeutschen Verteidigungsbeitrag auf ihrer Ratstagung vom September kaum drei Monate später im Dezember 1950 auf die von nun an verbindliche Formel festlegte: »Die Verteidigung des NATO-Gebietes erfordert, daß Westeuropa so weit im Osten wie möglich verteidigt wird. Um wirkungsvoll zu sein, muß die Verteidigung sicherstellen, daß die drei Hauptfronten in Europa ein zusammenhängendes Ganzes bilden und sich gegenseitig unterstützen. Das ist nur möglich, wenn in der Region Westeuropa eine Vorwärtsverteidigung angewandt wird und ihre Verteidigung so dicht am >Eisernen Vorhang< wie möglich erfolgt. Auf diese Weise können die Territorien aller kontinentalen Mitglieder geschützt werden. Die Annahme dieser Militärstrategie ist auch notwenig, um das beträchtliche Potential Westdeutschlands dem Feind zu verwehren und für die Alliierten zu sichern [...], um die Zusage der Besatzungsmächte, Westdeutschland zu schützen einhalten zu können und um sich der weiteren Mitarbeit Westdeutschlands zu versichern44.« Die militärischen Zielsetzungen der Allianz waren damit räumlich ein zusätzliches Stück ausgeweitet worden, ohne dass zu ihrer Realisierung vorläufig die Mittel zur Verfügung standen. Alle Planspiele über eine Verteidigung vor, am oder hinter dem Rhein standen deshalb unter dem Vorbehalt der erst noch bereitzustellenden deutschen Divisionen. Bis dahin konzentrierte sich die militärische Planungsarbeit auf die Verstärkung und Modernisierung der westeuropäischen konventionellen Streitkräfte und den Aufbau europaweit vernetzter Führungsorganisationen mit ihrem Zentrum im Alliierten Hauptquartier (SHAPE) in Fontainebleau bei Paris. Dabei signalisierten die USA nicht nur über einen amerikanischen Oberbefehlshaber an der Spitze der Allianz, sondern auch im militärischen Unterbau mit einem von anderthalb auf über fünf Divisionen ausgeweiteten U.S.-Truppenkontingent politisch, militärisch und psychologisch den Willen der Führungsmacht zur direkten Verteidigung des Bündnisgebietes. Keinen Illusionen gab sich der erste NATO-Oberbefehlshaber zu diesem Zeitpunkt noch darüber hin, dass dieses U.S.-Engagement »zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahre« dauern mochte, wenngleich er als Zielmarke wenig später »vier bis acht Jahre« ins Auge fasste. Bis dahin sollte es der Stand der westeuropäischen Aufrüstung erlauben, die U.S.-Truppen durch westeuro-

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Im Short Term Defense Plan der NATO vom Sommer 1950 deutete sich dies mit der Einplanung von Operationen zur Deckung des westlichen Aufmärsche am Rhein bereits unübersehbar an: Wampler, Ambiguous Legacy, S. 19 f. Dokument C6-D/1, Annex B, 13.12.1950, zit. nach der Übersetzung von Greiner, Zur Rolle Kontinentaleuropas, S. 150 f.

I. Allianz- und Eigeninteresse: das Prinzip der »forward defense«

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päische Selbstverteidigungskräfte zu ersetzen. Gelinge dies nicht innerhalb der nächsten zehn Jahre, dann sei letztlich »das ganze Projekt« einer amerikanischeuropäischen Lastenteilung gescheitert45. Die Formulierung eines militärischen Programms zur Unterfütterung entsprechender Verteidigungspläne war freilich das eine, ihre Umsetzung innerhalb einer Allianz souveräner Mitgliedstaaten mit ihren mehrfachen Etatüberlastungen stand auf einem ganz anderen Blatt. Eben an dieser Diskrepanz von militärisch Gefordertem und politisch-ökonomisch Machbarem spiegelten sich schon in der unmittelbaren Folgezeit die eigentlichen Konturen eines Sicherheitsverbundes, der sich in seinem Kern als politisches Bündnis mit militärischen Absicherungszielen verstand. Ein Vergleich der wirtschaftlichen, technologischen und bevölkerungsmäßigen Voraussetzungen für einen sich jetzt auch militärisch aufladenden OstWest-Konflikt verwies Ende der vierziger Jahre bei den wesentlichen Indikatoren auf klare Strukturvorteile des Westens. Seine Beherrschung der Seeräume erschloss ihm den Zugriff auf die zentralen strategischen Rohstofflager in Nordamerika, im Mittleren Osten und im südlichen Afrika. Über den Dollar und das britische Pfund als weltweite Leitwährungen ließen sich die globalen Finanzmärkte kontrollieren 46 . Im Übrigen konnten die USA als >Arsenal der Demokratien und einziger ökonomischer Sieger aus dem Zweiten Weltkrieg jederzeit den rüstungswirtschaftlichen Rückhalt zur Aktivierung regionaler Aufrüstung in einem rasch einsetzenden globalen Rüstungswettlauf bereitstellen47. Dem standen die wirtschaftlichen Möglichkeiten der neuen Weltmacht Sowjetunion gegenüber, deren Ressourcen erst mangelhaft entwickelt waren, und die zudem ökonomisch schwer angeschlagen aus dem Weltkrieg herausgetreten war. Ihre Führung war sich schon im Kriege bewusst geworden, dass ihre Verfügungsgewalt über die zusätzlichen Ressourcen aus einem vorrangig agrarisch strukturierten Ost- und Mitteleuropa ihre ökonomischen Spielräume nur begrenzt erweitern würde 48 . Die Wiederaufbauprobleme im eigenen Lande, die wachsende wirtschaftliche Abriegelung von den Weltmärkten im Zuge des Kalten Krieges und als Ausfluss ihres historisch begründeten überzogenen Sicherheitsreflexes ein trotz alledem auch nach Kriegsende hochgehaltener Rüstungsetat stellten die Sowjetunion mithin schon 1948/49 vor gravierende Probleme wirtschaftlicher Überlastung - und ihr weltpolitischer Rivale in den USA erkannte dies49! Gelang daher mit der europäischen Integration auch noch die Zusammenlegung der Wirtschafts- und Militärpotenziale Westeuropas, dann erschien die Einschätzung der Truman-Administration nicht unrealistisch, dass

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Alle Aussagen vom Oktober 1950 bis Februar 1951 aus den Eisenhower Papers in Abilene, KS, zit. nach Sisk, Forging the Weapon, S. 74; zur Verstärkung der U.S.-Truppen selbst: Thoß, The Presence of American Troops, S. 413-415. Umfassend zu den ökonomischen Rahmenbedingungen des Kalten Krieges: Pollard, Economic Security. Vgl. Gaddis, Strategies of Containment, S. 37-40. Vgl. Thoß, Die Sicherheitsproblematik, S. 38. Zusammenfassende Analyse von Potenzialen und Problemen der sowjetischen Wirtschaft durch die U.S.-Botschaft Moskau, 5.4.1949, FRUS, 1949, vol. 5, S. 604-609.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

in einem arbeits- und kostenteiligen Prozess gemeinsame Sicherheitsstrukturen und Streitkräfte aufgebaut werden konnten, mit denen sich die existierenden militärische Ungleichgewichte auf dem europäischen Kontinent in überschaubarer Zeit austarieren ließen50. Dem stand eine düstere Bestandsaufnahme des Oberbefehlshabers Montgomery bei Abschluss der Großübung UNITY des Brüsseler Paktes im Mai 1950 gegenüber: »Briefly, the facts are that there is today no effective fighting force in Western Europe that could offer any effective resistance to Russian aggression. Nor is any effective fighting force in sight in any foreseeable future 51 .« Ökonomische Ressourcen, das war die Quintessenz aus seiner inzwischen zweijährigen Überzeugungstour durch die westeuropäischen Hauptstädte für angemessene Truppenverstärkungen und Modernisierungen, ließen sich nämlich nicht einfach hochrechnen zu militärischen Potenzialen. Dass die militärische Sicherung des Raumes rund um den Nordatlantik kein Selbstzweck, sondern wesentliches Mittel zur sicherheitspolitischen Abschirmung seiner vorrangig politischen und sozioökonomischen Stabilisierung war, hatte vielmehr bereits der Gründungskonsens der Nordatlantischen Allianz von 1949 deutlich gemacht. Um Sicherheit durch Integration zu erreichen, verschrieb sich die Allianz einer doppelgleisigen Sicherheitsdoktrin, die ganz im Sinne der ursprünglichen amerikanischen Containmentpolitik weit über den militärischen Bündniszweck hinausgriff. Im Artikel 2 des NATO-Vertrages wurde dazu die Schaffung von Bedingungen für Stabilität und Wohlstand durch wirtschaftliche Zusammenarbeit als primäres Allianzziel in den Vordergrund gerückt. Erst im folgenden Artikel 3 fanden die militärischen Absichten ihren Ausdruck, »to maintain and develop their individual and collective capacity to resist armed attacks«52. Die Allianzmitglieder nahmen den Ost-West-Konflikt als einen umfassenden Systemantagonismus wahr, der sich nicht allein gegen ihre äußere Sicherheit richtete. Die mit dem Aufkommen des Kalten Krieges einhergehende wissenschaftliche und öffentliche Reflexion über die »offene Gesellschaft und ihre Feinde«53, gipfelnd in den Systemvergleichen der »Totalitarismus«-Theorie54, verstärkte dies mit ihrer seitenverkehrten Übernahme der sowjetischen ZweiLager-These55 auch im Westen. Danach hatten sich im Zuge des Ost-WestKonflikts zwei politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich und ideologisch prinzipiell verfeindete Blöcke herausgebildet. Von daher musste sich aber auch der westliche Sicherheitsbegriff ausweiten, der in Analogie zu den zwanziger und dreißiger Jahren wirtschaftliche Verwerfungen in den westlichen Industrie50

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Zu den sicherheitspolitischen Hintergründen der westeuropäischen Integration: Λ WS, Bd 4, S. 1-185, hier insbes. S. 2 0 - 4 7 (Beitrag Abelshauser); vgl. jetzt auch Krüger, Sicherheit durch Integration?, S. 63-97. Zit. nach Hamilton, Monty, S. 762. Englische Version des Ν ΑΤΟ-Vertrages zit. nach NATO: The First Five Years, S. 17. So der programmatische Titel einer der Hauptschriften von Popper, The Open Society. Vgl. Friedrich/Brzezinski, Totalitäre Diktatur und Arendt, Elemente; zur wissenschaftlichen Bewertung: Wippermann, Totalitarismustheorien. Zur amtlichen sowjetischen Auffassung: Geschichte der sowjetischen Außenpolitik 1917—1970, T. 2; neueste wissenschaftliche Analyse: Adibekov, Das Kominform.

I. Allianz- und Eigeninteresse: das Prinzip der »fonward defense«

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Staaten mit ihren gesellschaftlichen Folgen zur eigentlichen Bedrohung des atlantisch-westeuropäischen Demokratiemodells und seiner inneren Kohäsion erhob. Das hatten alle Planungen zur militärischen Sicherheitsbefriedigung in Rechnung zu stellen, und sie taten dies auf Allianzebene auch durchgängig. Bereits im ersten strategischen Grundsatzpapier MC 3 vom Oktober 1949 war dies in die Forderung gefasst: »The military strength of the participating nations should be developed without endangering economic recovery and the attainment of economic stability, which constitute an essential element of their security. [...] maximum efficiency of their armed forces, with the minimum necessary expenditures of manpower, money and materials, is the goal of defense planning56.« Damit war zwar eine Kompromissformel gefunden, mit der sich politische, ökonomische und militärische Stabilisierungsziele verbinden ließen. Legte man freilich die Bedrohungsperzeptionen der militärischen Planer und die davon abgeleiteten Streitkräftezahlen und Rüstungsforderungen zugrunde, dann sahen diese sich fortwährend vor ein grundlegendes Dilemma gestellt. Montgomery hatte das bereits für den Brüsseler Pakt beklagt, und ein Mitarbeiter im innersten Planungszirkel von SHAPE sollte dafür noch Anfang der sechziger Jahre das plastische Bild von einer nicht zu schließenden Schere zwischen militärischen Erfordernissen und finanziellen Kosten finden 57 . Verantwortliche und zudem wählerabhängige Politik durfte mit Blick auf fortdauernde Wiederaufbau- und strukturelle ökonomische Anpassungsprobleme den innergesellschaftlichen Konsens über Verteidigungsausgaben nicht überdehnen, erholte sich Westeuropa trotz der Unterstützung durch den Marshallplan doch erst allmählich von den Kriegsfolgen. Die Erfolge starker kommunistischer Parteien an den Wahlurnen in Frankreich und Italien setzten unübersehbare Zeichen für die Anfälligkeit gewichtiger Teile Alteuropas gegen soziale Instabilitäten. Trotz zeitweilig rasant ansteigender Bedrohungsängste im Gefolge des Kriegsausbruchs in Korea im Sommer 1950 blieben daher die Verteilungsspielräume zwischen allgemeinen Staats- und spezifischen Militärausgaben für westeuropäische Aufrüstungsprogramme kontinuierlich eng. Zusätzlich belasteten die horrenden Kosten ihrer außereuropäischen Militäreinsätze in Afrika und Asien die Militärhaushalte vor allem in Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden aufs äußerste. Zog man also die Schraube bei den Rüstungsforderungen zu stark an, darin riskierte man, Westeuropa schnell in dem Maße ökonomisch und sozial zu destabilisieren, wie man es im Bunde mit den USA militärisch zu stabilisieren suchte58. Wenn man freilich den militärischen Einschätzungen in Washington folgte, dann war Gefahr im Verzug. Nach alarmierenden Berechnungen der Vereinten Stabschefs würde die Sowjetunion nämlich bis 1954 den nuklearstrategischen 56

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MC 3: The Strategie Concept for the Defense of the North Atlantic Area, 19.10.1949, in: NATO Strategy Documents, S. 5. Richardson, NATO's Nuclear Strategy, S. 36. Eingehend analysiert bei Thoß, Kollektive Verteidigung, S. 19-37, hier insbes. S. 20-22.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

Vorsprung der USA weitgehend wettgemacht haben. Das eröffnete ihr dann bei ihrem überragenden konventionellen Übergewicht durchaus die Option eines regional begrenzten Angriffs auf Westeuropa unterhalb der Schwelle zum globalen Krieg59. Die Standing Group der NATO mahnte daher schon Anfang 1950 als vordringlichstes Ziel der Allianz an, »that special emphasis must be laid on the necessity for developing methods to compensate for numerical inferiority«, eine Forderung, die vollinhaltlich in das revidierte Strategiepapier MC 14 vom Frühjahr 1950 einging60. Als Streitkräftebedarf gegen die im Kriegsfalle verfügbaren 175 sowjetischen Divisionen stellte das Defense Committee für den westeuropäischen Kontinent dazu Überlegungen in einer Größenordnung von 90 NATO-Divisionen, verstärkt durch entsprechende See- und Luftstreitkräfte an61. Damit bündelten sich die U.S.-Prognosen von einem auf 1954 veranschlagten Zeitpunkt der größten westlichen Sicherheitsgefährdung und die kontinentaleuropäischen Forderungen nach unbedingter Vorwärtsverteidigung zu einem klaren, zeitlich zu forcierenden Dringlichkeitsprogramm der NATO. Operative Absichten und dafür erforderliches Streitkräftepotenzial wurden deshalb im Laufe des Jahres 1951 in einen ersten mittelfristigen Verteidigungsplan (Medium Term Defense Plan) integriert, auf der nächsten Ratstagung im November 1951 verbindlich gemacht und auf der folgenden Ratstagung vom Frühjahr 1952 in Lissabon mit den entsprechenden Streitkräftezahlen untermauert 62 . Nun war es eine Sache, sich im Bündnisrahmen unter dem Eindruck der vorgetragenen Bedrohungsanalysen auf ein gemeinsames Streitkräfteniveau zu verständigen und dies sogar mit den notwendigen nationalen Selbstverpflichtungen zu eigener anteiliger Aufrüstung formal abzusichern. Dieses Einvernehmen war auch deswegen erforderlich, weil die USA ihre Truppenverstärkungen und Militärhilfezusagen davon abhängig machten, dass sich ihre europäischen Partner in bilateralen Abkommen ihrerseits zu entsprechenden Eigenanstrengungen verpflichteten. Eine ganz andere Frage war es freilich, in welchem Umfang sich so weitgehende bündnispolitische Zusagen unter innenund wirtschaftspolitischem Druck überhaupt umsetzen lassen würden. Eben diese Grenzen des politisch und ökonomisch Machbaren wurden schon zwischen 1950 und 1952 in allen Mitgliedstaaten unübersehbar. Wohl versuchten die Westeuropäer ernsthaft, ihre eingegangenen Verpflichtungen durch teilweise drastische Erhöhungen ihrer Verteidigungsausgaben zu erfüllen. Sie ver59

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Die grundlegend neue Lagebeurteilung ist festgelegt im Dokument NSC 68, 14.4.1950, abgedr. in: FRUS, 1950, vol. 1, S. 234-306; eingehende Analyse bei Gaddis, Strategies of Containment, S. 90-109. SG 13/16, 6.1.1950, NATO Strategy Documents, S. 90; die MC 14 vom 28.3.1950 ist abgedr. ebd., S. 85-105. Vgl. AWS, Bd 1, S. 25 (Beitrag Wiggershaus); die genauen Zahlen über Land-, Luft- und Seestreitkräfte der NATO sind festgehalten im Annex zu DC 13, 8.3.1950, NATO Strategy Documents, S. 177. Zur Entwicklung Medium Defense Plan 1951: Wampler, Ambiguous Legacy, S. 29 f.; zu den Ergebnissen der Lissaboner NATO-Konferenz: AWS, Bd 2, S. 99-109 (Beitrag Maier); zur Entwicklung des konventionellen NATO-Potenzials insgesamt: Duffield, The Evolution.

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schärften damit allerdings auch bereits bestehende wirtschaftliche Schwierigkeiten durch die inflationären Begleiterscheinungen eines derart forcierten Aufrüstungskurses, ohne nur annähernd die angestrebten Streitkräftezahlen nach Quantität und Qualität zu erreichen 63 . Die Haushaltssanierung wurde zum zentralen Wahlkampfthema und trug 1951/52 nicht unwesentlich zum Sieg der konservativen Parteien in Großbritannien und den USA bei. Schon im Sommer 1952 schrieb der nunmehrige Deputy SACEUR Montgomery an seinen neuen Oberbefehlshaber, General Matthew B. Ridgway: »I know of no national plans for producing this number of Divisions. In my view it is impossible to produce an effective land force of this size, if we are to pay due attention to practical and economic possibilities 64 .« Monate zuvor waren sogar Signale aus London gekommen, dass es schon jetzt nicht mehr um die Erfüllung der in Lissabon beschlossenen Streitkräftezusagen, sondern vorrangig nur noch um die Sicherung des augenblicklich erreichten Truppenbestandes auf dem europäischen Kontinent ging. Die britische Regierung und ihre militärischen Berater diskutierten nämlich unter aktuellen Haushaltsgesichtspunkten und fortdauernden Überseeverpflichtungen darüber, dass man die bisher in Westdeutschland stationierten vier Divisionen der British Army of the Rhine (BAOR) aus finanziellen Gründen schrittweise vom Kontinent abzuziehen gedachte 65 . Damit standen die Briten durchaus nicht allein. Der neugewählte amerikanische Präsident Eisenhower hatte schon im Wahlkampf von 1952 unter dem Schlagwort >New Look< eine Synthese aus allgemeinem Haushaltsausgleich und realisierbarer Streitkräftestruktur zum zentralen Ziel seiner Sicherheitspolitik erhoben 66 . Und die ersten Grundsatzpapiere der neuen Administration zeigten seit Frühjahr 1953, dass dies nicht lediglich politische Wahlkampfrhetorik, sondern konkrete sicherheitspolitische Marschroute war. Von dem Basisargument aus, dass eine »gesunde starke Wirtschaft« der USA »lebenswichtiger Faktor für das langfristige Überleben der freien Welt« sei, während ständig überhöhte Steuern genau diese Grundlage sicherheitspolitischen Handelns auszuhöhlen drohten, erklärte die neue U.S.-Regierung den Haushaltsausgleich auf mittelfristig reduziertem Niveau der Verteidigungsausgaben zur Grundsatzfrage 67 . In der zentralen sicherheitspolitischen Leitlinie NSC 162/2 vom Herbst 1953 wurde diese Absicht in die durchgängig für die Ära Eisenhower verbindliche Formel gegossen, dass es Ziel amerikanischer Politik sei, der sowjetischen Bedrohung zu widerstehen, ohne dadurch »seriously weakening the U.S. economy or undermining our fundamental values and institutions« 68 . Der Präsident

63 64 65

66 67

68

Vgl. Hammerich, Invasion oder Inflation, S. 30-35. Notiz für Ridgway, 18.7.1952, zit. bei Hamilton, Monty, S. 823. Aufzeichnung für den britischen Botschafter in Washington, 28.4.1952, Dockrill, Eisenhower's New Look, S. 82. Vgl. Dockrill, ebd., S. 17 f., und Metz, Eisenhower, S. 54-61. NSC 149/2 »Basic National Security Policies and Programs in Relation to their Costs«, 29.4.1953, The Development, vol. 1, S. 5; zu seiner Bewertung vgl. Fröhlich, Zwischen selektiver Verteidigung, S. 275 f. The Development, vol. 1, S. 39.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

sollte während seiner gesamten Amtszeit nicht müde werden, seinen sicherheitspolitischen Beratern und Generalen einzuhämmern, dass eine überzogene Sicherheitsbefriedigung sein Land genau in die innenpolitische Systemkrise zu steuern drohe, die es durch seine internationale Politik zu vermeiden suche. Er kleidete dies in das aus der Militarismusforschung entliehene Bild von der Gefahr eines »garrison state« , der um absoluter äußerer Sicherheit willen absolute innere Reglementierung und ökonomische Überforderung erzeuge 69 . Doch nicht nur bei den angelsächsischen Bündnispartnern gerieten die strategischen Leitlinien eines allianzpolitisch geforderten, aber finanzpolitisch kaum realisierbaren Schutzes des Bündnisgebietes an seinen vorderen Grenzen ins Schwimmen, kaum dass die ersten Schritte zur Umsetzung einer dazu benötigten wesentlichen Erhöhung des gemeinsamen Streitkräfteniveaus eingeleitet waren. Auch das Bündnis insgesamt hatte sich bereits 1950 parallel zu seinen strategischen und operativen Planungen an das Problem einer angemessenen Lastenteilung gemacht. Unter dem Druck wirtschaftlicher Schwierigkeiten in den meisten Partnerstaaten wurde diese Suche nach finanzierbaren kollektiven Verteidigungsanstrengungen 1951 im Financial and Economic Board (FEB) der NATO institutionalisiert. Über eine hochkarätig besetzte und mit weitreichenden Vollmachten ausgestattete Ad-hoc-Arbeitsgruppe, das Temporary Council Committee (TCC), ging man schließlich 1951/52 daran, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und militärische Erfordernisse zur Schließung der Streitkräftelücke in Westeuropa in finanziell umsetzbare Relationen zueinander zu setzen70. Dabei war es eine entscheidende Grundvoraussetzung für den schließlichen Erfolg der Ausschussarbeit, dass man sich nicht einseitig von der Dominanz militärischer Bedrohungsvorstellungen, sondern von der Gleichrangigkeit wirtschaftlicher und militärischer Stabilität leiten ließ. Dazu sollten militärische Fortschritte und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Mitgliedstaaten von nun an jährlich überprüft (annual review) und die Verteidigungsplanung im Lichte dieser Überprüfung den finanziellen Realitäten angepasst werden. Der allgemeine Jubel über den vermeintlichen Durchbruch hin zu finanzierbaren Streitkräftezahlen im Bündnis, wie sie nach dem Abschlussbericht des TCC vom Dezember 1951 im darauffolgenden Frühjahr 1952 auch tatsächlich in Lissabon einvernehmlich festgelegt werden konnten, sollte sich aber für die Militärplaner als verfrüht erweisen. Zusätzlich zum Grundprinzip der Ausgewogenheit von wirtschaftlichen und militärischen Sicherheitszielen hatte sich die NATO nämlich auch für eine zeitliche Streckung ihrer Aufrüstungsprogramme entschieden. Damit würde sich nur zu bald die Prognose des bündniserfahrenen Montgomery bewahrheiten, dass unter solchen Vorzeichen die Realisierung des angedachten Streitkräfteniveaus der NATO in weite Ferne rückte71. 69

70

71

Zu Eisenhowers strategischem Denken insgesamt: Dockrill, Eisenhower's N e w Look, S. 191-209. Der Begriff des »garrison state« ist entlehnt von Vagts, A History of Militarism, der ihn in die amerikanische Militarismusdebatte eingeführt hat. Dazu u n d zum Folgenden: Hammerich, »Operation Wise Men« u n d Hammerich, Jeder für sich. Notiz für Ridgway, 18.7.1952, zit. bei Hamilton, Monty, S. 823.

I. Allianz- und Eigeninteresse: das Prinzip der »forward defense·

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Auf der im TCC gefundenen Kompromisslinie pendelte sich im Übrigen noch vor dem eigenen Allianzbeitritt auch die Haltung des künftigen Bonner Bündnispartners ein. Unter dem Eindruck des Korea-Schocks hatte sich Finanzminister Fritz Schäffer an der Jahreswende 1950/51 intern noch zu der sehr weitgehenden Festlegung verstanden, die Bundesrepublik sei bereit, »sich an der gemeinsamen Verteidigung der demokratischen westlichen Welt bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit zu beteiligen« 72 . Ein Jahr später hatte sich die Bundesregierung auf Anfrage gegenüber dem TCC und der nationalen wie internationalen Öffentlichkeit nahezu wortgleich erneut auf eine so extensive Formel festgelegt 73 . Der am direktesten bedrohte Frontstaat Bundesrepublik stellte damit freilich nur auf den ersten Blick einen finanziellen Blankoscheck für künftige Allianzlasten aus; schon bei näherem Hinsehen entpuppte sich diese Selbstverpflichtung nämlich - wie bei den übrigen Allianzmitgliedern auch - als unter den klaren Vorbehalt wirtschaftlicher und sozialer Systemstabilität gesetzt. Ganz im Sinne der umfassenden Sicherheitsdoktrin, der sich die westliche Allianz verschrieben hatte, argumentierte jetzt auch die Bundesrepublik, dass gerade unter den Bedingungen eines Systemkonflikts für ein geteiltes Land an der Grenze zwischen Ost und West äußere und innere Sicherheit ein untrennbares Ganzes bildeten. Unterhöhlte man daher durch extensive Verteidigungslasten die finanzielle Stabilität der Bundesrepublik, dann riskierte man »schwere innere soziale Spannungen« 74 und schädigte damit nachhaltig eine der Grundvoraussetzungen westdeutscher Verteidigungsbereitschaft, den Verteidigungswillen ihrer Bevölkerung. Wenn Bonn deshalb jetzt und in der Zukunft seitens der Allianz zum Umfang seines Verteidigungshaushaltes befragt wurde, dann stellte man hier neben den direkten Militärausgaben drei zusätzliche spezifisch deutsche Kostenpakete mit in Rechnung: die Soziallasten für Kriegsopfer, Hinterbliebene und ehemaligen Soldaten, die Bundeshilfen für das bewusst militärisch als gemeinsamen »Brückenkopf« des Westens apostrophierte Westberlin und die Eingliederungskosten für das Millionenheer der Flüchtlinge und Vertriebenen. Im Bündnis und bei dessen Führungsmacht erkannte man das Problem der sozialen Systemstabiliät der Bundesrepublik zwar grundsätzlich als sicherheitsrelevant an und war auch bereit, dafür anteilige Bonner Haushaltsbelastungen als indirekte Sicherheitskosten gelten zu lassen. Da sich die Wirtschaft in Westdeutschland indes erheblich besser von den Kriegsfolgen zu erholen begann als etwa in Frankreich oder Großbritannien, die Bundesrepublik im Übrigen wegen ihrer exponierten geografischen Lage und ihrer Forderung nach einer effizienten Vorwärtsverteidigung auch sicherheitspolitisch wesentlich druckanfälliger war als andere Partnerstaaten, sollte sich solches finanzpo72

73

74

Entwurf des Bundesministeriums der Finanzen »Ausgaben der Bundesrepublik für Besatzungs- und Verteidigungszwecke«, Frühjahr 1951, zit. nach AWS, Bd 2, S. 843 (Beitrag Köllner/V olkmann). Memorandum der Bundesregierung, 1.2.1952, abgedruckt unter dem Titel »Um die Höhe des Verteidigungsbeitrages«, in: Bulletin Nr. 23 vom 23.2.1952, S. 222-226. Ebd., S. 222.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

litische Finassieren jedoch nur zu bald am sicherheitspolitisch Erwünschten reiben. Bei aller Betonung des besonderen deutschen Interesses an der Einhaltung gemeinsamer Aufrüstungsprogramme im Bündnis reihte sich freilich in letzter Konsequenz auch die Bundesrepublik in den gemeinsamen westeuropäischen Chor ein, der sicherheitspolitische Ziele immer unter das übergeordnete Regulativ gesamtwirtschaftlicher Leistungsfähigkeit stellte75.

75

Zum Zusammenhang von Sicherheits- und Sozialpolitik jetzt insgesamt: Thoß, Militärische contra soziale Sicherheit.

II. Die Nuklearisierung der Bündnisstrategie als Kompromiss zwischen angenommener Bedrohung und finanzierbarer Verteidigung Einen Ausweg aus dem Dilemma, wie die Verteidigung des Bündnisgebietes organisiert werden konnte, wenn sich der dazu erforderliche Umfang an konventioneller Aufrüstung frühzeitig als nicht finanzierbar herauszustellen begann, hielt seit Gründung der NATO die Abstützung auf die nukleare Überlegenheit der USA und eine damit verbundene Strategie der Verhinderung eines globalen Krieges durch Abschreckung bereit. Die vorläufige Knappheit an einsatzfähigen Atomwaffen und deren ausschließliche Einplanung als strategisches Potenzial zur Zerstörung der sowjetischen Rüstungsbasis (counter cities strategy) lösten freilich die operativen Probleme regionaler Verteidigungsplanung für Westeuropa im Falle eines Scheiterns der Abschreckung nicht. Die entlastende Wirkung einer nuklearen Gegenoffensive gegen das Territorium der Sowjetunion als Antwort auf eine Invasion Westeuropas würde sich nämlich nur mit erheblicher zeitlicher Verzögerung einstellen. In einer bis zu zwei Jahren berechneten Zwischenzeit wäre Westeuropa daher im Falle eines Krieges der Eroberung und Besetzung durch den Gegner ausgesetzt gewesen. Seine spätere Rückeroberung in einer zweiten Kriegsphase - das hatten die Erfahrungen mit der alliierten Invasion von 1944 gezeigt - würde dann mit weiteren schweren Zerstörungen verbunden und in ihren militärischen Erfolgsaussichten zweifelhaft sein. Die U.S. Army forderte deshalb seit Frühjahr 1950 eine unmittelbare Unterstützung durch Nuklearwaffen auf dem Gefechtsfeld gegen die überlegenen gegnerischen Angriffsarmeen, ihre Logistik und Infrastruktur, um deren Vormarsch noch vor größeren Gebietsverlusten auf dem europäischen Kontinent durch eine Kombination aus konventioneller und atomarer Abwehr zum Stehen zu bringen (counter forces strategy). Für diesen Zweck hatte der Vorsitzende der U.S. Stabschefs, General Omar Bradley, schon 1949 die Entwicklung kleinerer taktischer Atomwaffen für den Gefechtsfeldgebrauch gefordert, die aber erst ab 1952 zur Einsatzreife entwickelt sein würden 1 . Immerhin hatte die U.S. Army inzwischen erste Planspiele und Übungen zum Zusammenwirken von Atomwaffen und Truppe auf dem Gefechtsfeld durchgeführt. Dabei waren wohl die erheblichen Probleme erkennbar geworden, die aus den nachhaltigen Schadenswirkungen von Druckwelle und VerZu den Army-Forderungen: Wampler, Ambiguous Legacy, S. 299-302; zur Waffenentwicklung: Evangelista, Innovation.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

Strahlung resultierten. Gerade die Flächenwirkungen atomarer Einsatzmittel hatte aber auch das Interesse an solchen miniaturisierten und treffgenauen taktischen Atomwaffen wachsen lassen, die sich in großer Zahl herstellen, von der Truppe selbst zum Einsatz bringen und gegen extreme Ballungen angreifender Verbände verwenden ließen2. Derartige Überlegungen mussten von dem Zeitpunkt an zusätzliches Gewicht erlangen, da nach der Verstärkung der U.S.Truppen in Europa nunmehr auch fünf amerikanische Divisionen an vorderster Front einem mehrfach überlegenen Gegner direkt gegenüberstanden. Das beim California Institute of Technology 1951 in Auftrag gegebene Projekt VISTA lieferte denn auch bereits Anfang 1952 den argumentativen Unterbau für eine entsprechende Verstärkung konventioneller Bodentruppen mit taktischen Atomwaffen: »U.S. superiority in the production of these weapons particularly in the smaller sizes may make the difference between victory and defeat in Europe during the period 1951 through 19553.« Frühzeitige Hoffnungen der Westeuropäer, dass sich damit unter Umständen ein kostspieliger Ausbau konventioneller Streitkräfte in der NATO umgehen lassen mochte, wollte die Truman-Administration allerdings gerade nicht befördern. Aus ihrer Sicht sollte eine atomare Verstärkung nämlich die konventionelle Rüstung im Bündnis nicht ersetzen, sondern lediglich in ihrer Schwächephase bis zum Aufbau eines angemessenen westeuropäischen Äquivalents zu den überlegenen Streitkräften des Ostblocks absichern. SACEUR wurde daher zwar bereits im Januar 1952 von den Vereinigten Stabschefs autorisiert, entsprechende Planungen für die Verwendung taktischer Atomwaffen in seinem Bereich einzuleiten. Da indes schon jetzt in Rechnung gestellt werden musste, dass die westliche nukleare Überlegenheit im Rüstungswettlauf mit der Sowjetunion nur zeitlich begrenzt wirksam bleiben würde, wollte man sich in Washington nicht allein auf das eigene nukleare >Schwert< verlassen, sondern der Allianz zusätzlich den Aufbau und Unterhalt eines hinreichenden konventionellen >Schildes< abverlangen4. Die Einplanung taktischer Atomwaffen in die westeuropäische Verteidigung machte freilich von Anfang an ein neues Problem lösungsbedürftig: deren rechtzeitige Verfügbarkeit für den Einsatz auf dem europäischen Gefechtsfeld. Hatte sich der amerikanische Präsident bisher die Einsatzfreigabe des strategischen Nuklearpotenzials in den USA vollständig vorbehalten, wobei die Sprengköpfe selbst zunächst noch unter Aufsicht der zivilen Atomic Energy Commission (AEC) standen, so begann sich mit der Entwicklung und Einsatzplanung taktischer Atomwaffen jetzt militärisch eine Tür zu öffnen, die man bisher politisch bewusst verschlossen gehalten hatte. General Eisenhower forSo beschrieb der Chief of Special Projects bei der AEC, J. Kenneth Mansfield, taktische Atomwaffen als bestes Mittel von numerisch unterlegenen, technologisch aber überlegenen Nationen gegen »the armed hordes of the Soviet Union and its satellites«, 15.8.1951, zit. nach Stromseth, The Origins of Flexible Response, S. 17. Abschlussbericht vom Februar 1952, zit. bei Elliot, Project Vista, S. 169; vgl. auch Schraut, U.S. Forces in Germany, S. 177 f. Vgl. Wampler, Ambiguous Legacy, S. 305-310 und Wheeler, NATO Nuclear Strategy, S. 125.

II. Die Nuklearisierung der Bündnisstrategie als Kompromiss

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derte nämlich schon als SACEUR, dass ihm nunmehr mit der Einsatzplanung für Atomwaffen auch deren Lagerung, Kontrolle und Freigabe übertragen wurde. Wenn die neue Waffe ihre abhaltende Wirkung gegen bewegliche Ziele wie die sowjetischen Angriffsarmeen entfalten sollte, musste sie nahe genug am Einsatzort bereitgehalten und möglichst ohne Zeitverzug zum Einsatz gebracht werden können. Solche in Westeuropa gelagerten Atomwaffen stellten aber natürlich auch das erste Ziel für einen sowjetischen atomaren Überraschungsschlag dar, da nur durch deren frühzeitige Ausschaltung die operativen Voraussetzungen für eine erfolgreiche sowjetische Invasion in das NATO-Territorium zu schaffen waren. Wenn man deshalb auf amerikanischer Seite den eigenen Einsatz taktischer Atomwaffen zu lange zurückhielt, riskierte man deren Vernichtung durch einen gegnerischen Enthauptungsschlag noch vor ihrem Wirksamwerden. Befürwortete man also die Integration atomarer Waffen in das Gefechtsfeldgeschehen, dann weichte man damit zwangsläufig die politische Alleinverfügungsgewalt über diese Waffen auf, da ihr zeitgerechter Einsatz Regelungen für die Übertragung einer frühzeitigen Einsatzfreigabe an die Kommandeure vor Ort (predelegation) dringlich machte 5 . Mit einer angedachten taktisch-nuklearen Verteidigungsplanung für Westeuropa begannen sich freilich nicht nur die Gewichte zwischen politischer Gesamtverantwortung und militärischer Einsatzplanung in den USA zu verschieben. Auch der Charakter des Nuklearpotenzials selbst veränderte sich schrittweise weg von seiner vorwiegend politischen Abschreckungsfunktion, hin zu einer in ihren Wirkungen zwar exponential gesteigerten, im Kern aber normalen militärischen Einsatzwaffe. Und ein Drittes war damit untrennbar verbunden, selbst wenn es erst allmählich ins Bewusstsein der Westeuropäer dringen sollte. Mit der Lagerung und Einsatzplanung atomarer Waffen auf ihrem Territorium verstärkte sich schließlich nicht nur der amerikanische Nuklearschutz für Europa. Der Kontinent selbst setzte sich als Stationierungs- und Zielgebiet dieser Waffen auch einer zusätzlichen Gefährdung aus. Unbestritten blieb daher zwar während des gesamten Kalten Krieges schon von der amerikanischen Verfügungsgewalt her die nukleare Führungsrolle der USA im Bündnis. Ebenso unübersehbar sollte sich aber gerade mit Blick auf den nuklearen »Quantensprung« 6 in der Waffentechnik und ihre nur begrenzt steuerbare Waffenwirkung ein kontinuierlich ansteigendes westeuropäisches Verlangen nach nuklearer Partizipation bei Stationierungsentscheidungen, Zielplanung und Schadensbegrenzung herausbilden 7 . Solche Überlegungen traten allerdings 1952 noch zurück hinter der weit drängenderen Frage, wie sich überhaupt eine effiziente Bündnisverteidigung in der Übergangszeit bis zum allmählichen Aufwuchs angemessener westeuropäischer Selbstverteidigungskräfte darstellen ließ. Den Anstoß zu einer generellen 5

6 7

Zu Eisenhowers Forderung: Wampler, Ambiguous Legacy, S. 317; zur Problematik der Freigabe: Bracken, The Command, S. 184-202, Roman, Ike's Hair Trigger insgesamt sowie Maier, Die politische Kontrolle, S. 327-396. So jetzt Gaddis, We N o w Know, S. 86. Vgl. dazu insgesamt: Yost, The History of NATO.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

Nuklearisierung der Bündnisstrategie als Ausweg wiesen die Briten mit ihrem »Global Strategy Paper« vom Sommer 1952, in dem erstmals auf NATO-Ebene finanzielle Leistungsfähigkeit, begrenzte konventionelle Verteidigungskräfte und überlegenes atomares Potenzial zu einer strategischen Paketlösung verschnürt wurden 8 . Dabei ließen sich die britischen Stabschefs vorrangig von zwei Einschätzungen leiten. Ausgehend von den erheblich erweiterten nuklearen Einsatzmöglichkeiten, die mit dem erfolgreichen Test einer ersten Wasserstoffbombe in den USA 1952 noch zusätzlich gesteigert wurden, ging man jetzt in London davon aus, dass die sowjetische Führung dies realisiert und sich deshalb auf einen länger dauernden Kalten Krieg eingestellt hatte. Damit konnte sich auch der Westen von seiner Fixierung auf ein Bedrohungsszenario wegbewegen, in dem das Nordatlantische Bündnis bereits 1954 seiner größten Sicherheitsgefährdung ausgesetzt sein würde. Stützte man daher die eigene Verteidigungsplanung stärker als bisher auf das als effizienter und billiger eingeschätzte nukleare Abschreckungspotenzial der USA ab, zu dem die Briten binnen Kurzem auch eigene Atomwaffen beizutragen hofften, dann ließen sich nicht nur die Anstrengungen zu einer umfassenden westlichen Aufrüstung zeitlich strecken. Entgegen den in Lissabon anvisierten 96 Divisionen mochten dann auch 50 NATO- und zwölf deutsche Divisionen für eine wirksame Strategie der Kriegsverhinderung in Europa ausreichend sein, für deren Verstärkung zudem schon jetzt etwa 300 und bis 1954 weit über 1000 taktische Atomsprengkörper verfügbar gemacht werden konnten 9 . Auch in Großbritannien war es die Luftwaffenführung - und hier vor allem Air Marshal Sir John Slessor die sich zum vehementesten Advokaten einer Nuklearisierung der Bündnisstrategie machten. Wie in den Washingtoner innermilitärischen Auseinandersetzungen spielten dabei militärische Lagebeurteilung und eigener Bedeutungszuwachs in Konkurrenz zu den anderen Teilstreitkräften Hand in Hand. Der britische Verteidigungsetat hielt der dreifachen Überlastung aus außereuropäischen Engagements in Afrika und Asien, zusätzlicher Verpflichtung auf einen Beitrag zur Verteidigung des westeuropäischen Kontinents und Kosten für die Entwicklung einer eigenen Atomstreitmacht nicht mehr stand10. Da wiesen die Überlegungen der Luftwaffe dem neuen konservativen Kabinett Churchill (1951-1955) einen probaten Ausweg, bei dem sich allgemeine Haushaltsschwäche, fortdauernde globale Interessen und regionale Allianzverpflichtungen zur Deckung bringen ließen. Für Slessor kam es in einem künftigen Krieg nicht mehr vorrangig darauf an, die Sowjets zu schlagen, sondern sie von einem Angriff durch konsequente nukleare Abschreckung von vornherein abzuhalten. Der Westen werde nie in der Lage sein, ein so hohes 8

9

10

Vgl. Baylis/Macmillan, The British Global Strategy Paper und Baylis, Ambiguity and Deterrence, S. 126-151. Bedrohungseinschätzung und Kräftevergleich dazu bei Wiggershaus, Nordatlantische Bedrohungsperzeptionen, S. 38 f. Zum Zusammenhang von allgemeiner Haushaltsschwäche, revidierter Verteidigungsplanung u n d nuklearer Rüstung in Großbritannien: Gowing, Independence and Deterrence, vol. 1 und Clark/Wheeler, The British Origins.

II. Die Nuklearisierung der Bündnisstrategie als Kompromiss

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konventionelles Streitkräfteniveau zu erreichen und über längere Zeit aufrechtzuerhalten, wie man es sich selbst in Lissabon verordnet habe. Eine lückenlose nukleare Abschreckung lasse es dagegen zu, die Bodentruppen nicht nur auf dem erreichten Plafond einzufrieren, sondern mittelfristig sogar zu reduzieren. Für die U.S. Stabschefs und SACEUR war das jedoch zu diesem Zeitpunkt noch reines »Wunschdenken«, da sich - wie der Krieg in Korea gerade eben zeigte - ein Gegner, der in aufgelockerter Formation vorging, nicht allein durch Luftbombardements aufhalten ließ. Im Übrigen würden sich nicht nur die NATO, sondern auch die Sowjetunion durch Integration taktischer Atomwaffen in ihre Verbände verstärken können, der eigene taktisch-nukleare Gewinn an Kampfkraft mithin nur temporär wirksam bleiben. Und schließlich stach aus Sicht der amerikanischen Militärs das Argument von der billigeren Nuklearrüstung nur bedingt, da man um ausgewogener Streitkräftestrukturen willen letztlich eine doppelte nukleare und konventionelle Aufrüstung ins Auge fassen musste 11 . Gegen die einseitige britische Betonung nuklearer Abschreckung zu Lasten einer angemessenen konventionellen Aufrüstung Westeuropas sprachen aus der Sicht der USA aber auch strategische Analysen, die den eigenen nuklearen Vorsprung vor der Sowjetunion ab Mitte der fünfziger Jahre erheblich schrumpfen sahen 12 . Für die Folgezeit eines heraufziehenden atomaren Patts aber benötigte die NATO unterhalb der nuklearen Schwelle eine ausreichende konventionelle Option. Würden die USA nämlich erst einmal selbst nuklear verwundbar sein, dann - so prognostizierte der Planungschef im State Department, Paul Nitze schon jetzt hellsichtig - würde es zunehmend unglaubwürdiger werden, dass Washington einen regionalen Konflikt in Europa durch den vollen Einsatz von Atomwaffen nuklear eskalierte und damit nicht hinnehmbare Schäden für das eigene Land riskierte. Aber auch bei den europäischen Verbündeten sah er eine Situation voraus, in der sich diese vor das Dilemma gestellt sahen, ob sie durch atomare Verteidigung gerade das der Zerstörung preisgeben wollten, was sie sich zum Ziel ihrer kollektiven militärischen Anstrengungen gesetzt hatten: den Schutz oder zumindest die Wiederherstellung der Integrität des Bündnisgebietes 13 . Damit kam frühzeitig ein Kritikpunkt an einer von den Briten favorisierten und von den Amerikanern in der Ära Eisenhower umgesetzten vollen Nuklearisierung der Bündnisstrategie zum Vorschein. Setzte man auf eine reine Strategie nuklearer Abschreckung, dann drohte dies in dem Maße gegen die westliche Allianz zurückzuschlagen, wie sich mit ihrer Realisierung und den daraus erwachsenden Schadensdrohungen Selbstabschreckungseffekte in den USA wie bei ihren europäischen Verbündeten einstellen würden. Die operative Planung für die Integration taktischer Atomwaffen in die NATO-Verteidigung wurde deshalb zwar bei SHAPE bereits 1951/52 eingelei11 12

13

Z u m amerikanisch-britischen Disput von 1952: Wampler, Ambiguous Legacy, S. 3 4 5 - 3 5 6 . Zu dieser Einschätzung kam bereits die strategische Bestandsaufnahme der EisenhowerAdministration im Zuge des »Project Solarium« im Sommer 1953, Fröhlich, Zwischen selektiver Verteidigung, S. 2 8 1 - 2 8 4 . Memorandum v o m 12.1.1953, FRUS, 1 9 5 2 - 1 9 5 4 , vol. 2, S. 2 0 2 - 2 0 4 .

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

tet; bei SACLANT wurde 1952 sogar schon eine Trägerflotte mit seegestützter atomarer Komponente ausgerüstet; im September 1952 konnte diese bei der Übung MAIN BRACE erstmalig die nukleare Unterstützung des SACEURBereichs von See her erproben 14 . Die von den Briten erhoffte Entlastung bei den für 1953 vorzusehenden Streitkräftezahlen stellte sich bei der jährlichen Überprüfung im NATO Annual Review freilich 1952 nicht ein. Trotz Unterzeichnung der EVG-Verträge im Frühjahr 1952 stand der Aufbau westdeutscher Streitkräfte noch in einiger Ferne, während der Kräfteverschleiß in Indochina wesentliche Teile der französischen Verbände außerhalb Europas band. Den militärischen Paravent, hinter dem sich die westeuropäische Aufrüstung entwickeln sollte, hatten mithin bis auf Weiteres die amerikanischen und britischen Divisionen in Westdeutschland abzugeben. Inzwischen reifte jedoch selbst im Pentagon die Erkenntnis heran, dass die eingegangenen Streitkräfteverpflichtungen in Lissabon ein Maximum darstellten, das aus Sicht der Finanzplaner schwerlich zu erreichen sein würde. Der Wahlkampf in den USA mit seinen von den Republikanern forcierten Auseinandersetzungen um einen ausgeglichen Bundesetat tat ein Übriges, die allerorten in Westeuropa greifbaren finanziellen Vorbehalte gegen die Aufrüstungsziele innerhalb der NATO jetzt auch zum Thema inneramerikanischer Auseinandersetzungen zu machen. Die Kluft zwischen einer zur Reduzierung der Verteidigungsausgaben tendierenden politischen Debatte und den von den Bündnisplanern vorgebrachten militärischen Notwendigkeiten verbreiterte sich zusätzlich, als die Standing Group bis 1955 sogar noch höher gesteckte Ziele einer Erweiterung von 90 auf 98 NATODivisionen ins Spiel brachte. Damit würde sich jedoch auch die Schere zwischen eingegangenen militärischen Verpflichtungen und verfügbaren finanziellen Mitteln bei den Westeuropäern zusätzlich öffnen. Hielten die USA also gegen den von den Briten angeführten zunehmenden Widerstand der Westeuropäer unverrückbar an ihren Streitkräfteforderungen für die NATO fest, dann mussten sie durch Aufstockung ihrer Militärhilfe die Finanzierungslücken in Westeuropa schließen helfen - und dazu waren nunmehr in der zweiten Jahreshälfte 1952 weder Präsident Harry S. Truman noch der U.S. Congress mit Blick auf die innenpolitische Debatte in den USA bereit15. Einen Ausweg wies schließlich Ende 1952 NATO-Generalsekretär Lord Hastings L. Ismay, der als britischer Politiker die Probleme aus der extremen Haushaltsschwäche seines Landes ebenso genau kannte, wie er die Belastungsgrenzen der übrigen Bündnismitglieder einzuschätzen wusste. Blickte man, so seine Empfehlung, stärker auf die politischen Absichten (intentions) der sowjetischen Führer als »kühl kalkulierende Leute«, und weniger wie in den militärischen Lagebeurteilungen auf ihre militärischen Potenziale (capabilities), dann konnte man zu realistischeren Einschätzungen der Bedrohung kommen. In solcher 14 15

Vgl. Maloney, Atomare Abschreckung, S. 64. Das im NATO Annual Review 1952 zutage tretende Dilemma zwischen Streitkräftezahlen und ihrer Finanzierbarkeit ist eingehend analysiert bei Wampler, Ambiguous Legacy, S. 371-439.

II. Die Nuklearisierung der Bündnisstrategie als Kompromiss

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Perspektive machten es die ökonomischen Probleme der Sowjetunion aus dem neuen Rüstungswettlauf in Verbindung mit den ersten Aufrüstungserfolgen der NATO dem Westen nunmehr durchaus möglich, sich auf eine Strategie des politischen, wirtschaftlichen und militärischen »langen Atems« (long haul) in einem länger anhaltenden Kalten Krieg einzulassen 16 . Das erforderte allerdings eine Gewichtsverschiebung in den Vorstellungen von einem künftigen ZweiPhasen-Krieg. Danach waren die U.S.-Stabschefs bisher davon ausgegangen, dass die NATO die Anfangsschlacht eines europäischen Krieges in den ersten ein bis zwei Monaten mit ihren präsenten Streitkräften auffangen und überleben musste. In der dadurch erkämpften Zeit würden in den USA die Reserveverbände mobilisiert und auf den Kriegsschauplatz Europa verbracht. Danach würde die sofort eingeleitete nukleare Gegenoffensive gegen das Kernland des Angreifers ihre Wirkung zeigen und es den nunmehr aus Übersee verstärkten, aus der Anfangsschlacht intakt gebliebenen Kampfverbänden der Westeuropäer in einer zweiten Phase des Krieges erlauben, die endgültige militärische Entscheidung in einem bis zu zwei Jahren dauernden Abnutzungskrieg zu suchen. In enger Anlehnung an das »Global Strategy Paper« der britischen Stabschefs trat demgegenüber auch Lord Ismay dafür ein, alle Anstrengungen bereits auf die erste, für Westeuropa überlebenswichtige Phase eines intensiven westöstlichen Schlagabtauschs unter Einbeziehung von Atomwaffen zu konzentrieren. Damit verbanden sich allianzpolitische, militärische und wirtschaftliche Überlegungen gleichermaßen. Politisch-psychologisch war es essentiell für den Zusammenhalt der NATO, dass die Verteidigung mit allen verfügbaren Mitteln an ihren vorderen Grenzen aufgenommen wurde. Militärisch konnte dies indes nur gelingen, wenn man statt einer kostenintensiven Mobilisierungsbasis für die spätere Phase eines Krieges alle Ressourcen auf Ausbau und Modernisierung präsenter Bündnisstreitkräfte für die ersten dreißig Tage eines Kampfes um Westeuropa verwandte. Allein diese Konzentration auf die alles entscheidende erste Schlacht würde es schließlich auch wirtschaftlich erlauben, die Anstrengungen für eine effiziente und finanzierbare Bündnisverteidigung zu bündeln und langfristig durchzuhalten. Der Sieg des republikanischen Kandidaten in der Wahlkampagne vom Herbst 1952 brachte im Januar 1953 mit dem ersten SACEUR Dwight D. Eisenhower einen Präsidenten an die Spitze der USA, dessen strategische Prioritäten aus seiner intimen Kenntnis der NATO sehr nahe an den britischen Vorstellungen lagen. In seinem Regierungsprogramm des >New Look< suchte er nunmehr die Ankündigungen aus dem Wahlkampf für einen ausgeglichenen Etat und eine dazu erforderliche Revision der U.S.-Verteidigungsausgaben in praktikable Politik umzusetzen. Strategisch gesehen musste dazu wie bisher Kriegsverhinderung und nicht Kriegführung Kernziel westlicher Sicherheitspolitik bleiben. In das Zentrum westlicher Verteidigungsplanung hatte deshalb endgültig die nukleare Abschreckung zu rücken, die einen globalen Krieg von vornherein als nicht mehr führbar verhindern, Konflikte an der Peripherie der beiden Macht16

Zum Memorandum von Lord Ismay, 6.12.1952: ebd., S. 415 f.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

blocke dagegen regional eingrenzbar und steuerbar halten sollte. Dazu waren mit Blick auf die NATO aus Washingtoner Sicht vorrangig drei Probleme zu lösen: die ausstehende Ratifizierung der EVG-Verträge musste (1) endlich den Weg frei machen für eine Aufrüstung der Bundesrepublik und damit die Streitkräftelücke auf dem europäischen Kontinent schließen helfen; Westeuropa insgesamt hatte (2) eine sicherheitspolitische Aufgabenteilung zu akzeptieren, bei der regionale militärische Selbstverantwortung nuklear von den USA auf zwei Ebenen abgestützt würde, global über das strategische Potenzial von SAC in Nordamerika und Ostengland, eurostrategisch durch die Ausrüstung der dortigen Präsenzverbände mit taktischen Atomwaffen; und sobald die Voraussetzungen für eine um deutsche Truppen erweiterte, effiziente Selbstverteidigung der Westeuropäer geschaffen waren, wollten die USA (3) die dann mögliche Aufgabenteilung zum Abzug eines größeren Teiles ihrer Truppen aus Europa nutzen17. Das erklärte Interesse der neuen Administration an einer wirksameren Lastenteilung zwischen den USA und Westeuropa war freilich so lange kaum mehr als eine materiell nicht unterfütterte Absicht, wie ihre Realisierbarkeit noch von zu vielen politischen, ökonomischen und militärischen Unwägbarkeiten abhing. Eine Bestandsaufnahme bei SHAPE18 musste daher 1953 zunächst einmal Sollund Ist-Stand des bisher Erreichten in Europa auf den Prüfstand stellen, um eine ökonomisch durchhaltbare und militärisch effiziente Bündnisverteidigung als die beiden komplementären Zielvorgaben zur Deckung zu bringen. Als Erfolge waren bisher zu verbuchen, dass sich einmal die politische Lage nach dem Tod Stalins, dem Ende des Koreakrieges und ersten Fühlern für eine Auflockerung der Ost-West-Beziehungen merklich entspannt hatte. Erste Aufrüstungserfolge der NATO, die an einer Verdoppelung der Verteidigungsausgaben in den Mitgliedstaaten und einer dadurch erreichten Steigerung der Kampfkraft in den Bündniskontingenten ablesbar waren, hatten dazu nach interner Selbsteinschätzung nicht unwesentlich beigetragen. Damit war aber noch keine befriedigende Ausgewichtung der dominanten militärischen Position der Sowjetunion in Europa erreicht. Hier war nämlich inzwischen ebenfalls eine Modernisierung der Streitkräfte, insbesondere zugunsten der sofort einsetzbaren Präsenzdivisionen in Ostdeutschland, eingeleitet worden, hinter denen eine erheblich breitere Rüstungsbasis für schnell mobilisierbare Truppen und Ressourcen angenommen wurde, als sie im Westen wegen seiner sozioökonomischen Rücksichtnahmen auf die Innenpolitik verfügbar zu machen war. Außerdem musste man jetzt auch die anwachsenden Truppenstärken in den Satellitenstaaten von 65 auf 80 Divisionen in die eigene Bedrohungsanalyse einrechnen, zu denen zusätzlich 17

18

Zu den strategischen Prioritäten in Eisenhowers >New Lookc The History of the Joint Chiefs of Staff, vol. 5, S. 35 und Dockrill, Eisenhower's New Look, S. 208; zur Umsetzung für Europa: ebd., S. 72. Grundlage der folgenden Analysen stellt die SHAPE History, vol. 3, für die Amtszeit von General Alfred M. Gruenther dar, die noch als NATO Confidential eingestuft, dem MGFA aber zur wissenschaftlichen Benutzung zugänglich gemacht worden ist, hier: S. 15-23.

II. Die Nuklearisierung der Bündnisstrategie als Kompromiss

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eine auf immerhin 100 000 Mann aufwachsende Kasernierte Volkspolizei in der DDR zu zählen war. Im Vergleich dazu klafften aus Sicht von SHAPE militärisch geforderte und durch die Mitgliedstaaten bereitzustellende Kräfte auf Seiten der NATO erheblich auseinander. Für die Verteidigung Westeuropas hielt General Ridgway, Eisenhowers Nachfolger als SACEUR, im Frühjahr 1953 682/3 Divisionen als sofort einsetzbare Präsenzverbände für notwendig. Die NATO-Mitglieder konnten jedoch gerade einmal 58 Divisionen zusagen, von denen nach den Leistungskriterien von SHAPE bislang lediglich 252/3 als voll einsatzfähig gelten durften. Ähnlich sah es bei den Verbänden aus, die nach einer Mobilisierungsphase von einem Monat (D+30) von den militärischen Planern auf 143 Divisionen veranschlagt wurden, von denen die NATO-Staaten aber nur 96V3 Divisionen als zeitgerecht aufstellbar meldeten. Noch gravierender stellte sich die Diskrepanz zwischen geforderten und verfügbaren Flugzeugen für den Einsatz in Europa dar, wo mit 2997 Maschinen noch nicht einmal ein Drittel der geforderten 9979 Maschinen im Einsatzfall bereitstehen würden. Auch bei den für den SHAPE-Bereich geplanten Seestreitkräften deckte der aktuelle Ist-Stand gerade 50 % des geforderten Solls ab; hier ließen sich allerdings bei der Flexibilität der amerikanischen und britischen Marinen die Kräfte im V-Falle (Verteidigungsfall) schnell durch Zuführungen oder Verschiebungen in bedrohte Seegebiete umdislozieren. In diese Schwächen bei den Einsatzverbänden einzurechnen waren außerdem eine erst in den Anfängen steckende Frühwarnung durch einen noch nicht flächendeckenden und ungenügend bemannten Gürtel von Radarstationen, eine auf nur drei Tage veranschlagte Vorwarnzeit für das Bündnis mit seinen Gefahren im Falle eines sowjetischen Überraschungsangriffs und eine in nationale Verantwortung fallende Logistik mit ihrer mangelhaften Kriegsbevorratung bei allen Partnerstaaten. Daraus wird verständlich, warum SHAPE zwar schon jetzt Gesamtverteidigungspläne für Europa (emergency defense plans, EDP) aufstellte, wohl wissend, dass damit aber noch nicht wirklich verteidigt, sondern lediglich die Richtung für das militärisch erst noch zu Schaffende angegeben werden konnte. Wer unter solchen Vorbedingungen das gesamte NATO-Territorium gleichmäßig absichern wollte, der musste sich - so die Uberzeugung bei den Stäben in Washington und London wie bei SHAPE - letztlich hoffnungslos verzetteln. Wo aber sollte bei den eklantanten konventionellen Ungleichgewichten verteidigt werden, wenn Vorwärtsverteidigung aus Mangel an Präsenztruppen vorerst nicht realisierbar war, eine weite Zurücknahme der eigenen Kräfte dagegen den Bündniszusammenhalt überstrapazieren musste? Bei SHAPE legte man dazu zunächst einmal drei Prioritätengruppen militärischer Ziele für die eigene Operationsplanung fest, die je nach verfügbaren Kräften unbedingt, zeitlich begrenzt oder nur wenn möglich gegenüber einem Angreifer

erreicht werden sollten. Nicht eine durchgehende Frontlinie vom Nordkap bis in die Osttürkei, sondern sechs zentrale strategische Räume galt es dafür vorzubereiten: In Mitteleuropa als der Hauptfront (1) war Westdeutschland so weit ostwärts wie möglich zu verteidigen; zwischen den NATO-Bereichen Mitte

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

(AFCENT) und Nord (AFNORTH) mussten die Ostseezugänge (2) gesichert werden, um den Zusammenhang der eigenen Verteidigung zu wahren und ein Ausbrechen des Gegners aus der Ostsee zu verhindern; in vergleichbarer Weise war Nordnorwegen (3) zu behaupten, um der sowjetischen Flotte den Weg ins Nordmeer und in den nördlichen Atlantik zu verlegen; nach Süden hin sollten die Alpenübergänge nach Oberitalien (4) verteidigt werden, um das westliche Mittelmeer zu decken; die Sicherung Nordgriechenlands und Thrakiens (5) hatte eine ähnliche Absicherung des östlichen Mittelmeers zu garantieren; schließlich war die Osttürkei (6) zu halten, um einem direkten sowjetischen Stoß in die Ölgebiete des Nahen und Mittleren Ostens begegnen zu können. Auf der Planungsebene war somit ein tragfähiger Kompromiss zwischen Territoriumsverteidigung auf dem westeuropäischen Kontinent und einer Absicherung der für die angelsächsischen Seemächte wesentlichen maritimen Nordund Südflanken gefunden. Vergleicht man damit die deutschen Vorstellungen über die operativen Grundlagen einer Verteidigung Europas, wie sie Adolf Heusinger noch als Chef Auswertung bei der Organisation Gehlen 1948/49 erarbeitet hatte und wie sie im Sommer 1950 Eingang in die >Himmeroder Denkschrift^ gefunden hatten, dann lagen auch deutsche räumliche Planungsvorgaben sehr nahe an den Überlegungen der künftigen Verbündeten 19 . Schärfer traten dagegen kontinentales und see- wie nuklearstrategisches Denken auseinander, sobald sich die im Sommer 1953 vom neuen SACEUR, General Alfred M. Gruenther, eingesetzte New Approach Group bei SHAPE an die Umsetzung von militärisch zu behauptenden Zielen und dafür erforderlichen Operationen machte. Der eigene Verteidigungsplan (EDP 1-53) auf der Grundlage der MC 14/1 vom Dezember 1952 lehnte sich indes noch eng an konventionelle Verteidigungsvorstellungen aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Koreakrieg an. Daran kritisierten die neuen Planer jetzt, dass man damit ausgerechnet die eklatanteste eigene Schwäche gegen die größte Stärke des Gegners setze: den Mangel an eigenen Landstreitkräften gegen dessen dominantes konventionelles Übergewicht 20 . Das war indes keine neue Erkenntnis. Schon Ende 1952 hatten Standing Group und SACEUR unisono die Notwendigkeit zu einem »radikalen Wandel im strategischen Konzept von SHAPE« angemahnt 21 . Unter den Vorgaben des >New Look< in Washington war dafür seit Anfang 1953 nur der politische Rückenwind verstärkt worden.

19

20

21

Zu den Planungen bei SHAPE 1953: Wampler, Ambiguous Legacy, S. 589-653; zu den Heusinger-Studien: Meyer, Adolf Heusinger, S. 356-374; zur Himmeroder Denkschrift: Rautenberg/Wiggershaus, Die »Himmeroder Denkschrift«, S. 39 f. SHAPE History, vol. 3, S. 25. Die New Approach Group wurde im August 1953 direkt unter dem SACEUR aus amerikanischen, britischen und französischen Obristen eingerichtet, die dem DCPO, dem britischen Air Marshall Dawson, unterstanden. Mit Pierre Gallois war auch der spätere Vordenker der Force de Frappe in die Gruppe integriert; französische Vorwürfe, man sei aus einem rein anglo-amerikanischen Diskussionsgang ausgeschaltet gewesen, können mithin in dieser Eindeutigkeit nicht zutreffen. Vgl. dazu Steinhoff/Pommerin, Strategiewechsel, S. 25. SHAPE History, vol. 3, S. 27.

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Enger als dies bisher geschehen war, mussten dafür allerdings nunmehr konventionelle und atomare Verteidigung miteinander verzahnt werden, wollte man die vorgeplanten neun militärischen Kampagnen in Europa ohne ausreichende herkömmliche Truppen erfolgreich gestalten. Mit absoluter Priorität war im Falle eines militärischen Konflikts (1) die sowjetische Luft- und Nuklearmacht auszuschalten, und das hieß, dass ein Angriff auf Westeuropa und dessen transatlantische Verbindungslinien sofort und mit allen strategischen Mitteln nuklear gegen die atomaren Basen im Kernraum der Sowjetunion offensiv erwidert werden sollte. Eng damit verbunden waren (2) die ebenfalls offensiv zu führenden Operationen gegen Versorgungs- und Verbindungslinien des Gegners zu Lande, in der Luft und auf See, um das Gefechtsfeld weiträumig gegen das Heranführen von Verstärkungen aus der Tiefe des russischen Raumes abzuriegeln. In direkter Abstimmung mit dieser nuklear wie konventionell zu führenden Luftoffensive gegen vorgeplante Ziele in den Ostsee- und Schwarzmeerhäfen sowie an den Verkehrsknotenpunkten und Flugplätzen in Osteuropa und Westrussland sollte (3) ein Durchbruch sowjetischer und Ostblockdivisionen nach Westeuropa möglichst noch vor der Rhein-Ijssel-Linie abgefangen werden. Parallel dazu mussten die eigenen See- und Luftstreitkräfte (4) die Verbindungslinien über den Atlantik gegen sowjetische Angriffe zur See absichern und dabei insbesondere ein Ausbrechen von Minenlegern und UBooten aus deren Basen durch die Ostseeausgänge, das Nordmeer und die Dardanellen unterbinden, da sonst die Flanken einer Verteidigung in Zentraleuropa umgangen und die lebenswichtige Versorgung Westeuropas über See unterbrochen werden konnte. Dazu waren auch an den besonders neuralgischen Punkten in Dänemark (5) und Norditalien (6) Land-, Luft- und Seeschlacht zu gemeinsamen Operationen verbunden. Gleiches galt natürlich für die tiefen Flanken der NATO-Verteidigung in Norwegen (7), Griechenland (8) und der Türkei (9)22. Anders als bei ihren kontinentalen Kritikern gelegentlich besorgt, hing angelsächsische Strategieplanung also keineswegs einem gern als >MaginotSyndrom< apostrophierten statischen Denken in den Kategorien einer linearen Abwehrplanung an. Defensive und offensive Elemente waren vielmehr unter klarer Schwerpunktbildung operativ weiträumig miteinander vernetzt, auf den einzelnen Schlachtfeldern in Form von combined operations eng aufeinander abgestimmt und sollten jetzt vor allem auf allen Ebenen atomar unterfüttert werden. Die Westeuropäer mussten sich allerdings darauf einlassen, dass in solcher Perspektive nicht mehr die eine große Land-Luft-Schlacht um Europa im Vordergrund stand, sondern - da ein Krieg gegen die Sowjetunion nicht eurozentrisch einzugrenzen war - die globale Auseinandersetzung zwischen zwei welt-

22

Die neun Schlachten sind bereits im Strategiepapier MC 14/1 vom 9.12.1952 festgelegt abgedr. in: NATO Strategy Documents, S. 193-229, dann aber durch die New Approach Group auf den SHAPE-Bereich umgesetzt und auf allen Ebenen nuklear unterfüttert worden: SHAPE History, vol. 3, S. 35-38.

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weit operierenden Militärblöcken. Damit konnte strategische Planung aber auch nicht vorrangig darauf abstellen, die militärische Entscheidung in einer noch so wichtigen regionalen Teilschlacht zu suchen. Die potenzielle Schlacht um Zentraleuropa hatte immer auch die Totalität einer Auseinandersetzung mitzudenken, die nicht nur in ihrer künftigen Großräumigkeit, sondern vor allem auch als Systemkonflikt regional wie global entgrenzt war. Das erforderte auf der Ebene des Ost-West-Konflikts jenen politisch-ökonomisch langen Atem zum Durchhalten des Kalten Krieges, der auf der Ebene von Bündnisverteidigung die Grenzen für rein militärische Konfliktvorkehrungen absteckte. Die U.S.-Stabschefs hatten dazu Anfang Dezember 1953 die sicherheitspolitischen Vorgaben der Eisenhower-Administration aus der im Oktober festgelegten strategischen Richtlinie NSC 162/2 in militärische Prioritäten umgesetzt. Danach sollte amerikanische Sicherheitspolitik militärisch künftig auf drei Säulen ruhen: der Fähigkeit zu überlegener nuklearer Vergeltung, der taktisch nuklearen Verstärkung der eigenen und der NATO-Verbände sowie der Sicherung des nordamerikanischen Kontinents gegen einen sowjetischen atomaren Überraschungsschlag 23 . Vor diesem Hintergrund legte SHAPE Ende 1953 seine strategischen Prioritäten als Vorgaben für die weiteren Planungen der New Approach Group fest. Allen anderen Zielen vorgeschaltet waren dazu zwei bereits im Frieden zu schaffende Voraussetzungen, die erfolgversprechendes militärisches Handeln im Konfliktfalle überhaupt erst ermöglichen würden: Im Kommandobereich Europa (Allied Command Europe, ACE) mussten die Bündnisstreitkräfte, ihre Führungsorganisation und ihre Verbindungslinien innerhalb Europas wie über den Atlantik durch Ausbildung, Ausrüstung, Dislozierung, Frühwarnung und Härtung der Infrastruktur in den Stand versetzt werden, einen frühzeitigen Vernichtungsschlag des Gegners zu überleben. Und der militärische Widerstand für die ersten Tage und Wochen danach war so zu organisieren und zu führen, dass der Gegner wenigstens so lange von einem Durchbruch zum Atlantik abgehalten wurde, bis die NATO ihre eigenen Kräfte in Europa voll mobilisiert und durch Truppen und Materialzuführungen aus den USA und Kanada verstärkt hatte24. Mit diesen Grundüberlegungen hatten sich die strategischen Planer bei SHAPE bis Ende 1953 allerdings noch nicht sehr weit von den bereits im Medium Term Defense Plan von 1950 festgelegten Vorstellungen entfernt. Seither hatte sich hingegen eine zentrale Komponente in den ursprünglichen Verteidigungsplanungen der NATO als nicht realisierbar erwiesen, denn alle Erfahrungen mit den Lissaboner Streitkräftezielen hatten eines ganz deutlich gemacht: das dazu erforderliche Äquivalent zum militärischen Potenzial des Ostblocks an präsenten und mobilisierbaren NATO-Divisionen war politisch und ökonomisch in den Partnerstaaten schlicht nicht durchsetzbar. Die Planung bei 23

24

Festgelegt in der JCS-Richtlinie 2101/113, 10.12.1953, ausgewertet bei Fröhlich, Zwischen selektiver Verteidigung, S. 289 f. So in der Studie NAG-13 »Major objectives of operational concern to SACEUR«, 25.11.1953, SHAPE History, vol. 3, S. 34.

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SHAPE hatte sich deshalb von den relativ leicht und einvernehmlich zu bestimmenden Verteidigungszielen wegzubewegen und den verfügbar zu machenden Verteidigungsmzife/n zuzuwenden. Der militärische Ausweg aus dem Dilemma einer konventionell nicht zu schließenden Lücke zwischen Zielen und Mitteln lag seit 1952 auf der Hand: mangelnde herkömmliche >manpower< musste durch gesteigerte atomare >firepower< ausgeglichen werden. Dabei gingen jedoch die Auffassungen in Washington, London und Fontainebleau zwischen Anhängern eines neu zu denkenden, vorrangig strategisch-nuklearen Luftkrieges und eines nur taktisch-nuklear zu erweiternden herkömmlichen Krieges zunächst noch erheblich auseinander. In den angelsächsischen Luftwaffenstäben forderte man dringend eine radikale Umkehr im strategischen Denken und Planen. Aus Sicht der U.S. Airforce hatten schon die Resultate des - allerdings bewusst positiv überbewerteten 25 Bombenkrieges im Zweiten Weltkrieg den Nachweis erbracht, dass künftige Kriege wesentlich in der Luft entschieden würden. Stellte man den eigenen Bomberflotten daher jetzt mit dem quantitativ wie qualitativ auszubauenden Nuklearpotenzial die für einen strategischen Luftkrieg benötigten Waffen zur Verfügung, dann ließen sich Abschreckung im Frieden und Verteidigung im Kriege wesentlich effizienter und kostengünstiger durchführen, als dies mit einer noch so breiten herkömmlichen Rüstung möglich war. Einer der nuklearstrategischen Vordenker in den USA, Bernard Brodie, brachte es auf den Punkt: »Large masses of men must count for less on the battlefield except to provide more lucrative atomic targets26. In den Augen der Luftwaffenplaner war daher alles auf die kurze atomare Anfangsphase eines Krieges abzustellen, weil es ihnen unwahrscheinlich erschien, dass man danach überhaupt noch großräumige militärische Operationen analog zum Zweiten Weltkrieg führen konnte. Navy und Army zeigten sich dagegen skeptisch, ob es allein mit den Mitteln einer - wie weitgehend auch immer - gesteigerten Luftkriegführung gelingen würde, den Widerstandswillen der sowjetischen Bevölkerung so zu brechen, dass Partei- und Militärspitze an der Weiterführung eines Krieges gehindert würden. Die notwendigen Invasionen in Westeuropa und auf den japanischen Inseln hatten jedenfalls 1944/45 anderes gelehrt, und auch der Koreakrieg stand nicht eben für den Nachweis eines allein aus der Luft zu entscheidenden Krieges. Nicht übersehen wissen wollten die Kritiker eines totalen Luftkrieges im Übrigen nach den Reaktionen der Weltöffentlichkeit auf die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki auch die für demokratische Gesellschaften und ihre Allianzsysteme nicht unwesentliche Frage nach der ethischen Vertretbarkeit derartiger Kriegführung mit Massenvernichtungsmitteln. Der gleiche Bernard Brodie, der auf der einen Seite nüchtern die militärischen Wirkungsmöglichkeiten von Atomwaffen analysierte, stellte sich deshalb ebenso unbedingt hinter das Diktum von Präsident Truman: »Such a war is not a possible

25 26

Zur Auswertung des United States Strategie Bombing Survey: Gentile, Α-Bombs, S. 21-27. Brodie, Nuclear Weapons, S. 226.

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policy for rational men 27 .« Mehrseitig »ausbalancierte Streitkräfte« anstelle eines einseitigen Rekurses auf die »Philosophie eines einzigen Schusses« forderte daher im Gegensatz zur Air Force die Führung der U.S. Navy - und die Army folgte dem mit ihrer Warnung vor einem in der Militärgeschichte immer schon als falsch nachgewiesenen Setzen auf eine einzige militärische Karte. Army, Navy und Marine Corps beharrten deshalb darauf, neben den Präsenzstreitkräften eine angemessene Mobilisierungsbasis für die zweite, zeitlich unberechenbare Phase eines Krieges vorzuhalten 28 . Der innermilitärische Disput über die ausschlaggebende Waffe im künftigen Kriege sollte in dieser Reinkultur letztlich nie entschieden werden. Seine langen Schlagschatten würden auch weiterhin auf den Etatdebatten in den USA wie bei ihren europäischen Partnern lasten, wenn es darum ging, knapp bemessene finanzielle Ressourcen auf die Bedürfnisse konkurrierender Teilstreitkräfte zu verteilen. Für die operative Planungsebene bei SHAPE war dagegen von vornherein klar, dass es mit Blick auf die westeuropäischen Forderungen nach einer Vorwärtsverteidigung keine ausschließlich atomare Gefechtführung, sondern nur einen Mix aus nuklearen und konventionellen Elementen geben konnte. Bei dem vorerst nicht zu behebenden Mangel an Präsenztruppen musste allerdings - so das Credo des immer stärker in den Vordergrund rückenden amerikanischen Air Deputy bei SHAPE, General Lauris Norstad - von jetzt an ein Weg eingeschlagen werden, bei dem nicht mehr lediglich eine nukleare Verstärkung konventioneller Streitkräfte, sondern die volle Nuklearisierung der Bündnisstrategie gefordert war: »Ich bin der festen Überzeugung, dass es unser Auftrag [...] ist, einen wirklich neuen Zugang zum Problem der europäischen Verteidigung zu nehmen.« Dabei würden sich nur dann optimale Ergebnisse erzielen lassen, »wenn wir die umgekehrte Ansicht vertreten und jede Aufgabe von dem Standpunkt her betrachten, ob sie allein mit Nuklearwaffen zu lösen ist«29. Nach vorbereitenden atomaren Planspielen und der Überlassung hinreichender nuklearer Informationen an SHAPE konnte ab Januar 1954 an die konkrete Einplanung von Atomwaffen in das Verteidigungskonzept für Europa gegangen werden. Der SACEUR hatte sich dazu Ende 1953 direkt bei den JCS in Washington stark machen müssen für die Möglichkeit zur Weitergabe atomarer Daten, da dies nach dem McMahon-Act von 1946 nach wie vor äußerst restriktiv gehandhabt wurde. Darunter fielen auch weiterhin alle Informationen über die Entwicklung und Herstellung von Atomwaffen. Immerhin war es aber mit der NSC 151/2 vom Dezember 1953 gelungen, einen Weg zu finden, um wenigstens die für die NATO-Planung unverzichtbaren Daten über die Wirkungsweise eigener und die Einschätzung sowjetischer Atomwaffen weitergeben zu kön-

27 28

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Ebd., S. 227. Zur Haltung der Navy: The History of the Joint Chiefs of Staff, vol. 1, S. 28 f.; Zitat auf S. 29; zum Disput innerhalb der U.S. Stabschefs insgesamt ebd., S. 25 f. Stellungnahme Norstads zu NAG-13 (F), 28.12.1953, SHAPE History, vol. 3, S. 43; zu Norstad insgesamt: Jordan, Norstad.

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nen30. Bei einem Vergleich der nuklearen Arsenale ging man davon aus, dass die USA bis 1960 auf eine sichere atomare Überlegenheit gegenüber der Sowjetunion bauen konnten, die erst danach von einer Phase der Parität abgelöst würde. Für 1953 schätzte man das eigene Potenzial für einen Einsatz in Europa auf 700, das gegnerische auf 200 bis 300 Atombomben; nach den beiderseitigen erfolgreichen Tests von Wasserstoffbomben 1952/53 sah man bis Mitte der fünfziger Jahre einen wechselseitigen Aufwuchs auf 200 bis 250 H-Bomben und 1000 bis 1500 Α-Bomben (West) gegenüber fünf H-Bomben und 600 A-Bomben (Ost) voraus31. Damit ließ sich für das unmittelbare Vorfeld des ACE-Bereichs bis nach Ostpolen hin eine Zielplanung vornehmen, mit der in einen sowjetischen Angriff hinein die wesentlichen Teile der gegnerischen Infrastruktur von Flugplätzen und Häfen über Kommandozentralen, Fernmeldeeinrichtungen und Nachschubdepots bis zu neuralgischen Verkehrsknotenpunkten mit taktischen Atomwaffen ausgeschaltet werden sollte. Neben diesen festen Zielen, die im Rahmen einer vorgeplanten Luftoffensive unmittelbar nach Eintreten des VFalles angegriffen werden sollten, waren für den ACE-Bereich zusätzliche taktische Atomwaffen einzuplanen, die man je nach Lageentwicklung gegen Truppenkonzentrationen und Seestreitkräfte des Gegners als bewegliche Ziele richten konnte. Damit veränderte sich in den Augen der SHAPE-Planer aber auch die Aufgabenstellung für die Bodentruppen des Bündnisses. Nicht mehr eine durchgehende Frontlinie galt es unter allen Umständen zu behaupten, da diese in jedem Falle zu dünn besetzt sein würde, um den panzerstarken sowjetischen Stoßarmeen standzuhalten. Den NATO-Divisionen, die dazu vor der angenommenen gegnerischen Hauptangriffsrichtung in Zentraleuropa verdichtet wurden, oblag vielmehr in der ersten Phase eines Krieges eine dreifach defensive Aufgabe: Da sich alle Verteidigungsplanung nunmehr atomar auszurichten hatte, musste es vorrangiger Auftrag der eigenen Bodentruppen und Luftabwehr sein, (1) die nuklearen Arsenale von ACE (Führungszentralen, Einsatzbasen, Trägermittel, Waffenlager) zu schützen. Überlebte dieses >Schwert< der Allianz einen gegnerischen Überraschungsangriff nämlich nicht, dann war jede weitere Verteidigung Westeuropas mit einem Schlag enthauptet. Damit sich die eigenen Atomwaffen zudem in ihrer Wirkung voll entfalten konnten, sollten (2) die Angriffskeile des Gegners immer wieder zur Konzentration ihrer Kräfte gezwungen werden, um dadurch größtmögliche atomare Flächenziele zu bilden. Einem >Stolperdraht< gleich hatten sich dazu hinreichende Kampfverbände der NATO in geländegünstigen Räumen dem Angreifer so vorzulegen, dass er nur durch Verdichtung seiner Angriffsverbände in die Tiefe durchstoßen konnte. Dabei durften sich die NATO-Verbände jedoch (3) nicht örtlich binden lassen, weil sie sonst in der Verklammerung mit dem Gegner selbst Atomziele bildeten 30

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Melissen, The Struggle, S. 24; vgl. jetzt auch Maier, Die politische Kontrolle, S. 304, der aufzeigen kann, dass eine erste interne Lockerung der Bestimmungen über die Weitergabe von »restricted data« bei SHAPE bereits im Sommer 1952 erreicht worden war. Zahlen für 1953 aus Wampler, Ambiguous Legacy, S. 499 f., für 1957 aus SHAPE History, vol. 3, S. 48 f.

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und sich außerdem der Zerschlagung durch dessen überlegene Kräfte auslieferten. Solange man mithin kein ausreichendes konventionelles Potenzial für eine erfolgversprechende Verteidigung am vorderen Rand der NATO verfügbar machen konnte, durften die eigenen Truppen nicht schon in der Anfangsschlacht verbraucht werden. Verteidigung war dazu von Ost nach West so zu staffeln, dass hinter einem dünnen Schleier vorgeschobener leichter Deckungstruppen noch ostwärts des Rheins Widerstandszonen einzurichten waren, die so nachhaltig verteidigt werden sollten, dass sie vom Gegner nur unter voller Bündelung seiner Angriffsverbände durchstoßen werden konnten. Damit wollte man seinen Angriffsschwung ostwärts des Rheins verzögern und spätestens an der Rhein-Ijssel-Linie ganz zum Stehen bringen32. Dieses Zusammenspiel von konventionellem Schild und atomarem Schwert konnte freilich nur funktionieren, wenn dafür einige unverzichtbare nuklearstrategische Voraussetzungen geschaffen wurden. Um taktisch-atomare Kernwaffen auf dem europäischen Kriegsschauplatz zeitgerecht zum Einsatz bringen zu können, mussten sie nahe genug an den Einsatzbasen bereitgestellt werden. Politisch und militärisch unproblematisch war es noch, wenn dafür seit Juni 1952 über die bereits in Ostengland stationierten Teile des SAC hinaus nichtnukleare Komponenten, also Trägermittel und Abschussvorrichtungen außerhalb der USA installiert wurden. Damit wurden vorerst weder die Stationierungsländer politisch-psychologisch überfordert, noch der U.S.-Präsident in seiner Alleinverantwortung für den Einsatz von Atomwaffen tangiert, da die erforderlichen Sprengköpfe weiterhin in den USA und unter Aufsicht der zivilen Atomic Energy Commission verblieben. Sie sollten erst im Spannungsfalle nach ausdrücklicher Weisung des Präsidenten auf dem Luftwege nach Ubersee zu den Einsatzbasen transportiert werden. Schon jetzt warnten die JCS allerdings davor, dass die Zusammenführung von Trägermitteln und Sprengköpfen im Konfliktfalle zu zeitraubend sein würde. Sie forderten deshalb im Einvernehmen mit SHAPE die Stationierung kompletter Systeme unter amerikanischer Aufsicht nahe an den potenziellen Einsatzräumen. Deren Absicherung durch U.S.-Truppen war ohne überhöhtes Risiko sicherzustellen, die Abschreckungswirkung auf den Gegner und das Vertrauen der eigenen Verbündeten in den Nuklearschutz der USA würden sich erhöhen. Die grundsätzliche Zustimmung zur Verlagerung derjenigen atomaren Munition, die zur Bestückung der bereits installierten Abschusseinrichtungen benötigt wurde, erteilte jedoch erst der neue Präsident Eisenhower im Sommer 195333. Es sollte dann allerdings immer noch bis Ende 1957 dauern, bevor im NATO-Rat der endgültige Beschluss zur Stationierung kompletter atomarer Systeme auf dem Territorium von NATOStaaten gefasst und in der Folgezeit auf breiter Ebene umgesetzt wurde 34 . 32 33

34

Vgl. dazu Greiner, Die Entwicklung der Bündnisstrategie, S. 121. History of the Custody, S. 27-29 (eine zu wesentlichen Teilen herabgestufte Kopie des Dokuments befindet sich beim MGFA). Z u m Stand amerikanischer Atomwaffenlager in der Bundesrepublik im Frühjahr 1954: Steinhoff/Pommerin, Strategiewechsel, S. 22 sowie Norris/Arkin/Burr, Where They Were, S. 26-35. Greiner, Die Entwicklung der Bündnisstrategie, S. 169-174.

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In dieses Programm waren auch bereits U.S.-Basen in Westdeutschland involviert, und es lag in der Konsequenz Adenauerscher Sicherheitsforderungen an die USA, wenn er im Juni 1953 eine entsprechende Anfrage von General Ridgway über die Stationierung amerikanischer nuklearfähiger 280 mm-Geschütze auf deutschem Boden akzeptierte35. Im April 1954 wurden die JCS schließlich durch den Präsidenten autorisiert, nunmehr auch komplette atomare Waffensysteme einschließlich der Sprengköpfe in der Bundesrepublik zu stationieren36. Bis Mitte 1955 war vorgesehen, dass jedes schwere amerikanische Bombergeschwader in seinem Stationierungsgebiet über ein eigenes Atomwaffenlager unter strikter U.S.-Kontrolle verfügen sollte37. Dazu gingen Atomwaffen nunmehr auch schrittweise aus der Verfügungsgewalt der Atomic Energy Commission in den Gewahrsam des Verteidigungsministeriums und seiner nachgeordneten Kommandobehörden, darunter natürlich an vorderster Stelle an SACEUR über. Parallel dazu wurde im revidierten Atomic Energy Act von 1954 auch die Weitergabe atomarer Daten gelockert. Ohne dass dies jetzt schon als allianzpolitisches Problem virulent wurde, bereitete sich damit der Weg für eine später angedachte Weitergabe von Atomwaffen an NATO-Partner der USA vor38. In der Konsequenz dieser Entwicklung lag es denn auch, dass Präsident Eisenhower Ende 1954 zusätzlich die Dislozierung von H-Bomben in Übersee akzeptierte39. Damit waren zwar die Türen weit geöffnet für einen künftigen Transfer von Nuklearwaffen aller Kaliber nach Europa, nicht geklärt war aber das nun immer drängendere Problem ihrer Einsatzfreigabe. Der scheidende SACEUR Ridgway hatte deshalb in einem letzten Warnruf noch einmal bei allem Verständnis für die politischen Vorbehalte in Washington die Delegation von Verantwortung für den regionalen Einsatz von Atomwaffen (predelegation) als militärisch unverzichtbar angemahnt. Da ein nächster Krieg wegen des Zusammenspiels von konventionellen und atomaren Waffen ein kurzer Krieg sein werde, wobei die größte Versuchung für einen Angreifer in einem vorentscheidenden Uberraschungsschlag liege, müsse unter allen Umständen die Reaktionsfähigkeit der NATO-Kommandeure vor Ort erhöht werden. Gelinge dies nicht und verbrauche die politische Führung im Ernstfall zu viel Zeit für ihre Einsatzentscheidung, dann »könnte daraus eine entscheidende alliierte Niederlage resultieren«40. Mit der Einplanung taktischer Atomwaffen auf breiter Front in die

35 36 37 38

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40

Α WS, Bd 2, S. 137 f. (Beitrag Maier). History of the Custody, S. 30. Ebd., S. 31. Die wegweisenden Veränderungen von 1953/54 in der Handhabung der Freigabefrage durch die Eisenhower-Administration sind jetzt eingehend analysiert bei Maier, Die politische Kontrolle, S. 308-317. Aufzeichnung Colonel Andrew J. Goodpasters über eine Besprechung beim Präsidenten am 1.12.1954, FRUS, 1952-1954, vol. 2, part 2, S. 1576 f. Schreiben SACEUR an Standing Group (SHAPE/704/53), 10.7.1953, SHAPE History, vol. 3, S. 26. Der U.S. Military Representative, Gen. J. Lawton Collins, verstärkte dies im Military Committee am 16.12.1953 mit der Warnung, dass selbst geringfügige Verzöge-

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Operationspläne von SHAPE durch die New Approach Group wurde deshalb eine Lösung des Freigabeproblems ab Dezember 1953 unumgänglich. Da man hier im Übrigen damit rechnete, dass auch die Sowjetunion ihre Angriffsverbände binnen kurzem taktisch-atomar ausrüsten werde, rankten sich bei SHAPE von nun an alle Planspiele um den schlimmsten denkbaren Fall, einen nuklearen Überraschungsangriff der Sowjetunion auf das in Westeuropa stationierte Nuklearpotenzial in der NATO als Anfangsschlag eines künftigen Krieges41. Wollte man deshalb die atomaren Einsatzmittel von SACEUR nicht schon in den ersten Minuten eines europäischen Krieges verlieren, dann mussten sie noch vor Kriegsbeginn durch den Präsidenten für den eigenen Einsatz freigegeben sein42. Aber auch von der operativ erweiterten Rolle für Nuklearwaffen, die nach den Vorgaben des >New Look< eben nicht mehr nur als politisch kontrollierte Abschreckungsinstrumente, sondern als unmittelbar in die Operationsführung integrierte Einsatzwaffen wirken sollten, ging aus militärischer Sicht eine zwingende Notwendigkeit für ihre Vorabfreigabe aus. Der neue Chairman JCS, Admiral Arthur Radford, hatte frühzeitig klargemacht, dass taktische Atomwaffen im neuen strategischen Denken »faktisch den Status herkömmlicher Waffen erlangt« hätten43, da nur so die ihnen zugedachte Funktion als Kompensation für unzureichende konventionelle Abwehrkraft erfüllbar war. Im strategischen Grundlagendokument der Eisenhower-Administration, der NSC 162/2 vom 30. Oktober 1953, hatte dies seinen Niederschlag in der Formulierung gefunden, dass »nuclear weapons to be as available for use as other munitions« 44 . In seiner Studie über die bis 1957 zu schaffende Fähigkeit zur Abwehr eines umfassenden sowjetischen Angriffs auf den ACE-Bereich stellte SACEUR daher heraus, dass dazu drei unabdingbare Voraussetzungen nötig waren: taktische Atomwaffen mussten bis dahin ausreichend nach Zahl, Waffentyp und Dislozierung in die Präsenzstreitkräfte der NATO integriert sein; ein den Notwendigkeiten schneller und unmittelbarer Reaktion angepasstes militärisches Alarmsystem war so auszugestalten, dass mögliche Verzögerungen aus dem

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rungen zu einer ernstlichen Desintegration der NATO-Verteidigung führen würden, Maier, Die politische Kontrolle, S. 332. Wie sehr sich das strategische Denken in den USA u m diese Zeit bereits u m die Gefahr eines sowjetischen atomaren Überraschungsangriffs drehte, lässt sich am Auftrag Eisenhowers vom 26.7.1954 f ü r eine Studie ablesen, in der ein Untersuchungsteam aus 41 Wissenschaftlern, Ingenieuren u n d militärischen Kommunikationsspezialisten unter Führung von James Killian alle Schwachpunkte in den Waffen- und Aufklärungssystemen der USA zu überprüfen hatten; vgl. Hall, The Eisenhower Administration, S. 62. Im Joint Strategie Plans Committee (JSPC) der U.S.-Stabschefs ging man Ende 1954 davon aus, dass die sowjetische Seite ihre einzige Hoffnung, einen künftigen Krieg gewinnen zu können, darein setzen musste, schon in der ersten Phase das atomare U.S.-Gegenschlagpotenzial in den USA u n d Europa »immediately and decisively« zu zerstören; M e m o r a n d u m JSPC an JSSC, 8.11.1954, Declassified Documents Reference System (DDRS) 1979, Dok. 405 B. Vgl. Wampler, Ambiguous Legacy, S. 602 bzw. 615. The History of the Joint Chiefs of Staff, vol. 5, S. 35. FRUS, 1952-1954, vol. 2, part 1, S. 593.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

zeitlich aufwendigeren politischen Alarmierungssystem nicht zulasten der militärischen Einsatzfähigkeit gingen; verfügbare Atomwaffen und effiziente Alarmierung konnten aber nur wirksam werden, wenn SACEUR verzögerungslos ab der höchsten NATO-Alarmstufe General Alert zusammen mit der Durchführung seines Operationsplans (Emergency Defense Plan, EDP) auch seinen vorgeplanten atomaren Einsatzplan (Atomic Strike Plan, ASP) selbst freigeben konnte45. Dazu sah SHAPE die Notwendigkeit zur weiteren Delegation über SACEUR hinaus auf dessen Major Military Commanders - für die Verteidigung Mittel- und Westeuropas die Oberbefehlshaber Europa Nord (CINCNORTH), Mitte (CINCENT) und Süd (CINCSOUTH) - sowie in besonderen Fällen bis auf die Ebene von Armeeoberbefehlshabern herunter. Dies wiederum bedeutete, dass schon im Frieden bei den entsprechenden Kommandobehörden U.S.-Spezialisten für atomare Einsatzfragen bereitstehen mussten, die auf die Freigabe von SACEUR hin die Waffen unmittelbar einsetzen konnten46. Aus der extrem risikobehafteten Situation schnell anwachsender amerikanischer Atompotenziale in Europa, die zwar psychologisch wie faktisch den Nuklearschutz der Führungsmacht für das Bündnis erweiterten, gerade wegen ihrer einsatznahen Dislozierung aber auch sehr verwundbar waren und damit die ersten Ziele eines sowjetischen Überraschungsangriffs sein mussten, entwickelte sich sofort ein weiteres Problem: die Entscheidung über einen Ersteinsatz von Atomwaffen durch die USA und damit eng verbunden die Frage einer vorausgehenden Konsultation der Verbündeten. Eine Operationsplanung, die nach Minuten und Stunden, nicht mehr nach Tagen oder Wochen zu disponieren hatte, war auf militärisch automatisierte Abläufe angewiesen, die jeden politisch verzögernden Eingriff von außen zum kaum noch vertretbaren militärischen Risiko machte. In solcher Perspektive musste auch das Denken in den Kategorien von vorausgegangener Aggressionshandlung des Angreifers und erst davon ausgelöster, reaktiver Antwort des Verteidigers zunehmend obsolet werden. Dem Angreifer die volle Initiative des ersten Schlages zu überlassen, hieß dann nämlich, so unannehmbare Anfangsverluste auf sich zu nehmen, dass diese bereits einer vorweggenommenen Niederlage gleichkamen. Nach den Erfahrungen in Korea mit den schweren Rückschlägen und Verlusten für die dort eingesetzten UN-Kontingente unter amerikanischer Führung war die Eisenhower-Administration aber nicht mehr bereit, analoge regionale Einsätze von U.S.-Truppen ohne sofortige Unterstützung durch ihre integrierte atomare Komponente zuzulassen. Eine Kriegführung ä la Korea mit auf dem Rücken gebundenem nuklearem Arm der USA sollte es nicht mehr geben. Taktische Atomwaffen in ihrer Funktion als lediglich in ihrer Wirkung gesteigerte >kon45

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Vgl. Wampler, Ambiguous Legacy, S. 621 f; zur Alarmierungsproblematik jetzt auch Maier, Die politische Kontrolle, S. 319 f. und 332. Stellungnahme SACEUR betr. Atomic Policy, 2.7.1954, SHAPE History, vol. 3, S. 88 f. Unterstützung hatte er dafür bereits Anfang 1954 bei der U.S. Army gefunden, Memorandum Chief of Staff, U.S. Army, 6.2.1954, National Archives (NA) Washington, D.C., RG 218, Geographical File, box 46, CCS 092 Western Europe (3-12-48), sect. 283.

II. Die Nuklearisierung der Bündnisstrategie als Kompromiss

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ventionelle< Waffen waren deshalb unabhängig davon, ob der Gegner bereits zu ihrem Einsatz gegriffen hatte, nach eigenem Ermessen immer dann einzusetzen, wenn es die Entwicklung der militärischen Lage erforderte 47 . Das warf allerdings enorme bündnispolitische Probleme auf - und Außenminister John Foster Dulles bekam dies auch sofort zu spüren, als er in der Allianz mit seinem »Erziehungsfeldzug« 48 zugunsten des >New Look< und einer Nuklearisierung der Bündnisverteidigung ansetzte. Auf der Dezembertagung des NATO-Rats von 1953 suchte er seine westeuropäischen Ministerkollegen nicht nur mit der neuen konventionellen Rolle taktischer Atomwaffen vertraut zu machen, er verwies auch darauf, dass derjenige, der zuerst zu ihnen griff, daraus ernorme militärische Vorteile ziehen konnte49. Hatte er hier die Frage eines Ersteinsatzes noch sehr kryptisch behandelt, so wurde er bei der nächsten Tagung im Frühjahr 1954 schon sehr viel konkreter. Die USA könnten nicht ausschließen, dass sie als Erste zu Atomwaffen greifen müssten, ohne damit auf einen sowjetischen Nukleareinsatz zu reagieren, da eine solche amerikanische Selbstbeschränkung der sowjetischen Führung sonst die Risikokalkulation erleichtern und damit den Wert der westlichen Abschreckung reduzieren würde50. Die Westeuropäer hatten sich zwar schon Ende 1953 grundsätzlich darauf eingelassen, dass man mit Blick auf den von ihnen gebilligten Zulauf taktischer Atomwaffen nunmehr auf eine Strategie des >langen Atems< im Kalten Krieg setzen konnte. Beim Treffen der Regierungschefs und Außenminister der drei Westmächte auf den Bermudas Anfang Dezember 1953 hatte Dulles mit seiner Rhetorik über den Gebrauch von Atomwaffen als »normale Waffen« jedoch noch heftige Gegenreaktionen seiner Partner ausgelöst51. Der französische Außenminister Georges Bidault forderte daher jetzt im Frühjahr 1954 eine ständige Konsultationspflicht in der Standing Group, da Frankreich für die auf seinem Territorium - insbesondere in Französisch-Marokko - zu stationierenden amerikanischen Trägersysteme und Atomwaffen vor deren Einsatz ähnliche Mitsprache reklamierte, wie London dies für die in Ostengland dislozierten Teile des SAC geltend machte. Und tatsächlich erreichte Frankreich in einem Notenwechsel zwischen Außenminister Bidault und dem amerikanischen Botschafter in Paris, C. Douglas Dillon, schon Anfang April 1954 wortgleiche Zusagen, wie 47

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In der MC 48 vom 18.11.1954 hieß es dazu: »Our studies have indicated that without their immediate use we could not successfully defend Europe within the resources available. Any delay in their use - even measured in hours - could be fatal. Therefore, in the event of a war involving NATO it is militarily essential that NATO forces should be able to use atomic and thermonuclear weapons in their defense from the outset.« NATO Strategy Documents, S. 242. Maier, The Federal Republic, S. 399; ähnlich Wampler, Ambiguous Legacy, S. 601. Aufzeichnung des Leiters der Europa-Abteilung im State Department, Merchant, über die geheime Sitzung des NAC, 16.12.1953, FRUS, 1952-1954, vol. 5, S. 476-479; zur BermudaKonferenz: Dockrill, Eisenhower's New Look, S. 86 f. Rede des U.S.-Außenministers vor dem NATO-Rat in Paris, 24.4.1954, FRUS, 1952-1954, vol. 5, S. 509-514; erste öffentliche Hinweise darauf hatte Dulles bereits in seine Grundsatzrede vor dem Council on Foreign Relations am 12.1.1954 verpackt, The Development, vol. 1, S. 281-284. Maier, Die politische Kontrolle, S. 331.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

sie in der amerikanisch-britischen Vereinbarung vom Januar 1952 festgelegt waren52. Derartige Absprachen jetzt und in der Zukunft standen freilich immer unter dem amerikanischen Vorbehalt, dass die militärische Lage solche Konsultation im Ernstfall zeitlich überhaupt noch erlauben würde. In die an die Adresse der Westeuropäer gerichtete Überzeugungsarbeit schaltete sich Anfang 1954 auch zunehmend die militärische Führungsspitze der NATO ein. General Alfred M. Gruenther nutzte ein eingehendes Gespräch mit den bei SHAPE akkreditierten Korrespondenten der wesentlichsten amerikanischen, britischen und französischen Zeitungen dazu, um erstmals konkreter auf die Grundzüge einer taktisch-atomar verstärkten Verteidigung Europas einzugehen. Zwar seien die Präsenzstreitkräfte des Bündnisses immer noch nicht hinreichend, um eine effiziente Vorwärtsverteidigung entlang der Demarkationslinie zum Ostblock aufzunehmen. Die atomare Verstärkung im ACEBereich habe aber die Einsatzstärke der NATO-Luftstreitkräfte nach Einsatzradius, Einsatzspektren und Wirkungskraft so erheblich erhöht, dass die Rote Armee die Schildstreitkräfte der Allianz nicht mehr einfach überrennen könne. Sie müsse dazu vielmehr zusätzliche Kräfte aus der Tiefe des osteuropäischen Raumes heranführen, und dies werde im Westen nicht unbemerkt bleiben, die Vorwarnzeit der NATO mithin wesentlich erhöhen. Im Übrigen lägen die militärischen Vorteile taktischer Atomwaffen eindeutig beim Verteidiger, da sie durch ihre Flächenwirkung jede Kräftekonzentration auf dem Gefechtsfeld bestrafe und gleichzeitig die Mobilität eines Angreifers einschränke. Selbst unter so verbesserten Bedingungen sei die NATO jedoch nach wie vor gezwungen, in einer ersten Phase Raum preiszugeben, denn wirkliche Vorwärtsverteidigung bleibe »ohne deutsche Streitkräfte unmöglich«53. Die Botschaft an die Öffentlichkeit in den NATO-Staaten war eindeutig: das Bündnis benötigte für seine Verteidigung beides gemeinsam, taktisch-atomare Waffen plus konventionelle deutsche Streitkräfte. Intern war man sich freilich bei SHAPE im Klaren darüber, dass die Nuklearisierung der Bündnisstrategie neben ihren Chancen auch unübersehbare Risiken in sich barg. Der Air Deputy General Lauris Norstad fasste dazu im Frühjahr 1954 das neue Bild des Krieges unter atomaren Bedingungen in fünf zentralen Faktoren zusammen: Die Schnelligkeit, mit der die neuen Waffen zum Einsatz gebracht werden konnten, komprimierte (1) den Faktor Zeit für die politische und militärische Führung in einem nie dagewesenen Maße. Man konnte nunmehr nämlich mit vergleichsweise klein gehaltenen Kräften in kürzester Zeit eine unverhältnismäßig größere Zerstörungskraft gegen den Gegner, und dieser wiederum gegen die eigene Seite richten als je zuvor. Dies verschob andererseits (2) die Gewichte nachhaltig zugunsten sofort präsenter und gegen erst zu mobilisierende Streitkräfte, da die militärische Vorentscheidung schon 52 53

Ebd., S. 333 f. und Schmitt, Frankreich und die Nukleardebatte, S. 46. Rede des SACEUR bei einem Abendessen, 11.1.1954, PRO, CAB 129/66, C. (54) 86; zur Bewertung von Atomwaffen in den NAG-Studien 1953/54 vgl. auch Wampler, Ambiguous Legacy, S. 616-618.

II. Die Nuklearisierung der Bündnisstrategie als Kompromiss

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in der ersten Phase eines mit voller Intensität zu führenden nuklearen Schlagabtausches fallen würde. Für die eigenen Streitkräfte kam es daher in dieser Anfangsphase wesentlich darauf an, wie man (3) die atomaren Schläge des Gegners »absorbieren und überleben« konnte und dabei immer noch hinreichendes Potenzial übrig behielt, um die verbliebenen Feindkräfte in der Folgezeit zu bekämpfen. Dazu musste sich (4) die NATO von dem Bild eines auf Europa begrenzbaren Krieges lösen, der vielmehr sofort global eskalieren würde. Deshalb waren strategisch-nukleare Operationen vom SAC und taktischnukleare Einsätze im ACE-Bereich aufeinander abgestimmt zu planen und zu führen. All dies zusammengenommen lief (5) auf eine zentrale Grundentscheidung hinaus: die N A T O musste ihre kollektive Verteidigungsplanung aus politischen, wirtschaftlichen und militärischen Gründen auf ihrer »Stärke« und nicht auf ihren »Schwächen« aufbauen. Das aber hieß, sich von allen nichtnuklearen Optionen zu verabschieden und »to build our plans around the employment of nuclear weapons in the event that war is forced upon us« 54 . Darin waren sich inzwischen alle militärischen Planungsstäbe von den Vereinigten Stabschefs über die britischen Stabschefs und die Standing Group bis zur New Approach Group bei SHAPE einig. Bedenken meldeten dagegen die Briten über die davon abgeleiteten, sehr weitgehenden atomaren Befugnisse von SACEUR an. In London bezweifelte man, dass auf der Bündnisebene das Maß an politischer Vorabfreigabe für Atomwaffen zu erreichen war, das SHAPE für erforderlich hielt, um rechtzeitig reagieren, ja im Extremfalle sogar »preemptive« 5 5 losschlagen zu können, wenn er einen Feindangriff als unmittelbar bevorstehend annahm. Der NATO-Rat würde sich schwerlich derart weitgehend seiner politischen Mitsprache begeben und Entscheidungen von solcher Tragweite für das Uberleben der eigenen Völker von rein militärischen Automatismen abhängig machen wollen. Dies musste umso mehr gelten, wenn die Gegenseite zunächst keine Atomwaffen einsetzte, die militärische Führung der N A T O aber dennoch den eigenen Einsatz für unabdingbar hielt, um einer irreversiblen Niederlage zuvorzukommen. U m die Grundentscheidung der NATO für eine Nuklearisierung der Bündnisstrategie nicht zu gefährden, einigten sich Eisenhower und Dulles jedenfalls darauf, aus psychologischen Gründen keinen Druck auf den NATO-Rat für eine vorzeitige Freigabe von Atomwaffen auszuüben. Dabei blieb in Washington jedoch klar, dass solche politischen Vorbehalte im Einsatzfalle die Realisierung der atomaren Einsatzpläne von SACEUR nicht blockieren würden, da man in letzter Konsequenz über dessen Funktion als Oberbefehlshaber der U.S. Streitkräfte in Europa (USCINCEUR) auch unilateral handeln konnte 56 . Als Kompromisslösung einigten sich Amerikaner, Briten und Kanadier schließlich im Vorfeld der entscheidenden NATO-Ratssitzung vom Dezember 1954 darauf, dass die Erarbei54 55

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Denkschrift Norstads, 23.4.1954 (SHAPE AD/5/54), in: SHAPE History, vol. 3, S. 6 2 - 6 4 . Vgl. dazu Wampler, Ambiguous Legacy, S. 645 f. und Maier, Die politische Kontrolle, S. 344. Zur Frage der SACEUR-Befugnisse: Wampler, Ambiguous Legacy, S. 6 3 1 - 6 3 6 und 646-649.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

tung der Einsatzpläne einschließlich ihrer nuklearen Komponenten in militärischen Händen liegen, ihre Auslösung im V-Falle jedoch erst nach Zustimmung durch die politischen Autoritäten erfolgen sollte57. Damit war der Weg frei für die Anpassung der NATO-Strategie an die Vorgaben des amerikanischen >New LookNothäfen< und vorbereiteten Anlandestellen Kräfte und Maßnahmen zum Schutz gegen feindliche U-Boote und Luftangriffe zu treffen51. Mindestens ebenso bedeutsam für die Beweglichkeit der NATO-Truppen auf dem Gefechtsfeld und die Aufrechterhaltung des militärischen wie zivilen Koordinations- und Versorgungsverkehrs war ein ebenfalls bereits im Frieden anzulegendes Betriebsstoffsystem (NATO POL Supply System). Von SHAPE wurde dazu eine NATO-Behörde vorgeschlagen, der die ständige Kontrolle aller für die europäische Versorgung bestimmten Tanker sowie abgestimmter Verteilungsverfahren obliegen sollte. Ein gegen Luftangriffe gehärtetes gemeinsames Pipeline-Netz hatte die Weiterleitung des angelandeten Rohöls in NATO-Tanklager und von dort aus weiter in einsatznahe Betriebsstofflager in den rückwärtigen Versorgungsräumen der vorn eingesetzten NATO-Verbände sowie - anteilig und soweit militärisch möglich - in die für die Zivilversorgung vorgesehenen Tanklager zu gewährleisten. Was von SHAPE als dringend angesehen wurde und sich über ein seit 1952 im Aufbau befindliches Netzwerk an Betriebsstofflagern und verbindenden Pipelines auch bereits durch Frankreich, Belgien und die Niederlande an den Rhein vorzuschieben begann, stieß freilich 50

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Unterlagen zu den NATO-Übungen CAPEX (= Civil Affairs Planning Exercise) und CIMICEX (= Civil Military Cooperation Exercise): BA-MA, BW 2/2109 bzw. 2110 und BW 2/20121. Der defizitäre Gesamtstand vorbereiteter M a ß n a h m e n ist zusammengefasst in einem M e m o r a n d u m , Chief of Naval Operations an JCS »Deficiency of Landing Ships, Landing Craft and Amphibious Vehicles in Allied C o m m a n d Europe«, 21.7.1954, NA, RG218, Geographical File, box 47, CCS 092 Western Europe (3-12-48), sect. 290; vgl. auch die Leitlinie JCS für den U.S. Representative beim MC der NATO, 29.3.1955, ebd., sect. 10 sowie den zusammenfassenden Bericht von PBEIST an NAC, 25.4.1955, NICSA, AC/15D/60.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

in seiner letzten militärischen Ausgestaltung an nationale und zivile Grenzen. Für die USA war es nicht akzeptabel, ihre Tanker über eine NATO-Behörde unter internationale Kontrolle stellen zu lassen und damit die Ölversorgung amerikanischer Verbände aus den Händen der U.S.-Regierung zu geben. Außerdem überwogen in den NATO-Staaten die Bedenken ziviler Notstandsplaner gegen mehr als eine beratende Rolle der militärischen Kommandobehörden bei Betriebs- und Verteilungsfragen der gemeinsamen Rohölbestände, da man den Betrieb mit zivilen Fachleuten für professioneller und kosteneffizienter ansah52. Unter Kriegsbedingungen würde man zudem im Falle militärischer Kommandoführung bei den unvermeidlichen Verteilungskämpfen in der NATO wie auf den nationalen Bedarfsebenen eine allzu einseitige Prioritätensetzung zugunsten militärischer Versorgungsansprüche zu besorgen haben. Schon unter herkömmlichen Kriegsbedingungen war schließlich ein psychologisch wie planerisch besonders belastetes Thema nicht aus den Verteidigungsvorbereitungen der NATO für Mitteleuropa auszuklammern, das für den potenziellen Frontstaat Bundesrepublik im Kriegsfalle von einschneidender Bedeutung werden musste. Wenn man, wie vorerst militärisch unvermeidlich, erheblichen deutschen Raum in der Anfangsphase eines Konfliktes preisgeben musste, was tat man dann für die davon betroffene Zivilbevölkerung? Forderte man sie, wie dies die NATO-Richtlinie des >stay-at-home< für die Masse vorsah, zum Verbleiben vor Ort auf oder bereitete man nicht wenigstens einen Teil der von Kampfhandlungen voraussichtlich besonders hart betroffenen Bewohner der Ballungsgebiete auf umfangreiche Evakuierungen vor? Was konnte man insbesondere gegen die Flüchtlingsströme tun, die in ihren Größenordnungen nur einschätzbar waren, aber wohl in die Millionen gehen und sich bei einer in der deutschen Bevölkerung verbreiteten >Russenangst< wie den noch kaum verarbeiteten Erfahrungen aus dem Bombenkrieg unter panikartigen Umständen aus den Städten im Osten der Bundesrepublik nach Westen bewegen würden? SHAPE hatte sich jedenfalls bereits im Frühjahr 1953 an den U.S.Hochkommissar in Deutschland mit der Frage gewandt, wie sich sein für den mitteleuropäischen Kriegsschauplatz vorgesehener Oberbefehlshaber EuropaMitte (CINCENT) verhalten solle, falls sich diese Flüchtlingsmassen aus der Bundesrepublik auf die westlichen Nachbarländer zu bewegten und gleichzeitig die militärische Verkehrsführung auf dem Gefechtsfeld Bundesrepublik empfindlich störten. Mit Blick auf die öffentlichen Auseinandersetzungen in Westdeutschland um einen künftigen deutschen Verteidigungsbeitrag war man sich damals indes schnell einig geworden, dass man in dieser Sache derzeit aus politischen Gründen zweckmäßigerweise noch keine Vorstöße bei deutschen Behörden unternehmen sollte53.

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Entscheidung JCS 2073/856 betr. »NATO POL Supply System«, 4.8., und Weitergabe an U.S. Representative beim MC, 24.8.1954, ebd., sect. 290 bzw. 294. Protokoll der Sitzung des Committee on Civil Organization in Time of War am 28.4.1953, 12.5.1953, NISCA, AC/23-R/7.

III. Die Implementierung der Vergeltungsstrategie im Bündnis und die Aufbaukrise

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Intern war man sich in der Eisenhower-Administration natürlich im Klaren darüber, welche psychologischen Folgen es in Westeuropa haben musste, wenn man die bisherigen Verteidigungsplanungen konsequent nuklear ausweitete. Gerade deswegen hatte man ja der Nuklearisierung der NATO-Strategie eine amerikanische Erziehungskampagne an die Adresse der Europäer vorangestellt, aber eben letztlich begrenzt auf die politischen und militärischen Eliten. Drang die Strategieumstellung aber erst einmal voll ins öffentliche Bewusstsein, dann sah Eisenhower schon Ende 1953 voraus, dass sich ein Großteil der westeuropäischen Bevölkerungen davon weniger geschützt denn als »defenseless targets of atomic warfare« betrachten oder - wie es sein Außenminister noch drastischer ausdrückte - Atomwaffen schnell nicht »as one of the great new sources of defensive strength«, sondern »as the gateway to annihilation« bewerten würde 54 . Die weltweit einsetzende Debatte über die Wirkungen von Kernwaffen und insbesondere über deren Mittel- und Langzeiteffekte in Form von radioaktiven Niederschlägen (fallout) nach den schweren Schädigungen japanischer Fischer im Einzugsbereich amerikanischer H-Bombenversuche in der Südsee 53 ab 1954 sollten solche Befürchtungen schon wenige Monate später nachdrücklich untermauern. In den westlichen Hauptstädten registrierte man aber Anfang 1955 auch mit einiger Sorge das Anwachsen einer neuen deutschen Protestwelle gegen die Aufrüstung der Bundesrepublik in der sogenannten »Paulskirchen-Bewegung« 56 . Eine Untersuchung der RAND Corporation hatte immerhin schon 1954 einen weitverbreiteten »atomaren Fatalismus« als Grundstimmung in der westdeutschen Öffentlichkeit bei Umfragen über einen möglichen künftigen Krieg ausgemacht 57 . Um dem gegenzusteuern, wollte SHAPE in Westeuropa insgesamt mit Blick auf die >FalloutErziehung< der westeuropäischen Eliten nunmehr auch auf die Öffentlichkeit der westeuropäischen Länder auszudehnen. Was man brauche, sei eine grundsätzliche »acceptance of the use of atomic weapons as >conventionalLücken< auf deutschem Boden als atomare Fallen für den Angreifer in den Blick, dann konnte man sich unschwer ausmalen, welche fatalen Auswirkungen öffentliche Debatten über Atomkriegführung auf die Verteidigungsbereitschaft der Westdeutschen und ihr Verhalten unter Kriegsbedingungen ha-

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Eisenhower bzw. Dulles vor dem NSC, 10.12.1953, FRUS, 1 9 5 2 - 1 9 5 4 , vol. 5, part 1, S. 451 f. Dafür nach wie vor zentral: Divine, Blowing on the Wind. Vgl. dazu Α WS, Bd 3, S. 1 0 7 - 1 0 9 (Beitrag Thoß). Zahlen und Analysen dazu bei Speier, German Rearmament, S. 247-259. Fernschreiben SACEUR an CJCS, 3. und 8.3.1955, DDRS 1979, 28 Β bzw. NA, RG 218, Geographical File, box 47, CCS 092 Western Europe (3-12-48), sect. 8. Gespräche Eisenhower-Dulles, 6. und 7.3.1955, FRUS, 1 9 5 5 - 1 9 5 7 , vol. 19, S. 60 f.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

ben mochten. In Auswertung einer Zivilschutzübung bei NORTHAG auf dem Übungsplatz Sennelager ging SHAPE jedenfalls schon im Frühjahr 1954 davon aus, dass man in Zukunft zwar noch nicht näher berechenbare, aber »most drastic action« gegen spontane Massenfluchtbewegungen nach Westen im V-Falle ins Auge zu fassen hatte, um die Gefechtszone für militärische Verbände gangbar zu halten und die Bevölkerung mehrheitlich zum >Stay-at-home< zu zwingen. Doch selbst dann rechnete man mit wenigstens drei Millionen Flüchtlingen, die den Rhein überschreiten würden und danach anteilig in den Niederlanden, Belgien und Nordfrankreich aufgefangen werden mussten. Beruhigend konnte SACEUR dem französischen Verteidigungsminister Pierre Koenig allenfalls versichern, dass die Bundesregierung die Problematik inzwischen untersuchen lasse60. Gemeinsame Auswertung von Problemen sowie Planung, anteilige Finanzierung und führungstechnische Koordination aller dieser Überlegungen und Maßnahmen schlugen sich dazu nieder in einem ganzen System von NATOFachausschüssen. Die meisten dieser Einrichtungen hatten ihre Tätigkeit bereits vor der nuklearen Wende in der Bündnisstrategie aufgenommen. Sie mussten jetzt darauf eingestellt werden, dass sich alle militärische wie zivile Notstandsplanung künftig unter den Bedingungen eines atomar geführten Krieges in Europa zu bewähren haben würde61. Bezeichnend für angelsächsisch geprägtes gesamtstrategisches Denken und Handeln war es dabei, dass mit der engeren operativen Planung lediglich zwei NATO-Gremien, nämlich die Standing Group der großen Drei und das Military Committee der Generalstabschefs aller Bündnismitglieder befasst waren, während die überwältigende Mehrzahl der NATO-Ausschüsse mit der politisch-militärischen, der ökonomischmilitärischen und der zivil-militärischen Koordination betraut war. Über ihre koordinierenden Funktionen sollte ursprünglich neben dem allianzinternen Gedankenaustausch vor allem eine kosteneffizientere Lastenteilung im Bündnis durch Gemeinschaftsprojekte aktiviert und vorangetrieben werden. Das galt natürlich auch weiterhin. Nur verdichteten und konkretisierten sich ihre Aufgabenstellungen jetzt unter dem Druck einer durch taktische Atomwaffen radikalisierten Form der Kriegführung auf einem möglichen nuklearen Schlachtfeld Westeuropa, dessen vorgeschobenste Bastion wiederum das Neumitglied Bundesrepublik mit seinem Territorium, seiner Bevölkerung und seinen aufwachsenden Streitkräften abzugeben hatte. Neu war an alledem im positiven Sinne, dass das unstrittige Kernziel gemeinsamer Verteidigungsabsichten nicht mehr in der Kriegführung, sondern in der Kriegsverhinderung gesehen wurde. Sollte dies aber glaubwürdig auf die eigenen Bevölkerungen wie auf den potenziellen Gegner wirken, dann musste die NATO bei all ihrer Konzentration auf Abschreckung auch für den Fall von 60

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Unterlagen des Committee on Refugees and Evacuees, 11.8.1954, NISCA, AC/23 (RE) D/31. Note des NATO-Generalsekretärs Lord Ismay »Further Assumptions for Civil Emergency Planning«, 19.1.1955, NISCA, C-M (55) 8.

III. Die Implementierung der Vergeltungsstrategie im Bündnis und die Aufbaukrise

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deren Scheitern handlungsfähig sein. Es ist daher kennzeichnend, dass die öffentlichen Debatten der Zeit über ein Versagen der westlichen Appeasementpolitik gegenüber der faschistischen Herausforderung vor 1945 voll durchschlugen auf die Bedrohungsperzeptionen und Selbsteinschätzungen bei den politischen und militärischen Eliten in den NATO-Staaten danach. Nirgends wird dies greifbarer als bei den Grundsatzdebatten 1949/50 um eine militärische Erweiterung des amerikanischen Containment gegenüber der kommunistischen Welt. Anders als im Falle der Achsenmächte vor und im Zweiten Weltkrieg ging man bei aller Holzschnittartigkeit im Schlagabtausch mit dem östlichen Gegner vor den Schaufenstern der Weltöffentlichkeit allerdings jetzt nicht von dessen militärischer Unberechenbarkeit aus. Allianzpolitisches Verhalten und militärische Vorkehrungen der eigenen Seite durften ihm nur nicht die Chance zur Erlangung uneinholbarer Rüstungsvorsprünge bieten, oder ihn der Versuchung zu militärischem Handeln in vermeintlichen Schwächemomenten des Westens aus einer Fehlperzeption westlicher Entschlossenheit und Handlungsfähigkeit aussetzen. Daraus erwuchs jener selbstinduzierte Zwang zu einem präventiven Planen und Handeln schon im Frieden aus der Optik eines jederzeit möglichen Umschlags vom Kalten in einen Heißen Krieg. Antagonistische Bedrohungsvorstellungen und technologische Entwicklung von Massenvernichtungswaffen gipfelten dabei für den Konfliktfall in totalen Kriegsbildern, zu deren Bewältigung man sich wiederum wechselseitig schon im Frieden an Formen totaler Kriegsvorbereitungen annäherte. Im Kern begab sich politische Führung damit aber, wenn sie das gemeinsame Kriegsbild ernst nahm und - wie sie es mit ihrer Entscheidung vom Dezember 1954 getan hatte - darauf mit der vollen Nuklearisierung der Bündnisstrategie reagierte, in extreme Abhängigkeit zu zeitlich eng begrenzten operativen Notwendigkeiten. Drohte nämlich die Abschreckung zu versagen, dann - so Eisenhower gegenüber Churchill - »victory or defeat could hang upon minutes and seconds used decisively at top speed or tragically wasted in indecision«62. Daran musste wiederum aus amerikanischer Sicht jede nukleare Mitbestimmung in der strategischen Kernfrage des Bündnisses ihre unverrückbaren Grenzen finden. Wenn es die verfügbare Zeit in einer Krise erlauben würde, konnte man sich wechselseitig konsultieren; in keinem Falle durften die Festlegungen innerhalb der NATO für Washington aber so weit gehen, dass man sich die als notwendig erachtete nationale Entscheidungsbefugnis zum Einsatz von Atomwaffen unter dem zu erwartenden Zeitdruck zum eigenen militärischen Schaden auf Bündnisebene beschneiden ließ. Die Handhabe dafür bot Artikel 5 des NATO-Vertrages, der die Art eines militärischen Reagierens in letzter Konsequenz in die Hand jedes einzelnen Bündnismitglieds legte63. Daraus resultierte eine unaufhebbare GewichtsverBrief Eisenhowers an Churchill, 25.1.1955, zit. nach Wampler, Ambiguous Legacy, S. 648. Schreiben von Dulles an Verteidigungsminister Wilson über Notwendigkeit und Grenzen von entsprechenden Verhandlungen, in diesem Falle mit Großbritannien, Kanada und Frankreich, 8.2., sowie Stellungnahme JCS dazu, 2.5.1955, The History of the Joint Chiefs of Staff, vol. 6, S. 145.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

teilung innerhalb der Allianz zwischen der zu globalem wie regionalem, atomarem wie konventionellem Handeln befähigten Führungsmacht USA, den atomar eingeschränkt handlungsfähigen Großmächten Großbritannien und Frankreich und den übrigen nichtnuklearen Bündnispartnern, die nach den Kriterien einer allianzinternen Lastenteilung regional begrenzte militärische Aufgaben entsprechend ihren ökonomischen Möglichkeiten und militärischen Mitteln wahrzunehmen hatten. Für eine gemeinsame Verteidigung markierten deshalb letztlich die Stabschefs in Washington mit ihrer Zustimmung zum Joint Strategie Capabilities Plan für das Haushaltsjahr 1956 im Frühjahr 1955 die möglichen Konfliktformen und die momentan berechenbaren militärischen Eckdaten. Denkbar waren danach drei Kriegsszenarien: - Der als unwahrscheinlich erachtete, weil von einer global funktionierenden Abschreckung verhinderte »general war«; - »military operations short of general war« im Falle unglaubwürdig gewordener Verteidigungsvorkehrungen des Westens; - schließlich die Fortsetzung des derzeitigen »cold war« hart unterhalb der Schwelle zum militärischen Konflikt. Für den NATO-Raum ging man davon aus, dass die Sowjetunion ihre wachsende atomare Stärke dazu nutzen werde, die politische Auseinandersetzung zu intensivieren, um unterhalb eines auch für sie inakzeptablen, weil in seinen Weiterungen nicht berechenbaren Krieges zu einer politischen wie psychologischen Aufweichung des westlichen Bündniszusammenhalts zu gelangen. Die Systemauseinandersetzung im Ost-West-Konflikt verlagerte sich damit - und dies rechnete man sich innerhalb der NATO und bei ihrer Führungsmacht durchaus als Dividende aus den kollektiven westlichen Verteidigungsanstrengungen der zurückliegenden Jahre an - ein Stück weit weg von einer unmittelbar bevorstehenden militärischen Bedrohung und hin zu den weicheren Formen eines vorrangig ökonomischen und ideologischen Wettlaufs zwischen den Systemen. Nun kam es freilich darauf an, den Kalten Krieg auf diesem Niveau einzufrieren, ohne die Gegenseite zu Fehlkalkulationen über den Grad der westlichen Verteidigungsbereitschaft in ihrem militärischen Kalkül zu verleiten. Dazu musste die Sowjetunion aus amerikanischer Sicht nicht nur von einem allgemeinen Nuklearkrieg, sondern vor allem auch von Versuchungen zu »local military actions« abgeschreckt werden. Bei den vorhandenen konventionellen Mitteln der NATO war dies nur erreichbar, wenn es Washington trotz aller Selbstabschreckungseffekte bei seinen westeuropäischen Partnern auf sich nahm, die in der NSC 5501 festgelegte nukleare Linie durchzuhalten: »The U.S. purpose should be to deter local aggression or punish it severely and swiftly should it occur.« Gelang dies nicht schon im Ansatz während der ersten Stunden eines Konflikts unter beiderseitigem massenhaften Einsatz von Nuklearwaffen, dann wollte man eine Verteidigung zwar an der Rhein-Ijssel-Linie aufnehmen, als zurückgenommene Verteidigungspositionen aber auch weiterhin die Pyrenäen und die Alpen einplanen. Auf jeden Fall gehalten werden sollten

III. Die Implementierung der Vergeltungsstrategie im Bündnis und die Aufbaukrise

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dagegen in den tiefen Flanken des Angreifers »strong points« in Norwegen, auf den britischen Inseln und im Mittelmeerraum von Spanien über Italien und Griechenland bis in die Türkei, von denen aus erst in einer zeitlich schwer einschätzbaren zweiten Kriegsphase verlorenes Terrain wieder zurückzuerobern war 64 . In seiner Substanz folgte dies den strategischen Grundannahmen, die der jetzige Präsident Eisenhower noch als SACEUR 1951 für eine aus angelsächsischem Denken schöpfende Verteidigungsoption der NATO als realisierbar vorgeschlagen hatte. Uber das hinzu gekommene militärische Mittel taktischer Atomwaffen war sie lediglich in ihrer operativen Effizienz und in ihrer vermeintlichen Finanzierbarkeit wesentlich gesteigert worden. Das entsprach aber auch der Grundentscheidung des Präsidenten, die er aus den Erfahrungen des Koreakrieges ableitete, dass es auf Europa bezogen keine die eigenen Ressourcen aufsplitternden Vorbereitungen auf zwei mögliche Kriegsszenarien mehr geben sollte: mit oder ohne Einsatz von Kernwaffen. Lokale Konflikte unterhalb der atomaren Schwelle reduzierten sich für ihn auf sekundäre Grenzkämpfe oder Aufstandsbewegungen in der Dritten Welt. Wenn sich die Sowjetunion dagegen in Europa zum Krieg entschloss, musste sie dies in dem Bewusstsein tun, damit einen allgemeinen Krieg auszulösen. Nur so konnte globale Abschreckung auch regional wirksam werden. Genau an diesem Punkt sollten die Diskussionen indes weder innerhalb der Eisenhower-Administration noch in der amerikanischen und westeuropäischen Öffentlichkeit jetzt und in den nächsten Jahren zur Ruhe kommen. Der junge Historiker und Politikwissenschaftler Henry A. Kissinger gab dafür mit seiner Opposition gegen eine derartige »all-or-nothing military policy« nur den öffentlich wirksamsten Startschuss ab. Mit Blick auf ein Anwachsen der sowjetischen atomaren Möglichkeiten zog er schon jetzt die Glaubwürdigkeit einer reinen Abschreckungsstrategie in Zweifel, wenn er die Verteidigung des Westens nicht nur als eine Frage der Macht, sondern vor allem auch des Willens qualifizierte. Gehe es nämlich erst einmal um die Zerstörung von New York, Detroit oder Chicago, werde sich die Zahl der Weltgegenden stetig verringern, die in den Augen der Amerikaner das Risiko eines allgemeinen Atomkrieges wert seien. Lehne man daher, wie dies die derzeitige Administration tue, den Gedanken an regional und waffentechnisch begrenzbare Kriege aus prinzipiellen Erwägungen heraus ab, dann liefere man sich in den meisten denkbaren Konfliktszenarien der Alternativlosigkeit des Alles oder Nichts aus 65 . Damit stellte sich der Autor nicht nur an die Seite der militärischen Kritik an einer reinen Nuklearstrategie, wie sie zwischen den Stabschefs der Teilstreitkräfte bei den JCS in unverminderter Härte vorgetragen wurde. Auch der strategische und operative Kopf eines Streitkräfteaufbaus in der Bundesrepublik, General64

65

Zustimmung JCS zum Joint Strategie Capabilities Plan for FY 1956, 30.3., bzw. zum Joint Mid-Range War Plan for FY 1957, 15.4.1955, The History of the Joint Chiefs of Staff, vol. 6, S. 29 f. bzw. 26. Kissinger, Military Policy, S. 4 1 7 - 4 2 4 ; wesentlich verschärft und erweitert in seinem Bestseller, Kissinger, Nuclear Weapons.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

leutnant a.D. Adolf Heusinger, war schon bisher und sollte auch in Zukunft nicht müde werden, vor dem Setzen auf lediglich eine militärische Karte zu warnen66. Wenn einerseits die Vorwärtsverteidigung seit Himmerod die unaufgebbare Grundmaxime westdeutscher Verteidigungsplanungen darstellte, die amerikanischen Stabschefs sich andererseits technologisch bescheinigen ließen, man könne schon mit vergleichsweise klein gehaltenen Bodentruppen den Angreifer zu derartigen Massierungen zwingen, dass er unter erheblichen Verlusten im atomaren Feuer liegen bleiben würde67, dann sprach rein militärisch gesehen unter den gegebenen Kräfteverhältnissen in Mitteleuropa einiges für die operativen Überlegungen von 1954/55 bei SHAPE. Noch war man hier allerdings nicht so weit, dass sich eine angedachte Kombination aus den beiden dazu erforderlichen Komponenten - ausreichende Präsenzstreitkräfte und taktische Atomwaffen - nach Zahl und Einsatzwert bereits realisieren ließ. Dazu hatte der SACEUR im Sommer 1954 als vorrangige Forderung ein ausdifferenziertes Arsenal sofort verfügbarer und ohne größeren Zeitverzug einsetzbarer Atomwaffen für den ACE-Bereich in Ansatz gebracht. Die Masse davon sollte auf solche vorgeplanten Ziele gerichtet sein, die von allgemeinem militärischen Interesse für die gesamte europäische NATO-Verteidigung waren, also insbesondere festliegende Infrastrukturziele hinter den östlichen Angriffsverbänden betrafen. Durch deren Zerstörung würde sich ein nach Westen vorgetragener Angriff schnell nach Streitkräften und Logistik nicht mehr aus der Tiefe nähren lassen. Das musste sich aber auch entscheidend auf den Kampf um die Luftherrschaft über Europa gegen eine zu Kriegsbeginn noch zahlenmäßig überlegene sowjetische Luftwaffe auswirken, der durch eine frühe nukleare Gegenoffensive der NATO gegen ihre Basen die Einsatzmöglichkeiten drastisch beschnitten wurden. Und schließlich würden damit auch die zu diesem Zeitpunkt noch stark auf Bomber mittlerer Reichweite gestützten Angriffe mit sowjetischen taktischen Atomwaffen aus Westrussland heraus gegen West- und Mitteleuropa nachdrücklich zu reduzieren sein. Zusätzlich zu dieser schon im Frieden festzulegenden Zielauswahl vorgeplanter Nukleareinsätze hielt man bei SHAPE aber noch zwei weitere Pakete ständig verfügbar zu haltender Atomwaffen für unverzichtbar: eine atomare SACEUR-Reserve zum Einsatz gegen die nach Westen vorstoßenden Angriffsarmeen und eine klein gehaltene Anzahl von Atomwaffen, die für die Unterstützung der Einsatzpläne bei den unterstellten Heeresgruppen und Armeen in Nord-, Mittel- und Südeuropa vorzumerken (earmarked) waren.68 All dies zusammengenommen machte drei Vorbedingungen zur unverzichtbaren Voraussetzung für die operative Umsetzung der MC 48:

66 67

68

Meyer, Adolf Heusinger, S. 484-499. Vgl. dazu die Auswertung eines entsprechenden WSEP-Reports vom April 1955, Wampler, Ambiguous Legacy, S. 677-679. Vgl. dazu insgesamt SACEUR Atomic Policy, 2.7.1954, SHAPE History, vol. 3, S. 88.

III. Die Implementierung der Vergeltungsstrategie im Bündnis und die Aufbaukrise

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-

Taktische Atomwaffen der USA mussten in hinreichender Zahl nach Westeuropa verbracht und hier mit den nuklearfähigen Waffensystemen - Raketen, Flugzeuge, Artilleriegeschütze - einsatznah gekoppelt werden; - der Zugang zu Informationen über nukleare Waffen, Einsatzmittel und Wirkungen war so zu liberalisieren, dass sie im erforderlichen Umfang in den NATO-Stäben verbreitet werden konnten, um Ausbildung und Bedienung im NATO-Rahmen erweitern zu können; - und schließlich musste von der strengen Zentralisierung in der Einsatzfreigabe zugunsten dezentralisierterer Verfahren übergegangen werden, die nicht nur SACEUR selbst ein zeitverzugsloses Umsetzen seines Atomic Strike Plans erlauben, sondern diese Vorabfreigabe auch auf die Atomwaffen ausdehnen würde, die für eine Reihe genau festgelegter und zeitlich begrenzter Einsätze bei seinen unterstellten Kommandobehörden vorgemerkt waren. Dass dabei Marschall Juin als CINCENT am drängendsten auftrat, kann kaum überraschen, hatte er doch die am stärksten gefährdete Hauptfront mit den vorerst noch größten Defiziten an Präsenzstreitkräften zu behaupten. 1954/55 war freilich auch SACEUR nur dazu befugt, nukleargestützte Einsatzpläne aufzustellen und dafür amerikanisch bzw. britisch kontrollierte atomare Potenziale vorzusehen, über deren Freigabe auf politischer Ebene in Washington und London entschieden wurde. Erst für seinen Einsatzplan 1956 (EDP 1-56) konnte General Gruenther seinen unterstellten Befehlshabern einen atomaren Annex dazu ankündigen, in dem ein bis dahin angewachsenes Reservoir an taktischen Atomwaffen nach Anzahl und Verwendung fest eingeplant sein würde 69 . Der Aufbau der Bundeswehr begann mithin zu einem Zeitpunkt, da sich die NATO zwar bereits einer neuen Strategie verschrieben hatte, deren operative Umsetzung aber, was die erforderlichen Kampfmittel und Streitkräfte betraf, noch völlig in einer Umstellungsphase festsaß. Der Informationsstand darüber war selbst unter den langjährigen Bündnismitgliedern außerordentlich begrenzt, sieht man einmal von den großen Drei in der Standing Group und ihren Mitarbeitern in der New Approach Group bei SHAPE ab. Was man dabei vordringlich von den Aufrüstungsmaßnahmen des neuen deutschen Partners erwartete, waren vor allem seine zwölf zugesagten Divisionen, die SACEUR bereits für 1957 als einsatzbereit in seine Planungen eingestellt hatte70. Innerhalb einer multinationalen NATO-Streitmacht Europa Mitte (Allied Forces Central Europe, AFCENT) sollten sie den Kernbestand für jenen konventionellen >Stolperdraht< auf dem Territorium der Bundesrepublik abgeben, der mit leichten Deckungstruppen unmittelbar an der Demarkationslinie zum Ostblock und mit kampfstarken beweglichen Gegenangriffskräften dahinter jene Kräftemassierungen beim Gegner erzwang, die sich als atomare Flächenziele vernichten 69

70

Message SH 21020, 13.6.1955, ebd., S. 101; zur Kritik von Juin an Freigabe und Umfang des ihm zuerkannten Potenzials von 15 Atomwaffen für den AFCENT-Bereich: ebd, S. 87 und 100. Capabilities Plan ACE, 1.7.1954, ebd., S. 74.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

ließen. Denn eines hatte General Gruenther seinen unterstellten Befehlshabern ganz klar vor Augen geführt: sie alle wie ihre Kommandeure mussten sich freimachen von ihren Kampferfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg und sich im Fall des Falles auf die Schlacht der Zukunft einlassen, die rund um den massenhaften Einsatz von Atomwaffen zu planen und im Einsatzfalle zu führen war71. Wo aber standen zu diesem Zeitpunkt die neuen deutschen Partner mit ihren strategischen und operativen Vorstellungen? Immerhin hing es aus Sicht von SHAPE maßgeblich vom möglichst raschen Streitkräfteaufwuchs in der Bundesrepublik ab, wann neben der Zuführung taktischer Atomwaffen auch die zweite unverzichtbare Komponente einer effizienten NATO-Verteidigung wirksam wurde: die Verfügbarkeit hinreichender Präsenzstreitkräfte im AFCENT-Bereich. Nach einer bis zu zehnjährigen Pause in ihrem Soldatenberuf musste man indes gerade bei den zu reaktivierenden Führungskadern der künftigen Bundeswehr besorgen, dass sie zwangsläufig wesentlich aus ihren Weltkriegserfahrungen schöpfen würden. Schließlich standen doch selbst den Mitarbeitern im Amt Blank außer einer eingehenden Presseauswertung und dem allerdings zunehmend intensiveren Gedankenaustausch mit hochrangigen Offizieren der künftigen Verbündeten in der Phase der Verhandlungen um eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft, später um den NATO- und WEUBeitritt, noch keine ausreichenden Einblicke in die strategischen Planungen der NATO offen. Und selbst nach dem Bündnisbeitritt sollten die Deutschen für längere Zeit eher auf einer inhaltlich wie personell sehr restriktiven >need to knowEisernen Vorhangs< zum Schlachtfeld in einem europäischen Kriege machen musste. Seit Sommer 1954 kreisten seine Überlegungen daher um eine kleiner gehaltene Freiwilligenarmee von 120 000 bis 150 000 Mann, die - panzerabwehrstark und unmittelbar an der Demarkationslinie zwischen Ost und West disloziert - einen Abwehrriegel vor den schon unmittelbar dahinter beginnenden, bevölkerungsmäßig und wirtschaftlich neuralgischen Regionen der östlichen Bundesrepublik bilden sollte. Da Bonin im Übrigen den Verteidigungsplanungen bei SHAPE »Dilettantismus« attestierte, stellte er von vornherein stark auf ein national ausgerichtetes Verteidigungskonzept der Bundesrepublik ab, das jedoch aus bündnispolitischen wie militärischen Gründen schon im Amt Blank auf einhellige Ablehnung stieß. Deshalb suchte und fand er zumindest zeitweilig mit seinen jetzt auch deutschlandpolitisch abgestützten Argumenten innenpolitische Unterstützung in einer regierungskritischen Publizistik wie bei der Opposition. Damit isolierte er sich freilich trotz einiger öffentlicher Zustimmung letztlich innermilitärisch so weitgehend, dass er bereits im Frühjahr 1955 auf eigenen Antrag aus dem Amt Blank ausscheiden musste94. Seine Grundidee einer grenznahen Verteidigung sollte allerdings in den später noch zu erörternden Überlegungen Heusingers zu einer Kombination aus territorialer Verteidigung und Landesbefestigung wie in den Plänen über einen abwehrstarken Atomminengürtel entlang der innerdeutschen Grenze noch einmal in stark abgewandelten und immer mit dem Bewegungskrieg kombinierten Varianten zur Sprache kommen95. Eine damit korrespondierende, aber nicht vorrangig von operativen Gesichtspunkten, sondern vom ungelösten Problem des Bevölkerungsschutzes abgeleitete Kritik richtete sich seit den breiten publizistischen Erörterungen über erweiterte Einsatzspektren für Atomwaffen aus Kreisen deutscher Parlamentarier an die Adresse der deutschen Militärplaner. Die Stichworte dafür hatte Heusinger selbst schon im Sommer 1954 mit entsprechenden Anmerkungen vor dem Ausschuss für Fragen der europäischen Sicherheit gegeben. Mit Blick auf die wachsende Bedeutung von Atomwaffen hatte er sich besorgt über die wenigen Atomfachleute gezeigt, die man im Amt Blank mangels hinreichender finanzieller Möglichkeiten bisher habe einstellen können. Immerhin bestünden bereits enge Kontakte zum Bundesministerium des Innern, das federführend für alle Fragen des Zivilschutzes sei. Allerdings sei es dringend geboten, dass sich deren leitende Beamte nunmehr über die gewachsenen atomaren Gefährdungen zum »Studium der Abwehrmaßnahmen in Amerika« 94

95

Zum sog. Bonin-Plan umfassend: Brill, Bogislaw von Bonin, Bd 1, S. 117-161. Der Plan selbst vom Sommer 1954 ist abgedr. in: Brill, Beiträge zur Entstehungsgeschichte, S. 69-101. Zur Einschätzung und Kritik vgl. auch AWS, Bd 3, S. 432-434 (Beitrag Ehlert), Buchholz, Strategische und militärische Diskussionen, S. 180-185 und Gablik, Strategische Planungen, S. 61-65. Vgl. dazu Teil 2, Kap. IV.3.

III. Die Implementierung der Vergeltungsstrategie im Bündnis und die Aufbaukrise

97

verstanden 96 . In der Aussprache über Heusingers Manöverberichte aus dem Herbst 1954 legte Carlo Schmid dann freilich für die SPD-Opposition die Finger genau in diese Wunde, dass man nämlich in beiden operativen Lagen unter Einschluss taktischer Atomwaffen auf deutschem Gebiet die dort ansässige Zivilbevölkerung »offensichtlich [...] ganz außer Betracht gelassen hat«. Und sein Parteifreund Wilhelm Mellies brachte Heusinger zu dem Eingeständnis, dass man deshalb im Verteidigungsfalle voraussichtlich nicht um Evakuierungen großen Ausmaßes aus den besonders gefährdeten Ballungsgebieten herumkommen werde 97 . Was das konkret für das Bundesgebiet bedeuten konnte, förderte eine wenige Tage später vorgenommene Zielanalyse für deutsche Großstädte im Ständigen Ausschuss für die Planung des zivilen Luftschutzes zu Tage. Danach hielt man es bei den Fachleuten im Bundesministerium des Innern für ein schon jetzt feststehendes Erfordernis, dass »eine umfangreiche Evakuierung der Großstädte mit mindestens 50 % durchgeführt werden müsse«. Außerdem sei der Schutzraumbau hier mit Vorrang voranzutreiben, da nur so die sonst zu erwartenden Opferzahlen deutlich reduziert werden könnten. Bei einem Atomangriff gegen eine Großstadt von etwa 650 000 Einwohnern stellten sich die gravierenden Unterschiede danach wie folgt dar: Opferzahlen ohne Schutzräume und Evakuierungen

Opferzahlen mit Schutzräumen und Evakuierungen

467 000 Tote 260 000 Verletzte

19 000 Tote 75 000 Verletzte

Quelle: BA, Β 106/85 373

Der Vertreter Nordrhein-Westfalens hielt allerdings für die 18 in seinem Bundesland ineinander übergehenden Großstädte die erforderlichen Evakuierungen bei den dafür anfallenden personellen, materiellen und finanziellen Vorkehrungen schlicht »für unlösbar«. Und er wurde in dieser Skepsis von anderen Bundesländern wie vom Vertreter des Deutschen Städtetages nachdrücklich unterstützt 98 . Wohl hatten ehemalige Verantwortliche für den Luftschutz im Weltkrieg den Bundesminister für Wohnungsbau, Eberhard Wildermuth, schon 1950 auf die »Schutzlosigkeit des deutschen Volkes im Falle militärischer Operationen in Westeuropa« als dringend lösungsbedürftige Herausforderung für

96

97 98

Vortrag Heusingers, 12.7.1954, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 2. Wahlperiode, 15. Sitzung, S. 9. Vortrag Heusingers, 1.12.1954, ebd., 23. Sitzung, Zitate auf S. 24 bzw. 45. Niederschrift über die Tagung des Ständigen Ausschusses für die Planung des zivilen Luftschutzes und des Unterausschusses Luftschutzhilfsdienst in Hamburg, 9./10.12.1954, BA, Β 106/85 373. Vgl. zu den frühen Überlegungen über Luftschutz insgesamt die eben fertiggestellte Dissertation von Steneck, Protecting the Population, dem ich für die Einsichtnahme in Teile seines Textes danke.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

die Bundesrepublik aufmerksam gemacht". Auch einer von Bundeskanzler Adenauers frühesten militärischen Beratern, Hans Speidel, hatte sich in seinen »Gedanken über die Fragen der äußeren Sicherheit der Deutschen Bundesrepublik« im selben Jahr für die Schaffung eines einheitlichen Warn- und Zivilschutzsystems sowie für die rasche gesetzliche Fundierung derartiger Maßnahmen ausgesprochen 100 . In der Himmeroder Denkschrift vom Herbst 1950 war der zivile Luftschutz dagegen lediglich in einer lapidaren Nebenbemerkung als »Aufgabe des Innenministeriums« ausgewiesen, die wegen ihrer »besonderen Bedeutung« einer »beschleunigten Vorbereitung« bedürfe. Dazu seien »zivile Hilfskräfte« ebenso erforderlich wie »technische Truppen« und ein landesweiter »Luftschutzwarndienst«. Generell war dabei auch bereits auf das Problem von »Fluchtbewegungen der Bevölkerung in größerem Stil« verwiesen, die »auf ein Mindestmaß zu beschränken und dann fest zu steuern« seien101. Da den Deutschen indes laut Kontrollratsgesetzen Nr. 8 und Nr. 23 von 1945 bzw. I945102 v o r e r s t jede Art von staatlicher Zivilschutzplanung untersagt war, mussten 1950/51 zunächst einmal entsprechende alliierte Vorbehalte überwunden werden, bevor 1951 eine »Kommission zum Schutz der Zivilbevölkerung gegen atomare, biologische und chemische Angriffe« als wissenschaftliches Beratergremium beim Bundesministerium des Innern eingerichtet werden und zudem eine Zeitschrift »Ziviler Luftschutz« als Informations- und Koordinationsorgan aller derartigen Überlegungen und Maßnahmen im Bund und bei den Ländern erscheinen konnte103. Noch 1952/53 gingen jedoch die Ansichten im Bundesministerium des Innern über die aus nuklearer Bedrohung herrührenden Gefahren weit auseinander. Hielt der für den Zivilschutz generell verantwortliche Ministerialdirigent Botho Bauch derartige Sorgen mit den davon abgeleiteten Forderungen nach umfassenden Schutzvorkehrungen vor Kernwaffen noch für erheblich übertrieben, so warnte sein technischer Experte für Fragen der Waffenentwicklung, Dr. Heinz Dählmann, schon jetzt nachdrücklich vor möglichen flächendeckenden Einsätzen von ABC-Waffen im Krieg der Zukunft als der eigentlichen Herausforderung für den Zivilschutz104. Generell war man sich aber zwischen Innenministerium und Amt Blank sowie mit den beteiligten Bundesministerien für Wohnungsbau und für Verkehr über die Notwendigkeiten eines breiten Maßnahmenkatalogs für den zivilen Luftschutz, seine Organisation und seine Ausstattung einig. Frühzeitig angestellte Meinungsumfragen zeigten indes, dass 99

100 101 102 103 104

Memorandum unter diesem Titel, verfasst von August Ehrhard (verantwortlich für Luftschutz im ehem. Generalstab der Luftwaffe), Dr. Rudolf Hanslian (Herausgeber der Zeitschrift »Gasschutz und Luftschutz«) und Heinrich Paetsch (verantwortlich für Luftschutz im ehem. Preußischen Innenministerium), 21.8.1950, BA, NL Wildermuth, Bd 7. Speidel, Aus unserer Zeit, S. 477-479. Zitate bei Rautenberg/Wiggershaus, Die »Himmeroder Denkschrift«, S. 46 f. und 40. Gesetze des Alliierten Kontrollrats, Nr. 8, 30.11.1945 und Nr. 23, 10.4.1946, Sammlung. Reichenbach, Entwicklung, S. 9 - 1 3 . Vortrag Bauch »Der Aufbau des Zivilen Luftschutzes«, gehalten bei der Luftschutztagung des BMI 1953 in Bad Pyrmont, Grundfragen des Zivilen Luftschutzes, S. 21 f.; vgl. dagegen den Aufsatz v o n Dahlmann, Luftschutztechnische Forderungen, S. 29 f.

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nach den Erfahrungen der Deutschen im erst wenige Jahre zurückliegenden Bombenkrieg die öffentliche Zustimmung zu entsprechenden Maßnahmen eher enttäuschend ausfiel105. Das musste nicht nur jetzt und in der Zukunft die psychologische Verteidigungsbereitschaft in der Bevölkerung und ihr Verhältnis zu den militärischen Planungen künftiger deutscher Streitkräfte dauerhaft belasten. Es würde schnell auch beim weit hinter den erforderlichen Zahlen zurückbleibenden Zuspruch freiwilliger Hilfskräfte für entsprechende Warn- und Hilfsdienste zum ganz konkreten Planungsproblem von Zivilschutzdiensten und -maßnahmen werden. Wie aus den Festlegungen in den Pariser Verträgen und bei der bereits erwähnten Luftschutztagung Ende 1954 in Hamburg deutlich geworden war, würde die Realisierung eines entsprechenden Pakets von Zivilschutzmaßnahmen zudem eine breit gefächerte Notstandsgesetzgebung und intensive Bund-Länder-Abgleichungen notwendig machen. Und schließlich - das ließ ein Blick auf die Zivilschutzdiskussion in den Vereinigten Staaten ebenfalls schon jetzt erkennen - warfen alle Überlegungen über einen einigermaßen flächendeckenden Bevölkerungsschutz im Atomkrieg sofort exorbitante Finanzierungsprobleme auf. Schon in den an die Bundestagsauschüsse für Innere Verwaltung und für Fragen der europäischen Sicherheit herangetragenen Überlegungen über eine effiziente Heimat-Luftverteidigung aus Radarfrüherkenriung, ziviler Luftschutz-Warn-Organisation und Flugabwehrraketen unter dem werbewirksamen Schlagwort »Schutzschirm über Deutschland«, wie sie seitens des Bundesinnenministeriums verfolgt wurden, waren Kosten von 25 bis 30 Mrd. DM veranschlagt. Weitere 400 Mill. DM kamen allein für angemessene Luftschutzvorbereitungen in Wohnungsneubauten zur Sprache106. Die in der Öffentlichkeit wie im Parlament in Gang gekommene Debatte über den Luftschutz zwang die Bundesregierung immerhin bereits im Sommer 1955 dazu, das Thema offiziell auf ihre Tagesordnung zu setzen. Zur Debatte wurde eine Kabinettsvorlage über Umfang und Finanzierung eines breit angelegten Luftschutzprogramms gestellt, für dessen Realisierung innerhalb von drei Jahren Kosten in einer Größenordnung von über 12 Mrd. DM anteilig von Bund, Ländern und Kommunen aufzubringen waren. Damit traf das federführende Innenministerium indes nicht nur sofort auf den Widerstand eines für 105

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Umfragen vom Januar 1951 und November 1953: Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947-1955, S. 355. Zu den vom Staatssekretär im Bundesministerium des Innern, Prof. H u g o Brandt, in die Diskussion gebrachte Heimat-Luftverteidigung: Stellungnahmen des Amtes Blank, Abt. II/pl/H, 13.1., und II/1/5, 9.3.1955, BA-MA, BW 2/2681. Über Luftschutzvorrichtungen in Wohnungsneubauten und ihre Kosten suchte sich der Ausschuss für europäische Sicherheit bei einem Besuch in der Bundesanstalt für Luftschutz zu unterrichten, wobei sich die leitenden Beamten außerstande zeigten, konkrete Zahlen zu nennen, während der Abgeordnete Friedrich Maier (SPD) die obengenannte Zahl in die Debatte warf, 34. Sitzung, 10.3.1955, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 2. Wahlperiode, 34. Sitzung, S. 3. Die amerikanische Debatte darüber spiegeln Bernard Brodies Diskussionspapier »The Next Ten Years«, 30.12.1954 abgedr. in: The Development, vol. 3, part 2, S. 35-77, hier insbes. S. 56 bzw. der Bericht des wissenschaftlichen Beraters von Präsident Eisenhower, James R. Killian, »Meeting the Threat of Surprise Attack«, 14.2.1955, ebd., vol. 1, S. 321 -510, hier insbes. S. 464 wider.

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Zurückstellung plädierenden Finanzministers, sondern auch auf Vorbehalte des Wohnungsbau- und des Familienministers, die auf keinen Falle das Volumen öffentlich geförderten Wohnungsbaus zugunsten des Schutzraumbaus eingeschränkt sehen wollten. Da der Innenminister indes »eine Verzögerung nicht für tragbar« hielt und ihn der Bundeskanzler »mit Nachdruck« unterstützte, wurde zumindest schon einmal ein befürwortender Grundsatzbeschluss zu dieser als »Mindestprogramm« qualifizierten Vorlage gefasst. Dagegen erhob Finanzminister Fritz Schäffer indes umgehend Widerspruch, und auch auf einer interministeriellen Besprechung wenige Tage später konnten die vorgetragenen Meinungsverschiedenheiten nicht ausgeräumt werden. Schäffer machte geltend, dass eine Durchführung des Programms in der vorgesehenen Größenordnung die deutsche Wirtschafts- und Finanzpolitik auf eine die gesamte Volkswirtschaft schädigenden Weise belasten könne107. Auch im seit 7. Juni 1955 zum Bundesministerium für Verteidigung108 umorganisierten Amt Blank sah man natürlich das Gewicht von Schäffers volkswirtschaftlichen Einwänden, wenn sofort zu »voller Durchführung des Programms« geschritten wurde. Außerdem durfte ein derartiges zusätzliches Kostenpaket nicht die eingegangenen Verpflichtungen gegenüber der NATO zum Streitkräfteaufbau gefährden. Nur kam der Lösungsbedürftigkeit des Problems eines funktionierenden flächendeckenden Luftschutzes hier wie bei den Fachleuten des Innenministeriums und seiner nachgeordneten Bundesanstalt für den zivilen Luftschutz so grundsätzliche Bedeutung zu, dass keine Verschleppung in Kauf genommen werden durfte. Bei dem anzunehmenden Einsatz von Atomwaffen in einem künftigen Kriege würde dies nämlich »die nachhaltige Vernichtung der Substanz eines grossen Teiles unseres Volkes [als] unabweisbare Folge« nach sich gezogen haben. Für die militärischen Planer lag der Ausweg aus Luftschutz- und Kostenerfordernis einmal in einer sorgfältigen Prüfung jeder Einzelmaßnahme auf ihre Notwendigkeit hin und daneben in einer klaren Arbeitsteilung zwischen den für Luftverteidigung zuständigen Streitkräften, dem für die Koordination des Luftschutzes verantwortlichen Innenministerium und der »Selbstschutzpflicht des Einzelnen«. Auf keinen Fall durften, abgesehen von einer Datenweiterleitung aus der militärischen Radaraufklärung an einen flächendeckenden Luftschutzwarndienst, die Grenzen zwischen militärischen und Zivilschutzaufgaben verwischt werden. Deshalb zeigten sich die militärischen Planer zwar bereit, im Falle der für einen aufzubauenden Luftschutz-Hilfsdienst erforderlichen Personengruppen bei der Einberufung zum Wehrdienst Rücksichten zu nehmen. Nicht akzeptabel erschienen dagegen Überlegungen aus dem Finanzministerium, derartige Verbände organisatorisch und ausrüstungsmäßig in die Streitkräfte einzubeziehen oder gar den Bau militärischen Großbunker anteilig für die Zivilbevölkerung offen zu halten. Das

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84. Kabinettssitzung, 2.6.1955, TOP 7. Luftschutzprogramm, Kabinettsprotokolle, Bd 8, S. 344-346. Im Dezember 1961 umbenannt in Bundesministerium der Verteidigung, Verteidigung im Bündnis, S. 129.

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machte weder von den begrenzten Raumkapazitäten noch von der Dislozierung solcher Anlagen fernab der Ballungszentren her Sinn 109 . Im Bundesministerium des Innern und bei der Bundesanstalt für zivilen Luftschutz suchte man die Kabinettsvorlage dadurch allgemein akzeptabel zu machen, dass man einmal das Problem umfassender Evakuierungen in seinen Größenordnungen zu reduzieren und gleichzeitig einen notwendigen Luftschutz-Hilfsdienst auf möglichst viele Schultern zu verteilen suchte. Die zur Aufrechterhaltung der Funktionstüchtigkeit von Großstädten benötigten Arbeitskräfte sollten dazu lediglich zeitweilig in die Außenbezirke der betroffenen Städte und nicht mehr in besonders vorzubereitende Aufnahmegebiete außerhalb davon evakuiert werden. Außerdem sah man für die bereits existierenden Hilfsdienste im Einsatzfalle die Übernahme von Aufgaben im Luftschutz vor: die Sanitätsversorgung von Opfern durch das Deutsche Rote Kreuz, den Arbeiter-Samariterbund, die Johanniter und die Malteser, Bergungs- und Instandsetzungsdienste durch das Technische Hilfswerk, den Brandschutz durch die Feuerwehren. Dazu würden allerdings in Zukunft erst noch finanzielle, administrative und psychologische Vorbehalte aus diesen Diensten für die mit solchen an sich staatlichen Aufgaben verbundenen öffentlichen Weisungsbefugnisse an Verbände auf Freiwilligenbasis zu überwinden sein. Vor allem machte aber der Vertreter des Deutschen Städtetages einmal mehr deutlich, dass ohne Lösung der Kostenfrage die Großstädte letztlich völlig überfordert seien mit den zusätzlichen Maßnahmen zum Luftschutz unter atomaren Bedingungen 110 . Noch bevor der militärische Beitrag der Bundesrepublik zu den kollektiven Verteidigungsanstrengungen des westlichen Bündnisses faktisch in Angriff genommen werden konnte, machte sich mithin beim neuen deutschen Partner bereits eine ganze Bandbreite konkurrierender Sicherheitsziele und innenpolitischer Interessen geltend. Volkswirtschaftliche Systemstabilität rieb sich an den zu erwartenden Gesamtausgaben für Verteidigungsplanung im weitesten Sinne; die Systemauseinandersetzung mit dem Kommunismus hob soziale gleichberechtigt neben militärischer Sicherheit auf die Agenda deutscher Politik; militärischer Streitkräfteaufbau und Maßnahmen zum Zivilschutz traten in Konkurrenz zueinander um Etatanteile, Zuständigkeiten und personelle Ressourcen; prinzipielle Bundeskompetenz in Fragen der äußeren Sicherheit musste den Ausgleich mit den ausführenden Ländern im föderativen Staatsaufbau suchen; öffentliche Sicherheitsvorsorge kam nicht aus ohne Mitwirkung eines freiwillig organisierten Verbandswesens und des zur Verteidigung in atomaren Szenarien bereiten Einzelbürgers. Weder die verfügbaren finanziellen Mittel noch die personellen Ressourcen waren dafür aber beliebig vermehrbar; sie mussten vielmehr auf die konkurrierenden Planungen und Maßnahmen verteilt werden. Auch das ist angemessen in Rechnung zu stellen, wenn die sehr zögernde Hin-

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1,0

Vortragsnotiz Oberst de Maiziere »Luftschutzprogramm des BMI«, 15.6.1955, BA-MA, BW 17/32. Niederschrift über die Tagung des Ständigen Ausschusses für die Planung des zivilen Luftschutzes am 7.6.1955 im BMI, BA, Β 106/50170.

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wendung der deutschen militärischen Planer zu einer atomar dominierten Verteidigungsstrategie im Bündnis in ihrer ganzen Spannweite bewertet werden will. Das Bündnisprinzip der nuklearen Abschreckung versprach, den Krieg generell zu verhindern; bei einem Versagen der Abschreckung forderte aber eine dann sofort wirksam werdende totale Bedrohung Vorkehrungen im Rahmen einer potenziell ebenfalls totalen Verteidigungsplanung schon im Frieden. Mit dem Vorwurf, dass die Bundeswehr gegenüber der atomaren Revolution seit 1945 »in ihrem operativ-strategischen Denken rückwärts orientiert« geblieben und damit »ein Konflikt mit der Militärstrategie der NATO und ihrer Vormacht USA programmiert« gewesen sei111, werden zwar berechtigte kritische Einwände gegen die engeren militärischen Vorstellungen der Deutschen erhoben; damit bleiben jedoch die wesentlich weitreichenderen Herausforderungen aus atomarer Verteidigungsplanung im Bündnis als ein grundlegendes »strategisches Dilemma«112 für die Bundesrepublik und ihre Militärplaner zu weitgehend ausgeblendet. Welche Schäden im Falle eines militärischen Konflikts dabei auf den Frontstaat Bundesrepublik zukommen würden, hatten gerade eben Erkenntnisse aus der NATO-Luftübung CARTE BLANCHE (20.-28. Juni 1955) für eine an sich schon atomkritische deutsche Öffentlichkeit sichtbar werden lassen. Um Ausbildungs- und Kenntnisstand in seinen Verbänden über den Einsatz taktischer Atomwaffen auf dem Gefechtsfeld zu verbreitern, hatte SACEUR im Frühjahr 1955 seine unmittelbar unterstellten NATO-Befehlshaber von seiner Absicht informiert, in künftigen Manövern grundsätzlich Atomlagen mitspielen zu lassen113. Da man andererseits in Fontainebleau vor dem Problem stand, sich mit den wachsenden Besorgnissen in der westeuropäischen Öffentlichkeit über den Einsatz von Atomwaffen auseinandersetzen zu müssen114, ging SHAPE nach Zustimmung durch das Pentagon zu einer offensiven Öffentlichkeitspolitik über115. Zu CARTE BLANCHE wurden deshalb in einem erheblich erweiterten Umfang Journalisten zugelassen, die in der deutschen und westeuropäischen Presse in entsprechender Breite über Ziele, Verlauf und Folgen der dabei gespielten Nukleareinsätze berichteten. Um einen angenommenen sowjetischen Angriff auf Westeuropa zu stoppen, wurden für die Abwehr in einer von Nordostfrankreich über die Benelux-Staaten bis Westdeutschland reichenden Gefechtszone mehr als 335 Atombomben zum Einsatz gebracht. In teilweise sensationeller Aufmachung konnten die Westdeutschen noch während der Übung lesen, dass davon mehr als 100 Ziele zwischen Hamburg und München 111 112

113 114 115

So Buchholz, Strategische und militärische Diskussionen, S. 119. Am eindringlichsten auf den Begriff gebracht bei Borinski, Mitigating West Germany's Strategie Dilemmas, S. 531: »If national defense becomes an actuality, it may turn into national suicide.« Weisung SHAPE, AG 1780 OT, 18.3.1955, SHAPE History, vol. 3, S. 105. Vgl. dazu Wampler, Ambiguous Legacy, S. 682. Stellungnahme JCS zu einer Anfrage SACEUR betr. »Public Information Policy in Connection with Simulated Atomic Operations in SHAPE Exercises«, 29.3.1955, sowie Memor a n d u m JCS an Secretary of Defense, 27.4.1955, NA, RG 218, Geographical File, box 53, CCS 092 Western Europe (3-12-48), (2), sect. 10 bzw. 13.

III. Die Implementierung der Vergeltungsstrategie im Bündnis und die Aufbaukrise

103

gelegen hatten und mit Opferzahlen von 1,7 Mill, deutschen Toten, 3,5 Mill. Verwundeten und einer schwer einschätzbaren, aber riesigen Zahl von mitteloder langfristig Strahlengeschädigten gerechnet worden war116. Dass dies längst nicht mehr nur atomare Planspiele neben anderen Konfliktszenarien, sondern die Vorbereitung auf die angenommenen Realitäten eines künftigen europäischen Krieges unter den Bedingungen der >massive retaliation waren, zeigen Empfehlungen der JCS an das Pentagon vom Juni 1955. Danach schlugen die U.S.-Stabschefs in Übereinstimmung mit den Einsatzplanungen bei den ihnen unterstellten Kommandobehörden (unified bzw. specified commands) eine wesentlich erweiterte Auslagerung von Atomwaffen in die potenziellen Einsatzräumen vor, von der annähernd 75 % des in Entwicklung befindlichen atomaren Potenzials der USA betroffen sein sollten. Die Begründung dafür lag ganz auf der Linie der MC 48, wonach insbesondere in Westeuropa ein mit überlegenen Präsenzstreitkräften des Ostblocks geführter Angriff nur durch einen umfassenden und sofortigen Einsatz taktischer Atomwaffen »within the first few days after the outbreak of hostilities« zu stoppen war. Dazu mussten die erforderlichen Waffen- und Trägersysteme einsatznah disloziert und zeitgerecht freigegeben werden 117 . Parallel zu den Manövern CARTE BLANCHE in Westeuropa testete die amerikanische Regierung dazu in einer erstmals auf breiter administrativer Ebene durchgeführten Übung OPERATION ALERT im selben Juni 1955 ihre Reaktionsfähigkeit im Falle eines sowjetischen Großangriffs. Die Ergebnisse stimmten alle Beteiligten bedenklich, denn Department of Defense und Atomic Energy Commission mussten sich gemeinsam eingestehen, dass »serious delays« bei der zeitgerechten Freigabe von Atomwaffen auftreten konnten. Als Erfahrung daraus genehmigte Präsident Eisenhower daraufhin noch im September 1955 Interimsregelungen, die selbst für die bisher strikt unter ziviler Kontrolle gehaltenen thermonuklearen Waffen schnellere Möglichkeiten für ihren Transfer an die anfordernden militärischen Kommandobehörden eröffneten 118 . Noch fernab von solchen atomaren Detailplanungen hatten die deutschen Militärplaner nach CARTE BLANCHE unterdessen alle Hände voll zu tun, beruhigend auf eine außerordentlich alarmiert reagierenden Öffentlichkeit in der Bundesrepublik einzuwirken. Oppositionsführer Erich Ollenhauer brachte die gebündelte öffentliche Kritik auf den Punkt: »Am selben Tag, da Westdeutschlands Parlament das erste Wehrgesetz in die zuständigen Ausschüsse schickte, ging ein Manöver zu Ende, das Deutschlands Existenz in der Theorie auslöschte119.« Hier war, wie Adenauer vor dem Bundeskabinett besorgte, drin-

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117 118

119

Zu Verlauf und öffentlicher Wahrnehmung: Kelleher, Germany and the Politics, S. 35-43, Cioc, Pax Atomica, S. 2 9 - 3 2 und Buchholz, Strategische und militärische Diskussionen, S. 241-244. History of the Custody, S. 37; vgl. auch Maier, Die politische Kontrolle, S. 316. Roman, Ike's Hair Trigger, S. 131 f. und eingehender Maier, Die politische Kontrolle, S. 317-320. Der Spiegel, Nr. 29 v o m 13.7.1955, S. 8.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

gend eine »Stärkung des Wehrwillens« geboten120. Vor dem Kabinett wie in der Öffentlichkeit suchte daher in seinem Auftrag Heusinger argumentativ gegenzuhalten. Ganz im Sinne seiner grundsätzlichen Skepsis gegenüber einer einseitig atomar dominierten Verteidigungsstrategie relativierte er zunächst einmal die ausschlaggebende Rolle von Atomwaffen im Zukunftskrieg. Ein Setzen auf die nukleare Karte allein sei militärisch »abwegig«, nur eine Armee- und Verteidigungsstruktur, die »wendig gehalten« werde, bürge dafür, dass Territorium und Bevölkerung der Bundesrepublik »vor dem Überrolltwerden« geschützt würden. Atomwaffen komme demgegenüber wesentlich die Rolle zu, vor einem Krieg überhaupt abzuschrecken. CARTE BLANCHE lieferte mithin geradezu die Bestätigung dafür, dass Heusinger seine vor dem Kabinett rhetorisch gestellte Frage »Werden noch Landstreitkräfte und konventionelle Waffen benötigt?«, aus voller Überzeugung bejahen zu können glaubte121. Dass er mit dieser Kritik an einer Nuklearstrategie pur nicht alleine stand, gab zum gleichen Zeitpunkt der scheidende Stabschef der U.S. Army, General Ridgway, in einem vermächtnishaften Schreiben an seinen Minister zu Protokoll. Auch er warnte einmal mehr dringend davor, sich nahezu ausschließlich auf Atomwaffen zu verlassen, denn »no nation could regard nuclear capabilities alone as sufficient, either to prevent, or to win a war«. Die amerikanische atomare Überlegenheit würde bald schwinden und der sowjetischen Seite dann in einer Situation nuklearer Parität einseitige konventionelle Vorteile eröffnen. Wie Heusinger plädierte daher auch Ridgway unbedingt für die Vorteile einer »strategic mobility«, die sich auf eine ausgewogene Struktur aller Teilstreitkräfte abstützen konnte122. Daneben - und damit gab Heusinger erneut zu erkennen, dass er die schweren psychologischen Belastungen aus einer atomaren Verteidigungsplanung als eine alle militärischen Entscheidungen von nun an beeinflussende Größe in sein Denken eingestellt hatte - müsse allerdings auch alles getan werden, um »unser Volk und unsere Heimat zu schützen, so weit es möglich ist, gegen die Wirkung der Atomwaffen«123. Im Bundesministerium des Innern sahen sich jedenfalls diejenigen bestätigt, die schon bisher davon ausgegangen waren, dass im Falle eines Krieges »kaum noch Teile des Bundesgebietes vor Atomgefahren sicher wären«. Da die Hauptangriffsziele im Übrigen nicht die großen Städte gewesen seien, sondern die Luftbasen der NATO, müsse man jetzt auch die eigenen Überlegungen zum Schutzraumbau erweitern. Während das Finanzministerium bisher aus Kostengründen für eine Beschränkung des Schutzraumbaus auf Großkommunen ab 50 000 Einwohnern eingetreten war, forderte man im Innenministerium nunmehr unter dem Eindruck von weit in die Fläche der Bundesrepublik hinein ausgedehnten Gefährdungszonen rund um die Flugplätze 120 121

122 123

89. Sitzung, 6.7.1955, Kabinettsprotokolle, Bd 8, S. 403 f. Heusingers Ausführungen im NWDR am 30.6.1955 sind abgedr. in: Bulletin Nr. 120, S. 1002; zu seinem Vortrag vor dem Kabinett, 11.7.1955: Kabinettsprotokolle, Bd 8, S. 410-417. Ridgway an Secretary of Defense Wilson, 27.6.1955, DDRS, 1981, 294 B. Erklärung im NWDR, 30.6.1955, Bulletin Nr. 120, S. 1002.

III. Die Implementierung der Vergeltungsstrategie im Bündnis und die Aufbaukrise

105

eine Ausdehnung der Schutzmaßnahmen bereits auf Gemeinden ab 10 000 Einwohnern 124 . Vor allem aber benötigte man aus Sicht der Luftschutzexperten wissenschaftlich-technische Expertise, um sich auf das erst in Ansätzen erkannte Problem radioaktiver Niederschläge angemessen einstellen zu können. Und schließlich musste man möglicherweise die Frage notwendiger Evakuierungen in einem ganz neuen Lichte studieren, wenn nicht mehr nur die Ballungsgebiete, sondern letztlich das gesamte Territorium der Bundesrepublik bei der großen Streuung von Atomeinsätzen aller Kaliber, einschließlich HBomben, betroffen sein konnte. Im Sachverständigenkreis des BMI begann man sich daher zu fragen, ob Evakuierungen in den dann erforderlichen Ausmaßen unter solchen Bedingungen überhaupt noch Sinn machten. Wenn man sie aber ins Auge fasste, dann tauchte sofort das nächste Problem auf: das der wirtschaftlichen Versorgung der betroffenen Bevölkerung unter den Konditionen eines Atomkrieges125. Um ein Zusätzliches erweiterte der Bundesverband der Deutschen Industrie die Debatte, wenn er nach den Erfahrungen aus CARTE BLANCHE mit Blick auf die Absicherung des eigenen Rüstungspotenzials über den allgemeinen Bevölkerungsschutz hinaus den »Industrieluftschutz« als »eine gebieterische Notwendigkeit« deklarierte, dafür zwar seinen Sachverstand anbot, die Frage einer Finanzierung aber offenließ126. Eben darum rang indes mit unverminderter Härte Finanzminister Schäffer, als das Luftschutzprogramm seines Kabinettskollegen Schröder unmittelbar nach dem NATO-Manöver erneut auf die Tagesordnung des Bundeskabinetts kam. In einer Situation extremer öffentlicher Alarmiertheit und einem davon ausgelösten Handlungsbedarf der Politik konnte jetzt natürlich auch er sich nicht mehr nur hinter rein volkswirtschaftlichen Gefahren eines zu kostenintensiven Luftschutzprogramms verbarrikadieren. So stimmte er denn im Kabinett einem Nachtragshaushalt von zusätzlichen 70 Mill. DM über die bereits in den Etat eingestellten 12 Mill. DM für das Jahr 1955 hinaus zur Kostenübernahme für einen bundeseigenen Luftschutzwarndienst, für Ausbildung und Ausrüstung eines Luftschutzhilfsdienstes, für Arzneimittelbevorratung und für die technisch-wissenschaftliche Forschung zu. Die weit kostenaufwendigere Frage der Erhaltung und des Neubaus von Luftschutzräumen hielt er dagegen nach wie vor »noch nicht für spruchreif«. Und im Übrigen wollte er Bund, Länder und Gemeinden anteilig an den Kosten des Bevölkerungsschutzes beteiligt sehen, wie er auch weiterhin daran festhielt, einen Teil der finanziellen Aufwände im Verteidigungsetat unterzubringen 127 . Schließlich zeigten ihm gerade die Diskussionen in der Bundesanstalt für zivilen Luftschutz, dass mit dem jetzt beschlossenen Luftschutzprogramm und seinen Folgeproblemen die Tür für 124

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BMI, Abt. ZB 6: Folgerungen aus d e m Verlauf der NATO-Luftmanöver »Carte Blanche«, 27.6.1955, BA, Β 106/17569. Niederschrift über die v o m BMI einberufene Sitzung betr. Luftschutzplanung der Bundesanstalt für zivilen Luftschutz in Bad Godesberg am 9.7.1955, BA, Β 106/17569. Schreiben der Hauptgeschäftsführung des BDI an Innenminister Schröder, 14.7.1955, ebd., Β 106/17589. TOP Luftschutzprogramm, 90. Sitzung, 11.7.1955, Kabinettsprotokolle, Bd 8, S. 418-420.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

weitere Kostenpakete in der Zukunft noch um ein Erhebliches weiter geöffnet zu werden drohte128. Doch darauf wird in anderem Zusammenhang noch näher einzugehen sein129. Im Sommer 1955 geriet die Bundesregierung jedenfalls mit ihrer Verteidigungsplanung noch vor deren Realisierung in der Öfffentlichkeit in schwere Wasser. Auf der einen Seite suchte sie mit den notwendigen Gesetzesvorhaben - Freiwilligen-, Eignungsübungs-, Schutzbereichs-, Bundesleistungs-, Landbeschaffungsgesetze130 - den gegenüber dem Bündnis versprochenen zügigen Aufbau westdeutscher Streitkräfte voranzutreiben. Gleichzeitig hatte sie sich aber international und innenpolitisch mit den Wirkungen einer breiten sowjetischen Entspannungsoffensive auseinander zu setzen: österreichischer Staatsvertrag, Räumung der finnischen Halbinsel Porkkala, Normalisierung der sowjetisch-jugoslawischen Beziehungen, Abrüstungs- und Disengagement-Angebote als Vorleistungen bzw. Verhandlungsangebote für die bevorstehende Genfer Gipfelkonferenz, schließlich sogar Einladung von Bundeskanzler Adenauer nach Moskau131. Und nun platzten auch noch die alarmierenden Nachrichten über die möglichen Folgen atomarer Kriegführung auf eine darauf völlig unzureichend vorbereitete Administration und Bevölkerung herein, die den Sinn deutscher Verteidigungsanstrengungen überhaupt in Zweifel ziehen konnten. Der gut informierte ehemalige Generalstabsoffizier und jetzige Militärkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Adelbert Weinstein, zeigte sich jedenfalls befremdet von einer Verteidigungsplanung, »ohne dabei an die Atombombe zu denken«, ein Weg, den er als nachgerade »unrealistisch« qualifizierte. Seine Kritik richtete sich freilich an die operativen Planer im Amt Blank ebenso wie an die Befürworter einer neuen inneren Ordnung in den aufzustellenden Streitkräften: »Dem herkömmlichen Denken entsprechend will man eine demokratische Armee< aufbauen. Dabei verlangt die Wirklichkeit vor allem das Entstehen einer atomaren Armee«. Das hieß für ihn allerdings nicht eine deutsche Armee in atomarer Ausstattung und unter nationaler Verfügungsgewalt über Atomwaffen. Nur lief die deutsche strategische Debatte in seinen Augen bei Planern wie Kritikern immer noch zu sehr in den Bahnen »romantische[r] militärische[r] Vorstellungen«, gespeist aus der »Methode von 1940«, statt dass man sich endlich auf die Bedingungen einer »atomare[n] Revolution« einzulassen bereit war132. Dabei erkannte Weinstein wohl am frühesten unter den deutschen Diskutanten über Zwecke und Ausstattung neuer deutscher Streitkräfte das strategische deutsche Grunddilemma aus einer nuklearisierten Bünd-

Einen Gesamtüberblick über Maßnahmen und Kosten suchte der Ständige Ausschuss für die Planung des zivilen Luftschutzes beim BMI in seiner Sitzung vom 7./8.6.1955, vgl. Bericht BMI, Abt ZB V an die Innenminister der Länder, 8.5.1955, BA, Β 106/50170. 129 Vgl. Teil 2, Kap. V.4. 130 Vgl. Α WS, Bd 3, S. 473-475 (Beitrag Ehlert). 131 Vgl. ebd., S. 146 -155 (Beitrag Thoß). 132 Dazu und zum Folgenden Weinsteins Beitrag zu einer von Fritz Rene Alleman ausgelösten Debatte über eine »demokratische Armee« in den Heften 80 und 81 (1955) der Zeitschrift Monat, abgedr. ebd., H. 83 (1955), S. 431-433. 128

III. Die Implementierung der Vergeltungsstrategie im Bündnis und die Aufbaukrise

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nisstrategie. Im Falle einer atomaren Kriegführung war Deutschland letztlich beiderseits des >Eisernen Vorhangs< nicht mehr klassisch zu verteidigen; es würde vielmehr hinter einem relativ dünnen konventionellen Schleier das vom Einsatz taktischer Atomwaffen beider Konfliktseiten beherrschte nukleare Schlachtfeld abgeben müssen. Unter diesem Blickwinkel näherte sich Weinstein ein erhebliches Stück an Boninsche Vorstellungen an, wenn er alles auf grenznah dislozierte, panzerabwehrstarke, hochmodern ausgestattete und relativ kleingehaltene Abwehrverbände und deren Verstärkung durch Grenzmilizen setzte. Funktionieren konnte eine solche Konzeption mit ihren strikt antinuklearen Absichten jedoch nur, wenn die von ihm gleichzeitig geforderte prinzipielle Ächtung von Atomwaffen gelang 133 . Einer der Wenigen, die bei der anstehenden Bundestagsdebatte um die Wehrgesetze und die gleichzeitigen Erfahrungen aus CARTE BLANCHE den Ball atomarer Gefechtsführung voll aufnahmen, war der damalige Atomminister und Verteidigungsexperte der CSU, Franz Josef Strauß. Nur war für ihn anders als für Weinstein das atomare Rad nicht mehr zurückzudrehen. Mit den Schritt für Schritt um Raketen als Trägermittel erweiterten Kernwaffenpotenzialen der Atommächte würde sich binnen Kurzem jedes denkbare Ziel von militärischem, ökonomischem oder psychologischem Interesse atomar unter Feuer nehmen lassen. Vor dem Hintergrund einer derartigen »strategischen Revolution« musste sich daher auch in seinen Augen die Bedeutung rein konventionell ausgestatteter und geführter Verbände zwangsläufig relativieren. Für die aufwachsenden zwölf deutschen Divisionen kam ihm allerdings anders als Weinstein alles darauf an, dass sie von vornherein nach Organisation, Ausrüstung und Ausbildung auf das Neue unter den Konditionen des Atomzeitalters ausgerichtet wurden 134 . Mitte 1955 waren die deutschen Debatten damit an einem Punkt angelangt, wo nationale Überlegungen an den Vorgaben aus dem Bündnis gemessen und auf ihre Realisierbarkeit hin überprüft werden mussten. Sicherheitspolitik der Bundesrepublik und die künftige Gestalt ihrer Streitkräfte ließen sich nämlich wohl noch im innenpolitischen und innergesellschaftlichen Disput auf ihre Angemessenheit und Konsensfähigkeit hin beleuchten. Erst innerhalb der vertraglich und institutionell gesetzten Grenzen des Bündnisrahmens waren indes kollektive Allianzziele und verbleibendes nationales Eigeninteresse miteinander, im Konfliktfalle aber auch im moderaten Gegeneinander auszutarieren. Was bei alledem für den Frontstaat Bundesrepublik schon jetzt und bis zum Ende des Kalten Krieges nicht mehr außer Betracht bleiben konnte, leitete sich aus der besonderen regionalen Betroffenheit des Bundesgebietes und seiner Bevölkerung von einer Verteidigungsplanung unter Einschluss von Kernwaffen ab. Die Suche nach Sicherheit im antagonistischen Systemkonflikt und unter den Rahmenbedingungen einer atomaren Revolution

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So in seiner Kampfschrift: Weinstein, Keiner kann den Krieg gewinnen; eingehende Bewertung bei Buchholz, Strategische und militärpolitische Diskussionen, S. 185-188. Debattenbeitrag im Deutschen Bundestag, 16.7.1955, Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Bd 2, S. 5603-5610.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

war nicht mehr rein militärisch zu denken und zu planen; integrierte Bündnisverteidigung und national verbleibende Landesverteidigung mussten vom NATO-Auftrag wie vom nationalen Interesse her zwingend in den Kategorien einer allumfassenden Gesamtverteidigung zusammengeführt werden. Dazu war aber als vordringliches Desiderat der aus der bisherigen deutschen Schwebelage zwischen Vorfeldfunktion und Bündnismitgliedschaft herrührende Status eines Halbinformierten so schnell wie möglich zu durchschreiten.

2. Der Zwang zur Anpassung: von der konventionellen Planung zur atomaren Umrüstung der Bundeswehr Gesicherte Grundinformationen darüber, was das Bündnis strategisch plante und welche Vorgaben sich daraus für den Streitkräfteaufbau der Bundesrepublik im Sommer 1955 ergaben, waren für die Aufbauplaner im Amt Blank letztlich nur dort zu erlangen, wo dafür die ausschlaggebende Planungs- und Führungskompetenz lag. Künftige deutsche Streitkräfte hatten sich nämlich von nun an in ein Denken und in einen Organisationsrahmen einzupassen, in dem für nationale operative Planungen bewusst nur noch sehr begrenzte Spielräume offen standen. Um den direkten NATO-Beitritt der Bundesrepublik für ihre westlichen Partner militärisch akzeptabel zu gestalten, musste der deutsche Verteidigungsbeitrag deshalb auch in den Pariser Verträgen von 1954 nach Umfang und Ausgestaltung an die EVG-Bedingungen angelehnt und kontrolliert gehalten bleiben. Dazu war nicht nur die Masse der Rüstungsbeschränkungen aus dem Accord Special der ΕVG-Verträge von 1952 fortgeschrieben und über eine eigene Rüstungsagentur der WEU unter europäische Aufsicht gestellt worden. Zusätzlich waren auch die Befugnisse des SACEUR wesentlich erweitert worden. Nach seinen durch die Standing Group 1952 festgelegten und in den Pariser Verträgen 1954 erweiterten Terms of Reference (TOR) standen ihm in Krieg und Frieden Befugnisse nach mehreren Seiten hin zu. So oblagen ihm im Frieden - die Zusammenführung aller assignierten nationalen Verbände zu einer funktionstüchtigen Bündnisstreitmacht, - die dazu erforderliche Koordination der regionalen Verteidigungspläne für Nord-, Mittel- und Südeuropa zu einem jährlichen Gesamtverteidigungsplan (Emergency Defense Plan, EDP) einschließlich eines auf die europäische Verteidigung abgestellten atomaren Einsatzplans (Atomic Strike Plan, ASP) sowie - die Überwachung der darüber einvernehmlich vereinbarten nationalen Aufgaben und Streitkräfte hinsichtlich Ausbildung, Training und Dislozierung nach den Vorgaben der gemeinsamen Bündnisstrategie.

III. Die Implementierung der Vergeltungsstrategie im Bündnis und die Aufbaukrise

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Bei Veränderungen oder Anpassungen von Bündniskontingenten nach Umfang, Aufgabenstellung und Dislozierung war seine Zustimmung einzuholen; seine eigenen Veränderungswünsche bedurften allerdings ihrerseits des jeweiligen nationalen Einverständnisses 135 . Im Krieg - und das hieß mit der Übernahme des »operational command« im Alarmfalle - führte er als Alliierter Oberbefehlshaber die ihm dann auch operativ unterstellten NATO-Streitkräfte und war darin den Bündnisorganen der Standing Group und des Military Committee gegenüber verantwortlich. Übertragen auf die ihm in toto unterstellten deutschen Einsatzverbände übernahmen er und sein Hauptquartier mithin schon im Frieden die Funktion einer obersten militärischen Planungszentrale, hatte die Bundesrepublik im Zuge ihrer Allianzverhandlungen doch bewusst auf einen nationalen Generalstab verzichtet136. Davon charakteristisch abweichend und doch ebenfalls eng damit zu koordinieren waren die verbleibenden nationalen Zuständigkeiten im Rahmen der sogenannten Landesverteidigung in den einzelnen Partnerstaaten gemäß MC 36137. Gegen die zunächst einschränkenderen Wünsche Frankreichs hatte sich auch die Bundesrepublik schon auf der Londoner Konferenz von 1954 mit Unterstützung der übrigen WEU-Partner das für alle gleichermaßen geltende Recht vorbehalten können, über ihren festgeschriebenen Streitkräfteanteil hinaus zusätzliche Polizei- und Territorialverbände zur Gewährleistung der inneren Sicherheit und zur Landesverteidigung unterhalten und national führen zu können138. Gestützt auf die in der MC 36 vereinbarte Teilung von Verantwortlichkeiten im Kriegsfalle zwischen nationalem Territorialkommando und NATO-Befehlshabern behielt die Bundesrepublik damit zwar auf ihrem Territorium im Einsatzfall prinzipiell ihre Souveränität bei und blieb zudem wie alle übrigen NATO-Staaten »ultimately responsible for the defense of their own territories«. Sie musste aber bereit sein, zeitweilig oder dauerhaft Teile ihrer Autorität an NATO-Befehlshaber zu delegieren, wenn dies zur Durchführung von deren Operationsführung erforderlich war. Um das zu gewährleisten, schrieb die MC 36 vor, dass den nationalen Territorialkommandos »will be given the maximum powers possible to enable them to meet the requirements of the Allied Commanders«. Das sollte verhin135

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138

Vortrag Oberst a.D. de Maiziere, 12.1.1955, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 2. Wahlperiode, 25. Sitzung, S. 15; eingehende rechtliche Bewertung der SACEUR-Befugnisse bei Ipsen, Rechtsgrundlagen, S. 143-181. Regierungserklärung des Bundeskanzlers vor dem Deutschen Bundestag, 5.10.1954, abgedr. in: Bulletin Nr. 188 vom 6.10.1954, S. 1661; vgl. auch AWS, Bd 3, S. 5 7 0 - 6 0 2 (Beitrag Greiner). Zum Zeitpunkt des deutschen Bündnisbeitritts galt noch die Version der MC 36 vom 8.11.1951 »Principles on which to Base Division of Responsibilities in Wartime between the National Territorial Commanders and the Supreme Commanders and Subordinate Allied Commanders«, die inzwischen herabgestuft vorliegt, NISCA, MC 36. Die überarbeitete Version MC 36/1 vom 14.2.1957, die das eigentliche Grundlagendokument für die Aufbauphase der Bundeswehr darstellt, ist dagegen noch nicht allgemein zugänglich. Zur verwendeten Begrifflichkeit vgl. Maiziere, Die Landesverteidigung, S. 11-17. AWS, Bd 3, S. 575 f. (Beitrag Greiner).

110

Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

NATO- und nationale Verantwortung in Verteidigungsfragen NATO-Truppe

Nationaler Bereich

Armeegruppe Takt. Luftflotte

Deutscher Bevollmächtigter

Armee Korps

Wehrbereichskommando

Wehrbereichsverwaltung

Landesregierung

Division Brigade

Vert. Bezirkskommando

Wehrbezirksverwaltung

Bezirksregierung

Brigade

Vert. Kreiskommando

Kreiswehrersatzamt

Landkreis u. kreisfreie Stadt

Quelle: Ulrich de Maiziöre Die Landesverteidigung, S. 15.

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dem, dass NATO-Befehlshaber unter Einsatzbedingungen zu ihrer Auftragserfüllung erst langwierige Verhandlungen mit nationalen Regierungen oder regionalen Behörden aufnehmen mussten. Ihre Ansprechpartner sollten vielmehr die Befehlshaber der Territorialverteidigung sein, mit denen schon im Frieden die Koordination militärischer Einsatzpläne abgeglichen und geübt wurde. Lediglich bei nicht unmittelbar auszugleichenden Meinungsunterschieden zwischen nationalen und NATO-Kommandeuren waren zunächst die nationalen Regierungen, im Falle nicht auszuräumender Differenzen schließlich der NATO-Rat einzuschalten139. Was daher in der Bundesrepublik möglichst umgehend und parallel zum Aufbau der Einsatzverbände geleistet werden musste, war die Entwicklung einer flächendeckenden Territorialorganisation und deren Koordination mit den Bundes-, Landes- und Regionalbehörden, um im Verteidigungsfalle nicht nur die Operationsfreiheit für NATO-Verbände auf deutschem Territorium, sondern gleichzeitig auch die Abstimmung zwischen militärischen und Zivilschutzmaßnahmen vornehmen und dies ebenfalls mit der NATO koordinieren zu können. Zur Unterstützung der nationalen Notstandsmaßnahmen und ihrer Koordination im Bündnis hatte sich die NATO seit Anfang der fünfziger Jahre ein ganzes System von Fachausschüssen geschaffen. Um nur die wichtigsten davon 139

Grundprinzipien der Verantwortungsteilung zit. nach: NISCA, MC 36, S. 1 f.

III. Die Implementierung der Vergeltungsstrategie im Bündnis und die Aufbaukrise

111

zu nennen: Planung und finanzielle Steuerung gemeinsamer Infrastrukturmaßnahmen liefen über die 1951 parallel eingerichteten Ausschüsse des Infrastructure Committee und des Infrastructure Payment and Progress Committee. Zur Erfassung im Frieden und zur Steuerung im Kriege waren für den Transportbereich seit 1950 ein Planning Board for Ocean Shipping (PBOS) und seit 1952 ein Planning Board for European Inland Surface Transport (PBEIST) eingerichtet; 1956 sollte zusätzlich ein Civil Aviation Planning Committee (CAPC) seine Arbeit aufnehmen. Die Bevorratung und Verteilung gemeinsamer Rohölvorräte sowie Ausbau und Betrieb des Pipeline-Netzes hatte seit 1952 das Petroleum Planning Committee (PPC) als Gemeinschaftsaufgabe zugewiesen erhalten. Die meisten dieser Einrichtungen hatten ihre Tätigkeit bereits vor der nuklearen Wende in der Bündnisstrategie aufgenommen. Sie mussten jetzt darauf eingestellt werden, dass sich alle militärische wie zivile Notstandsplanung künftig unter den Bedingungen eines atomar geführten Krieges in Europa zu bewähren haben würde 140 . Bezeichnend für angelsächsisch geprägtes gesamtstrategisches Denken und Handeln war es dabei, dass mit der engeren operativen Planung lediglich zwei NATO-Gremien, nämlich die Standing Group der großen Drei und das Military Committee der Generalstabschefs aller Bündnismitglieder befasst waren, während die überwältigende Mehrzahl der NATOAusschüsse mit der politisch-militärischen, der ökonomisch-militärischen und der zivil-militärischen Koordination betraut war. Über ihre koordinierenden Funktionen sollte ursprünglich neben dem allianzinternen Gedankenaustausch vor allem eine kosteneffizientere Lastenteilung im Bündnis durch Gemeinschaftsprojekte aktiviert und vorangetrieben werden. Das galt natürlich auch weiterhin. Nur verdichteten und konkretisierten sich ihre Aufgabenstellungen jetzt unter dem Druck einer durch taktische Atomwaffen radikalisierten Form der Kriegführung auf einem möglichen nuklearen Schlachtfeld Westeuropa, dessen am weitesten nach Osten vorgeschobene Bastion wiederum das Neumitglied Bundesrepublik mit seinem Territorium, seiner Bevölkerung und seinen aufwachsenden Streitkräften abzugeben hatte. Um dieses ganze Spektrum an Notstandsvorkehrungen aber auch bündnisintern koordinieren zu können, hatte der NATO-Rat inzwischen im Frühjahr 1955 auf britische Initiative hin die Einrichtung eines Oberauschusses für Notstandsfragen angeregt, in dem die Spitzen der nationalen Zivilschutzorganisationen zum Erfahrungsaustausch und zur Ausarbeitung einheitlicher Planungen im Bündnis zusammenarbeiten sollten 141 . Schließlich, so die allgemein geteilte britische Auffassung, könne man SACEUR nicht autorisieren, in atomaren Kategorien zu planen und gleichzeitig die Vorkehrungen für den Zivilschutz auf dem bisherigen Stand konventioneller Kriegsszenarien belassen. Der

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Note des NATO-Generalsekretärs Lord Ismay »Further Assumptions for Civil Emergency Planning«, 19.1.1955, ebd., C - M (55) 8. Überblicke dazu bieten Radioff, Die NATO-Infrastruktur und die jährlich erscheinenden NATO-Handbücher.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

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genstoß gegen trotzdem durchbrechende Feindkräfte bzw. zur Rückeroberung zeitweilig aufzugebender Geländeabschnitte bereitzuhalten190. Wer sollte dabei aber welche Aufgaben wahrnehmen und wie waren dazu die deutschen Verbände zu gliedern, auszustatten und zu dislozieren? In den eigenen Ausgangsüberlegungen hatte man sich im Amt Blank Anfang 1955 noch wesentlich auf den Dislozierungsplan der NATO von 1953 abgestützt. Danach waren entlang der Grenzen zur DDR und CSSR von Schleswig-Holstein bis Nordbayern in vorderster Linie sechs deutsche Infanteriedivisionen und dahinter die beabsichtigten sechs deutschen Panzerdivisionen vorgesehen191. In enger Abstimmung mit den dazwischen eingesetzten Divisionen der NATO-Partner auf deutschem Boden lag dem die Idee einer koordinierten Gefechtsführung zugrunde, die den Gegner schon so weit ostwärts wie möglich mit gemischten und vor allem gleichwertigen NATO-Verbänden auffangen, aber auch dahinter bei den gepanzerten Gegenstoßkräften das gemeinsame Handeln im Gefecht ebenfalls durch gleichgewichtige Großverbände ermöglichen sollte. Jetzt im Sommer 1955 musste Speidel dagegen den Einweisungen in die aktuellen operativen Planungen bei SHAPE entnehmen, dass sich die Gewichte nicht nur ganz generell zwischen dominierenden taktischen Atomwaffen und herkömmlichen Streitkräften nachhaltig zu Lasten der letzteren und damit zwangsläufig auch gegen die Intentionen der aufwachsenden deutschen Verbände verschoben hatten. Selbst in dieser an sich schon sehr relativierten Aufgabenzumessung, die »auf dem Prinzip [beruht], aus dem Mangel an Hauptkräften eine Tugend zu machen«, und nicht hinreichend verfügbare Kampftruppen durch taktisch-atomare Feuerwirkung auszugleichen, leuchtete aus Speidels Sicht jetzt eine zusätzliche Zurückstufung im Profil der künftigen Bundeswehrverbände auf: weg vom intendierten Panzer-, hin zum weniger durchsetzungsfähigen infanteristischen Schwerpunkt. Wenn man sich nämlich bei SHAPE von den künftigen deutschen Soldaten vorrangig versprach, dass sie sich »als bewegliche sogenannte >Abschirmtruppen< für die vorderste Linie am besten eignen würden«, weil es schließlich um die Verteidigung ihrer eigenen Heimat ging, dann ergab dies zusammen mit der atomaren »Lücken-Lehre« eine für Bonn so nicht hinnehmbare operative Aufgabenteilung. Deutsche Verbände hätten danach wesentlich jenen infanteriestark gehaltenen >Stolperdraht< an vorderster Front bereitzustellen gehabt, der die volle Wucht eines sowjetischen Angriffs auffangen, den Gegner damit zu Massierungen zwingen und auf dem Territorium der Bundesrepublik in vorgeplante >Lücken< leiten sollte, in denen er atomar zerschlagen werden konnte. Amerikanische, britische und französische Gegenstoßkräfte würden dagegen erst aus einer zurückgenommenen zweiten Linie heraus für die dann noch verbleibenden operativen Aufgaben zum Einsatz kommen. Demgegen190

191

Einlassungen von General White beim Gespräch Speidel - Schuyler, 15.7.1955, Gablik, Strategische Planungen, S. 73. Aufforderung von Abt. II/Pl an die Teilstreitkräfte zu entsprechenden Dislozierungsvorschlägen, 17.1.1955, BA-MA, BW 2/2666; Vorschlag des Heeres nebst Karte, 15.2.1955, ebd., BW 17/18 sowie dessen Anpassung an die Ländergrenzen, 8.3.1955, ebd., B W 2/2666.

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über bestand Speidel auf einer beweglichen Gefechtsführung, die den Gegner panzerstark möglichst frühzeitig mit allen NATO-Verbänden auf deutschem Boden stellte und so der Bevölkerung wie dem Territorium der Bundesrepublik das Schicksal eines vorgeschobenen »atomaren Schlachtfeldes« der NATO weitgehend ersparte. Der deutsche General glaubte sich zu seinen Gegenvorstellungen herausgefordert und berechtigt zugleich, wenn er mit Blick auf einen in der Zukunft besonders starken deutschen Beitrag zur NATO-Verteidigung schon jetzt reklamierte, dass »nicht in dieser Weise über deutsche Truppen verfügt werden könne, sondern daß wir bei einer Verteidigung unserer Heimat in maßgebender Weise an der Führung beteiligt werden müßten«192. Bis dahin war allerdings noch ein erhebliches Stück Weges zurückzulegen. Mit Herbert Blankenhorn als erstem Ständigen Vertreter im Botschafterrang beim NATO-Rat nahm die Bundesregierung wohl auf der politischen Ebene schon unmittelbar nach ihrem Allianzbeitritt ab Frühsommer 1955 hochrangige und vor allem kontinuierliche Verbindung zum Bündnis auf193. Eine angemessene Berücksichtigung deutscher Spitzenmilitärs in NATO-Verwendungen war aber naturgemäß erst dann zu erwarten, wenn deutsche Streitkräfte solchen Wünschen entsprechendes Gewicht verliehen. Selbst dem über Speidel vermittelten Drängen von General Gruenther, mit Heusingers engem Mitarbeiter Graf Kielmansegg den ersten National Military Representative (NMR) bei SHAPE einzusetzen, folgte das Verteidigungsministerium erst im September 1955, weil man offenbar die Bedeutung dieses Dienstpostens nicht angemessen einzuschätzen wusste194. Im Amt Blank machte man dagegen die Arbeitsüberlastung im eigenen Hause dafür verantwortlich, dass man das SHAPE-Angebot einer baldigen Aufnahme deutscher Offiziere in Fontainebleau nicht umgehend realisieren konnte. Außerdem legte sich der Ausschuss für europäische Sicherheit so lange gegen eine Entsendung deutscher Offiziere zur NATO quer, wie dazu mangels eines Soldatengesetzes die rechtlichen Voraussetzungen fehlten195. Für die militärischen Planer in Bonn hatte das zur Folge, dass Adenauers enger Vertrauter Blankenhorn sich seinerseits in Paris sehr schnell und sehr eingehend Kenntnis vom strategischen Konzept der NATO und seiner operativen Umsetzung bei SHAPE verschaffte. Anders als Speidel leitete er daraus von vornherein die Notwendigkeit zu einer umgehenden militärischen »Revision« der Bonner Aufbaupläne ab. Wenn sich im Bündnis die Gewichte derart eindeutig zur nuklearen Kriegführung hin verlagert hatten, dann war auch für das neue Allianzmitglied Bundesrepublik Gleichwertigkeit und Einfluss in den es hautnah betreffenden Verteidigungsfragen nur zu gewinnen, wenn man das Profil der eigenen Verteidigungsanstrengungen dem der NATO so weitgehend 192

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Alle Zitate aus Speidels Aufzeichnungen über seine Gespräche, 15.7.1955, bei Gablik, Strategische Planungen, S. 74 f. Zu seiner Bestallung: Blankenhorn, Verständnis, S. 211 f.; zu den Auseinandersetzungen über die Ausgestaltung der Ständigen Vertretung: Krüger, Das Amt Blank, S. 142. So die Vermutung des Betroffenen selbst in einem Interview mit dem Autor, 13.3.1997, Zeitzeugen-Schrifttum MGFA. Krüger, Das Amt Blank, S. 143 f.

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wie irgend möglich anpasste. Nicht mehr die Anzahl der verfügbar zu machenden deutschen Divisionen, sondern der Grad ihrer Modernität für das zugrunde liegende atomare Kriegsbild wurde dann zur Forderung der Stunde. Im Übrigen fiel in Blankenborns Überlegungen neben den Streitkräften der Heimatverteidigung auf dem unvermeidlichen Schlachtfeld Bundesrepublik »ausschlaggebende Bedeutung« zu. Dabei mussten der Erhaltung der Regierungsund Verwaltungsfähigkeit, der Sicherstellung der Versorgung und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung absolute Priorität eingeräumt werden. Künftige Verteidigungsplanung der Bundesrepublik hatte demnach ihr Hauptaugenmerk darauf zu richten, dass für die Streitkräfte wie für den untrennbar damit verknüpften Bereich des Zivilschutzes die finanziellen Mittel an den Stellen eingesetzt wurden, »denen nach der neuen Verteidigungsdoktrin Priorität« zukam196. In ähnliche Richtung argumentierte auch der Bundesminister für besondere Aufgaben, Franz Josef Strauß, wenn er gegen den amtierenden Verteidigungsminister und seine militärischen Berater konstatierte: »Es steht außer Zweifel, dass die Landstreitkräfte ihre ursprüngliche klassische Bedeutung heute wohl nicht mehr haben, dass sie aus einer absoluten militärischen Größe im Sinne der vergangenen Auseinandersetzung zu einer relativen Größe geworden sind197.« Ein so frühzeitiges Umsteuern beim Streitkräfteaufbau, wie von Blankenborn vorgeschlagen, stellte sich den militärischen Planern im inzwischen eingerichteten Bundesministerium für Verteidigung indes als undurchführbar dar. Dagegen standen politische, militärische und organisatorische Gründe gleichermaßen. Nachdem der Aufwuchs deutscher Verbände seit 1952 bereits so lange auf sich hatte warten lassen, drängte man in Washington wie Fontainebleau nunmehr auf schnelle Fortschritte198. Die Mittel dafür mussten natürlich vorrangig durch die Bundesregierung mit den dafür zu schaffenden gesetzlichen, finanziellen und personellen Voraussetzungen beschafft werden. Da das neue NATO-Mitglied vorerst noch über keine nennenswerte Rüstungsindustrie verfügte, war zudem eine rasche Zuführung der benötigten Bewaffnung und Ausrüstung über das Militärhilfeprogramm der USA und die dafür bei der U.S.-Botschaft in Bonn eingerichtete Military Assistance Advisory Group (MAAG)199 in die Wege zu leiten. Daneben wurde aber auch ein infrastruktureller Interessenausgleich über militärisch nutzbare Liegenschaften und Übungsplätze mit den Partnerstaaten erforderlich, die bisher Besatzungstruppen und künftig Bündniskontingente auf deutschem Territorium stationiert 196 1,7 19S

199

Brief Blankenborns an Staatssekretär Hallstein, 12.7.1955, BA, NL 351/47. Rede vor dem Deutschen Bundestag, 16.7.1955, Bulletin Nr. 132 vom 20.7.1955, S. 1119. Heusingers Besuch in Washington im Herbst 1955 bestätigte solche Ungeduld ebenso sehr wie de Maizieres zeitgleiche Eintragung in das Diensttagebuch der Militärabteilung im BMVg vom 22.9.1955 über wachsende »Nervosität bei SHAPE. Was machen die Deutschen?«, Α WS, Bd 3, S. 617 (Beitrag Greiner) bzw. BA-MA, BW 9/2527-7. Zu ihren Funktionen und Verantwortlichkeiten: Schreiben des Office of the Assistant Secretary of Defense an den Chief, Foreign Aid Division, Department of the Army, 21.6.1955, NA, RG 3/9, Records of the Army Staff, G-3, 1955, box 45.

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hatten200. Forderte man dem Verteidigungsministerium dagegen eine so umfassende Umplanung ab, die alles bisher organisatorisch Angedachte weitgehend Makulatur werden ließ, dann musste sich natürlich zwangsläufig der Zeitbedarf für die Schaffung der Streitkräfte wie für die dazu ebenfalls zu verändernden Rahmenbedingungen nachhaltig verlängern. Im Kern ihrer Argumentation ging es den militärischen Aufbauplanern um Heusinger und Speidel indes um etwas Wesentlicheres. Sie waren von ihrer Beurteilung der operativen Einschätzungen her nicht bereit, den NATO-Vorgaben so widerspruchslos zu folgen, wie SHAPE dies offenbar erwartete und wie Blankenhorn dies vorschlug. Was Speidel dagegen in Fontainebleau geltend gemacht hatte, unterstrich Heusinger in Bonn daher jetzt ebenso nachdrücklich in aller Öffentlichkeit, wenn er gegenüber aller durch CARTE BLANCHE noch verstärkten Kritik an den deutschen Aufbauplänen darauf bestand, dass »niemals [...] eine Waffe allein eine Kriegsentscheidung herbeigeführt hat«. Deshalb könne man »auch in Zukunft auf Landstreitkräfte in keinem Fall verzichten. [...] Alles nur auf die Karte der Luftwaffe zu setzen ist meiner Ansicht nach abwegig«201. Um die wachsende Verunsicherung bis in seine Koalition hinein einzudämmen, ließ Bundeskanzler Adenauer den General zudem eingehend vor dem Bundeskabinett zur militärischen Lage vortragen. Unter Einbeziehung von Versuchserfahrungen der U.S. Army in der Wüste von Nevada suchte Heusinger dabei den Nachweis zu führen, dass gerade »kampfstarke Erdtruppen [...] den Bedingungen des Atomkriegs gewachsen« seien. Demgegenüber würden sich die Luftwaffen beider Seiten schon in der Anfangsschlacht wechselseitig so nachhaltig abnutzen, dass die »Beendigung des Krieges nur durch Landstreitkräfte möglich« sei. Gerade wegen des Ubergewichts sowjetischer Landstreitkräfte komme daher alles darauf an, die »jetzt noch bestehende Lücke [...] durch Aufstellung deutscher Streitkräfte« zu schließen. Alle in der Öffentlichkeit angestellten, »mitunter recht pseudostrategischen und voreiligen Polemiken in der Presse über Revolution strategischer Grundsätze« - hier zielte Heusinger gegen seinen bisherigen Mitarbeiter von Bonin und den Militärpublizisten Weinstein in einem - , würden letztlich genau die Gefahren heraufbeschwören, die sie zu bannen vorgäben. Ein Fortbestehen der jetzigen Streitkräftelücke »müßte zwangsläufig zu strategischen Planungen der NATO führen, die Westdeutschland zum [atomaren] Kampffeld machen können«202. In Beantwortung einer Großen Anfrage der SPD im Bundestag verdichteten Heusingers Mitarbeiter diese Aussage, indem sie jeder alleinigen atomaren Operationsplanung den Vorwurf militärischer Einseitigkeit machten: »Erdtruppen sind trotz nuklearer Waffen, Flugzeugen und Raketen nicht überflüssig. [...] Noch immer ist Mitteleuropa trotz westlicher Atomüberlegenheit in Gefahr, von sowjetischen Panzern überrollt zu werden. Die Aufstellung deutscher Streitkräfte wird die-

200 201 202

Α WS, Bd 3, S. 807 (Beitrag Greiner). Bulletin Nr. 120 vom 2.7.1955, S. 1002; Hervorhebung - Sperrdruck - im Original. Vortrag in der 90. Kabinettssitzung, 11.7.1955, Kabinettsprotokolle, Bd 8, S. 410-417, Zitate: S. 413 f.

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sen Mangel beheben und damit die Kriegsgefahr entscheidend verringern helfen203.« Natürlich kam in dieser durchgängigen Betonung der operativen Beweglichkeit als unverzichtbarem Gegenmittel gegen einen russischen Gegner eine Grundüberzeugung der deutschen Streitkräfteplaner zum Ausdruck, die sie als Kontinuum aus ihren Ostkriegserfahrungen mitgenommen und jetzt als wertvollsten Teil eines deutschen Verteidigungsbeitrags zum westlichen Bündnis gewahrt sehen wollten. Heusinger hatte das als Monitum schon 1950 auf den Punkt gebracht, wenn er es als »Utopie« kritisiert hatte, die Sowjetunion »allein mit der Atombombe zur Kapitulation bringen zu wollen«204. Mit nach rückwärts gewandtem operativem Denken allein ist die Konstanz, mit der insbesondere deutsche Heeresoffiziere weit über die Startphase des deutschen Streitkräfteaufbaus hinaus an derartigen Einschätzungen festhielten, indes nicht hinlänglich zu beschreiben. Die Skepsis gegen eine in dieser Dominanz letztlich auch bei den Stabschefs in Washington und London wie bei SHAPE nur zeitweilig durchgehaltene Konzentration auf die alles entscheidenden Nuklearwaffen reichte vielmehr weit über ihre deutschen Kritiker hinaus. Beim Strategiewechsel der NATO Anfang der sechziger Jahre von der »massive retaliation« zur »flexible response« mit ihrer partiellen Denuklearisierung und ihrer Wiederentdeckung begrenzter Kriege als der wahrscheinlicheren Bedrohungsform sollte sich solche frühe Kritik im Übrigen glänzend gerechtfertigt fühlen. Wie umstritten die reine Nuklearstrategie indes schon auf dem Höhepunkt ihrer Umsetzung Mitte der fünfziger Jahre im westlichen Strategiediskurs insgesamt war, machen die zeitgleichen Auseinandersetzungen um Rüstungsschwerpunkte und Etatanteile zwischen den Teilstreitkräften in den USA überdeutlich. Beinahe testamentarisch suchte der scheidende Stabschef der U.S. Army, General Ridgway, seinen Minister im Sommer 1955 einmal mehr von dem vermeintlichen gedanklichen Irrweg abzubringen, dass »no nation could regard nuclear capabilities alone as sufficient, either to prevent, or to win a war«. Schon jetzt sei nämlich absehbar, dass die Vorteile aus einer noch vorhandenen amerikanischen Überlegenheit an Atomwaffen zu schwinden begännen. Nahezu gleichlaufend mit Heusingers Ansichten plädierte daher auch er für »strategic mobility on the Free World side«, die sich auf »properly proportioned, modernized forces« abstützen müsse. Für Verteidigungsminister Wilson - wie Finanzminister Humphrey und der Vorsitzende JCS, Admiral Radford, unbedingter Anhänger des >New Look< - stand hinter solcher Kritik freilich nur eine inakzeptable Gegnerschaft gegen die derzeitige Sicherheitspolitik der USA überhaupt, ohne dass dabei finanzierbare Alternativen aufgezeigt wurden205. Mit Ridgways Verabschiedung änderte sich indes an den Vorbehalten in der U.S. Army gegen eine rein nukleare Prioritätensetzung in den strategischen 203

204

205

Entwurf für Bericht über NATO-Luftmanöver CARTE BLANCHE, Herbst 1955, BA-MA, BW 2/622. Aufzeichnung »Beurteilung der militärischen Lage«, 25.6.1950, zit. nach Meyer, Adolf Heusinger, S. 485. Ridgway an Wilson und dessen Randbemerkungen, 27.6.1955, DDRS 1981, 294 B.

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Planungen und im entsprechenden Zuschnitt der Teilstreitkräfte wenig. Durch die gesamte Ära Eisenhower hielt vielmehr nahezu ihre vollständige Führungsspitze durchgängig an ihren Präferenzen für eine flexiblere Einsatzplanung und Streitkräfteausstattung der USA fest. Das ging nicht in jedem Falle, wie bei den Generalen Maxwell D. Taylor (Chief of Staff, U.S. Army), James Μ. Gavin (Chief of Research and Development) oder John B. Medaris (Chief of the Army Ballistic Missile Agency) bis zur offenen publizistischen Kampfansage an die Regierung oder gar zum Ausscheiden aus dem Dienst, so dass Präsident Eisenhower schließlich sogar erfolglos prüfen ließ, ob die Schärfe ihrer Kritik noch mit dem Status ehemaliger Generale zu vereinbaren sei206. Neben ihrer Rolle im Interessenkampf um Etatanteile gegen die U.S. Air Force meldete sich hier aber durchgängig eine militärisch professionelle Gegenposition zu Wort, die sich seit Mitte der fünfziger Jahre auf wachsenden öffentlichen Zuspruch von Seiten der oppositionellen Demokraten wie einer gewichtigen Gruppe strategischer Denker (Henry A. Kissinger, Bernard Brodie, Robert R. Bowie) abstützen konnte und schließlich ab 1961 bei dem neuen sicherheitspolitischen Tandem Kennedy/McNamara mit ihren Forderungen nach einem Strategiewechsel durchdringen sollte. Bei den deutschen Skeptikern gegen eine reine Nuklearstrategie kam jedoch neben ihrer militärisch professionellen Kritik noch ein Weiteres hinzu. In allen seinen strategischen Lagebeurteilungen vor einer politischen Öffentlichkeit wurde Heusinger nicht müde, auf eine für das deutsche Sicherheitsinteresse unübersehbare Sonderbedingung hinzuweisen: die Gefahr für das unmittelbar an den Ostblock angrenzende westdeutsche Territorium, bei einer militärischen Auseinandersetzung in Mitteleuropa zwangsläufig zum Schlachtfeld zu werden. Bundeskanzler Adenauer hatte diese Sorge noch in den Ratifizierungsdebatten um die Pariser Verträge vereinfachend mit dem Argument auszuräumen versucht, dass »wir im Falle eines heißen Krieges zwischen Sowjetrussland und den Vereinigten Staaten das europäische Schlachtfeld [sind], und wenn wir in der Atlantikpaktorganisation sind, dann sind wir dieses Schlachtfeld nicht mehr«207. Es gehörte daher, wie gerade eben die Stellungnahmen Heusingers zu CARTE BLANCHE gezeigt hatten, auch zum argumentativen militärischen Standardrepertoire, dass allein eine Paktzugehörigkeit mit angemessen starken Streitkräften der Bundesrepublik das »Uberrolltwerden« im Falle eines Krieges ersparen könne. Der interne Einblick in die voll auf taktisch-atomare Waffen ausgerichtete NATO-Strategie und ihre Erprobung in aller Öffentlichkeit bei CARTE BLANCHE musste aber genau dieses Kernargument für eine vom nationalen Interesse her gebotene und ethisch verantwortbare Verteidigungsplanung schon beim unmittelbaren Einstieg in den deutschen Streitkräfteaufbau nachdrücklich entwerten. Insbesondere die bei AFCENT favorisierte »LückenLehre« drohte das Selbstbildnis einer deutschen Armee als Garant einer unmittelbaren Heimatverteidigung unglaubwürdig zu machen, wenn deutsche Ver206 207

Vgl. Binder, Lemnitzer, S. 235 f. u n d 242. 70. Sitzung, 25.2.1955, Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Bd 23, S. 3736.

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bände noch auf Jahre hinaus nicht zur Abwehr unmittelbar am Eisernen Vorhang befähigt waren, in ihrer Funktion als bloßer >Stolperdraht< den Feind im Gegenteil geradezu in das zu verteidigende westdeutsche Territorium hineinlocken sollten, um ihn hier atomar vernichten zu können. Die Planer einer künftigen westdeutschen Armee steckten mithin im Sommer und Herbst 1955 in einer ernsten Glaubwürdigkeitskrise fest, noch bevor sie überhaupt an den Aufbau ihres militärischen Instruments gehen konnten. Die zweifelnde Frage Fritz Erlers (SPD) reichte nämlich weit über die Opposition hinaus: »Welchen Sinn hat eine Verteidigungsplanung, wenn ein derart massiver Einsatz von Atomwaffen das zu verteidigende Objekt und das zu verteidigende Volk möglicherweise vollkommen zerstört208?« Mochte Verteidigungsminister Blank daher CARTE BLANCHE als reines Manöver herunterspielen und den Zweiflern an der eigenen Streitkräfteplanung entgegenhalten, dass die »Frage der Gestaltung der Erdtruppen im Zeitalter thermonuklearer Waffen [...] bisher in diesen Gremien [der NATO] immer ein Ohr gefunden« habe209. Mochte ihm sein Koalitionspartner Erich Mende (FDP) mit seinem Plädoyer für »kleine hochgepanzerte, schnelle, bewegliche Einheiten« beispringen, da »durch die Revolutionierung der modernen Waffen [...] Landstreitkräfte nicht schlechthin überflüssig geworden« seien210. Selbst einer der wichtigsten sicherheitspolitischen Sprecher der Unionsfraktionen, Franz Josef Strauß, hatte immerhin schon im Sommer 1955 vorsichtig anklingen lassen, dass es nicht darum gehen könne, mit den künftigen deutschen Streitkräften »einen Schattenbeitrag zu liefern, der vor der technischen Wirklichkeit nicht mehr bestehen kann«211. Das zielte ganz in die Richtung, in die auch der Ständige Deutsche Vertreter bei der NATO, Blankenhorn, den Aufbau der Streitkräfte durch ein konsequentes militärisches Umdenken auf die Bündnisstrategie einschwenken sehen wollte. Bei aller Gegenwehr gegen die Kritik an seiner Grundvorstellung einer beweglichen panzerstarken Bundeswehr zeigte aber auch Heusinger selbst, dass er seine operativen Prinzipien des Bewegungskrieges zwar beizubehalten gedachte, aber doch gleichzeitig bereit war, sie mit den neuen Gegebenheiten taktisch-atomarer Gefechtsführung zu verbinden. In seinen Stellungnahmen zu CARTE BLANCHE rekurrierte er dazu erneut auf die Erfahrungen der U.S. Army, die gezeigt hätten, »daß weit auseinandergezogene kampfstarke Erdtruppen der Vernichtung durch Atomwaffeneinsatz entgehen können, wenn sie durch entsprechende Gliederung und Ausbildung den Bedingungen des Atomkrieges angepasst werden« 212 . Eine derartige Annäherung an die NATO208 209 210 211

2,2

116. Sitzung, 7.12.1955, Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Bd 27, S. 6211. Ebd., S. 6216. Ebd., S. 6218. Rede vor dem Deutschen Bundestag, 16.7.1955, zit. nach Bulletin Nr. 132, 20.7.1955, S. 1117. Ebd., Nr. 131, 19.7.1955, S. 1113 und Kabinettsprotokolle, Bd 8, S. 413. Heusingers Aussagen korrespondierten mit den zeitgleichen Überlegungen in einer interalliierten taktischen Studiengruppe von AFCENT, vgl. Vortrag von deren Kommandeur, General le Puloch, 13.10.1955, BA-MA, BW 2/1946.

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Strategie wurde auch deshalb unumgänglich, weil sich inzwischen die Vorstellungen bei SHAPE über eine zweckmäßige Organisation der deutschen Landstreitkräfte zu verdichten begannen. Amerikanische, britische und französische Ansichten dazu hatten sich im Sommer 1955 zwar ebenfalls auf einen Typus von Kampfverbänden konzentriert, der »simplicity, flexibility, mobility, and fighting power« miteinander verband. Das war aber nur scheinbar nahe an den deutschen Vorstellungen beweglicher, panzerstarker und kleiner zu haltender Divisionen. Im Kern kreisten die bei SHAPE und AFCENT angestellten Überlegungen nämlich um die zentrale Vorgabe der New Approach Group, dass »atomic weapons, although not an absolute weapon, are the principal agent around which the future concept must be developed«. Landstreitkräfte bildeten demnach eben nicht mehr die von Heusinger intendierte operationsfähige Masse für eine durch taktische Atomwaffen lediglich angereicherte große LandLuft-Schlacht um Europa, ihnen kam vielmehr nur noch eine bescheidenere Aufgabe zu: »Ground force manoeuvre must create atomic targets and exploit atomic attacks«. Für »firm SHAPE guidance« in dieser Richtung an die Adresse der Deutschen wollte man sich zwar noch Zeit nehmen, bis zum Jahresende die Diskussionsprozesse darüber in Fontainebleau abgeschlossen waren. Die deutscherseits vorgeschlagenen sechs Panzer- und sechs Infanteriedivisionen sollten dagegen in jedem Falle an die von AFCENT geltend gemachten Forderungen von acht Infanterie- und nur vier Panzerdivisionen angepasst werden 213 . Als Kompromiss war für CINCENT lediglich denkbar, dass zwei Infanteriedivisionen mechanisiert, also leicht gepanzert werden konnten. Bei SHAPE monierte man aber mit Blick auf die ausgedehnten Frontbreiten weiterhin, dass die vorn eingesetzten Verbände in ihrer von den Deutschen beabsichtigten Panzerstärke nicht hinreichend personal- und abwehrstark seien, um die zu überwachenden Räume auf ihrer ganzen Breite abdecken zu können214. Im Führungsstab der Bundeswehr registrierte man jedenfalls von nun an entsprechende Hinweise auf das sich verändernde Gefechtsbild bei der NATO äußerst aufmerksam. Dabei blieb man jedoch immer noch wesentlich auf die offen zugängliche Debatte in amtlichen Verlautbarungen und in der Militärpublizistik angewiesen. Deutsche Stabsoffiziere, die seit Sommer 1955 an Lehrgängen in den USA teilnahmen, meldeten nämlich in ihren Lehrgangsberichten, dass man zwar in die Wirkungen von Atomwaffen eingewiesen werde, über Fragen der operativen Führung und der technologischen Waffenentwicklung indes nichts erfahre215. Als äußerst nützlich erwies es sich unterdessen, dass es über den ersten Deutschen Militärischen Vertreter bei SHAPE schon im Herbst 213

214 215

Briefing von SHAPE »The Organization of the German Land Forces« an U.S. Army, 29.8.1955 (Diskussionsstand: Ende Juli), NA, RG 3/9, Records of the Army Staff, G-3, 1955, box 44. SHAPE History, vol. 3, S. 365. Bericht Oberstleutnant a.D. von Ciaer über seine Teilnahme am Vorbereitungskurs zum Generalstabslehrgang in Fort Leavenworth, 28.8.1955, sowie Bericht Oberst a.D. Fischer über seine Kommandierung zu einem Artillerielehrgang in Fort Bliss, 20.9.1955, Unterlagen Flottillenadmiral Wolfgang Kahler, Zeitzeugen-Schrifttum MGFA.

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1955 gelang, ein Field Manual der U.S. Army über atomare Gefechtsführung insgeheim kopieren und ins Deutsche übersetzen zu können216. Konkreteres ließ sich außerdem aus der Übersetzung eines amerikanischen Buches über »Atomwaffen im Landkrieg« entnehmen, die im Spätsommer 1955 auf dem deutschen Markt erschien. Danach hatten sich alle Landstreitkräfte von nun an darauf einzustellen, dass der Einsatz taktischer Atomwaffen »die Regel, nicht die Ausnahme« sein würde. Ihr Einsatz lasse sich aber so dosieren, dass »übertriebene Vorstellungen von deren Wirkung [...] auf ein vernünftiges Maß zurückgeführt werden« müssten. Die Folgerung, die der deutsche Übersetzer daraus zog, lagen ganz auf der Linie des um Heusinger vorherrschenden operativen Denkens. Wohl waren die Kampfformen und das Gerät den neuen Herausforderungen anzupassen, aber die »bewährten deutschen Grundsätze« - Beweglichkeit, Auftragstaktik, Schwerpunktbildung - wurden dem deutschen Kommentar zufolge gerade unter atomaren Gefechtsbedingungen nachdrücklich bestätigt217. Zu ähnlichen Ergebnissen kam der spätere Kommandierende General I. Korps, Hans Hinrichs, der sich - zu diesem Zeitpunkt noch Mitarbeiter in der Organisation Gehlen - bereits eingehend damit auseinander setzte, welche Forderungen an moderne Heeresverbände im atomaren Gefecht zu stellen waren. Wie Heusinger maß auch er den Landstreitkräften weiterhin »bedeutendere Aufgaben« zu, als lediglich das »Vollstreckungskommando in der durch ferngelenkte Vernichtungswaffen geschaffenen Mondlandschaft zu sein«218. Da das moderne Gefecht aber voraussichtlich nicht mehr ohne den Einsatz taktischer Atomwaffen von beiden Seiten ablaufen würde, ging es nun darum, aus den Wirkungen der neuen Waffen Folgerungen für größere Auflockerung der Kampfverbände auf dem Gefechtsfeld, für ihre zweckmäßige Gliederung, für gesteigerte Beweglichkeit und für geeignete Schutzvorkehrungen gegen Druck- und Hitzewelle wie gegen radioaktive Strahlung zu ziehen, aber eben auch über veränderte Führungsgrundsätze und die aus atomarer Waffenwirkung resultierenden Möglichkeiten in Abwehr- und Angriffsoperationen nachzudenken. Hier wie in einem gleichgelagerten Aufsatz des späteren Kommandeurs der 7. Panzerdivision, Eike MiddeldorP 9 , zeigt sich, wie sich jüngere Generalstabs216 Ygj z u ^ Θ Γ η Vorgang Gablik, Strategische Planungen, S. 93, Anm. 102. Zur Information seiner Mitarbeiter hatte Heusinger außerdem den Vortrag »Rolle der Landstreitkräfte im modernen Kriege« des französischen K o m m a n d e u r s der bei AFCENT eingerichteten interalliierten taktischen Studiengruppe, General le Puloch, übersetzen und in drei Ausfertigungen umlaufen lassen, den dieser am 13.10.1955 vor dem NATO Defense College in Paris gehalten hatte, BA-MA, BW 2/1946. 217 Reinhardt/Kintner, Atomwaffen, und Stellungnahme dazu vom Übersetzer, General d. Art. a.D. Anton Freiherr von Bechtolsheim, Amerikanische Gedanken z u m Einsatz von Atomwaffen im Landkrieg, in: WWR, 5 (1955), S. 473-475. 2,8 Hinrichs, Auswirkung taktischer Atomwaffen, S. 513. 219 Middeldorf, Gedanken zur K a m p f f ü h r u n g . Wie sehr sich der spätere Panzergeneral mit seinen Auffassungen von der Übertragbarkeit deutscher operativer Erfahrungen aus dem Ostkrieg auf das Gefechtsgeschehen unter atomaren Bedingungen im Rahmen von Heusingers Überlegungen bewegte, verdeutlicht dessen Vorwort zu Middeldorf, Taktik im Rußlandfeldzug, S. 5: »Die Erfahrungen der Vergangenheit sollen die Wegweiser für die Z u k u n f t sein.«

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Offiziere des Heeres, die später in operative Spitzenverwendungen gelangen sollten, auf eine Hereinnahme der neuen Waffen in herkömmliche operative Vorstellungen einzustellen begannen. Beide Autoren hielten dabei aber im Kern ihrer Argumentation an zentralen Grundsätzen von Heusingers Denken fest: Atomwaffen allein sind nicht kriegsentscheidend. Sie dominieren zwar in der ersten Phase eines Zukunftskrieges, wenn es um die Erringung der Luftherrschaft im vollen atomaren Schlagabtausch geht. Aber für sich genommen erzwingen sie eben noch keine Entscheidung. Dazu ist, wie in früheren Kriegen auch, die Rückeroberung zeitweilig aufgegebenen eigenen wie die Besetzung strategisch wichtiger Teile des gegnerischen Territoriums erforderlich. Für moderne Landstreitkräfte kommt es unter diesen Bedingungen darauf an, die schweren atomaren Schläge in der Anfangsschlacht im Wesentlichen defensiv zu überleben, um hinreichende Kampfkraft für die anschließende Schlacht um verloren gegangene bzw. zu erobernde strategische Positionen zurückzubehalten. In angemessener Auflockerung auf dem Gefechtsfeld und je nach Kampfsituation geschützt durch Feldstellungen oder die Panzerung der Gefechtsfahrzeuge hat dabei der Verteidiger bessere Chancen als der zur Massierung gezwungene Angreifer, sich der Druck-, Hitze- und Strahlenwirkung von Atomwaffen zumindest partiell zu entziehen. In zweifacher Hinsicht bewegten sich die deutschen Teilnehmer am operativen Diskurs damit auf NATO-Annahmen zu: dass sich künftiges Gefechtsgeschehen um den Einsatz von taktischen Atomwaffen herum abspielen würde, dass man darüber hinaus aber zusätzlich für einen Zwei-Phasen-Krieg zu planen hatte: eine nahezu ausschließlich atomar geführte, auf wenige Tage begrenzte Anfangsschlacht, und eine zeitlich schwer einschätzbare Phase der Rückeroberung verlorener Gebietsteile wie der Brechung des militärischen Restwiderstandes beim Gegner. Gerade unter solchen Gefechtsbedingungen erschienen aus deutscher Sicht die aus eigener militärischer Erfahrung geschöpften Forderungen nach Beweglichkeit im Führungsdenken und nach Motorisierung und Panzerung der eigenen Kampfverbände auf dem Gefechtsfeld dann aber vollauf gerechtfertigt. Typisch für dieses selektive Hineinfinden in die bei der NATO vorherrschenden operativen Leitlinien ist etwa die Stellungnahme zu Überlegungen eines britischen Stabsoffiziers, dessen Gedanken über den Zuschnitt moderner Infanteriedivisionen dort aufgegriffen wurden, wo sich daraus Unterstützung für eine »Vollmotorisierung und Vollpanzerung gerade auch für die Verteidigung« ableiten ließ, dem aber sofort widersprochen wurde, wenn eine bei den Angelsachsen durchgängig angenommene »Schematisierung« besorgt wurde 220 . Um nunmehr aber auch führungstechnisch voranzukommen, richtete Heusinger in der Streitkräfteabteilung des BMVg schon im September 1955 beim Referat II/3/10 (Führungsplanung und Dislozierung) ein eigenes Aufgabenge220

Atomkrieg und Taktik, in: WWR, 6 (1956), S. 40 f. Die ganze Dichte der deutschen operativen Debatte 1955/56 spiegelt sich wider bei Buchholz, Strategische u n d militärpolitische Diskussionen, S. 135-142.

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biet »Atomkriegführung« ein und machte den Referatsleiter, Oberst i.G. Albert Schindler, in Personalunion zum »Referenten für Fragen der Atomkriegführung«. In allen Unterabteilungen der Militärabteilung waren dazu zum 1. Oktober 1955 geeignete Offiziere zu benennen, die diesem unaufgefordert über alle in ihren Bereichen auftauchenden Probleme im Zusammenhang mit atomaren Fragen zu unterrichten hatten und umgekehrt von seinem Referat ständig mit den neuesten Erkenntnissen auf atomarem Gebiet vertraut zu machen waren. Ziel dieser organisatorischen Maßnahme war es, die bisher aus Einzelinformationen gewonnenen Erkenntnisse zu bündeln und daraus Empfehlungen zu erstellen. Die Entscheidung darüber, ob und gegebenenfalls in welcher Weise entsprechende Empfehlungen in Führungsentschlüsse umzusetzen bzw. lediglich gedanklich mitzuverfolgen waren, behielt sich Heusinger persönlich vor221. Damit war noch vor der Anmahnung durch die Opposition, dass »im Verteidigungsministerium [...] ein ständiger Beobachtungsapparat seinen Platz finden« müsse222, einem Desiderat entsprochen, das der General selbst bereits 1954 mit seiner Kritik an dem Mangel von Atomfachleuten im Amt Blank auf die Agenda gesetzt hatte223. Über die Sammlung und Auswertung selektiver Atominformationen hinaus war freilich auch auf diesem Wege vorerst noch kein detailscharfes Bild über Atomwaffenbestände, Lagerstätten und Zielplanung in der NATO und insbesondere auf deutschem Boden zu gewinnen. Selbst die britischen Stabschefs gingen schließlich 1955 noch davon aus, dass die Amerikaner bis auf Weiteres nicht einmal an sie zur vollen Weitergabe entsprechender Informationen bereit sein würden 224 . Ein umfassenderer Informationsstand sollte sich erst Anfang der sechziger Jahre im Bündnis einstellen, nachdem der neue Chairman JCS, General Lyman L. Lemnitzer, die wiederholten Forderungen des SACEUR in ein Programm für den erweiterten Zugang von NATO-Offizieren zu amerikanischen Informationen über nukleare Waffen, Einsatzmittel und Wirkungen auch wirklich in die Praxis umgesetzt hatte225. Wenn man also in der Startphase des eigenen Streitkräfteaufbaus im BMVg weiterhin auf der Basis eingeschränkter Informationen über das künftige Hauptwaffensystem zu planen hatte, so forcierte SHAPE doch nunmehr seinerseits seine Aktivitäten zur militärischen Beratung des neuen Bündnispartners. Der Deputy SACEUR, Marschall Montgomery, reiste dazu im September 1955 persönlich nach Bonn zu Gesprächen mit Verteidigungsminister Blank und seinen militärischen Beratern226. Mit seinen Empfehlungen, die Gunst der Stun221 222

223

224 225 226

Leiter Abteilung II an Unterabteilungen II/2-II/7, 28.9.1955, BA-MA, BW 2/1946. So Fritz Erler (SPD), 116. Sitzung, 7.12.1955, Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Bd 27, S. 6213. Vortrag vor dem Ausschuss für Fragen der Europäischen Sicherheit, 12.7.1954, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 2. Wahlperiode, 15. Sitzung, S. 9. Sitzung der britischen Stabschefs, 29.6.1955, PRO, DEFE 4/77, COS (55) 51. Vgl. Binder, Lemnitzer, S. 320. Eingehend dokumentiert: SHAPE History, vol. 3, S. 366-369.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

de eines Neuaufbaus zu nutzen und sein Ressort - anders als in anderen westlichen Ländern - von einer Fülle mitwirkender Außeneinsprüche unabhängig und möglichst alleinverantwortlich für Verteidigungsfragen zu machen, fand der britische Marschall bei Blank durchaus offene Ohren, wenn sich dafür auch, wie noch zu zeigen sein wird, nicht der erhoffte Erfolg einstellen sollte227. Eine andere, von Blank schon wenig später verwirklichte Idee brachte Montgomery dagegen mit seinem Vorschlag in die Debatte, analog zu den angelsächsischen Stabsorganisationen jeder Teilstreitkraft einen Chief of Staff voranzustellen und alle drei unter einem ständigen Vorsitzenden zu vereinigen, der gleichzeitig militärischer Berater seines Ministers sein sollte. Als daher die Bestallung von Heusinger zum obersten Soldaten der Bundeswehr auf Einspruch des Personalgutachterausschusses (PGA) angehalten wurde, fand Blank Ende November 1955 einen Ausweg aus dieser Führungskrise, indem er sich mit dem Militärischen Führungsrat (MFR) - bestehend aus den Leitern der Abteilungen IV (Streitkräfte), V (Heer), VI (Luftwaffe) und VII (Marine) - ein hochrangiges militärisches Beraterorgan schuf und an dessen Spitze den inzwischen als Generalleutnant in die Bundeswehr übernommenen Heusinger stellte228. Zum eigentlichen Kern seiner »Ratschläge«, denn der Deputy SACEUR erläuterte seine Funktion ausdrücklich als beratend, verbunden mit der Freiheit jedes Bündnispartners, seinen Rat anzunehmen oder zu vernachlässigen, kam Montgomery bei seinen Bonner Gesprächen mit den für die Teilstreitkräfte verantwortlichen Abteilungsleitern. Einmal mehr wurde dabei die veränderte Rollenverteilung zwischen den einzelnen Komponenten moderner Streitkräfte unter atomaren Bedingungen deutlich. Wohl plädierte auch er für Ausgewogenheit zwischen den Teilstreitkräften. Unter ihnen stellte er aber die Luftwaffe als »dominant factor« heraus, der die Aufgabe zufiel, die für den Gesamtverlauf eines Krieges unverzichtbare Luftüberlegenheit zu erkämpfen. Daneben hatten die Landstreitkräfte das westeuropäische Bündnisterritorium gegen eine Invasion zu schützen, während zur See eine klare Aufgabenteilung zwischen den weltweit operierenden Marinen der Angelsachsen und den kleineren Seestreitkräften, zu denen auch die künftige Bundesmarine rechnete, vorzunehmen war. Demnach hielten die Angelsachsen die großräumigen Seeverbindungen offen, während ihre Partner die Küstengewässer und »such focal areas as the exits from the Baltic and Black Seas« zu schützen hatten229. Während über diese große Linienführung grundsätzliche Ubereinstimmung herrschte, blieben bei aller diplomatischen Gesprächsführung Heusingers Einwände gegen Tendenzen zu einer »conception of static or field defenses« unüberhörbar, wenn er für eine »fluid strategy based on mobile forces« eintrat. Uber Fragen der Divisionstypen und des Anteils an gepanzerten Kräften daran wurden deshalb zu diesem Zeitpunkt noch keine endgültigen Festlegungen getroffen. Das hätte im Übrigen auch Montgomerys eingenommener Position 227 228 229

Vgl. hierzu das folgende Kap. III.2.b. Z u m Votum des PGA und zur Schaffung des MFR: Meyer, Adolf Heusinger, S. 5 2 5 - 5 2 9 . SHAPE History, vol. 3, S. 367.

III. Die Implementierung der Vergeltungsstrategie im Bündnis und die Aufbaukrise

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als »Ratgeber« widersprochen. Seine Präferenzen standen freilich längst fest und er hatte sie vor seinem Bonn-Besuch nochmals mit dem CINCENT Juin abgestimmt. SACEUR empfahl er daher nach seiner Rückkehr, ein »SHAPE Grand Design for the Defence of Central Europe« festzulegen und dies zur »SHAPE doctrine« zu erklären. Dem würden sich nach Montgomerys Eindrücken dann auch die Deutschen schwerlich widersetzen 230 . Darauf deutete schon jetzt die weitgehende deutsche Akzeptanz der Auffassungen von SHAPE in Sachen künftige Luft- und Seestreitkräfte der Bundeswehr hin. Mit ihrer Bereitschaft, die eigene Luftverteidigung von allem Anfang an unter »centralized control« der NATO zu stellen, zeigten sich die Deutschen sogar im Vergleich zu den übrigen westeuropäischen Partnern an der Spitze des Fortschritts. Aber auch beim Zuschnitt ihrer Marine akzeptierten sie jedenfalls nach außen hin eine Rolle, die wesentlich in der Verteidigung der Ostseezugänge bestehen würde, allerdings mit der Bitte verbunden, als Pendant zu den sowjetischen Unterwasserstreitkräften in der Ostsee auch der deutschen Marine schon jetzt kleinere »coastal type submarines« zuzugestehen 231 . In der Frage der Divisionstypen für die Landstreitkräfte blieben die Auffassungsunterschiede dagegen noch auf Monate hinaus unverrückt. Im ersten deutschen Bericht zur Annual Review der NATO für 1955 meldeten die Deutschen nämlich gegen die bei SHAPE favoriserten vier erneut sechs Panzerdivisionen als ihr Aufstellungsziel an, zeigten sich in der Sache aber immerhin gesprächsbereit. Daraus ging Ende November 1955 ein Kompromiss hervor, der eine erste Annäherung an die deutschen Absichten brachte. Danach akzeptierte SACEUR nunmehr gegenüber Heusinger als Endziel deutscher Heeresplanung sechs Panzer- und sechs Infanteriedivisionen. Für das erste Aufstellungsjahr sollten aber zunächst in der Annual Review von 1956 nur die Kader für vier echte Panzerdivisionen vorgesehen werden, während zwei als »undefined divisions« vorerst in ihrer Endstruktur offen bleiben sollten232. Für das deutsche Heer kam es schließlich im Sommer 1956 noch besser, als Marschall Juin für AFCENT seinen Widerstand gegen ein Gleichgewicht aus Infanterie- und Panzerdivisionen mit der Begründung aufgab, es sei letztlich nicht kategorisch zu entscheiden, welche Lösung sich in der Praxis besser bewähren werde233. Inzwischen waren nämlich die französischen Truppenabzüge nach Nordafrika, die britischen Etatengpässe für ihre Rheinarmee und amerikanischen Reduzierungsabsichten aus dem sogenartnten Radford-Plan so bedrängend geworden, dass es nicht mehr darauf ankam, mit welcher Art von Divisionen sich eine Verteidigung Mitteleuropas am besten realisieren ließ, sondern dass möglichst schnell überhaupt deutsche Divisionen verfügbar wurden. Die von Montgomery empfohlene Gelegenheit, in der NATO allgemein und damit auch gegenüber dem neuen deutschen Mitglied Klarheit über die opera230 231

232 233

Ebd., S. 369. Ebd., S. 368 f. Eingehendere Aufschlüsselungen dazu bei Lemke u.a., Die Luftwaffe, und Sander-Nagashima, Die Bundesmarine. Kurzprotokoll Nr. 1 der MFR-Sitzung, 6.12.1955, BA-MA, BW 17/24, Bl. 2. Vgl. SHAPE History, vol. 3, S. 373-377.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

tiven Leitvorstellungen im Bündnis zu schaffen, hatte unterdessen eine Konferenz der Verteidigungsminister bei SHAPE im Oktober 1955 erbracht234. Um den Ministern ein Gesamtbild von den NATO-Absichten und den davon abzuleitenden Forderungen an die einzelnen Mitglieder zu vermitteln, waren neben dem gastgebenden SACEUR und den Vorsitzenden der Standing Group und des Military Committee auch die Kommandobereiche SACLANT und CINCHAN vertreten. In seinem eingehenden Lagevortrag ging General Gruenther von einer fortbestehenden zahlenmäßigen Überlegenheit der sowjetischen Streitkräfte und ihrer Satelliten aus. Das würde sich auch durch eine im Mai 1955 angekündigte Reduzierung der Roten Armee um immerhin 800 000 Mann aus Sicht von SHAPE nicht nennenswert ändern, da die Sowjetunion im Kriegsfalle die demobilisierten Soldaten schnell reaktivieren könne. Vor allem habe die Gegenseite aber erhebliche Fortschritte im Umfang und in der aufgelockerten Dislozierung ihrer Luftstreitkräfte gemacht, dadurch deren Einsatzoptionen erweitert und ihre Verwundbarkeit verringert. Demgegenüber sei zwar auch das Potenzial der NATO in den letzten Jahren erweitert und in seiner Einsatzfähigkeit verbessert worden. Den Gedanken, ein konventionelles Äquivalent zur sowjetischen Überlegenheit herstellen zu können, habe man aber bereits 1953 auf Dauer aufgeben müssen. Wolle man daher selbst nach einer Erweiterung der NATO-Streitkräfte um einen deutschen Beitrag die Abschreckung in Europa glaubwürdig und eine dennoch nicht auszuschließende Verteidigung effizient gestalten, dann bleibe nur die konsequente Umsetzung des mit der MC 48 eingeschlagenen Weges, und das hieß: »The cardinal principle of this strategy was the use of atomic weapons.« Auf Westeuropa bezogen hatte sich mithin alle Verteidigungsplanung auf zwei eng zusammenwirkende atomare Komponenten abzustützen: auf die in Ostengland stationierten Fernbomber vom Typ Β 47 als vorgeschobene Teile des strategischen Potenzials von SAC zusammen mit den V-Bombern der Royal Air Force einerseits sowie andererseits auf die SACEUR unmittelbar unterstellten atomaren Einsatzmittel, bestehend aus einer land- und einer seegestützten Komponente: die nuklearfähigen 280 mm-Geschütze, die Raketenwerfer HONEST JOHN und die Kurzstreckenraketen CORPORAL bei den amerikanischen Landstreitkräften in Europa sowie die beiden Flugzeugträger der 6. (US) Flotte im Mittelmeer. Koordiniert waren die atomaren Einsatzpläne von SHAPE außerdem mit den strategischen Vergeltungskräften von SAC in Nordamerika und den eigens für den atomaren Einsatz im Nordatlantik stationierten Flugzeugträgern von SACLANT (Strike Fleet Atlantic, STRIKFLTLANT), die den skandinavischen Raum abzudecken hatten, da auf dem Territorium der NATOPartner Dänemark und Norwegen eine Stationierung von Kernwaffen von vornherein nicht akzeptiert wurde 235 . Die atomare Zielplanung von SHAPE 234

235

Dazu u n d zum Folgenden: Protokolle der beiden Sitzungen am 11.10.1955, NISCA, C-R (55) 43 und 44. Vgl. dazu für Dänemark: Petersen, The Dilemmas of Alliance, S. 283, für Norwegen: Tamnes, The Strategie Importance, S. 272.

III. Die Implementierung der Vergeltungsstrategie im Bündnis und die Aufbaukrise

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konzentrierte sich dabei in ihrem Schwerpunkt auf drei Zielgruppen mittlerer Reichweite: auf die Flugplätze in Westrussland und den Satellitenstaaten, auf die dreißig Umladeplätze von der westrussischen Breitspurbahn auf die schmaleren Spurbreiten in Polen und der DDR sowie auf die Häfen an der Ostsee und am Schwarzen Meer. Die im Zentrum der deutschen Überlegungen stehende »forward strategy« erklärte der SACEUR natürlich auch weiterhin für verbindlich, da sie abgesehen von ihrer militärischen Wünschbarkeit »was essential from the political point of view, particularly so far as Germany was concerned«. Dazu mussten aber erst die deutschen Verbände verfügbar sein, und damit war nicht vor 1959 zu rechnen. Daneben mahnte Gruenther auch bei den übrigen westeuropäischen Partnern die Erfüllung ihrer zugesagten Streitkräftezahlen an, ohne die selbst eine voll auf taktische Atomwaffen gestützte Verteidigung nicht durchzuführen sei. Bei allem Verständnis für Frankreichs Probleme in Nordafrika erwartete er zudem eine Auffüllung der französischen Divisionen bei AFCENT durch die von Paris zugesagte Einberufung von 64 000 Reservisten. Daran lässt sich ablesen, dass es SHAPE durchaus ernst damit war, die Voraussetzungen hinsichtlich der erforderlichen Streitkräfte für ein möglichst baldiges Vorschieben der eigenen Verteidigungslinien nach Osten zu schaffen. Nur konnte man nicht daran vorbeisehen, dass sich mit dem Scheitern der EVG die Zeitschiene dafür um wenigstens zwei Jahre verlängert hatte. Gerade deswegen warnte Gruenther - als Stabschef bei SHAPE unter seinen Vorgängern Eisenhower und Ridgway hatte er darin bereits hinreichende Bündniserfahrung - seine Zuhörer eindringlich davor, im Vertrauen auf die Nuklearisierung der Bündnisstrategie ihre verbleibenden konventionellen Aufgaben zu vernachlässigen. Ein neuerliches Verfehlen selbst der nunmehr gegenüber 1952 bereits deutlich reduzierten Streitkräfteziele nach Umfang und Qualität musste sich nach seiner Einschätzung politisch wie militärisch »disastrous« auswirken, in letzter Konsequenz sogar eine vollständige Revision der NATO-Strategie erzwingen, so dass dann »a rearward rather than a forward strategy would have to be adopted«. Selbst wenn es jedoch gelang, die NATO-Streitkräfte mittelfristig auf die Mindeststärke von dreißig Präsenzdivisionen zu bringen und sie umfassend mit taktischen Atomwaffen zu verstärken, ließ das Briefing durch den SACEUR keine Illusionen zu, welches Bild eines möglichen Krieges er seinen Planungen zugrunde legen musste. Die atomare Überlegenheit der USA - das glaubte Gruenther zusichern zu können - würde im Endergebnis dazu führen, dass die Sowjetunion zwar in einem allgemeinen Krieg »would surely be defeated«. Auf dem Weg dahin würde man aber in Kauf nehmen müssen, dass zunächst einmal größere Teile des NATO-Territoriums überrannt werden würden, »resulting in the destruction of or critical damage to our free European civilisation«. Was in dieser beinahe apokalyptischen Formel nicht ausdrücklich angesprochen zu werden brauchte, weil es die hier versammelten Verteidigungsminister und ihre Generalstabschefs aus ihrer Kenntnis der MC 48 unschwer nachvollziehen konnten, war das Faktum, dass die ausschlaggebenden Schädigungen

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

vor allem aus dem auf beiden Seiten einzukalkulierenden, sofortigen und umfassenden Einsatz von Atomwaffen resultieren würden. Neben den reinen Streitkräftezahlen war die NATO nach Aussage von SACEUR indes zur Implementierung der MC 48 für die kommenden Jahre auf eine noch weit umfangreichere Palette zusätzlicher Maßnahmen auf der Allianzebene wie in den einzelnen Mitgliedstaaten angewiesen. Hinter diesen weitergehenden Forderungen drohte freilich schon jetzt das mit einer Nuklearisierung der Bündnisstrategie doch eigentlich intendierte Ziel einer ökonomischeren NATO-Verteidigung bereits wieder zu verschwimmen. Wollte man nämlich die eigenen Streitkräfte wie die zu verteidigenden Territorien und ihre Bevölkerungen vor der als schwerste Bedrohung angesehenen Gefahr eines atomaren Überraschungsangriffs schützen, dann genossen der eigene Bereitschaftstand und die Frühwarnung durch ein NATO-weites Radarsystem absolute Priorität. Gleichzeitig mussten bei den kurzen Reaktionszeiten die Früherkennung und die raketengestützte Luftabwehr mit den eigenen Luftverteidigungs- und Luftangriffskräften schrittweise zu einem integrierten Luftverteidigungssystem der NATO zusammengeführt werden. Dafür würde man allerdings erst noch die fortdauernden nationalen Widerstände dagegen bei den beiden größten westeuropäischen Luftmächten Großbritannien und Frankreich zu überwinden haben. Äußerst kostenintensiv musste sich unter nuklearen Bedingungen im Übrigen ein wesentlich zu erweiterndes Infrastrukturprogramm gestalten. Dazu waren nicht nur die zentralen Versorgungsstränge der Allianz, allen voran ihr von den Atlantikhäfen bis in die westliche Bundesrepublik reichendes PipelineNetz, weiter nach Osten hin auszubauen. Auch für die sonstigen militärischen Versorgungsgüter einer auf sechzig Tage veranschlagten Kriegsbevorratung waren zusätzliche Depots anzulegen. Die gesamte Infrastruktur des Bündnisses in Westeuropa - Kommandozentralen, Kommunikationsnetze, Flugplätze, Häfen, Depots - musste zudem der neuen Lage angepasst werden, einen perzipierten gegnerischen Atomschlag in der Anfangsphase eines Krieges überleben zu können. Das hieß aber nicht nur die Anlagen selbst baulich zu härten, sondern sie auch wesentlich aufgelockerter als bisher und zusätzlich mit Ausweicheinrichtungen versehen über den gesamten Einsatzraum zu verteilen. Die militärische Infrastrukturplanung in einem an sich schon besonders dichtbesiedelten Raum wie der Bundesrepublik, die bereits durch den Raumbedarf für Unterbringungs- und Übungszwecke ausländischer Stationierungstruppen und hinzukommender Bundeswehrverbände erheblich belastet war, musste sich mit diesen Auflockerungsbedürfnissen zusätzlich verschärfen236. Und das alles war in den offenen Gesellschaften Westeuropas - auch daran erinnerte SACEUR seine Zuhörer - innenpolitisch wie psychologisch nur überzubringen, wenn diese schon im Frieden zur Akzeptanz der eigenen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Vorkehrungen gegen die angenommenen Gefahren erzogen wurden. Selbstkritisch gestand sich General Gruenther immerhin ein, dass seine eigene Öffentlichkeitsarbeit bei CARTE BLANCHE dafür alles andere als hilf236

Eingehende Analyse bei Schmidt, Armee, Staat und Gesellschaft.

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reich gewesen war und man deshalb Vorkehrungen getroffen habe, einen Wiederholungsfall zu vermeiden 237 . Für die deutsche Delegation, insbesondere für Verteidigungsminister Blank und seinen Staatssekretär Rust, kam dieser von SACEUR bewusst hart formulierte Realismus beinahe einer Lehrstunde gleich. Man verhielt sich denn auch äußerst rezeptiv, da man sich nach eigenem Bekunden derzeit noch außerstande sah, eingehender zum Gehörten Stellung zu beziehen. Immerhin registrierte man aber dankbar, dass von einigen Ratsmitgliedern doch auch herkömmlichere Überlegungen zur Bündnisverteidigung in die Debatte eingebracht worden waren. Allerdings goss der amerikanische Verteidigungsminister Wilson sofort Wasser in solche Hoffnungen, wenn er konventionellen Streitkräften nur noch »a relative priority« zuwies, da die »present technological developments were producing a shift towards a greater use of materials and a lesser use of >physical bodiesErholungsphase< auch für Großbritannien selbst wie für den Westen insgesamt der Rückgriff auf funktionsfähige eigene Seestreitkräfte als letztes intaktes Kriegsmittel wie zur Beherrschung der Versorgungswege über den Atlantik von größerer Bedeutung sein als der zusätzliche Aufwand für schnell zu mobilisierende Landstreitkräfte einer zweiten Welle 243 . Waren sich die amerikanischen und britischen Stabschefs also im Kern ihrer Überlegungen weitgehend einig über denkbare Konfliktszenarien, so konnte man in London doch nicht über die eigenen finanziellen Begrenzungen hinwegsehen. Und das hieß eben, dass man außerstande war, sich auf alle Varianten eines denkbaren Kriegsverlaufes und die Bereitstellung der dazu erforderlichen militärischen Mittel gleichermaßen einzustellen. Setzte man aber bei allem Bemühen um eine ausgewogene Streitkräftestruktur die Prioritäten bei der Aufrechterhaltung der eigenen See- und Luftmacht, der Entwicklung einer angemessenen nuklearen Komponente und der militärischen Absicherung außereuropäischer Verpflichtungen, dann konnte man nicht gleichzeitig die Divisionen der Rheinarmee nach Personalumfang und Bewaffnung auf dem der NATO zugesagten Stand belassen und daneben auch noch eine Mobilisierungsbasis für

242

243

Stellungnahme der Operations Deputies der Air Force zu JSOP for 1957, 20.8.1955, The History of the Joint Chiefs of Staff, vol. 6, S. 31. Vgl. d a z u Question 7 betr. Verlauf und Gestalt eines globalen Krieges, Sitzung der BCOS, 29.6.1955, PRO, D E F E 4/77, COS (55) 51.

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die zweite Phase eines Krieges unterhalten. Im Übrigen bezweifelte man ernstlich, ob ein solches zusätzlich bereitzuhaltendes Potenzial überhaupt das mehrtägige atomare Bombardement der ersten Kampftage überstehen würde, um daraus eine zweite Welle von Kampftruppen aufstellen zu können. Ohne eine verfrühte Debatte innerhalb der NATO über realisierbare Streitkräfteziele anzustoßen und dadurch nachahmende Überlegungen auch bei anderen Bündnispartner auszulösen, hielten die britischen Stabschefs deshalb militärisch »some form of calculated risk« für unabwendbar. Auf ihre Landstreitkräfte bezogen resultierte daraus schon Mitte 1955, also noch vor dem Wirksam werden eines deutschen Streitkräfteaufbaus, die interne Sprachregelung, dass aus dem globalen Interesse Großbritanniens heraus eine Truppenreduzierung bei den Überseestreitkräften nicht vorgenommen werden sollte. Demgegenüber leitete man aus der Einführung von Atomwaffen in die NATO-Verteidigung die Folgerung ab, dass eine schrittweise Verkleinerung der Rheinarmee den geringeren militärischen Schaden anrichten würde, da ihre augenblickliche Stärke mehr von bündnispolitischen als von militärischen Gründen bestimmt sei. Schließlich schätzte man bei dem aktuellen nuklearen Kräfteverhältnis zwischen West und Ost die bewusste Auslösung eines europäischen Krieges mit dem Risiko seiner globalen Eskalation durch die Sowjetunion zumindest mittelfristig als gering ein, da diese vorerst durch strategische Atomschläge noch bei weitem verwundbarer war als ihr amerikanischer Gegner244. Doch solche Debatten über die Reichweite der im Dezember 1954 ein vernehmlich vorgenommenen Revision der Bündnisstrategie wurden vorerst im internen Rahmen eines amerikanisch-britischen Disputs gehalten. Auf der Allianzebene kam es im Herbst 1955 erst einmal darauf an, den erreichten Konsens der MC 48 in den Bündnisdokumenten fortzuschreiben, um die Umsetzung des Strategiewechsels in den einzelnen Partnerstaaten in Gang zu bringen. Dazu hatte gerade auch die Ratstagung mit den Verteidigungsministern im Oktober 1955 gedient, für die das Military Committee bereits Ende September eine entsprechende Konkretisierung der MC 48 vorgeschlagen hatte. Darin wurde insbesondere der erhöhte Zeitbedarf für die Implementierung der Vorwärtsverteidigung auf Grund der Verzögerungen beim westdeutschen Streitkräfteaufbau bis 1959 begründet. Außerdem waren die zusätzlichen Erfordernisse einer nuklearisierten Bündnisstrategie - europaweites Frühwarnsystem, verschärfte Alarmpläne, stärker integrierte Luftverteidigung - kenntlich gemacht. Nach Zustimmung durch die Ständigen Militärischen Vertreter der einzelnen NATOStaaten konnte das Dokument schließlich im Dezember 1955 als revidierte MC 48/1 für die weitere Bündnisplanung verbindlich gemacht werden. Festgehalten hatte man zwar weiterhin am Bild von einem künftigen Zwei-PhasenKrieg und daraus die Folgerung abgeleitet, dass man die eigenen Planungen nicht allein auf die atomare Anfangsphase beschränken durfte. Allerdings gestand man sich jetzt auch ein, dass die Schäden nach diesem atomaren Schlag244

Dazu und z u m Folgenden: Diskussionspapier »Long Term Defence Programme« des britischen Joint Planning Staff, 20.7.1955, ebd., DEFE 4/78, COS (55) 60.

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abtausch so exorbitant, die Regierungs- und Verwaltungsfähigkeit so nachhaltig beeinträchtigt und die psychologische Stimmung in den Bevölkerungen Westeuropas auf einem derartigen Tiefstand sein würden, dass darin erst einmal alle Maßnahmen der Zivilverteidigung und Schadensbekämpfung Vorrang haben müssten vor einer Fortsetzung der operativen Gefechtsführung 245 . Damit konnte sich aber auch der SACEUR keinen Illusionen mehr darüber hingeben, dass die Übertragung seiner bisherigen Grundannahmen von einem Zwei-Phasen-Krieg aus dem Joint Strategie Capibilities Plan der amerikanischen Stabschefs für 1955/56 auf die Einsatzplanungen von SHAPE erhebliche Probleme aufwerfen würde. Insbesondere gegen eine so weitgehende Absicht wie eine Invasion von NATO-Truppen in das russische Herzland in einer bis zu zwei Jahre andauernden zweiten Phase eines Krieges erwartete Gruenther aus wirtschaftlichen wie militärischen Gründen erhebliche Vorbehalte der europäischen Partner. Aber auch die ersten Ergebnisse einer von ihm angestoßenen Analyse in seinem Stab über die zu erwartende verheerende Situation auf einem Schlachtfeld Europa nach einem extensiven atomaren Schlagabtausch mit ihren politischen und moralischen Rückwirkungen ließen ihn zögern, allzu weit über das einvernehmliche Ziel hinauszuplanen, das in begrenzten Operationen zum Schutz bzw. zur Wiederherstellung des NATO-Territoriums bestand. Gruenther bat daher den Vorsitzenden der amerikanischen Stabschef um eine Sprachregelung gegenüber den Verbündeten, wie sich ein solches Auseinanderklaffen zwischen amerikanischen und westeuropäischen Vorstellungen über die Folgephase eines nuklearen Schlagabtausches im Falle eines europäischen Krieges überbrücken ließ246. Wie richtig der NATO-Oberbefehlshaber mit seiner Besorgnis lag, war zwei Wochen später aus Vorschlägen des International Staff der NATO ablesbar. Auch hier stand die Schwierigkeit vor Augen, öffentliche Unterstützung in den einzelnen NATO-Staaten für die weitgespannten Erfordernisse einer Verteidigungsplanung unter atomaren Bedingungen zu gewinnen und aufrechtzuerhalten, wenn den Regierungen nicht überzeugende Argumente an die Hand gegeben wurden. Deshalb empfahl der International Staff dringend eine Ausweitung der Diskussion um die Notwendigkeiten einer revidierten Bündnisstrategie von den militärischen Planungsstäben auf die zivilen Vertreter der Mitgliedstaaten in Paris, um militärische Forderungen und politische Realisierbarkeit schon in einem frühen Planungsstadium aufeinander abstimmen zu können247. Demgegenüber verlegte sich der Vorsitzende JCS, Admiral Radford, in seiner Antwort an den SACEUR auf einen taktischen Ausweg. Die Planungen der amerikanischen Stabschefs seien die sicherste Voraussetzung für einen 245

246 247

Die M C 48/1 »The Most Effective Pattern of N A T O Military Strength for the Next Few Years - Report No. 2« w u r d e a m 26.9. v o m M C vorgelegt, passierte a m 14.11. d a s MRC u n d w u r d e am 9.12.1955 v o m M C verbindlich gemacht, Einleitung zu N A T O Strategy D o c u m e n t s , S. XVIII. Das D o k u m e n t selbst ist abgedr. ebd., S. 251-268. G r u e n t h e r an A d m i r a l Radford, 12.11.1955, Jordan, Norstad, S. 92 f. Vorschläge des International Staff » N A T O Defence Planning«, 25.11.1955, NISCA, C-M (55) 113.

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schließlichen Sieg in einem möglichen Krieg. Da sich derzeit aber wohl schwerlich volle Ubereinstimmung im Bündnis darüber herstellen lasse, sei es unzweckmäßig und auch letztlich nicht erforderlich, die Diskussionen innerhalb der NATO zu forcieren. Im Falle eines Krieges würden die Realitäten schnell zugunsten der amerikanischen Vorstellungen sprechen; im Augenblick sei es aber hinreichend, dass »this planning must be accomplished on a unilateral basis«248. Was man dagegen vor aller Öffentlichkeit herausstellen musste, um das Kernziel der eigenen strategischen Vorstellungen zu erreichen, gab der Stabschef des Strategie Air Command in Omaha, General Curtis LeMay, Ende 1955 in einem eingehenden Interview zu verstehen: »We should give all people in the world a general knowledge of the capabilities of modern weapons, especially those that we are equipped with at the present time, so that they may see the futility of war249.«

b. Gesamtpolitische Planung und zivil-militärische Führungsstrukturen Der Rekurs auf eine lückenlose Abschreckung und die von ihr erhofften kriegsverhindernden Rückwirkungen beim Gegner war gewiss die konsensfähigste Zielbeschreibung für das, was westliche Allianzpolitik und ihre militärische Absicherung sich zur Aufgabe gestellt hatten. Nur konnten es die Allianzpolitiker und Militärplaner in Europa nicht dabei belassen, alles auf diese eine Karte zu setzen. Was immer man jetzt und in Zukunft noch über das rechte Mischungsverhältnis aus konventioneller und atomarer Bewaffnung denken und planen mochte, ein großer Krieg um Europa ohne den Einsatz von Atomwaffen war allerdings von nun an aus solchen Überlegungen auszuschließen. Die technologische Ausweitung potenzieller Kriegführung, deren Unumgänglichkeit inzwischen auch Heusinger in die Formel gekleidet hatte, dass man die eigenen militärischen Aufbauplanungen »an die dynamische Entwicklung der Waffentechnik« anpassen müsse250, verlangte aber gerade wegen der Totalität des ihr zugrunde liegenden Kriegsbildes auch gebieterisch nach einer weit über das Militärische hinausreichenden gesamtpolitischen Planung. Auf der Bündnisebene begann man dem zumindest auf dem Felde der bereits beschriebenen, wesentlich erweiterten Notstandsplanung Rechnung zu tragen, wie sie sich seit Sommer 1955 organisatorisch am Senior Civil Emergency Planning Committee (SCEPC) und seiner Koordinationsfunktion für alle mit entsprechenden Aufgaben betrauten zivilen Ausschüssen der NATO ablesen lässt. Auf nationaler Ebene machte sich der zunehmend stärker in Sicherheitsfragen hervortretende Minister ohne Geschäftsbereich, Franz Josef Strauß, zum Sprecher ähnlich gelagerter Notwendigkeiten, wenn er bereits im Frühjahr 1955 248 249

250

Antwort Radfords an Gruenther, 17.1.1956, Jordan, Norstad, S. 93. Interview mit General LeMay »We Must Avoid the First Blow«, in: U.S. News and World Report, 9.12.1955, S. 38-50, Zitat auf S. 38. Zit. nach Meyer, Adolf Heusinger, S. 496.

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die Einrichtung eines besonderen Gremiums zur Koordination aller Angelegenheiten der Landesverteidigung in Form eines Bundesverteidigungsrates (BVR) anregte. Danach sollte unter Vorsitz des Bundeskanzlers ein Organ geschaffen werden, das diesen in allen Fragen der äußeren und inneren Sicherheit beriet. Für die Leitung eines ständigen Sekretariats dachte Strauß an einen neu zu bestallenden Minister für Angelegenheiten der Heimatverteidigung, da er darin ähnlich wie wenig später NATO-Botschafter Blankenhorn eine besondere nationale Aufgabe unter den Bedingungen atomarer Kriegführung erblickte. Im BVR selbst sollten zwischen den beteiligten Ministerien die weit über das Militärische hinausgreifenden Aufgaben von Landesverteidigung bestimmt und koordiniert werden. Deshalb mussten ähnlich wie im Nationalen Verteidigungsrat der USA die Minister des Äußeren, des Innern, der Verteidigung, der Finanzen und der Wirtschaft neben dem Generalinspekteur der Bundeswehr und dem Leiter des Bundesnachrichtendienstes einen ständigen Sitz innehaben, während die übrigen Ressorts lediglich fallweise zuzuziehen waren 251 . Für den Geschmack von Verteidigungsminister Blank schoss Strauß freilich mit seinem Vorschlag, den anvisierten ständigen Sekretär eines solchen Rates gleichzeitig mit der Führung eines gesonderten Ministeriums für Fragen der Heimatverteidigung zu betrauen, weit über sein im Grundsatz akzeptables Ziel hinaus. Schließlich konnte dem BMVg, wie dies auch beim Besuch Montgomerys in Bonn zur Sprache kommen sollte, nichts daran liegen, allein auf die Aufstellung und Führung der deutschen Kampfverbände reduziert zu werden. In Absprache mit dem Bundesministerium für Wirtschaft hatte man sich noch zu Zeiten des Amtes Blank Ende 1954 darauf einlassen müssen, dass von diesem »die wirtschaftliche Durchführbarkeit der vom Verteidigungsressort nach Art, Menge und Zeit aufgestellten Bedarfsprogramme unter Wahrung der allgemeinen wirtschaftspolitischen Gesichtspunkte und der Grundsätze des Wettbewerbs« geprüft wurden. Zum Ausgleich möglicher Differenzen zwischen ökonomischen und militärischen Belangen wurde ein gemischter Ausschuss aus je einem hauptamtlichen Vertreter beider Ministerien und je zwei Fachberatern, der sogenannte Sechserausschuss (Ausschuss für wirtschaftliche Fragen der Verteidigung) eingerichtet 252 . Einvernehmen herrschte auch mit dem Bundesministerium des Innern, dass dort alle Fragen des zivilen Bevölkerungsschutzes und der Grenzsicherung im Frieden ressortieren sollten, wenngleich man seitens des BMVg etwa mit Blick auf eine gemeinsame NATO-Luftverteidigung schon jetzt Koordinationsprobleme zwischen einer militärisch zu organisierenden bündnisweiten Radarüberwachung und deren Meldeorganisation für die Zwecke eines zivilen Luftschutzdienstes auf die deutschen Behörden zukommen sah. Auf keinen Fall wollte Blank aber, wie dies bei Strauß aufschien, eine 251

252

Memorandum betr. den Aufbau der Heimatverteidigung und Errichtung eines Bundesverteidigungsrates für die Bundesrepublik Deutschland, Frühjahr 1955, Kabinettsprotokolle, Bd 8, S. 337 f., Anm. 39. Leitsätze für die Zusammenarbeit zwischen dem Bundesministerium für Wirtschaft und dem Verteidigungsressort, 2.11.1954, BA-MA, BW 17/18; zum Kompetenzabgleich beider Ministerien insgesamt: AWS, Bd 4, S. 139 — 141 (Beitrag Abelshauser).

152

Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

weitere Aufweichung seiner Kompetenzen über ein Ministerium für Heimatverteidigung hinnehmen, reklamierte er doch für sein Ressort: »Die Verantwortung für die militärische Verteidigung in ihrer Gesamtheit ist unteilbar.« Dabei konnte er sich auf die aus der MC 36 herrührenden Erfordernisse einer eng mit der Operationsplanung im Bündnis zu koordinierenden nationalen Territorialverteidigung - oder wie sie zunächst im Amt Blank noch hieß: einer »bodenständigen Verteidigung« - berufen. Kontraproduktiv würde es in seinen Augen schließlich auch sein, wenn man analog zu den USA die Mobilmachung als zugegeben weit in zivile und wirtschaftliche Zuständigkeiten hereinragende Frage aus dem Verteidigungsressort ausgliederte und damit den Zusammenhang von operativer und Mobilmachungsplanung verwässerte. Zustimmung zur Notwendigkeit eines reinen Koordinationsorgans für die zivil-militärische Zusammenarbeit in Verteidigungsfragen bei gleichzeitiger Ablehnung einer Aufweichung der eigenen Gesamtverantwortung für alle militärische Verteidigungsplanung war daher die Marschroute des BMVg253. In seinen Einwänden dagegen verkürzte Strauß die durchaus differenziertere Haltung im Verteidigungsministerium auf eine in seinen Augen »kontinentale Auffassung«, als sei Krieg wesentlich eine Auseinandersetzung zwischen Streitkräften: »Ein Krieg ist die Auseinandersetzung zwischen Volk und Volk, also seinem Wesen nach total. Dementsprechend gibt es auch nur eine totale Verteidigung, deren Träger das gesamte Staatsvolk ist254.« Damit lag er zwar wesentlich näher an den Folgerungen, die man in den Notstandsgremien und bei den militärischen Stäben der NATO aus dem nunmehr dominierenden, atomar ausgerichteten Kriegsbild und den Notwendigkeiten einer angemessenen Vorbereitung daraus gezogen hatte. Im Kabinett drang er mit seinen davon abgeleiteten weitergehenden Überlegungen jedoch nur bedingt durch. Wohl stellte der Bundeskanzler im Oktober 1955 nunmehr seinerseits eine Kabinettsvorlage für die Bildung eines Bundesverteidigungsrates zur Entscheidung, die sich hauptsächlich an den Interessen der großen Ressorts orientierte. Zusätzliche Wünsche auf einen ständigen Sitz, wie sie vom Landwirtschafts- und vom Verkehrsminister vorgebracht wurden, fanden mit Verweis auf die Möglichkeit ihrer fallweisen Zuziehung keine Berücksichtigung. Auch die Überlegungen von Bundespräsident Theodor Heuss, dem Staatsoberhaupt in diesem Gremium den Vorsitz zu überlassen, waren nicht mit dessen im Wesentlichen repräsentativer Funktion in der zweiten deutschen Republik in Einklang zu bringen. Immerhin wurde auf Anregung Adenauers dem Wunsch insoweit entsprochen, als der Staatssekretär im Bundespräsidialamt künftig als ständiger Beobachter zu den Sitzungen des BVR zugelassen war255. Festgelegt wurde aber vor allem, dass dem BVR kein Entscheidungsrecht, sondern lediglich eine beratende Funktion zustand. Auch über die Permanenz seiner Sitzungen war nichts aus-

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254 255

Stellungnahme zum Memorandum des Herrn Bundesministers Strauss zu Fragen der Koordinierung der Verteidigungsangelegenheiten, o.D. [Sommer 1955], BA-MA, BW 2/2679. Gedanken zum Problem BVR, Oktober 1955, ACSP, NL Strauß, Nr. 105. Zum Vorstoß von Heuss: AWS, Bd 3, S. 437 (Beitrag Ehlert).

III. Die Implementierung der Vergeltungsstrategie im Bündnis und die Aufbaukrise

153

gesagt, obwohl ihm doch so schwergewichtige Fragen wie militärische und zivile Verteidigung sowie deren wirtschaftliche und finanzielle Sicherstellung als Beratungsgegenstände übertragen wurden 256 . Bei aller hochkarätigen personellen Besetzung und aufgabenmäßigen Ausgestaltung sollte der BVR in Bonn letztlich nie auch nur annähernd in eine vergleichbare Position aufrücken, wie sie der National Security Council mit seiner konstitutionellen Verankerung in Washington einnahm. Selbst bei Koordinationsproblemen zwischen einzelnen Fachressorts würde er in der Regel nur angerufen werden, wenn sich zwischen den Beteiligten Einvernehmen nicht auf direktem Wege herstellen ließ. Und als sicherheitspolitisches wie militärisches Beratungsorgan für den Bundeskanzler spielte er schon deshalb keine kontinuierlich wahrgenommene Rolle, weil es dem Regierungsstil Adenauers eher entsprach, sich dazu des direkten Gesprächs mit seinen jeweiligen Fachministern zu bedienen. Neben seinen sporadischen Sitzungen gewann der BVR in den Aufbaujahren der Bundeswehr immer nur dann größeres Gewicht, wenn ein einheitlicher Informationsstand als Voraussetzung für koordiniertes Regierungshandeln in internationalen Krisen erforderlich schien257. Die eigentlichen Orte für eine ressortübergreifende Verteidigungsplanung waren und blieben demgegenüber das Bundeskabinett und die Ebene des interministeriellen Interessenausgleichs. Die von der Opposition angemahnte »Einheit der Verteidigungsanstrengungen«, über die insbesondere militärische und zivile Verteidigungsplanung eng aufeinander abzustimmen war, blieb letztlich weitgehend dem frühzeitig besorgten »Nebeneinander von verschiedenen Ressorts« überlassen258. Die Defizite an Koordination in einer als gesamtpolitische Aufgabe aufgefassten Landesverteidigung blieben natürlich auch auf der Kabinettsebene nicht verborgen. So mahnte denn bereits im Frühjahr 1956 der für die Zivilverteidigung zuständige Innenminister Gerhard Schröder beim Bundeskanzler eine Aktivierung des BVR an259. Dazu hatte sein Staatssekretär Hans Ritter von Lex, der als vorläufiger deutscher Vertreter in den zentralen Lenkungsausschuss der NATO für Notstandsaufgaben (SCEPC) entsandt worden war, schon Anfang Februar im BVR auf die im Bündnis gesehene Dringlichkeit einer abgestimmten zivilen und militärischen Verteidigungsplanung verwiesen. Der Generalsekretär der NATO, Lord Ismay, habe eindringlich davor gewarnt, dass jedes Bündnismitglied, das seine eigene Notstandsplanung nicht den neuen Herausforderungen anpasse und sie mit der militärischen Operationsplanung koordiniere, damit nicht nur die eigene Nation und deren Uberlebensfähigkeit, sondern die Sicherheitsinteressen des Bündnisses insgesamt schädige. Schröder sah nun diese alle beteiligten Ressorts übergreifende Koordinationsaufgabe auf der Entscheidungsebene beim Bundeskanzleramt angesiedelt. Um dafür aber die ar256 257

258

259

Kabinettssitzung, 6.10.1955, Kabinettsprotokolle, Bd 8, S. 552 f. Eingehende Spezialliteratur zum BVR fehlt bislang noch; zu Funktion und Zusammensetzung: Die Bundeswehr, Bd 12, S. 55-58. Beitrag Peter Blachstein (SPD) zur Debatte um die Große Anfrage seiner Partei zu CARTE BLANCHE, 7.12.1955, Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Bd 27, S. 6221 f. Dazu und zum Folgenden: Schröder an Adenauer, 13.3.1956, BA-MA, BW 17/30.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

beitstechnischen Voraussetzungen zu schaffen, regte er die Ernennung eines besonderen Abteilungsleiters im Bundeskanzleramt an, der gleichzeitig die Funktion eines Geschäftsführers des BVR innehaben sollte. Dieser Koordinator zwischen Kanzleramt und Bundesverteidigungsrat war zusätzlich mit der Leitung eines ständigen Ausschusses zu beauftragen, in dem die mit Notstandsaufgaben betrauten Abteilungsleiter der Ministerien mit ständigem Sitz im BVR alle grundsätzlichen Fragen einer umfassenden Landesverteidigung vorzuklären hatten. Nur so sah der Innenminister den BVR selbst als Koordinationsorgan hinlänglich arbeitsfähig gestaltet, um ihn zur Beratung des Bundeskanzlers in dessen Gesamtkompetenz für alle Verteidigungsfragen zu befähigen. Voraussetzung dafür war indes die einvernehmliche Festlegung einer Geschäftsordnung des BVR, wofür vom Finanzminister zwar im Frühjahr 1956 ein Entwurf vorgelegt wurde, der aber nicht die Billigung des Bundeskanzlers fand. Zum vehementesten Kritiker eines Ende April 1956 vorgelegten neuen Entwurfs machte sich dann der eigentliche gedankliche Initiator des BVR, Franz Josef Strauß, der mit wachsender Verbitterung die sehr weitgehende Verwässerung seiner ursprünglichen Idee eines unmittelbar unter dem Bundeskanzler anzusiedelnden, obersten sicherheitspolitischen Beratungs- und Koordinierungsorgans mitverfolgt hatte. Das mochte auch mit der persönlichen Enttäuschung darüber zusammenhängen, dass Strauß wohl selbst der Hoffnung nachgehangen hatte, als angedachter Minister für Heimatverteidigung und Leiter des ständigen Sekretariats des BVR das eigene Gewicht am Kabinettstisch erhöhen zu können. Tatsächlich musste er sich aber aus koalitionspolitischen Rücksichtnahmen sogar hinter Vizekanzler Franz Blücher mit der Position eines zweiten stellvertretenden Vorsitzenden des BVR begnügen. Daraus leitete er aber immerhin schon im Frühjahr 1956 die Verpflichtung ab, Adenauer mit einer harschen Philippika gegen den als völlig ungenügend erachteten neuen Entwurf für eine Geschäftsordnung zu konfrontieren. Das gipfelte in dem Vorwurf an den Kanzler persönlich, durch die »mit einer Reihe von Fehlentscheidungen und Verzögerungen belastete Verteidigungspolitik der Bundesregierung« der mangelnden Wahrnehmung der im BVR angelegten Beratungspotenzen Vorschub geleistet zu haben. In seiner Funktion als Atomminister hatte Strauß demgegenüber »einen lebhaften Anschauungsunterricht« über den technischen Entwicklungsstand von Atomwaffen und die davon herrührenden Probleme für die westdeutsche Verteidigungsplanung aus ihrer besonderen militärgeografischen Situation erhalten. Das ließ ihn jetzt dringend fordern, sich endlich auf der politischen Ebene mit einem »Gesamtsystem der deutschen Landesverteidigung mit Bundeswehr und funktionierender Zivilverteidigung« auseinander zu setzen, »das den Anforderungen des Atomkrieges von morgen gewachsen wäre«. Wolle man sich nicht auf »eine reine Als-Ob-Verteidigungspolitik zur psychologischen Beruhigung« nach innen beschränken und weitere Vertrauensverluste im Bündnis riskieren, dann sei eine angemessenere Wahrnehmung und Kompetenzausweitung des BVR als dem dazu am besten geeigneten

III. Die Implementierung der Vergeltungsstrategie im Bündnis und die Aufbaukrise

155

Koordinationsorgan dringendes Gebot der Stunde260. Doch zu so weitgehender Aktivierung eines Gremiums, das sich wegen seiner Nähe zu angelsächsischen Committee-Vorstellungen nur bedingt in das deutsche Regierungssystem mit seinem vorrangig ressortbezogenen Handeln einpassen ließ, sollte es auch in Zukunft nicht kommen. Die in der MC 48 verbindlich gemachte Nuklearstrategie stellte indes nicht nur hinsichtlich einer gesamtpolitischen Koordination von Verteidigungsplanung, sondern auch innermilitärisch - auf der Bündnisebene wie in den nationalen Führungsstäben - zusätzliche Anforderungen an die Entwicklung angemessener Führungsstrukturen. Vor einer dazu von militärischer Seite für erforderlich gehaltenen Kompetenzerweiterung der deutschen militärischen Stäbe bauten sich indes von vornherein zwei erhebliche Hürden auf: die bereits beschriebene Verlagerung zentraler Planungs- und Führungsfunktionen aus ehedem nationaler Zuständigkeit auf die SACEUR-Ebene und ein parteienübergreifender innenpolitischer Konsens für einen auch innerministeriell abzusichernden Primat der Politik gegenüber dem Militärischen. Somit würde es in der zweiten deutschen Republik, anders als in der bisherigen militärischen Tradition des Deutschen Reiches, weder einen militärischen Oberbefehlshaber noch einen nationalen Generalstab geben. Die Befehls- und Kommandogewalt stand vielmehr nach den vollzogenen Änderungen des Grundgesetzes im Frieden dem Bundesminister der Verteidigung, im Kriege dem Bundeskanzler zu, in beiden Fällen freilich immer eingegrenzt durch die besonderen Befugnisse des NATO-Oberbefehlshabers 261 . Aus Sicht der militärischen Führung setzte sich solche für den übergeordneten politischen Bereich durchaus akzeptierte Unterordnung des Militärischen unter zivile Kontrolle aber auch innerhalb des BMVg mit seinen sechs zivilen gegenüber vier militärischen Abteilungsleitern fort. Diese als »Entmachtung«262 empfundene Zurückstufung der Militärischen Abteilung, der Vorläuferin des Führungsstabes der Bundeswehr (Fü Β ab 1957) bzw. des Führungsstabes der Streitkräfte (Fü S ab 1965), sollte sich über ein zwar angedachtes, dann aber nie zur Entscheidungsreife gelangtes Organisationsgesetz über die gesamte Aufbauphase der Bundeswehr hinweg perpetuieren. Erst im so genannten »Blankeneser Erlaß« würde der erste sozialdemokratische Verteidigungsministers Helmut Schmidt im Frühjahr 1970 eine auch für die militärische Führung befriedigendere Lösung finden. Danach wurden die Inspekteure der Teilstreitkräfte zu truppendienstlichen Vorgesetzten aufge-

260 261

262

Strauß an Adenauer, 5.5.1956, ACSP, NL Strauß, Nr. 210. Zu den Regelungen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik: Schmädecke, Militärische Kommandogewalt; zu den Neuregelungen im Grundgesetz: AWS, Bd 3, S. 435 — 441 (Beitrag Ehlert); zur Entwicklung der Doppelfunktion des Oberbefehlshabers der U.S.Truppen in Europa (U.S. Commander in Chief Europe, USCINCEUR) als NATOOberbefehlshaber zwischen 1949 und 1952: The History of the Unified Command Plan, S. 17 f. So Meyer, Adolf Heusinger, S. 522-525; zu den Auseinandersetzungen darüber zwischen den zivilen und militärischen Abteilungsleitern: Krüger, Das Amt Blank, S. 151 -154.

156

Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

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großen Kriegesforward defense< lagen freilich auch im erklärten Interesse von SHAPE, da nur so der vorgesehene Gesamtumfang der NATO-Streitkräfte für Mitteleuropa zu erhalten war. Deshalb unterstützte der neue SACEUR General Lauris Norstad wie sein Vorgänger im März 1957 vor dem Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages nachdrücklich Heusingers Position, wenn er bei aller atomaren Prioritätensetzung die dreißig vorgesehenen Präsenzdivisionen in Mitteleuropa - und darin eingeschlossen zwölf deutsche Divisionen - zum absoluten Minimum einer Verteidigung ostwärts des Rheins erklärte. Zur Beruhigung seiner Zuhörer stellte er dabei wie die Bundesregierung die »Verhütung eines Krieges« als »Hauptaufgabe« heraus, die grundsätzlich auch zu erfüllen sei, da ein planvoll ausgelöster allgemeiner Krieg unwahrscheinlich oder jedenfalls nur als Folge einer »Kurzschlusshandlung« oder eines »Irrtums« zu erwarten sei. Die Nachfrage Fritz Erlers (SPD), ob denn ein Krieg in Europa »auf jeden Fall zum Einsatz taktischer Atomwaffen führt«, bestätigte General Norstad allerdings ebenso unumwunden130. Bei der jährlichen Stabsrahmenübung bei SHAPE (CPX 7,15.-18. April 1957) musste da freilich schon eindeutiger Klartext gesprochen werden. Dazu sollte der Deputy SACEUR Montgomery die strategischen Grundvorstellungen in Stellungnahme des Joint Planning Staff zum SG-Entwurf IPT 131/36 (Draft) »Overall Strategie Concept for the Defence of the North Atlantic Treaty Organization Area«, 5.2.1957, PRO, DEFE 4/95. 128 Vermerk Heusinger über die 16. Sitzung des MC, 6.4.1957, BA-MA, BW 2/1958; vgl. auch Bericht darüber durch Blankenhorn an AA, 15.4.1957, ebd., BW 2/2674. 129 So lt. den Vorarbeiten im MFR auf Heusingers Vortrag, ebd., BW 17/36, Eintrag vom 24.1.1957. Die 134. Sitzung des Verteidigungsausschusses wurde als »Geheim« eingestuft; außer einem Kurzprotokoll, das die Thematik benennt, ist ein Gesamtprotokoll nicht überliefert. 130 Vortrag vor dem Verteidigungsausschuss, 21.3.1957, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 2. Wahlperiode, 147. Sitzung. 127

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

einem Leitvortrag vorstellen, dem Admiral Louis Lord Mountbatten als Vorsitzender des britischen Committee of the Chiefs of Staff und Heusinger für die Bundeswehrführung antworten würden. In dem Maße, wie die NATO über einen nuklear verstärkten >Schild< verfügte, war für Montgomery die Zeit vorbei, in der man noch herkömmliche Massenarmeen ausheben musste. Deshalb sollte sich die NATO endlich die Vorteile der atomaren Abschreckung voll zunutze machen und jedes unzeitgemäße Planen in den Kategorien einer unwahrscheinlichen großen Landschlacht um Europa aufgeben. Hauptsächlich gegen deutsche operative Vorstellungen gewandt, brachte der Feldmarschall das auf die sarkastische Formel: »All depends on the full acceptance of four words: >Don't march on Moscowtrip wire< vorgeschoben wurden, um den Gegner zur Massierung seiner Verbände und zur Offenlegung seiner Angriffsschwerpunkte zu zwingen133. Deswegen drang die Bundeswehrführung bei aller grundsätzlichen Zustimmung zur vorrangig nuklearen Abschreckung weiterhin darauf, dass auch in der Fortschreibung der NATO-Dokumente die

Final address by DSACEUR, 18.4.1957, zit. nach Hamilton, Monty, S. 867 f. Briefing des Chairman, Chiefs of Staff Committee für CPX 7 sowie Positionspapier des Joint Planning Staff »The Overall Strategie Concept«, 22.3.1957, PRO, DEFE 4/96, Annex to COS (57) 24. iss Vorgabe Norstads vom April 1957, SHAPE History, vol. 3, S. 88 f. 131

132

IV. Die Umorientierung im Bündnis auf die Realitäten atomarer Verteidigungsplanung

241

Fähigkeit zur >forward defense< als unaufgebbares Ziel beibehalten wurde 134 . In seiner Erwiderung auf Montgomery untermauerte Heusinger als unverzichtbare doppelte Zielrichtung gemeinsamer NATO-Verteidigung: »Wenn es uns gelingt, durch unsere Strategie einen weltweiten nuklearen Krieg zu verhindern, und wenn wir die Mittel besitzen, einen begrenzten Krieg erfolgreich zu führen, werden wir damit unseren politischen Leitern die bestmögliche Unterstützung für ihre Politik geben135.« In ähnlichem Sinne argumentierte auch das State Department, wenn es für die westliche Strategie ganz im Sinne der Kontinentaleuropäer »a considerable degree of flexibility« forderte. Dem stand freilich die Auffassung des Präsidenten gegenüber, dass sich ein militärischer Einsatz in Europa ohne Atomwaffen nur im Rahmen sehr eng begrenzter »police actions« vertreten lasse. Dafür sei es aber unmöglich, gesonderte Streitkräfte nur für eine derartige konventionelle Option aufrechtzuerhalten; die Hauptentwicklungsrichtung müsse eindeutig bei den nuklearen Waffen liegen. Für die Vereinigten Stabschefs bestätigte ihr Vorsitzender Radford, dass die amerikanischen Planungen genau in diese Richtung liefen136. Die divergierenden Auffassungen über den Grad der Nuklearisierung in der Bündnisstrategie und den dann noch verbleibenden Bedarf an herkömmlichen Streitkräften prallten schließlich im Mai 1957 im Ständigen NATO-Rat voll aufeinander. Dabei hatten sich inzwischen die Aussichten der NATO auf die Erreichung ihres erklärten Minimums an Präsenzstreitkräften dramatisch verschlechtert. Die Bundesrepublik hatte Ende 1956 in ihrem Annual Review offen legen müssen, dass sie ihre eingegangenen Verpflichtungen zur Aufstellung der Bundeswehr weder nach Umfang noch nach anvisierter Aufstellungszeit erfüllen konnte. Parallel zu den französischen Truppenabzügen nach Nordafrika und dem Zurückbleiben der übrigen Kontinentaleuropäer bei ihren zugesagten Streitkräftezahlen hatte Großbritannien im Februar und April 1957 wiederholte Ankündigungen über weitreichende Reduzierungen bei seinen in Westeuropa stationierten Verbänden gemacht. Und eine Ausdünnung der U.S.-Divisionen, wie in den Überlegungen Radfords vorgesehen, war letztlich aus psychologischen Gründen nur aufgeschoben worden, blieb aber erklärtes Ziel durch die gesamte Ära Eisenhower. Noch während der Tagung musste der NATO-Rat daher öffentlich eingestehen, dass die angestrebte Ausgewogenheit zwischen atomaren und konventionellen Streitkräften zweifelhaft war137. Damit war freilich auch den Deutschen eine willkommene Handhabe gegeben, ihre Zustimmung zu den vorliegenden Entwürfen über eine Anpassung 134

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Erste Warnung Speidels vor einem Bedeutungsverlust Europas: Fernschreiben aus Washington, 28.2.1957, deutsche Stellungnahmen zu MC 14/2 und 48/2 im MC, 6.4.1957, lt. Bericht 1957/III des DMV Washington sowie deutsche Forderung an SACEUR, erwirkt durch Verteidigungsminister Strauß im BVR, 9.4.1957, BA-MA, BW 2/2674, BW 2/1984 bzw. BW 2/2675. Die Debatte im MRC, 6.4.1957, ist eingehend beschrieben bei Greiner, Die Entwicklung der Bündnisstrategie, S. 164-166. Eintrag im MFR-Tagebuch, 15.4./18.4.1957, BA-MA, BW 17/36. Diskussion um das jährliche sicherheitspolitische Grundsatzpapier NSC 5707/2, 11.4.1956, zit. nach History of the Office, vol. 4, S. 104. Kommunique zu den Sitzungen am 2./3.5.1957, Engel, Handbuch der NATO, S. 881.

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Erster Teil: Die Rolle des westdeutschen Streitkräftebeitrags

der NATO-Grundsatzdokumente davon abhängig zu machen, dass ein Minimum von dreißig >SchildStolperdraht< für einen Angreifer. Die atomare Verstärkung würde ihnen nämlich nicht nur regionalen Abschreckungswert gegen begrenzte Konflikte verleihen und damit das vorrangige Ziel der Kriegsverhinderung von der globalen auf die europäische Ebene ausdehnen lassen. Bei einem Scheitern der Abschreckung eröffnete die extrem gesteigerte Feuerkraft, so hoffte man jedenfalls bei den militärischen Planern, auch eine realistische Chance zur Verteidigung des Bündnisgebiets gegen einen an Verbänden weit überlegenen Gegner. Die Implementierung dieser atomar fortgeschriebenen Verteidigung am vorderen Rand des Bündnisgebietes hing freilich davon ab, dass nun endlich der Aufbau des dafür unverzichtbaren deutschen Bündniskontingents Fahrt aufnahm. Verteidigungsplanung, die unter diesen nuklearstrategischen Bedingungen konkret werden wollte, ließ sich jedoch nicht mehr auf das Feld rein militärischer Maßnahmen beschränken. Schon die antagonistische Natur des Kalten

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Zweiter Teil: Aufbau der Bundeswehr und modifizierte atomare Abwehrplanung

Krieges als eines alle Politikbereiche einschließenden Systemkonflikts hatte den Sicherheitsbegriff weit über die äußere Bedrohung hinaus zum Totalen hin ausgeweitet. Wollte Abschreckung als das vorrangige Bündnisziel unter diesen Bedingungen glaubwürdig sein und bleiben, dann musste sie sich konsequenterweise auch auf ein Scheitern der Kriegsverhinderung und eine dann erforderliche Kriegführung einstellen. Verteidigung unter vollem Einsatz von Atomwaffen würde aber von so extensiven Folgewirkungen begleitet sein, dass sie die schon in der Endphase des Zweiten Weltkrieges immer obsoleter gewordene Trennung von Front und Heimat endgültig aufheben, also bereits in ihrer Planung potenziell total angelegt sein musste. Der Aufbau der Bundeswehr war in diesen gesamtstrategischen Rahmen gestellt und kann deshalb auch nur in solcher politisch, ökonomisch und gesellschaftlich ausgeweiteter Perspektive angemessen nachgezeichnet werden. Dazu sollen die Hauptfelder einer derart umfassenden Verteidigungsplanung zunächst über mehrere parallele Zugänge erschlossen werden, um dann in einer Zusammenschau ihre Rückwirkungen auf den schleppenden Aufwuchs der Streitkräfte sichtbar zu machen. Beim Übergang zu einer neuen Strategiedebatte Anfang der sechziger Jahre wird schließlich nachzufragen sein, welcher Grad der Realisierbarkeit einer so extensiven strategischen und militärischen Planung faktisch innewohnte und wo die politischen, ökonomischen und psychologischen Grenzen dafür unter den Bedingungen einer demokratisch verfassten Friedensgesellschaft lagen. Wenn der Schutz des Bündnisterritoriums erklärtes Ziel von Allianzverteidigung war, dann stellt sich als Erstes die Frage danach, wie dieser zu verteidigende Raum aussah und welche Wirkungen von seiner politisch-strategischen Einbindung in den Bündnisraum wie von seinen geographischen Bedingungen auf die Verteidigungsplanung ausgingen. Die geostrategischen Überlegungen für den NATO-Raum insgesamt sind dazu zunächst einmal einzugrenzen auf den Einsatzraum Mitteleuropa. Für dessen Eigenschaft als potenzielle Zentralfront eines europäischen Krieges sind sodann die geostrategischen, sicherheitspolitischen und operativen Probleme an seiner Nord- und Südflanke mit ihren besonderen politischen Bedingungen zu bewerten. Dabei kann schließlich auch Berlin trotz seiner politischen und militärischen Sonderkonditionen unter VierMächte-Kontrolle nicht außer Betracht bleiben, machten es seine politischpsychologische Bedeutung für die Bundesrepublik und seine exzeptionelle geographische Vorfeldlage doch zum Testfall für die Sicherheitsgarantien der Westmächte und hier insbesondere der USA. Dem schließt sich eine Umsetzung der strategischen Vorgaben aus dem Bündnis für das aufwachsende Sicherheitssystem auf dem Territorium der Bundesrepublik an. Dazu waren die Bündnispläne für eine Vorwärtsverteidigung mit den operativen Absichten des neuen deutschen Partners abzugleichen und an den vorhandenen Verteidigungsmitteln im Bereich Europa Mitte auszurichten. Dazu wurde zunächst einmal von SHAPE jährlich ein gemeinsamer Verteidigungsplan (emergency defense plan, EDP) für den gesamten europäischen Bündnisraum entwickelt. Auf der Basis des jeweils erreichten Klarstandes

I. Die geostrategische Lage der Bundesrepublik, ihre Flanken und ihr Vorfeld

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beim Bundeswehraufbau und bei den auf dem Bundesgebiet stationierten übrigen Kontingenten wurde dieser EDP auf der Kommandoebene AFCENT für den Bereich Europa Mitte umgesetzt, wobei der Schwerpunkt aller Absichten und Maßnahmen auf dem vorgeschobenen Territorium der Bundesrepublik lag. Der Zufluss taktischer Atomwaffen und ihrer Trägermittel zur nuklearen Absicherung der Bündnisverteidigung machte daneben immer gebieterischer eine Ausweitung der atomaren Mitwirkung seitens der nichtnuklearen Partner erforderlich. Mit dem erfolgreichen Aufholen der Sowjetunion in der Waffenentwicklung und ihrem Vorstoß in den Weltraum wurde dieser nukleare Dialog zwischen den USA und ihren europäischen Verbündeten jedoch schnell überschattet von wachsenden Problemen der Glaubwürdigkeit, sobald der zugesagte atomare Schutz der Führungsmacht unter den Druck eines für sie selbst bedrohlichen und seit 1957 unübersehbar heraufziehenden atomaren Patts geriet. Die massenhafte Einplanung von Atomwaffen für den Einsatz gegen die rückwärtigen Verbindungslinien eines Angreifers, aber auch gegen dessen Angriffsspitzen bei ihrem erwarteten Vorstoß in den Bündnisraum setzte zudem ein breitgefächertes System zur Schadensbegrenzung und zum Zivilschutz für das gesamte NATO-Territorium und in Sonderheit für ein potenzielles vorderes Schlachtfeld Bundesrepublik voraus. Unter gesamtstrategischem Blickwinkel sind deshalb die Maßnahmen zur zivilen Landesverteidigung und Notstandsplanung ebenso in die Analyse einzubeziehen wie die beabsichtigte Sicherstellung der Versorgung von Streitkräften und Zivilbevölkerung im Einsatzgebiet. Aus den dabei faktisch erreichten Ergebnissen lassen sich dann die Relationen zwischen angenommenen atomaren Schadenswirkungen und den zu ihrer Beherrschung eingeplanten Notstandsvorkehrungen abschätzen. Die vollständige Entgrenzung des nuklear geführten Krieges in den zivilen Raum hinein macht aber auch deutlich, wie unverzichtbar in solcher Verteidigungsplanung die zivil-militärische Zusammenarbeit schon im Frieden sein musste und wie sehr sich andererseits unter Einsatzbedingungen die Gewichte beinahe zwangsläufig zu den militärischen Kommandobehörden und Führungsstäben hin verschieben würden. Die strategische Diskussion im Bündnis und der Aufbau neuer deutscher Streitkräfte vollzog sich nicht vollkommen abgeschirmt von außen in den militärischen Planungsstäben, sondern vor den Augen einer kritischen Öffentlichkeit und innerhalb einer pluralistisch verfassten Gesellschaft. Militärische Absichten, ihre ökonomische Sicherstellung und die erforderlichen Notstandsvorkehrungen mussten deshalb gekoppelt werden mit einem ganzen Bündel vorbereiteter, zum Teil bereits im Frieden wirksamer Maßnahmen zur inneren Sicherheit und zur ideologischen Festigung im Systemkonflikt. Das Phänomen sogenannter »Fünfter Kolonnen« von Kollaborateuren mit dem Feind, wie es im Zweiten Weltkrieg erstmals in so extensivem Umfang aufgetreten war, weitete nämlich die militärische Einsatzplanung gegen den Feind von außen auf seine vermuteten Parteigänger im Innern der NATO-Staaten aus. Das schlug sich im Ausbau einer flächendeckenden Territorialverteidigung zur Abwehr gegen Infiltration,

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Zweiter Teil: Aufbau der Bundeswehr und modifizierte atomare Abwehrplanung

Spionage und Sabotage nieder, die institutionell eng mit den Nachrichtendiensten und dem Verfassungsschutz zusammenarbeitete. Daneben musste permanent um die öffentliche Zustimmung für die eigenen Verteidigungsanstrengungen geworben, diese Öffentlichkeit aber gleichzeitig auch gegen ihre Beeinflussung durch den Gegner abgeschirmt werden. Innere Sicherheit und ideologische Kriegführung gehören daher ebenso in den Kontext von Verteidigungsplanung unter den Bedingungen eines Systemkonflikts wie die psychologischen Belastungen, die von den Bildern und Annahmen über die unmittelbaren und langfristigen Wirkungen nuklearer Kriegführung ausgingen. Zu den geostrategischen Konstanten in den westlichen Bedrohungsannahmen gehörte es seit 1948/49, dass die Sowjetunion im Falle eines europäischen Krieges mit dem vollen Gewicht ihrer überlegenen Landstreitkräfte und auf dem direktesten Wege den westeuropäischen Kontinent und seine Zugänge zu den Weltmeeren zu erobern versuchen würde. Legte man ihren mittel- und langfristigen Absichten nämlich das nie aufgegebene Ziel kommunistischer Weltherrschaft zugrunde, dann bildete die Verfügung über den gesamten eurasischen Kontinent dafür die unverzichtbare Voraussetzung. Mit einem schnellen Vorstoß an den Atlantik wurden die zentralen rüstungswirtschaftlichen Ressourcen des westeuropäischen Bündnisbereichs vom Ruhrgebiet bis Lothringen für den Angreifer verfügbar, die angelsächsischen Hauptgegner des östlichen Hegemoniaistrebens aus Europa verdrängt und mit der Inbesitznahme der Atlantikhäfen die maritime Ausgangsbasis für ein Ausgreifen auf die Weltmeere gewonnen. Schon im ersten amerikanischen Operationsplan HALFMOON (1948) für einen Krieg um Europa wurde daher der Schwerpunkt der sowjetischen Operationsabsichten in einem Durchbruch zur Atlantikküste gesehen 1 . Das traf sich vollkommen mit den frühen Einschätzungen Heusingers, der zeitgleich als Chef Auswertung bei der Organisation Gehlen an die Adresse der Amerikaner gewandt einen derartigen Vorstoß neben der Öffnung der Meerengen an der Ostsee und am Schwarzen Meer als Hauptangriffsrichtungen des sowjetischen Gegners identifizierte. Dabei kam in seinen Augen dem Raum zwischen Ostsee und Alpen die geostrategische Funktion einer »Schlüsselposition« zu, da über sie der direkteste Weg zur Verdrängung der Angelsachsen vom Kontinent führte 2 . In einer ersten gemeinsamen Lagefeststellung über sowjetische Absichten und Ziele als Grundlage künftiger Verteidigungspläne der im Frühjahr 1949 gegründeten NATO stellten auch Amerikaner, Briten und Kanadier die Eroberung und Beherrschung des europäischen Kontinents als ersten Takt eines sowjetischen Zweistufenplans heraus, wenn der Entscheidungskampf gegen den eigentlichen weltpolitischen Gegenspieler USA aus geostrategisch verbesserter

1 2

Vgl. Α WS, Bd 1, S. 166 (Beitrag Greiner). Vgl. dazu seine Präventivkrieg- und EUCOM-Studie v o m Sommer bzw. Herbst 1948, Meyer, Adolf Heusinger, S. 356-370, Zitat auf S. 356.

I. Die geostrategische Lage der Bundesrepublik, ihre Flanken und ihr Vorfeld

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Lage heraus geführt werden sollte3. Dass gesamtwestliche und deutsche Annahmen in diesem Punkt nahezu deckungsgleich waren, ist besonders nachdrücklich abzulesen an den argumentativ kaum voneinander abweichenden operativen Einschätzungen im NATO-Dokument MC 14 vom Frühjahr und in der Himmeroder Denkschrift vom Herbst 1950. In beiden Einschätzungen wird die Stoßrichtung Atlantik zur zentralen Bedrohung der westlichen Verteidigungspositionen in Europa erhoben4. Ein von der Sowjetunion beabsichtigtes Uberrennen Westeuropas war aber nur zu verhindern, wenn zumindest die Barriere der Rhein-Linie oder besser noch das davor gelegene schmale Westdeutschland als eine Art Sperrriegel gehalten werden konnte. Die militärische Behauptung dieses geostrategischen Zentralraumes zwischen Ostsee und Alpen hing jedoch davon ab, dass man sein Ausflankieren im Norden und Süden unterbinden konnte. In vollkommener Ubereinstimmung mit den frühen Operationsplänen der NATO sahen deshalb auch die deutschen Militärexperten in Himmerod die Verteidigung des Gesamtraumes Mitteleuropa als eine untrennbare Einheit an. Ein Durchstoß des Gegners durch den Norden und die Mitte Westdeutschland musste dazu möglichst vor, spätestens aber am Rhein aufgefangen werden. Eine Umgehung dieser Hauptfront über Jütland und die Ostseeausgänge im Norden wie über den bayerisch-österreichischen Voralpen- und Alpenraum oder am norditalienischen Tagliamento im Süden war dazu unbedingt zu verhindern. Von den vordringlich zu haltenden Eckpfeilern in Schleswig-Holstein und Bayern aus konnte man dann nämlich selbst die tiefen Flanken eines weit nach Norddeutschland hinein vorgestoßenen Gegners bedrohen, ihn damit zur Aufsplitterung seiner Angriffskräfte zwingen und günstige Positionen für eigene Gegenoffensiven behaupten. Über das erklärte Eigeninteresse der am und hinter dem Rhein gelegenen westeuropäischen Staaten am Schutz ihrer Territorien hinaus stellte ein Halten Mitteleuropas aber auch den Zusammenhang der NATO-Verteidigung in Europa insgesamt sicher. Wohl konnten die angelsächsischen See- und Luftmächte selbst nach einem Durchstoß des Gegners in der Mitte noch aus den tiefen Flanken in Nordeuropa und im Vorderen Orient heraus ihre nuklearstrategischen Gegenangriffe gegen den sowjetischen Kernraum führen. Die eigentlichen Verteidigungsräume der NATO wären bei einem Verlust Zentraleuropas dagegen in eine nur noch über See verbundene Nord- und Südhälfte zerrissen worden. Das deklarierte Allianzziel einer Vorwärtsverteidi-

Die Studie JIC 435/12 »Soviet Intentions and Capabilities« von 1949 ist erstmals ausgewertet in: Α WS, Bd 1, S. 197-200 (Beitrag Greiner). In der MC 14 »Strategie Guidance for North Atlantic Regional Planning«, 3.3.1950, wird unter den »major assumptions« das Erreichen der Atlantikküste an erste Stelle gesetzt, NATO Strategy Documents, S. 92. Das korrespondiert vollinhaltlich mit der Annahme in der Himmeroder Denkschrift, 9.10.1950, dass es Ziel der sowjetischen Operationen gegen Westeuropa sein müsse, »sich schnell in den Besitz der gesamten Atlantik-Küste von Narvik bis zu den Pyrenäen« zu setzen, Rautenberg/Wiggershaus, Die »Himmeroder Denkschrift«, S. 39.

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gung würde in diesem Falle auf Monate, wenn nicht auf Jahre hinaus zugunsten einer peripheren Verteidigung an den Rändern Westeuropas aufgegeben werden müssen 5 . Diese am Verteidigungsraum orientierten Grundannahmen und die von daher angenommenen Gefährdungen der Bündnisverteidigung behielten unverändert Gültigkeit für die gesamte Aufbauphase der Bundeswehr und darüber hinaus bis zum Umbruch in Osteuropa von 1989/90. Der Alptraum eines jede koordinierte Verteidigungsführung obsolet machenden Durchbruchs zum Atlantik binnen weniger Tage ist mithin keine publizistische Erfindung der siebziger Jahre6. Er begleitete die Debatten im und um das westliche Bündnis vielmehr durchgängig als angenommene Hauptgefahr für Westeuropa und speiste sich wesentlich aus den Erfahrungen mit den raumgreifenden Operationen zweier Weltkriege. Daran änderten die Einwände der Nuklearstrategen seit Mitte der fünfziger Jahre wenig, die solches Festhalten an überkommenen Bildern großer Land-Luft-Schlachten unter atomarer Waffenwirkung für überholt erklärten. Der öffentliche Diskurs blieb trotz aller Atomängste im Kern doch weithin von den in zwei Weltkriegen erfahrenen großen Invasionen bestimmt. Beredten Ausdruck finden solche Sorgen in Vorstellungen, die sich bis in die Aussagen und Papiere sicherheitspolitischer Experten und Spitzenpolitiker hinein verfolgen lassen. Stellvertretend dafür mögen zwei besonders plakative Aussagen herangezogen werden. So ist etwa die Forderung Adenauers überliefert, dass amerikanische Soldaten in vorderster Front eingesetzt werden müssten, um den USA von allem Anfang an keine andere Alternative als die volle Teilnahme an einer Verteidigung Europas offen zu lassen7. Und der französische Spitzendiplomat Pierre Alphand hielt dem amerikanischen NATOOberbefehlshaber Gruenther vor, dass sich Westeuropa anders als in den beiden Weltkriegen nicht mehr darauf einlassen könne, einmal von der Sowjetunion von Ost nach West und anschließend von den eigenen angelsächsischen Verbündeten in entgegengesetzter Richtung »befreit« zu werden 8 . Nun hatte die NATO zwar auch nach ihrem Umstieg in eine nukleare Vergeltungsstrategie die Behauptung West- und Mitteleuropas weiterhin an die Spitze ihrer geostrategischen Forderungen gesetzt9. Die operativen Mittel für eine wirksame Raumverteidigung standen jedoch bis auf weiteres nicht zur Verfügung. Auf die Bundesrepublik übertragen mussten damit die an sich schon ungünstigen geographischen Faktoren extremer Frontlänge bei geringer 5

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Vgl. dazu Vortrag des SACEUR Eisenhower im Weißen Haus, 31.1.1951, FRUS, 1951, vol. 3, S. 450-458. Als herausragende Beispiele dafür können die Bestseller der beiden hochrangigen NATOGenerale Close, L'Europe sans defense? und Hackett, Der Dritte Weltkrieg gelten. Beispielhaft dafür: Besprechung beim Bundeskanzler, 1.5.1957, BA-MA, Ν 673/v. 23, Bl. 15. Tagebucheintrag, 22.7.1956, Alphand, L'etonnement d'etre, S. 277. Appendix »Area Planning Guidance« der MC 14/2, 23.5.1957: »The security of the entire NATO area depends upon defense of Western Europe«, NATO Strategy Documents, S. 296.

I. Die geostrategische Lage der Bundesrepublik, ihre Flanken und ihr Vorfeld

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Raumtiefe und überdurchschnittlicher Besiedlungsdichte besonders nachteilig für den Verteidiger zu Buche schlagen. Der Angreifer verfügte nicht nur über den Vorteil erheblicher personeller und materieller Überlegenheit, sondern konnte auch Zeit und Raum für den Ansatz seiner Kräfte bestimmen. Wählte er gar, wie dies von der NATO erwartet wurde, das Mittel des atomaren Überraschungsangriffs, dann schlug das Moment der Initiative und Schwerpunktbildung noch einseitiger zu seinen Gunsten aus. Im Übrigen trug er die Kampfhandlungen von allem Anfang an auf das Territorium des Verteidigers. Damit wurden nicht nur dessen Führungs- und Operationsfähigkeit unter den Wirkungen eines extensiven Einsatzes von Atomwaffen beider Konfliktparteien schon in den ersten Stunden schwer angeschlagen. Eine kaum noch handlungsfähige Zivilverwaltung musste sich ebenso schnell außerstande sehen, die infrastrukturellen Folgen nuklearer Kriegführung zu beseitigen, den Militär- und Zivilverkehr auf dem Gefechtsfeld Bundesrepublik aufrechtzuerhalten und die Versorgung von Truppe und Bevölkerung zu gewährleisten. Geographische Nachteile aus ihrer unmittelbaren Nachbarschaft zum gegnerischen Bündnis und aus ihrer extremen Nord-Süd-Ausdehnung gegenüber ihrer geringen OstWest-Tiefe potenzierten sich mithin für die Bundesrepublik unter atomaren Gefechtsbedingungen. Eine Gesamteinschätzung des westdeutschen Raumes unter dem Blickwinkel seiner atomaren Verletzlichkeit machte dies den Verteidigungsplanern im BMVg schon Anfang 1956 überdeutlich, als man sich immer unausweichlicher mit den nuklearen Weiterungen in der Bündnisstrategie auseinander zu setzen hatte10. Danach drängten sich von den 50 Millionen Einwohnern beinahe die Hälfte in den besonders luftgefährdeten Ballungsräumen zusammen. Dazu kamen die Bewohner eines etwa 50 km breiten »Zonen-Randgebiets«, das im Falle eines Krieges zwangsläufig sofort zum unmittelbaren Kampfraum werden würde. Daraus ergab sich, dass schon in den ersten Stunden und Tagen eines militärischen Konflikts »rd. 60 % der Bevölkerung als besonders gefährdet anzusehen« waren. Das galt bei der Ballung von Wirtschafts- und Versorgungsbetrieben an dem als »Lebens-Linie« ausgewiesenen wirtschaftlichen Rückgrat vom Dreieck München-Augsburg-Nürnberg über den Stuttgarter Raum, das Rhein-Main-Gebiet, das Ruhrgebiet und den Raum Osnabrück-HannoverBraunschweig bis zu den Küstenstädten an Nord- und Ostsee in noch weit höherem Umfang. Hier verdichtete sich nicht nur das wirtschaftliche Leben in außerordentlichem Maße, zwischen diesen Räumen wies auch die Verkehrsführung ihre größte Dichte auf. Gelang es dem Gegner, durch den Einsatz von Atomwaffen »diese Gebiete insgesamt lahmzulegen, hört das deutsche Wirtschaftsleben praktisch auf«. Hinzu kam, dass auch das Gelände zwischen Eisernem Vorhang und Rhein im Norden kaum natürliche Hindernisse gegen moderne Panzerarmeen bot, 10

BMVg IV/A: Beurteilung der Karte der Empfindlichen P u n k t e d e r BR, 4.2.1956, BA-MA, BW 17/26.

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und selbst die Mittelgebirge in Hessen und Ostbayern genügend Durchlässe für ein Eindringen in das Bundesgebiet und einen Durchstoß nach Westen offen ließen. Schon bei der Bewertung eines NATO-Planspiels im Sommer 1956 kam man jedenfalls im Führungsstab der Bundeswehr zu weit nüchterneren Ergebnissen, als dies auf Allianzebene eingeschätzt wurde. Die Annahme der Übungsleitung, dass sich etwa die Weserlinie auf einer Länge von bis zu 100 km mit zwei bis drei Divisionen halten lassen würde, hielt man bei Fü Β für eine »Illusion«. Die eigenen Erfahrungen aus dem Ostkrieg sahen da ganz anders aus. Selbst die wesentlich breiteren Flussläufe in Osteuropa quer zu den jeweiligen Angriffsrichtungen hatten nur begrenzten Sperrwert geboten. Die Weser mochte da allenfalls »als das Bauernlineal einer starken Sicherungslinie« betrachtet werden, vor dem man den Gegner kurzzeitig stauen konnte, um ihn mit eigenen starken Panzerverbänden aus der Tiefe im Gegenangriff stellen zu können11. Noch verwundbarer würde sich die Verkehrsinfrastruktur erweisen, die hauptsächlich in Nord-Süd-Richtung verlief und von daher vom Angreifer rasch an mehreren neuralgischen Punkten zerschnitten werden konnte. Das galt insbesondere für die Autobahn Hamburg-Hannover-Frankfurt, die ähnlich wie die Eisenbahnverbindung Hannover-Würzburg nahe an der Zonengrenze entlang verlief und Mitte der fünfziger Jahre noch die Hauptversorgungsachse von den Nordseehäfen nach Süddeutschland darstellte. Gelang es dem Gegner durch Luftangriffe, den Verkehrsknotenpunkt Frankfurt a.M. zu unterbrechen und die wichtigsten Rheinbrücken zu zerstören sowie im schnellen Zugriff Hamburg einzunehmen, zerfiel das Bundesgebiet binnen kürzester Zeit in vier größere Verteidigungsinseln: -

Schleswig-Holstein im Norden, den Raum zwischen Küste, Rhein und hessischen Mittelgebirgen in der Mitte, - Süddeutschland südlich des Mains und ostwärts des Rheins im Süden, - den rückwärtigen Raum jenseits des Rheins im Westen. Ähnliches galt für die Energieversorgung und die fernmeldetechnische Kommunikation; auch in diesen Fällen würde ein Ausfall Frankfurts die Unterbrechung von Versorgung und Verbindung zwischen Nord- und Süddeutschland nach sich gezogen haben12. In einer eingehenden Beurteilung der Verkehrs- und Transportlage13 kam das BMVg deshalb zu sehr düsteren Annahmen für die ersten Tage eines Atomkrieges. Der Verkehr zu den benachbarten westeuropäischen NATOPartnern würde ganz oder zu großen Teilen unterbrochen, die Bundesrepublik selbst in Verkehrsinseln aufgespalten sein. Ein überregionaler Durchgangsverkehr würde daher nur noch in einzelnen Fällen und bestenfalls in beschränktem 11

12 13

Stellungnahme Oberst von Hobe zum Auswertebericht des Planspiels PORTE OUVERTE, Juli 1956, ebd., BW 2/2069. Beurteilung der Karte der Empfindlichen Punkte der BR, 4.2.1956, ebd., BW 17/26, Fü Β V 7/8: Beurteilung der Transport- und Verkehrslage in der Bundesrepublik nach den ersten Tagen eines Atomkrieges, 23.4.1958, ebd., BW 2/2785 (Geh.).

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Umfang möglich sein. Selbst das war aber davon abhängig, das Bahn- mit dem Straßennetz schon im Frieden so zu »vermaschten«, dass jederzeit ein Umsteuern der Transporte von dem einen auf das andere möglich war. Dazu bedurfte es einer nationalen Verkehrsorganisation aus Verkehrs- und Verteidigungsfachleuten, die eine mit Priorität versehene militärische Verkehrsführung mit den Belangen des zivilen Versorgungs- wie des Nahverkehrs zur Personenbeförderung abstimmte. Dabei würden mit Blick auf die Operationsführung in der Kampfzone ostwärts des Rheins die Ost-West-Verbindungen absoluten Vorrang vor dem Nord-Süd-Verkehr genießen. Außerdem mussten die neuralgischen Verkehrsknotenpunkte gegen Sabotage geschützt, mit schnell erreichbaren Reparaturkapazitäten ausgestattet und bei Beschädigung oder Zerstörung durch Umgehungsmöglichkeiten abgesichert sein. Auf den vier zu erwartenden Verkehrsinseln waren schon im Frieden Vorkehrungen für eine dezentrale Betriebsführung zu treffen, wobei sich der Verkehr voraussichtlich bereits in den ersten Tagen eines Konflikts weitgehend von den höchst verwundbaren Bahnlinien auf das besser ausgebaute und mit mehr Umgehungen ausgestattete Straßennetz verlagern würde 14 . Das Kenntlichmachen der Probleme durch die operativen Planer in der NATO und im BMVg war freilich auch hier das eine, die Durchsetzung gegenüber den vorrangigen Infrastruktur- und Raumplanungsinteressen von Bund, Ländern und Kommunen in einer boomenden Wirtschaftsgesellschaft stand dagegen auf einem ganz anderen Blatt. So sollte es bis Ende der sechziger Jahre dauern, bevor etwa das Land Niedersachsen als potenzielles Hauptgefechtsgebiet in seinem Straßenausbauprogramm der Notwendigkeit einer von militärischer Seite seit über einem Jahrzehnt geforderten Schwerpunktsetzung zugunsten der immer noch unterentwickelten Ost-West-Verbindungen Rechnung zu tragen bereit war15. Wohl hatte man frühzeitig ein Militärstraßen-Grundnetz festlegen können, das mit seinen ca. 22 000 km immerhin rund 14 % des gesamten westdeutschen Straßennetzes ausmachte und im Spannungs- wie Verteidigungsfall mit absolutem Vorrang militärischen Bewegungen dienen sollte. Bei Anlage und Sicherstellung waren dabei den Gesichtspunkten - Aussparung bzw. Umgehung von Ballungsräumen - Vermeidung von Verkehrsengpässen - Tragfähigkeit der Brücken für Panzer und Schwerlastverkehr Rechnung getragen worden 16 . Bei den Rationalisierungsplänen der Deutschen Bundesbahn gelang es dagegen erst allmählich, bei aller Akzeptanz ihrer vorwiegenden Elektrifizierung aus betriebswirtschaftlichen Gründen einer aus militärischer Sicht zu einseitigen Prioritätensetzung entgegenzuwirken, weil die 14

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Einen sehr instruktiven Überblick dazu bietet der Vortrag des im BMVg für Verkehrsfragen zuständigen Oberst i.G. Hartwig Flohr vor der Bezirksvereinigung Köln der Deutschen Verkehrswissenschaftlichen Gesellschaft e.V. (DVWG), 3.12.1970, Flohr, Die Verkehrspolitik. Ebd., S. 7. Ebd., S. 10.

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elektrifizierten Strecken natürlich im Kriege ungleich störanfälliger sein würden als Diesel- und Dampflokomotiven. Ähnliches galt für die Stillegung unrentabler Nebenstrecken, die gerade im Zonenrandgebiet, aber auch als Ausweichstrecken für den gesamten militärischen Versorgungsverkehr unverzichtbar blieben17. Die Überlegungen über Wirtschaftlichkeit und Auslastung von Verkehrswegen bissen sich unübersehbar mit Problemen einer dezentralisierten Verkehrsführung, wie sie den Militärplanern unter dem Blickwinkel eines Atomkrieges mit seinen flächendeckenden Schadenswirkungen vor Augen stand. Neben den problematischen Raumfaktoren auf dem Bundesgebiet selbst wirkten zusätzlich internationale und historische Schwierigkeiten aus den erst kurz zurückliegenden Kriegserfahrungen auf eine mit den Bündnispartnern zu koordinierende nationale Verteidigungsplanung der Bundesrepublik ein. Im Zuge des Kalten Krieges war zwar die Reintegration des westdeutschen Teilstaates in die Staatenfamilie des Westens gerade durch seinen Bündnisbeitritt wesentlich vorangekommen. Nicht zu übersehen waren aber nach wie vor die langen Schlagschatten zweier gescheiterter deutscher Anläufe zu hegemonialer Vormacht in Europa aus der ersten Jahrhunderthälfte, die immer noch auf der Vertrauenswürdigkeit Bonns lasteten. So war man mit dem nördlichen Nachbarn Dänemark wohl inzwischen als Allianzpartner verbunden, ohne dass damit die psychologischen und innenpolitischen Folgen deutscher Besatzungspolitik aus dem Zweiten Weltkrieg beim Nachbarn bereits vollständig überwunden waren. Darunter sollte noch auf Jahre hinaus das Erfordernis einer effizienten Kommandoregelung auf Jütland und an den Ostseeausgängen leiden. Im Süden schob sich zudem seit dem Abschluss des österreichischen Staatsvertrages im Mai 1955 ein neutraler Keil der beiden Alpenrepubliken Schweiz und Osterreich zwischen die NATO-Verteidigungsbereiche Mitte und Süd, der die operative Sicherung der Südflanke im und über den Alpenraum hinweg erheblich erschwerte. Die größte politische, psychologische und operative Belastung stellte aber durchgängig die ungelöste Berlinfrage dar. Die Westzonen der Stadt gaben in ihrer weit abgesetzten Vorfeldlage einen idealen Druckpunkt im Kalten Krieg für die Sowjetunion und ihren ostdeutschen Verbündeten ab, waren sie von den Westmächten doch weder militärisch wirksam zu verteidigen, noch aus allianz- und deutschlandpolitischen Gründen aufzugeben. Machte die Gegenseite also über eine neue Blockade der Stadt Ernst an diesem neuralgischen Punkt des Ost-West-Konflikts, dann würden die westlichen Schutzmächte und in ihrem Gefolge die NATO insgesamt schnell vor dem Zwang zur nuklearen Eskalation eines Konfliktes stehen, der aus Mangel an herkömmlichen militärischen Mitteln anders nicht mehr einzudämmen war.

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Ebd., S. 15-18.

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1. Deutsch-dänische Dissonanzen und die Verteidigung der Ostseeausgänge Die deutsch-dänischen Beziehungen waren nicht erst seit den Besatzungserfahrungen im Zweiten Weltkrieg, sondern schon seit dem 19. Jahrhundert über die strittige Nordschleswigfrage politisch und psychologisch belastet. Noch 1968 kleidete der einflussreiche dänische Publizist Troels Fink dies in den Buchtitel »Deutschland als Problem Dänemarks«, und selbst Gustav Heinemanns Besuch als Bundespräsident zwei Jahre später war von äußerst kritischen Kommentaren einer führenden konservativen Zeitung des Landes begleitet. Auch Kopenhagens Entscheidung, die über zweihundertjährige Neutralität aufzugeben und der NATO als Gründungsmitglied beizutreten, war deshalb 1949 nicht allein vom Schutzbedürfnis vor sowjetischer Bedrohung im Kalten Krieg bestimmt. Dahinter stand als unübersehbare Nebenabsicht auch der Wunsch, den südlichen Nachbarn im Bündnisrahmen sicherheitspolitisch wesentlich besser kontrollieren zu können als im bilateralen Verhältnis18. Mit der Verschärfung des Ost-West-Konflikts begannen sich zwar ab Anfang der fünfziger Jahre die Einstellungen in der politischen Klasse zu verändern. So nahm der dänische Außenminister trotz aller fortbestehenden Vorbehalte in der Bevölkerung schon 1951 gerade in der besonders belasteten Frage einer deutschen Aufrüstung eine bemerkungswerte Positionsveränderung vor: »Eine Sache ist Deutschlands Teilnahme an der Verteidigung Europas, eine andere ist der deutsche Militarismus19.« Das gemeinsame sicherheitspolitische Interesse an einem durch die westliche Allianz abgesicherten Schutz der Ostseeausgänge und der Pragmatismus der politischen Eliten überwogen daher bereits in der EVG-Phase und verstärkt seit dem Beitritt der Bundesrepublik zu NATO und WEU. In der dänischen Öffentlichkeit bestanden dagegen noch auf Jahre hinaus tiefsitzende Zweifel an der demokratischen Lernfähigkeit und außenpolitischen Zuverlässigkeit des deutschen Nachbarn. Noch vor Beginn der deutschen Aufrüstung waren somit die innerdänischen Grenzen für eine künftige militärische Zusammenarbeit sichtbar geworden. Nach Ausbruch des Koreakrieges hatte die dänische Regierung zwar erst einmal akzeptieren müssen, dass die NATO eine Verteidigung des westeuropäischen Kontinents erst an der Rhein-Ijssel-Linie mit Aussicht auf Erfolg aufnehmen konnte. Wie die übrigen kontinentaleuropäischen Partner sah sie dies aber nur als Zwischenziel an, bis sich die deklarierte Vorwärtsverteidigung nach einer deutschen Aufrüstung an Ostsee und innerdeutsche Grenze vorschieben ließ. Das eigentliche Interesse Kopenhagens lag bei alledem im Schutz des eigenen Territoriums an den als besonders gefährdet angesehenen Ostseeausgängen 18 19

Vgl dazu insgesamt: Lammers, Dänemarks Deutschlandbild, hier insbes. S. 57-59; zur dänischen Grundentscheidung für den Bündnisbeitritt: Petersen, Dänemark, S. 101-106. Zit. Lammers, Dänemarks Deutschlandbild, S. 60; ebenso Petersen, Dänemark, S. 109 f.

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begründet. Deshalb unterstützten die Dänen die amerikanische Forderung vom Herbst 1950 nach einer noch engeren militärischen Integration der NATO, da dies die Einrichtung einer eigenen regionalen Planungsgruppe für Nordeuropa und damit den Aufbau von Verteidigungsstrukturen für Skandinavien nach sich zog, die auch die dänischen Sicherheitsziele abzudecken versprachen 20 . Im Zuge einer Umgliederung der regionalen Planungsgruppen in NATOKommandobereiche, die führungsmäßig dem Hauptquartier in Fontainebleau unterstellt wurden, war dazu im Frühjahr 1951 ein eigenständiges Kommando Allied Forces Northern Europe (AFNORTH) mit Sitz in Oslo eingerichtet worden21. In diesem Kommandobereich sollten ganz in dänischem Sinne die Verteidigung an den Ostseezugängen zwischen den Anrainern Norwegen und Dänemark koordiniert und mit der Bestallung eines britischen Oberbefehlshabers zusätzlich durch die angelsächsischen Seemächte abgesichert werden. Dänemark unterstellte dazu schon im Februar 1951 neben seiner Flotte seine in Schleswig-Holstein stationierte Brigade unter NATO-Kommando. Außerdem sollten durch die Einrichtung von zwei NATO-Flugplätzen die Voraussetzungen für die Stationierung von zwei amerikanischen Luftwaffengeschwadern auf dänischem Boden geschaffen werden, um die Luftverteidigung über Jütland und die Luftüberwachung über den Meerengen zu verstärken. Dazu wurde Übereinstimmung mit den USA erzielt, dass sich der Einsatzzweck dieser Geschwader auf rein taktische Aufgaben zu beschränken hatte, von hier aus also keine Fernangriffe gegen die Sowjetunion geflogen werden durften. Die Möglichkeit zum Einsatz taktischer Atomwaffen in den Ostseeraum hinein hatten sich die USA allerdings unterdessen mit ihrer Trägerflotte im Nordatlantik bei SACLANT bereits anderwärts geschaffen 22 . Ganz generell war man sich nämlich bei der NATO bewusst, dass man die skandinavischen NATO-Mitglieder Dänemark und Norwegen psychologisch nicht überfordern durfte, verstanden sie sich doch bei allem Sicherheitsbedürfnis eher als »zögerliche Kalte Krieger« und potenzielle »Brückenbauer« zwischen den Militärblöcken. Deshalb kam es für die westlichen Verbündeten auch nicht allzu überraschend, dass sowohl Kopenhagen als auch Oslo Vorbehalte gegen die Stationierung ausländischer Truppen und insbesondere von Atomwaffen auf ihrem Territorium anmeldeten23. Selbst zu der eingeschränkten Stationierung ausländischer Truppen in Gestalt von zwei amerikanischen Geschwadern kam es deshalb schließlich auch im Falle Dänemarks nicht. Die dänische Regierung war nach einem jahrelangen Hin und Her 1953 unter dem Eindruck nachlassender internationaler Spannungen nach Stalins Tod, aber auch mit Blick auf unüberhörbare sowjetische Warnungen an die Adresse Kopenhagens nicht mehr bereit, eine so weitgehende Aufweichung ihrer Souveränitätsrechte innenpolitisch umzusetzen und damit 20 21

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Petersen, Dänemark, S. 107-109. Vgl. Rebhan, Der Aufbau, S. 212; zur militärischen Organisation der NATO insgesamt: Pedlow, Putting the »O«. Maloney, Securing Command, S. 64. Ingimundarson, Between Solidarity and Neutrality, S. 269 f.

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gleichzeitig hinsichtlich der Sowjetunion eine als unnötig provokativ empfundene Haltung einzunehmen 24 . Da jedoch Anfang der fünfziger Jahre noch dänische und norwegische Verbände in Schleswig-Holstein stationiert waren 25 , und die gesamte cimbrische Halbinsel von Skagen bis zur Elbe-Trave-Linie als Rückhalt für die Sicherung der Ostseeausgänge betrachtet wurde, hatte SHAPE neben Jütland auch deren Südteil Schleswig-Holstein zunächst dem Kommandobereich AFNORTH zugeschlagen 26 . Mit dem Beitritt der Bundesrepublik zur Allianz tauchte freilich schon Ende 1954 die Frage auf, ob diese Grenzziehung zwischen AFCENT und AFNORTH noch zweckmäßig war, teilte sie das künftige deutsche Kontingent doch an der Linie Hamburg-Lübeck auf zwei Kommandobereiche auf. Gegen die Absicht von SHAPE, im Zuge einer schrittweisen Ausdehnung der Vorwärtsverteidigung auf ganz Norddeutschland Schleswig-Holstein dem AFCENT-Bereich zuzuschlagen, hatten die Dänen jedoch sofort Einspruch erhoben und die Standing Group auf ihre Seite gebracht. Da Jütland als Kernraum Dänemarks zu AFNORTH gehöre, werde eine Veränderung der Kommandoverhältnisse in Schleswig-Holstein nur zu einer Duplizierung von Kommandosträngen, Logistik und Verwaltung auf der gesamten Halbinsel führen. Außerdem stehe man unter Einsatzbedingungen sehr schnell vor dem Problem eines Kommandowechsels, wenn nämlich die südlich der Eider stehenden NATO-Verbände vor einem überlegenen Gegner zum Ausweichen in den Norden Jütlands und damit in den AFNORTH-Bereich gezwungen sein würden 27 . Die noch weitergehende Möglichkeit, zur Bereinigung der Raumaufteilung Dänemark insgesamt in den AFCENT-Bereich zu integrieren, kam schon deshalb nicht in Frage, weil damit das Problem einer Koordination zwischen AFNORTH und AFCENT nur aus dem Raum Schleswig-Holstein nach Norden in das Kattegatt zwischen Norwegen und Dänemark verschoben worden wäre. Blieb eine dritte Lösung, die von SACEUR und der Bundesregierung gemeinsam favorisiert wurde, dass man nämlich an den Ostseeausgängen ein alle Heeres-, Luftwaffen- und Marineverbände einschließendes neues NATO-Kommando Baltic Approaches (BALTAP) schuf, das um der Koordination mit Norwegen willen zum AFNORTH-Bereich gehören sollte 28 . In den deutschen operativen Überlegungen hatte das nördlichste Bundesland schon bei den Diskussionen in Himmerod eine gewichtige Rolle gespielt, da man hier in der Anfangsphase eines Krieges von einem tiefen Einbruch des Gegners in die norddeutsche Tiefebene ausgegangen war. Um dem wirksam zu 24

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Petersen, Dänemark, S. 117-120; zu den sowjetischen Gegenwirkungen: Ingimundarson, Between Solidarity and Neutrality, S. 270. Z u m Verteidigungsauftrag der in Schleswig-Holstein bis 1953 stationierten norwegischen Deutschlandbrigade: Breidlid, Die norwegischen Streitkräfte, S. 38-42. Pedlow, The Politics of N A T O C o m m a n d , S. 38; vgl. auch Tagebucheintrag U A L IV A, Oberst de Maiziere, 18.9.1956, BA-MA, Ν 673/v. 22. SG an S A C E U R , 30.11.1954, S H A P E History, vol. 3, S. 81 f. Die drei L ö s u n g e n sind skizziert bei Petersen, The D i l e m m a s of Alliance, S. 279.

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begegnen, mussten unbedingt zwei Eckpfeiler ostwärts des Rheins - die süddeutschen Mittelgebirge und der Raum Schleswig-Holstein - gehalten werden, um sie als Ansatzpunkte für eigene Gegenoffensiven in die tiefen Flanken des nach Westen vorstoßenden Angreifers nutzen zu können 29 . Dabei war man sich in sicherheitspolitischen Kreisen der Bundesrepublik frühzeitig bewusst, wie wesentlich dafür gerade an den Ostseeausgängen das Zusammenwirken der beiden unmittelbaren NATO-Anrainer Dänemark und Deutschland war30. Weitergehend als in den dänischen Vorstellungen war der Süden der cimbrischen Halbinsel dabei für die deutschen Verteidigungsplanungen in dreifacher geostrategischer Zielrichtung von essenzieller Bedeutung: als Barriere gegen einen Durchstoß feindlicher Verbände zur deutschen Nordseeküste und damit zur Absicherung Hamburgs, als Ausfallposition nach Süden gegen einen nach Westen durchgebrochenen Gegner und als Hinterland für die Sicherung der Ostseeausgänge. Deshalb bestand Speidel schon im Sommer 1955 bei SHAPE darauf, dass Fragen der Kommandoführung in diesem Raum nicht ohne deutsche Beteiligung allein zwischen AFCENT und AFNORTH ausgehandelt werden könnten. Schließlich umfasse dies Entscheidungen, »welche die Verteidigung unserer Heimat betreffen würden« 31 . General Gruenther unterstützte diese Auffassung vor dem NATO-Rat zumindest indirekt, wenn er darauf verwies, dass die dringend notwendige Sicherung der Ostseezugänge erst realisiert werden könne, wenn dazu im Süden Dänemarks auch deutsche Truppen verfügbar seien32. Faktisch waren nämlich bis 1957 nur eine dänische Brigade und kleinere britische Kontingente in Schleswig-Holstein stationiert, und beide Partnerstaaten beabsichtigten, den Raum sobald wie möglich an aufwachsende deutsche Verbände zu übergeben. Den dafür vorgesehenen Abzugstermin (15. November 1957) konnte man dann immerhin bis zum 15. April 1958 verlängern, da eine Räumung des nördlichsten deutschen Bundeslandes vor dem Verfügbarwerden deutscher Verbände aus Sicht von SHAPE verfrüht war33. Für die Zeit danach wollte man von Seiten des Militärischen Führungsrats in Bonn schon Anfang 1956 darauf hinwirken, dass dafür vorrangig ein »einheitliches Wehrmachtkommando« an der Ostsee einzurichten und die Frage der Unterstellung unter AFCENT oder AFNORTH nachrangig zu behandeln sei34. Eine alle Teilstreitkräfte übergreifende Kommandoregelung war dabei schon deshalb dringend geboten, da in dem von seinen langen Küstenlinien bestimmten Raum eine »triphibische Kampfführung« zu erwarten war: »Hier

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Rautenberg/Wiggershaus, Die »Himmeroder Denkschrift«, S. 40. Bezeichnend für diese Wahrnehmung ist der schon 1956 dazu in der Wehrwissenschaftlichen Rundschau platzierte Artikel von Günther, Dänemark. Gespräch Speidels mit dem Chef des Stabes bei SHAPE, Schuyler, 20.7.1955, BA-MA, BW 2/2717-2. Vortrag vor dem NAC, 11.10.1955, NISCA, C-R (55) 43. SHAPE History 1957, S. 62 - 64 und 1958, S. 32 f. Kurzprotokoll Nr. 8 des MFR, 23.2.1956, BA-MA, BW 17/24 (Verschlusssache).

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kann wirklich kein Wehrmachtteil ohne die beiden anderen seinen Auftrag im Rahmen der Verteidigung erfüllen35.« So unstrittig militärisch die Frage eines einheitlichen Kommandos an den Ostseeausgängen und auf Jütland im Grundsatz war, so unlösbar erwies sie sich politisch auf Jahre hinaus wegen der starken öffentlichen Vorbehalte in Dänemark. Die Stimmung in der dänischen Öffentlichkeit ließ eine gemeinsame deutsch-dänische Kommandoregelung einfach noch nicht zu. Immerhin wäre mit ihr nicht nur eine Unterstellung dänischer Verbände unter gemischte deutsch-dänische Führung, sondern auch eine Stationierung deutscher Stabsund Führungsanteile auf dänischem Boden verbunden gewesen. Daran scheiterte sogar der bescheidenere Vorschlag des neuen SACEUR General Lauris Norstad vom Sommer 1956, wenigstens schon einmal bei AFNORTH ein gemeinsames NATO-Marinekommando für die Ostseeausgänge (Naval Forces Baltic Approaches, NAVBALTAP) einzurichten, dem dänische und deutsche Marineeinheiten unterstellt sein sollten. Als Befehlshaber wollte man einen britischen Seeoffizier bestellen und das Hauptquartier wegen psychologischer Vorbehalte gegen deutsche Offiziere auf dänischem Boden nach Kiel-Holtenau verlegen. Aufgabenteilig sollte die dänische Marine den unmittelbaren Schutz der Ostseeausgänge übernehmen, während den künftigen deutschen Seestreitkräften die Verteidigung der schleswig-holsteinischen Küste und der vorgelagerten westlichen Ostsee obliegen würde 36 . Norstads Ideen waren im März 1956 freilich nur mit der deutschen Seite in Bonn abgestimmt worden, dänische Vertreter hatten an der Besprechung gar nicht erst teilgenommen. Die Haltung Kopenhagens war denn auch vorhersehbar ablehnend 37 . Da sich Dänemark mithin dieser Regelung verschloss, man seitens der NATO aber den beginnenden Aufbau deutscher Seestreitkräfte in der Ostsee kontrolliert halten wollte, blieb vorerst nur eine Interimslösung. Sie sah einen kleinen Planungsstab für die Ostseezugänge beim Marinekommando Europa Mitte (NAVCENT) unter der Bezeichnung Allied Naval Forces Northern Area Central Europe (NAVNORCENT) vor, der angelsächsische, dänische und deutsche Experten umfassen, aber wegen deutscher Vorbehalte keine Kommandobefugnis haben sollte38. Wogegen man nämlich im BMVg »energisch Stellung nehmen« wollte, war die mit NATO-Gepflogenheiten nicht zu vereinbarende einseitige Unterstellung rein nationaler Verbände - hier der deutschen

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Studie Nr. 2: Gedanken zur Organisation, Ausbildung und Führung des Heeres, 11.10.1956, ebd., BW 17/19, Bl. 27 f. SHAPE History 1957, S. 154. Die Besprechung in Bonn, 8.3.1956, und die darauf aufbauende Absicht von SHAPE, 24.7.1956, lassen sich aus dem Entwurf eines Schreibens von Speidel an NMR (SHAPE), Paris und DMV beim MRC, Washington, 20.9.1956, erschließen, BA-MA, BW 17/28. Pedlow, The Politics of NATO Command, S. 38; zum Scheitern von COMNAVBALT vgl. auch Tagebucheintrag UAL IV A, Oberst de Maiziere, 18.9.1956, BA-MA, Ν 673/v. 22.

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Zweiter Teil: Aufbau der Bundeswehr und modifizierte atomare Abwehrplanung

Seestreitkräfte in der Ostsee - unter ein integriertes NATO-Kommando und damit unter britische Führung schon im Frieden39. Selbst zur Realisierung dieser kleinen Vorablösung bedurfte es somit noch einiger Überzeugungsarbeit. Deshalb befürwortete General Norstad im Herbst 1956 zwar durchaus die weitergehende Lösung des CINCENT, eine gemeinsame Kommandolösung auch auf die Landstreitkräfte auszudehnen. General Jean Valluy schwebte dazu eine deutsch-dänische Streitmacht unter einem amerikanischen oder britischen Befehlshaber vor, durch die sich die cimbrische Halbinsel als Rückhalt einer Verteidigung an den Ostseeausgängen verstärken und gleichzeitig die Verbindung zwischen AFNORTH und AFCENT halten ließ. Gewarnt durch das Scheitern seines eigenen Vorstoßes in Kopenhagen vom Sommer wollte der SACEUR jedoch zunächst einmal das Näherliegende, ein gemeinsames NATO-Kommando für die See- und Luftstreitkräfte in diesem Raum voranbringen, das er an der Jahreswende 1956/57 nicht zusätzlich durch die Ideen des CINCENT belastet sehen wollte40. Um die deutsch-dänischen Dissonanzen zu überbrücken, schalteten sich nunmehr auch die Briten als Vermittler ein. Beim ersten Besuch eines deutschen Verteidigungsministers und seines militärischen Beraters Heusinger in London im Frühjahr 1957 schlugen sie einen auf NATO-Ebene angehobenen Kompromiss vor. Danach sollte wie vom SACEUR gefordert grundsätzlich auch weiterhin das zunächst zwar vertagte, aber unter militärischen und bündnispolitischen Gesichtspunkten letztlich allein zukunftsfähige Ziel eines gemeinsamen NATO-Kommandos NAVBALTAP angestrebt werden. Die dänische Abneigung gegen eine deutschdänische Kommandoregelung mochte sich am ehesten über einen britischen Admiral an dessen Spitze lösen lassen. Diese Lösung, zu der man auch die deutsche Zustimmung benötigte, musste aber »so bald wie möglich« greifen, da sich sonst mit dem Aufwachsen deutscher Seestreitkräfte die maritimen Gewichte an den Ostseeausgängen so nachdrücklich zu deren Gunsten verschieben würden, dass Bonn nur zu bald selbst berechtigte Ansprüche auf die Kommandoführung erheben mochte. Das würde wiederum die dänischen Vorbehalte gegen eine ein vernehmliche Ν ΑΤΟ-Regelung anheizen41. Im Sommer 1957 reiste deshalb eine Delegation des beim Kommando Europa Mitte als Zwischenlösung eingerichteten NAVNORCENT unter ihrem britischen Kommandeur nach Schleswig-Holstein, um die Deutschen beim Aufbau ihrer Ostseestreitkräfte »zu beraten und zu unterstützen«. Parallel dazu hatte eine gemeinsame Planungsgruppe der benachbarten Kommandobereiche AFNORTH und AFCENT die Organisations- und Führungsprobleme für das eigentliche Ziel eines Kommandos NAVBALTAP zu studieren42. Nun waren auf dieser rein 39

40 41

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Tagebucheinträge UAL IV A, BG de Maiziere, 1. und 6.2.1957, sowie Briefentwurf Speidel an SHAPE, 9.2.1957, ebd., Ν 674/ν. 22 bzw. BW 17/28. SHAPE History 1957, S. 154-156. Briefing der britischen Stabschefs zum Ministerbesuch, 21.5.1957, PRO, DEFE 4/97, COS (57) 40. Pedlow, The Politics of NATO Command, S. 38 f. und SHAPE History 1957, S. 156-159.

I. Die geostrategische Lage der Bundesrepublik, ihre Flanken und ihr Vorfeld

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militärischen Ebene zwar einvernehmlich die Notwendigkeit einer gemeinsamen Kommandoregelung zu begründen, die eigentlichen politisch-psychologischen Hindernisse jedoch nicht zu auszuräumen. Eine Gesamtlösung wurde indes umso notwendiger, je weiter die Aufrüstung der Bundesrepublik voranschritt. Noch war zwar mit der Aufstellung der für Schleswig-Holstein vorgesehenen 6. Panzergrenadierdivision nicht begonnen worden, zwischen SHAPE und dem BMVg liefen aber bereits Vorüberlegungen dafür an. Danach betonte Heusinger schon im Spätherbst 1956, dass die seitens der NATO für eine Verteidigung Jütlands vorgesehenen zwei Divisionen plus einer dänischen Brigade und einer als schwach eingeschätzten dänischen Marine unzureichend waren 43 . Wie immer indes die Truppenstärken im Endeffekt aussehen würden, ohne die Möglichkeit zu gemeinsamer Operationsführung war zu Lande noch weniger auszukommen als auf See. Die operativen Probleme stellten sich hier nämlich sehr viel gravierender dar als an der übrigen Ostgrenze der Bundesrepublik. Der Gegner würde im schnellen Vorstoß Hamburg nehmen und damit Schleswig-Holstein vom übrigen Kriegsschauplatz in Norddeutschland abriegeln können. Durch Bevorratung allein ließ sich danach keine ausreichende Versorgung mehr für Truppe und Bevölkerung sicherstellen. Jede Heranführung über See und die Westhäfen Jütlands machte aber deutsch-dänische Nachschubregelungen unumgänglich. Unter den zu erwartenden Wirkungen taktischer Atomwaffen stellte sich zudem dringend das Problem, wie die um Teile der Hamburger Stadtbevölkerung noch verschärfte Lage der Zivilbevölkerung auf dem Gefechtsfeld zu beherrschen war. Da anders als bei den Überlegungen zu einer Evakuierung im übrigen Bundesgebiet hier Ausweichräume nicht vorhanden waren, musste dies über See geschehen, und das war wiederum nur durch eine Öffnung der dänischen Grenze für deutsche Flüchtlinge und deren Abtransport über die dänischen Westhäfen zu leisten. Im Bonner Verteidigungsministerium machte man sich freilich keine Illusionen darüber, wie schwierig dies alles bei den nach wie vor nicht ausgeräumten psychologischen Vorbehalten in der dänischen Öffentlichkeit zu regeln war. Deshalb empfahl die Streitkräfteabteilung im Vorgriff auf eine NATO-Lösung wenigstens schon einmal eine Zusammenfassung aller nationalen Verteidigungsaufgaben in einer Hand, und zwar in enger Abstimmung zwischen dem künftigen Divisionskommando des Heeres (6. PzGrenDiv), den Luftwaffenund den Marineverbänden in diesem Raum und dem für die territoriale Verteidigung eingerichteten Wehrbereichskommando I (WBK I) in Kiel. Da sich jedoch Schleswig-Holstein unter keinen Umständen als rein deutsches Operationsgebiet eignete, blieb auch zu Lande die deutsche Forderung bestehen, gegen alle politischen Einwände so rasch wie möglich den gesamten Raum an den und um die Osteseezugänge unter einem NATO-Kommando zusammenzufassen. War dies zunächst noch nicht zu erreichen, dann spielte man im BMVg 43

Gespräch Heusingers mit Chef des Stabes SHAPE, Schuyler, Tagebucheintrag MFR, 27.11.1956, BA-MA, BW 17/36, S. 29 f.

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zeitweilig mit der Notlösung, zumindest den für alle deutschen Verbände verantwortlichen »Deutschen Befehlshaber Schleswig-Holstein« als NATO-Befehlshaber wahlweise an AFCENT oder AFNORTH unmittelbar anzubinden 44 . Vorerst hing die operative Lage in dem gesamten Raum nördlich der Elbe jedenfalls völlig in der Luft. Im Sommer 1957 bestand die zunächst beiderseits der unteren Elbe aufzustellende 3. Panzerdivision als erster deutscher Großverband in diesem Raum gerade einmal aus einem Aufstellungsstab für das Divisionskommando und der sogenannten Kampfgruppe Bl, die wiederum nördlich der Elbe lediglich über ein Grenadier- und ein Artilleriebataillon verfügte 45 . Der Aufstellungsstab für die vollständig in Schleswig-Holstein vorgesehene 6. Panzergrenadierdivision würde sich erst im Laufe des Februar 1958 in einer Art Zellteilung aus dem Stab der 3. Panzerdivision bilden. Das Wehrbereichskommando I konnte daher zunächst wenig mehr tun, als die Situation zu beschreiben und daraus Streitkräfteforderungen herzuleiten. Als Rückgrat für seine operativen Überlegungen wählte es den Nord-Ostsee-Kanal, der das potenzielle Gefechtsfeld etwa 100 bis 120 km nördlich der Grenze zur DDR in zwei Hälften teilte. Seine Beschaffenheit bot zwar gegen einen Angreifer kein wirkliches Hindernis für ein Uberschreiten »mit feldmäßigen Mitteln«. Seine verkehrstechnische Lage als zu überbrückendes Hindernis für über 90 % des Straßen- und 58 % des Bahnverkehrs machten ihn aber zum zentralen Verkehrsschwerpunkt in diesem Raum. Solange er im Übrigen in eigenen Händen und unzerstört blieb, konnte er der NATO auch als logistischer Verbindungsweg zwischen Nord- und Ostsee dienen. Die Sicherung des Kanals gehörte somit zu den zentralen Verteidigungszielen in Schleswig-Holstein, war seine Nutzung doch die Voraussetzung für operative Führung und Logistik. Dies galt sowohl im Südteil des Landes, als auch nördlich davon im Falle eines geordneten Ausweichens und der Aufnahme einer »ersten nachhaltigen Abwehr etwa auf der Linie Schleswig-Husum« 46 . Gleichgültig, wo man die Verteidigung aufnehmen wollte oder konnte, in jedem Falle war bei den Kräfteverhältnissen und der voraussichtlichen triphibischen Gefechtsführung in diesem Raum eine einheitliche Kommandoführung die unverzichtbare Grundbedingung 47 . Bei der geostrategischen Bedeutung Schleswig-Holsteins hielt man dazu seitens der NATO mit Blick auf die geringen dänischen Kräfte eine Erweiterung der bisher geplanten deutschen verstärkten Infanteriedivision (6. PzGrenDiv) zu einem eigenständigen Korps44

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Stellungnahme BMVg IV A 3, 22.11.1956, sowie Tagebucheintrag de Maiziere, 22.1.1957, ebd., BW 2/2663 bzw. Ν 673/v. 22; zu den Transportproblemen in einer »Verkehrsinsel« Schleswig-Holstein: Vortrag Oberst Rutz vor Atomausschuss betr. Versorgung im Atomkrieg, 6.2.1957, ebd., BW 2/2717-2. Schreiben Oberst i.G. von Butler, LANDCENT, an BG de Maiziere, Fü B, 22.8.1957, ebd., BW 2/2668. Studie WBKI über die Bedeutung des Kiel-Kanals im Kriege, o.D. [1958], ebd., BW 2/2544. Stellungnahme Fü Β zum SACEUR-EDP 58, 19.11.1957, ebd., BW 2/2668.

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kommando mit eigener Luftunterstützung, einer zusätzlichen Panzerkampfgruppe und einer atomaren Einsatzkomponente für erforderlich. Wegen der Flankenstellung des Raumes zu Mitteleuropa ging man im Übrigen bei AFCENT davon aus, dass mittelfristig der ganze deutsch-dänische Raum aus dem Bereich Nordeuropa herausgelöst und Europa Mitte unterstellt werden musste 48 . Anfang 1958 schien es zeitweilig so, als ließe sich dazu wenigstens die schon angedachte Neuorganisation bei den Seestreitkräften machen. Die im Vorjahr eingesetzte Planungsgruppe AFCENT/AFNORTH schlug nämlich erneut ein die Ostseeausgänge und die Küsten Jütlands umfassendes NATOKommando NAVBALTAP vor, und der SACEUR Norstad gewann Bonn und Kopenhagen dafür, als Kompromiss einen kanadischen Admiral als Befehlshaber vorzusehen, da der deutschen Seite ein Brite nicht zu vermitteln war. Nur scheiterte der Vorschlag daran, dass die kanadische Regierung keine dafür qualifizierte Persönlichkeit namhaft machen konnte. Eine deutsche Überlegung, das Kommando dann eben zwischen einem dänischen und einem deutschen Admiral rotieren zu lassen, war dagegen für die dänische Regierung immer noch inakzeptabel 49 . Unabhängig davon hatte im Sommer 1958 der neue CINCENT, General Jean Valluy, die Frage der Raumgrenze zwischen den Kommandobereichen Nord und Mitte wieder ins Spiel gebracht. Mit dem britischen Oberbefehlshaber von AFNORTH konnte er sich darauf verständigen, ein gesondertes NATOGesamtkommando für die Ostseeausgänge (BALTAP) zu schaffen und dieses als Flanke der mitteleuropäischen Hauptfront AFCENT zu unterstellen. Dieser Lösung verweigerte sich jedoch NATO-Oberbefehlshaber Norstad, da er die politischen Widerstände dagegen nicht nur in Kopenhagen, sondern in den skandinavischen Ländern allgemein für zu hoch hielt. Letztlich befürchte man hier nämlich, dass daraus bei entsprechenden Fortschritten in der deutschen Aufrüstung faktisch ein von Deutschen dominiertes Kommando hervorgehen würde 50 . Zusätzliche Brisanz erhielt die Frage, als sich der erste Marineinspekteur, Vizeadmiral Friedrich Rüge, in die Debatte einschaltete und selbst für den Fall einer kleinen Lösung eines reinen NATO-Marinekommandos (NAVBALTAP) die Herauslösung aus AFNORTH und die Unterstellung unter AFCENT forderte. Dabei ging es ihm darum, eine Ausdehnung englischer maritimer Führungsansprüche auch auf den Ostseeraum abzuweisen, eine angemessene deutsche Beteiligung auf der Führungsebene sicherzustellen und eine Aufspaltung der deutschen Seestreitkräfte in der Nord- und Ostsee auf die

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Schreiben des ersten deutschen Befehlshabers LANDCENT Speidel an GenlnspBw Heusinger, 15.12.1957, ebd., sowie Antrag der Luftwaffe im MFR auf Klärung der Kommandofrage, 7.1.1958, ebd., BW 17/24 (Verschlusssache); zur seit 1957 schwelenden Frage der Grenze zwischen AFNORTH und AFCENT vgl. auch SHAPE History 1957, S. 160 f. Pedlow, The Politics of NATO Command, S. 39 und SHAPE History 1958, S. 112 -115. Erfahrungsbericht des ausscheidenden CINCNORTH, General Sugden, an die britischen Stabschefs, 8.7.1958, PRO, DEFE 4/109, COS (58) 57; zu den Auseinandersetzungen zwischen Valluy und Norstad vgl. auch Pedlow, The Politics of NATO Command, S. 39 f.

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NATO-Kommandobereiche AFCENT und AFNORTH zu vermeiden51. Als diese deutsche Auffassung an Dänen und Norwegern vorbei an SHAPE gelangte, lösten Presseverlautbarungen darüber eine »Vertrauenskrise« aus. Beide Länder beriefen ihre militärischen Vertreter aus dem Military Committee in Washington zur Berichterstattung zurück; im dänischen Reichstag kam es sogar zu parlamentarischen Anfragen über die Motive der Deutschen52. Seitens des BMVg beeilte man sich deshalb, die Diskussion über ein von »begreiflichen Ressentiments aus der vergangenen Epoche« beeinflusstes Thema möglichst schnell wieder aus der öffentlichen Erörterung herauszuholen. Bonn werde in keinem Falle eine »einseitige Lösung verlangen«, die Frage vielmehr »unter der Zuständigkeit des NATO-Oberbefehlshabers zwischen den beteiligten Ländern im allseitigen Einvernehmen« klären lassen53. Um die Debatte aus der Krise herauszuführen, hob der Oberbefehlshaber AFNORTH die Frage Anfang 1959 von der Marine wieder auf die Ebene eines »joint command« aller Streitkräfte an den Ostseeausgängen. Der SACEUR unterstützte diesen Vorschlag, und die komplizierten Verhandlungen im Dreieck Fontainebleau-Bonn-Kopenhagen konnten von neuem beginnen54. Wie schwierig sich die Gespräche zwischen Bonn, Kopenhagen und Oslo zu diesem Zeitpunkt allerdings immer noch gestalteten, zeigte der Abbruch trilateraler Vorbesprechungen durch die dänische Regierung im März 1959 über dringend erforderliche und in die Tiefe gestaffelte Versorgungsdepots für eine deutsche Kriegsbevorratung im Nordteil Jütlands und in Südnorwegen55. Aus der NATO-Herbstübung SIDE STEP (17.-25. September 1959) musste das Kommando der Territorialen Verteidigung in Bad Godesberg daher die Erfahrung mitnehmen, dass die an den Meerengen und in Schleswig-Holstein eingesetzten Land- und Seestreitkräfte sich nicht auf eine gemeinsame Logistik abstützen konnten, da der Aufbau einer Versorgungsbasis in Jütland und an der dänischen Küste aus politischen Gründen vorerst nicht zu realisieren war56. Verbale Unterstützung erhielten die Deutschen wenigstens beim Besuch des SACLANT, U.S.Admiral Wright, der vor dem Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages die deutsche Marine zum »Schlüsselfaktor« für eine Verteidigung der Meerengen erklärte57. Dem Generalinspekteur gab dies Anlass, bei seinem Besuch in Washington im Herbst 1959 für Jütland wegen der extrem dünnen Decke an einsatzfähigen Verbänden um Verstärkungen durch das amerikanische 51 52 53

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Schreiben Ruges an Heusinger, 20.8.1958, BA-MA, BM l/925b, Bl. 65-67. Bericht 1959/1 des DMV Washington, 30.1.1959, ebd., BW 2/20071. Erklärungen des Pressereferats BMVg, Nr. 136, 31.10., Nr. 139, 7.11. und Nr. 141, 10.11.1958, ebd., BW 1/21642. Pedlow, The Politics of NATO Command, S. 40. Schreiben CINCENT an SACEUR betr. Neugliederung des Kommandobereichs AFCENT, 16.3.1959, BA-MA, BW 2/1801. Bericht Befehlshaber Übungsstab 59 an Fü Β zu SIDE STEP, 26.9.1959, ebd., BW 2/2620. Vortrag bei der gemeinsamen Sitzung des Auswärtigen und des Verteidigungsausschusses, 22.4.1959, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 3. Wahlperiode, 54. Sitzung.

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Marine Corps und die Air Force nachzusuchen. Mehr als die Bereitschaft der Amerikaner, die von Heusinger dringlich gemachte Forderung zu prüfen, dass im Einsatzfall eine amerikanische Division »in den Raum Schleswig-Holstein zu werfen« sei, war allerdings auch auf diesem Wege nicht zu erreichen 58 . Ganz unbeeinflusst davon blieben im Übrigen die ungelösten Probleme der Kommandoführung. Ein erster Operationsbefehl für den Fall eines allgemeinen NATO-Alarms (Joint Emergency Defense Plan Northern Europe, JEDPNE 1-58) vom Januar 1959 basierte vielmehr weiterhin auf einer äußerst komplizierten Kommandostruktur: Auf der cimbrischen Halbinsel insgesamt würde zwar ein dänischer NATO-Befehlshaber (COMLANDDENMARK) alle Landstreitkräfte und damit auch die inzwischen in Aufstellung befindliche 6. PzGrenDiv operativ führen. Die beiden Marinen sollten dagegen weiterhin national getrennt (Flag Officer Denmark, FOD bzw. Commander Naval Forces Germany Baltic, COMNAVGERBALT) laufen und erst über den Befehlshaber der Marinestreitkräfte von AFNORTH (COMNAVNORTH) im Einsatzfalle gemeinsam geführt werden. Wie weit dabei operativ die Vorstellungen noch immer auseinander gingen, machte der Einspruch des Führungsstabs der Bundeswehr gegen die Absichten des dänischen NATO-Befehlshabers für die Landstreitkräfte überdeutlich. Gegen die deutschen Sicherheitsinteressen im südlichen SchleswigHolstein sah dieser nämlich im Verteidigungsfalle lediglich eine der drei deutschen Brigaden für den Einsatz südlich des Nord-Ostsee-Kanals vor, während die beiden anderen nördlich davon bereitgehalten werden sollten 59 . Damit verknotete sich die ungelöste Kommandofrage mit der für deutsche Interessen unverzichtbaren Forderung nach Vorwärtsverteidigung an der Südgrenze Schleswig-Holsteins, ohne dass dafür ausreichende Verteidigungskräfte verfügbar gewesen wären. Realistisch konstatierte WBK I jedenfalls: »Eine wesentliche Verstärkung der NATO-Streitkräfte im Raum Schleswig-Holstein ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten.« Mehr Hoffnungen setzte man in Kiel da schon auf eine Entlastung der Präsenzverbände durch die »Aufstellung schnell zu mobilisierender Verbände zum Einsatz an der Zonengrenze, an der Küste und in der Tiefe des Gefechtsgebietes«. Eine derartige »Landeswehr« aus heimatnah einsetzbaren Reservisten und freiwilligen Angehörigen der »weißen« Jahrgänge habe den doppelten Vorzug, dass ihre Verbände zur unmittelbaren Heimatverteidigung von den Stäben der Territorialen Verteidigung aufgestellt würden, also als »nationale Truppen« in unmittelbarer deutscher Verfügung verblieben. Dafür seien im Übrigen die politisch-psychologischen Voraussetzungen in

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Bericht Heusingers über seine Amerikareise vom 2.-8.11., 17.1.1959, sowie vor dem Verteidigungsausschuss, 14.1.1960, BA-MA, BW 2/1801, bzw. Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 3. Wahlperiode, 71. Sitzung. Stellungnahme Fü Β zum JEDPNE 1-58, 19., sowie dessen Rohübersetzung, 20.2.1959, BA-MA, BW 2/2528.

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Schleswig-Holstein und Hamburg - »wenn auch unterschiedlich« -günstig 60 . Der Vorschlag fand zwar die Zustimmung des Führungsstabes im BMVg, da man hier schon seit längerem darüber nachdachte, wie sich die Verteidigungslinien der NATO noch vor dem Abschluss des Bundeswehraufbaus über die Aufstellung nationaler territorialer Kräfte zur grenznahen Heimatverteidigung nach vorn verschieben ließen61. Wirkliche Entlastung in der Frage ausreichender Streitkräfte und damit für eine Vorverschiebung der Verteidigung in den Süden Schleswig-Holsteins erbrachten solche Planspiele indes nicht. Im Dreieck Fontainebleau-Bonn-Kopenhagen schwenkten die Diskussionen jedenfalls erst einmal wieder zurück zur ungelösten Frage einer gemeinsamen Kommandostruktur. Aus einer Besprechung mit Norstad nahm Heusinger dazu im Herbst 1959 Hoffnung machende Perspektiven mit. Die Grenze zwischen AFCENT und AFNORTH bleibe zwar vorerst an der Elbe, könne aber erneut überprüft werden, sobald sich die NATO-Verteidigungslinien insgesamt an die innerdeutsche Grenze vorschieben ließen. Immerhin erschienen aus der Sicht von SHAPE nunmehr die »dänischen Schwierigkeiten« behoben, so dass nach Ablösung des derzeitigen britischen Befehlshabers zunächst ein dänischer und danach im Zuge des Aufwachsens der deutschen Marine »ständig« ein deutscher Admiral an die Spitze von NAVBALTAP gesetzt werden könne. Bei den Landstreitkräften sollte das NATO-Kommando auf Jütland (LANDJUT) turnusmäßig zwischen einem deutschen und einem dänischen Offizier wechseln. Für die Luftwaffe war daran gedacht, ein eigenes Tactical Operations Center (TOC) für Schleswig-Holstein aufzustellen und dies an die für Norddeutschland verantwortliche 2. ATAF anzuhängen62. Wieder eilten die deutschen Erwartungen dem bei SHAPE und vor allem in Kopenhagen Umsetzbaren indes ein Stück weit voraus. Verteidigungsminister Strauß fand bei Norstad zwar volles Verständnis für seine Forderungen nach baldiger Einrichtung eines NATO-Gesamtkommandos BALTAP und nach angemessener deutscher Beteiligung an dessen Führung. Nach den Erfahrungen des SACEUR mit Kopenhagen war dieses Ziel aber immer noch nicht in einem Zuge erreichbar. Als Zwischenschritt zur Gewöhnung der Dänen an eine künftige integrierte Kommandostruktur wollte Norstad daher »im Notfall« erst einmal die am weitesten fortgeschrittene Frage eines gemeinsamen NATO-Marinekommandos (NAVBALTAP) vorantreiben. Zug um Zug sollte dazu, wie bereits gegenüber Heusinger angekündigt, der noch amtierende britische Befehlshaber nach seiner Zurruhesetzung durch einen Dänen und dieser schließlich in der endgültigen Lösung durch den deutschen Flottenchef als Befehlshaber des stärksten Mari60

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WBK I/G 3: »Vorschlag für Aufbau einer die NATO-Streitkräfte ergänzenden Heimatverteidigung«, 1.9.1959, ebd., BH 25/171 (Hervorhebungen - Unterstreichungen - im Original). Fü Β III 5 an Kommando der Territorialen Verteidigung betr. Aufstellung einer Landeswehr, 1.2.1960, ebd. Sprechzettel für ein Gespräch Strauß - Norstad sowie die skeptische Stellungnahme Fü M, 17.10,1959, Oktober 1959, ebd., BW 2/1799.

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nekontingents in der Region abgelöst werden. Bei den Landstreitkräften war ein kontinuierlicher Wechsel zwischen einem deutschen und einem dänischen Befehlshaber angestrebt. Um fortbestehende öffentliche Vorbehalte dagegen in Dänemark abzubauen, sollte mit einem Dänen begonnen werden. Norstad bat seinen deutschen Gast aber dringend, den »Gesamtkomplex diplomatisch zu behandeln, da politisch sehr delikat« 63 . Strauß ließ daher über den Generalinspekteur die Weisung ausgeben, dass weitere öffentliche Erörterungen über die BALTAP-Fragen »der Sache nicht dienlich« und deshalb gegenüber ausländischen Offizieren und Journalisten »nicht zu behandeln« seien 64 . Norstad setzte das Thema dann auf die Tagesordnung seines nächsten Besuches in Kopenhagen im Mai 1960, wobei er jetzt sogar gute Aussichten dafür sah, nach dem Abgang des derzeitigen britischen Befehlshabers von NAVBALTAP schon 1960 den deutschen Flottenchef als dessen Nachfolger durchsetzen zu können 65 . Bei der zwischenzeitlichen NATO-Stabsrahmenübung MAIN QUEST (1.-3. Dezemberl959) konnte immerhin bereits ein deutsch-dänisches Hauptquartier unter Führung des dänischen Korpskommandeurs auf Jütland und dem Kommandeur WBK I als dessen Stellvertreter erprobt werden. Unverändert distanziert zeigte sich die dänische Seite aber gegenüber der deutschen Auffassung, daraus nunmehr dauerhaft ein gemeinsames deutsch-dänisches NATO-Kommando für die gesamte cimbrische Halbinsel zu machen. Die Dänen bestanden vielmehr auf der weiteren Trennung von Nord- und Mitteljütland unter einer dänischen und Schleswig-Holstein unter einer deutschen Kommandobehörde, die lediglich über einen darüber angesiedelten NATO-Stab koordiniert werden sollten. Für die deutschen Mitspieler an der Übung nährte das den Verdacht, dass die Dänen ihre Verbände letztlich für die vorrangige Sicherung ihres eigenen Territorium zurückbehalten wollten und deshalb nicht bereit waren, diese von Anfang an zu gemeinsamer Abwehr nach Süden vorzuschieben 66 . Im Mai 1960 versuchten die beiden nationalen Kommandeure der Landstreitkräfte in Dänemark und Schleswig-Holstein militärisch einen Schritt weiterzukommen, als sie für den Raum Südjütland-Schleswig-Holstein ein zu je 50 % aus dänischen und deutschen Verbänden bestehendes Alliiertes Korps unter dem Befehl des COMLANDDENMARK vorschlugen. Das Korps sollte bereits im Frieden zusammengestellt und im Herbst dieses Jahres erstmalig übungsmäßig erprobt werden. Nicht zu lösen war für einen derartigen Großverband allerdings die inzwischen allgemein in der NATO vorgenommene Ausstattung mit taktischen Atomwaffen, die aus Sicht von AFNORTH allein geeignet gewesen wäre, die erhebliche Unterlegenheit an Präsenzstreitkräften auf Jütland auszugleichen. Zwar war auch für die 6. PzGrenDiv bereits die Aufstellung eines dazu erforderlichen HONEST-JOHN-Bataillons eingeleitet, wäh63 64 65

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Gedächtnisprotokoll der Besprechung Strauß - Norstad, 20.11.1959, ebd. Rundschreiben GenlnspBw, 15.1.1960, ebd., BH 1/98, Nr. 91. Notiz Fü Β III 1 über Anruf NMR, BG von Butler, 19.4.1960, und Vermerk zu einem anschließenden Gespräch Strauß - Norstad, 29.4.1960, ebd., BW 2/20064. Übungsbericht Fü Η II, Oberst i.G. Kleyser, 19.1.1960, ebd., BH 1/98, Nr. 105.

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rend Fü Μ für seine ab 1963 mit der F 104 G als atomaren Trägermittel ausgestatteten Marinefliegerkräfte ebenfalls den Einsatz von Atomwaffen gegen gegnerische amphibische Anlandungen anzuplanen begonnen hatte. Als dazu nötiges einsatznahes Lager für Sondermunition war jedoch mit dem Standort Kellinghusen in Schleswig-Holstein lediglich eine entsprechende Versorgung mit Atomwaffen auf deutschem Boden, nicht aber auch in der Tiefe des Raumes im dänischen Nordjütland vorgesehen, da sich die beiden skandinavischen NATO-Mitglieder Norwegen und Dänemark der Stationierung nuklearer Waffen auf, wie deren Einsatz von ihren Territorien aus strikt verweigerten 67 . Die NATO-Herbstübungen 1960 erbrachten denn auch das schon bekannte Bild: AFNORTH monierte die Führungsprobleme auf Jütland, wo man erst im Einsatz neben dem für die Verteidigung der dänischen Inseln verantwortlichen rein dänischen Kommandostab (LANDDENMARK) zusätzlich für Jütland und Schleswig-Holstein ein aus deutschen und dänischen Verbänden bestehendes »Allied Corps« zusammenstellen konnte, da die fortdauernden politischen Vorbehalte ein eingearbeitetes »unified command« schon im Frieden nicht zugelassen hatten. Noch unbefriedigender hatten sich die operativen Abläufe gestaltet. Der Mangel an rechtzeitig verfügbaren Truppen hatte eine Aufnahme der Verteidigung erst zwischen Eider und Schlei zugelassen. Die Unterlegenheit der NATO-Verbände war zudem nur verspätet durch den Einsatz taktischer Atomwaffen auszugleichen gewesen, da dies aus den genannten Gründen allein von SACLANT und seiner Trägerflotte im Nordatlantik aus geschehen konnte. Der Führungsstab des Heeres erklärte eine derart weit zurückgenommene Gefechtsführung auf deutschem Boden im Nachhinein als »politisch untragbar« und forderte für die Zukunft eine »ernsthafte Kampfaufnahme ab Elbe-TraveKanal«, da man schließlich nicht kampflos den ganzen Süden SchleswigHolsteins preisgeben könne. Ob man dabei mit den jeweils vorhanden Kräften wirklich »verteidigen« oder lediglich »verzögern« konnte, »entscheidet der Feind und nicht der Operationsbefehl von CLD [= COMLANDDENMARK]«68. Bei der 6. PzGrenDiv versuchte man aus der Not der vorerst nicht zu lösenden Kommandoprobleme Ende 1960 eine Tugend zu machen. Da dänische Verbände schwerlich über die Schlei nach Süden zu bekommen sein würden, waren die deutschen Verbände bei der Verteidigung von Schleswig-Holstein bis auf weiteres auf sich allein gestellt. Das machte sie andererseits aber auch in ihren Absichten einer »nachhaltigeren Landesverteidigung« des eigenen Einsatzraumes und bei der Schaffung einer effizienten nationalen Kommando67

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Zu den Verhandlungen zwischen COMLANDDENMARK u n d Schleswig-Holstein in Kopenhagen am 9-/10.5.: Bericht BG Spitzer, 20.5.1960, ebd., Nr. 85; zur Frage taktischer Atomwaffen: Protokoll der Besprechung zwischen AFNORTH u n d Fü Β am 10.5., 16.5.1960, ebd., BH 1/98 i. Zur Haltung Dänemarks u n d Norwegens betr. Atomwaffen: Petersen, Dänemark, S. 122-126 und Tamnes, The Strategie Importance, S. 271-273. Kurzbericht COMLANDSCHLESWIG-HOLSTEIN zur Übung HOLD FAST mit Randbemerkungen Fü H, 4.10., ebd., Nr. 124, sowie Bericht Stab für NATO-Übungen, 14.12.1960, ebd., BW 2/2622.

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struktur unabhängiger. Deshalb forderte das Divisionskommando in Neumünster den Ausbau der deutschen Verbände zu einem eigenständigen Korps, das im Einsatzfalle auch auf die territorialen Kräfte des WBK I zurückgreifen konnte. Anstelle der in Kiel vorgeschlagenen grenznahen »Landeswehr« wollte man in Neumünster jedoch das aufwachsende Reservistenpotenzial des Landes ab 1962 zu einer Reservedivision des Heeres zusammenfassen, um damit über eine schnelle Alarmierung und Mobilisierung die zur Vorwärtsverteidigung entlang des Elbe-Trave-Kanals erforderlichen Streitkräfte unmittelbar verfügbar zu haben69. Ob sich eine so weitgehende Vergrößerung der Bundeswehr in Schleswig-Holstein personell und materiell überhaupt realisieren ließ, war freilich eher zweifelhaft, musste man dazu doch seitens der Bundeswehrführung entsprechende Korpstruppen und die nötige Bewaffnung und Ausrüstung für die geforderte zusätzliche Reservedivision bereitstellen, was nach Lage der Dinge nur aus den Beständen des I. Korps abgezweigt werden konnte. In der kostenintensiven Phase einer nuklearen Umrüstung der Bundeswehr waren nämlich die Mittel zur Neuaufstellung von Heeresverbänden kaum freizubekommen. Das davon betroffene Korps in Münster war andererseits vollauf damit beschäftigt, die eigenen Divisionen für die vorrangige Verteidigung der norddeutschen Tiefebene aufzustellen und damit die schrittweise Truppenausdünnung bei der britischen Rheinarmee aufzufangen. Schon im Frühjahr 1962 mussten die Pläne einer Erweiterung der 6. PzGrenDiv zu einem Korps jedenfalls drastisch reduziert werden: die Aufstellung eines zweiten Divisionsstabes für eine Reservedivision wurde aufgegeben; an Korpstruppen in verkleinertem Maßstab war frühestens ab Frühjahr 1963 zu denken; als echte Verstärkung sollte Ende 1963 immerhin mit der Aufstellung einer vierten Kampfbrigade bei der 6. PzGrenDiv begonnen werden; zur Küstensicherung gegen amphibische Landungen waren fünf Küstenwachverbände als Mob-Verbände geplant 70 . Im Herbst 1961 gelang es SHAPE endlich, einen Durchbruch bei der Frage einer einheitlichen Kommandostruktur zu erzielen und dazu auch beim Military Committee die Unterstützung für die Dringlichkeit einer baldigen Lösung zu erwirken 71 . Zum 1. April 1962 konnte Fü Β daraufhin nach Zustimmung der Regierungen in Bonn und Kopenhagen die nunmehr von SACEUR verfügte neue Kommandoregelung für den Ostseeraum bekannt geben. Mit Wirkung vom 1. Juli 1962 wurde danach ein einheitliches Ν ΑΤΟ-Kommando Ostseeausgänge (BALTAP; Sitz: Karup) mit den ihm unterstellten Hauptquartieren für die Land- (LANDJUT; Sitz: Rendsburg), Luft- (AIRBALTAP; Sitz: Karup) und Seestreitkräfte (NAVBALTAP; Sitz: Kiel-Holtenau) eingerichtet. 69

70

71

Stellungnahmen KG I. Korps und FÜ Η II zur Studie Kdr 6. PzGrenDiv zur Frage der Landesverteidigung, 2. bzw. 11.1.1961, ebd., BH 1/99 c. Stellungnahme Fü Η bei AFNORTH-Besprechung in Oslo am 12./13.4., 10.4.1962, ebd., BW 2/2543. Protokoll der Sitzung bei SHAPE am 8.9.1961 einschließlich Ergebnisbericht sowie MC 43/10: Bericht über die NATO-Herbstübungen 1960, 26.10.1961, ebd., BH 1/99 bzw. IMS CD 010.

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Zweiter Teil: Aufbau der Bundeswehr und modifizierte atomare Abwehrplanung

Kommandobereiche an den Ostseeausgängen

Quelle: Marine-Rundschau (1984), H. 2, S. 51.

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Der Befehlshaber des Gesamtkommandos war ein Däne, sein Stellvertreter ein Deutscher und die Position Chef des Stabes würde zwischen Dänen und Deutschen wechseln. Die Kommandeure der unterstellten Hauptquartiere würden turnusmäßig zwischen dänischen und deutschen Offizieren rotieren72. Beim Besuch des Oberbefehlshabers AFNORTH im Wehrbereich I fanden auch die deutschen Vorstellungen für eine Vorwärtsverteidigung am Elbe-Trave-Kanal Zustimmung. Über deren Verstärkung durch dänische Truppen äußerte sich General Sir Harold Pyman freilich nach wie vor skeptisch, da er sie gegen die Gefahren von Luftlande- und amphibischen Landungsunternehmen im dänischen Jütland für unverzichtbar hielt73. Noch ein Jahr später stieß auch der neue deutsche Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel mit seinem Vorschlag für gemeinsame deutsch-dänische Übungen beiderseits der Grenze in Kopenhagen immer noch auf ein »zu früh«. Dagegen signalisierte die dänische Regierung nunmehr, dass man mit positiven Ergebnissen bei den Verhandlungen über eine Öffnung der dänischen Grenze für deutsche Flüchtlinge im Kriegsfalle und für die Errichtung deutscher Sani-

72

73

Rundschreiben Fü Β III 2: Kommandostruktur im Ostseeraum, 27.3.1962, ebd., BW 2/2543; vgl. dazu auch Pedlow, The Politics of NATO Command, S. 40. Bericht WBK I zum Besuch CINCNORTH am 11.-14.7., 25.7.1962, BA-MA, BW 2/2546.

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tätsdepots auf dänischem Boden rechnen durfte 74 . Bei allen Fortschritten in der Kommandofrage waren sich aber der für die Ostseeausgänge weiterhin zuständige Oberbefehlshaber AFNORTH und die deutschen Sicherheitsexperten im Verteidigungsausschuss auch im Sommer/Herbst 1963 weiterhin darin einig, dass diese neuralgische Region immer noch zu den schwächsten Stellen einer NATO-Verteidigung in Mitteleuropa zählte, da die einsetzbaren Verbände zu schwach waren und die deutsch-dänische militärische Zusammenarbeit weiterhin erhebliche Lücken aufwies 75 . In den folgenden Jahren bewegten sich zwar Sicherheitspolitiker und Soldaten beider Seiten in der Frage einer schon im Süden Schleswig-Holsteins aufzunehmende Verteidigung mit Unterstützung dänischer Truppen weiter aufeinander zu. Noch 1965 musste sich der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Ulrich de Maiziere, jedoch eingestehen, dass sich die dänischen Soldaten bei allem guten Willen zur Zusammenarbeit nicht im erforderlichen Maße über die politischen und psychologischen Vorbehalte in Regierung und Öffentlichkeit hinwegsetzen könnten. Die dänische JütlandDivision werde daher im Einsatzfall erst so spät dem operativen Kommando der NATO unterstellt, dass sie nicht mehr rechtzeitig zu einer Verstärkung der Vorwärtsverteidigung am Elbe-Trave-Kanal eintreffen könne. Die dänische Artillerie sei außerdem zwar nach ihrer Ausstattung atomfähig, werde aber wegen der strikten dänischen Ablehnung des Einsatzes von Atomwaffen »niemals atomar einsatzbereit« sein. Doch auch das deutsche Heer könne die für erforderlich gehaltenen zwei Divisionen zu einer Verteidigung SchleswigHolsteins nicht verfügbar machen. Man werde lediglich an der Zusage zu einer Verstärkung der 6. PzGrenDiv um eine Brigade festhalten 76 . Damit waren wohl bis Ende der sechziger Jahre die operativen Bedingungen für eine maritime Sicherung der dänischen Meerengen über die Fortschritte beim Aufbau der deutschen Marine und ihrer anteiligen Luftwaffenkomponente schrittweise zu verbessern; die Vorneverteidigung auf der cimbrischen Halbinsel zu Lande blieb dagegen weiterhin mit erheblichen Unwägbarkeiten behaftet.

74 75

76

Fü Β III 8 betr. Ministerbesuch in Kopenhagen, 25.6.1963, ebd., BW 3/3. Fü Β III 8 betr. Besprechung Minister von Hassel - CINCNORTH Pyman am 27.6. in Kiel, 10.7.1963, ebd., sowie Aussprache über die Marineplanung im Verteidigungsausschuss, 23.10.1963, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 3. Wahlperiode, 60. Sitzung. Ergebnisprotokoll über die Besprechung der Verteidigungsminister von Hassel und Gram am 10.3.1965 in Bonn sowie Schreiben InspH, GL de Maiziere, an Deputy COMBALTAP, GL von Hobe, 30.3.1965, BA-MA, BW 3/3.

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2. Die Sicherung der Südflanke und das Problem der neutralen Nachbarn Wie kompliziert sich auch immer die Gestaltung der Kommandofrage an der Nordflanke Mitteleuropas gestaltete, bei einiger politischer Geduld war sie immerhin im Bündnisrahmen zu regeln. Im Süden ließ dagegen der Neutralitätsstatus der beiden Alpenrepubliken Österreich und Schweiz keine derart weitgehenden militärischen Absprachen schon im Frieden zu, wie sie von den NATO-Planern für die Organisation einer durchgehenden Abwehrfront in Mitteleuropa für zweckmäßig erachtet wurden. Wohl hatte der britische Oberbefehlshaber des Brüsseler Paktes, Field Marshal Bernard L. Montgomery, bereits an der Jahreswende 1948/49 erste Vorstöße unternommen, um die Schweiz analog zu den Benelux-Staaten aus ihrer bisherigen Neutralität herauszulösen und in den militärischen Schutz der aufwachsenden Westunion einzubinden. Für das westliche Bündnis würde dies Verstärkung in dreifacher Hinsicht bedeutet haben. Geostrategisch ließ sich damit (1) ein Ausflankieren der Rheinfront an ihrem südlichen Ende über die Nordschweiz unterbinden; außerdem war über die Schweizer Alpenpässe (2) die kürzeste Verbindung zwischen dem Oberrheingebiet und der Po-Ebene herzustellen; und schließlich würde (3) die vom Weltkrieg am wenigsten beeinträchtigte Schweiz rüstungswirtschaftlich wie personell einen nicht unbeträchtlichen Streitkräftebeitrag einbringen 77 . In einer zeitgleichen Studie Heusingers wie in der Himmeroder Denkschrift erschien 1949/50 deshalb auch den künftigen deutschen Militärplanern die Teilnahme der personalstarken und hochmotivierten Schweizerischen Armee an einer integrierten Verteidigung Westeuropas nachgerade selbstverständlich 78 . Im Schweizerischen Generalstab gab man sich zwar ebenfalls keinen Illusionen darüber hin, dass die Unversehrtheit des eigenen Territoriums in einem neuerlichen europäischen Krieg schwerlich auf sich allein gestellt zu wahren sein würde. Auf die Avancen des Brüsseler Paktes reagierte man in Bern dennoch mit unüberhörbarer Skepsis, da man aus dessen militärischer Schwäche mehr Nachteile als Nutzen für die eigene Sicherheit ableitete. Aus den Erfahrungen zweier Weltkriege, die auf breiten Rückhalt in Regierung und Öffentlichkeit bauen konnten, ließ man Montgomery vielmehr ohne alle diplomatischen Umwege wissen, dass man »nicht die mindeste Lust [habe], uns durch Aufgabe der Neutralität einen Kriegführenden auf den Hals zu ziehen [...] von irgendwelchen Bindungen auf lange Sicht könne nicht die Rede sein«. Sollte sich dies unter Kriegsbedingungen ändern, könne eine dann notwendig wer77

78

Zu den Diskussionen u m eine Anbindung der Schweiz an den Brüsseler Pakt: Thoß, Geostrategie, S. 184 f. sowie Mantovani, Schweizerische Sicherheitspolitik, S. 95-100. Heusingers Studie »Die Bedeutung des Alpengebietes im Fall eines kriegerischen OstWest-Konfliktes« v o m Frühjahr 1949 ist eingehend vorgestellt bei Meyer, Adolf Heusinger, S. 371 f.; vgl. auch Rautenberg/Wiggershaus, Die »Himmeroder Denkschrift«, S. 41.

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dende militärische Zusammenarbeit mit dem westlichen Bündnis »nur die Frucht des Augenblicks« sein79. Vorsicht schien den Schweizern auch in Erinnerung an den zurückliegenden Krieg angeraten, als der Wehrmacht während ihres Vorstoßes nach Frankreich 1940 in La Charite-sur-Loire die Unterlagen über französisch-schweizerische Generalstabsabsprachen aus der Vorkriegszeit für den Fall eines deutschen Angriffs auf die Alpenrepublik in die Hände gefallen waren, was Bern in der Folgezeit erhebliches Entgegenkommen an Berlin abverlangt hatte80. Diese politisch-psychologischen Vorbehalte blieben auch dann noch dominant in der politischen Öffentlichkeit der Schweiz, als sich nach dem Hinzutreten der USA die westliche Sicherheitsgemeinschaft transatlantisch ausweitete. Wohl positionierten sein ausgeprägter Antikommunismus und seine enge wirtschaftliche Verflechtung das Land politisch, ökonomisch und ideologisch klar an der Seite des Westens. Daneben verwiesen die selbst gesteckten Ziele einer Modernisierung der Streitkräfte und ihrer logistischen Absicherung im Verteidigungsfalle Bern auf enge rüstungstechnologische Zusammenarbeit zu wechselseitigem Nutzen mit den führenden NATO-Staaten USA, Großbritannien und Frankreich, ab 1955 auch wieder in zunehmendem Maße mit dem früheren deutschen Rüstungspartner 81 , im Gegensatz zu dieser engen Rüstungskooperation mit dem Westen hatte sich die Schweiz frühzeitig westlichem Druck gebeugt und das von den USA initiierte Embargo einer Lieferung so genannter strategischer Güter an kommunistische Staaten (Cocom-Liste) akzeptiert 82 . Jenseits von quellenmäßig noch schwer zu greifenden inoffiziellen Kontakten zur NATO selbst oder einzelnen Mitgliedstaaten blieb Bern aber militärisch - sieht man einmal von einer begrenzten Koordination bei der Luftraumverteidigung ab83 - nach derzeitigem Kenntnisstand doch während des gesamten Kalten Krieges seiner grundsätzlichen Linie strikter bewaffneter Neutralität treu. Ob dies auch im Falle eines europäischen Krieges durchzuhalten sein würde, wurde von der Entwicklung der eigenen Bedrohungseinschätzung und der konkreten militärischen Lage abhängig gemacht84. Darauf stellten sich im Übrigen im Unterschied zu ihren Generalstäben frühzeitig auch die westlichen 79

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81 82

83 84

Bericht des Ausbildungschefs der Schweizerischen Armee, Frick, über sein Gespräch mit dem britischen Militärattache in Bern zur Vorbereitung eines von Montgomery erbetenen Gesprächs mit dem Schweizerischen Generalstabschef, 20.12.1948, Diplomatische Dokumente der Schweiz, 17, S. 334-337; vgl. auch Aufzeichnung über die vertrauliche Unterredung Montgomerys mit dem Schweizerischen Generalstabschef Montmollin am 30.1.1949, ebd., S. 355-362. Geradezu von einem »syndrome de la Charite-sur-Loire« in der schweizerischen Sicherheitspolitik sprechen daher Stoeckli/Weck, Preparatifs de defense, S. 120 f. Dazu durchgängig Mantovani, Schweizerische Sicherheitspolitik und Thoß, Geostrategie. Adler-Karlsson, Western Economic Warfare, S. 6, 51 und 74-76 sowie Cerutti, La Suisse, S. 325-332. Vgl. Mantovani, Die Schweiz und die NATO, S. 214-216. Vgl. dazu allgemein Kurz, Bewaffnete Neutralität sowie auf die Beziehungen zur NATO bezogen Fuhrer, Das Phänomen des Alleingangs.

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Diplomaten ein, die schon in der Gründungsphase der westlichen Sicherheitsgemeinschaft erfolgreich dafür plädierten, den politisch-psychologischen Befindlichkeiten aus einem traditionellen Neutralitätsdenken in der Schweiz Rechnung zu tragen. Für den Westen war es aus dieser Sicht letztlich ausreichend, dass Bern aus seinem eigenen Sicherheitsinteresse und der hohen Verteidigungsmotivation seiner Bevölkerung heraus mehr als respektable Opfer für Rüstungszwecke erbrachte. Ein solcher indirekter »halber Verbündeter« war allemal ein wirksamerer Garant für eine einigermaßen verlässliche Sicherung dieses geostrategischen Ubergangsraumes zwischen Mittel- und Südeuropa als ein zur Fahne gepresster voller Bündnispartner 85 . Bis 1955 war dieser sicherheitspolitische Kurs im Übrigen auch ein Stück weit durch die Stationierung westlicher Besatzungstruppen auf den Territorien des östlichen (Österreich) und des nördlichen Nachbarn (Westdeutschland) abgesichert, die damit gleichsam wie militärische Puffer zwischen der Schweiz und einem potenziellen Angreifer aus dem Osten lagen. Mit dem Bündnisbeitritt der Bundesrepublik und dem Aufwachsen eines einsatzfähigen deutschen NATO-Kontingents war sogar zu erwarten, dass sich die militärischen Verhältnisse für die Schweiz an ihrer Nordgrenze weiter stabilisierten, würde sich damit doch auch die Verteidigungslinie des westlichen Bündnisses schrittweise vom Rhein zur deutsch-tschechischen Grenze hin vorschieben lassen. Mit erheblicher Skepsis begleitete man dagegen in Bern ähnlich wie in Bonn und bei der NATO eine andere Veränderung in der mitteleuropäischen Sicherheitsarchitektur, wie sie der Abschluss des österreichischen Staatsvertrages im Mai 1955 mit sich brachte. Wohl hatten alle Vertragspartner mit der Festlegung Österreichs auf den Status einer bewaffneten Neutralität analog zum Schweizer Vorbild dafür gesorgt, dass daraus kein militärisches Vakuum in Mitteleuropa entstand 86 . Würde es Wien von nun an durch eigene substanzielle Verteidigungsanstrengungen gewährleisten können, dass die territoriale Unversehrtheit des Landes im Falle eines europäischen Krieges respektiert wurde, dann konnte dies geostrategischen Nutzen für alle seine Anrainer erbringen. Für die östliche Seite schob sich damit nämlich ein neutraler Riegel vom Neusiedler See bis zum Schweizer Jura zwischen die NATO-Verteidigungsbereiche Mitte und Süd, der die militärische Koordination zwischen Süddeutschland und Norditalien auf So die überzeugende Bewertung westlicher Diplomatenberichte bei Mantovani, Schweizerische Sicherheitspolitik, S. 40-42. Entsprechende Empfehlungen zogen sich auch durchgängig durch die fortgeschriebenen Positionspapiere des Policy Planning Staffs »The Position of the United States with Respect to Switzerland« vom 17.8.1950 bzw. 7. u n d 20.11.1951, FRUS, 1950, vol. 3, S. 1584-1587 bzw. 1951, vol. 4, S. 874-886. Der österreichische Bundeskanzler Raab hatte diese Forderung des sowjetischen Außenministers Molotov, die auf einer Erklärung seines amerikanischen Kollegen Dulles von 1954 basierte, bei den Moskauer Staatsvertragsverhandlungen vom April 1955 akzeptiert: Stourzh, U m Einheit u n d Freiheit, S. 433-435. Und Dulles sollte im Gespräch mit Raab bei der Unterzeichnung des Staatsvertrags in Wien nochmals nachdrücklich unterstreichen, wie wichtig es für ihn war, »that Austria was aiming at an armed neutrality«, 13.5.1955, FRUS, 1955-1957, vol. 5, S. 109.

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Bündnispolitische Lage um den Alpenraum 1955 λ

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Adriatisches ν Meer MITTELMEER

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05025-03

den langen Umweg über Ostfrankreich verwies. Bei ihrem notorischen Streitkräftemangel würden trotz dieses Nachteils die Nutzeffekte aber auch für die NATO überwiegen, verkürzte sich im Falle einer gesicherten österreichischen Neutralität doch die durch NATO-Truppen unmittelbar zu verteidigende Frontlänge in der Bundesrepublik um die gesamte Inn-Salzach-Linie. Außerdem waren damit die österreichischen Alpenpässe als mögliche Einbruchsteilen nach Norditalien gesichert 87 . Genau darin lagen freilich zugleich die unübersehbaren militärischen Risiken für die Verteidigungsplanungen der NATO in Süddeutschland und Norditalien. Bisher hatten - wenn auch klein gehaltene - amerikanische, britische und französische Besatzungskontingente den österreichischen Alpenraum und das Donautal gleichsam als Glacis vor den NATO-Verteidigungslinien überwacht. Jetzt war man dagegen darauf angewiesen, dass Österreich selbst durch hinreichende Verteidigungsanstrengungen beiden Bündnissystemen in Europa Flankenschutz in dem militärisch sonst nur unzureichend gesicherten Übergangsraum zwischen Ost und West zu garantieren vermochte. Eben daran krankte es Eingehende Analysen dazu in den Beiträgen von Hannes-Christian Clausen und Franz Freistetter in: Schild ohne Schwert, S. 9 - 6 0 .

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jedoch nach Einschätzung der NATO, aber auch der österreichischen Sicherheitsexperten selbst, da die dazu erforderlichen militärischen Mittel noch auf Jahre hinaus von Wien nicht aufzubringen waren. Seine Verteidigungspläne schwankten somit zwischen einer streitkräftemäßig nicht darzustellenden Verteidigung des Gesamtraumes und einem Rückzug auf den Alpenraum als leichter zu haltendem Reduit88. Schon unmittelbar vor dem Durchbruch bei den Verhandlungen in Moskau um einen Staatsvertrag waren sich SHAPE und die militärischen Verantwortlichen für den Aufbau der Bundeswehr deshalb in der Sorge einig, dass Österreich im Kriegsfalle wegen seiner vorhersehbaren militärischen Schwäche »zur Operationsbasis gegen Süddeutschland, Italien und den Mittelmeerraum« werden konnte89. Nach Abschluss des österreichischen Staatsvertrages im Mai 1955 sah man sich daher in den politischen und militärischen Gremien der NATO mit Fragen nach den daraus für das Bündnis zu ziehenden Folgerungen konfrontiert. Die U.S.-Stabschefs reagierten zunächst einmal mit relativer Gelassenheit, da sich aus ihrer Sicht militärische Vor- und Nachteile einigermaßen die Waage hielten. Die Sowjets hätten bisher in Ostösterreich immerhin zwei Heeresdivisionen und eine halbe Luftarmee in strategisch vorgeschobener Position stationiert gehabt, die sie nunmehr nach Osten rückverlegen müssten. Da dies in den Verträgen mit Ungarn und Rumänien auch als Begründung für die Stationierung sowjetischer Truppen in diesen beiden Ländern gedient hatte, konnte sich daraus für den Westen eigentlich sogar die noch weit günstigere Perspektive ihrer Rückführung auf das Gebiet der Sowjetunion selbst ergeben. Davon gingen die JCS freilich nicht aus, da Moskau aus dem inzwischen abgeschlossenen Warschauer Vertrag allemal die Handhabe ableiten konnte, seine aus Österreich abziehenden Verbände nunmehr als Bündniskontingente auf ungarischem bzw. rumänischem Territorium zu belassen90. Und das tat man denn auch. Generelle Veränderungen in dem Kräfteverhältnis zwischen Ost und West leiteten die Stabschefs in Washington daher aus dem österreichischen Staatsvertrag nicht ab. Lediglich für Norditalien sahen sie gewisse Nachteile voraus, da Briten und Amerikaner mit ihrem Abzug aus Österreich dieses Vorfeld für eine Verteidigung der Alpenübergänge räumen und damit einem unter Missachtung der österreichischen Neutralität überraschend nach Süden vorstoßenden Gegner die Initiative überlassen mussten. Außerdem würden natürlich auch die westlichen Frühwarnsysteme gegen sowjetische Luftangriffe auf Nord-

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Zu den operativen Vorstellungen im österreichischen Bundesheer und den Grenzen seiner Umsetzung zwischen 1955 und 1970 vgl. den Beitrag von Otto Heller in: ebd., S. 69-86. Gespräch Speidels mit dem Chef des Stabes bei SHAPE, General Schuyler, 20.4.1955, BAMA, BW 9/2884, Bl. 44. Bericht des Joint Intelligence Committee »Military Consequences of the Austrian Treaty«, 8.7.1955, NA, RG 218, Geographical File, box 54, CCS 092 Western Europe (3-12-48), sect. 22.

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italien nach Süden zurückgenommen werden müssen 91 . Um dem zu begegnen, schlugen die Stabschefs mit Unterstützung des SACEUR einen Abzug der amerikanischen Verbände aus Österreich nach Norditalien und ihren Ausbau zu einer mit taktischen Atomwaffen verstärkten »special weapons task force« vor. Daraus entstand bis Herbst 1955 die Southern European Task Force (SETAF) in Stärke von 5000 Mann, und ausgerüstet mit den für den Einsatz taktischer Atomwaffen erforderlichen Trägersystemen CORPORAL und HONEST JOHN, die dem SACEUR als gleichzeitigem Oberbefehlshaber der U.S.-Truppen in Europa (USCINCEUR) unmittelbar unterstellt war. Sie sollte von ihren norditalienischen Basen aus die Zugänge in die Po-Ebene aus Richtung Villach und Ljubljana überwachen und den Kampf der italienischen NATO-Verbände um die Alpenübergänge unterstützen 92 . Zusätzliche nukleare Verstärkung für die SETAF war außerdem von den Flugzeugträgern der 6. (US) Flotte aus dem Mittelmeer vorgesehen. Sie hatten ähnlich wie die Trägerflotte von SACLANT an den Ostseezugängen zusätzlichen atomaren Rückhalt für die NATO-Verteidigung im Bereich AFSOUTH allgemein wie an den Alpenübergängen als Einfallpforten zum Mittelmeer zu übernehmen 93 . Unter den Bedingungen einer nuklearisierten Bündnisstrategie hieß dies im Klartext, dass die NATO sich für die Verteidigung Mitteleuropas an dessen Südflanke auf zwei Optionen einstellte. Respektierte der Warschauer Pakt die Neutralität Österreichs, so bedeutete dies in Norditalien wie in Süddeutschland im Falle eines europäischen Krieges für die eigene Verteidigungsführung eine erhebliche Entlastung, da beide Räume darin durch das österreichische Vorfeld abgesichert waren. Suchte der Gegner dagegen gerade die Truppenschwäche in den beiden Räumen durch einen schnellen Durchstoß durch österreichisches Gebiet operativ auszunutzen, dann würden auch für das westliche Bündnis die Rücksichten auf die österreichische Neutralität hinfällig werden. Am weitesten ging dabei der italienische Verteidigungsminister Paolo Taviani, wenn er im Falle eines Angriffs von Truppen des Warschauer Paktes auf Österreich empfahl, darin zumindest dessen Alpenregionen gegen einen Vorstoß nach Süden abzuriegeln »by blocking the valleys with atomic bombs«94. Ob, ab wann und mit welcher Intensität die NATO in einem solchen Falle mangels hinreichender Streitkräfte in ihren beiden bedrohten Regionen derartige Durchstöße durch den Einsatz taktischer Atomwaffen bereits auf dem Vorfeld ihrer Verteidi91

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Einschätzung der Lage durch JCS, die über U.S. Military Representative dem NATO-Rat vorgetragen wurde, 17.8.1955, ebd., sect. 28. Memorandum Chairman JCS über die Chronologie der Abläufe, 30.8.1955, ebd., sect. 30. Zum Vorschlag der JCS betr. SETAF vom 25.5. und seine Realisierung bis 25.10.1955: The History of the Joint Chiefs of Staff, vol. 6, S. I l l ; zu Gliederung und Ausrüstung dieses Prototyps einer Pentomic Division: Buchholz, Strategische und militärpolitische Diskussionen, S. 88-90; zur Unterstützung durch den SACEUR: Statement seines Verbindungsoffiziers zur Standing Group, 6.7.1955, NISCA, C-M (55) 64. Vortrag SACEUR vor den NATO-Verteidigungsministern, 11.10.1955, NISCA, CR (55) 43. Zit. nach Bischof, The Anglo-American Powers, S. 391.

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gungsräume, also auf österreichischem Territorium nuklear zu stoppen versuchen würde, hing jedenfalls wesentlich von der Fähigkeit des österreichischen Bundesheeres ab, solche Angriffe zunächst aus eigener Kraft zu verzögern und sie im weiteren Verlauf der Operationen möglichst noch vor den Verteidigungslinien der NATO im Verein mit herangeführten westlichen Verstärkungen zum Stehen zu bringen. Einsatzfähige Bundeswehrverbände in Süddeutschland waren nämlich noch auf Jahre hinaus Mangelware. Und die 1. (FR) Armee, die in einem solchen Falle die Deckung der nur schwach von amerikanischen, später deutschen Aufklärungskräften überwachten Inn-Salzach-Linie zu übernehmen hatte, war nach ihrer kontinuierlichen Ausdünnung durch Truppenabzüge nach Nordafrika kaum in der Lage, ihren NATO-Einsatzauftrag so weit ostwärts des Rheins und mit ihren verbliebenen, völlig unzureichenden Kräften zu erfüllen95. In Washington und London war freilich auch klar, dass das strukturschwache und durch finanzielle Auflagen aus dem Staatsvertrag zusätzlich belastete Osterreich zu einer ausreichenden Aufrüstung aus eigener Kraft schwerlich in der Lage sein würde. Bei einer Güterabwägung zwischen den wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Stabilisierungszielen Wiens waren sich Foreign Office und britischer Stabschef daher einig, dass es unter den Bedingungen des Kalten Krieges für den Westen vorrangiger sein musste, den in die Unabhängigkeit entlassenen Österreichern Spielraum für die Lösung ihrer strukturellen und ökonomischen Probleme zu lassen und dafür eher vertretbare militärische Risiken in Kauf zu nehmen. Grundsätzlich erschien es zwar »desirable to the West for Austria to have forces enough to impose delay upon a Soviet advance, [but] she will be unable to produce such forces«. Da man im Übrigen die Sicherheit des Landes vor dem Hintergrund seiner ökonomischen Probleme eher von innen als von außen bedroht sah, befürwortete man in London »a small highly mobile army and air force«, die gleichermaßen zum Grenzschutz wie zur Unterstützung der Polizeikräfte im Falle innerer Unruhen geeignet war96. Mit einer so weit zurückgenommenen militärischen Perspektive für künftige österreichische Streitkräfte wollten sich freilich weder der südliche Nachbar Italien, noch die österreichischen Sicherheitspolitiker und Militärplaner von vornherein abfinden. Der für die Behauptung des westlichen Mittelmeerraumes geostrategisch wichtige NATO-Partner Italien hatte sich bis zum Frühjahr 1955 nach Norden durch die in seinem Vorfeld stationierten Besatzungstruppen der Westmächte in Österreich, nach Lösung des Triest-Konflikts und der indirekten Anbindung Jugoslawiens an das westliche Bündnissystem über den Balkanpakt auch nach Osten hin einigermaßen abgesichert geglaubt. Der österreichische 95

96

Bereits Mitte 1955 sah das NATO-Hauptquartier (SHAPE) wegen der Reduzierung der französischen NATO-Verbände um 50 % zugunsten von Französisch-Nordafrika sogar bereits ernsthafte Rückwirkungen auf die Verteidigung der Rhein-Ijssel-Linie voraus, Wampler, Ambiguous Legacy, S. 687. Berichte des Joint Planning Staff, 1.8., bzw. des britischen Botschafters in Wien, 6.10.1955, PRO, DEFE 4/79.

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Staatsvertrag und die sowjetisch-jugoslawische Konfliktbereinigung beim Staatsbesuch der Moskauer Führung in Belgrad hatten aus Sicht der italienischen Verteidigungsplaner dagegen im Mai 1955 die eigenen Verteidigungslinien in den Julischen Alpen und am Isonzo in eine ungleich exponiertere strategische Lage gebracht97. Einer Verbesserung der Situation durch unmittelbare sicherheitspolitische Kooperation Roms mit Wien und Belgrad waren dabei enge Grenzen gesetzt. Tito sicherte zwar weiterhin sein Verbleiben im Balkanpakt zu, entwertete dies aber militärisch dadurch, dass er sich jetzt und in der Zukunft mit Blick auf seine Führungsrolle in der in diesem Frühjahr 1955 in Bandung aus der Taufe gehobenen Bewegung der Blockfreien konsequent allen Versuchen einer engeren Einbindung in die militärischen NATO-Planungen für Südosteuropa verschloss98. Blieb also der Versuch, sich trotz aller Einschränkungen durch den Staatsvertrag auf geheime sicherheitspolitische Kontakte zwischen Rom und Wien einzulassen. Dazu arrangierte der italienische Verteidigungsminister Taviani schon im Herbst 1955 eine als Besuch der Gräber von Freunden getarnte Reise nach Osterreich, bei der er unter anderem auch mit dem Staatssekretär im Bundesministerium für Landesverteidigung, Ferdinand Graf, zu einem ersten sicherheitspolitischen Gedankenaustausch zusammentraf. Beide Seiten hoben auf die labile Sicherheitslage ab, obwohl Wien nach Tavianis Eindruck bereits eingehende Planungen zum Aufbau eines österreichischen Bundesheeres und zur Verstärkung der Sicherheitskräfte im Innern eingeleitet hatte. Sie waren im Übrigen durch amerikanische Ausbildungs- und Ausrüstungshilfen noch vor Abschluss des Staatsvertrages auch schon ein Stück weit vorangebracht. Den weitergehenden Vorstoß des Italieners, dies durch zusätzliche »covert financial assistance« seitens Washington noch wesentlich zu erweitern, nahm der U.S.Botschafter in Wien freilich hinhaltend skeptisch auf. Die Entwicklung der österreichischen Wirtschaft lasse durchaus einen angemessenen selbstfinanzierten Verteidigungsetat Wiens zu, und außerdem werde eine unter Umgehung des Neutralitätsstatus fortgesetzte verdeckte Rüstungshilfe des Westens kaum allzu lange geheim zu halten sein99. Mehr Erfolg hatte Taviani da schon in Washington, wo man zwar vorerst ebenfalls daran festhielt, den sensiblen Übergang Österreichs vom Besatzungszum Neutralitätsstatus nicht zur Unzeit durch geheime Rüstungsabsprachen mit dem Westen zu belasten. Das Interesse an der vom italienischen Verteidigungsminister gesuchten und offenbar bei seinen österreichischen Gesprächspartnern bereits gefundenen Bereitschaft zu »most cooperative in joint ItaloAustrian military planning for defense« begleitete man dagegen seitens des State Department mit ausgesprochener Sympathie100. Zwar bewegten sich diese 97 98 99

100

Nuti, Italy and the Defence, S. 209-212. Braun, Small-State Security, S. 45 f. Bericht der amerikanischen Botschaft Wien an State Department über das Gespräch mit Taviani, 4.11.1955, NA, RG 59, General Decimal File, box 3582, 763.5/11-455. State Department an U.S.-Botschaft Rom, 6.12.1955, ebd., 763.5/12-655.

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ersten italienisch-österreichischen Kontakte noch ausschließlich auf der Ebene rein vertraulicher Gespräche zwischen christdemokratischen Politikern beider Länder, bezogen aber mit General Emil Liebitzky und dem italienischen Generalstabschef Mancinelli auch bereits die beiderseitigen militärischen Chefplaner mit ein, wobei Bundeskanzler Julius Raab um strengste Vertraulichkeit besorgt war. Das entsprach auch ganz den Wünschen der Amerikaner, die derartige Überlegungen bei allem grundsätzlichen Interesse nach wie vor auf der Basis unverbindlicher Vorgespräche gehalten wissen wollten. Sie gaben deshalb Wien »diskret« zu verstehen, dass Taviani nicht im Namen der NATO sprach, vorläufig aber auch SHAPE über das rein Informelle hinaus nicht mit in die Kontakte einzubeziehen war. Das galt natürlich ebenso für den amerikanischen Oberbefehlshaber AFSOUTH, der im Übrigen Taviani eher für ein »Leichtgewicht« in der italienischen Politik hielt, weshalb Admiral William Fechteier davor warnte, allzu große Erwartungen in die Durchsetzbarkeit seiner Ideen zu setzen101. Wie stellten sich zu diesem Zeitpunkt die grundsätzlichen Überlegungen in Wien über den Aufbau eines österreichischen Bundesheer dar und welche Erfordernisse wurden zu ihrer Realisierung als Signale Richtung NATO ausgesandt? Als Ausweis für die erklärte Absicht, die eingegangene bewaffnete Neutralität nach allen Seiten wahren zu wollen, sollte das Bundesheer so disloziert werden, dass es eine wirkungsvolle Grenzverteidigung in drei Richtungen durchführen konnte: aus Niederösterreich-Burgenland nach Nordosten, aus Steiermark-Kärnten nach Südosten und aus Oberösterreich-Tirol-Vorarlberg nach Nordwesten. Dazu waren drei Gruppenkommandos einzurichten und mit der Grenzverteidigung gegen den Warschauer Pakt wie gegen die NATOKommandobereiche Mitte und Süd gleichermaßen zu beauftragen 102 . Nach außen hin strebte Österreich also eine Art Rundumverteidigung an, signalisierte der NATO aber frühzeitig, dass dies nicht zum Nennwert zu nehmen war. Beim Besuch von General Liebitzky in Rom stellte dieser vielmehr ausdrücklich heraus, dass die österreichische Verteidigungsplanung unabhängig von ihrem äußeren Anschein »concretely and exclusively« an der Hypothese ausgerichtet sei, dass eine Aggression nur aus dem Osten - sei es durch die Sowjetunion selbst oder einen ihrer Satelliten - zu erwarten sei. Ein von Liebitzky für erforderlich gehaltenes Bundesheer in Stärke von 100 000 Mann und wesentlich über amerikanische Rüstungshilfe ausgestattet werde außerdem selbst nach seiner vollen Verfügbarkeit gar nicht in der Lage sein zu einer umfassenden Grenzverteidigung. Nach anfänglichen Verzögerungsoperationen gegen einen östlichen Angreifer würden sich die österreichischen Verbände deshalb schnell in die Alpen von Salzburg bis Kärnten in ein Reduit zurückziehen müssen. Deshalb zeigte sich Liebitzky an einer bereits im Frieden aufgenommenen militäri101

102

U.S.-Botschaft Wien an State Department, 20. und 29.12.1955 sowie State Department an U.S.-Botschaft Wien, 27.1. und 1.2.1956, ebd., 763.5/12-2055 und 763.5/12-2955 bzw. 763.5/1-2756 und 763.5/2-156; vgl. auch Blasi, General der Artillerie, S. 198 f. Entwurf eines Vortrages von Bundeskanzler Raab vor dem Ministerrat, 11.1.1956, Das Bundesheer, S. 22.

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sehen Kooperation mit Italien »at the earliest possible moment« interessiert, um »precise accords« zwischen österreichischem und italienischem Generalstab ausarbeiten zu können. Die USA sollten darüber informiert gehalten, die NATO als Bündnisorganisation dagegen - zumindest formell - nicht in diese Abstimmungsprozesse einbezogen werden 103 . Wie weit Wien im Gegenzug zur deren Rüstungshilfe insbesondere den USA entgegenzukommen bereit war, mag das Zugeständnis verdeutlichen, gegen alle Verpflichtungen aus einer bewaffneten Neutralität Überflüge von Maschinen der U.S. Air Force aus der Bundesrepublik in den Mittelmeerraum über Tirol hinzunehmen. Auf sowjetische Presseberichte hin musste man dies zwar formal als mit der österreichischen Neutralität nicht vereinbar kritisieren. Faktisch verstand sich Außenminister Leopold Figl aber dazu, sich mit einer telefonischen oder telegraphischen Anfrage aus dem U.S.-Hauptquartier in Wiesbaden über den amerikanischen Militärattache in Wien an den Ballhausplatz zu begnügen, dies ohne Umstände zu genehmigen und dazu lediglich die Anzahl der Flugzeuge und ihre geschätzte Flugzeit über Tirol einzufordern 104 . Etwas komplizierter wurde die Situation nur während der Libanon-Krise 1958, als eine ganze U.S. Task Force von den bayerischen Flugplätzen Fürstenfeldbruck und Erding aus innerhalb von zwei Tagen mit etwa 100 Militärmaschinen durch den österreichischen Luftraum in den Nahen Osten verlegt werden sollte. Je nach politischem Standort reagierte die österreichische Presse auf den Beginn dieser bei heilichtem Tage durchgeführten offensichtlichen Verletzung der Neutralität mit milder bis scharfer Kritik, was der Bundesregierung vor dem Hintergrund einer unmittelbar bevorstehenden Moskaureise ausgesprochen peinlich war. Die Aufrechterhaltung ihrer neutralitätspolitischen Glaubwürdigkeit zwang sie zumindest nach außen hin zu schärferer Reaktion. Die unverzichtbaren Rüstungshilfen der USA für den Aufbau des Bundesheeres gemahnten aber zur fortdauernden Praxis stillschweigender Hinnahme. Was dabei in letzter Konsequenz herauskam, war ein »politischer Eiertanz« der Bundesregierung, der sie offiziell protestieren, ja sogar die dann doch nicht umgesetzte Verlegung von Flugabwehrbatterien in den Tiroler Raum anordnen ließ, während man die Amerikaner darüber gleichzeitig inoffiziell zu beruhigen suchte105! Die Gründe dafür lagen auf der Hand. Wien hatte schon bei Beendigung der Besatzungszeit amerikanische Hilfen an Waffen und Ausrüstung im Wert von 40 Mill. Dollar erhalten, die von Handfeuerwaffen, Bekleidung und Munition bis zu Artilleriegeschützen und Panzern reichten. Damit wurde nahezu die Hälfte des Grundstocks für die Aufstellung einer zunächst anvisierten 36 000103

U.S.-Botschaft Rom an SHAPE betr. Memorandum von Mancinelli über sein Gespräch mit Liebitzky am 18.12.1955, das er in Kopie an CINCSOUTH, Admiral Fechteier, übersandte, 22.2.1956, ebd., 763.5/2-2256. "» U.S.-Botschaft Wien an State Department, 23.2.1956, ebd., 763.5411/2-2355. 105 Detaillierte Beschreibung bei Blasi, Die Libanonkrise; vgl. auch Rauchensteiner, Landesverteidigung, S. 142 f.

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Mann-Armee abgedeckt. Auch die Sowjetunion hatte zur Abstützung der bewaffneten Neutralität Rüstungshilfe geleistet, die allerdings nur etwa ein Fünftel der von den USA bereitgestellten Mittel ausmachte. Nach amerikanischer Einschätzung hatte dies aber bis Frühjahr 1956 nicht ausgereicht, um das aufwachsende Bundesheer zu einer irgendwie gearteten effizienten Verteidigung gegen eine Invasion von außen zu befähigen. Bestenfalls konnte es vorerst im Falle innerer Spannungen zur Unterstützung der Polizeikräfte herangezogen werden. Unter diesen Umständen empfahl die U.S.-Botschaft, Wien in den kommenden Haushaltsjahren weiterhin angemessen am Militärhilfeprogramm der USA für Westeuropa teilhaben zu lassen. Die Qualität des österreichischen Soldaten und die günstigen natürlichen Verteidigungsbedingungen im österreichischen Alpenraum seien nämlich durchaus geeignet, damit indirekt auch die NATO-Verteidigung im Vorfeld der beiden truppenschwachen Bereiche Süddeutschland und Norditalien zu unterstützen 106 . Dies war aus Sicht der amerikanischen Botschaft in Wien wie des Oberkommandos der U.S.-Streitkräfte in Europa umso wünschenswerter, als sich nach ihrer Einschätzung Österreich bis an die Grenze dessen, was von seiner Neutralität her erlaubt war, zur militärischen Kooperation mit dem Westen bereit zeigte107. Der inzwischen zum Verteidigungsminister avancierte Ferdinand Graf warb im Übrigen gegenüber dem amerikanischen Militärattache ganz offen mit seinen Kontakten zu den beiden NATO-Kollegen Strauß und Taviani und verwies zudem auf seine Drähte in die Schweiz, mit der ebenfalls bereits sicherheitspolitische und militärische Diskussionen eingeleitet seien. Dies ermögliche schon im Frieden Abstimmungen in Fragen der Organisation und Ausrüstung, die das Bundesheer im Falle eines gemeinsamen Einsatzes ohne große Schwierigkeiten an NATO-Gegebenheiten anpassen lasse. Die Einsicht in eine inzwischen wesentlich nuklear ausgelegte Verteidigungsplanung in Ost und West ließ ihn sogar fragen, ob nicht »ultimately even a small country must base its defense upon those weapons« 108 . Ähnliche Überlegungen hatten seit 1954 auch eine lebhafte Diskussion in Schweizer Armeekreisen darüber entfacht, ob letztlich nicht eine eigene Nuklearbewaffnung das einzig realistische Mittel zum wirksamen Schutz von Neutralität darstellte. Hinter solche Gedankenspiele sollte sich im Sommer 1958 auch der Berner Bundesrat mit seiner Erklärung stellen, »dass eine mit Atomwaffen ausgerüstete Armee das Land ungleich besser verteidigen kann«. Um sich gegen innenpolitische Kritiker abzuschirmen, würde sich die Schweizerische Regierung 1962/63 sogar erfolgreich in Volksabstimmungen gegen zwei Volksinitiativen zum Verbot der Her-

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Stellungnahmen U.S.-Botschaft Wien an das Hauptquartier der U.S. Army in Europa und an State Department, 14. und 22.3., sowie Unterstützung durch USEUCOM, 6.4.1956, NA, RG 59, General Decimal File, box 3582 und 3583, 763.5/3-1456, 763.5/3-2256 und 763.5/MSP/1-555. U.S.-Botschaft Wien an State Department, 16.1.1957, ebd., box 3583, 761.5 MSP/1-555. U.S.-Botschaft Wien an State Department, 11.2.1957, ebd., box 3582, 763.3/2-1157.

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Stellung, Lagerung und Verwendung von Atomwaffen auf dem Gebiet der Eidgenossenschaft mit über 60 %-Mehrheiten durchsetzen 109 . Jenseits solcher nie realisierter Gedankenspiele blieb in der NATO aber die Sorge vorherrschend, dass die fortdauernde militärische Schwäche Österreichs auch weiterhin keine wirkliche militärische Absicherung der Neutralität zuließ, mithin eine ständige Bedrohung der süddeutschen und norditalienischen Flanken in die eigene operative Rechnung einzustellen war110. Am gravierendsten schlug dies aus Sicht des II. (GE) Korps zwischen Donau und Alpen zu Buche, da die für diesen Raum verantwortliche 1. (FR) Armee im Einsatzfalle bestenfalls zwei Aufklärungsbataillone an die Iiier vorschieben, die Verteidigung ostwärts des Rheins aber erst auf der Höhe des Schwarzwaldes aufnehmen konnte. Da half es auch wenig, wenn die CENTAG in ihrem EDP 2-58 vom Sommer 1958 die Franzosen mit ihren Aufklärungskräften am Lech und mit der Aufnahme von Verteidigungsoperationen an der Iiier vorgesehen hatte111. Nicht vorhandenes militärisches Potenzial war nicht durch noch so zweckmäßige Planvorgaben zu ersetzen. Damit würden die aufwachsenden Verbände der I. Gebirgsdivision aber auch weiterhin, wie das schon im Vorjahr vom II. (GE) Korps moniert worden war112, in die Alpen abgedrängt und zur Preisgabe ganz Südbayerns mit allen seinen psychologischen Folgen für die deutsche Bevölkerung und ihre Soldaten gezwungen sein. Wie berechtigt solche Sorgen hinsichtlich der österreichischen Verteidigungsanstrengungen tatsächlich waren, mag man aus einer Sitzung des Landesverteidigungsrates in Wien Anfang 1958 ersehen. Hier neigte man mehrheitlich der Auffassung von Bundeskanzler Raab zu, »daß das Bundesheer nie einen Krieg führen werde«. Gegen den Einspruch von Verteidigungsminister Graf verstand man sich deshalb allgemein dazu, dass »eine symbolische Verteidigung den österreichischen Verhältnissen am besten entspreche«113. Für den NATO-Einsatzplan 1958 suchten Deutsche und Franzosen daher ihre amerikanischen Verbündeten dafür zu gewinnen, den nach Abzug der II. (US) Airborne Division aus Südbayern weitgehend truppenfreien Raum südlich und unmittelbar nördlich der Donau durch Unterstellung des II. (GE) Korps mit seinen beiden aufwachsenden Großverbänden, der 4. Panzergrenadierdivision und der 1. Gebirgsdivision, unter die 1. (FR) Armee abzusichern. Damit wollte man den Kampf nicht erst an der Iiier, sondern bereits vorwärts davon am Lech aufnehmen und dazu auch schon leichtgepanzerte Aufklärungskräfte bis an den Eisernen Vorhang vorschieben, um eine frühzeitige voll-

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1,3

Zitat und Belege bei Thoß, Geostrategie, S. 191. So die Hervorhebung in der MC 14/2, 23.5.1957, N A T O Strategy Documents, S. 297. History USAREUR 1958/59, S. 49. G 3 II. Korps an BMVg, Abt. V, 20.5. und Stellungnahme Fü H, 12.6.1957, BA-MA, BW 2/2667. Gedächtnisniederschrift über die Sitzung des österreichischen Landesverteidigungsrates, 25.2.1958, Das Bundesheer, S. 41 f.

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ständige Räumung Bayerns vor einem Angreifer zu vermeiden 114 . Außerdem sollte im Falle einer Verletzung der österreichischen Neutralität durch den Warschauer Pakt von Norditalien her ein gepanzertes italienisches Aufklärungsregiment mit drei Kampfgruppen Verbindung zur 1. GebDiv in Traunstein und Mittenwald aufnehmen, um damit eine durchgehende Verteidigungslinie zwischen AFCENT und AFSOUTH herzustellen 115 . Da aber mit den schwachen italienischen Infanterieverbänden weder eine effiziente Verteidigung der österreichischen Alpenübergänge, noch die zusätzliche Aufgabe einer kampfkräftigen Verbindungsaufnahme über Tirol in die bayerischen Alpen übernommen werden konnte, stellten die atomaren amerikanischen Einsatzverbände der 7. (US) Armee in Süddeutschland und der SETAF in Norditalien das eigentliche Rückgrat jeder Abwehr gegen einen überlegenen Angreifer aus dem Warschauer Pakt-Bereich dar116. Den Einsatz der Atomwaffen von SETAF gegen eingebrochene Kampfverbände des östlichen Gegners in das neutrale Österreich behielt sich SACEUR dabei aber ebenso persönlich vor, wie dies mittlerweile im Falle von Kernwaffeneinsätzen auf dem Territorium der Bundesrepublik insgesamt vorgesehen war117 Gerade weil der Aufbau des österreichischen Bundesheeres auch in den kommenden Jahren nur langsam vorankam - in Washington erwartete man noch 1959 davon wenig mehr als eine Unterstützung der Polizeikräfte zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit - , empfahlen die Vereinigten Stabschefs weiterhin amerikanische Militärhilfe. Die Österreicher sollten dadurch mittelfristig befähigt werden, die Alpenpässe zu verteidigen und dazu »operations in conjunction with NATO forces« durchzuführen 118 . Zur selben Zeit hielt es Bundespräsident Kurt Schärf freilich unter Verweis auf das dänische Beispiel von 1940 durchaus für hinreichend, dass »mitunter 20 Schüsse und 4 Tote die Ehre eines Landes retten können«, man also im Fall der Fälle mit einer symbolischen Verteidigung auskäme119. Nicht wesentlich besser ließen sich bei den NATOHerbstübungen von 1959 die Dinge bei der 1. (FR) Armee an. Weder funktionierte die Verbindung zum II. (GE) Korps, noch ließ sich über die Italiener Verbindung mit AFSOUTH herstellen. Vor allem blieben die Franzosen aber bei der eklatanten Schwäche an verfügbaren NATO-Verbänden in diesem Raum dringend auf die Unterstützung durch taktische Atomwaffen angewiesen, die nur durch die 7. (US) Armee zu leisten war, ohne dass dies bisher zu beidersei-

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So lt. CENT AG EDP 2-58,1.7.1958, History USAREUR 1958/59, S. 49. Aktennotiz Leiter Verbindungsstab zur 7. (US) Armee an Fü Β III, 7.3.1958, BA-MA, BW 2/2546. Bericht DMV Washington X/56 unter Auswertung amerikanischer Presseberichte, 10.10.1956, ebd., BW 2/1945. History USAREUR 1958/59, S. 50. Memorandum Chairman JCS an Secretary of Defense, 13.8.1959, LOC, Twining Papers, box 109. Zit. nach Rauchensteiner, Landesverteidigung, S. 145.

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tiger Zufriedenheit geregelt worden wäre120. Bei den Herbstübungen 1960 gelang dann zwar immerhin die Verbindungsaufnahme zwischen AFCENT und AFSOUTH unter der Annahme, dass die österreichische Neutralität bereits durch den Warschauer Pakt verletzt worden war. Über die tatsächliche operative Lage in Österreich blieb die Armeegruppe Mitte (CENTAG) in Heidelberg jedoch immer noch »sehr mangelhaft« informiert. Deshalb wurde als Erfahrung daraus nunmehr die Entwicklung gemeinsamer Pläne beider NATOKommandobereiche für eine Verteidigung Österreichs, die bisher offenkundig nicht vorlagen, als dringliches Desiderat vorgeschlagen121. Um die Einsatzlage der 1. (FR) Armee in Süddeutschland zu verbessern, regte der amerikanische Oberbefehlshaber der CENTAG, General Clyde D. Eddleman, schon im Herbst 1959 die Zusammenfassung aller noch in Deutschland stationierten, einsatzbereiten französischen Verbände zu einer Division und deren Vorverlegung nach Baden-Württemberg an. Generalinspekteur Heusinger begrüßte den Vorstoß, da der Bundeswehr an jeder Verstärkung des französischen Bündniskontingents dringend gelegen sein musste und die nur dünn belegten Standorte der Franzosen in Südwestdeutschland dafür auch keine unlösbaren Unterbringungsprobleme bereiten würden. Der französische Generalstabschef Paul Ely bot daraufhin immerhin eine Vorverlegung der 3. (FR) Infanteriedivision aus dem Raum Freiburg-Donaueschingen nach Osten an. Eine französische leichte Brigade sollte mit Deckungstruppen bis 1961 sogar an die bayerische Ostgrenze vorgeschoben werden. Über diese unmittelbare Einbeziehung französischer Verbände in die Vorwärtsverteidigung wollte Paris vor allem seinen Wunsch nach Unterstellung des II. (GE) Korps mit den beiden in Bayern stationierten Divisionen (1. GebDiv, 4. PzGrenDiv) unter die 1. (FR) Armee unterstreichen 122 . Wirklich befriedigende militärische Verhältnisse ließen sich indessen aus Sicht der NATO-Operationsplaner letztlich realiter auch in den sechziger Jahren an der Südflanke von AFCENT zu keinem Zeitpunkt erreichen. Dazu wäre im Einsatzfalle ein Vorführen von wenigstens vier französischen Divisionen im Anschluss an die 7. (US) Armee in den Raum vom Böhmerwald bis zu den Bayerischen Alpen erforderlich gewesen123, und dafür fehlten in Paris materiell wie bündnispolitisch alle Voraussetzungen. Im Sommer 1962 spielte man zwar neuerdings mit dem Gedanken, wenigstens die weit zurückliegende 1. (FR) Panzerdivision aus dem Raum Trier nach Ostbayern vorzuschieben und dazu Kasernen der Bundeswehr und der U.S.-Truppen im Dreieck Regensburg-Lands120

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Auszugsweise Übersetzung des Erfahrungsberichts 1. (FR) Armee zur Übung SIDE STEP, 11.11.1959, die vom Autor eingesehen werden konnte; ähnlich fielen die Erfahrungen auch aus dem Kriegsspiel 60 der CENTAG aus, BA-MA, BH 1/98, Nr. 117. Bericht III. Korps zur Übung HOSTAGE GRIS, 15.12.1960, ebd., BH 1/27518, Nr. 131. Briefwechsel Speidel - Heusinger, 1. bzw. 19.10.1959, sowie Schreiben des NMR bei SHAPE, BG von Butler, an Fü B, 5.11.1959, ebd., BW 2/2546, Bl. 206 f., 211 f. und 6 f. Vorschläge LANDCENT für eine Verstärkung seiner Landstreitkräfte, 28.11.1961, ebd., BW 2/2440.

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hut-Passau freizumachen. Zwei Jahre später musste Verteidigungsminister von Hassel jedoch enttäuscht konstatieren, dass die beiden französischen Divisionen immer noch weitab von ihren an der bayerischen Ostgrenze angekündigten neuen Stationierungsräumen disloziert waren. Noch bei seinem Antrittsbesuch beim II. (GE) Korps in Ulm notierte der künftige Heeresinspekteur de Maiziere daher im Sommer 1964 lapidar: »Raum südl. der Donau praktisch frei. Wenigstens Aufklärung sicherstellen124?« Mitte 1965 hatten sich unterdessen aber auch die internationalen Verhältnisse bereits so weit zugunsten einer Ost-WestEntspannung verändert, dass man sich in Wien selbst mit seinen beschränkten Kräften auf das Ziel einer »umfassenden Landesverteidigung« konzentrierte, durch die »der Donauraum, das Klagenfurter Becken und der Raum Tirol« gleichermaßen gesichert werden sollten125. Bei aller fortdauernden politischen und ökonomischen Westorientierung passten allzu enge militärische Absprachen mit dem westlichen Bündnis jetzt nicht mehr in die neue Interessenlage Österreichs. Aber auch innerhalb der NATO veränderten sich mit dem Austritt Frankreichs aus deren militärischer Organisation im Frühjahr 1966 die Konditionen für den Flankenschutz bei AFCENT. Noch Anfang des Jahres hatte der französische Verteidigungsminister Pierre Messmer wohl einmal mehr dem strategischen Konzept des Bündnisses zur Vorwärtsverteidigung und einer damit verbundenen Vorverlegung französischer Verbände im Grundsatz zugestimmt. Vor dem Hintergrund erheblicher Finanzierungsprobleme würde sich eine derartige Umdislozierung aber kaum vor 1973/74 realisieren lassen126. Mit dem Austritt aus der Militärorganisation fiel die 1. (FR) Armee dann für diesen Auftrag faktisch aus, den sie schon bisher - bedingt durch ihre Dislozierung am Oberrhein und ihre eklatante Streitkräfteschwäche - mit Blick auf eine geforderte und seit Herbst 1963 auch implementierte Vorwärtsverteidigung nur ungenügend hatte wahrnehmen können. Eine daraufhin von SACEUR angeregte Sicherung der deutsch-österreichischen Grenze durch den BGS ging dagegen einmal an dessen verfassungsmäßigem Auftrag als Bundespolizei vorbei, der eine dazu notwendige Unterstellung unter NATO-Kommando nicht zuließ. Dies hätte aber auch eine erhebliche umfangsmäßige Erweiterung um 20 000 Mann erforderlich gemacht, die vor dem Hintergrund einer ersten, voll auf die Bundesrepublik durchschlagenden Wirtschaftskrise zu diesem Zeitpunkt gar nicht zu leisten war127. Letztlich war und blieb die Planung für einen einigermaßen berechenbaren Flankenschutz im süddeutschen Raum auf zwei Voraussetzungen angewiesen: dass entweder die Respektierung der österreichischen 124

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Protokolle der Sitzungen MFR, 19.7.1962 bzw. 1.7.1964, ebd., BW 17/25 sowie Tagebucheintrag de Maiziere, 26.8.1964, ebd., Ν 673/v.32. Vortrag von Verteidigungsminister Prader vor dem Ministerrat, 5.5.1965, Das Bundesheer, S. 77. Sprechzettel Fü S für Gespräch von Hassel - Messmer, März 1966, BA-MA, BW 1/101-517-1. Diskussionspapier Fü S III 5 betr. Einsatz des BGS im Rahmen des II. Korps, August 1966, BA-MA, BW 1/101.517-1.

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Neutralität die NATO des Problems im Einsatzfalle enthob oder die Aufrüstung der Bundeswehr dem Bündnis dafür angemessene militärische Mittel an die Hand gab.

3. Der Vorposten Berlin als Testfall für glaubwürdige westliche Verteidigung Die geostrategische Vorfeldlage der drei Westsektoren von Berlin vor dem Verteidigungsraum der NATO ergab sich aus den Festlegungen im Londoner Protokoll der European Advisory Group vom Herbst 1944 und deren Bestätigung auf den Konferenzen von Jalta und Potsdam im Januar bzw. August 1945. Nach den Grenzziehungen zwischen den einzelnen Besatzungszonen in Deutschland würde das Gebiet von Groß-Berlin auf dem Territorium der Sowjetisch Besetzten Zone liegen, aber gemeinsam von allen drei, nach dem Hinzutreten Frankreichs von allen vier Besatzungsmächten verwaltet werden 128 . Mochte der Oberbefehlshaber der Westalliierten, General Eisenhower, auch später gegenüber dem Regierenden Bürgermeister von Berlin einräumen, dass es in der letzten Phase des Zweiten Weltkrieges wohl ein Fehler gewesen sei, die Rote Armee so tief nach Deutschland eindringen und sie vor allem dessen Hauptstadt im Alleingang erobern zu lassen129. Im Sommer 1945 war gerade er es gewesen, der seinen Präsidenten dringend davor gewarnt hatte, die in unmittelbarer Nachbarschaft zur amerikanischen Zone gelegenen und wirtschaftlich besonders entwickelten Gebiete Thüringens und Westsachsens zu räumen und sich dafür eine amerikanische Mitbesetzung von Berlin einzuhandeln. Bei sich verändernder politischer und militärischer Lage würden die hier stationierten U.S.-Truppen nämlich schnell in einer militärisch nicht zu verteidigenden Insellage festsitzen. So unmittelbar nach Abschluss der Kampfhandlungen in Europa war Präsident Truman indes im Sommer 1945 unter keinen Umständen bereit gewesen, sich auf einen offenen Bruch der Absprachen in der AntiHitler-Koalition einzulassen und damit die eben erst beschlossene Nachkriegsordnung in Deutschland einseitig in Frage zu stellen130. Gemeinsam mit britischen und französischen Verbänden zogen daher Anfang Juni 1945 auch amerikanische Soldaten im ihnen vorbehaltenen Sektor Berlins ein und übernahmen für eine zunächst als begrenzt eingeschätzte Übergangszeit Mitverantwortung für die Sicherheit der Stadt.

128 Neuere Literatur zur zweiten Berlinkrise: Arendt, Der Westen tut nichts!; Ausland, Kennedy, Khrushchev; Bremen, Die Eisenhower-Administration; Gearson, Harold Macmillan; Freedman, Kennedy's Wars. 129 Besuch in den USA, Dezember 1958, Merseburger, Willy Brandt, S. 59. 130 Henke, Die amerikanische Besetzung Deutschlands, S. 714-730.

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Eisenhower sollte später als Präsident mehrfach kritisch auf diese in seinen Augen militärisch unzweckmäßige Entscheidung seines Vorgängers zurückkommen131. Nur war West-Berlin inzwischen mit Blick auf die Sicherheitszusagen an Westeuropa und an das seit 1950 anvisierte neue Bündnismitglied Bundesrepublik zum Prüfstein amerikanischer Glaubwürdigkeit geworden. Umgekehrt hatte der weltpolitische Gegner seit der Verschärfung des Ost-WestKonflikts zum Kalten Krieg schon im Herbst 1947 die Stationierung westlicher Truppen in der Stadt erstmals grundsätzlich in Frage gestellt, war darin aber von den Westmächten mit der Begründung abgewiesen worden, dass sich ihr Zugang und ihr Verbleib auf originäres Besatzungsrecht aus der gemeinsamen Berliner Erklärung der Siegermächte vom 5. Juni 1945 stütze132. Im Zuge der Weststaatsbildung hatte die Sowjetunion 1948/49 dann jedoch mit der Blockade der Zugangswege die westlichen Besatzungstruppen aus der Stadt zu verdrängen versucht, die Krise in letzter Konsequenz aber nicht militärisch eskalieren lassen. Noch eindeutiger als bisher hatte sie allerdings ihre Rechtsposition herausgestellt, dass »Berlin in der sowjetischen Besatzungszone liegt und wirtschaftlich einen Teil der Sowjetzone bildet«133. Mit dem Durchstehen der Berliner Blockade hatten die Westmächte ihren Verbleib in der Stadt zwar behaupten können. Nach dem Ausbruch des Koreakrieges im Sommer 1950 wurde die Bundesregierung indes erneut von der Sorge umgetrieben, dass die Sowjetunion die in der DDR aufgestellten halbmilitärischen Formationen der Volkspolizei zu begrenzten Aktionen gegen die Westsektoren von Berlin vorschicken mochte. In seine Forderung nach einer Sicherheitsgarantie der Westmächte als Voraussetzung für einen deutschen Verteidigungsbeitrag zum westlichen Bündnis hatte Bundeskanzler Adenauer deshalb neben dem Bundesgebiet ausdrücklich auch die Sicherung West-Berlins mit aufgenommen134. Die Außenminister der drei Westmächte folgten dem in ihrem New Yorker Grundsatzbeschluss vom Herbst 1950 mit der Zusicherung, dass sie künftig jeden Angriff auf die Bundesrepublik und West-Berlin als gegen sich selbst gerichtet behandeln würden135. Um dies auch völkerrechtlich abzusichern, verständigten sich die Westmächte mit der Bundesregierung zudem sowohl in den Verträgen über eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft von 1952 als auch in den Pariser Verträgen über einen Beitritt der Bundesrepublik zu WEU und NATO von 1954 auf einen ausdrücklichen deutschlandpolitischen Vorbehalt. Obwohl der Ost-West-Konflikt die KriegsalBeispielhaft dafür: Krisensitzung im Weißen Haus, 11.12.1958, FRUS, 1958-1960, vol 8, S. 173. 132 Vgl. Haftendorn, Im Anfang waren die Alliierten, S. 54. 133 Erklärung des Sowjetischen Vertreters beim Auszug aus der Alliierten Kommandantur, 16.6.1948, zit. nach Langguth, Innerdeutsche und internationale Aspekte, S. 36. 134 Α WS, Bd 1, S. 372 f. (Beitrag Wiggershaus); das Memorandum des Bundeskanzlers über die Sicherung des Bundesgebietes nach innen und außen, 29.8.1950, ist abgedr. in: Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland, Teil 1, S. 79-83. 135 Kommunique der New Yorker Außenministerkonferenz, 19.9.1950, abgedr. in: EuropaArchiv, 5 (1950), S. 3406 f. 131

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lianz mit der Sowjetunion längst faktisch beendet hatte, wurde darin die »Rechtsfigur«136 einer fortdauernden Viermächte-Verantwortung für Deutschland als Ganzes und für Berlin aufrechterhalten. Danach behielten sich die Westmächte generell das Recht vor, Truppen zur Sicherung ihrer weiterlaufenden Gesamtverantwortung bis zum Abschluss eines Friedensvertrages in Deutschland stationiert zu halten, nahmen in Westdeutschland dieses Recht aber seit der Ratifizierung der Pariser Verträge ab Mai 1955 faktisch nur noch auf der Basis des einvernehmlich abgeschlossenen Vertrages über die Stationierung von Streitkräften in der Bundesrepublik wahr137. Davon unberührt blieb in wohlverstandenem deutschem Interesse der Viermächtestatus von Berlin. Die Truppen der Westmächte wie der Sowjetunion würden hier bis zum Ende des Kalten Krieges aus eigenem Recht zur Absicherung ihrer Viermächteverantwortung stationiert bleiben138. Gleichzeitig nahmen die Westmächte ihre Verpflichtung aber auch im Rahmen der Pariser Verträge von 1954 wahr, in denen Berlin ausdrücklich in den Schutzbereich des westlichen Bündnisses aufgenommen war. Um diese Verpflichtung auch faktisch umsetzen zu können, zählten dazu nach westlichem Rechtsverständnis auch die Zugangswege zu den Westsektoren der Stadt139. Bei aller künftigen Kritik an diesem Stück vermeintlich überholter Besatzungsherrschaft, die gerade in den Jahrzehnten wachsender internationaler Entspannung immer weniger den internationalen Realitäten zu entsprechen schien, gründete sich darauf jedoch der von den Westberlinern auch mehrheitlich so verstandene militärische Schutz für ihre und der ungehinderte Zugang zu ihrer Stadt. Die rechtliche war freilich nur die eine Seite des Problems westlicher Sicherung ihrer Sektoren und der Zugänge dorthin. Seit die Sowjetunion auf dem Genfer Gipfel im Sommer 1955 als Antwort auf den NATO-Beitritt der Bundesrepublik ihrerseits deutschlandpolitisch von der Entwicklung zweier deutscher Staaten mit unterschiedlichen Gesellschaftssystemen und eingebettet in die rivalisierenden Militärblöcke in Ost und West ausging140, war absehbar, dass sie auch die Berlinfrage schrittweise in ihrem Sinne zu lösen versuchen würde. Der sowjetische Botschafter in der DDR hatte seinen amerikanischen Kollegen in Bonn schon Ende Mai 1955 mit der unmissverständlichen Aussage konfrontiert, dass die DDR »Herr der Zugangswege« sei141. Der bilaterale Vertrag mit OstBerlin, den die sowjetische Regierung im unmittelbaren Anschluss an Adenauers Moskaureise und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Bundes136 137

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Haftendorn, Im Anfang waren die Alliierten, S. 41. Die eingehendste Bewertung dieser »Doppelnatur« der Pariser Verträge ist vorgenommen in Α WS, Bd 4, S. 306-321 (Beitrag Schwengler). Ebd., S. 325-327 und Wetzlaugh, Die Alliierten, S. 31-34. Ipsen, Rechtsgrundlagen, S. 40 f. und Wetzlaugh, Die Alliierten, S. 53-58. Vgl. dazu Α WS, Bd 3, S. 165-171 (Beitrag Thoß). Bericht von U.S.-Botschafter Conant über sein Gespräch mit Pushkin am 20.5.1955 und Vorschläge zu harten amerikanischen Gegenmaßnahmen bis hin zum Aussetzen weiterer Viermächteverhandlungen, 21.5.1955, NA, RG 59, 762.00/5-2155.

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republik im Herbst 1955 abschloss, verfestigte diese Haltung auch völkerrechtlich. Die DDR wurde darin zum souveränen Staat aufgewertet, dem in Zukunft die Überwachung und Kontrolle der Zugangswege nach West-Berlin überlassen sein sollte142. Als sich vor diesem Hintergrund schon Ende 1955 die Nadelstiche zu häufen begannen, mit denen die sowjetischen Autoritäten in Berlin darangingen, ostdeutsche Mitkontrolleure in die administrativen Abläufe um die Berlinzugänge einzuschalten, begann man sich im Stab der U.S. Army ernsthaft zu fragen, wann sich die DDR-Regierung - von Moskau zwar nicht unmittelbar gedrängt, aber analog zum Vorgehen in Korea 1950 indirekt ermutigt - herausgefordert fühlen mochte, die Vorfeldposition des Westens auf ihrem Territorium dauerhaft zu beseitigen. Immerhin verfügte sie dafür mit ihrer in Potsdam stationierten mechanisierten Division und den jederzeit aus den übrigen Militärbezirken getarnt als Manöver heranzuführenden Verstärkungen über ausreichende militärische Mittel, um - ähnlich wie Hitler 1936 ins Rheinland - eines Nachts überraschend in West-Berlin einzumarschieren, ohne dass die Westmächte dem auch nur annähernd Gleichgewichtiges entgegenzusetzen hatten143. Nicht weniger kompliziert mussten sich die militärischen Verhältnisse für den Westen auch dann darstellen, wenn sowjetische und/oder DDR-Truppen in einer künftigen internationalen Krise auf halbem Wege stehen blieben und die Berlinzugänge lediglich blockierten. In einem Grundsatzpapier über ihre Berlinpolitik hatte sich die Regierung Eisenhower schon Anfang 1954 im Prinzip dazu entschlossen, dass die USA in einem solchen Falle die sowjetischen Absichten zunächst durch einen Vorstoß mit begrenzten militärischen Kräften testen würden. Begleitet sollte dies von diplomatischen Protesten, wirtschaftlichen Embargomaßnahmen und Vorkehrungen für eine Mobilmachung sein. Blieb all das fruchtlos, dann würde Washington ein Ultimatum an Moskau stellen, das bei einer Fortsetzung der Blockade einen allgemeinen Krieg androhte, da West-Berlin mit den dort stationierten Verbänden allein nicht zu verteidigen war. Die Stadt würde aber auch nicht mehr wie 1948/49 aus der Luft zu versorgen sein144. Der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs stellte derartige Gedankenspiele bei britisch-amerikanischen Gesprächen schon Anfang 1956 als Illusion heraus. Die verbesserten technischen Möglichkeiten der Sowjets, mit denen sich die elektronische Navigation von Flugzeugen nachhaltig stören ließ, hatten bereits in der Endphase der Berlin-Blockade von 1948/49 wachsende westliche Transportprobleme verursacht. Auf eine funktionierende Luftversorgung der Stadt durfte man sich daher in Zukunft nicht mehr verlassen. Da West-Berlin mithin im Krisenfalle allianz- und deutschlandpolitisch nicht einfach aufzugeben, militärisch indes nicht wirklich zu verteidigen war, begann Admiral Arthur Radford seine britischen Partner schon jetzt darauf einzustim142 143

144

Α WS, Bd 3, S. 176 (Beitrag Thoß). Memorandum des G2 an G3 U.S. Army betr. Lage in Berlin, 9.12.1955, NA, RG 3/9, Records of the Army Staff, G3, 1955, box 44. NSC-5404/1 »U.S. Policy on Berlin«, 26.1.1954, ausgewertet bei Burr, Avoiding the Slippery Slope, S. 181 f.

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men, dass der Westen seine Notfallplanungen zunehmend darauf zu konzentrieren hatte, wie man bei einer neuerlichen Blockade die Landwege in die Westsektoren militärisch öffnen konnte 145 . Dem folgten die britischen Stabschefs zunächst allerdings nicht, da sie durchaus Möglichkeiten sahen, eine Mindestversorgung Berlins aus der Luft bis zu zwölf Monate durchzuhalten und den Politikern damit hinreichend Zeit für Verhandlungen zu verschaffen. Den Versuch, die sowjetischen militärischen Absichten im Falle einer neuerlichen Berlin-Blockade durch Vorstöße klein gehaltener westlicher Verbände entlang den Zufahrtsrouten zu testen, hielt man in London schon deswegen für wenig überzeugend, da es der östlichen Seite allemal ein Leichtes sein würde, solche Konvois weit unterhalb der Schwelle zu militärischen Auseinandersetzungen rein verkehrstechnisch zu stoppen 146 . Bei einem Fehlschlag der eigenen Offnungsversuche auf dem Landwege würde man sich aber aus Mangel an verfügbaren Bodentruppen schnell zur Aufgabe der eigenen Position oder zur nuklearen Eskalation eines Konflikts um Berlin gezwungen sehen. Schon als Atomminister war für Franz Josef Strauß solches nukleare Reagieren freilich mehr als zweifelhaft gewesen, da sich die USA bei einem voraussehbaren atomaren Patt zwischen den Supermächten nur dann zum Einsatz von Atomwaffen verstehen würden, wenn eigene »lebenswichtige Interessen auf dem Spiele stünden« - , und dies sei im Falle von Berlin höchst fraglich 147 . Gerade deswegen ging er später als Verteidigungsminister in die von den amerikanischen Stabschefs eingeschlagene Richtung, dass im Falle einer Bedrohung West-Berlins Wege gefunden werden mussten, »mit normalen, begrenzten Streitkräften, ohne Auslösung des großen Konflikts örtlich begrenzten Gegenaktionen entgegenzutreten« 148 . In Berlin selbst gab es jedoch vor der neuerlichen krisenhaften Zuspitzung im November 1958 kaum mehr als dreiseitige Absprachen der westlichen Stadtkommandanten dafür, dass man die Stadt im Falle eines Angriffs oder eines Einsickerns feindlicher Kräfte nicht kampflos räumen würde. Als Rückhalt für solche, in ihren Erfolgsaussichten wohl eher symbolische Verteidigung war das Gelände um das Olympiastadion im britischen Sektor vorgesehen 149 . Bei seinem Besuch in Bonn waren sich indes der britische Premierminister Macmillan und Generalinspekteur Heusinger einig, dass ein ernsthafter Angriff gegen West-Berlin nur durch die Androhung eines »full-scale global war 145

146

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149

Zu den amerikanisch-britischen Gesprächen in Washington, 30.1.-2.2.1956: Bericht der britischen Verbindungsmission, 8.2.1956, PRO, DEFE 5/64, COS (56) 53; vgl. auch Gossel, Briten, Deutsche und Europa, S. 135. Arbeitspapier JP »Action in the Event of Another Soviet Blockade of Berlin«, 9.3., und dessen Bestätigung durch die britischen Stabschefs, 16.3.1956, PRO, DEFE 4/85, annex to COS (56) 32 bzw. 5/66, COS (56) 110. 144. Kabinettssitzung, 20.7.1956, Kabinettsprotokolle, Bd 9, S. 488 f. Rede auf der Pressetagung der CDU in Nienburg/Weser, 17.11.1956, Kopie in der Materialsammlung Bundeswehrgeschichte, MGFA. Schreiben des Deputy Chief of Staff for Military Operations and den Stabschef U.S. Army, 10.1.1957, NA, RG 3/9, Records of the Army Staff, G-3, 1957, box 17.

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against the Russians« wirksam abgewiesen werden konnte150. Das entsprach ganz dem Planungsstand beim Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte in Europa, von dem erst im Sommer 1957 eine bereits zwei Jahre zuvor angefertigte Meldung bis zu den U.S.-Stabschefs vordrang, dass es zwar Pläne für eine erneute Luftversorgung der Stadt gebe, aber »no formal plans exist to react to any local or minor Soviet action«151. In Washington zeigte sich der neue Vorsitzende der Stabschefs, Luftwaffengeneral Nathan F. Twining, jetzt immerhin besorgt über eine militärisch so wenig vorbedachte Lage und forderte deshalb eine Einschätzung der gegnerischen Möglichkeiten und der westlichen Gegenmaßnahmen an. Aus Sicht des State Department war man inzwischen wenigstens so weit vorangekommen, dass man sich von Versorgungsstörungen innerhalb der Stadt durch die Ostberliner Seite weitgehend unabhängig gemacht hatte. Für den Fall einer erneuten Blockade seien außerdem Vorratslager mit Nahrungsmitteln, Benzin und Rohstoffen angelegt worden, die West-Berlin ein Überleben auf der Basis des derzeitigen Versorgungsniveaus für etwa sechs Monate erlauben würden. Mit der Bundesregierung bestünden zusätzliche Absprachen über eine Versorgung aus der Luft. Auf den Zugangswegen zeige sich wohl eine andauernde Tendenz der sowjetischen Seite, sich selbst nur noch für die zivilen und militärischen Angehörigen der westlichen Besatzungsmächte zuständig zu erklären, den übrigen Verkehr zwischen Westdeutschland und der Stadt dagegen den DDR-Behörden zu überlassen. Insgesamt sei die Sowjetunion aber derzeit viel zu sehr mit dem ökonomischen Aufbau der DDR beschäftigt, als dass man eine ernsthafte Krise an den Berlin-Zugängen befürchten müsse152. Ähnlich sah dies auch die militärische Führung der U.S.-Truppen in Europa und vor Ort beim amerikanischen Stadtkommandanten in Berlin, wenngleich sie langfristig auf das durchgängige sowjetische Ziel einer Verdrängung der Westmächte aus der Stadt eingestellt blieb. Im U.S.-Hauptquartier in Heidelberg arbeitete man daher an Eventualplänen zum Einsatz begrenzter amerikanischer Verbände für eine militärische Öffnung der Zugänge, an einer Studie über entsprechende trilaterale Vorstöße zusammen mit Briten und Franzosen und an Evakuierungsplänen für die Nichtkombattanten der Westmächte aus der Stadt. Außerdem waren Vorbereitungen für eine Verstärkung der amerikanischen Garnison im Falle innerer oder von außen gesteuerter Unruhen getroffen. Insgesamt gesehen bestand mithin Anfang 1958 auch für die Vereinigten Stabs150

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Aufzeichnung über Gespräch Macmillan - Heusinger am 8.5., 10.5.1957, PRO, DEFE 5/75, COS (57) 107. Schreiben USCINCEUR vom 22.7.1955, das erst am 31.7.1957 bis zum Chairman JCS durchkam und deshalb mit der Bemerkung von Admiral Radford quittiert wurde: »Seems to me it takes a long time for this info to reach JCS«, NA, RG 218, CJCS-091 Messages (31 July 57). Schreiben Department of the Army an USCINCEUR, 5.11., und Reaktion des Deputy Under Secretary of State Murphy an Chairman JCS, General Twining, 8.11.1957, sowie zusammenfassende Bewertung JCS, 31.1.1958, ebd., RG 218, Central Decimal File, box 72, CCS 381 (8-20-43), sect. 40.

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chefs keine Notwendigkeit zu einer grundlegenderen Überarbeitung der amerikanischen Notfallpläne153. Aus den Verteidigungsplänen der NATO für Mitteleuropa war die militärische Sicherung der Stadt sogar ganz ausgeklammert, handelte es sich doch im Kern um eine Frage in der Zuständigkeit der drei westlichen Besatzungsmächte. Faktisch war somit 6000 amerikanischen, 3000 britischen und 2000 französischen Soldaten die militärisch unlösbare Aufgabe übertragen, eine Stadt von über zwei Millionen Einwohnern gegen eine überwältigende Übermacht an sowjetischen und NVA-Truppen zu verteidigen154. Im Grundsatzpapier 1958 für die amerikanische Deutschlandpolitik war andererseits festgehalten, dass ein Verlust West-Berlins unkalkulierbare Risiken für die Glaubwürdigkeit der USA in Deutschland und der Welt nach sich ziehen würde. Deshalb müsse ganz auf der Linie der massiven Vergeltungsstrategie schon bei einer Sperrung der Zufahrtswege durch die Sowjetunion zum Mittel eines »almost immediate resort to nuclear war« gegriffen werden155. Vorher sollten allerdings die wirklichen Absichten des Gegners mit konventionellen Mitteln getestet werden. Dazu waren im Emergency Plan 103 der 7. (US) Armee vom 3. Oktober 1958 zwei mögliche Wege vorgeplant: Course A sah im Falle einer Blockade der Autobahn zunächst nur Testaktionen in Zugstärke vor. Dabei sollten jeweils von Helmstedt und von Berlin aus kleinere Lastwagenkolonnen, begleitet von einem mit Panzern verstärkten Infanteriezug, die errichteten Hindernisse zu durchbrechen suchen. Feuer würde von amerikanischen Soldaten erst eröffnet, wenn sie selbst unter Feuer genommen worden waren. Course Β erweiterte dazu lediglich den Umfang der einzusetzenden Kräfte fallweise von Kompanie- bis auf Bataillonsstärke. Alle Pläne basierten auf der Grundannahme, dass die USA unter keinen Umständen ihren freien Zugang nach Berlin aufgeben konnten. Deshalb nahmen die eigenen militärischen Gegenmaßnahmen das Risiko bewusst in Kauf, dass »such countermeasures might lead to general war«156. Ob die USA freilich unter den Auspizien eines heraufziehenden nuklearen Patts und den daraus erwachsenden Folgen wechselseitiger atomarer Zerstörung auch tatsächlich für die Verteidigung eines so begrenzten Zieles zu Atomwaffen greifen würden, darüber bestanden nicht nur in Bonn erhebliche Zweifel. Nach Einschätzung der britischen Stabschefs mussten dann schon die in Europa stationierten U.S.-Truppen als Ganzes angegriffen und in eine militärische Lage manövriert worden sein, die nur noch durch den Rückgriff auf Atomwaffen zu bereinigen war. Die Öffnung der Zugänge nach West-Berlin allein würde dazu aus Londoner Sicht schwerlich ausreichen157. Bestätigt wurde 153

154 155

156 157

USCINCEUR an JCS, 16.11.1957, sowie USAREUR Berlin Reinforcement Plan EP 104, 5.12.1957, ebd. Maloney, Notfallplanung, S. 3; Zahlenangaben bei McDermott, Berlin, S. 23 f. NSC-5803, U.S. Policy Toward Germany, 7.2.1958, zit. nach Burr, Avoiding the Slippery Slope, S. 180 bzw. Pommerin, Von der »massive retaliation«, S. 531. History USAREUR 1958/59, S. 25. Sitzung BCOS betr. Nuclear Sufficiency, 3.9.1958, PRO, DEFE 4/111, COS (58) 77.

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solche Skepsis durch eine Geheimrede von Außenminister Dulles, der von den Militärs nachdrücklich neben dem weiterhin vorrangigen Ausbau des atomaren Abschreckungspotenzials Alternativen für begrenzte militärische Optionen verlangte, »because the reality is f...] that we would not in fact use retaliatory striking power if there were what appeared to be a relatively minor incident«158. Wie vorsichtig sich die USA im Falle einer neuerlichen Verschärfung der Lage in Berlin zu verhalten gedachten, lässt sich an der Debatte zwischen politischer und militärischer Führung über den vom amerikanischen Oberbefehlshaber in Europa im Mai 1958 vorgelegten »Air Contingency Plan Berlin« ablesen. Bei Luftzwischenfällen über der Stadt war ausdrücklich keine vorbehaltlose Autorisierung für den amerikanischen Stadtkommandanten zu militärischen Gegenmaßnahmen vorgesehen. Die Führung blieb vielmehr vom unmittelbaren Konfliktschauplatz abgesetzt in den Händen des U.S.-Oberbefehlshabers in Heidelberg. Sollte die Sowjetunion zum Mittel einer vollständigen Luftblockade greifen, wurde dies als Indikator dafür gewertet, »that general war is probably imminent«. In diesem Falle würde die militärische Führung über die amerikanischen Streitkräfte in Europa auf die Stabschefs in Washington übergehen und damit zugleich unmittelbar an das politische Entscheidungszentrum der USA herangezogen werden 159 . So standen die Dinge, als der sowjetische Parteichef Chruscev bei seinem Besuch in Warschau Anfang November 1958 erstmals öffentlich seine Absicht erkennen ließ, die Kontrollen über den Zugang nach Berlin vollständig an die DDR übergehen zu lassen160. Zwei Wochen später verschärfte er die diplomatische Gangart mit der Ubersendung eines noch weit darüber hinausgehenden Ultimatums an die Westmächte. Neben der Neuregelung der Kontrollfrage an den Zugangswegen forderte er darin ultimativ der Rückzug der westlichen Besatzungstruppen aus der Stadt. Anfang Januar 1959 wurde dies mit der Absicht gekoppelt, einen Separatvertrag mit der DDR abzuschließen, falls sich binnen sechs Monaten kein allgemeiner Friedensvertrag mit Deutschland erreichen ließ. West-Berlin sollte darin als »selbständige politische Einheit« den Status einer Freien Stadt unter UN-Kontrolle erhalten und damit aus sowjetischer Sicht endlich aufhören, politisch, ökonomisch und geheimdienstlich ein »Stachel im Fleisch des Kommunismus« zu sein161. Die Gründe für das sowjeti-

158 R e c j e v o r Offizieren des National War College, 23.11.1958, zit. nach Feiken, Dulles und Deutschland, S. 390 f. 159 Chairman JCS Twining an Secretary of Defense Quarles, 12.9., Stellungnahme U.S.Botschaft Bonn, 22.9., und gemeinsame Festlegung des Verteidigungsministers und der Minister für die Teilstreitkräfte betr. USCINCEUR Air Contingency Plan Berlin, 9.10.1958, FRUS, 1958-1960, vol. 8, S. 40-43 bzw. NA, RG 218, Central Decimal File, box 72, CCS 381 (8-10-43), sect. 40. 160 Das Protokoll der polnisch-sowjetischen Diskussion am 10.10.1958 ist editiert in: New Evidence, S. 200-203. 161 Analyse des sowjetischen Berlin-Ultimatums vom 27.11.1958 und seiner Einschätzung durch die Westmächte bei Steininger, Der Mauerbau, S. 41-59; Texte des Ultimatums und

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sehe Vorgehen zu diesem Zeitpunkt und mit solcher Härte sind im Zusammenhang mit den zeitgleichen Diskussionen um eine atomare Bewaffnung der Bundeswehr eingehender zu erörtern 162 . Hier geht es zunächst allein um die mit dieser zweiten Berlinkrise ausgelösten militärischen Einschätzungen des Westens über den Schutz ihrer Sektoren und die daraus entwickelten Notfallplanungen. Die sowjetische Gefahreneinschätzung hatte Chruscev bereits gegenüber der polnischen Staats- und Parteiführung zu Beginn der Krise sehr klar hervortreten lassen. Auch für ihn wie für seine westlichen Kontrahenten war die militärische Lage zwischen Ost und West unübersehbar von einer wechselseitig wirksamen nuklearen Abschreckung bestimmt. Die Entwicklung sowjetischer Wasserstoffbomben und Interkontinentalraketen habe »Amerika näher an uns herangerückt« und es damit selbst atomar verwundbar gemacht. Und da für die »kleinen Territorien« der Bundesrepublik, Großbritanniens und Frankreichs »buchstäblich einige wenige Bomben genügen«, könne man davon ausgehen, dass die Westeuropäer noch größere Vorsicht in ihrem Krisenverhalten obwalten lassen würden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich aus einer Verschärfung der Lage in und um Berlin ein Krieg entwickelte, wurde von ihm mithin als gering eingeschätzt 163 . Damit dies aber auch in Washington nicht zu einer Fehlwahrnehmung führen konnte, gingen Anfang 1959 frühzeitige Hinweise an Vizepräsident Nixon und Präsident Eisenhower, dass Moskau nicht beabsichtige, über Berlin einen allgemeinen Krieg auszulösen 164 . Parteichef Chruscev ließ sogar ein Angebot an die amerikanische Regierung gehen, dass man über eine einvernehmliche Berlinlösung den Kalten Krieg insgesamt auf dem Verhandlungswege beenden könne 165 . Diese Botschaften kamen nicht nur in Washington, sondern auch in London und Paris voll an. Außenminister Dulles beruhigte seinen Stellvertreter Christian Herter deshalb schon nach den ersten Hinweisen auf eine neue Berlinkrise, dass die Russen nicht wirklich militärisches »business«, sondern lediglich »probing« der Festigkeit im Westen meinten 166 . Nahezu deckungsgleich meldete der britische Botschafter aus Moskau, dass das Ganze als kalkuliertes Risiko gedacht sei und in jedem Falle kurz vor einem Krieg gestoppt werde 167 . In Paris wertete Staatspräsident Charles de Gaulle das sowjetische Ultimatum gar von Anfang an als Bluff, und da die V. Republik als Großmacht nicht unter Druck zu verhandeln bereit war, sollte sich der General

der sowjetischen Vorschläge für einen Friedensvertrag vom 10.1.1959: Dokumente zur Deutschlandpolitik, Reihe IV, Bd 1, S. 163-177 und 543-545. 162 Siehe Teil 2, Kap. III.3, S. 436-438. 163 New Evidence, S. 202; eingehende Analyse der Gründe für das sowjetische Vorgehen: Zubok, Krushchev, S. 1 - 9 . 164 Durch hochkarätige Zitate belegt bei Zubok, Krushchev, S. 9. 165 Zubok/Pleshakov, Inside the Kremlin's Cold War, S. 199 f. 166 Telefonat Dulles - Herter, 13.11.1958, zit. nach Felken, Dulles und Deutschland, S. 482. 167 Reilly aus Moskau, 11.11.1958, Yasamee, Britain and Berlin, S. 135.

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in der zweiten Berlinkrise durchgängig als härtester und zuverlässigster Partner Bonns ausweisen168. Diese politische Gelassenheit darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Krise in mehreren Phasen zumindest zeitweilig militärisch aufzuladen drohte. Gegen die generelle Annahme, dass Eisenhower und seine Administration sich eher zögerlich verhalten hätten, zeigten sich zumindest die Stabschefs in Washington im Unterschied zur politischen Führung nämlich durchaus bereit, den ungehinderten Zugang nach Berlin notfalls auch mit Gewalt zu erzwingen169. Zum Testfall für die Ernsthaftigkeit solcher Empfehlungen zu militärischen Gegenreaktionen drohte schon das Festhalten eines amerikanischen Konvois von drei Fahrzeugen durch sowjetische Soldaten am Autobahnkontrollpunkt Babelsberg Ende November 1958 zu werden. Die amerikanischen Besatzungen weigerten sich weisungsgemäß, ihre Fahrzeuge kontrollieren zu lassen und wurden daraufhin zehn Stunden lang an der Weiterfahrt nach Westdeutschland gehindert170. Der U.S.-Stadtkommandant bewertete das sowjetische Vorgehen als ernsthaften Test für die Fähigkeit der USA, ihren Zugang in die Stadt mit allen Konsequenzen offen zu halten. Er traf deshalb über ein Vorschieben mehrerer Panzer an den Südausgang des amerikanischen Sektors von Berlin Vorbereitungen zu einer militärischen Befreiung seiner wenige Kilometer weiter festgehaltenen Fahrzeuge. Der Oberbefehlshaber der 7. (US) Armee in Heidelberg unterstützte ihn darin, und Norstad in seiner Funktion als Oberbefehlshaber aller U.S.-Streitkräfte in Europa empfahl dem Pentagon ebenfalls, wenn ein »starker Protest« beim sowjetischen Kommandanten in Karlshorst nichts fruchtete, den eigenen Konvoi mit militärischen Mitteln zu befreien171. Dieser auch von den Vereinigten Stabschefs befürworteten Linie eines harten militärischen Gegentests der sowjetischen Absichten folgte Präsident Eisenhower im Einvernehmen mit seinem Außenminister jedoch nicht. State Department und Pentagon stimmten sich daraufhin ab, dass »we should not take a line which might lead to shooting«. Die amerikanischen Befehlshaber in Europa und in Berlin erhielten deshalb keine Erlaubnis zu einer militärischen Befreiung des Konvois in Babelsberg. Der Vorfall hatte sich freilich mittlerweile vor Ort entspannt, da die sowjetische Seite die festgehaltenen Fahrzeuge auf amerikanischen Protest hin freigegeben hatte. Um die Krise nun nicht weiter

168 Ygi Guelton, The French Army, S. 164-166 und Lappenküper, Die deutsch-französischen Beziehungen, Bd 2, S. 1240-1253. 169 170

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So die Einschätzung von Burr, Avoiding the Slippery Slope, S. 178. Der Vorfall ist beschrieben bei Jordan, Norstad, S. 136 f. und Steininger, Der Mauerbau, S. 26 f. Fernschreiben U.S.-Stadtkommandant Berlin an USAREUR Heidelberg sowie USCINCEUR Paris an Secretary of Defense Washington, 15.11.1958, NA, RG 218, Central Decimal File, box 72, CCS 381 (8-20-43), sect. 41.

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aufzuheizen, ordnete Washington bis auf weiteres einen vorläufigen Stopp von Konvoifahrten von und nach West-Berlin an172. Damit war zwar eine militärische Ausweitung der Krise erst einmal abgewendet, die grundsätzliche Frage aber längst noch nicht geklärt, wie sich die Westmächte im Falle einer neuerlichen Verschärfung der Lage verhalten sollten. Der politische Leiter der U.S.-Mission in Berlin kam schon nach der Bereinigung des Babelsberger Zwischenfalls zu einer ruhigeren Lagebeurteilung. Die sowjetische Seite werde mit großer Wahrscheinlichkeit auch weiterhin ihr Inspektionsrecht an den Zufahrtswegen offensiv wahrnehmen und zudem die DDR-Grenzbehörden zunehmend als Kontrolleure vorschieben. Es sei aber nach wie vor nicht damit zu rechnen, dass sie das grundsätzliche Stationierungs- und Zugangsrecht der Westmächte in und nach West-Berlin durch eine vollständige Blockade unterbrechen wollte173. Unterdessen testete der amerikanische Stadtkommandant beim Regierenden Bürgermeister Willy Brandt, wie weit die Bereitschaft der Westberliner reiche, sich im Extremfall hinter eine harte westliche Haltung zu stellen. Im Kern ging es darum, ob die Deutschen aus ihrer prinzipiellen Ablehnung einer Anerkennung der DDR heraus jedes westliche Entgegenkommen an die DDR-Behörden in der Kontrollfrage von vornherein als Verrat an den gemeinsamen deutschlandpolitischen Prinzipien des Westens werten würden, oder ob man sich mit der von Außenminister Dulles ins Spiel gebrachten »Agententheorie« anfreunden konnte. Ohne die DDR formell anzuerkennen, wollte man dazu die DDR-Grenzbeamten als im Auftrag der sowjetischen Besatzungsmacht handelnde »Agenten« unter diplomatischem Protest hinnehmen. Lehnte der Berliner Senat das aus grundsätzlichen Erwägungen heraus ab, dann konfrontierte der amerikanische Stadtkommandant den Regierenden Bürgermeister mit der alternativen Gewaltanwendung zur Öffnung der Zugänge oder Selbstblockade innerhalb der Stadt, mit der Folge einer nur wenige Monate funktionierenden Luftversorgung. Obwohl Brandt die faktische Hinnahme von DDR-Kontrollen als »definitiven Weg in die falsche Richtung« ansah, erschien auch ihm bei einer Güterabwägung über die Konsequenzen einer Gewaltlösung oder eines nicht durchzuhaltenden Einigeins die »Agenten«-Lösung als das geringere Übel174. Auf diese Haltung stimmte unterdessen Außenminister Dulles seine Diplomaten in Bonn und den deutschen Botschafter in Washington ein: »Niemand im Westen würde die Frage der Vermeidung einer Anerkennung der DDR für gewichtig genug ansehen, daß dies einen Krieg wert ist.« Und da eine neue Luftbrücke kaum länger als einige Monate durchzuhalten sei, könne man die Krise seitens der Westmächte nicht allein wegen einer »formaljuristischen Streitigkeit« zum unkalkulierbaren Risiko aufschaukeln. Nur im Falle von Aktionen, 172

173 174

Telefonat Außenminister Dulles - Verteidigungsminister McEIroy sowie zusammenfassender Bericht U.S.-Stadtkommandant Hamlett zum Gesamtverlauf des Zwischenfalls, 17.11.1958, FRUS, 1958-1960, vol. 8, S. 81 bzw. S. 69, Anm. 1. Telegramm Burns aus Berlin, 16.11.1958, ebd., S. 7 2 - 7 4 . Telegramm Burns aus Berlin, 15.11.1958, ebd., S. 69 f.

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die »unzweideutig als ein Angriff auf Berlin und die dort stationierten westlichen Streitkräfte und ihre Versorgungslinien« zu verstehen seien, werde Washington dies als Kriegsgrund ansehen175. Das entsprach vollkommen der britischen Haltung, nur im äußersten Falle um die westlichen Zugangsrechte zu kämpfen, die von der Sowjetunion geforderte Anerkennung der DDR aber nicht als hinreichenden Grund für einen kriegerischen Konflikt anzusehen 176 . Aber auch aus Bonn registrierte man Signale, dass die Bundesregierung die Krise um die Zugangswege ebenfalls nicht bis zu einem militärischen »showdown« eskalieren lassen wollte, denn dann drohte auch aus ihrer Sicht beim Zustand der westlichen Verteidigungsvorkehrungen »the prospect of a general war«177. In Washington machte Dulles jedenfalls unmissverständlich klar, dass Norstad mit seiner Empfehlung einer militärischen Öffnung der Berlinzugänge zu vorschnell gehandelt und damit auch die Vereinigten Stabschefs zu »rather extreme views« veranlasst habe. Wenn es sich als erforderlich herausstellen sollte, einer sowjetischen Blockade auch militärisch entgegenzutreten, werde die U.S.Regierung »stand firm«; sie werde aber von sich aus die Krise nicht voreilig verschärfen und im Übrigen für alle Eventualitäten Einvernehmen mit London, Paris und Bonn herzustellen versuchen178. Da man eine militärische Lösung nicht gänzlich ausschließen konnte, konzentrierten sich die Diskussionen zwischen Pentagon und State Department auf mögliche Optionen. Die bisher von militärischer Seite angedachten Tests der sowjetischen Absichten im Falle einer Blockade mit klein gehaltenen U.S.-Verbänden erschienen dazu nicht mehr hinreichend. Die U.S. Army warnte andererseits vor den erheblichen militärischen Risiken, die einem ernsthaften Vorstoß größerer Verbände über eine Strecke von 160 km über DDR-Territorium und gegen weit überlegene gegnerische Bodentruppen entgegenstanden. Unklar war zudem, wie sich die davon unmittelbar betroffenen Partner Großbritannien, Frankreich und die Bundesrepublik verhalten würden. Zogen sie von sich aus bei einem solchen militärischen Offnungsversuch voll mit oder musste man sie erst mit mehr oder minder sanftem Druck dazu bewegen? War man im schlimmsten Falle bereit, den Vorstoß ganz auf sich allein gestellt zu wagen? Einig war man sich jedenfalls, dass vorbereitende Absprachen mit den eigenen 175 Telegramm Dulles an U.S.-Botschaft Bonn sowie Gespräch mit Botschafter Grewe in Washington, 17.11.1958, ebd., S. 82 f. bzw. Grewe, Rückblenden, S. 364 f. 176 Einschätzung des britischen Botschafters Steel in Bonn, 11.11., Lee, Perception and Reality, S. 49 sowie geheimes britisches Strategiepapier, 14.11., Telegramm Foreign Office an britische Botschaft Washington, 15.11., und Telegramm U.S.-Botschaft aus London, 19.11.1958, Steininger, Der Mauerbau, S. 29 f., Yasamee, Britain and Berlin, S. 137 sowie FRUS, 1958-1960, vol. 8, S. 86-88. 177 Am eindeutigsten aus einem Gespräch des britischen Unterstaatssekretärs Sir Hoyer Miliar mit dem Leiter des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung, Felix von Eckardt, 8.1.1959, Erhard, Adenauers deutschlandpolitische Geheimkonzepte, S. 132 f. 178 Besprechungsnotiz Dulles - Eisenhower, Aufzeichnung über Stabsbesprechung im State Department und Telefongespräch Dulles - McElroy, alle 18.11.1958, FRUS, 1958-1960, vol. 8, S. 84 f.

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Verbündeten überfällig waren, und das State Department hatte dazu Ende November 1958 auch bereits eine Arbeitsgruppe mit den Briten und Franzosen initiiert 179 . Schon die berechneten Stärkeverhältnisse zeigten den JCS allerdings, dass es vollkommen aussichtslos war, eine wirkliche Blockade West-Berlins von außen aufbrechen zu wollen. Dabei war es noch gar nicht einmal sicher, ob in der Stadt selbst eine realistische Option für längere Verteidigungsmaßnahmen vorhanden war. Wohl reiften im Berliner Senat als Antwort auf das sowjetische Ultimatum Pläne über eine Aufstockung der Polizeikräfte durch eine Freiwillige Polizei-Reserve (FPR) und sogenannte »Revierhundertschaften« (RHS) heran. Damit wollte man den Objektschutz in der Stadt wie den Patrouillendienst an ihren Außengrenzen verstärken. Wenn man freilich auch daran dachte, die Hundertschaften im Straßen- und Häuserkampf auszubilden, dann grenzte die dahinter stehende Vorstellung, »gegen die Volkspolizei und die Russen kämpfen zu wollen«, für die Gewerkschaft der Polizei an »Selbstmord« 180 . Selbst unter Heranziehung aller 3000 leicht bewaffneten Westberliner Polizisten zusätzlich zu den Garnisonen der Westmächte waren dafür in der Stadt gerade einmal 11 000 Mann aufzubieten, denen allein in der unmittelbaren Nachbarschaft eine ostdeutsche und vier sowjetische Divisionen nebst 3000 Ostberliner Polizisten gegenüberstanden. Bei einem ernsthaften Durchbruchversuch von Westdeutschland aus würde man es sogar mit mehr als 20 sowjetischen Divisionen und der gesamten NVA zu tun haben. Wollten die USA also eine Blockade wirklich aufbrechen, dann mussten sie aus Sicht der JCS einen erhöhten militärischen Bereitschaftsstand einnehmen, der im Bedarfsfall eine allgemeine Mobilisierung erlaubte. Faktum war nämlich, dass »short of general war the U.S. does not have the military capability to enforce continuous access to Berlin or to maintain our rights there«. Eine solche Erhöhung der Bereitschaft war aus militärischer Sicht durchaus ohne überhöhtes Kriegsrisiko möglich, da man weiterhin davon ausging, dass es die Sowjetunion nicht auf einen großen Krieg ankommen lassen würde 181 . Äußerst unwahrscheinlich erschien es jedoch, dass auch Briten und Franzosen wirklich bereit waren, für die Offenhaltung der Berlinzugänge Gewalt anzuwenden. Der »milde« Protest des britischen Premierministers Macmillan gegen das sowjetische Ultimatum »ohne vorherige Konsultation« seiner Partner ließ jedenfalls

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Besprechung State Department - JCS, 21.11.1958, und Telegramm SACEUR an Chairman JCS, 23.11.1958, ebd., S. 99-103. Steinborn/Krüger, Die Berliner Polizei, S. 148-151 und 157 f., Zitat auf S. 157. Lehniger, Die Bereitschaftspolizei, S. 196-201 geht auf die militärischen Pläne für die Berliner Polizei nicht ein, sondern konzentriert sich allein auf ihre im Zuge des Mauerbaus verstärkten Aktivitäten bei der Grenzsicherung. Memorandum JCS »Berlin Situation«, 24.11.1958, NA, RG 218, Central Decimal File, box 72, CCS 381 (8-20-43), sect. 41.

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wenig Hilfestellung für ein hartes amerikanisches Vorgehen erwarten182. Dennoch blieben die JCS bei ihrer Empfehlung, dem Vorschlag des SACEUR zu folgen und die Sowjetunion mit der Warnung zu konfrontieren, dass »we will use force if necessary to enforce our rights«. Dem folgten allerdings beim augenblicklichen Stand der Berlinkrise weder Präsident Eisenhower, noch die britischen und französischen Vertreter in der Ad Hoc Working Group in Washington183. Umgekehrt blieben die Berlinexperten von State Department und Pentagon bei ihrer harten Linie, dass allein eine klare Warnung an die Sowjetunion, die eigene Stellung in der Stadt notfalls »even at the risk of war« zu halten, die Lage nachhaltig bereinigen konnte, da Moskau wegen der erheblichen strategischen Überlegenheit der USA an Kernwaffen in letzter Konsequenz zurückstecken werde184. Ahnlich sah dies U.S.-Botschafter Bruce in Bonn, der um der amerikanischen Glaubwürdigkeit willen ebenfalls unbedingt für »firmness in Berlin« eintrat, dafür aber anstelle einer öffentlichen eine unmissverständliche Warnung »privately to Khrushchev« als zweckmäßiger empfahl185. Im Vorfeld der jährlichen NATO-Ministerkonferenz schwenkte schließlich auch Präsident Eisenhower auf eine Linie unbedingter Festigkeit ein. Zwar sollten die eigenen Stellungnahmen an Moskau in einer »freundlichen Tonart« abgefasst werden, um die Krise vor der Weltöffentlichkeit nicht einseitig durch den Westen zu verschärfen. Gleichzeitig musste man der anderen Seite aber auf diplomatischem Wege unmissverständlich klarmachen, dass die USA ihre Position in Berlin im schlimmsten Falle auch unter vollem Einsatz militärischer Mittel behaupten würden. Die unzureichenden Notfallpläne erlaubten allerdings vorerst nur den Einsatz begrenzter Kräfte als eine Art »bewaffneter Aufklärung«, mit der bei einer Blockade die wirklichen Absichten der Gegenseite getestet werden sollten. Dabei würde es darauf ankommen, dass man die sowjetische Seite dazu brachte, »to be the first to use force« gegen einen amerikanischen bewaffneten Konvoi, um damit die Schuldfrage für eine militärische Eskalation der Krise beim Gegner zu verorten. Der Vorsitzende der U.S.Stabschefs, General Twining, ging sogar noch einen Schritt weiter, wenn er dafür plädierte: »We must ignore the fear of general war. It is coming anyway.« Deshalb sollte man jetzt aus einer Position immer noch vorhandener atomarer

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Aufzeichnung JCS über die Ergebnisse der ersten Sitzung der Ad Hoc Working Group am 24.11.1958, ebd. Chairman JCS an Secretary of Defense, 24.11., Sitzung der Ad Hoc Working Group, 25.11., und Einschätzung JCS 26.11.1958, ebd. Die ablehnende Haltung Eisenhowers wird aus seinem Telefonat mit Dulles am 24.11.1958 deutlich: Feiken, Dulles und Deutschland, S. 482; zur britischen Auffassung: Lee, Perception and Reality, S. 50 f. Stand der Diskussionen zwischen State Department und Pentagon, 26.11., Burr, Avoiding the Slippery Slope, S. 189 f. und Mitteilung darüber von Verteidigungsminister Quarles an Außenminister Dulles, 9.12.1958, FRUS, 1958-1960, vol. 8, S. 161 f. Tagebucheintrag Bruce, 10.12.1958, ebd., S. 171.

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Überlegenheit heraus die Krise auf den Punkt bringen und notfalls militärisch durchstehen 186 . Während der Dezembertagung der NATO in Paris konnte volle Übereinstimmung mit den Franzosen erzielt werden, dass der Westen sich nicht auf Berlin-Verhandlungen unter Druck einlassen durfte. Dafür bestand aus Pariser Sicht auch gar keine Notwendigkeit, da die Sowjetunion mitten in ihrer Umrüstung bei den atomaren Trägermitteln von Fernbombern auf Raketen derzeit noch kein adäquates nukleares Gegengewicht gegen die USA aufbieten konnte, die Westmächte mithin im Ernstfall »wahrscheinlich« mit dosierter Gewaltanwendung auskommen würden 187 . Wenngleich in der Frage gewaltsamer Tests an den Berlinzugängen nach wie vor skeptischer als die USA, reihten sich jetzt auch die Briten in die Einheitsfront der Westmächte ein, um insbesondere den erkennbaren Bonner Sorgen über ein zu weitgehendes westliches Entgegenkommen gegensteuern zu können188. Vom Ministerrat der NATO ging daher das Signal an die Sowjetunion, dass die Westmächte ihre Rechte auf Stationierung von Streitkräften und auf freien Zugang nach Berlin unverändert ausüben und darin von den übrigen NATO-Partnern unterstützt würden. Die Amerikaner werteten dies als »großen Erfolg«, da sich damit ihre Forderung nach einer festen Haltung, notfalls auch unter Einsatz militärischer Mittel, durchgesetzt hatte189. Zur ständigen Koordination der Westmächte untereinander wurde in Washington eine Dreimächte-Arbeitsgruppe auf Botschafterebene für die weitere Berlinplanung eingerichtet, der zur Abstimmung mit der Bundesregierung in Bonn eine zusätzliche Konsultationsgruppe auf Viermächtebasis unter deutscher Beteiligung an die Seite gestellt wurde 190 . Die in diesen Gremien abgestimmte westliche Berlinpolitik kann für die Überlegungen zu einer Verteidigung der Stadt bzw. einer militärischen Öffnung ihrer Zugänge außer Betracht bleiben. Auszuleuchten sind dagegen die militärischen Notfallplanungen, die zunächst noch zwischen den Vereinigten Stabschefs und dem SACEUR als Oberbefehlshaber der U.S.-Truppen in Europa vorgedacht und im Frühjahr 1959 über eine eigene Stabsorganisation in unmittelbarer Anlehnung an das NATO-Hauptquartier unter dem Decknamen LIVE OAK auf Dreimächtebasis institutionalisiert wurden. Bei einem informellen Vorgespräch in der Bonner U.S.-Botschaft schlugen der Chef des Stabes bei SHAPE und der amerikanische Stadtkommandant in Berlin Ende Dezember 1958 dazu die Vorverlegung einer U.S.-Division an die innerdeutsche Grenze nach Helmstedt vor, um den Russen zu zeigen, dass »we really mean busi186

Konferenz beim Präsidenten, 11.12., u n d Ministertreffen State Department - Pentagon, 13.12.1958, ebd., S. 172-177 und 193-196; Zitat auf S. 195. 187 Gespräche von Dulles mit de Gaulle, 15.12., u n d Außenminister Couve de Murville, 17.12.1958, ebd., S. 147 f. bzw. Burr, Avoiding the Slippery Slope, S. 194. iss Ygj L ee ^ Perception and Reality, S. 61. 189 Schlusskommunique, 16.12., und Tagebucheintrag von U.S.-Botschafter Bruce, 19.12.1958, KAG 1958, S. 7459 Β bzw. FRUS, 1958-1960, vol. 8, S. 220. 190 Maloney, Notfallplanung, S. 4 und Pedlow, Allied Crisis Management, S. 88.

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ness« 191 . Derartige Kraftproben waren jedoch nicht nach dem Geschmack der in Norddeutschland verantwortlichen Briten und ihres Oberbefehlshabers der Rheinarmee. Jeder ernsthafte Versuch, mit so unzureichenden militärischen Mitteln an eine Öffnung der Berlinzugänge zu gehen, werde lediglich die Eskalationsgefahr erhöhen und sich vor Ort schnell als »unpraktikabel« erweisen. Wenn man schon an militärische Gegenmaßnahmen zu Lande denke, dann sei dazu vorher in jedem Falle eine volle Mobilisierung der NATO erforderlich. Eine Luftversorgung Berlins sei sicherlich nur noch begrenzt möglich; sie verschaffe der Politik aber immerhin zeitliche Spielräume für Verhandlungen 192 . Die gegenteiligen Auffassungen prallten offen aufeinander bei den amerikanisch-britischen Vorgesprächen Anfang 1959 über militärische Optionen im Falle einer erneuten Blockade. Washington hielt demonstrative Öffnungsversuche durch begrenzte Einsätze von Bodentruppen für unverzichtbar, da die sowjetische Seite nur so von einer Fehlperzeption westlicher Unentschlossenheit abzubringen sei. Eine erneute Luftbrücke als der von den Briten favorisierte Zwischenschritt zwischen »surrender or war« stellte dagegen in amerikanischen Augen bereits den ersten Schritt zur Aufgabe der eigenen Berlinposition dar. Der Dissens blieb zunächst auch nach dem Hinzutreten der Franzosen zu den Vorgesprächen noch erhalten 193 . Die amerikanischen Stabschefs bestanden auf einem Test der Sowjets durch begrenzte Bodenoperationen und wollten dafür General Norstad als SACEUR mit deren Planung und Durchführung beauftragt sehen. Die britischen Stabschefs lehnten dagegen das Ansinnen ihrer amerikanischen Partner ab, als Voraussetzung für alle weitere Planung schon vorab einer gewaltsamen Öffnung zumindest im Grundsatz zuzustimmen, sahen aber immerhin amerikanische Kompromissbereitschaft in der Frage einer dem vorausgehenden Luftbrücke 194 . Inzwischen drängte freilich auch Bundeskanzler Adenauer weiter auf westliche Härte. Die Westmächte müssten bereit sein, Gewalt anzuwenden, denn es sei »höchst unwahrscheinlich, dass die Sowjets einen heißen Krieg riskieren würden«. Verteidigungsminister Strauß wollte dazu allerdings von vornherein in die militärischen Planungen eingeschaltet oder zumindest über die Absichten der Westmächte informiert sein 195 . Bei den U.S.-Stabschefs täuschte man sich jedoch nicht darüber hinweg, dass die Bereitschaft zu einer harten militärischen Reaktion bei den europäischen Verbündeten äußerst labil war. Vom Vorsitzenden der britischen Stabschefs, Louis Earl Mountbatten of Burma, wurde die

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Tagebucheintrag Bruce, 27.12.1958, FRUS, 1958-1960, vol. 8, S. 223. Stellungnahme JPS zu britisch-amerikanischen Gesprächen über ein Offenhalten der Berlinzugänge, 31.12.1958 und Sitzung der britischen Stabschefs darüber, 1.1.1959, PRO, DEFE 4/115, COS (59) 1. Protokolle der amerikanisch-britischen, 2./3.1., und der Dreimächte-Vorgespräche, 5.1.1959, FRUS, 1958-1960, vol. 8, S. 2 2 5 - 2 3 2 und 240-244. JCS am Secretary of Defense, 5.1., und Sitzung BCOS, 8.1.1959, LOC, Twining-Papers, box 107 bzw. PRO, DEFE 4/115, COS (59) 3. U.S.-Botschafter Bruce aus Bonn, 13.1.1959, FRUS, 1958-1960, vol. 8, S. 253-255.

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Ansicht kolportiert, dass es nicht akzeptabel sei, um Berlins willen die eigene atomare Vernichtung zu riskieren. Bei allem Drängen auf Härte sah man unterdessen in Washington selbst bei den Deutschen nicht klar, ob sie im Ernstfall wirklich zum Einsatz ihrer unfertigen Truppen für einen Vorstoß nach Berlin bereit sein würden. Aber auch bei der NATO insgesamt stellte man einen »lack of enthusiasm« fest. Und sogar der eigene Präsident zeigte Zweifel, ob der rechtliche Status der USA in Berlin zur Rechtfertigung einer militärischen Öffnung der Landzugänge ausreichte. Eine neue Luftbrücke in die Stadt hielt man dagegen aus militärischer Sicht nicht mehr für machbar. State Department und Pentagon einigten sich schließlich darauf, jeder sowjetischen Behinderung an den Zugängen dort zu begegnen, wo sie auftrat, gleichgültig ob zu Lande oder in der Luft. Das Risiko einer Eskalation zum allgemeinen Krieg war dabei in Kauf zu nehmen196. Seinem Präsidenten und seinem britischen Kollegen Selwyn Lloyd machte Dulles deshalb klar, dass gerade wegen der auch in Moskau erkennbaren Zögerlichkeit der öffentlichen Meinung in Westeuropa nunmehr alles darauf ankam, den glaubhaften eigenen Willen zur Härte zu demonstrieren. Das Risiko eines allgemeinen Krieges sei gering, wenn nicht das falsche Signal westlicher Unentschlossenheit die Gegenseite zu einer Fehlperzeption verleite. Verschließe sich Westeuropa dagegen der notwendigen Nervenprobe, bis an den Rand eines Krieges heranzugehen (brinkmanship), um die eigene Abschreckungsstrategie glaubwürdig zu halten, dann sei das gesamte NATOKonzept und die amerikanische Beteiligung daran einer »drastic review« zu unterziehen197. Die Ankündigung einer harten Haltung im Falle einer tatsächlichen neuen Berlin-Blockade war das eine, die von den Vereinigten Stabschefs empfohlene Demonstration militärischer Entschlossenheit ging freilich selbst der eigenen Regierung zu weit. Danach sollte ein bewaffneter Konvoi in Zug- oder Kompaniestärke die Absichten des Gegners durch einen Vorstoß von Helmstedt nach Berlin testen. Hindernisse sollten durchbrochen, von den eigenen Schusswaffen aber erst in Erwiderung gegnerischen Feuers Gebrauch gemacht werden. Wurde der eigene Konvoi gewaltsam gestoppt, würde eine bei Helmstedt bereitgehaltene U.S.-Division zur Verstärkung herangeführt, um die Autobahn nach Berlin wieder zu öffnen und unter westlicher militärischer Kontrolle offen zu halten. Für den Vorsitzenden der JCS kam nämlich alles darauf an, Berlin »at all costs« zu halten und dafür nicht nur zu bluffen198. Aus Sicht des Präsidenten

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Diskussion zwischen State Department und JCS, 14.1., und Schreiben Dulles an McElroy, 15.1.1959, ebd., S. 259-265 und 269 f. Dulles-Memorandum »Thinking Out Loud« an seinen Präsidenten, das er auch seinem Brief an den britischen Außenminister Lloyd beilegte, undatiert [26.1.1958], ebd., S. 292-294; vgl. auch Gespräch Dulles mit NATO-Generalsekretär Brosio, 26.1.1959, Feiken, Dulles und Deutschland, S. 499. Stellungnahme General Twinings vor dem Auswärtigen Ausschuss des Senats, 26.1.1959, zit. nach Feiken, Dulles und Deutschland, S. 499. Der Plan für eine militärische Öffnung der Berlinzugänge ist im Appendix Α des DoD Report »Military Preparations«, 27.1.1959,

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und seines Außenministers würde eine einzige Division jedoch militärisch zu wenig, als von den USA forcierter Akt für die westliche Öffentlichkeit dagegen psychologisch zu viel sein, da ihr voraussehbares militärisches Scheitern letztlich nur den Rückgriff auf einen Atomkrieg zuließ - und dafür war der Anlass einer Übergabe der Zugangskontrollen an DDR-Behörden nicht hinreichend. Die amerikanische Regierung blieb deshalb bei ihrem Kurs, vorrangig nach einer politischen Lösung zu suchen und bei einer Blockade die östlichen Absichten nur mit begrenzten militärischen Mitteln zu testen199. Auf dieser Basis suchte Außenminister Dulles nunmehr die westeuropäischen Partner auf eine gemeinsame Linie einzuschwören. In den Grundzügen konnte Einvernehmen darüber zwischen den drei Westmächten erzielt werden, dass die Stationierungs- und Zugangsrechte nicht zur Disposition gestellt werden durften, wenngleich man bei den Briten weiterhin die weiche Flanke in der Einheitsfront vermutete200. Da Adenauer am nachdrücklichsten Standfestigkeit eingefordert hatte, griff ihm gegenüber Dulles jetzt auch in die härtesten Register militärischer Konsequenzen. Wenn der Kanzler und sein Verteidigungsminister in der Berlinkrise westliche Härte forderten, Atomwaffen aber »unter keinen Umständen« eingesetzt sehen wollten, dann ließ der amerikanische Gast solches Ausweichen bewusst nicht mehr zu. Mit einem »devastating statement« zwang Dulles die Deutschen vielmehr auf den Boden der nuklearstrategischen Realitäten, dass Kriegsverhinderung durch Abschreckung nur unter der Voraussetzung des damit verbundenen vollen Risikos eines Atomwaffeneinsatzes zu haben sei. Sei dies dem Kanzler zu hart, dann müsse er es jetzt sagen! Wollte Adenauer daher seinerseits nicht weich werden, dann blieb ihm nur die Zustimmung mit allen daraus unvermeidlich abzuleitenden Konsequenzen201. Dulles konnte jedenfalls vor dem Nationalen Sicherheitsrat in Washington berichten, die Ergebnisse seiner Europa-Reise hätten ihn »completely satisfied«202. Auf militärischer Ebene wurde nunmehr der Grenzübergang Helmstedt zu einer Überwachungsbasis für alle Vorgänge an den Hauptzufahrtsrouten nach Berlin ausgebaut und mit einer begrenzten Anzahl zusätzlicher Militärfahrzeuge ausgestattet, die den wieder aufgenommenen militärischen Versorgungsverkehr nach West-Berlin begleiten sollten. Dazu stationierte die 7. (US) Armee im Frühjahr 1959 zeitweilig die Task Force 11, ein verstärktes Armored Cavalry

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enthalten, DDRS 1997, 1236; der JCS-Plan selbst stammt bereits vom 15.1.1959, Burr, Avoiding the Slippery Slope, S. 200. Besprechung beim Präsidenten, 29.1.1959, FRUS, 1 9 5 8 - 1 9 6 0 , vol. 8, S. 299-306. Zur Europareise des U.S.-Außenministers im Januar 1959 jetzt generell: Erhard, Adenauers deutschlandpolitische Geheimkonzepte, S. 132-148; zum Gespräch von Dulles mit der französischen Regierung, 6.2., und zu seinem Telefonat mit Eisenhower betr. britische Haltung, 8.2.1959, ebd., S. 3 2 9 - 3 3 3 bzw. Feiken, Dulles und Deutschland, S. 503. Zu den Gesprächen Adenauer - Dulles, 7./8.2.1959: Adenauer, Erinnerungen 1959-1963, S. 4 7 6 - 4 8 1 und Schwarz, Adenauer, Bd 2, S. 4 9 2 - 4 9 4 ; vgl. auch aus dem Tagebuch von U.S.-Botschafter Bruce: Feiken, Dulles und Deutschland, S. 501 f. sowie Aufzeichnung des Gesprächs, 8.2.1959, FRUS, 1958-1960, vol. 8, S. 345-348. Sitzung Ν SC, 12.2.1959, FRUS, 1958-1960, vol. 8, S. 358 f.

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Regiment, im NORTHAG-Bereich auf dem Übungsplatz Bergen-Hohne, um von hier aus die angedachten Offnungsaktionen an den Berlinzugängen jederzeit mit Truppe unterfüttern zu können. Außerdem wurde jeweils im vierzehntägigen Rotationsverfahren eines von drei dafür ausgewählten amerikanischen Atomic Delivery Battalions aus dem CENTAG- in den NORTHAGBereich verlegt, nach außen hin zu Ausbildungszwecken, tatsächlich aber als taktisch-nukleare Unterstützung bei sich verschärfenden Zwischenfällen an den Berlinzugängen. Parallel dazu wurden die Pläne für eine zeitweilige Versorgung der Stadt aus der Luft auf den neuesten Stand gebracht203. Grundlage aller weiteren militärischen Planungen gab eine Einschätzung des CIA ab, dass bewaffnete Konvois der Westmächte durch die Gegenseite zunächst nur mit einer »show of force« durch Straßensperren und Zerstörungen an den Zufahrtswegen gestoppt, dann durch schwerbewaffnete und überlegene Verbände zum sofortigen Rückzug aufgefordert und erst im Weigerungsfalle mit Waffengewalt aus DDR-Gebiet herausgedrängt würden. Darauf sei die sowjetische Seite unbedingt angewiesen, da sie natürlich ihrerseits die Unverletzlichkeit von Ostblockterritorien sichern müsse, wenn sie nicht schwerwiegende Vertrauensverluste im eigenen Lager riskieren wolle204. Die Lage entkrampfte sich indes aus Londoner Sicht schon im Frühjahr 1959 so weit, dass Premierminister Macmillan Washington zu einer gemäßigteren Gangart auf dem Verhandlungswege bewegen wollte205. Um aus der unmittelbaren europäischen Gefahrenzone herauszukommen, tauchte jetzt bei den Amerikanern die Idee auf, eine Abriegelung Berlins nicht direkt, sondern über eine Seeblockade im Pazifik oder an anderer Stelle zu kontern. Bei einem Vorstoß auf DDR-Gebiet sei man militärisch letztlich immer im Nachteil, während man auf See alle Vorteile auf seiner Seite habe und dem Gegner empfindliche ökonomische Einbußen zufügen könne. Davon hielt Präsident Eisenhower allerdings nichts, da die Sowjets eine Blockade auf See allemal länger durchhalten konnten, als dies den Westmächten in Berlin möglich war. Es blieb daher in Washington bei den Plänen für begrenzte militärische Demonstrationen an den Zugangswegen unter Inkaufnahme des Risikos, im Ernstfall relativ schnell zum allgemeinen Krieg eskalieren zu müssen. Gerade nach Macmillans Moskaureise was andererseits weiterhin offen, ob die Westeuropäer im Zweifelsfalle wirklich militärisch mitziehen würden 206 . Mittlerweile hatten die U.S.-Stabschefs nach einem neuerlichen Zwischenfall mit einem amerikanischen Konvoi, der am sowjetischen Kontrollpunkt über 203

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USAREUR an JCS, 19.2., und Memorandum Chairman JCS, 18.2.1959, ebd., S. 384 bzw. NA, RG 218, Chairman's File Gen Twining, box 8, CJCS-091 Germany (Jan-Feb 59) sowie History USAREUR 1958/59, S. 31. SNIE 100-2-59 »Probable Soviet Courses of Action Regarding Berlin and Germany«, 24.2.1959, On the Front Lines, S. 461-467. Bericht über Macmillans Moskaureise, 4.3.1959, PRO, CAB 128/33, C.C. (59) 14. Memorandum des Stv. Außenministers Herter an Eisenhower, 4.3., und Sondersitzung NSC, 5.3.1959, FRUS, 1958-1960, vol. 8, S. 413-417 u n d 419-425.

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Einsatzplanungen von LIVE OAK für West-Berlin SACEUR in Personalunion Befehlshaber LIVE OAK

Trinationaler Stab US/GB/FR Dt. Verbindungsoffizier

Pläne zur militärischen Öffnung der Berlin-Zugänge Kennwort

Auftrag/Stärke

FREE STYLE

Sondierungsaktion von Helmstedt aus in Zugstärke

BACK STROKE

Sondierungsaktion von West-Berlin aus in Zugstärke

TRADE WIND

Vorstoß zur gewaltsamen Öffnung von West-Berlin aus in Bataillonsstärke

LUCKY STRIKE

Vorstoß zur gewaltsamen Öffnung von Helmstedt aus in Bataillonsstärke

JACK PINE i

Aufrechterhaltung der Flugrouten mit Transportmaschinen

JACK PINE II

Aufrechterhaltung der Flugrouten mit Transportmaschinen einschließlich Begleitung durch Kampfflugzeuge

QBAL

Luftbrücke unter deutscher Mitwirkung zur Versorgung der Zivilbevölkerung

Quelle: Maloney, Notfallplanung. S. 5.

© MGFA 05027-04

mehr als fünfzig Stunden gestoppt worden war, dem Vorschlag Norstads zugestimmt, in seiner Funktion als USCINCEUR eine klein gehaltene amerikanische Stabsgruppe für Fragen des Zugangs nach Berlin einzurichten. Anfang März 1959 folgten Briten und Franzosen seiner Einladung zur Mitarbeit. Auf dieser Basis forderte und erhielt Norstad Ende März schließlich auch das volle Einverständnis seiner Regierung, unter der Bezeichnung LIVE OAK und angelehnt an sein NATO-Hauptquartier in Fontainebleau einen Dreimächtestab für die gemeinsame militärische Planung von Berlinfragen zu etablieren. Zur Koordination konnten fallweise auch bereits deutsche Fachleute zugezogen werden; eine durchgängige deutsche Mitbeteiligung war jedoch zunächst noch nicht vorgesehen 207 . Solange die sowjetische Drohung einer einseitigen Kompetenzübertragung an die DDR-Behörden auf den Zugangswegen lastete, blieben freilich auch die Differenzen zwischen einer auf Mäßigung setzenden politischen Führung und ihren für konsequente Vorbereitungen auf militärische Konfliktlösungen plädierenden militärischen Fachleuten bestehen. Vor dem Senat erkannte der Stabschef der U.S. Army wohl die Risiken eines militärischen Durchstehens der Krise an, da Berlin mit konventionellen Mitteln ohne 207

A n t r a g N o r s t a d an JCS, 17.3., u n d Z u s t i m m u n g JCS, 1.4.1959, ebd., S. 495-497 b z w . History of the Office, vol. 4, S. 607-609; vgl. auch Pedlow, Allied Crisis M a n a g e m e n t , S. 88-90.

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den Einsatz von Atomwaffen nicht zu halten sei. Die Alternative eines Nachgebens war für ihn aber gleichbedeutend mit einer derartigen Kompromittierung der amerikanischen Glaubwürdigkeit als Weltmacht, dass dies noch bei weitem gravierendere Folgen zeitigen würde, weil es die USA dann zur »zweit- oder drittklassigen Macht herabstufen« musste. Deshalb drängten die Stabschefs insgesamt weiter darauf, die Weltmeinung auf den Ernst der Situation einzustimmen und die eigenen militärischen Vorbereitungen zu intensivieren, da ein Verlust Berlins einem »politischen und militärischen Desaster« gleichkam208. Obwohl die Einschätzungen des CIA die Sorgen der politischen Führung bestätigten, dass es für die USA außerordentlich schwierig sein würde, ihre NATOPartner wie die Neutralen von der Notwendigkeit harter militärischer Gegenreaktionen gegen lokale Aktionen an den Berlinzugängen zu überzeugen, riet man dem Präsidenten auch hier zur Härte. Allein die glaubwürdige Bereitschaft zur Gewaltanwendung werde die Sowjetunion schließlich zu einer Verhandlungslösung bringen209. Ohne dass sie bereits in die engere Lagebeurteilung unmittelbar einbezogen gewesen wäre, kam die Führung der Bundeswehr zu ähnlichen Ergebnissen. Auch aus ihrer Sicht stellte die Macht- und Nervenprobe an den Berlinzugängen für die USA eine Prestigefrage von weitreichender Bedeutung dar. Da die konventionellen Streitkräfte des Westens für eine ernsthafte Landoperation zur Öffnung der Zugangswege unzureichend und eine neue Luftbrücke nicht leistungsfähig genug seien, bleibe freilich nur die Drohung mit und der unmissverständliche Wille zum allgemeinen Krieg. Die Gefahr dafür steige in dem Maße, wie Signale westlichen Zögerns die Sowjetunion zu einer Fehlperzeption westlicher Schwäche verleiten könnten210. Beim Außenministertreffen der Westmächte in Washington einigte man sich schließlich auf den Minimalkonsens, dass im Falle einer Blockade die Absichten der Sowjets durch begrenzten militärischen Kräfteeinsatz getestet würden. Dabei sollte ein gewaltsam gestoppter westlicher Konvoi so lange weiterfahren, bis die Gegenseite das Feuer eröffnete. Dazu sollten diese Konvois allerdings auf britischen Wunsch höchstens von leichtgeschützten Aufklärungsfahrzeugen, aber keinesfalls von Panzern begleitet sein, um nicht von vornherein provozierend zu wirken211. Damit war die Grundsatzentscheidung für begrenzte militärische Einsatzpläne auf Dreimächtebasis gefallen; der Planungsstab LIVE OAK konnte im April 1959 seine Arbeit aufnehmen. Die Planungen sollten so verdeckt durchgeführt werden, dass sie die eigene Öffentlichkeit nicht alarmierten, gleichzeitig 208

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Anhörung General Taylor vor dem Preparedness Investigating Subcommittee of the Senate Committee on Armed Services und Memorandum Chairman JCS an Secretary of Defense, 11.3.1959, FRUS, 1958-1960, vol. 8, S. 449-458, Zitate S. 453 bzw. 455. CIA-Memorandum »Soviet and Other Reactions to Various Courses of Action in the Berlin Crisis«, 27.3.1959, On the Front Lines, S. 474-488. Fü Β III: Militärische Beurteilung der Lage, 12.3.1959, BA-MA, BW 17/42. Protokoll der Dreimächte-Außenminister-Treffen, 31.3.1959, FRUS, 1958-1960, vol. 8, S. 546-553.

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aber durch den sowjetischen Geheimdienst aufzuklären waren, um Moskau von ihrer Ernsthaftigkeit zu überzeugen 212 . Der Kerngedanke bei alledem war, im Falle einer Unterbrechung der Berlinzugänge zunächst durch unbewaffnete, dann durch bewaffnete Konvois die Zielrichtung der gegnerischen Absichten herauszufinden. Parallel dazu sollten die Weltmeinung gegen die sowjetischen Rechtsverletzungen mobilisiert und die eigenen militärischen Vorbereitungen schrittweise intensiviert werden. Darunter fielen trotz aller Skepsis auch Maßnahmen für eine zeitweilige Versorgung der Stadt aus der Luft und mögliche ökonomische Druckausübung an anderen sensiblen Punkten des östlichen Handelsverkehrs. Die Optionen militärischer Gegengewalt zur Wiederherstellung eines anders nicht mehr zu erreichenden freien Zugangs nach Berlin sollten Gegenstand gemeinsamer Stabsstudien bei LIVE OAK sein213. Die übrigen NATO-Staaten wurden bewusst herausgehalten, da die Amerikaner nicht riskieren wollten, dass dadurch das an sich schon schüttere Einvernehmen im Westen durch fortgesetzte Diskussionen innerhalb des Bündnisses weiter verwässert wurde 214 . Gemeinsame militärische Planung blieb andererseits durchgängig an politische und nationale Kontrollen gebunden. So mussten die JCS die Erwartung aufgeben, dass LIVE OAK über seine Anbindung an Norstad als Oberbefehlshaber der U.S.-Streitkräfte in Europa an amerikanische Befehlsstränge angebunden wurde; die britischen und französischen Stabsoffiziere blieben vielmehr für alle gemeinsamen Pläne auf die Zustimmung ihrer nationalen Generalstäbe angewiesen. Darüber hinaus zeichnete für die Gesamtkoordination aller Berlin-Maßnahmen die Tripartite Ambassadorial Group in Washington verantwortlich, während die Botschafter der Drei Mächte in Bonn Empfehlungen zu Detailfragen des Verkehrs von und nach Berlin abgeben konnten215. Wie weit die amerikanischen und britischen Ansichten allerdings immer noch auseinander lagen, musste Washington im Mai 1959 beim Besuch von Premierminister Macmillan erfahren. Dulles mochte die Briten noch so drängend fragen, was denn die mehr als 40 Milliarden Dollar wert seien, die von den USA jährlich für Zwecke der atomaren Abschreckung ausgegeben würden, wenn man von den eigenen Verbündeten dann in Krisen doch nur zu hören bekomme, dass man den Frieden durch Kompromisse erkaufen müsse. Demgegenüber beharrte der britische Premierminister darauf, dass man in Berlin in einer zu ungünstigen Position sei, um mit Aussicht auf Erfolg militärische Lö-

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Eine inzwischen zugängliche KGB-Analyse zeigt, dass diese Einschätzung z u t r e f f e n d war, Murphy/Kondrachev/Bailey, Battleground Berlin, S. 368 f. Einvernehmliches Dreimächte-Papier »Berlin Contingency Planning«, 4.4.1959, FRUS, 1958-1960, vol. 8, S. 584-589 u n d d a m i t ü b e r e i n s t i m m e n d e s P l a n u n g s p a p i e r JP (59) 36 (Final) der britischen Stabschefs, 3.4.1959, PRO, DEFE 4/117. Maloney, N o t f a l l p l a n u n g , S. 4. Pedlow, Allied Crisis M a n a g e m e n t , S. 90 f.; vgl. auch Sitzungen der britischen Stabschefs, 7. u n d 14.4.1959, PRO, DEFE 4/117, C O S (59) 24 b z w . COS (59) 26.

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sungen zu versuchen216. Hinter dieser Skepsis standen aber auch die britischen Stabschefs, die schon gegen die ersten LIVE OAK-Pläne erhebliche Vorbehalte anmeldeten. Die Amerikaner hatten drei Optionen zum Test der sowjetischen Absichten ins Spiel gebracht, bei denen die Einsatzkräfte schrittweise gesteigert werden sollten: einen Vorstoß mit einem unbewaffneten Konvoi (Course A), seine Begleitung durch zwei bewaffnete Mannschaftstransportwagen (Course Β) und schließlich einen größeren bewaffneten Konvoi, der einen Durchbruch durch errichtete Sperren versuchen sollte (Course C). Für die Briten erschien Course Α als Testversuch völlig wirkungslos, während Course C bereits »zu provokativ« ausfiel. Da der Oberbefehlshaber der Britischen Rheinarmee im Übrigen eine solche Testaktion abzusichern haben würde, musste ihm daran gelegen sein, eine militärische Auseinandersetzung erst dann zu riskieren, wenn die NATO-Staaten darüber übereinstimmten und dazu schon vorab ihre Streitkräfte unter das Kommando von SACEUR gestellt hatten. Trotz solcher auch bei der U.S. Army geteilten Bedenken befürwortete die Ambassadorial Group in Washington schließlich eine Planung mit allen drei Optionen, da sie in ihrer Staffelung eine maximale Flexibilität für politischen Zeitgewinn versprachen217. Unterdessen entspannte sich die politische Lage wesentlich, da die Sowjetunion die Drohung aus ihrem Ultimatum vom November 1958 nicht wahr machte, nach Ablauf von sechs Monaten im Sommer 1959 einen Separatvertrag mit der DDR abzuschließen. Chruscev bremste ganz im Gegenteil die Ungeduld seines ostdeutschen Verbündeten, wenn er jede weitere Verschärfung der Krise ablehnte, die »den Westen an die Wand drücken« würde. Die Zeit sei noch nicht reif, um bereits eine volle diplomatische Anerkennung der DDR auf dem Umweg über die Kontrollen an den Zugängen nach Berlin durchzusetzen. Jetzt komme es vielmehr darauf an, »ein Sicherheitsventil zu schaffen«, denn wesentlicher als solcher deutschlandpolitischer Maximalismus sei es, über eine konsensfähige Berlinlösung die Kompromissbereitschaft der Westmächte in der Frage einer atomaren Aufrüstung der Bundeswehr auszutesten. Dazu müsse man ihnen aber durch eine sowjetische Garantie ihres freien Zugangs nach Berlin entgegenkommen; eine entsprechende Erklärung der DDR allein werde dafür nicht ausreichen218. Mit der beginnenden politischen Entspannung der Lage um Berlin gewannen aber auch bei den LIVE OAK-Planungen die britischen Bedenken gegen zu weitgehende militärische Optionen an Gewicht. Nach wie vor bezweifelte man in London nämlich die Zweckmäßigkeit eines ernsthaften militärischen Durchbruchsversuchs nach Berlin. Dazu standen einfach nicht genügend Streitkräfte zur Verfügung, um einen derartigen Vorstoß im äußersten Falle durch die He216

217

218

Protokoll der amerikanisch-britischen Unterredung, 20.5.1959, FRUS, 1958-1960, vol. 7, part 2, S. 835 f. Pedlow, Allied Crisis Management, S. 92; zur britischen Skepsis: Sitzung BCOS, 26.5., und JPS-Paper »Berlin Contingency Planning«, 27.5.1959, PRO, DEFE 4/118. Gespräch Khrushchev - Ulbricht, 4.6.1959, New Evidence, S. 208-210.

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ranführung weiterer Verbände auch unterhalb der atomaren Schwelle zum Erfolg führen zu können. Wenn die Russen an den Zugangswegen wirklich Ernst machten, dann blieben nur die Alternativen einer politischen Lösung auf dem Verhandlungswege oder der militärischen Eskalation, im Endeffekt bis hin zum Atomkrieg. Aus Sicht Norstads als dem verantwortlichen Oberbefehlshaber durfte man sich dagegen in keinem Falle damit zufrieden geben, aus Angst vor einer nuklearen Eskalation die Gegenseite mit einem erfolgreichen Bluff davonkommen zu lassen. Die westlichen militärischen Optionen mussten wenigstens bis zu dem Punkt durchgehalten werden, an dem die sowjetische Seite einen bewaffneten Konvoi der Westmächte nur noch durch Feuereröffnung stoppen konnte. Damit würden nämlich sie es sein, die vor der Weltöffentlichkeit die Verantwortung für alle militärischen Weiterungen übernahmen 219 . Genau an diesem Punkt gingen die Auffassungen der britischen und amerikanischen Stabschefs, in Europa personifiziert in der Haltung Norstads, durchgängig auseinander. Die Briten teilten das amerikanische Risikokalkül nicht, dass die Sowjets aus Sorge vor einer nuklearen Eskalation eine militärische Konfrontation an den Berlinzugängen abbrechen würden. Machten sie dagegen Ernst, dann waren offenbar die Amerikaner zum letzten Schritt in einen allgemeinen Krieg bereit - und ob dann Großbritannien oder gar die Mehrheit der übrigen NATO-Staaten zur nuklearen Ausweitung eines lokalen Zusammenstoßes zu bringen waren, stand für die britischen Stabschefs noch sehr in Zweifel220. Im Nationalen Sicherheitsrat in Washington musste man sich deshalb eingestehen, dass weder Briten noch Franzosen bei den LIVE OAK-Plänen dazu zu bewegen waren, über einen Test der sowjetischen Absichten mit mehr als leicht bewaffneten Kräften hinauszugehen. Die »fundamental difference« diesseits und jenseits des Atlantik in der Frage einer Eskalation brachte Lord Mountbatten auf den Punkt: »Such a step would involve the destruction of our land, while for the United States [...] global war might only involve the destruction of a few cities.« Nicht nur bei den Bodentruppen, sondern auch beim Begleitschutz der Royal Air Force für Versorgungsflüge nach Berlin sahen sich die Briten dabei vor das Dilemma gestellt, dass sie trotz all ihrer Bedenken als die militärisch Verantwortlichen in Norddeutschland letztlich auch noch die operative Hauptlast derartiger Einsätze zu tragen haben würden 221 . Eine andere zeitweilige Hoffnung auf Entspannung an den Berlinzugängen hatte sich mittlerweile als nicht umsetzbar erwiesen, die Chruscev der DDRFührung gegenüber noch als aussichtsreich bewertet hatte: eine zumindest symbolische Reduzierung der westlichen Kontingente, die der sowjetischen Seite als Gegengabe für eine formelle Garantieerklärung über deren weiteren 219

220

221

Kritik Norstads gegenüber dem britischen Stabschef von LIVE OAK, General Cooper, 26.6.1959, PRO, DEFE 5/92, COS (59) 155. Diskussion der BCOS über eine JPS-Stellungnahme zum Berlin Contingency Planning bei LIVE OAK, ebd., DEFE 4/119, COS (59) 42, 7.7.1959. Diskussion im NSC, 16.7., sowie bei den BCOS, 28.7.1959, FRUS, 1958-1960, vol. 8, S. 1000 f. bzw. PRO, DEFE 32/6, COS (59) 48.

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freien Zugang in die Stadt hätte angeboten werden können. Dagegen opponierten die amerikanischen Stabschefs mit Erfolg, da eine maßvolle Verringerung der U.S.-Garnison zwar keine substanzielle Verschlechterung der militärischen Lage, wohl aber eine schwere psychologische Schädigung der westlichen Glaubwürdigkeit bei den Westberlinern riskierte222. Mehr Entlastung erbrachte schließlich eine in Moskau seit längerem erhoffte und im Herbst 1959 erfolgte Einladung Chruscev zu einem Besuch in den USA. Da im Übrigen inzwischen auch die andere militärische Krise zwischen dem Westen und der kommunistischen Welt um die Formosa-Frage zwischen Peking und Washington auf der Basis des Status quo entschärft worden war, konnte bei den Gesprächen zwischen dem amerikanischen Präsidenten und seinem sowjetischen Gast in Camp David zumindest atmosphärisch einiges von jenem entspannungspolitischen »Geist von Genf« aus der Gipfelkonferenz vom Sommer 1955 zurückgewonnen werden 223 . Weitgehend unbeeinflusst davon lief unterdessen die Kompromisssuche nach allseits akzeptablen militärischen Optionen bei LIVE OAK weiter. Wesentlich für die Briten war Norstads Klarstellung, dass man zu Planungszwecken alle Reaktionsmöglichkeiten von der Hinnahme eines sowjetischen Gewaltaktes bis zur Eskalation in einen allgemeinen Krieg durchprüfen musste, ohne damit aber die politische Entscheidungsgewalt darüber antasten zu wollen, welche der vorbereiteten militärischen Eskalationsstufen man im Falle einer Krise betreten würde 224 . Ein britisches Versteifen auf die weitergehende Forderung, zum Mittel einer bewaffneten Option erst nach Alarmierung der NATO insgesamt zu greifen, drohte jetzt in Washington und bei SHAPE allerdings mit dem Verdikt eines »Ausweichmanövers« abgestempelt zu werden. Damit lief London Gefahr, es auf innerwestlich nicht mehr abgestimmte unilaterale Maßnahmen der USA oder gar auf eine ernsthafte Gefährdung des Zusammenhalts in der NATO ankommen zu lassen. Die Briten blieben daher zwar bei ihrer Skepsis, ob das Bündnis im Falle einer neuen Berlinkrise wirklich bereit war, militärische Lösungen voll mitzutragen, die schnell zum unkalkulierbaren nuklearen Risiko werden konnten. Deshalb wollten sie bei den militärischen Tests höchstenfalls bis zu einem westlichen Vorstoß in Bataillonsstärke gehen, nahmen aber unter Verweis auf die letzte politische Entscheidungsbefugnis schließlich auch darüber hinausgehende militärische Planungen von LIVE OAK in Kauf225. Das fiel in London umso leichter, als die militärischen Berlinplanun222

223 224 225

Zu Khrushchevs Hoffnungen: Gespräch mit Ulbricht, 9.6., N e w Evidence, S. 208; zum Dissens zwischen State Department und JCS: Schreiben JCS an Secretary of Defense, 8.7., und Gespräch Eisenhowers mit seinem Sicherheitsberater Gray, 13.7.1959, FRUS, 1958-1960, vol. 8, S. 970 f. bzw. 983-985. Zum Besuch Khrushchevs in Camp David, September 1969: Zubok, Khrushchev, S. 10-12. Pedlow, Allied Crisis Management, S. 93 f. Das allmähliche Einschwenken auf amerikanische Wünsche ohne Aufgabe der eigenen grundsätzlichen Vorbehalte spiegelt sich in den Sitzungen der BCOS vom 18.8., 15.9., 16.10. u n d 18.11.1959 wieder, PRO, DEFE 4/120, COS (59) 52, DEFE 32/6, COS (59) 57 sowie DEFE 4/122, COS (59) 68 und COS (59) 73.

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gen im Zuge der amerikanisch-sowjetischen Klimaverbesserung inzwischen an Bedeutung verloren, so dass Norstad den LIVE OAK-Stab schließlich nur noch in verringertem Umfang aufrechterhalten konnte. Gleichzeitig kam es zu einer Teilung der Verantwortung zwischen Amerikanern und Briten für den Fall einer Realisierung der militärischen Optionen. Während dem in Norddeutschland kommandierenden Oberbefehlshaber der BAOR die Durchführung der Landoperationen obliegen sollte, übernahm das Oberkommando der U.S. Air Force in Wiesbaden die Kommandoführung im Falle von Luftzwischenfällen 226 . Auf dieser Basis arbeiteten die Stabsoffiziere bei LIVE OAK 1959/60 eine Serie militärischer Optionen aus, die von Einsätzen in Zug- und Kompaniestärke über Bataillons- und Regimentsstärke bis Divisionsstärke reichten. Die Absicht war es, zunächst lediglich die Ernsthaftigkeit der östlichen Blockademaßnahmen zu testen, um dann bis zu militärischen Durchbruchsversuchen zu gehen. Die von Norstad geforderte Verlegung einer weiteren U.S.-Division nach Europa als Rückhalt militärisch glaubhafter Optionen wurde zwar zwischen den JCS und SHAPE bis in die sechziger Jahre hinein erörtert, aber praktisch nie umgesetzt. Alle LIVE OAK-Pläne blieben auf konventionelle Streitkräfte beschränkt, wohl wissend, dass ein Scheitern der Durchbruchversuche mit größeren Verbänden die Gefahr zur atomaren Eskalation nahezu zwangsläufig beinhaltete 227 . Nach Ansicht Heusingers war spätestens der angedachte Plan für einen Durchbruch nach Berlin mit zwei oder drei Divisionen gegenüber 22 sowjetischen und sieben NVA-Divisionen »militärisch sinnlos«, so dass letztlich nur die Frage bleibe, »ob man es zum großen Atomkrieg kommen lassen wolle oder nicht« 228 . Für die Briten würde sogar bereits ein Vorstoß in Bataillonsstärke in einem »militärischen Debakel« enden. Da man aber alle Pläne unter politischen Vorbehalt gestellt hatte, stimmten sie ihnen schließlich formal zu, behielten sich aber im Krisenfalle vor, bis zum Ingangsetzen militärischer Maßnahmen erst eine längere Pause für politische Lösungen vorzuschalten. Eine militärische Beteiligung der Deutschen lehnten sie mit der Begründung ab, dass es sich hier um eine Frage der besonderen alliierten Berlinverantwortung handele. Selbst an den Planungen wollte man die Bundeswehr vorerst noch nicht beteiligen, da dann bei den vielen Lücken in der Bonner Sicherheitslage das Prinzip der Vertraulichkeit nicht mehr gewährleistet schien. Lediglich informiert zu halten gedachte man den deutschen Partner über einen Verbindungsoffizier bei LIVE OAK, ohne diesen jedoch mit Dokumenten zu versorgen. Nachdem im Herbst 1960 das von einem Berlin-Zwischenfall unmittelbar betroffene Oberkommando der Landstreitkräfte Europa Mitte (LANDCENT) aber eine eigene Studie zur 226 227

228

Pedlow, Allied Crisis Management S. 94 f. Die einzelnen Pläne LIFE STYLE (Zug), TRADE WIND (Bataillon), LUCKY STRIKE (Regiment) und JACK PINE (Division) sind eingehend beschrieben: ebd., S. 9 5 - 1 0 0 und Maloney, Notfallplanung, S. 5 - 1 2 . Bericht zur strategischen Lage vor dem Verteidigungsausschuss, 13.1.1960, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 3. Wahlperiode, 70. Sitzung.

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Zugangsfrage erstellt hatte, erklärten sich schließlich auch die britischen Stabschefs auf Empfehlung Norstads dazu bereit, wenigstens dessen deutschen Oberbefehlshaber Speidel mündlich und auf strikt persönlicher Basis über die konkrete Arbeit bei LIVE OAK zu informieren 229 . So standen die Dinge, als im Januar 1961 mit dem neuen amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy die Frage eines grundsätzlichen Strategiewechsels im Bündnis mit dem Ziel einer schrittweisen Denuklearisierung auf die Tagesordnung der NATO kam. Das traf zusammen mit einer neuerlichen Verhärtung der Ost-West-Beziehungen seit dem Abbruch des Pariser Gipfels vom Mai 1960 als sowjetische Antwort auf den Abschuss eines amerikanischen Fernaufklärers U-2 über der Sowjetunion. Erste Absetzbewegungen der Volksrepublik China von der sowjetischen Außenpolitik und offene Kritik der DDR-Führung an den zu geringen deutschlandpolitischen Tantiemen des Entspannungskurses seit Camp David fanden jetzt Widerhall in der sowjetischen Führung und veranlassten Khrushchev, seine Überlegungen über einen Separatfrieden mit der DDR mit allen Konsequenzen für Berlin wieder aufzunehmen. Zunächst gingen dazu im Februar 1961 neuerliche Vorschläge für eine Deutschland- und Berlinlösung an die Adresse Adenauers. Im März verstärkten sich die Signale direkt an Washington, dass der sowjetische Parteichef mit Rücksicht auf sein Prestige nunmehr genügend Zeit habe verstreichen lassen, um in der Berlinfrage endlich etwas Greifbares an westlichen Zugeständnissen erwarten zu können230. Der neuen U.S.-Regierung war dabei natürlich ebenso klar wie ihrer Vorgängerin, dass die Stadt im Ernstfall nicht zu verteidigen war, »except by the decreasingly credible threat of general war«. Unverrückt blieb andererseits das mit der Behauptung Berlins verknüpfte Problem der amerikanischen Glaubwürdigkeit in ihrem gesamten Allianzsystem, weshalb hier »no place for compromise« sei231. Kennedys Sonderbotschafter Dean Acheson, der die Westeuropäer schon im Frühjahr 1961 für ein strategisches Umdenken gewinnen sollte, war sich noch aus seiner Zeit als Außenminister unter Truman der besonderen Problematik eines Offenhaltens der Berlinzugänge bewusst. Er hielt sie aber mit konventionellen Mitteln für lösbar, wenn die USA sich im Fall einer Blockade zu einer militärischen Aktion in Divisionsstärke entschlossen232. Damit lag er nahe an den Forderungen der JCS, die dafür allerdings inzwischen mehr als eine Divisi229

230 231

232

Stellungnahme BCOS zu TRADE WIND, 9.8., sowie Diskussion einer deutschen Beteiligung, 12.8.1960, PRO, DEFE 4/128, COS (60) 50 bzw. COS (60) 51; amerikanisch-britische Einigung auf einen deutschen Verbindungsoffizier bei LIVE OAK, Ende August 1960, ebd., COS (60) 52 bzw. 60; zu Speidels erfolgreichem Vorstoß Ende November 1960, ebd., DEFE 4/130, COS (60) 73. Zur Entwicklung 1960/61: Zubok, Khrushchev, S. 13-16. Positionspapier »Key National Security Problems«, 10.2., sowie Memorandum von Sicherheitsberater McGeorge Bundy an Kennedy, 4.4.1961, zit. nach Biermann, John F. Kennedy, S. 102 f.; zu dessen schrittweisem Umschwenken vom Hardliner zum Vertreter einer Verhandlungslösung vgl. Nünlist, Kennedys rechte Hand, S. 87-100. Zu Achesons Einschätzung: Biermann, John F. Kennedy, S. 103 f. und Münger, Kennedy, S. 68 f.

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on für erforderlich hielten, wollte man den Gegner unterhalb der atomaren Schwelle zum Einlenken zwingen. Da man die Bereitschaft der Briten und Franzosen dazu aber als gering einschätzte und auch Kennedys Erwartung über eine direkte Teilnahme deutscher Streitkräfte bei deren derzeitigem Klarstand skeptisch beurteilte, optierten die Stabschefs im Gegensatz zur neuen politischen Führung weiterhin für ein schnelles Umschalten von einem konventionellen Test zu einer atomaren Reaktion 233 . Die Drohung mit einem Atomkrieg war auch in den Augen des deutschen Verteidigungsministers Strauß, der den neuen Vorstellungen über eine schrittweise Denuklearisierung der NATO ablehnend gegenüberstand, das einzig wirksame Mittel, um Berlin zu halten. Damit unterschied er sich jetzt freilich noch von seinem Kanzler, der gegenüber Kennedy ausgesprochen zurückhaltend auf die Frage eines frühen Einsatzes von Atomwaffen reagierte 234 . Der neue U.S.-Verteidigungsminister Robert McNamara forderte den JCS unter diesen Umständen eine Überarbeitung der Berlinpläne ab, die nunmehr vorrangig auf einen Offnungsversuch mit verstärkten konventionellen Mitteln und - trotz aller Bonner Zurückhaltung - auch auf einer Mitwirkung deutscher Kräfte basieren sollten. Norstad meldete daraufhin, dass man inzwischen bei LIVE OAK Einvernehmen über konventionelle Optionen bis einschließlich Divisionsstärke erzielt habe und jetzt bereits an einem zusätzlichen unilateralen Plan für einen amerikanischen Vorstoß in Korpsstärke arbeite. »Extremely concerned« zeigte sich der SACEUR vorerst aber noch bei dem Gedanken an eine deutsche Mitwirkung, da ein Vorstoß von Bundeswehrverbänden auf DDRTerritorium auf den Warschauer Pakt insgesamt als krisenverschärfendes Signal wirken musste 235 . Unübersehbar war und blieb bei alledem, dass die Briten jeder größeren konventionellen Aktion gegenüber nach wie vor größte Vorbehalte hatten, da damit immer eigene oder gegnerische Fehlkalkulationen riskiert wurden, die schnell vom lokalen Zwischenfall zum allgemeinen Krieg führen konnten. Bei der für den Einsatz von LIVE OAK-Verbänden verantwortlichen Rheinarmee hatte man daher bisher noch keine Instruktionen aus London für die Ausbildung entsprechender Kräfte in Divisionsstärke erhalten, obwohl Norstad bereits entsprechende Forderungen gestellt hatte 236 . Und obwohl man das in Washington sehr kritisch aufnahm, blieben die Stabschefs in London bei ihrer Skepsis gegen die »militärisch ungesunden« LIVE OAK-Pläne, verzögerten bei der Rheinarmee sogar weiterhin die Ausbildung der dafür vorgesehenen Ver-

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236

Kaplan, The Berlin Crisis, S. 68 f.; zum Gespräch Kennedy - Adenauer, 13.4.1961: Schwarz, Adenauer, Bd 2, Bd 2, S. 636 f. Gespräch von Strauß mit Sicherheitsexperten des State Department, 10.5., bzw. von Adenauer mit Kennedy, 13.4.1961, LOC, DDRS 1997, 3477 bzw. Schwarz, Adenauer, Bd 2, S. 637. McNamara an Chairman JCS, 19.5., und Norstad an McNamara, 29.5.1961, NA, RG 200, McNamara Papers, box 113 bzw. LOC, DDRS 1995, 63. Sitzung der BCOS, 30.5.1961, PRO, DEFE 4/135, COS (61) 32; vgl. auch Gossel, Briten, Deutsche und Europa, S. 219.

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bände, obwohl Norstad warnte, »that the time for a show-down with the Russians was at hand«237. Was den SACEUR so besorgt machte, war die Verschärfung der sowjetischen Haltung in der Berlinfrage, die sich seit Frühjahr 1961 ankündigte. So berichtete Generalinspekteur Friedrich Foertsch von der Stabsrahmenübung SHAPEX 61 im Mai, der NATO-Generalsekretär habe warnend darauf verwiesen, dass sich das Bündnis in einer zu erwartenden neuen Berlinkrise nicht unvorbereitet zeigen dürfe238. Wie berechtigt solche Besorgnis war, musste Präsident Kennedy wenige Tage später bei seinem Treffen mit Chruscev in Wien erfahren239. Der sowjetische Parteichef schaltete jetzt voll zurück auf seine deutschlandpolitischen Tempovorstellungen aus dem November 1958. Entweder man komme in den nächsten sechs Monaten zu einem amerikanischsowjetischen Einvernehmen über einen Friedensvertrag mit Deutschland oder die Sowjetunion werde im Dezember 1961 einen Separatfrieden mit der DDR abschließen. Damit würden dann auch alle Rechte der Siegermächte aus der deutschen Kapitulation von 1945 hinfällig, womit die Zugangsrechte der Westmächte nach Berlin natürlich ebenfalls erloschen. Was dahinter zum Vorschein kam, war einmal ein gewachsenes sowjetisches Selbstbewusstsein, das sich nicht zuletzt auf die technologischen Erfolge in der Weltraumforschung seit 1957 und den ersten erfolgreichen Test einer Interkontinentalrakete im Februar 1961 stützte. Da mithin auch die USA inzwischen nuklear verwundbar geworden waren, bewertete Chruscev deren Warnungen über einen möglichen Krieg um die Berlinzugänge als »bloßen Bluff«. Im Übrigen hatte er hinreichende Informationen darüber vorliegen, dass die neue politische Führungsmannschaft in Washington an einer Verhandlungslösung in der Deutschland- und Berlinfrage interessiert war. Der Fehlschlag einer von den USA unterstützten Invasion von Exilkubanern auf der Karibikinsel tat ein Übriges, um den sowjetischen Parteichef davon zu überzeugen, dass er es auf der Gegenseite mit einem schwachen Präsidenten zu tun hatte. Von daher rührte seine Taktik für die Wiener Gespräche, es nunmehr seinerseits auf einen Versuch des harten Herangehens bis an den Rand eines Krieges ankommen zu lassen240. Kennedy suchte noch in Wien im Gegenzug klar zu machen, dass die USA um ihrer internationalen Glaubwürdigkeit willen ihre Position in Berlin gar nicht kampflos räumen könnten. Er musste sich aber sagen lassen, dass Moskau zwar keinen Krieg wolle, davor aber auch nicht zurückschrecke, wenn Washington kompromisslos bleibe. Der Anstieg der Flüchtlingszahlen aus der 237 238 239

240

Sitzungen der BCOS, 6.6., und 20.6. sowie 4.7.1961, ebd., DEFE 4/136, COS (61) 34, 38 und 42. Kurzbericht über SHAPEX 61, 29.5.1961, BA-MA, BW 2/2229. Das Treffen in Wien am 3./4.6.1961 ist eingehend beschrieben bei Beschloss, The Crisis Years, S. 193-225; vgl. jetzt auch Biermann, John F. Kennedy, S. 114-121 und Münger, Kennedy, S. 74-81. Auf der Basis einer eingehenden Auswertung sowjetischer Quellen: Zubok, Khrushchev, S. 17-19; Zitat auf S. 18.

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DDR mit allen ihren Folgewirkungen für die politische und ökonomische Stabilität des ostdeutschen Verbündeten ließ Chruscev daher unmittelbar nach Wien zum Mittel eines förmlichen Ultimatums greifen: einen allgemeinen Friedensvertrag mit Deutschland bis Dezember 1961 oder einen sowjetischen Separatfrieden mit der DDR. Die U.S.-Stabschefs schlugen daraufhin die Ausrufung des nationalen Notstands vor, der sofortige Mobilisierungsmaßnahmen für eine notwendig werdende Verstärkung der eigenen Truppen erlaubt hätte. Sie wurden darin nachdrücklich von Kennedys Sonderbeauftragten für NATO-Fragen, Dean Acheson, unterstützt. Ein solches Anheizen der Krise war jedoch nicht im Sinne des Präsidenten, der davon nur innenpolitische Panikreaktionen und außenpolitischen Schaden befürchtete 241 . Aber auch militärisch war dieser Weg aus der Sicht seines Sicherheitsberaters Bundy nicht ohne überhöhtes Risiko gangbar, da die Einsatzpläne der NATO wie des LIVE OAK-Stabes »may leave you very little choice as how to face the moment of thermo-nuclear truth« 242 . Auf der anderen Seite zeigten sich die unmittelbar betroffenen Deutschen zunehmend beunruhigt von einer zu kompromissbereiten Haltung der USA. Vor dem Militärausschuss der NATO gab Heusinger als sein erster deutscher Vorsitzender Anfang Juli 1961 eine Erklärung ab, die in der Forderung nach einer »sehr festen Haltung des Westens« gipfelte. Die Sowjetunion wolle »zur Zeit keinen dritten Weltkrieg«; deshalb komme es darauf an, »die Glaubwürdigkeit des Deterrent unter allen Umständen aufrechtzuerhalten, d.h. die Entschlossenheit, das Deterrent, wenn notwendig auch einzusetzen«. Sein Verteidigungsminister Strauß, darin jetzt zumindest verbal wieder einig mit seinem Kanzler, suchte deshalb seinen neuen amerikanischen Kollegen McNamara dafür zu gewinnen, es auf einen ernsthaften Test ankommen zu lassen: »We must risk the poker game.« Die Deutschen seien bereit, ihren Anteil daran mitzutragen, wenn man endlich den unnatürlichen Zustand beende, der sie bisher von den militärischen Berlinplanungen ausgeschlossen habe 243 . Da inzwischen auch der SACEUR Norstad seine Auffassung geändert hatte und nunmehr empfahl, den Deutschen Militärischen Vertreter bei SHAPE in die LIVE OAKPläne einzuweisen, wurde ab Anfang August 1961 immerhin ein ständiger deutscher militärischer Beobachter zugelassen 244 . Die Skepsis gegen die dortigen Planungen einer Öffnung der Berlinzugänge mit sich steigernden konventionellen Mitteln erhöhte sich damit jedoch nur, 241

242 243

244

Abschlussgespräch Kennedy - Khrushchev in Wien, 4.6.1961, Biermann, John F. Kennedy, S. 120; das sowjetische Aide-Memoire zur Deutschlandfrage vom selben Tage ist abgedr. in: Documents on Germany, S. 642-645; zu den inneramerikanische Diskussionen darüber: Biermann, John F. Kennedy, S. 122-127 und Münger, John F. Kennedy, S. 85-92. Bundy an Kennedy, 7.7.1961, zit. nach Biermann, John F. Kennedy, S. 126. Erklärung des Chairman MC, 6.7., BA-MA, BW 2/20.373 (Hervorhebungen - Unterstreichungen - im Original); Gespräch Strauß - McNamara, 14.7., NA, RG 218, Central Decimal File 1961, box 177, CCS 9165/5420 Germany (West) und Brief Adenauer an Acheson, 21.7.1961, StBKAH, III 1. Pedlow, Allied Crisis Management, S. 101; vgl. auch Foertsch an Heusinger, 17.7.1961, BA-MA, BW 2/20.373.

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denn auch im BMVg sah man »Testversuche zu Lande« als »wenig sinnvoll« an. Generalinspekteur Foertsch hielt die »Vorstellung, dass eine Auseinandersetzung sich auf den Schlauch entlang der Autobahn [nach Berlin] beschränken lässt«, für höchst zweifelhaft. Noch bedenklicher stimmte es ihn, wenn man bei einem Steckenbleiben der eigenen Kräfte einen »Aufmarsch von 8-10 Div. beiderseits Helmstedt« vornehmen musste. Das konnte beim derzeitigen Kräftepotenzial der NATO nur bedeuten, dass man die Truppen in den Einsatzräumen nördlich und südlich davon erheblich ausdünnen musste - mit allen Konsequenzen für eine immer noch unfertige Vorwärtsverteidigung! Dies sahen die Briten nicht wesentlich anders, weshalb sie auch weiterhin Tests der sowjetischen Absichten auf Kräfte unterhalb von Bataillonsstärke begrenzt und das Schwergewicht auf eine Luftversorgung der Stadt gesetzt sehen wollten245. Grundsätzlich waren sich dabei politische und militärische Führung in London einig, dass man aus einer Position immer noch vorhandener westlicher Stärke heraus nach einer Verhandlungslösung suchen sollte246. Das war letztlich auch die Richtschnur in der Kennedy-Administration, die der Präsident in seiner Rede an die Nation am 25. Juli 1961 öffentlich machte. Wie in Wien stellte er eine fortbestehende Verhandlungslösung heraus, allerdings nicht um den Preis einer Aufgabe der amerikanischen Position in Berlin. Als Grundlagen dafür konkretisierte er in seinen drei »Essentials« den Zugang nach, die Truppenstationierung in und die Uberlebensfähigkeit des Westteils der Stadt - und schränkte sie damit gleichzeitig für die sowjetische Seite erkennbar eben auch darauf ein! Ganz im Sinne seiner vordringlicheren Absicht einer schrittweisen Verminderung der nuklearen Abhängigkeiten in der Bündnisstrategie verband er dies mit dem Antrag an den Kongress zu einer Aufstockung des Verteidigungsetats für den Ausbau der konventionellen Streitkräfte. Dass er dabei eine Verbesserung des Zivilschutzes und die Warnung an die Sowjetunion mit in seine Rede eingeflochten hatte, im Falle einer östlichen Krisenverschärfung auch einen Atomkrieg nicht auszuschließen, reichte freilich aus, um genau das herbeizuführen, was der Präsident bisher tunlichst vermieden wissen wollte: unübersehbare Anzeichen von Massenhysterie in der amerikanischen Öffentlichkeit im Angesicht eines dann möglichen atomaren Schlagabtausches247. Das beschränkte sich nicht allein auf die amerikanische Öffentlichkeit. Höchst alarmiert zeigten sich auch der deutsche Bundeskanzler und sein Verteidigungsminister, die bisher doch ausdrücklich Festigkeit eingefordert hatten. Gegenüber U.S.-Verteidigungsminister McNamara sprach sich Strauß jetzt eindeutig gegen einen Einsatz von Atomwaffen aus, wie er sich aus einem ernst245 246 247

Zu den deutschen Ansichten: Foertsch an Heusinger, 17.7., BA-MA, BW 2/20.373; zu den britischen Überlegungen: Sitzung der BCOS, 18.7.1961, PRO, DEFE 4/137, COS (61) 45. Sitzungen der BCOS, 25.7. und 31.7. bzw. des Kabinetts, 28.7.1961, ebd., COS (61) 47 und 49 bzw. CAB 128/35, C.C. (61) 45. Zur Sitzung des NSC, 19.7., und zur Präsidentenrede, 25.7.1961: Biermann, John F. Kennedy, S. 127-132 und Münger, Kennedy, S. 92-99.

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haften Versuch zur Öffnung der Berlinzugänge mit Bodentruppen entwickeln konnte. Anfänglich ging er sogar so weit, statt einer Verteidigung die »Evakuierung der gesamten Bevölkerung von Berlin« vorzuschlagen, nahm dies später allerdings mit dem Bemerken zurück, natürlich habe er nicht gemeint, dass es Berlin etwa nicht wert sei, verteidigt zu werden. Nur scheute er ähnlich wie 1959 Adenauer gegenüber Dulles die damit verbundenen Konsequenzen einer darin schnell nuklear eskalierenden Konfrontation. Doch McNamara ließ den Deutschen, der doch noch wenige Wochen zuvor unbedingt für ein hartes Durchstehen der Nervenprobe plädiert hatte, jetzt nicht aus der psychologischen Zwickmühle entkommen. Wolle man nicht unter sowjetischem Druck irreversible Zugeständnisse in der Berlinfrage machen, dann müsse man eben auch den möglichen militärischen Weiterungen aus einer sich verschärfenden Krise ins Auge sehen - und dabei könne man eine »escalation to nuclear war« nicht ausschließen. Strauß hielt wie sein Generalinspekteur jedoch den Westen truppenmäßig für nicht stark genug, um einen konventionellen Feldzug um die Berlinzugänge auf ostdeutschem Boden gewinnen zu können, glaubte die NATO aber andererseits auch nicht geschlossen hinter einem dann unausweichlichen Atomkrieg um dieses begrenzten Zieles willen. Deshalb schlug er wie sein Kanzler als Alternative wirtschaftlichen Gegendruck an dafür geeigneten Schwachpunkten des Ostblocks wie Blockaden der Seewege in die Ostsee oder das Schwarze Meer vor248. Da die USA aber auf konkrete militärische Maßnahmen der Bundesrepublik drängten, stimmten sich Adenauer und Strauß Anfang August 1961 darauf ab, der NATO bis Anfang 1962 die Unterstellung von drei weiteren deutschen Divisionen unter NATO-Kommando in Aussicht zu stellen249. Das würde allerdings die deutschen Kräfte gleichzeitig zum stärksten Kontingent bei der in Norddeutschland eingesetzten Northern Army Group (NORTHAG) der NATO machen, die bisher unter britischem Kommando stand. Militärisch verbesserte dies unzweifelhaft die Bedingungen für eine Vorwärtsverteidigung und verstärkte damit zugleich den Rückhalt für mögliche LIVE OAK-Operationen im Falle einer Berlin-Blockade. Sorgen bereitete den Briten jedoch die Möglichkeit, dass dann möglicherweise die Kommandoverhältnisse in Norddeutschland zugunsten der Deutschen verändert werden mussten. Damit wären ihnen aber automatisch auch Kompetenzen beim Einsatz der von den Westmächten bereitgestellten Kräfte für mögliche Öffnungsversuche der Berlinzugänge zugefallen, was aus Sicht Londons politisch nicht akzeptabel war250. Die britischen Befürchtungen in dieser Richtung sollten sich in der Zukunft jedoch als unbegründet erweisen, da die Bundesrepublik um eines starken britischen Beitrages

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Gespräche Strauß - McNamara, 29./30.7., und Adenauer -Außenminister Rusk, 10.8.1961, LOC, DDRS 1993, 1941 bzw. StBKAH, IX, 88 III 1. Besprechung in Caddenabbia, 5.-7.8.1961, Schwarz, Adenauer, Bd 2, S. 655 f. Bericht JP (61) 152 (Final) »Forward Strategy for Northern Army Group«, 17.11.1961, PRO, DEFE 4/140.

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Zweiter Teil: Aufbau der Bundeswehr und modifizierte atomare Abwehrplanung

zu ihrer Verteidigung willen den Oberbefehl bei der NORTHAG durchgängig in den Händen des britischen Oberbefehlshabers der Rheinarmee beließ. Entscheidend für den weiteren Verlauf der Berlinkrise waren indes nicht die variierenden Einschätzungen und Absichtserklärungen in den USA wie bei ihren westeuropäischen Verbündeten, sondern die Perzeption der KennedyRede vom Juli 1961 in der Sowjetunion. Gerade weil Chruscev den jungen Präsidenten anders als seinen früheren Gegenspieler Dulles als gutwillig, aber schwach einschätzte, signalisierte ihm dessen Mischung aus Verhandlungsangebot und militärischer Drohung Unberechenbarkeit in der amerikanischen Krisensteuerung. Kennedy schien aus Moskauer Sicht zwischen Tauben und Falken unter seinen politischen und militärischen Beratern eingeklemmt, also nicht frei in seinen Entscheidungen zu sein. Krieg war mithin aus einer Fehlperzeption in Washington heraus nicht mehr ausgeschlossen, und deswegen hielt der sowjetische Parteichef nun seinerseits Besonnenheit in Moskau für angeraten. Anders als noch im Frühjahr 1961 gab er daher zwar dem auf ein offensiveres Vorgehen drängenden Ulbricht jetzt im August den Weg frei für ein Abriegeln der Zugänge nach West-Berlin aus dem Ostteil der Stadt und der DDR, eine Aktion, die freilich anders als von der DDR-Führung eigentlich angedacht in ihren Konsequenzen letztlich defensiv angelegt war251. Die Frage, ab wann im Westen konkretere Hinweise über die Absicht zum Bau der Berliner Mauer vorlagen252, ist dabei sekundär. Auch die eher symbolischen Gesten der USA, vom Besuch des Vizepräsidenten Lyndon B. Johnson über die Ernennung des >Helden der Luftbrücke^ General Lucius D. Clay, zum amerikanischen Missionschef in der Stadt bis hin zur Verstärkung der Berliner U.S.-Garnison253 können für eine eingehendere Analyse der militärischen Lage in West-Berlin nach dem Mauerbau außer Betracht bleiben. Bei den Planungen von LIVE OAK waren jetzt immerhin die britischen Verzögerungen bei Ausbildung und Ausstattung der für einen Berlineinsatz vorgesehenen Verbände zu überwinden254. Das stillschweigende amerikanisch-sowjetische Einvernehmen über eine mit dem Mauerbau verbundene wechselseitige Hinnahme des Status quo wurde unterdessen bei manchem in Bonn mit Enttäuschung, im Berliner

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Übereinstimmende Analyse von Khrushchevs Reaktion auf die Kennedy-Rede während und nach dem Besuch des U.S.-Diplomaten McCloy auf der Krim Ende Juli/Anfang August 1961 bei Bird, The Chairman, S. 508-510 und Zubok, Khrushchev, S. 20-23; zum Drängen Ulbrichts und den Vorbehalten dagegen bei der sowjetischen Führung und im Warschauer Pakt vgl. auch Lemke, Die Berlinkrise, S. 163-166. Die Entscheidungsfindung zwischen Moskau und Ostberlin ist jetzt eingehend dokumentiert in: Ulbricht, Chruschtschow und die Mauer. Die Annahmen darüber sind mit Quellenangaben zusammengefasst bei Biermann, John F. Kennedy, S. 134, Anm. 155; zu einer Nachricht an den Regierenden Bürgermeister Brandt seitens des SPD-Ostbüros vgl. Merseburger, Willy Brandt, S. 393 f. Biermann, John F. Kennedy, S. 137 f. und Jordan, Norstad, S. 172-181. Sitzung BCOS, 15.8.1961, PRO, DEFE 4/137, COS (61) 53.

I. Die geostrategische Lage der Bundesrepublik, ihre Flanken und ihr Vorfeld

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Senat gar mit Verbitterung quittiert255. Bei den seit 1958 am meisten für westliche Härte eintretenden Regierungen in Bonn und Paris war jetzt allerdings auch unverkennbare Erleichterung über den militärisch glimpflich verlaufenen Ausgang der Krise zu verspüren 256 . An den LIVE OAK-Planungen zeigten sich dagegen während und nach dem Mauerbau einmal mehr die unveränderten Risse in den Auffassungen zwischen den auf konventionelle Optionen im Falle einer neuen Krise setzenden Amerikanern und ihren britischen wie deutschen Kritikern. General Norstad betonte weiterhin das notwendige Risiko zum Einsatz von Atomwaffen, falls eine Blockade nicht durch diplomatischen oder ökonomischen Gegendruck aufzubrechen war. Sein Verteidigungsminister McNamara wollte dem zwar schrittweise durch eine generelle konventionelle Aufrüstung und davon erwartete verbesserte Alternativen für Offnungsversuche unterhalb der nuklearen Schwelle entgehen, fand dafür aber vorerst noch keine hinreichenden Fortschritte bei der Verstärkung und Modernisierung herkömmlicher Streitkräfte auf den Weg gebracht. Unter diesen Umständen sahen sich letztlich auch die Briten gezwungen, die LIVE OAK-Pläne im bisherigen Umfang und entlang der angedachten Eskalationsstufen beizubehalten, wenngleich damit ein Fortbestehen des unbefriedigenden Zustandes verbunden war, dass »once again a Britisch Commander-in-Chief [of the BAOR] would be required to prepare plans which did not enjoy the support of Her Majesty's Government« 257 . In Washington blieben die JCS unterdessen im September 1961 immer noch auf offensivere sowjetische Maßnahmen in und um Berlin gefasst. Damit stand man aber auch weiter vor dem Dilemma, dass erfolgversprechende konventionelle Gegenmaßnahmen an den Zugangswegen nicht zur Verfügung standen, der Übergang zu einem allgemeinen Krieg auf der Basis des atomaren Operationsplans für 1962 (= Single Integrated Operational Plan, SIOP-62) andererseits unverhältnismäßig hohe Schäden bei beiden Konfliktparteien riskierte. Um den Präsidenten, der die Behauptung der eigenen Position in West-Berlin aus Gründen der amerikanischen Glaubwürdigkeit als Ziel von hoher Priorität ansah, wenigstens eine schadensreduziertere Option anbieten zu können, trug man Kennedy Gedanken über einen möglichen »preemptive strike« gegen die Sow-

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Bundesminister Heinrich Krone vertraute seinem Tagbuch schon am 15./17.8.1961 an, es werde »immer deutlicher, daß die Amerikaner nichts tun werden«, Krone, Aufzeichnungen, S. 162; zur Verbitterung in West-Berlin: Merseburger, Willy Brandt, S. 396-400. Gespräch Adenauers mit dem sowjetischen Botschafter Smirnov und des französischen Botschafters in den USA, Alphand, mit seinem Außenminister Couve de Murville, beide 16.8.1961, Schwarz, Adenauer, Bd 2, S. 663-665 bzw. Alphand, L'etonnement d'etre, S. 361. Sitzung BCOS, 28.8.1961, PRO, DEFE 4/138, COS (61) 56. Vorausgegangen war dem eine Stellungnahme Norstads zum Berlin Contingency Planning, 23.8., und deren Bewertung durch McNamara an Kennedy, 25.8.1961, lordan, Norstad, S. 184 bzw. NA, RG 200, McNamara Papers, box 113.

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Zweiter Teil: Aufbau der Bundeswehr und modifizierte atomare Abwehrplanung

jetunion vor258. Danach wurde für den Fall einer anders nicht mehr beherrschbaren neuen Berlinkrise die Planung für einen begrenzten atomaren Erstschlag allein gegen die bis dahin aufgeklärte Handvoll sowjetischer Interkontinentalraketen vorgeschlagen, sobald einwandfreie Meldungen über einen unmittelbar bevorstehenden strategischen Angriff des Gegners vorlagen. Da sich die Atomangriffe für die sowjetische Führung erkennbar nicht gegen ihre Bevölkerungszentren (counter cities), sondern gegen ihre Raketenabschussbasen (counter forces) richten würden, mochte dies einen allgemeinen nuklearen Overkill verhindern und Moskau doch noch rechtzeitig zur Zurücknahme seiner Pressionen in Berlin zwingen. Jenseits derartiger interner Überlegungen musste sich Anfang September Adenauer erneut sagen lassen, dass ein Kampf um die Berlinzugänge nicht konventionell begrenzbar sein würde, obwohl er selbst - wie sein Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter bewies - gar nicht an einer Krisenverschärfung interessiert war. Eine für diesen Fall bei den JCS angedachte Einberufung von Reservisten in den USA war im Übrigen nach übereinstimmendem Urteil von Kennedys zivilen Sicherheitsfachleuten kontraproduktiv, da dies eine Krise nur einseitig verschärfen und damit alle psychologischen Vorteile vor der Weltöffentlichkeit der sowjetischen Seite zuspielen würde259. Die USA verfolgten deshalb McNamaras Gedanken weiter, die konventionelle Aufrüstung der NATO voranzutreiben, um damit zum einen echte Alternativen zu einem sofortigen Atomkrieg zu erhalten, gleichzeitig aber auch die Sowjetunion von einseitigen militärischen Maßnahmen in Berlin abzuschrecken und sie stattdessen an den Verhandlungstisch zu bekommen260. In Sorge um zu lange militärische Reaktionszeiten bei einem überraschenden sowjetischen Vorgehen gegen West-Berlin suchte inzwischen Norstad in seiner Funktion als USCINCEUR seine Kommandobefugnisse über die amerikanischen Verbände wenigstens so auszubauen, dass er damit unilaterale Optionen für die Auslösung und Führung von LIVE OAK-Maßnahmen erlangen würde, handelte sich damit aber nur zusätzliches britisches Misstrauen ein. Auch als die Amerikaner versicherten, dass es ihnen bei alledem mehr um psychologische Signale an die sowjetische Adresse denn um handfeste militärische Zielsetzungen ging, blieben die britischen Stabschefs bei ihrer Befürchtung, dass ihr Partner die Gefahren denkbarer »Kettenreaktionen« aus zu weitgehenden militärischen Optionen unterschätzte261. Präsident Kennedy war daher zu einer entsprechenden Ermächtigung seines Oberbefehlshabers in Europa nur bereit, 258 p j e entsprechenden Dokumente zu Kaplan, JFK's First Strike Plan sind inzwischen zugänglich gemacht in: First Strike Options. 259

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Gespräch mit Norstad, 7.9., sowie Schreiben Henry Kissingers an McGeorge Bundy, 8.9.1961, Schwarz, Adenauer, Bd 2, S. 670 bzw. NA, RG 200, McNamara Papers, box 82. Bericht des Außenministers vor dem britischen Kabinett über das Außenministertreffen der Westmächte in Paris, 5.9.1961, PRO, CAB 128/35, C.C. (61) 49. Pedlow, Allied Crisis Management, S. 77 f. und Sitzungen BCOS, 19. sowie 27.9.1961, PRO, DEFE 4/138, COS (61) 62 bzw. COS (61) 65.

I. Die geostrategische Lage der Bundesrepublik, ihre Flanken und ihr Vorfeld

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wenn vorher darüber Konsens mit den Briten, Franzosen und Deutschen hergestellt werden konnte, und dafür waren insbesondere die Briten nicht zu gewinnen 262 . Ende Oktober kamen die inneramerikanischen Planspiele über mögliche Reaktionen auf eine künftige Berlinkrise schließlich zu ihrem vorläufigen Abschluss. Der Präsident erließ eine neue Weisung für die politischen und militärischen Optionen der USA, die bewusst erst nach drei nichtnuklearen Phasen auf der vierten Eskalationsstufe den Einsatz von Atomwaffen einplanen sollten. Dabei genossen diplomatische Verhandlungen, ökonomische Embargomaßnahmen und konventionelle militärische Tests der sowjetischen Absichten absoluten Vorrang vor dem dann nur noch schwer steuerbaren Rückgriff auf die nukleare Option 263 . Davon konnte sich der Deutsche Militärische Vertreter in Washington, Generalmajor Johannes Steinhoff, im Spätherbst 1961 auf dem Präsidentenlandsitz in Camp David überzeugen, als er bei einem Planspiel zu Berlin den Führer der Militärkräfte des Warschauer Paktes zu spielen hatte. Obwohl er durch eine Fülle von Einzelmaßnahmen die immer zeitaufwendigeren Probleme bei der Koordination der westlichen konventionellen Gegenschritte an den gesperrten Zugangswegen offen zu legen verstand, vermochte er die Spielleitung West zu keinem Zeitpunkt zu einem Nukleareinsatz zu bewegen 264 . Entscheidend für die Zukunft waren aber nicht mehr die fortlaufenden Planungen bei LIVE OAK über mögliche militärische Öffnungsversuche bei einer neuerlichen Blockade. Über sie konnte im Laufe des Jahres 1962 allgemeines Einvernehmen erzielt werden. Deutsche und Briten blieben sich dabei durchgängig einig in ihrer Skepsis, dass eine rein konventionelle militärische Lösung nicht möglich war, da die Kräfteverhältnisse bei einem Vorstoß westlicher Verbände auf DDR-Territorium einfach zu ungünstig lagen 265 . Wesentlicher als diese militärischen Planungen war indes, dass die Sowjetunion zwar mit der Wiederaufnahme von Atomtests Ende August 1961 ebenfalls ein Zeichen militärischer Härte setzte, mit dem Mauerbau jedoch das bei weitem bedeutsamere Signal für ihre künftige Akzeptanz des Status quo in Berlin aussandte. Dieser Eindruck sollte sich im Oktober 1961 verstärken, als sich am Kontrollpunkt Checkpoint Charlie in Berlin kurzzeitig amerikanische und sowjetische Panzer gegenüberstanden, die Krise aber nach einer Kontaktaufnahme zwischen Chruscev und Kennedy ohne militärische Weiterungen bereinigt werden McNamara an Außenminister Rusk, 30.9, sowie an die JCS, 2.10.1961, NA, RG200, McNamara Papers, box 113; vgl. auch Pedlow, Allied Crisis Management, S. 76. 263 Die NSAM No. 109 »Berlin Contingency Planning«, o.D., ist einem Brief Kennedys an Norstad, 20.10.1961, beigefügt, FRUS, 1961-1963, vol. 14, S. 5 2 1 - 5 2 3 und eingehend analysiert bei Biermann, John F. Kennedy, S. 149-151. Vgl. auch die skeptische britische Stellungnahme vom 19.1.1962 dazu, die sich insbesondere gegen militärische Pläne ab Divisionsstärke wandte: Sitzung BCOS, 21.1.1962, PRO, DEFE 4/142, COS (62) 7. 264 Steinhoff/Pommerin, Strategiewechsel, S. 91. 265 Der Weg zu dieser Einigung kann nachverfolgt werden über die Sitzung der britischen Stabschefs, 15.3., 17.4. und 25.9.1962, PRO, DEFE 4/143, COS (62) 20, DEFE 4/144, COS (62) 28 und DEFE 4/147, COS (62) 58.0 262

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Zweiter Teil: Aufbau der Bundeswehr und modifizierte atomare Abwehrplanung

konnte266. Nunmehr lehnte es der sowjetische Parteichef im Übrigen ab, den Gedanken an einen Separatfrieden mit Ostberlin weiterzuverfolgen, da dies vom Westen nur mit schmerzhaften wirtschaftlichen Embargo-Maßnahmen gegen das sozialistische Lager beantwortet würde. Am 13. August 1961 habe man das optimal Mögliche für die Sicherung des Status quo erreicht, nunmehr komme es auf Konsolidierung der Lage durch Realismus in den Ost-WestBeziehungen an267. Um diese Linienführung auch dem ostdeutschen Verbündeten gegenüber ganz unmissverständlich durchzudrücken, reagierte die sowjetische Führung das ganze Jahr 1962 über äußerst ungnädig auf jedes Vorgehen der DDR in der Berlinfrage, das provozierend auf den Westen wirken konnte268. Trotz aller Hinweise darauf, dass sich nunmehr auch die Sowjetunion auf Status quo-Sicherung in Berlin einzurichten begann, blieb man in Washington doch äußerst zurückhaltend in der Bewertung der Dauerhaftigkeit solcher Entspannung. In den Überlegungen des amerikanischen Krisenstabes während der Kubakrise im Oktober 1962 wurde deshalb durchgängig die Möglichkeit mitbedacht, dass die Sowjetunion die Konfrontation aus der Karibik auf das für sie strategisch günstiger gelegene Berlin ausweiten konnte269. Präsident Kennedy nahm aus seinem Gespräch mit dem sowjetischen Außenminister Andrej Gromyko unmittelbar vor dem offenen Ausbruch der Krise jedenfalls den festen Eindruck mit, dass Moskau eine Eskalation der U.S.-Maßnahmen vor ihrer Haustür mit einem Vorgehen gegen den westlichen Vorposten in Europa beantworten werde270. Bonn gegenüber ließ Washington allerdings die Frage offen, ob es tatsächlich so weit kommen musste271. In der entscheidenden Krisenwoche würde der sowjetische Parteichef dann ganz auf der Linie seiner nach dem Mauerbau eingenommenen deeskalierenden Haltung den Vorschlag aus seinem Außenministerium scharf zurückweisen, das amerikanische Vorgehen in der Karibik durch Druckverstärkung auf Berlin zu kontern272. Entsprechende Befürchtungen im LIVE OAK-Stab, die wie in jeder Ost-West-Krise der zurückliegenden Jahre krisenverschärfende Maßnahmen an den Berlinzugängen besorgten, erwiesen sich mithin als gegenstandslos273. Nach seinen Erfahrungen aus der Kubakrise betrachtete jetzt auch Kennedy die Gefahr einer militärischen Aktion der Sowjetunion gegen die westliche Position in Berlin als »höchst unwahrscheinliche Möglichkeit«. Im Übrigen erBeschloss, The Crisis Years, S. 334-336. Gespräch Khrushchevs mit Gomulka, Oktober 1961, und mit Ulbricht, 27.2.1962, New Evidence, S. 223 bzw. 225. 268 Zubok, Khrushchev, S. 25 f.; für ähnliche sowjetische Vorbehalte gegen das DDR-Vorgehen an der Mauer im Herbst 1961 vgl. Menning, The Berlin Crisis, S. 54-60. 269 Dazu eingehend Biermann, John F. Kennedy, S. 158-202 und Thoß, »Bedingt abwehrbereit«, S. 65-84. 270 Zur Bewertung seines Gesprächs vom 18.10.1962 durch den Präsidenten: Biermann, John F. Kennedy, S. 183. 271 Bericht der Deutschen Botschaft Washington, 22.10.1962, BA-MA, BW 4/469. 272 Zubok, Khrushchev, S. 26. 273 Pedlow, Allied Crisis Management, S. 106. 266 267

I. Die geostrategische Lage der Bundesrepublik, ihre Flanken und ihr Vorfeld

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schien ihm die Glaubwürdigkeit der westlichen Öffnungspläne mit Blick auf die dafür aufzubietenden Kräfte alles andere als überzeugend. Die beste Abschreckung habe man durch die eigene Festigkeit in der Karibik erreicht, während in Berlin wegen der völlig unzureichenden konventionellen Streitkräfte die Drohung mit einer nuklearen Eskalation zunehmend unglaubwürdiger werde 274 . Im Oktober und November 1963 kam es dann zwar an der Autobahn von Helmstedt nach Berlin noch einmal zu einer Serie von kleineren Machtproben zwischen westlichen Konvois und sowjetischen Kontrolleuren. Die sowjetische Seite hinderte Konvois der Westmächte, die sich den verschärften Kontrollen ihrer Fahrzeuge und Begleitmannschaften verweigerten, an der Weiterfahrt, hoben ihre Blockaden jedoch immer schon vor dem Wirksamwerden der westlichen militärischen Gegenmaßnahmen wieder auf. Ob dabei die Kenntnis der LIVE OAK-Pläne abschreckend wirkte, die den Sowjets über einen französischen NATO-Mitarbeiter zugänglich gemacht worden waren, muss bis auf weiteres offen bleiben 275 . Ihr Stellenwert, und sei es auch nur aus psychologischen Gründen, wurde trotz allem hoch genug eingeschätzt, um sie bis zum Ende des Kalten Krieges aufrechtzuerhalten.

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Bericht Lord Mountbattens über sein Gespräch mit Kennedy vor den BCOS, 12.2.1963, PRO, DEFE 4/152, COS (63) 12. Zur sogen. »Autobahn-Krise« vom Herbst 1963: Pedlow, Allied Crisis Management, S. 106-110.

II. Die Vergeltungsstrategie der NATO und die Atombewaffnung der Bundeswehr im innenpolitischen Meinungsstreit Die Diskussionen in der NATO zwischen 1955 und 1957 um den Grad der Nuklearisierung ihrer Bündnisstrategie und ihre verbleibenden konventionellen Optionen hatten in den Grundsatzdokumenten MC 14/2 und MC 48/2 vom Frühjahr 1957 zu einem Kompromiss geführt, der formal beiden Komponenten Rechnung trug. Das änderte jedoch vorerst wenig daran, dass die Voraussetzungen für die operative Umsetzung einer damit frühzeitig modifizierten Vergeltungsstrategie längst noch nicht vorhanden waren. So mochten unverändert West- und Mitteleuropa an der Spitze der zu verteidigenden Regionen stehen, von deren Behauptung die Sicherheit des gesamten Bündnisraumes abhing 1 . Damit hielt man zwar unverrückt am Kernziel der Vorwärtsverteidigung fest, war sich aber gleichzeitig bewusst, dass vorläufig noch die dazu erforderlichen Streitkräfte fehlten. Das galt insbesondere für die deutschen Divisionen, die von SHAPE durchgängig als unverzichtbar für eine Vorverlegung der Verteidigungslinien nach Osten herausgestellt wurden. Im Stab der U.S. Army hatte man sich freilich schon im Herbst 1955 nüchtern eingestanden, dass dazu deutsche Truppen 1957 noch nicht annähernd in der gewünschten Stärke bereitstehen würden 2 . General Gruenther hatte dies als SACEUR vor dem NATO-Rat nachdrücklich unterstrichen, wenn er einen einsatzfähigen deutschen Streitkräftebeitrag nunmehr frühestens ab 1959 erwartete. In der MC 48/1 war deshalb im Dezember 1955 festgehalten worden, dass der schleppende Beginn des Bundeswehraufbaus für die operative Bündnisplanung »ernsthafte Defizite« aufwarf, der Übergang zur Vorwärtsverteidigung ostwärts des Rheins sich mithin um wenigstens zwei Jahre verzögerte 3 . Dieses Lagebild verbesserte sich im Laufe des Jahres 1956 nicht nur nicht, die Truppenabzüge der Franzosen nach Nordafrika und die britischfranzösischen Vorbereitungen auf einen militärischen Einsatz am Suezkanal ab Sommer diesen Jahres verschärften die Situation vielmehr noch. Vor dem Hin1

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Dazu war Western Europe im Appendix der MC 14/2 unter den »geographical areas« den übrigen Räumen vorangestellt, NATO Strategy Documents, S. 296. Memorandum Chief of Staff, U.S. Army, 16.9.1955, NA, RG 218, Geographical File, box 56 CCS 092 Western Europe (3-12-48) (2), sect. 33. Vortrag vor dem NAC, 11.10.1955, NISCA, C-R (55) 43 sowie MC 48/1, 9.12.1955, NATO Strategy Documents, S. 260.

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Zweiter Teil: Aufbau der Bundeswehr und modifizierte atomare Abwehrplanung

tergrund einer so eklatanten Ausdünnung der NATO-Truppen in Mitteleuropa sah man deshalb in der Standing Group die Vorwärtsverteidigung im Spätsommer 1956 sogar »bis auf weiteres« gänzlich in Frage gestellt4. Ähnliches besorgte man mittlerweile bei SHAPE im Emergency Defense Plan 1-57, dem erstmals auch ein eng damit abgestimmter atomarer Einsatzplan (ASP 1-57) beigefügt war. Der Mangel an verfügbaren Präsenzverbänden und die unzureichenden deutschen Fortschritte beim Bundeswehraufbau eröffneten danach einem Angreifer bei herkömmlicher Verteidigung die Chance, die Masse der NATO-Truppen in Mitteleuropa zu zerschlagen, weite Teile Westeuropas zu besetzen und den Kontinent von Verstärkungen und logistischer Zufuhr aus Übersee abzuriegeln. Ein Abwehrerfolg der NATO im Falle eines Angriffs im Jahre 1957 hing daher allein vom sofortigen und umfassenden Einsatz eigener taktischer Atomwaffen und den Wirkungen der strategisch-nuklearen Gegenoffensive der USA und Großbritanniens gegen den sowjetischen Kernraum ab. Trotz eines anwachsenden sowjetischen Nuklearpotenzials konnte sich die NATO dazu immer noch auf eine klare atomare Überlegenheit abstützen, Kernwaffen würden jetzt aber voraussichtlich auf beiden Seiten eingesetzt. Deshalb musste es in der ersten Phase eines extremen nuklearen Schlagabtauschs darauf ankommen, nicht vorrangig Territorium zu verteidigen, sondern die NATO-Verbände und ihre Infrastrukturen überlebensfähig zu halten, da sie für die anschließende Rückeroberung von zeitweilig aufgegebenem Bündnisraum benötigt wurden 5 . In ihrer >Political Directive< fasste die NATO dazu die Aufgabenstellung ihrer Einsatzverbände in dem Grundsatz zusammen, dass die vorn eingesetzten Schildkräfte zwar auch die Fähigkeit besitzen mussten, mit herkömmlichen militärischen Mitteln »infiltrations, incursions or hostile local actions« zu bereinigen, dass sie unter den gegebenen Kräfteverhältnissen aber vor allem in der Lage sein mussten, »to respond quickly [...] with nuclear weapons to any type of aggression«6.

1. Die nukleare Ausrichtung der Bundeswehrplanung und die NATO-Übung LION NOIR Die Ausrichtung der NATO-Strategie auf einen frühzeitigen Einsatz von Atomwaffen war natürlich auch der deutschen Öffentlichkeit nicht verborgen geblieben. Dafür hatten schon die in der Presse breit diskutierten Ergebnisse Tagebucheintrag de Maiziere, 6.9.1956, BA-MA, Ν 673/v. 22. Zum EDP 1-57, der zusammen mit dem ASP 1-57 im Sommer 1956 publiziert und ab 1.1.57 gültig wurde: SHAPE History, vol. 3, S. 120-128; vgl. auch Wampler, Ambiguous Legacy, S. 925-927. Directive to the NATO Military Authorities from the North Atlantic Council, 13.12.1956, NATO Strategy Documents, S. 275.

II. Vergeltungsstrategie der NATO und Atombewaffnung der Bundeswehr

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des NATO-Luftmanövers CARTE BLANCHE im Sommer 1955 gesorgt. In der deutschen Militärpublizistik kreisten die Diskussionen deshalb seither um das, was man unter atomarem Realismus als Forderung an die unmittelbare Zukunft verstand. Hochrangige Militärexperten plädierten dazu einerseits für »Umrüstung und angemessene Verteidigung« der Bundeswehr im Rahmen einer allianzinternen Arbeitsteilung zwischen den angelsächsischen Nuklearmächten und ihren kontinentalen Partnern in Westeuropa. Sie verwiesen aber gleichzeitig auf die Durststrecke, auf die sich die Bundesrepublik bis zum Wirksamwerden einer atomar verstärkten Vorwärtsverteidigung einzustellen hatte, »solange die deutschen Streitkräfte noch nicht einsatzfähig sind«7. Wesentlicher für die weitere Bundeswehrplanung war es jedoch, dass man im Führungsstab der Bundeswehr jetzt mit voller Konsequenz daranging, immer noch zögernde Teile des eigenen Offizierkorps - und hier insbesondere im Heer - auf die Notwendigkeit zum atomaren Umdenken und Umplanen einzustellen. In der Unterabteilung für Führung und Ausbildung hielt man nämlich inzwischen jedes Hoffen auf einen doch noch konventionell begrenzbaren Konflikt für eine »gefährliche Illusion«8. Einer der Referenten bei Fü B, Oberstleutnant i.G. Alfred Martin, machte sich deshalb im September 1956 daran, die Folgerungen aus den NATOVorgaben über nukleare Kriegführung für die deutschen operativen Überlegungen und die daraus abzuleitenden Streitkräftestrukturen zu ziehen. Wohl hielt auch seine Analyse an der grundsätzlichen Warnung Heusingers fest, dass man sich nicht einseitig auf atomare Rüstung verlassen durfte. Gegen alle prinzipiellen Vorbehalte wurden Kernwaffen aber nunmehr als »wirkungsvollste Unterstützung und Ergänzung der Streitkräfte zu Lande, zur See und in der Luft« hervorgehoben. Gerade weil der Bundesrepublik als Frontstaat der Allianz am Schutz ihres Territoriums so weit ostwärts wie möglich gelegen sein musste, waren ihre Streitkräfte auf größtmögliche militärische Effizienz hin auszubilden und auszurüsten. Je nach Entwicklung einer Konfrontation musste sich die Bundeswehr dazu auf das konventionelle wie auf das atomare Gefecht einstellen können. Dafür ließ sich durchaus auf der bisherigen Planung einer großen Landstreitmacht mit taktischer Luftwaffe und leichten Seestreitkräften aufbauen. Diese Schwerpunktsetzung beim Heer entsprach dem vorrangigen deutschen Interesse nach Vorwärtsverteidigung deutschen Bodens. Die dafür angedachten klein gehaltenen Kampfgruppen waren darauf angelegt, das Gefecht bei schnell wechselnden Lagen in großer Beweglichkeit, geschützt durch ihre ausgeprägte Panzerung und auf sich allein gestellt in den zu erwartenden »Insellagen« zu führen. Schließlich hatte man unter atomaren Gefechtsbedingungen davon auszugehen, dass sich Verteidigung nicht mehr in durchgehenden Fronten führen ließ, da der deutsche Raum in der Anfangsphase eines

So in den Artikeln von Generaloberst a.D. Joachim Ruoff und Generalmajor a.D. Hans Kissel im Oktober- bzw. Novemberheft der »Wehrkunde«, Ruoff, Umrüstung, S. 481 und Kissel, Gedanken zur Verteidigung, S. 596. Eintrag im Diensttagebuch Abt. IV-A, 26.9.1956, BA-MA, BW 9/2527-8.

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Zweiter Teil: Aufbau der Bundeswehr und modifizierte atomare Abwehrplanung

Krieges schnell in mehrere unverbundene Räume zerschlagen sein würde. Gelang es allerdings in Zukunft, die aufwachsenden deutschen Verbände mit taktischen Atomwaffen zusätzlich in ihrer Feuerwirkung zu verstärken, dann würden sie trotz Verkleinerung im Umfang an Abwehrkraft sogar noch wesentlich gewinnen 9 . Das korrespondierte mit den Erfahrungen, die der Leiter der Abteilung Streitkräfte, Generalleutnant Speidel, aus der jährlichen Führungsübung CPX 6 bei SHAPE (24.-27. April 1956) mitgebracht hatte. Als nicht mehr hinterfragte Grundannahme waren alle Mitwirkenden - die NATO-Oberbefehlshaber SACEUR, SACLANT und CINCHAN, alle NATO-Befehlshaber bis Korpsebene, alle nationalen Generalstabschefs und namhafte Wissenschaftler - vom sofortigen Einsatz taktischer Atomwaffen in erheblichem Umfang ausgegangen. Nur so ließ sich aus Sicht des scheidenden SACEUR Gruenther als Übungsleiter Vorwärtsverteidigung realisieren, ohne dass bereits hinlängliche deutsche Divisionen zur Verstärkung der Abwehrfront in Mitteleuropa einplanbar waren 10 . In welchen atomaren Größenordnungen man dabei auf amerikanischer Seite in dieser Phase extremer Vergeltungsstrategie dachte, mögen Artnahmen des für Forschung und Entwicklung in der U.S. Army zuständigen Generals James M. Gavin von 1956/57 verdeutlichen, »that a typical field army might use a total of 423 atomic warheads in one day of intense combat«11. Auf den endgültigen Impuls, den der Wechsel an der Spitze des Verteidigungsministeriums im Herbst 1956 von Blank zu Strauß für eine Umrüstung der Bundeswehr zu atomkriegsfähigen Streitkräften auslöste, ist bereits an anderer Stelle eingegangen worden. Auch die allgemeinen Annahmen über ein wesentlich atomar bestimmtes Kriegsbild wuden in diesem Zusammenhang eingehend erörtert 12 . Jetzt musste es darum gehen, daraus konkrete Vorgaben für die weitere Operationsplanung, die Ausbildung von Führung und Truppe und die dazu passenden Streitkräftestrukturen zu entwickeln. Wohl konnte man dafür noch nicht auf »erprobte Grundsätze« zurückgreifen, denn darauf würde man nach Lage der Dinge erst dann aufbauen können, »nachdem einmal Atomwaffen auf dem Gefechtsfeld eingesetzt wurden«. Im Herbst 1956 ging man deshalb bei Fü Β zunächst daran, vorläufige Festlegungen für die Verwendung taktischer Atomwaffen im Landkrieg auszuarbeiten. Erneut wurde in diesen ersten Positionspapieren hervorgehoben, dass man das neue Kampfmittel »keinesfalls [als] die >absolute< Waffe«, sondern lediglich »als eine, allerdings sehr große Verstärkung der Feuerkraft« ansehen durfte. Außerdem waren 9

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Die Denkschrift »Militärpolitische Probleme der Umrüstung« v o m September 1956 ist erstmals umfassend analysiert bei Gablik, Strategische Planungen, S. 106-109; in ihrem vollen Wortlaut ist sie inzwischen zugänglich als NHP-Dokument 002. Bericht Speidels über CPX 6, 30.4.1956, BA-MA, BW 2/2787, Bl. 57-61. History of the Custody, S. 50. Vgl. Teil 1, Kap. IV.3. Hervorzuheben ist dabei die frühzeitige Forderung v o n Verteidigungsminister Strauß vor der NATO, alle Schildstreitkräfte mit taktischen Atomwaffen auszustatten, 13.12.1956, NISCA, C-VR (56) 74.

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schon mit Blick auf die extreme Zerstörungswirkung und die radioaktiven Folgen je nach Gefechtssituation unbedingt die Vor- und Nachteile eines Einsatzes herkömmlicher oder atomarer Waffen gegeneinander abzuwägen. In jedem Falle wirkte die Atomwaffe aber gegen die angenommene Hauptbedrohung eines überlegen und überraschend angreifenden Feindes als »das machtvollste Mittel in der Hand des Truppenführers, um eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld herbeizuführen«. Da ihr Einsatz indes Angreifer wie Verteidiger gleichermaßen schädigen würde, bestimmte der »taktische Führer [...] die Höhe des Risikos, dem er die eigene Truppe [...] aussetzen will«. Auflockerung auf dem Gefechtsfeld, Vermeidung von Verzahnungen mit dem Gegner und eine Fülle von Schutzvorkehrungen für die eigene Truppe gehörten von nun an zu den zentralen Anforderungen an operative Führung unter atomaren Bedingungen. Taktische Atomwaffen waren zudem »ökonomisch« einzusetzen, da man zu diesem frühen Zeitpunkt im BMVg zum einen noch keine klaren Vorstellungen vom Umfang verfügbarer Sprengköpfe hatte, andererseits aber die von ihnen hervorgerufenen Kollateralschäden auf dem Schlachtfeld Deutschland eingegrenzt halten wollte. Als Führungsebene, auf der solche Einsätze »mit den Bewegungen der Erdtruppe und der Luftwaffe koordiniert werden« sollten, war zunächst das Korps vorgesehen. »Bei anwachsendem Waffenbestand (bes. der kleinen KT-Typen) und bei Vermehrung der Einsatzmittel« fasste man jedoch schon jetzt ins Auge, die Einsätze auch auf Divisions- oder sogar Kampfgruppenebene herunterzudelegieren 13 . In einer Serie von Vorträgen für die ersten Führungslehrgänge der Bundeswehr hatte der Leiter des Referats für Atomkriegsfragen, Oberst Schindler, bereits Ende 1955 einen Lernprozess über das Gefecht unter atomaren Bedingungen und die daraus erwachsenden Forderungen an die Truppenführer und Stabsoffiziere in Gang gesetzt. Darin wurden die künftigen Operateure darauf vorbereitet, dass schon bis 1958 »der Vorrat an Atomwaffen riesig angestiegen sein« und dies jeder Konfliktseite »im Kriegsfall eine großzügige Verwendung gestatten« werde. Damit - und das war zu diesem frühen Zeitpunkt keineswegs Gemeingut im deutschen Offizierkorps - seien »viele Grundsätze und Erfahrungen des letzten Krieges entwertet. Ein Festhalten am Althergebrachten kann zum Verhängnis werden«. Wie weit sich solche Überlegungen bereits von den ursprünglichen Planungsvorgaben entfernt hatten, macht Schindlers Kritik am überholten Zuschnitt eines Heeres kenntlich, das bisher noch nicht auf einen »Atomkrieg, sondern auf einen herkömmlichen Bewegungskrieg in weiten Räumen zugeschnitten« sei. Wie schon Monate zuvor der Militärexperte der FAZ, Adelbert Weinstein, forderte er daher ebenfalls einen Abschied von den »Wunschträume[n] der Jahre 1941/42«, als sei ein möglicher künftiger lediglich eine Wiederaufnahme des zurückliegenden Ostkrieges. Bei allem EinschwenAusarbeitung Oberstleutnant von Ciaer »Grundsätze für die Anwendung taktischer Atomwaffen des Heeres«, o. D. [Ende 1956], BA-MA, BW 2/1945; Hervorhebungen - Unterstreichungen - im Original.

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ken auf die nuklearstrategischen Vorgaben der NATO war damit aber ausdrücklich keine Akzeptanz der nicht in deutschem Interesse liegenden atomaren »Lückentheorie« von AFCENT verbunden, die den Gegner zum Zwecke der Bildung von Atomzielen geradezu in westdeutsches Territorium hereinzulocken suchte. Die Ausstattung der deutschen Verbände mit taktischen Atomwaffen sollte dem Bundesgebiet vielmehr gerade dieses Schicksal als nukleares Schlachtfeld der NATO weitgehend ersparen, indem sie die Fähigkeit zu atomar verstärkter Vorwärtsverteidigung selbst bei kräftemäßiger Unterlegenheit erhöhte 14 . Im Frühjahr 1956 war mittlerweile mit der HDv 100/2 eine erste zentrale Dienstvorschrift über die Grundsätze atomarer Gefechtsführung im Heer erlassen worden, die in Auswertung zugänglicher amerikanischer Handbücher und Lehrschriften ersten Anschluss an die angelsächsische Debatte über Waffenwirkung, Einsatzgrundsätze und Schutzvorkehrungen gesucht hatte15. Im Spätherbst 1956 ließ der Führungsstab des Heeres seine inzwischen weiterentwickelten Führungsgrundsätze für den Landkrieg in der Planübung NORD 1956 »unter besonderer Berücksichtigung der Atomkriegführung« durchspielen 16 . Aus nicht näher qualifizierten »amerikanischen Quellen« konkretisierte sich inzwischen im Militärischen Führungsrat auch ein erstes Bild über die Waffenentwicklung. Wesentlich daran für künftige deutsche Verbände an vorderster Front war die erkennbare Tendenz zu einer weiteren Ausdifferenzierung hin zu kleineren Atomwaffen wie Atomgranaten und dazu passenden Artilleriegeschützen. Letztere waren zwar aus deutscher operativer Sicht für die bewegliche Gefechtsführung immer noch zu schwerfällig, eröffneten bei weiterer technologischer Ausreifung für die Zukunft aber doch eine Perspektive zur beweglich geführten Vorwärtsverteidigung unter Einbeziehung von operativ handhabbaren taktischen Atomwaffen. Nach wie vor blieben aber im Heer »Unklarheiten« über das Zusammenspiel von atomaren Waffen und herkömmlicher Gefechtsführung offen, die eine Intensivierung der Ausbildung für einen möglichen Atomkrieg notwendig machten 17 . Der erreichte nukleare Kenntnisstand und seine erste übungsmäßige Uberprüfung fanden daher Ende 1956 ihren Niederschlag in einer knappen Handrei14

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16

17

Vortragsstudien Atomkrieg einschl. Anschreiben Schindlers an Stv. Leiter Abt. V (Heer), 16.12.1955, ebd., BW 2/1943. Weinsteins Auffassung geht am eingängigsten hervor aus seiner Zuschrift an die Zeitschrift Monat (1955), 83, S. 431-433. Zur strikten deutschen Ablehnung der in einem Verteidigungssystem der NATO offen gelassenen »großen Lücken« vgl. auch Stellungnahme Speidels an den Deutschen Vertreter bei der GETI, 22.12.1956, BA-MA, BW 2/1946. Zum Erlass der HDv 100/2, »Führungsgrundsätze des Heeres für die atomare Kampfführung«, 23.3.1956, Buchholz, Strategische und militärpolitische Diskussionen, S. 275. Die Führungsgrundsätze sind zusammengestellt in der Studie Nr. 2, Gedanken zur Organisation, Ausbildung und Führung des Heeres, 11.10.1956, BA-MA, BW 17/19, Bl. 17-28; zur Planübung NORD 1956: Militärisches Tagebuch MFR, 14.11.1956, ebd., BW 17/36, S. 21 f. Militärisches Tagebuch MFR, 1. bzw. 8.12.1956, ebd., BW 17/36, S. 33 f. und 38.

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chung aus dem Referat für Atomkriegführung mit daraus abzuleitenden Überlegungen zur Ausbildung im Heer 18 . Danach war alles Wunschdenken zu beenden, als ließen sich in einem künftigen Waffengang »nur konventionelle Waffen einsetzen«, weil man immer noch mit der Hoffnung spielte, Atomwaffen würden analog zu den chemischen und biologischen Kampfstoffen im Zweiten Weltkrieg lediglich in die Waffenarsenale eingestellt, kämen aber letztlich nicht zur Anwendung. Alle einsatznahe Ausbildung hatte demgegenüber zweierlei zu leisten: Truppe und Führung zum Schutz vor und zur Ausnutzung von atomarem Feuer zu befähigen. In die Gefechtsausbildung der Truppe war daher jederzeit und auf allen Ebenen das Wissen um und der Umgang mit ABCWaffen einzubauen und zu üben. Dazu gehörten die individuelle ABC-Schutzausrüstung jedes Soldaten, seine Befähigung zum Erkennen eines entsprechenden Waffeneinsatzes und zu Erste-Hilfe-Leistungen für sich und seine Kameraden, seine Tarnung und Auflockerung auf dem Gefechtsfeld sowie ständige Vorkehrungen gegen die Wirkungen von Atomwaffen durch Eingraben von Mensch und Material in jeder Gefechtslage. Neben diesen Schutzvorkehrungen kam es für die Truppenführer darauf an, sich mit der Nutzung atomarer Feuerwirkung in den beiden wesentlichen Gefechtsarten Angriff und Verteidigung auseinander zu setzen. Für den Angriff hieß dies, dass man anders als in der früheren Betonung einer Umfassung um die schwächer gesicherten Flanken herum jetzt den Angriffsschwerpunkt dort wählen konnte, wo sich der Gegner am stärksten massiert hatte, da dies optimale Wirkung für atomare Flächenwaffen bedeutete. Legte man dazu den Nullpunkt einer Atomdetonation je nach KT-Wert höher in die Luft, dann verringerte sich die radioaktive Verstrahlung rund um den Nullpunkt so wesentlich, dass die eigene Truppe das betroffene Gelände schon nach kurzer Zeit zur Nutzung der Feuerwirkung im Angriff wieder durchfahren konnte. Die Angriffsverbände mussten dazu aber in der Bereitstellung alle Vorkehrungen treffen, um nicht selbst durch Sorglosigkeit in ihrer Tarnung, mangelnde Schutzvorkehrungen oder zu große Massierung ein Atomziel zu bieten. Dies galt in erhöhtem Maße in der Verteidigung, wo die Truppe neben ihrer Tarnung und Auflockerung durch besonders umfassendes Eingraben von Mensch und Material geschützt werden musste. Da der Zusammenhang des Verteidigers nach einem gegnerischen Atomeinsatz in einzelne Stützpunkte und Widerstandsnester (»Inseln«) zerschlagen und die Führungsstäbe weitgehend ausgeschaltet sein würden, kam alles auf größtmögliche Selbständigkeit der Überlebenden bei der Fortsetzung des Gefechtes an. Gerade dafür fühlte sich die Bundeswehr aber als Erbin deutscher Auftrags- im Gegensatz zu angelsächsischer Befehlstaktik besonders gerüstet. Gideon von Ciaer, Gedanken zur Ausbildung des Heeres in der Anwendung taktischer Atomwaffen, Dezember 1956, ebd., BW 2/1945. Dass die Erwartung hoher Luftdetonationen, um die Fallout-Effekte einzugrenzen, durchaus auf der Linie amerikanischer Einsatzabsichten lag, geht aus einem Treffen der JCS mit dem Präsidenten hervor, 29.2.1956, DDRS 1979, 335 Β.

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Zum Kampf unter atomaren Bedingungen war man freilich anders als in der herkömmlichen Führer- und Truppenausbildung nicht mehr aus dem eigenen Kenntnis- und Ausbildungsstand heraus in der Lage. Hilfestellung musste deshalb bei den U.S.-Streitkräften gesucht werden: auf Lehrgängen in den USA und an der amerikanisch geleiteten Special Weapons School der NATO in Oberammergau sowie durch Auswertung von amerikanischen Dienstvorschriften und NATO-Manövern, bei denen seit 1954 ständig atomare Lagen mitgespielt wurden. Aus allen zugänglichen Quellen in den USA und den Unterlagen aus dem Military Committee der NATO stellte der Deutsche Militärische Vertreter in Washington zusätzlich den jeweils aktuellen Stand der Debatte in den USA und bei der Standing Group zusammen. Daraus ging schon Ende 1956 hervor, dass eine volle Absicherung des NATO-Gebietes durch zusammenhängende Verteidigungslinien nicht mehr möglich war, da dafür weder die eigenen Streitkräfte ausreichten, noch die Wirkung von Atomwaffen eine derart dichte Aufstellung von Verbänden auf dem Gefechtfeld zuließen. Deshalb musste man zu schlankeren Divisionstypen kommen, die »schachbrettartig« über einen angenommenen Verteidigungsraum verteilt und logistisch in die Lage versetzt wurden, bis zu dreißig Tage selbständig zu kämpfen. Dazu benötigte man zweierlei: große Beweglichkeit auf dem Gefechtsfeld und extrem verstärkte Feuerkraft durch unmittelbare Integration taktischer Atomwaffen in die Kampfverbände 19 . Solche aus amerikanischen Quellen geschöpften Überlegungen kamen den deutschen Vorstellungen über Streitkräftestrukturen, die zum Bewegungskrieg geeignet waren, schon sehr nahe. Auch bei den Diskussionen im AFCENT-Bereich über die zweckmäßigste Gliederung von Verbänden in der Vorwärtsverteidigung registrierte Heusinger mittlerweile ein paralleles Denken im deutschen und französischen Heer. Ähnlich wie bei den Umgliederungsplänen zu kleineren und beweglicheren >Pentomic-Divisionen< in der U.S. Army dachte der neue französische CINCENT Valluy in den Kategorien von wendig gehaltenen »Grundzellenverbänden« aus einer Mischung von Infanterie- und Panzereinheiten, die dem Gegner durch ihren reduzierten Umfang, ihre aufgelockerte Dislozierung und ihre Beweglichkeit im Gelände keine Atomziele boten, selbst aber jederzeit auf atomare Feuerunterstützung zurückgreifen konnten 20 . Mittlerweile war aus deutscher Sicht Ende 1956 auch an anderer Stelle Bewegung in ein allzu einseitig ausgelegtes Abschreckungsdenken gekommen. Zeigten nicht die militärischen Ereignisse in Ungarn und am Suezkanal, dass die Gefahren lokaler wie regionaler Konflikte trotz oder gerade wegen der ei19

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Stellungnahme DMV Washington zu Studie Nr. 3, »Grundlagensammlung für den deutschen Verteidigungsbeitrag« sowie einem beigefügten übersetzten Artikel aus Army Information Digest »Auswirkungen der Fernlenkwaffen auf die taktische Doktrin«, 29.12.1956, BA-MA, BW 3/33. Übersetzung eines Vortrages von General Valluy, 10.12.1956, versehen mit Heusingers Randbemerkung »Sehr interessant, deckt sich vielfach mit unseren Studien!«, ebd., BW 17/43, Bl. 49-59.

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genen »reine[n] atomare[n] Konzeption« eher größer denn kleiner geworden waren? Da las man es in Bonn durchaus aufmerksam, wenn der Deutsche Militärische Vertreter aus Washington von amerikanischen Überlegungen zu berichten wusste, die den bisherigen Prioritäten nuklearer Vergeltung nicht mehr in dieser Ausschließlichkeit zu folgen schienen. Jedenfalls wollte Heusinger Anfang 1957 die Chance nutzen, vor dem Verteidigungsausschuss einmal mehr für Einsatzverbände »in genügender Zahl [...] jedoch mit taktischen Atomwaffen ausgerüstet«, zu werben. Endgültig nicht mehr auszublenden war damit aber auch aus der eigenen Planung das Faktum, dass von nun an im Kriegsfalle beiderseits der deutsch-deutschen Grenze Kernwaffen von Anfang an und in großer Zahl eingesetzt würden. Eine Mitte Februar in der NATO verbreitete Liste über mögliche Atomziele auf dem Bündnisgebiet wies schließlich die industriellen Ballungsgebiete, die größeren Nordseehäfen und die Städte Düsseldorf, Köln, Bonn und Frankfurt als wahrscheinliche Ziele sowjetischer H- bzw. A-Bomben-Einsätze aus21. Für die Bundeswehrplanung erwuchsen daraus Probleme in mehrfacher Hinsicht: Wie ließen sich bei der vom neuen Verteidigungsminister Strauß geforderten Umrüstung auf atomkriegsfähige Verbände trotz aller damit verbundenen Kürzungen im personellen Umfang der Bundeswehr und der notwendigen Umverlagerungen in den verfügbaren Haushaltsmitteln schnell genug Einsatzverbände in hinreichender Zahl und Ausrüstung aufstellen, die das zentrale deutsche Ziel der Vorwärtsverteidigung überhaupt erst realisierbar machten? Wie war umgekehrt die Tendenz bei den NATO-Partnern abzubremsen, als vorweggenommene Dividende aus erwarteter deutscher Aufrüstung schon jetzt die eigenen Bündniskontingente in der Bundesrepublik herunterzufahren? Wie wollte man den vorhersehbaren Wettlauf um die vorhandenen und nicht beliebig vermehrbaren Haushaltsmittel steuern, wenn man die Gleichzeitigkeit der Anforderungen für Einsatzverbände von Heer, Luftwaffe und Marine, für die in nationaler Verantwortung ruhende Territorial- und Zivilverteidigung wie für die unter nuklearen Bedingungen unverzichtbare Härtung der Infrastruktur in Rechnung stellte? Würde sich andererseits die unübersehbare Zurückhaltung in einer angehenden Zivil- und Wohlstandsgesellschaft abbauen lassen, die trotz aller demoskopisch messbaren Bedrohungsgefühle wenig Neigung zu persönlichen und materiellen Einschränkungen für militärische Zwecke zeigte und dafür aus wahltaktischen Erwägungen bis in die Regierungsparteien hinein auf Verständnis zählen durfte? Mit allen diesen Schwierigkeiten war man jedoch erst in den Randzonen der eigentlichen atomaren Verteidigungsplanung im Bündnis angelangt. Bis zu welchem Grade war die amerikanische Führungsmacht dazu zu bringen, auch die aufwachsenden deutschen Verbände frühzeitig mit taktischen Atomwaffen Einträge im Militärischen Tagebuch MFR über die Vorüberlegungen zu Heusingers Vortrag, 24. und 30.1.1957, ebd., BW 17/36, S. 55 und 58 sowie NATO-Dokument AC/98D/14 (Final) betr. angenommene Atomziele bzw. Zielgebiete, 15.2.1957, NISCA.

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auszustatten, wohl wissend, wie schwer dagegen historisch begründete Vorbehalte in West- und Osteuropa wogen? Konnte man umgekehrt bei einem europäischen Regionalkonflikt in jedem Falle darauf vertrauen, dass Washington seine Zusage atomarer Unterstützung aufrecht hielt, selbst wenn sich in absehbarer Zukunft ein atomares Patt zwischen den Supermächten abzeichnete? Machten die USA jedoch nuklear Ernst, würden dann bei den davon zu erwartenden Schadenswirkungen nicht die schon jetzt besorgten Tendenzen zur Selbstabschreckung bei den Westeuropäern voll zur Geltung kommen? Wie ließ sich vor allem bei den besonders davon betroffenen Deutschen in und außerhalb der Streitkräfte dem Dilemma begegnen, dass atomar verstärkte Verteidigung mit unverhältnismäßigen personellen und materiellen Schäden ebensolcher Kriegführung zu bezahlen sein würde? Musste dann nicht aus einem demoskopisch bereits 1954/55 fassbaren mehrheitlichen »Atomfatalismus« ein Umschlag in eine nachhaltige Unterminierung des Verteidigungswillens in der Bevölkerung und von da ausstrahlend in die Streitkräfte befürchtet werden? Der Bundeskanzler machte sich jedenfalls seit dem Start in die westdeutsche Aufrüstung durchgängig Sorgen um eine »Stärkung des Wehrwillens«, den er nach den Reaktionen einer hochsensiblen Öffentlichkeit auf das ΝΑΊΌManöver CARTE BLANCHE gerade aus der Wahrnehmung des Einsatzes von Atomwaffen erheblich bedroht sah22. Das deckte sich mit den Einschätzungen bei SHAPE, wo man aus der Berichterstattung der westeuropäischen Presse über die Wirkungen des nuklearen Fallouts zunehmend desillusionierende Effekte auf die Verteidigungsbereitschaft auf dem Kontinent befürchtete. Deshalb forderte General Gruenther im Sommer 1956 von Washington dringend die Intensivierung des seit 1954 laufenden amerikanischen Erziehungsprozesses an die Adresse der Westeuropäer, der stabilisierend auf das bröckelnde Vertrauen in die westliche Verteidigungsstrategie einwirken und dazu den verantwortungsvollen Umgang der NATO mit Kernwaffen herausstellen sollte. Dies galt insbesondere mit Blick auf die deutsche Öffentlichkeit, die sich, wie Präsident Eisenhower seine Stabschefs warnte, »strongly opposed to the concept of atomic war« zeige. Man müsse daher außerordentlich vorsichtig mit ihr umgehen, wolle man Adenauers innenpolitische Lage und damit auch den Erfolg seiner militärischen Aufbauarbeit nicht unnötig gefährden23. Der Kanzler, der bei seinen Äußerungen zu Atomwaffen bisher selbst mit den die öffentliche Debatte bestimmenden apokalyptischen Sprachbildern operiert hatte, begann daher seit Herbst 1956 seine eigene Partei auf das Unumgängliche einer atomaren Umrüstung der Bundeswehr einzustellen, wenn er von nun an strikt auf der Unterscheidung von »großen und kleinen nuklearen

22

23

Reaktion Adenauers auf den Artikel Weinsteins in der FAZ »Wir müssen umdenken«: Kabinettssitzung, 6.7.1955, Kabinettsprotokolle, Bd 8, S. 403. Gruenther an Radford, 2.7., sowie Besprechung beim Präsidenten, 17.8.1956, Wampler, Ambiguous Legacy, S. 929 f. bzw. LOC, DDE Diaries, reel 9.

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Waffen« bestand 24 . Solche Forderung nach Realismus in den eigenen Reihen wie in der öffentlichen Debatte darf aber noch nicht als Kapitulation Adenauers vor einer nunmehr als unabänderlich hingenommenen atomaren Kriegführung missverstanden werden. Anders als dies in seinen öffentlichen oder parteiinternen Äußerungen zu Kernwaffen zum Ausdruck kam, blieb er gegenüber seinem Hauptverbündeten USA bei seinen ethisch begründeten Vorbehalten gegen die von ihm ausgemachte »Grundtendenz [...]: Vervollkommnung und Vermehrung der nuklearen Waffen, Zurücksetzung und Abbau der konventionellen Waffen«. Diese Einseitigkeit in der waffentechnischen Ausstattung riskiere eine Verabsolutierung atomarer Gesichtspunkte im militärischen Denken und Planen. Ein daraus zu befürchtender nuklearer Konfliktaustrag müsse aber wegen des extrem hohen Risikos einer Kriegsentscheidung »in der erstefn] Stunde« beinahe zwangsläufig als »Präventivkrieg« geführt werden. Blicke man von da aus auf seine Folgen, »ein völliger Vernichtungskrieg für den größten Teil der Menschheit«, dann kam der Kanzler zu dem Ergebnis: »Niemand, der eine christliche und ethische Grundhaltung hat, kann diese Entwicklung vor Gott und seinem Gewissen verantworten.« Was daher Not tue, sei mithin nicht ein Herunterfahren der konventionellen, sondern »eine kontrollierte Abrüstung auf dem Gebiete der nuklearen Waffen«. Sagten sich die USA dagegen nicht von ihrer atomaren Prioritätensetzung los, dann laufe man in Washington Gefahr, dass »Europa, auch Deutschland, das Vertrauen auf die Zuverlässigkeit der Vereinigten Staaten verliert«. Adenauers hauptsächlichem Ansprechpartner Dulles blieb im Gegenzug nur der Verweis auf das kriegsverhindernde Prinzip der Abschreckung. Verbaue man der Sowjetunion durch hinreichende eigene Nuklearrüstung die Möglichkeit zu einem erfolgversprechenden atomaren Erstschlag, werde man sie mit größter Wahrscheinlichkeit von einem Krieg überhaupt abhalten können. Das bedeute aber keine nukleare Einseitigkeit im Denken und Handeln der USA lange vor dem Strategiewechsel zur »flexible response« betonte Dulles bereits 1956 »the importance of maintaining flexible capability in responding to any aggression«. Nur müsse Washington dazu auf einer klaren amerikanischwesteuropäischen Arbeitsteilung bei der Bereitstellung der Mittel für nukleare Abschreckung und atomar verstärkte Verteidigung mit angemessenen Streitkräften bestehen25. Der Ball lag damit wieder im Bonner Spielfeld, nunmehr mit dem zugesagten zügigen Aufbau der Bundeswehr Ernst zu machen. Trotz der schlechten Erfahrungen seines Vorgängers Blank, dass es Bonn mehr Vertrauensverluste als Nutzen eintrug, wenn man überoptimistische Erwartungen in das Aufbautempo der Bundeswehr erweckte, nannte deshalb Anfang 1957 auch Strauß einmal mehr unrealistische Aufstellungsabsichten. Bis Juni 1957: fünf 24

25

Sitzung des CDU-Bundesvorstands, 20.9.1956, Adenauer: Wir haben wirklich etwas geschaffen, S. 1078; zur Veränderung der Sprache über Atomwaffen 1955/57 insgesamt: Bald, Die Atombewaffnung der Bundeswehr, S. 22-29. Briefwechsel Adenauer - Dulles, 22.7. bzw. 11.8.1956, StBKAH, III 2 bzw. DDRS 1989, 749.

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Divisionen, bis Januar 1958 zwei weitere Divisionen und den Rest zu einem noch nicht feststehenden Zeitpunkt. Tatsächlich würden der NATO aber 1957 lediglich die ersten drei Divisionen (1., 2. und 4. Grenadierdivision) assigniert werden können26. Selbst diese drei Großverbände waren zwar nach NATOMaßstäben noch nicht voll einsatzfähig. Es bestand aber Übereinstimmung zwischen BMVg und SHAPE, dass damit schon jetzt Signale dafür gesetzt werden sollten, dass die Perspektive einer frühzeitigen Implementierung der >forward defense< in Mitteleuropa mehr als eine Absichterklärung darstellte27. Der über die Aufrüstung entbrennende öffentliche Diskurs in der Bundesrepublik ließ sich allerdings mit der von Strauß erhobenen Forderung nach einer Ausrüstung der deutschen Verbände mit taktischen Atomwaffen nicht mehr auf Regierung und Bundeswehrführung begrenzen. Nun hielten sich Eliten und Öffentlichkeit zwar in der Regel weitgehend fern von allzu eingehenden Erörterungen verteidigungspolitischer Fragen, die man, soweit sie nicht die eigenen persönlichen oder wirtschaftlichen Interessen unmittelbar tangierten, den sicherheitspolitischen und militärischen Experten überließ. Das änderte sich freilich immer dann auf breiter Front, wenn internationale Spannungen unmittelbare Kriegsgefahr zu signalisieren schienen oder Debatten über Nuklearwaffen das grundlegende strategische Dilemma der Bundesrepublik offen legten, dass Verteidigung unter nuklearen Bedingungen im nationalen Selbstmord zu enden drohte. Der verbreitete Atomfatalismus, der ein nukleares Armageddon wegen seiner Wirkungen auf beiden Konfliktseiten als wenig wahrscheinlich, alle atomare Zuständigkeit im Übrigen außerhalb deutscher Reichweite in amerikanischen Händen verortet sah, schlug dann unvermittelt um in offene Atomangst und spiegelte sich im öffentlichen Diskurs in einer mehrheitlich antinuklearen Haltung wieder28. Selbst in den Kreisen, die sich - sei es aus voller sicherheitspolitischer Überzeugung oder aus generellen politischen Präferenzen - hinter die Regierungslinie stellten, begann sich aber auch frühzeitig Skepsis über die Glaubwürdigkeit des amerikanischen Nuklearschutzes zu entwickeln. Im State Department, das solche Alarmsignale am frühesten registrierte, machte man sich deshalb schon im Frühjahr 1956 Sorgen über ein Zusammenspiel aus wachsender nuklearer Verwundbarkeit der USA und einer damit einhergehenden Abnahme des Vertrauens bei ihren Verbündeten in die amerikanischen atomaren Schutzzusagen. Am nachdrücklichsten regte sich solches Misstrauen nach der Krise um eine Reduzierung der U.S.-Truppen in Europa seit Sommer 1956 naturgemäß in der Bundesrepublik, wo man bis in die Regierung hinein einer Teilnahme der Führungsmacht an einem europäischen Konflikt von der ersten

26

27 28

Absichtserklärung Strauß gegenüber Admiral Radford, 11.2.1957, NA, RG 218, CJCS-091 Germany (11 Feb 57); zum tatsächlich Erreichten: Verteidigung im Bündnis, S. 140. SHAPE History 1957, S. 60 f. Vgl. Kelleher, Germany and the Politics, S. 57 f., Cioc, Pax Atomica, S. 35-37 und Borinski, Mitigating West Germany's Strategie Dilemmas, S. 531 f.

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Stunde an und damit auch deren Bereitschaft zum rechtzeitigen Einsatz atomarer Mittel in einem auf Europa begrenzten Konflikt zu misstrauen begann29. In dem Maße, wie das BMVg seit Herbst 1956 auf die Umrüstung der Streitkräfte zum Zwecke ihrer Befähigung zur atomaren Gefechtsführung umsteuerte, war zudem abzusehen, wie bald dies unter dem Schlagwort »Atombewaffnung der Bundeswehr« eine parlamentarische und von da ausstrahlend eine öffentliche Debatte auslösen würde. Die sicherheitspolitischen und militärischen Argumente dafür lagen auf der Hand. Wenn die deutschen Verbände im Rahmen der gültigen NATO-Doktrin operationsfähig sein sollten, mussten sie analog zu den übrigen Bündniskontingenten schrittweise mit atomaren Einsatzmitteln wie Jagdbombern, Kurzstreckenraketen und Artilleriegeschützen ausgestattet werden. Um seiner gleichberechtigten Partnerschaft im Bündnis willen wollte Bonn aber auch trotz des Verzichts auf Produktion und Besitz von ABC-Waffen angemessen an der nuklearen Planung und Einsatzfreigabe für Atomwaffen innerhalb der NATO beteiligt sein. Dahinter stand die psychologische Begründung, dass die Angehörigen der Bundeswehr nicht als Soldaten zweiter Klasse behandelt werden durften 30 . Die Atomsprengkörper selbst würden zwar in amerikanischen Händen verbleiben, die Freigabe ihres Einsatzes musste sich aber nach der militärischen Lageentwicklung vor Ort richten. Mit der militärischen Führung im BMVg wie mit dem Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs erörterte der deutsche Verteidigungsminister daher schon Ende 1956 Möglichkeiten eines europäischen Einsatzes von Atomwaffen aufgrund eines NATO-Ratsbeschlusses und ausgelöst durch SACEUR. Dass Strauß mit solchen Gedanken nicht allein stand, zeigten breite atomare Mitbestimmungswünsche der meisten westeuropäischen NATO-Partner auf der Ratstagung der Allianz im Dezember 195631. Solche Mitwirkung konnte im Übrigen schon in naher Zukunft für Bonn spruchreif werden, weil seit Mitte 1956 bei den U.S.-Stabschefs die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in verschiedenen NATO-Ländern angedacht und darunter die Bundesrepublik zwar nicht als »besonders wünschenswertes«, aber immerhin als »wünschenswertes« Stationierungsland genannt war32. Der Hintergrund für solche Überlegungen lag in dem Bestreben der USA, sich schon jetzt Möglichkeiten eines raketengestützten atomaren Gegenschlags gegen einen sowjetischen Raketenangriff auf Westeuropa zu verschaffen, bevor man selbst über interkontinentale Fernraketen verfügte. Noch handelte es sich 2

'

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32

Zu Westeuropa insgesamt: Wampler, Ambiguous Legacy, S. 800 f.; zu den deutschen Sorgen: Feiken, Dulles und Deutschland, S. 367. So Strauß im Gespräch mit dem Leiter der MAAG, General Ruffner, 6.2.1957, DDRS 1980, 137 C; vgl. auch Kelleher, Germany and the Politics, S. 93 f. Tagebucheintrag de Maizieres über Gespräche von Strauß, Heusinger, Speidel und Röttiger bei SHAPE, 26.11., BA-MA, Ν 673/v. 22, sowie Gespräch Strauß - Radford, 10.12.1956, Wampler, Ambiguous Legacy, S. 976; zur NATO-Ratstagung, 14.12.1956, ebd., S. 987 f. Memorandum JCS »Base Rights and Megaton Missiles«, 2.5., The History of the Joint Chiefs of Staff, vol. 6, S. 146 sowie DoD-Information an State Department, 21.5.1956, History of the Office, vol. 4, S. 167.

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dabei jedoch nur um einen amerikanischen Plan und nicht um ein formelles Angebot, das auf die Stationierung von THOR- und JUPITER-Raketen in den Jahren 1959/60 vorauswies. Klargestellt war freilich schon jetzt, dass zwar die Raketen in den Besitz der Stationierungsländer übergehen konnten, die dazugehörigen Atomsprengköpfe aber in amerikanischer Verfügungsgewalt verbleiben würden33. Wohl war die U.S.-Regierung mit Blick auf eine nuklearisierte Bündnisstrategie an einer Ausdehnung der amerikanisch-westeuropäischen Zusammenarbeit in atomaren Fragen interessiert, sah sich aber selbst gegenüber ihrem engsten europäischen Partner Großbritannien immer noch an die Auflagen aus dem McMahon Act über die Nichtweitergabe von Kernwaffen gebunden. Das galt natürlich nicht nur für die geplanten Mittelstreckenwaffen, sondern - und damit wirkte es sich unmittelbar auf eine mögliche atomare Ausrüstung der Bundeswehr in der Zukunft aus - auch für die inzwischen in Zulauf befindlichen bzw. bereits in die NATO-Landstreitkräfte eingegliederten Kurzstreckenraketen CORPORAL und SERGEANT34. In diese nach mehreren Seiten hin offene Situation platzten die Erfahrungen von Bundesregierung und Bundeswehrführung aus der NATO-Stabsrahmenübung LION NOIR (20.-27. März 1957) und ihre Wahrnehmung in der deutschen Öffentlichkeit. Gerade weil die Grundentscheidung zur taktisch-atomar gestützten Bündnisverteidigung gefallen und die Umrüstung der NATOVerbände auf dieses Ziel hin in vollem Gange war, hatte man trotz aller Kritik am ungenügenden Zustand des Bundeswehraufbaus deutsches Führungspersonal erstmals auf breiterer Front in die Übungsabläufe integriert35. Die Übungsanlage lehnte sich in ihren Grundzügen an die aktuelle Verteidigungsplanung für Mitteleuropa an. Vor weit überlegenem Feind waren die NATOVerbände zunächst zwei Tage lang hinhaltend kämpfend auf die Ems-NeckarLinie ausgewichen. Erst nach umfassendem Einsatz taktischer Nuklearwaffen hatten sie sich so weit stabilisieren können, dass sie in den nächsten fünf Tagen zum Gegenangriff mit dem Ziel einer Wiedergewinnung der Weser-Lech-Linie antreten konnten. Die Annahmen über die militärischen Abläufe waren freilich alles andere als realistisch36. Um das Zusammenwirken von NATO-Befehlshabern, nationaler Territorialverteidigung und zivilen Behörden überhaupt durchspielen zu können, war trotz der hohen Zahl an Atomangriffen beider Seiten »die nahezu un33

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Besprechung der Verteidigungsminister Wilson und Sandys in Washington, Januar 1957, PRO, FO 371/129307. Wampler, Ambiguous Legacy, S. 981 f. Zum Übungsverlauf insgesamt: Buchholz, Strategische und militärpolitische Diskussionen, S. 244-246; zur deutschen Beteiligung: BMVg IV A 2: Entwurf eines Vortrages LION NOIR vor dem Bundeskabinett, 21.5., und Aktennotiz Fü Β III für die Abschlusskonferenz der Übung LION NOIR in Fontainebleau, 9.7.1957, BA-MA, BW 2/2688. Dazu und zum Folgenden: Kurzprotokoll der 68. Abteilungsleiter-Besprechung im BMVg, 9.4., Erfahrungsbericht der Gruppe Landesverteidigung, 18.4., sowie Vortragsnotiz für das Bundeskabinett betr. Erfahrungen aus der Stabsübung LION NOIR - Landesverteidigung, 30.4.1957, ebd., BW 2/2052, Bl. 73-76, 2/2088 bzw. 2/2574.

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eingeschränkte Bewegungsfreiheit für alliierte Streitkräfte, sowie für nationale mil. [sic!] und zivile Bewegungen vorausgesetzt« worden. Die »lähmende Nachwirkung« aus radioaktiven Niederschlägen und die zeitweilige Unpassierbarkeit ganzer Landesteile, so die deutsche Kritik, war mithin weitgehend ausgeklammert worden. Dem Zusammenwirken von militärischer Führung und ziviler Verwaltung hatte man zudem ein Notstandsrecht zugrunde gelegt, das der Bundesregierung schon jetzt uneingeschränkte vollziehende Gewalt zubilligte, eine Annahme, die den Realitäten noch um über ein Jahrzehnt vorauseilte. Eine gleichfalls bereits vorausgesetzte funktionsfähige Territorialorganisation, die nach der MC 36/1 dafür verantwortlich war, das Zusammenwirken von militärischer und ziviler Verteidigung auf nationalem Territorium zu koordinieren, würde nach der derzeitigen Aufstellungsplanung nicht vor 1960 verfügbar sein. Möglichkeiten zur psychologischen Kriegführung durch einen Gegner, dem immerhin sofort tiefe Einbrüche nach Westdeutschland geglückt waren, blieben ebenfalls nur angedeutet. Schließlich gingen auch die Vorkehrungen für den Schutz, die Lenkung und die Versorgung der Zivilbevölkerung im Kampfgebiet von »weit vorausgreifenden Annahmen« aus. Weder entsprachen nämlich der Stand des Aufbaus dazu benötigter Hilfsdienste, noch die Bevorratung von Lebensmitteln, Sanitätsmaterial und Betriebstoffen auch nur annähernd dem zu erwartenden Bedarf unter nuklearen Bedingungen. Dabei hatte die Spielleitung wegen der militärischen Räumung weiter Teile der östlichen Bundesrepublik schon in der Ausgangslage im CENTAG-Bereich über 3 Millionen, bei der NORTHAG etwa eine Million Flüchtlinge angenommen. Die Zahlen erhöhten sich wegen der fortgesetzten Atomangriffe auf deutsche Groß- und Mittelstädte noch in den ersten Übungstagen um mindestens eine weitere Million. Die nur ungenügend kontrollierten und versorgten Menschenmassen verstopften die Rheinübergänge, blockierten danach die Nachschubstraßen in der Pfalz und im Saarland und drückten schließlich auf die Grenzübergänge zu Frankreich und den BeneluxStaaten. Paris akzeptierte wenigstens den Grenzübertritt von 20 000 Flüchtlingen, während Den Haag und Brüssel dies ganz ablehnten. Damit wuchs von Tag zu Tag die Seuchengefahr in den überfüllten und unterversorgten Evakuierungsräumen, während sich die deutschen Kampf- und Territorialverbände zunehmend beeinflusst vom Elend ihrer Landsleute zeigten. Die unzureichenden Territorialkräfte, Hilfsorganisationen und Zivilbehörden erwiesen sich als völlig überfordert gegenüber einem grundlegenden Dilemma: Einerseits musste in der ersten Kriegsphase alles darauf ankommen, unter diesen Gefechtsbedingungen so viel wie möglich »eigene biologische, materielle und moralische Substanz zu bewahren und mit dem Abklingen des Atomwaffeneinsatzes frühestmöglich wieder zu aktivieren«37. Da die Bundesrepublik ostwärts des Rheins Ebd., BW 2/2088, S. 14 (Hervorhebungen - Unterstreichungen - im Original). Das entsprach ganz den Annahmen, die vom Senior Civil Emergency Planning Committee der NATO als Grundlagen der Notstandsplanung im Atomkrieg vorgegeben waren: »This

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Zweiter Teil: Aufbau der Bundeswehr und modifizierte atomare Abwehrplanung

aber Kampfraum war, standen alle zu treffenden Maßnahmen gemäß MC 36/1 unter dem »Vorrang mil. Erfordernisse«, und das schrieb zunächst einmal die nationale Verantwortung für die Offenhaltung des Operationsgebietes fest. Klar wurde den Verteidigungsplanern in Bonn mithin schon jetzt, dass bei dem Zusammenfallen von Heimatkriegsgebiet und Operationszonen auf dem Territorium der Bundesrepublik und den davon eng begrenzten Möglichkeiten zur Aufrechterhaltung einer effizienten Zivil Verwaltung die Bundesregierung »ihre Souveränitätsrechte und ihre Verpflichtung zum Schutz und zur Versorgung der Zivilbevölkerung im Kriege nur in solchem Umfang wird wahrnehmen können, als der

Mil.Terr.Org. Kräfte zur Verfügung gestellt werden«. Lange vor der Schnez-Studie von 1968 tauchte sogar bereits im Frühjahr 1957 der Gedanke auf, dass Landesverteidigung als Zusammenspiel von militärischer Territorialorganisation und Zivilbehörden im Atomkrieg letztlich nur noch über eine schon im Frieden eingespielte »Kriegsorganisation der zivilen Verwaltung« darstellbar war38. Am Beispiel des so genannten »Rheinproblems«39 verdeutlichte sich für die deutschen Mitspieler die ganze Bandbreite lösungsbedürftiger Verteidigungsprobleme im eigenen Lande besonders nachdrücklich. Das Rheintal mit seiner Besiedlungsdichte, seiner dichtbefahrenen Binnenwasserstraße und seinen 35 Straßen- und Eisenbahnbrücken zwischen Basel und holländischer Grenze stellte in mehrfacher Hinsicht eine hochsensible Verbindungszone dar. Solange sie intakt blieb, gab sie ein leistungsfähiges Drehkreuz für den Militär-, Versorgungs- und Wirtschaftsverkehr in Nord-Süd- wie in West-Ost-Richtung ab, verband sie doch auf dem kürzesten Weg die nordfranzösisch-südbelgischen Industriereviere mit dem Ruhrgebiet, die holländischen Seehäfen mit dem südwestdeutschen Binnenraum und die Einsatzräume der NATO-Truppen ostwärts des Flusses mit ihren rückwärtigen Versorgungszonen westlich davon. Genau diese Funktion als »Lebensader für die Wirtschaft der Bundesrepublik« und als »militärischer Versorgungsweg« machte sie andererseits zu einem erstrangigen Ziel feindlicher Luftangriffe, noch bevor der Gegner mit seinen Angriffstruppen versuchen würde, über den Rhein hinweg zum Atlantik durchzustoßen. Dazu boten sich die großen Verkehrs- und Industriezentren in diesem Raum für den Einsatz von Atomwaffen mit ihrer Flächenwirkung geradezu ideal an. Gelang es mithin, das Rheintal durch großräumige Zerstörungen aus einer Verbindungszone in eine schwer zerstörte Barriere mitten durch die Kampfzonen, Wirtschaftsräume und Versorgungsgebiete zu machen, dann

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emergency planning [...] should be directed at ensuring the survival of the nations against which an attack is launched, and their ability to bring their maximum contribution to the war effort«, 2.5.1956, NISCA, AC/98-D/14 (Final). BA-MA, BW 2/2088, Zitate auf S. 16 und 27 (Hervorhebungen - Unterstreichungen - im Original); zum »Primat der operationeilen Streitkräfte« bei der Übung vgl. auch Tagebucheintrag UAL I V A , BG de Maiziere, 26.3.1957, ebd., Ν 673/v. 23. Die so genannte Schnez-Studie »Gedanken zur Verbesserung der Inneren Ordnung des Heeres«, Juni 1969, ist abgedruckt in: Militär - Gehorsam - Meinung, S. 50-91. Dazu und zum Folgenden: ebd., S. 23-25.

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würden Verteidigung, Verkehr und Logistik in Mitteleuropa an einer neuralgischen Stelle schnell völlig zusammenbrechen. Exemplarisch wurde daher an diesem Punkt als unabdingbares Desiderat für künftige deutsche Verteidigungsplanung die Notwendigkeit zur Gesamtverteidigung unübersehbar, manifestiert in dem doppelten Zusammenhang von Bündnis- und nationaler Verteidigung, von militärischer und Zivilverteidigung. Ob man zur Lösung dieses Sonderfalles eine dem NATO-Kommando Europa Mitte nachgeordnete »Rheinkommandobehörde« schuf oder daraus, wie es deutschem Interesse eher entsprach, einen nationalen »Spezialstab Rhein« im BMVg als Koordinationsorgan zwischen Bündnisanrainern, Bund und Ländern machte, mochte vorerst dahingestellt bleiben. Die Festlegungen der NATO in der MC 36/1 reichten jedenfalls weder dafür noch zur Lösung der umfassenderen deutschen Verteidigungsprobleme aus, schrieben sie doch lediglich die getrennten Verantwortungsbereiche von NATO-Befehlshabern und nationalen Territorialkommandeuren vor, und dies auch noch in einer Einseitigkeit zugunsten der militärischen Belange, wie sie für den von Kampfhandlungen am härtesten betroffenen Frontstaat Bundesrepublik nicht hinnehmbar war. Militärische Verbindungs- und Versorgungswege waren hier eben gleichzeitig unverzichtbare Verkehrs- und Wirtschaftsstraßen, Industrieanlagen grenzten unmittelbar an Wohngebiete, und für das dringend erforderliche enge Zusammenspiel von militärischen Kommando- mit zivilen Verwaltungsbehörden fehlten vorläufig noch alle verfassungsmäßigen Voraussetzungen einer verbindlichen und eingespielten Notstandsregelung. Die ständigen Überschneidungen von NATO-Forderungen und nationalen Bedürfnissen, von Bundesangelegenheiten und Ländervorbehalten, von militärischen und zivilen Zuständigkeiten ließen sich für den neuen Bündnispartner Bundesrepublik nicht allein unter dem Gesichtspunkt militärischer Bewegungsfreiheit auf dem Gefechtsfeld lösen. Rekrutierung von Personal musste zwischen Streitkräften, Wirtschaft und Hilfsdiensten austariert werden. Militärische Sicherungstruppen und innenministerielle Polizeikräfte standen unter nationalem Kommando und waren von daher nicht zweckentfremdend als Hilfsorgane der NATO-Kommandeure einzuplanen. Versorgung konnte sich nicht allein auf die an sich noch relativ effizient organisierte militärische Logistik konzentrieren, sondern musste die Probleme einer Millionenbevölkerung mitten unter den Soldaten angemessen mitberücksichtigen. Operationsfreiheit auf dem Territorium der Bundesrepublik war über die Maxime »Stay-at-home« für die Zivilbevölkerung nur auf dem Papier sicherzustellen, unter den Realitäten einer aus Atom- und Russenangst gespeisten Massenpanik musste sie sich schnell als Illusion erweisen. Kommunikation zur Aufrechterhaltung der Regierungs- und Verwaltungsfähigkeit, zur zivil-militärischen Zusammenarbeit und zur Koordination zwischen militärisch organisierter elektronischer Aufklärung und zivilen Schutzorganisationen war mindestens ebenso

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Zweiter Teil: Aufbau der Bundeswehr und modifizierte atomare Abwehrplanung

wichtig, aber ungleich schwerer zu gewährleisten als zwischen den militärischen Einsatzverbänden und Stäben40. Doch die Erfahrungen aus LION NOIR konnten schon nicht mehr allein hinter verschlossenen Türen durch die militärischen Stäbe in Bonn und bei der NATO ausgewertet werden. Bereits bei Übungsbegirvn hatte die Presse mit Blick auf die beginnenden Diskussionen um eine Atombewaffnung der Bundeswehr erneut den ablehnenden Artikel des mittlerweile zum Inspekteur des Heeres ernannten Generalleutnants Hans Röttiger über »Atomdienstverweigerung« aus dem Herbst 1956 aufgegriffen. Damit war noch vor den fatalen Ergebnissen von LION NOIR eine »sehr unangenehme Situation«41 für die Umrüstungsplanung der Bundeswehr auf atomkriegsfähige Verbände entstanden. Daran knüpfte unmittelbar nach Übungsende der »Spiegel« mit einem gut recherchierten Manöverbericht an. Eingehend wurde der frühzeitige Zusammenbruch der Vorwärtsverteidigung binnen weniger Stunden geschildert, der von schweren Atomangriffen gegen die Großstädte Hamburg, Bremen, Köln, Frankfurt und Stuttgart sowie gegen alle operativ wichtigen Flussübergänge begleitet war. Um die nach Westen durchstoßenden Angriffskeile zu stoppen, blieb deshalb nur der Rückgriff auf amerikanische taktische Atomwaffen. Mitspieler bei LION NOIR zählten dabei mindestens 100 Einschläge amerikanischer Atomsprengkörper auf deutschem Territorium 42 . Die Wahrnehmung eines so flächendeckenden Einsatzes eigener Atomwaffen auf alles, was als lohnendes militärisches Ziel zwischen Oder und Rhein ausgemacht worden war, löste bei deutschen Offizieren teilweise heftige Gegenreaktionen aus. So war etwa für den Verbindungsoffizier des BMVg bei CENT AG die atomare Verwüstung Weimars besonders schockierend. Die weiträumige Zerstörung dessen, was man nach soldatischem Selbstverständnis zu verteidigen hatte, ließ ganz im Sinne des Röttiger-Artikels vom vergangenen Herbst nach der Verantwortbarkeit eigener Mitwirkung an solchem militärischen Handeln fragen 43 . Bei der Abschlusskonferenz von SHAPE über LION NOIR wollten die Teilnehmer von Fü Β daher »vom deutschen Standpunkt aus [...] die Bitte vortragen, nach Möglichkeit A-Waffen auf deutschem Boden nur in dem Umfange einzusetzen, in dem andere Mittel zur Erreichung des gewünschten taktischen Zweckes nicht ausreichen«44.

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Eingehende Auswertungen dazu in den Erfahrungsberichten WBK III und WBKIV, 13.4.1957, BA-MA, BH 28-3/10 bzw. BH 28-4/26. Tagebucheintrag UAL IV A, BG de Maiziere, 20.3.1957, ebd., Ν 673/v. 23. „Caesar und Schwarzer Löwe«, in: Der Spiegel, Nr. 11 vom 27.3.1957, S. 11-12. Die genannten Städte finden sich bereits in einer Auflistung möglicher Atomziele durch den NATO-Ausschuss für Notstandsplanung, 2.5.1956, NISCA, AC/98-D/14 (Final). Auf eine Aufzeichnung von Fü Β über entsprechende Stimmen berufen sich Steinhoff/Pommerin, Strategiewechsel, S. 34. Kurz nach LION NOIR hatte bereits Der Spiegel, Nr. 7 vom 24.4.1957, S. 11 darüber berichtet. Aktennotiz des Referenten bei Fü Β III, OTL von Freytag-Loringhoven, 9.4.1957, BA-MA, BW 2/2688.

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Das schloss sich nahtlos an die schon bisher von deutscher Seite unternommenen Schritte zur Schadensbegrenzung im Falle eines Atomkrieges an. Aus einer eingehenden wehrgeographischen Bewertung der Bundesrepublik hatte Fü Β bereits im Februar 1956 eine »Karte der Empfindlichen Punkte« erarbeitet. Die darin ausgewiesenen dichtbesiedelten Räume mit entsprechender Industrieanhäufung, das hochverwundbare Verkehrs- und Fernmeldenetz und die Abhängigkeit des Raumes von Außenversorgung über seine eigenen Nordseehäfen bzw. auf dem Landwege von den Atlantikhäfen her sollten die Verantwortlichen für die Gefechtsführung wie für die Zivilverteidigung sensibilisieren für die Knotenpunkte einer überlebenswichtigen Infrastruktur 45 . Zivilmilitärisch abgestimmte Planung im Frieden zwischen der NATO und ihrem Partnerstaat Bundesrepublik wie innerhalb des Bundesstaates zwischen Bund und Ländern bildete dabei die Voraussetzung für schadensminderndes Handeln im Krieg. Seit Ende 1955 waren dazu Besprechungen zwischen dem BMVg und den für Mitteleuropa verantwortlichen Kommandobehörden der NATO (AFCENT, LANDCENT, AIRCENT) angelaufen, die in einer großen Besprechung zwischen AFCENT und BMVg im Sommer 1956 in Bonn gipfelten 46 . Im Kern ging es dabei um die Zusammenarbeit der NATO-Kommandobehörden mit der deutschen militärischen Territorialorganisation und den Bundes- wie Länderpolizeien auf den Gebieten Sicherstellung der materiellen Erfordernisse der NATO-Truppen in der Kampfzone Bundesrepublik, Steuerung von Evakuierungen und Flüchtlingen, Zerstörung strategisch wichtiger Güter und Infrastruktur vor Inbesitznahme durch den Gegner sowie Aufrechterhaltung von Kommunikation, Verkehrsführung und Versorgung unter Kriegsbedingungen. Wenn SHAPE im Frühjahr 1957 bei LION NOIR zu überzogenen Annahmen über die Verfügbarkeit deutscher territorialer Verbände kam, dann mochten dabei sehr hoffnungsvolle Ankündigungen der Abteilung Streitkräfte im BMVg nachwirken, die noch im Sommer 1956 davon ausgegangen waren, dass der Aufbau einer Territorialorganisation in vollem Gange und großenteils sogar bereits bis Jahresende abgeschlossen sein würde. Mit Blick auf die erforderlichen Notstandsgesetze hatte man sich allerdings frühzeitig darauf eingestellt, dass man für eine Übergangszeit ohne gesetzliche Notstandsregelungen mit »Interimslösungen« arbeiten musste, da der Verteidigungsfall schließlich »jederzeit eintreten konnte«. Eine Möglichkeit, die besonders verheerenden Wirkungen von Atomwaffen auf die Bevölkerung und die überlebenswichtige Infrastruktur der Bundesrepublik begrenzt zu halten, wurde dabei im Sommer 1956 in der Bonner Presse mit ausgesprochener Skepsis erörtert. Der Direktor der amerikanischen Atomic Energy Commission, Admiral Lewis Strauss, hatte Informationen über Fort45

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BMVgIV/A: Beurteilung der Karte der Empfindlichen Punkte der BR, 4.2.1956, ebd., BW 17/26. Dazu und zum Folgenden: Protokoll der Besprechung betr. Zusammenarbeit auf den Gebieten der Operations- und logistischen Planung zwischen AFCENT und BMVg in Bonn am 11.7., 14.8.1956, ebd., BW 17/32.

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schritte bei der Entwicklung einer so genannten »sauberen« Atombombe an die Öffentlichkeit gegeben. Verbesserte Zielgenauigkeit, reduzierte Strahlenwirkung und Versuche mit hohen Luftdetonationen machten danach eine wesentlich präzisere Zielbekämpfung und erheblich begrenztere Kollateralschäden möglich als bisher angenommen. Nachfragen bei der Deutschen Botschaft in Washington relativierten den Realitätsgehalt dieser Nachricht freilich schnell auf ein Minimum. Auslöser für den Vorstoß der Atomic Energy Commission in die Öffentlichkeit war danach eine publik gewordene Aussage des Leiters der Forschungsabteilung in der U.S. Army vor einem Senatsausschuss gewesen, dass bei einem vollen Atomangriff gegen die Sowjetunion durch radioaktive Strahlung nicht nur in Osteuropa, sondern auch im angrenzenden Westeuropa mehrere hundert Millionen Menschen ums Leben kommen würden. Um die zu erwartenden psychologischen Schäden derartiger Erörterungen in der eigenen Öffentlichkeit wie bei den westeuropäischen Verbündeten abzufangen, hatte sich Admiral Strauss mit seinen günstigeren Prognosen zu Wort gemeldet, die den technologischen Möglichkeiten jedoch noch weit vorauseilten. In der Unterabteilung Forschung des BMVg verneinte man daher wie bei den amerikanischen Kritikern alle überoptimistischen Annahmen von der Steuerbarkeit radioaktiver Folgewirkungen bei Atomexplosionen. Lediglich durch Luftdetonationen könne der nukleare Fallout verringert werden. Bestätigt wurde solche Skepsis beim Gespräch von Präsident Eisenhower mit den Fachleuten, die zwar weiterhin die technische Machbarkeit solcher »sauberen Waffen« herausstellten, bei denen sich radioaktive Niederschläge von weniger als einem Zehntel der bisherigen Werte erreichen ließen. Nur stellten die Experten auch klar, dass dies noch einige Zeit dauern werde47. Um die Diskussionen im Bündnis um radioaktive Verstrahlung von »Fehlinformationen und unbegründeten Mutmaßungen« freizuhalten, blieben JCS und SHAPE jedoch bei ihrer seit Frühjahr 1955 eingenommenen Bewertung, dass das Problem zwar vorhanden sei, aber »will be a manageable one«48. Den Streitkräfteplanern in Bonn blieb mithin wenig mehr, als sich bei ihren militärisch-operativen Überlegungen endgültig davon leiten zu lassen, dass im Atomzeitalter die »historische Front-Heimat-Vorstellung vollends erschüttert« sei. Der angestrebte neue Soldatentyp eines »Staatsbürgers in Uniform« könne sich daher nicht mehr aus dem Disput in der Öffentlichkeit um die Auswirkungen seiner militärischen Planungen heraushalten. Gerade in militärischer Führungsfunktion müsse er sich vielmehr mit »Aufgeschlossenheit und Verantwortung« daran »hinsichtlich der wirtschaftlichen und sozialen Interessen der Gesamtbevölkerung« beteiligen: »Die an die Existenzerhaltung rührende Mög47

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Gedankenaustausch zwischen MFR und Abt. XII betr. Artikel des Bonner Generalanzeigers vom 14.8. »Die >saubere< Bombe«, 20. bzw. 28.8.1956, ebd., BW 17/21 sowie Gespräch des Präsidenten mit Admiral Strauss und AEG-Experten, 24.6.1957, DDRS 1977, 253 C. Memorandum Chief of Staff, U.S. Army »Radioactivity Aspects of Atomic Warfare« und Schreiben Chairman JCS an Secretary of Defense, 10.9. bzw. 11.10.1956, NA, RG 218, Central Decimal File, box 134, CCS 471.6 (10-16-45), sect. 20.

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lichkeit eines Atomkrieges bildet einen realen Hintergrund der Bemühungen, dem Militärischen neuen Inhalt zu geben.« Sicherung der überlebenswichtigen Infrastruktur und Schutz der in Ballungsräumen und Kampfzonen besonders bedrohten Bevölkerung hatten daher von nun an »gleichrangig neben den Aufgaben der Truppenführung« zu stehen. Besondere Schutzvorkehrungen von »existenzerhaltender Bedeutung« waren dazu für die Versorgung mit Trinkwasser, Lebensmitteln und Sanitätsmaterial sowie für die Sicherung von Energie-, Verkehrs- und Fernmeldeanlagen zu treffen. Die voraussichtliche Zerschlagung des Bundesgebietes unter Kriegseinwirkungen in versorgungstechnische »Inseln« (Schleswig-Holstein, Nord- und Süddeutschland, Gebiet westlich des Rheins) machte zudem schon im Frieden eingespielte Vorkehrungen für dezentrale Führung erforderlich. Die räumliche Enge Westdeutschlands als Kampfzone und ihre Abhängigkeit von Außenversorgung relativierte im Verteidigungsfalle im Übrigen auch die Bedeutung von Staatsgrenzen 49 . Das alles war leichter zur Forderung erhoben als bündnis- und innenpolitisch umgesetzt, geschweige denn als kostenaufwendiges zusätzliches Notstandsprogramm zu den militärischen Verteidigungsaufgaben finanziell verfügbar gemacht. In dem Maße, wie man sich indes im BMVg auf die atomare Umrüstung der Bundeswehr einstellte, konnte man trotz aller Schwierigkeiten bei der Umsetzung nicht mehr von der grundsätzlichen Notwendigkeit einer Gesamtverteidigung absehen, bei der gemeinsame Verteidigung im Bündnis, nationale Landesverteidigung und zivile Notstandsplanung eng miteinander zu verzahnen waren. Schon im Frühjahr 1956 hatte die Streitkräfteabteilung des BMVg deshalb allen beteiligten Bundesministerien eine Studie zukommen lassen, aus der sich die Grundlagen des strategischen Konzepts der NATO, seine Auswirkungen auf die Bundesrepublik und die daraus abzuleitenden Forderungen an zivile Notstandsplanung unter atomaren Bedingungen ergaben. Dass sich die NATO als »Verteidigungsbündnis« dabei dem Grundsatz der »Verhinderung des Krieges« durch die »abschreckende Wirkung ihrer Überlegenheit an Atomwaffen« verpflichtet hatte, konnte nicht darüber hinwegsehen lassen, dass man im Falle eines dennoch ausbrechenden Konflikts von Anfang an darauf eingestellt sein musste, dass der Gegner, wenn er sich trotzdem zum Krieg entschloss, voraussichtlich »den Angriff mit Atomwaffen weltweit und schlagartig« eröffnen würde 50 . Besiedlungs-, Industrie- und Verkehrsdichte in den eng verflochtenen Ballungsgebieten der Bundesrepublik ließen aber beim derzeitigen ungenügenden Stand der Notstandsplanung mit ihren unzureichenden gesetz-

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BMVg IV/A/3: Einige Überlegungen zum Thema »Atomkriegführung und Wehrstruktur«, 11.10.1956, BA-MA, BW 2/1945, Anl. 2. BMVg IV/A/3: Militärische Annahmen als Grundlage für die zivile Notstandsplanung, o.D. [Frühjahr 1956], ebd., BW 17/22; Hervorhebungen - Unterstreichungen - im Original.

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liehen Grundlagen befürchten, dass »ein Atomangriff, dem die Bundesrepublik ausgesetzt wäre, [...] strukturauflösende Wirkung haben könnte«51. Anfang 1957 suchte sich die Bundesregierung dazu erst einmal ein genaueres Bild über die Weiterungen der strategischen Planung im Bündnis für das eigene Territorium zu machen. Wollte man wenigstens zu einigermaßen abgesicherten Berechnungen über die voraussichtlichen Verluste unter nuklearen Einsatzbedingungen als Basis eigner Notstandsplanung kommen, dann benötigte man als Grundlage dafür fundierte Schätzungen der NATO über angenommene Atomeinsätze der Sowjetunion gegen das Bundesgebiet nach Sprengwerten und Anzahl. Seitens des Auswärtigen Amtes wurde dazu ein Fragenkatalog an die NATO erarbeitet, der nach Angaben suchte über die Wahrscheinlichkeit eines Einsatzes von Atomwaffen in einem europäischen Krieg, über ihre unmittelbaren Wirkungen, Kollateralschäden und Nachwirkungen sowie über die Chancen, durch Steigerung der konventionellen Rüstung eine erfolgreiche Verteidigung unterhalb der atomaren Schwelle zu organisieren. Die Antworten von SHAPE über den zu erwartenden Umfang der Zerstörungen und die langfristigen gesundheitlichen Folgen für die Bevölkerung fielen bedrückend aus52. Die Erfahrungen deutscher Beobachter und Übungsteilnehmer an LION NOIR ließen dann das ganze Ausmaß einer auf Atomwaffen abgestützter Operationsführung für die Bevölkerung und das Territorium der Bundesrepublik hervortreten. Der Unterabteilungsleiter IV A, Brigadegeneral de Maiziere, kam bei Besuchen auf den Gefechtständen des II. (GE) Korps zu der »Feststellung, daß Amerikaner bzw. auch andere Nato-Truppenkommandeure Atomwaffen durchaus bedenkenlos einsetzen, wenn es takt. Lage erfordert«. Und beim mitspielenden Wehrbereichskommando II in Hannover konstatierte man, »daß entlang des Rheines eine so dichte Zielfolge eingetreten ist«, dass es »einer eingehenden Untersuchung von Fachleuten [bedarf], ob eine derartige Kriegführung im Gebiet der Bundesrepublik überhaupt möglich ist, ohne die Substanz der deutschen Bevölkerung nicht auf das Entscheidendste zu treffen«. Kritisch merkte man in diesem besonders hart betroffenen Wehrbereich zudem an, dass die eigenen Verbündeten offenbar um der taktischen Überraschung willen auch den Abwurf von Atombomben auf deutsche Städte »ohne jegliche Warnung an die in diesen Städten verbliebene Bevölkerung« durchspielten. Demgegenüber musste es dezidiert deutsches Interesse sein, wie in der Spielanlage gefordert, das »Überleben der deutschen Bevölkerung« zu sichern: »Dieses Ziel muß das primäre sein. Ob es die Alliierten, die ja nicht auf eigenem Boden kämpfen, 51

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BMVg IV/A/3: Vortrag betr. Zuständigkeiten der Befehlshaber in den Wehrbereichen unter besonderer Berücksichtigung der MC 36 und der Alarmmaßnahmen, 19.12.1956, ebd.; Hervorhebungen - Unterstreichungen - im Original. Aufzeichnung Dr. Wickert, Ständige Vertretung Paris, über eine Besprechung im AA mit Vertretern BMI und BMVg zur strategischen Planung der NATO am 24.1., 30.1.1957, sowie Fragenkatalog AA betr. Abwehrstrategie der NATO, 12.2.1957, ebd., BW 2/2675. Zu den Antworten: Steinhoff/Pommerin, Strategiewechsel, S. 32.

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immer im Auge haben, mag dahingestellt bleiben.« Insgesamt zählte man jedenfalls auf deutscher Seite 108 eigene und 20 feindliche Einschläge von Atomsprengkörpern im Zielgebiet Bundesrepublik, durch deren Einsatz die Masse der Rheinbrücken und zehn Großstädte dauerhaft zerstört waren 53 . Deshalb hatte das BMVg schon während der Übung »sehr eindringlich darauf hingewiesen, daß auf dem Territorium eines Partners der Allianz der Einsatz von taktischen Atomwaffen sorgfältig überlegt werden muss. Er ist nur sinnvoll, wo andere Mittel zum Erreichen des taktischen Zweckes nicht ausreichen«. Im Einvernehmen damit hatte die Bundesregierung zwar ihre Verpflichtung erneuert, im Einsatzfalle »mit allen geeigneten Mitteln die Sicherheit und Operationsfreiheit« der NATO-Verbände auf deutschem Territorium zu fördern, aber unter dem ausdrücklichen Vorbehalt: »wenn und soweit dies mit dem Ziel des Überlebens der Bevölkerung vereinbar sein würde«. In einem ausführlichen Erfahrungsbericht an die NATO war dies nach Übungsende nochmals nachdrücklich unterstrichen und - so zumindest der deutsche Eindruck - »von unseren Partnern sehr positiv aufgenommen« worden 54 . Mehr als solche Appelle zu atomarem Maßhalten war von Bonner Seite freilich schon deshalb nicht möglich, weil die USA inzwischen über ihre Military Assistance Advisory Group (MAAG) Bonn bereits ganz offiziell über ihre Absicht informiert hatten, dass auch der Bundeswehr zur »Modernisierung« atomwaffenfähige Trägersysteme zugewiesen würden 55 . Da die Amerikaner also offenbar zu generellen Regelungen mit ihrem deutschen Partner kommen wollten, drängte man bei Fü Β darauf: »Frage der Ausstattung der Bundeswehr mit Atomabschußmitteln muß aufgegriffen werden 56 .« Im MFR war man sich nämlich endgültig klar darüber geworden, dass trotz der ungelösten Folgeprobleme nuklearer Vergeltungsstrategie alle Partner im Bündnis inzwischen »den Atomweg« gingen. Nicht aufzubringende finanzielle Mittel schlossen letztlich für eine konventionelle Alternative die Aufstellung der dazu erforderlichen Divisionen aus. Effiziente Vorwärtsverteidigung forderte andererseits gebieterisch: »Schild muß stark genug sein«, und das konnten die zahlenmäßig zu geringen NATO-Verbände einschließlich der in Aufstellung befindlichen deutschen Kontingente unter diesen Voraussetzungen faktisch nur nach Zuführung taktischer Atomwaffen leisten. Oder militärisch direkter auf den Punkt ge-

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BMVg IV A 2: Einsatz von Atomkörpem im Rahmen der Übung Lion Noir, 11.4., BA-MA, BW 2/14245, sowie Aufzeichnung über Besuch BG de Maiziere bei II. Korps, 24.3. und Erfahrungsbericht WBK II, 10.4.1957, ebd., BW 2/2688 bzw. BW 2/2077, Vorg. 15. BMVg IV A 2: Entwurf eines Vortrages LION NOIR vor dem Bundeskabinett, 21.5., sowie Abschlussbericht Fü B: Erfahrungen LION NOIR, 25.7.1957, ebd., BW 2/2688 bzw. BW 2/2087. Schreiben des Chief MAAG, Major General Ruffner, an Minister Strauß, 25.3.1957, ebd., BW 2/2468. Tagebucheintrag UAL IV A, BG de Maiziere, 27.3.1957, ebd., Ν 673/v. 23.

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bracht: »Verzicht auf Einsatz dieser Waffen bedeutet zurzeit Freigabe Europas an SU. Große Mächte daher zum Einsatz dieser Waffen entschlossen57.«

2. Der öffentliche Kampf um die Atombewaffnung der Bundeswehr Das war der Hintergrund, vor dem nunmehr auch der Bundeskanzler eindeutig Position beziehen musste vor der deutschen Öffentlichkeit, denn gleichberechtigte Partnerschaft im Bündnis war unter diesen Umständen nicht mehr mit atomaren Vorbehalten gegen die geltende NATO-Strategie zu erlangen. Zum Anlass dafür nahm er eine Große Anfrage der SPD Anfang April 1957 im Deutschen Bundestag, die gegen eine atomare Umrüstung der Bundeswehr gerichtet war und stattdessen endlich Klarheit darüber gewinnen wollte, was die Bundesregierung zur Reduzierung der für die Deutschen beiderseits des Eisernen Vorhangs unannehmbaren Gefahren eines Atomkrieges zu unternehmen gedachte58. Zusätzlich herausgefordert zum Gang vor die Öffentlichkeit musste sich der Bundeskanzler fühlen, da mittlerweile auch seine früheren Koalitionspartner in der FDP Absetzbewegungen vom sicherheitspolitischen Kurs der Bundesregierung unternahmen. Wohl hielt deren verteidigungspolitischer Sprecher Erich Mende an den bisherigen Gemeinsamkeiten in der Sicherheitspolitik fest, die auch die Notwendigkeiten einer Anpassung der Bundeswehrplanung an die atomaren Realitäten einschlossen. Der zunehmende Dissens zwischen Liberalen und Christdemokraten darüber, ob die westdeutsche Aufrüstung den Wunsch nach Wiedervereinigung mehr behinderte als förderte, hatte dagegen schon Ende 1955 zum Bruch der Regierungskoalition geführt. Jetzt lud sich dies zusätzlich auf durch die wachsende öffentliche Skepsis über den nuklearen Kurs der NATO, die sich in einer deutlichen Befürwortung atomarer Abrüstung (88 %) und - wenn dies nicht gelang - der mehrheitlichen Ablehnung einer atomaren Aufrüstung der Bundeswehr (51 %) in den Meinungsumfragen niederschlug. Im Übrigen begann bereits der Bundestagswahlkampf in der zweiten Jahreshälfte 1957 seine langen Schlagschatten vorauszuwerfen. Wie die Sozialdemokraten reagierten daher jetzt im Frühjahr 1957 auch die Liberalen auf die kritische sicherheitspolitische Stimmung in der Öffentlichkeit mit einer klaren Distanzierung von den Plänen der Bundesregierung zu einer atomaren Umrüstung der Bundeswehr59. 57 58 59

Papier Oberst von Cord »Gesichtspunkte zur atomaren Umrüstung der Bundeswehr«, 4.4.1957, ebd., BW 17/43, Bl. 93. Große Anfrage der Fraktion der SPD betr. Atomwaffen, 2.4.1957, Verhandlungen Bundestag, 2. Wahlperiode, Bd 50, Drucksache 3347. Zu den Stimmungen in der Bevölkerung und der Umorientierung in der FDP: Cioc, Pax Atomica, S. 39-42.

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In seiner Presseerklärung vom 5. April 1957 schlug Adenauer im Gegenzug freilich einen so bagatellisierenden Ton an, dass er damit die Gemüter gerade nicht zu beruhigen verstand, die Debatte vielmehr zusätzlich aufheizte. Dabei lag seine Unterscheidung von strategischen und taktischen Atomwaffen, um die es in der deutschen Debatte allein gehen konnte, voll auf der Linie der NATO. Zum öffentlichen Eklat brachte er es jedoch mit seinen als Verharmlosung empfundenen Einlassungen: »Die taktischen Atomwaffen sind im Grunde nichts anderes als eine Weiterentwicklung der Artillerie, und es ist ganz selbstverständlich, daß bei einer so starken Fortentwicklung der Waffentechnik, wie wir sie leider jetzt haben, wir nicht darauf verzichten können, daß unsere Truppen das sind ja beinahe normale Waffen - die neuesten Typen haben und die neueste Entwicklung mitmachen60.« Beim jährlichen deutsch-englischen Gespräch in Königswinter antwortete der sicherheitspolitische Sprecher der SPD, Fritz Erler, wenige Tage später darauf mit einer vehementen Philippika gegen die »Phantasielosigkeit des Wettrüstens«. Das »ewige Spiel mit dem Atomfeuer [könne] kein Ersatz für Politik« sein. Deutsche Politik dürfe es nicht dabei belassen, mehr oder weniger widerstandslos einer militärische Planung zu folgen, die im Falle eines militärischen Konflikts auf nationalen »Selbstmord« hinauszulaufen drohe: »Die Politiker müssen den Militärs das Gesetz des Handelns entreißen und dürfen nicht resignieren61.« Dieser Rückzug der SPD in eine grundsätzliche Opposition zur Sicherheitspolitik der Bundesregierung kam ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da deren Wehrexperten sich innerhalb der Partei nach ihrer erfolgreichen Mitarbeit an der Ausgestaltung der Wehrverfassung eigentlich seit Sommer 1956 darum bemühten, ihre Partei trotz aller fortdauernden Auffassungsunterschiede über ihre generelle Ausgestaltung zu einer Bejahung der Landesverteidigung zu bewegen62. Doch das war nur der Anfang des öffentlichen Gegenwindes, mit dem Adenauer unter den Vorzeichen eines beginnenden Wahlkampfes durchaus gerechnet hatte. Gegenüber U.S.-Außenminister Dulles erklärte er die Haltung der SPD für »gänzlich sinnlos«, da sie den künftigen deutschen Soldaten letztlich zumute, sich einem Gegner »mit Pfeil und Bogen« entgegenzustellen, der mit »Gewehren« bewaffnet ist. Dulles unterstützte dies nachdrücklich mit der Warnung, dass sich die übrigen westeuropäischen NATO-Partner bei einer deutschen Ablehnung von Atomwaffen eindeutig hinter die USA stellen würden, da für eine hinreichende konventionelle Alternative zur Verteidigung Mitteleuropas aus ihrer wie aus amerikanischer Sicht alle Voraussetzungen fehlten. Die Versammlung der WEU sollte dies mit ihrer Forderung nach voller Ausrüstung aller NATO-Verbände mit taktischen Atomwaffen schon wenige Tage später vorbehaltlos mit der Feststellung unterstützen, dass »sonst die Wirksamkeit der 60

61 62

Die Presseerklärung Adenauers, 5.4.1957 ist abgedr. in: Dokumente zur Deutschlandpolitik, Reihe III, Bd 3, S. 577 f. Bericht von Joachim Besser, Um einige Illusionen ärmer geworden..., in: Die Welt, 9.4.1957. Soell, Helmut Schmidt, S. 280.

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westeuropäischen Verteidigung nicht sichergestellt werden kann«. Lediglich die sechs Delegierten der SPD und ein Labour-Abgeordneter stimmten gegen diese Empfehlung63. Bis dahin waren das vorhersehbare Auseinandersetzungen um Grundfragen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik gewesen. Die Debatte gewann dagegen zusätzlich an Schärfe, als es kaum eine Woche nach dem Presseauftritt des Bundeskanzlers 18 führende deutsche Atomwissenschaftler, darunter Otto Hahn, Werner Heisenberg und Carl-Friedrich von Weizsäcker, mit ihrem »Göttinger Manifest« strikt ablehnten, »sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen«. Das mochte man seitens der Regierung noch hinnehmen, war nach den Festlegungen der Pariser Verträge vorerst doch gar nicht an eine eigenständige deutsche Nuklearrüstung, sondern lediglich an die Ausstattung der Bundeswehr mit atomaren Trägersystemen zu denken. Außerdem akzeptierten die Wissenschaftler durchaus das hinter der Nuklearstrategie stehende Prinzip von Kriegsverhinderung durch Abschreckung als »einen ganz wesentlichen Beitrag zur Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt und der Freiheit in einem Teil der Welt«. Sie stellten dies allerdings unter den Vorbehalt, dass Friedenssicherung durch Abschreckung »auf die Dauer [...] unzulässig« sei, da »die Gefahr im Falle ihres Versagens für tödlich« gehalten werden müsse. Ihre Abwehr richtete sich freilich vorrangig gegen ein aktives deutsches Mitwirken an der atomaren Ausweitung der Bündnisstrategie. »Ein kleines Land wie die Bundesrepublik« wollten die Kernphysiker demgegenüber schon jetzt »ausdrücklich auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichten« sehen. Gegen die Unterscheidung des Bundeskanzlers von »kleinen« und »strategischen« Atomwaffen bestanden die Wissenschaftler für das kleinräumige Mitteleuropa nämlich darauf: »Taktische Atomwaffen haben die zerstörerische Wirkung normaler Atombomben. [...] Wir kennen keine technische Möglichkeit, große Bevölkerungsmengen vor dieser Gefahr zu schützen64.« Das Neue an diesem Gang von Fachwissenschaftlern an die Öffentlichkeit war genau diese Verknüpfung von fachlicher Expertise und allgemeinpolitischer Forderung, die auch bereits die öffentliche Wortmeldung des nunmehrigen Heeresinspekteurs Röttiger über »Atomkriegsverweigerung« begleitet hatte. In der existenziellen Frage von Atomwaffen und ihren Wirkungen blieben die Experten unterschiedlichster Provenienz - im weiteren Verlauf der Debatte sollten sich Juristen, Theologen und Sozialwissenschaftler dem Kreis der Kritiker zugesellen - nicht mehr bei ihrem rein fachlichen Einspruch stehen. Wissenschaftliche und ethische Kritik nahmen vielmehr politische Gestalt an. Das gab dem sicherheitspolitischen Diskurs in der frühen Bundesrepublik seine beson63

64

Gespräch Dulles - Adenauer, 4.5., DDRS 1997, 736 und Empfehlung der WEU-Versammlung, 9.5.1957, Bulletin Nr. 86 vom 10.5.1957, S. 763. Das »Göttinger Manifest« vom 12.4.1957 ist abgedr. in: Atomwaffen und Ethik, S. 36; zu seiner Bewertung: Cioc, Pax Atomica, S. 43 f. und Stölken-Fitschen, Atombombe und Geistesgeschichte, S. 2 0 8 - 2 1 1 .

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dere Funktion für die Herausbildung einer neuen Diskussionskultur im Rahmen einer pluralistischen Gesellschaft, wie sich das an den Auseinandersetzungen um die Wiederbewaffnung von allem Anfang an abgezeichnet hatte65. Für Bundesregierung und Bundeswehrführung verschob sich der Disput um ein konkretes Rüstungsproblem damit zunehmend von der Frage nach seiner sicherheitspolitischen und militärischen Zweckmäßigkeit hin zum Problem seiner ethischen Rechtfertigung überhaupt. Dass sich in der jetzigen Situation ausgerechnet die ansonsten durchaus hinter der Regierungslinie einer friedlichen Nutzung von Kernenergie stehenden Fachwissenschaftler gegen deren militärische Weiterungen stellten, machte ihren Vorstoß in die Öffentlichkeit für das politische Bonn so herausfordernd. Bei der ausgeprägten Bereitschaft in der deutschen Gesellschaft, sich dem als objektiv erachteten Fachurteil von Experten zu beugen, drohte der politischen und militärischen Führung nämlich gerade der hier deklarierte Sachverstand zum öffentlichen Problem zu werden. Generalinspekteur Heusinger musste deshalb seine Teilnahme an der jährlichen Stabsrahmenübung CPX 7 bei SHAPE unterbrechen, um Adenauer mit seiner militärischen gegen die wissenschaftliche Expertise beizuspringen 66 . In den sofortigen Gegenreaktionen des Bundeskanzlers und des BMVg mahnte man dabei die alte Kompetenzverteilung zwischen politischem und wissenschaftlichem Bereich an. Bei der Frage einer atomaren Umrüstung der Bundeswehr gehe es um »eine außenpolitische und militärische Frage, die nichts zu tun hat mit Erkenntnissen der Atomwissenschaften« 67 . Dabei stellten die Wissenschaftler den Grundsatz unterschiedlicher Verantwortungsbereiche gar nicht in Frage. Ehr Wortführer von Weizsäcker hatte monatelange Uberzeugungsarbeit leisten müssen, bevor er einen so illustren Kreis von Wissenschaftlern, von denen viele in ihren politischen Ansichten dem Regierungslager nahe standen, hinter eine Aktion zu bringen vermochte, die schnell Gegenstand des anlaufenden Wahlkampfes werden konnte. Erst Adenauers leichtfertige Wortwahl von der weiterentwickelten Artillerie hatte daher schließlich ihr gemeinsames Fachvotum herausgefordert 68 . Der kleinere Koalitionspartner CSU, der schließlich mit dem Verteidigungsressort erhebliche sicherheitspolitische Mitverantwortung trug, sah sich freilich zu wesentlich härterer Gangart herausgefordert gegen »Göttingen [als] Zentrum des Neutralismus, [...] wo an wissenschaftlichen und künstlerischen Individualitäten mit sehr verfänglicher politischer Zielrichtung kein Mangel herrscht«. In München verdächtigte man die Unterzeichner des Manifests deshalb, als teils bewusste, teils fahrlässige Stichwortgeber einem »politischen Fatalismus [...] von Grüber über Heinemann bis Niemöller« beizuspringen, der schon bisher »in den schauerlichen Chor der abendländischen Selbstmörder aus Angst vor 65 66 67

68

Eingehend dazu der Beitrag Volkmann, in: Α WS, Bd 2, S. 463-600. Militärisches Tagebuch MFR, 15./18.4.1957, BA-MA, BW 17/36, S. 67. Reaktionen der Bundesregierung auf die Göttinger Erklärung, 13.4., Bulletin Nr. 72 und 73, 13.4.1957. Vgl dazu Stölken-Fitschen, Atombombe und Geistesgeschichte, S. 210 f.

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dem TodeNew Look< die Funktion einer »schützenden Glocke« über einem möglichen europäischen Gefechtsfeld zur Abschreckung eines gegnerischen Einsatzes von Atomwaffen, wurde also zum »Schild«, während die NATO-Verbände in Europa als nunmehriges »Schwert« der westlichen Allianz die Abwehr einer östlichen Invasion zu übernehmen hatten. Oder mit den Worten Lemnitzers: Atomwaffen seien nicht »das Allheilmittel für alle militärischen Probleme«, es müsse vielmehr »größerer Nachdruck auf die Fähigkeit gelegt [werden], wirkungsvoll in Auseinandersetzungen zu kämpfen, die kleiner sind als ein >general warreinforced alert< das operative Kommando auf den SACEUR überging, blieben ihm im Frieden letztlich nur Warnungen vor den militärischen Folgen einseitiger Truppenreduzierungen in Europa und Anmahnungen zur Einhaltung eingegangener Verpflichtungen ohne verbindliche Wirkungen. Wenn General Norstad daher im Herbst 1957 einmal mehr warnend auf die Schwächung seiner Verteidigungsplanung durch kontinuierliche Ausdünnungen der Bündnisstreitkräfte verwies, dann konnte er doch gleichzeitig nicht an den von Franzosen und Briten dafür vorgebrachten Gründen einer

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Bewertung des EDP 1-56 durch die BCOS, 26.8.1955, PRO, DEFE 4/79, COS (55) 73. Political Directive, 13.12.1956, N A T O Strategy Documents, S. 276.

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Sicherung der Peripherie des Bündnisgebietes etwa in Nordafrika oder im Vorderen Orient vorbeisehen 116 . So machte etwa der französische Generalstabschef intern unumwunden klar, dass man zwar für die Verteidigung Europas sieben Divisionen vorgesehen habe, diese aber wegen der ständigen Abzüge von Personal und Material nach Nordafrika letztlich nicht einsatzfähig halten könne. Deshalb empfahl er, den eigenen Einsatz an der nordafrikanischen Südküste des Mittelmeeres als Bündnisaufgabe zu deklarieren, weil die Stabilisierung des Maghreb ein Ausflankieren der NATO Richtung Südatlantik durch den hinter den nordafrikanischen Guerrillabewegungen vermuteten kommunistische Gegner verhinderte 117 . Für die Verteidigungsplanung in Mitteleuropa bedeutete dies allerdings, dass die französischen Truppen in Deutschland kaum noch in vorderster Front verwendet werden konnten. Anfang 1956 ließ die französische Regierung nämlich bei SHAPE wissen, dass ihr mit dem Aufwachsen der Bundeswehr an einer Umdislozierung ihrer noch auf deutschem Boden verbliebenen Streitkräfte gelegen war. Gedacht war in Paris an eine stufenweise Rückverlegung des II. (FR) Korps mit seinem bisherigen Hauptquartier aus Koblenz und seinen Verbänden aus Hessen in den Trierer Raum. Begründet wurde der Wunsch damit, dass man dadurch die beiden in Deutschland stationierten Divisionen in Südwestdeutschland führungstechnisch und logistisch besser zusammenfassen konnte. Das Hauptquartier der 1. (FR) Armee in Baden-Baden würde dann mit den Standorten der 1. (FR) Panzerdivision in Trier und der 3. (FR) Panzerdivision in Freiburg i.Br. in enger Nachbarschaft stationiert und gleichzeitig näher an das französische Mutterland herangezogen sein. Abgelöst werden sollten die bislang in Hessen eingesetzten Verbände durch Neuaufstellungen der Bundeswehr 118 . Sehr zum Leidwesen von SHAPE hatte davon Ende Februar 1956 auch bereits der Leiter der Streitkräfteabteilung im BMVg, Generalleutnant Hans Speidel, vertrauliche Kenntnis erlangt, der nun seinerseits dagegen Einspruch erhob. Ohne Absprachen mit den Deutschen sollte offenbar über ihr Territorium verfügt werden, wobei weder die mit den Pariser Verträgen zurückgewonnene Souveränität noch die Dislozierungsplanung für die deutschen Großverbände berücksichtigt worden waren 119 . Die Bundeswehrführung reagierte darauf, nachdem sie Ende Mai 1956 offiziell von den französischen Plänen unterrichtet worden war, mit der Absicht zur Verlegung einer ursprünglich für Süddeutschland vorgesehenen Panzerdivision der Bundeswehr in das Rhein-Main-

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117

118 119

Stellungnahme des britischen Joint Planning Staff zu der SACEUR-Studie »Allied Command Europe Minimum Forces Study, 1958-1962«, 6.11.1957, PRO, DEFE 4/101, COS (57) 86. Bericht General Zellers über die Strategische Reserve Frankreichs, 10.7.1957, Guelton, The French Army, S. 158. Zusammenfassender Bericht der Abt. IV A, 14.1.1957, BA-MA, BW 2/2666, Bl. 21 -24. Aufzeichnung Speidels über sein Gespräch mit dem Chef des Stabes von SHAPE, 27.2.1956, ebd., BW 2/2787, Bl. 68 f.

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Gebiet120. Damit löste sich in diesem Falle aber auch der Dissens mit dem französischen Partner schnell in beiderseitigem Interesse auf, weil die Räumung Hessens und des Großstandorts Koblenz von französischen Verbänden letztlich Luft für die infrastrukturellen Probleme des hier aufzustellenden III. (GE) Korps schaffte. Schon im Spätsommer 1957 streckten deutsche Dienststellen jedenfalls ihrerseits Fühler in den Kasernements der Stadt aus, mussten sich aber vorerst noch in Geduld üben, da die französische Seite zwar ihre Kampftruppen bereits aus Hessen abgezogen hatte, mit einem vorgeschobenen Rumpf stab ihres II. Korps aber noch in Koblenz verbleiben wollte121. Nur änderte das nichts daran, dass man den französischen Truppen für eine grenznahe Vorwärtsverteidigung seitens des MFR seit 1956/57 »kein besonderes Gewicht« mehr beimessen konnte122, da ihre beiden in Südwestdeutschland verbliebenen Divisionen personell und ausrüstungsmäßig inzwischen so weit unterhalb der NATO-Standards lagen, dass sie nicht mehr als voll einsatzfähig gelten konnten. Mehrfach von SHAPE angemahnte und von Paris auch zugesagte Verstärkungen aus zusätzlich einberufenen Reservisten mussten nämlich regelmäßig auf den nordafrikanischen Kriegsschauplatz umgeleitet werden. Verteidigungsminister Strauß ließ den Verteidigungsausschuss deshalb Anfang 1958 ernüchternd wissen, die Franzosen hätten »die Zusicherung gegeben - es wird heuer, glaube ich, das dritte Mal - , daß Verstärkungen nach Deutschland zurückkehren«, dies müsse man aber wie bisher mit einem »Fragezeichen« versehen123. Weniger wegen ihres ereuropäischen Bedarfs an Truppen, sondern vor allem aus fiskalischen Gründen mussten auch die Briten daran interessiert bleiben, ihr Engagement auf dem europäischen Kontinent schrittweise zurückzufahren. Nach hartnäckigen Verhandlungen mit den Deutschen unter Federführung von Finanzminister Fritz Schäffer hatte sich das Problem 1955/56 noch ein Stück weit entkrampfen lassen, als es gelang, einen Teil der vorerst nicht für die deutsche Aufrüstung benötigten Bonner Haushaltsmittel im Wege einer getarnten Fortzahlung von Stationierungskosten für die NATO-Kontingente auf deutschem Boden und damit auch anteilig zur Entlastung des Kostenaufwandes für die Rheinarmee abzuzweigen 124 . Dadurch war in den deutsch-britischen Interessengegensätzen über den Umfang der auf deutschem Boden zu belassenden Verbände aber nur eine zeitweilige Entspannung eingetreten. Seit Sommer 1956 wurden nämlich nicht nur Verbände für den Einsatz am Suezkanal abgezogen oder ausgedünnt, auch in unmittelbarer Nähe der innerdeutschen Grenze plante man mit Blick auf notwendige Personalreduzierungen weitere Abbau120

121 122 123

124

BMVg IV Α an SACEUR betr. Enddislozierung der großen Verbände der deutschen Landstreitkräfte, 15.9.1956, ebd., BW 2/2666, Vorg. 21. Schriftwechsel WBKIV mit Fü Β (Oberst von Hobe), 21.9. bzw. 8.10.1957, ebd., BW 2/2667. MFR-Tagebuch, 21.1.1957, ebd., BW 17/36, S. 53. Bericht des Ministers über den Bundeswehraufbau, 12.2.1958, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 3. Wahlperiode, 7. Sitzung. Zur Frage von Stationierungskosten für die NATO-Kontingente auf deutschem Boden 1955/56: Α WS, Bd 3, S. 203-211 (Beitrag Thoß).

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maßnahmen. So sollte etwa bereits im Herbst 1956 die Elbe Squadron der Royal Navy als Sicherungsverband vom Nordostseekanal abgezogen werden. Auf deutsche Einwände hin verschob man dies dann aber erst einmal auf Frühjahr 1957, bis deutsche Kräfte die dortigen Aufgaben übernehmen konnten125. Sehr zum Ärger der britischen Stabschefs sperrte sich im Übrigen der SACEUR zunehmend gegen einen weiteren schleichenden Abbau seiner Präsenzverbände. Die erhöhte internationale Spannung im Gefolge der Niederschlagung des Ungarnaufstandes setzten dann im November 1956 allen Truppenabzügen aus der Bundesrepublik erst einmal deutliche bündnispsychologische Hürden entgegen126. Nach dem Suezdesaster mit seinen erheblichen finanziellen Folgen war jedoch im britischen Kabinett schon Anfang Dezember eine Entscheidung über neuerliche Etatkürzungen unausweichlich. Zur Auswahl standen letztlich nur die Alternativen kräftiger Einschnitte bei der Modernisierung der Streitkräfte oder in ihrem Personalumfang, und mit Blick auf die eigene Rolle im Commonwealth wie in der NATO entschied sich der Verteidigungsminister für den Weg weiteren Truppenabbaus 127 . Auf der Dezembertagung der Allianz machte man den Partnern deshalb deutlich, dass London dazu den Umfang seiner Streitkräfte in erster Linie auf dem europäischen Kontinent für reduzierbar hielt, weil die Position des Westens hier als weniger bedroht eingeschätzt wurde als an den Flanken im östlichen Mittelmeer und im Vorderen Orient128. Die Amerikaner ließ man wissen, dass der Abbau der Rheinarmee letztlich nur dann eingrenzbar war, wenn sich die Bundesrepublik zu einer weiteren Mitfinanzierung verstand. Dem SACEUR blieb da nur das Zugeständnis, dass man über den Personalumfang reden konnte, wenn wenigstens die Anzahl der vier britischen Divisionen und ihr Kampfwert erhalten blieben, da man sonst allgemeine Reduzierungen auch bei anderen Bündniskontingenten riskierte129. Vor dem britischen Kabinett wurde Verteidigungsminister Anthony Head jedoch sehr deutlich hinsichtlich der bevorstehenden Absichten. Trotz aller Zusagen an die NATO und selbst bei einer Weiterzahlung deutscher Stationierungskosten würden einseitige Reduzierungen unvermeidlich sein. Man konnte lediglich die Kampfkraft der dann noch in der Bundesrepublik verbleibenden Verbände durch Zuführung weiterer atomarer Trägersysteme verstärken130. Vor diesem Hintergrund kam man im Bonner Führungsrat Anfang 1957 zu der Einschätzung, dass mit Blick auf die bereits weitgehend ausgedünnten französischen Verbände und das erkennbare »Desinteresse« des britischen Verbün125

Sitzungen der BCOS, 18.10. und 19.11.1956, PRO, DEFE 5/71, COS (56) 384 bzw. 5/72, COS (56) 413. 126 vgl. Wampler, Ambiguous Legacy, S. 948 f. bzw. 960. 127 Gespräch MOD - BCOS, 5.12.1956, PRO, DEFE 32/5. 128 Tagebucheintrag de Maiziere, 11.-13.12.1956, BA-MA, Ν 673/v. 22, Bl. 33. 129 Gespräche des britischen Verteidigungsministers Head am Rande der NATO-Tagung, 11./12.12.1956, Wampler, Ambiguous Legacy, S. 977-980. 130 Kabinettssitzung, 21.12.1956, Kabinettsprotokolle, Bd 9, S. 991.

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deten an der Aufrechterhaltung seiner Truppenstärken »lediglich Amerikaner und Deutsche bereit sind, an der Zonengrenze den Kampf aufzunehmen«. Nichts konnte aus dieser Sicht den schnellen Aufbau eigener Streitkräfte ersetzen, hatte man sich doch darauf einzustellen, dass in letzter Konsequenz die »Selbsthilfe [...] an erster Stelle zu stehen« hatte131. Für einige Beruhigung sorgten dann aber wenigstens die zeitgleichen Gespräche über die Dislozierung von NATO-Verbänden zwischen dem französischen CINCENT und den britischen und amerikanischen Oberbefehlshabern von NORTHAG und CENTAG, zu denen die Bundeswehrführung bereits vorab gehört worden war132. Daraus wurden für die deutsche Seite auch die Planungen der NATO-Führung über ihre Operationsführung ostwärts des Rheins klarer. Danach konnten sich beide Heeresgruppen zwar noch nicht auf eine von den Deutschen gewünschte Aufnahme der Verteidigung an der innerdeutschen Grenze einlassen, weil dafür schlicht die Kräfte fehlten. Immerhin wollten NORTHAG und CENTAG aber schon jetzt kampfkräftige Aufklärung bis an den Eisernen Vorhang vorschieben, an der Weser-Lech-Linie eine erste Widerstandslinie beziehen und erst von da aus hinhaltend kämpfend über die Ems-Neckar-Linie auf die eigentlichen Verteidigungsstellungen an Rhein und Ijssel ausweichen. Alle Widerstandslinien sollten bereits im Frieden durch vorbereitete Geländehindernisse wie Brückensprengungen und Überflutungen dafür geeigneter Flussabschnitte sowie durch die Anlage weiträumiger Sperren wie Minenfelder verstärkt werden. Dies wird noch eingehender zu analysieren sein, wenn mit Blick auf die in nationaler Verantwortung verbleibende Landesverteidigung das deutsche Interesse an weitestgehender Schadensbegrenzung zu untersuchen ist133. Der gegenüber deutschen Belangen sehr aufgeschlossene CINCENT Valluy versicherte zwar schon jetzt, dass die vorn eingesetzten Korps bereits an der Weser-Lech-Linie die Verteidigung aufnehmen und die Ems-Neckar-Linie so lange wie irgend möglich halten sollten. Aus Sicht der Heeresgruppen würde man jedoch bei den gegebenen Kräfteverhältnissen spätestens nach fünf Tagen zur Rücknahme der eigenen Verbände auf Ems und Neckar gezwungen sein. Eine besondere Schwäche stellte dabei der von den Franzosen geräumte und von der erst langsam aufwachsenden Bundeswehr noch nicht zu verteidigende hessische Raum zwischen den beiden Heeresgruppen dar. Um einen schnellen Durchstoß des Gegners durch die gut panzergängige Lücke in den nordbayerisch-südhessischen Mittelgebirgen (Frankfurt-Fulda gap) auf Mainz zu verhindern, der die Verteidigungsfront auf deutschem Boden sofort in zwei unver131

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MFR-Tagebuch: Überlegungen zur grenznahen Verteidigung, 21.1.1957, BA-MA, BW 17/36, S. 53. Vorbesprechung mit Valluy im BMVg, 16.1., sowie Besprechung CINCENT (General Valluy) mit den Befehlshabern NORTHAG (General Ward) und CENTAG (General Hodes) unter Beisein Speidels im Schlosshotel Wilhelmshöhe, Kassel, 18.1.1957: Tagebucheinträge de Maiziere, ebd., Ν 673/v. 22, Bl. 41 f.; eingehender Bericht Abt. IV A 1 darüber, 19.1.1957, ebd., BW 2/2667. Siehe Teil 2, Kap. V.l.

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bundene Räume zerschlagen würde, musste man deshalb nach Aushilfen suchen. Ein Ausweg aus dem operativen Dilemma, dass sich durch die Herauslösung der französischen Truppen aus Hessen ausgerechnet an einer so neuralgischen Stelle wie der Grenze zwischen zwei Heeresgruppen eine erhebliche Lücke auf tat, hatten bereits an der Jahreswende 1956/57 Überlegungen bei der CENT AG über eine Nordverschiebung ihrer Grenze zur NORTHAG gewiesen. Da man von einem zu erwartenden feindlichen Vorstoß in den Raum Kassel, der bislang zur NORTHAG gehörte, eine gefährliche Bedrohung gegen den Raum Koblenz-Frankfurt, also in den Kommandobereich der CENTAG hinein ausgehen sah, wollte man im Heidelberger U.S.-Hauptquartier Nordhessen der eigenen Heeresgruppe zugeteilt sehen. Damit würde natürlich auch die 2. Grenadierdivision der Bundeswehr, die als erster Großverband des künftig in Koblenz sitzenden III. (GE) Korps nahe der hessisch-thüringischen Grenze aufgestellt werden sollte, unter CENTAG-Kommando kommen. Die von Seiten der Bundeswehrführung geteilte Absicht würde aber auch der NORTHAG zugute kommen, da sie sich dann ausschließlich auf die als Haupteinfallpforte nach Westeuropa eingeschätzte norddeutsche Tiefebene einschließlich ihrer unmittelbaren Mittelgebirgsränder vom Harz bis ins Sauerland konzentrieren konnte134. Um für eine derartige Ausweitung des CENTAG-Bereichs Kräfte freizubekommen, schlug der Oberbefehlshaber der 7. (US) Armee, General Henry Hodes, nun seinerseits eine teilweise Umdislozierung seiner Divisionen vor (HodesPlan). Danach wollten die Amerikaner ihre Standorte in Südbayern kräftig ausdünnen und ihre beiden Korps (V. und VII.) zwischen Donau und Südhessen zusammenziehen. Für die deutsche Seite versprach dies operativen und infrastrukturellen Gewinn gleichermaßen. Noch bevor die erst ab Sommer 1957 aufwachsenden deutschen Verbände und ihr Korpsstab in Koblenz zur Übernahme der von französischen Truppen entleerten Räume zur Verfügung standen, bildeten die Amerikaner an der neuralgischen Frankfurt-Fulda-Lücke einen operativen Schwerpunkt und signalisierten damit ihrem deutschen Partner, dass es ihnen Ernst war mit einer frühzeitigen Vorwärtsverteidigung ostwärts des Rheins. Abgesehen von wenigen Kasernements südlich der Donau, den dortigen U.S.-Luftwaffenbasen und den weiterhin als Erholungsstätten in Anspruch genommenen Standorten Garmisch und Berchtesgaden würden sie dadurch aber auch Kasernen und Familienwohnungen in Südbayern räumen und damit Platz für 48 000 deutsche Soldaten des hier aufzustellenden II. (GE) Korps schaffen. Aus Sicht Speidels war der Plan jedenfalls in seinen Grundzügen zu befürworten, allerdings nicht in seiner darüber hinaus reichenden Absicht, die amerikanischen Divisionen eventuell sogar ausschließlich im nord114

Deutscher Verbindungsstab beim OB der U.S.-Truppen in Deutschland an BMVg, Abt. IVA, 4.1., und dessen befürwortende Aktennotiz, 12.1.1957, BA-MA, BW 2/2666, Bl. 55 f. bzw. 26 f.

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Zweiter Teil: Aufbau der Bundeswehr und modifizierte atomare Abwehrplanung

bayerisch-südhessischen Raum zu verdichten. Wie bereits gezeigt135 war derzeit nämlich von der 1. (FR) Armee bei dem Zustand ihrer Verbände für eine Verteidigung Südbayerns kaum Nennenswertes zu erwarten. Von daher würde eine völlige Räumung der U.S.-Standorte im Süden und unmittelbar nördlich der Donau bei der davon betroffenen Bevölkerung Süddeutschlands als eine wesentliche Zurücksetzung ihrer Verteidigungsinteressen gewertet werden und deshalb psychologisch nicht zu akzeptieren sein136. Mochte man die offene Flanke südlich der Donau von der bereits 1957 beginnenden Aufstellung der 1. Gebirgsdivision und den vorerst noch hier verbleibenden amerikanischen Aufklärungsverbänden zumindest so lange als leidlich überwacht ansehen, wie der Warschauer Pakt die Neutralität Österreichs respektierte, so gingen die Reduzierungen bei der britischen Rheinarmee in Norddeutschland sofort an die Substanz einer NATO-Verteidigung in Mitteleuropa. Das galt freilich nicht nur für die Absicht einer erheblichen Ausdünnung der Bodentruppen, sondern vor allem auch für Überlegungen zu einer Halbierung der RAF-Geschwader auf dem europäischen Kontinent innerhalb eines Jahres. Kaum verwunderlich, dass der SACEUR über den Umfang derartiger Kürzungen und den extremen Zeitdruck, unter dem sie umgesetzt werden sollten, geradezu »entsetzt« war. Noch bevor eine deutsche Luftwaffe auch nur in Ansätzen einsetzbar sein würde, musste die britisch geführte und in ihren Kernbeständen auf britischen Geschwadern basierende 2. ATAF damit nachhaltig an Kampfkraft verlieren. Die RAF-Führung riet daher dringend an, die Reduzierungen nicht so drastisch einzuleiten und sie vor allem bis zum Aufwuchs der deutschen Luftwaffe durch ein Rotationssystem abzuschwächen. Dazu konnte man daran denken, die vorgesehenen Geschwader zwar grundsätzlich auf den Britischen Inseln zu stationieren, sie aber jeweils kurzzeitig und ohne ihre Familien auf ihre bisherigen Basen in der Bundesrepublik zurückzuverlegen. Die Flugplätze selbst würden dazu allerdings mit deutschem Personal einsatzklar zu halten und zu sichern sein. Der 2. ATAF blieb damit aber im Übergang zum deutschen Luftwaffenaufbau ein vertretbares Maß an Kampfkraft erhalten, während sich gleichzeitig die Kostenlage für die RAF entspannte137. Auch die geplante Kürzung der Rheinarmee um 27 000 Mann auf dann noch 50 000 Mann, die der NATO und den Deutschen weiterhin als vier Divisionen »verkauft« werden sollten, stieß bei den Fachleuten im War Office auf größte Bedenken. Mochte man, wie dies der Premierminister forderte, aus Kostengründen zu einem derartigen Umfang an Truppenabbau gezwungen sein, so war seine Verschleierung gegenüber den Partnern militärisch ungesund und bündnispolitisch unehrlich. Wenn man schon nicht um die Kürzungen umhin 135 136

137

Vgl. Teil 2, Kap. I.2., s. 287 f. Aktenvermerk über die Besprechung Speidel - Hodes, 25.1.1957, BA-MA, BW 2/2787, BI. 5-7. Fernschreiben Air Marshai Mills an Vice Chief of the Air Staff, 14.1.1957, PRO, AIR 8/2130.

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kam, dann sollte man aus Sicht des War Office besser den Weg einer Umgliederung in »much lighter and more streamlined divisions« wählen. Aus den verbleibenden sechs Brigaden der BAOR ließen sich bei entsprechendem Abspecken ihrer Versorgungsteile und einer erheblichen Modernisierung ihrer Kampfausrüstung in Zukunft sogar aus bisher vier herkömmlichen sechs leichte, atomkriegsfähige Großverbände machen. Letztlich war aber auch das nur »the lesser of two evils«, weshalb das War Office empfahl, der WEU gegenüber lieber »strictly honest« zu bleiben138. Das entsprach auch dem Rat des britischen NATO-Botschafters, der zu berichten wusste, dass sich die Haltung der Amerikaner und des SACEUR immer stärker gegen die britischen Pläne verhärtete. Die Erklärungen aus London, man stelle doch die Grundsätze der einvernehmlich beschlossenen NATO-Verteidigungsplanung gar nicht in Frage, sondern melde lediglich Zweifel an den überzogenen Bedrohungsperzeptionen an, die ihr zugrunde lagen, überzeugten weder in Washington noch in Fontainebleau. Wenn man schon die eigenen Haushaltsprobleme als eigentlichen Anstoß für einen Abbau der britischen NATO-Verbindlichkeiten ansah, dann sollte man dies nach Ansicht Norstads auch so offen sagen. Die militärischen Argumente konnten nämlich jederzeit von anderen Partnerstaaten als gesuchte und gefundene Begründung für ein Herunterfahren von deren eingegangenen NATOVerpflichtungen übernommen werden139. Die Regierung in London nutzte dagegen zunächst einmal das vorrangige deutsche Interesse an einem starken britischen Streitkräftekontingent als Druckmittel für einen direkten deutsch-britischen Interessenausgleich bei den in Rede stehenden Stationierungskosten. Und da sich bei den entsprechenden Verhandlungen die Forderungen Londons (55 Mill. Pfund) und das Angebot Bonns (45 Mill. Pfund) bereits erheblich angenähert hatten, setzte man im britischen Kabinett auf einen schnellen finanziellen Kompromiss140. Unter keinen Umständen wollte man sich aber durch heftiger werdende deutsch-französische Widerstände auf WEU-Ebene von den eigenen mittelfristigen Kürzungsplänen abbringen lassen. Für Premierminister Macmillan zählte allein die NATO, und hier sollte man sich »with skill and firmness« behaupten, selbst wenn Außenminister Lloyd auch von dieser Seite eine Diskussion »on not wholly favourable lines« auf sich zukommen sah141. Nach Rücksprache mit Norstad, der im Falle unvermeidlicher Haushaltskürzungen wenigstens für eine nicht zu abrupte, sondern phasenweise ablaufende Reduzierung warb, die in enger Abstimmung mit dem Aufwuchs der Bundeswehr vonstatten gehen sollte, empfahlen daher die britischen Stabschefs ebenfalls, dass im bevorstehenden Weißbuch der briti138

1,9

'-10

Stellungnahme John Hare, War Office, zu den im Kabinett angedachten Kürzungsplänen, 24.1.1957, ebd. Eindrücke des scheidenden NATO-Botschafters, Sir Christopher Steel, an das Foreign Office, 25.1.1957, ebd. Diskussionen in den Kabinettssitzungen, 29.1. und 7.2.1957, ebd., CAB 128/31, C.C. (57) 4 bzw. 8. Sitzungen des Kabinetts, 19.2. und 4.3.1957, ebd., C.C. (57) 12 bzw. 15.

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Zweiter Teil: Aufbau der Bundeswehr und modifizierte atomare Abwehrplanung

sehen Regierung nicht mit militärischen Gründen argumentiert wurde, da sich auch nach ihrer Ansicht die sowjetische Bedrohung nicht wirklich verringert hatte. Der eigene Abbau an Streitkräften sollte vielmehr als »dictated primarily by economic needs« ausgewiesen und wie von Norstad gefordert erst 1959 nach Aufbau angemessener deutscher Streitkräfte in Gang gesetzt werden142. Im WEU-Ministerrat begründete Außenminister Lloyd Ende Februar 1957 die Notwendigkeit der eigenen Absichten dagegen ohne Umschweife damit, dass London beschlossen habe, in jedem Falle Atommacht zu bleiben, bei begrenzten Haushaltsmitteln von daher aber deutliche finanzielle Beschränkungen für die übrigen Streitkräfte unvermeidlich seien. Zumindest bei den von der 2. ATAF dringend benötigten RAF-Geschwadern machte er aber immerhin das Zugeständnis eines Rotationsplans zwischen ihren Stationierungsorten auf den Britischen Inseln und ihren Einsatzbasen auf dem europäischen Kontinent. Der deutsche Außenminister konnte sich zwar auf eine für ihn »sehr eindrucksvolle Einmütigkeit« seiner übrigen WEU-Kollegen abstützen, wenn er die Auswirkungen der vorgesehenen Reduzierungen in ihrem Tempo und Umfang auf die Vorwärtsverteidigung kritisierte. Der britische Außenminister konterte dagegen mit dem Verweis darauf, dass von den abzubauenden 27 000 britischen Soldaten nur 10 000 aus den Kampftruppen, der Rest aus dem logistischen Bereich abgezogen würden. Mehr als eine Fortsetzung der Debatte auf der nächsten NATO-Tagung war von daher nicht mehr zu erreichen143. In ihrem Defence White Paper vom März 1957 blieb die britische Regierung dabei, dass sie zwar weiterhin »a fair share« bei den zur Verteidigung Westeuropas erforderlichen Streitkräften zu übernehmen bereit war, aber nicht länger »a disproportional large contribution« akzeptieren könne. Schließlich lägen die eigenen Verteidigungsausgaben doppelt so hoch wie bei jedem der westeuropäischen Partner. Es müsse deshalb bei der Reduzierung der Rheinarmee von bisher 77 000 auf dann 50 000 Mann bleiben, ein Prozess, bei dem man nunmehr aber Zug um Zug vorzugehen und sich wie seinen Partnern bis zum Aufbau wesentlicher Bundeswehreinheiten eine Frist von bis zu 2Vi Jahren einzuräumen versprach144. Wie nach dem unbefriedigenden WEU-Ministerrat abzusehen war, setzten sich die Briten damit erneut harscher Kritik von Seiten ihrer Verbündeten aus145, prallten bei der nächsten Sitzung des Ständigen NATO-Rates Anfang März 1957 die Absichten der Briten und die Kritik der übrigen NATO-Partner daran erneut heftig aufeinander. Letztlich war aber auch jetzt nicht mehr als eine zeitli142

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Besuch Norstad bei den BCOS, 12.2., und deren Empfehlung, vorgetragen im Kabinett, 28.3.1957, ebd., DEFE 4/95, COS (57) 12 bzw. CAB 128/31, C.C. (57) 26; vgl. auch SHAPE History 1957, S. 50. Bericht des AA über die Ministertagung der WEU, 26.2.1957, Dockrill, Retreat from the Continent?, S. 59. Briefing für die Gespräche des britischen und amerikanischen Verteidigungsministers auf der Bermuda-Konferenz betr. Defense Questions, März 1957, PRO, F.O. 371/1957. Zu den Reaktionen aus WEU und NATO auf das britische White Paper: SHAPE History 1957, S. 52-55.

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che Streckung der Reduzierungen auf zwei Jahre (bis 1. April 1959) zu erreichen, ein Weg, den der SACEUR zwar als Schritt in die richtige Richtung, aber auf lange Sicht trotz allem als bedenklich für das Erreichen der beschlossenen Streitkräfteziele in der Allianz bezeichnete. Einen zusätzlichen Wermutstropfen hatte die deutsche Seite zu schlucken, da die Briten schon jetzt erklärten, dass sich die letzten Abmachungen mit Bonn über Stationierungskosten nur auf das Jahr 1957/58 bezogen, die Devisenfrage mithin für die Zeit nach dem 1. April 1958 einer neuerlichen Überprüfung unterzogen werden müsse. In der Endabrechnung war abzusehen, dass die Rheinarmee in den nächsten beiden Jahren eine Verringerung ihrer Einsatzverbände von 22 auf 16 Infanterie-Bataillone sowie von 14 auf elf Panzer- und von elf auf neun Artillerie-Regimenter vornehmen würde 146 . Vor dem Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages blieb General Norstad zwei Wochen später gar nichts anderes übrig, als auf Nachfragen des Ausschussvorsitzenden Richard Jaeger (CSU) die britischen Reduzierungsabsichten aus bündnispolitischen Gründen für noch hinnehmbar zu erklären147. Im Führungsstab der Bundeswehr besorgte man dagegen seit Monaten, dass die geplante und zu Teilen auch bereits eingeleitete Verkleinerung der Rheinarmee voll »zu Lasten des norddeutschen Raumes« gehen und damit »eine Schwächung der Verteidigung gegenüber den vermutlichen Hauptstoßrichtungen des Gegners eintreten« würde 148 . Deshalb hatte man hier schon im Herbst 1956 eine Überprüfung der eigenen Dislozierungspläne angedacht, wonach an die geschwächte Position bei der NORTHAG eine zusätzliche deutsche Panzerdivision aus Süddeutschland verlegt werden sollte. Die britische Absicht, eine Reduzierung in den Personalstärken über gesteigerte atomare Feuerwirkung durch Zuführung zusätzlicher CORPORAL-Einheiten auszugleichen, konnte nämlich aus Speidels Sicht wegen ihrer operativen Folgen nicht im deutschen Interesse liegen: »Der Atomeinsatz in jeder Form, auch bei kleineren Konflikten, wird dann immer unausweichlicher 149 .« Gegen die Umdislozierung einer zusätzlichen Panzerdivision nach Nordrhein-Westfalen machte freilich die Abteilung IX (Liegenschaften) in dem durch britische, holländische und belgische Verbände bereits dicht belegten Raum »fast unüberwindliche Schwierigkeiten« geltend. Wollte man eine Stationierungsplanung für die Bundeswehr bis 1958/59 von Seiten der militärischen Führung abgeschlossen sehen, dann durften die eingeleiteten Liegenschaftsund Baumaßnahmen nicht ständig durch Umplanungen unter operativen Gesichtspunkten umgestoßen werden. Im Übrigen mussten unter infrastrukturellen Gesichtspunkten »neben den operativen Richtlinien [...] landesplanerische, 146 147

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Berichte Blankenborns Nr. 61, 66 und 67, 1. bzw. 5.3.1957, BA-MA, BW 2/2675. Vortrag des SACEUR, 21.3.1957, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 2. Wahlperiode, 147. Sitzung. Aktennotiz Abt. IV A 1, 20.2.1957, BA-MA, BW 2666, Bl. 41 f. Stellungnahme Speidels für den MFR »Erste Gedanken zu brit. Memorandum über Truppenverminderung«, 15.2.1957, ebd., BW 17/40, Bl. 85 f.

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volkswirtschaftliche, grenzlandpolitische etc. Erwägungen maßgebend sein«, wenn man nicht in ein völliges Planungschaos abgleiten wollte. Als Kompromiss aus operativen Notwendigkeiten und den auch vom BMVg anerkannten volkswirtschaftlichen wie landesplanerischen Aspekten schlug die Streitkräfteabteilung daraufhin eine differenziertere Umdislozierung vor, die drei Bundesländer einbezog. Wegen der Schwäche der dänischen Kräfte zur Verteidigung Schleswig-Holsteins sollte zusätzlich zur dort aufzustellenden 6. Panzergrenadierdivision eine Panzerbrigade aus Niedersachsen in den Raum nördlich der Elbe verlegt werden. Nahm man zu dieser eigenen infrasstrukturellen Entlastung die freiwerdenden britischen Unterkünfte in Niedersachsen nach ihrer Räumung durch die Rheinarmee hinzu, dann ließ sich die erforderliche zusätzliche deutsche Panzerdivision in »Überlappung« anteilig auf das östliche Nordrhein-Westfalen und das westliche Niedersachsen aufteilen150. Noch bevor solche Aushilfen greifen konnten, musste man sich in der Bundesrepublik indessen den harten Realitäten stellen, die aus dem Anfang April veröffentlichten britischen Weißbuch unmittelbar auf die Verteidigungsplanungen in Mitteleuropa ausstrahlten. Fü Β legte dem Minister die härtesten Schlussfolgerungen für eine erste Stellungnahme vor der Presse vor. London habe eine rein »nationale Lösung, ohne Rücksicht auf kontinentale Partner der Allianz« zur Lösung seiner fiskalischen Probleme ergriffen. Dies stelle eine einseitige »Vorleistung gegenüber SU« dar, ohne gleichwertige »Gegenleistungen des Ostens« einzufordern und abzuwarten. Mit der dadurch notwendig werdenden »totale[n] Umstellung auf Atomrüstung« sei letztlich die angestrebte »Vorwärtsverteidigung infrage gestellt«, da man damit die zur Verteidigung des Bündnisterritoriums benötigten »Landstreitkräfte nur noch zum »gläsernen Schild< (Feuermelder)« verkommen lasse. Die Konsequenz daraus müsse letztlich für alle drei Hauptträger der Verteidigung deutschen Bodens eine »atomare Umrüstung in den Heeren der USA, Großbritanniens und der Bundesrepublik« sein151. Ähnlich hart fiel der verbale Schlagabtausch bei den zeitgleichen deutsch-britischen Gesprächen in Königswinter aus. »Rücksichtslos« hätten sich die Briten über die Sicherheitsinteressen ihrer Bündnispartner hinweggesetzt, und dies sei wohl noch nicht das Ende des zu Befürchtenden: »Deutschland und Frankreich mit starken Heeren, dahinter die Insel mit den Atomwaffen großen Kalibers, so etwa sieht das Rezept aus.« Dabei waren sich sogar grenzüberschreitend die Sprecher der Labour Party und der deutschen Sozialdemokraten einig, dass die NATO im Begriff stand, »sich in nukleare Anarchie auf-

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Abt. IX an Abt. IV, 25.2., Stellungnahme dazu seitens Abt. IV, 6.3., und Besprechung Leiter Abt. V (GL Röttiger) mit OB BAOR (Gen. Sir Dudley Ward), 14.5.1957, ebd., BW 2/2666, Bl. 3 3 - 3 8 sowie 14-18. BMVg IV A l : Sprechzettel für Herrn Minister zur Pressekonferenz am 8.4.1957, ebd., BW 17/43, Bl. 9 0 - 9 2 .

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zulösen« (Denis Healey), dass »dieses ewige Spiel mit dem Atomfeuer kein Ersatz für Politik sei« (Fritz Erler) 152 . Seitens der U.S.-Regierung durfte Premierminister Macmillan freilich durchaus Verständnis für seinen Kurs des Vorrangs von finanzieller Stabilität vor zu weitgehender Aufrüstung erwarten, vollzog er doch letztlich nur nach, was Präsident Eisenhower seinen Generalen im >New Look< seit Jahren verschrieben hatte. Im Pentagon traf man dagegen auf »starke Kritik«, da man hier schon jetzt davon ausging, dass die anvisierten 50 000 Mann der Rheinarmee längst noch nicht die Untergrenze dessen darstellten, worauf man sich schon in mittlerer Zukunft einstellen musste 153 . Doch alle diese Gegenwirkungen hatte man in London vorausgesehen. Deshalb hatten auch der Bundeskanzler und sein Verteidigungsminister mit ihren Anmahnungen beim Besuch des britischen Regierungschefs in Bonn Anfang Mai 1957 ebenso wenig Erfolg wie der Generalinspekteur zwei Wochen zuvor bei seiner Stellungnahme gegen den Leitvortrag des DSACEUR Montgomery während der Stabsrahmenübung von SHAPE (CPX-7, 15.-18. April 1957). Wenn Heusinger bei SHAPE daran festgehalten hatte: »Der Punkt, daß vorgeschobene Bastionen des Westens nicht in Feindeshand fallen dürfen, kann nicht eindringlich genug herausgestellt werden«, dann sollte Macmillan daraus jetzt in Borin lediglich entnehmen, dass der deutsche General offenbar militärisch mit Blick auf eine nuklearisierte Bündnisstrategie nicht mehr »up-to-date« sei 154 . Seinen politischen Gesprächspartnern gegenüber hielt der Premierminister jedenfalls unverrückt daran fest, dass die nukleare Abschreckung das eigentliche militärische Ziel der NATO darstellen müsse. Daran werde Großbritannien durch die atomare Schwerpunktsetzung in seiner Rüstung auch weiterhin aktiv mitwirken. Wirklich gefährlich werde es für den Westen im Übrigen »erst in zehn bis fünfzehn Jahren«, wenn die USA voll in der Reichweite sowjetischer Fernraketen lägen 155 . Um die Deutschen aber nicht über Gebühr zu beunruhigen, würde man Strauß bei seinem bevorstehenden Besuch in Großbritannien nicht eingehender in die Reduzierungspläne bei der Rheinarmee einweihen; deren Verkleinerung würde man ihm vielmehr als Modernisierung vorstellen. Ähnliches galt für die Halbierung der RAF-Geschwader bei der 2. ATAF; auch hier wurde der deutsche Verteidigungsminister nur über die Absichten bis März 1958, nicht aber über bereits ab 1960 geplante weitere Reduzierungen unterrichtet 156 . Schon 1957/58 wurde auf 152

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„Um einige Illusionen ärmer geworden...«, Die Welt, 9.4.1957; zur innenpolitischen Debatte darüber 1955-1957: Cioc, Pax Atomica, S. 2 6 - 6 2 und Heuser, Nuclear Mentalities?, S. 180-197. Bericht von Adm. Sir Michael Denny aus dem Military Committee der NATO und aus Washington vor den BCOS, 12.4.1957, PRO, DEFE 4/96, COS (57) 30. Stellungnahme Heusingers zum Montgomery-Vortrag, Eintrag MFR-Tagebuch, 15.-18.4.1957, BA-MA, BW 17/36, S. 67 sowie interne Kritik Macmillans daran gegenüber den BCOS, 10.5.1957, PRO, DEFE 4/97, COS (57) 35. Gespräch Macmillans mit Adenauer und Strauß, 6.5.1957, Grewe, Rückblenden, S. 280 f. Briefing für Strauß durch die BCOS, 21.5., sowie durch die britische Luftwaffenführung, 22.5.1957, PRO, DEFE 4/97, COS (57) 40 bzw. AIR 8/2159.

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dieser Basis eine schrittweise Reduzierung der Rheinarmee auf 55 000 Mann erreicht157. Wie sehr dies alles am Vertrauen in Bonn an der militärischen Verlässlichkeit des britischen Partners zehrte, ließ Heusinger bei einem Dinner in der kanadischen Botschaft durchblicken. Waren die Briten nicht erneut wie in den beiden Weltkriegen nur darauf fixiert, ihre eigenen Inseln zu sichern und damit mehr indirekt als unmittelbar an der Verteidigung des westeuropäischen Kontinents mitzuwirken? 158 In Konsequenz aus alledem blieb der Bundeswehrführung mithin nur eine enge Anlehnung an den einzigen kampfkräftigen NATO-Partner: die 7. (US) Armee mit ihren 5V£ Divisionen auf deutschem Boden. Während man daher zwar aus bündnispolitischen Rücksichten nach außen hin die Gemeinsamkeiten in der Bündnisverteidigung herausstellte, blieb bei allen Vorbehalten auch gegenüber der Führungsmacht seit der Krise um eine Verringerung der U.S.Truppen in Europa im Sommer 1956 letztlich deren Streitkräftepotenzial vorerst der einzige einigermaßen verlässliche Garant für eine Verteidigung deutschen Territoriums im Falle eines europäischen Krieges. Was immer man auf politischer Ebene noch an Schwankungen im westeuropäisch-transatlantischen Verhältnis zu gewärtigen hatte, militärisch gesehen musste sich die Bundeswehrplanung mit ihrem zentralen Interesse an einer schrittweisen Implementierung der Vorwärtsverteidigung in den ersten Aufbaujahren wesentlich auf die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit abstützen159. Ganz so berechenbar, wie dies nach den hochrangigen amerikanischen Versicherungen an den Bundeskanzler im Gefolge der Radford-Krise den Anschein haben mochte, war indes auch der Verbleib der amerikanischen Truppen auf ihrem derzeitigen Einsatzstand ebenfalls nicht. Schon Anfang 1957 wusste die Presse von einem »Doppelleben in Washington und Bonn«160 zu berichten, wonach Außenminister Dulles dem Bundeskanzler zwar durchgängig den Verbleib der amerikanischen Divisionen in der Bundesrepublik zusicherte, Eisenhowers Abrüstungsbeauftragter Harold Stassen in Washington dagegen bereit offen über ihren Abzug als Folge einer Disengagement-Lösung in Mitteleuropa spekulierte. Das veranlasste auch die Bundeswehrführung, sich einmal mehr gedanklich mit den Möglichkeiten und Grenzen einer Abrüstung in Europa auseinander zu setzen. Solange dafür freilich weder das Problem einer effizienten internationalen Kontrolle gelöst, noch Einvernehmen über einen ausgewogenen Abbau der militärischen Potenziale in beiden Allianzen zu erreichen war, musste aus Sicht Heusingers jedes Drehen an der Schraube eines mitteleuropäischen Disengagement mit unannehmbaren militärischen Risiken für die Bundesrepublik verbunden bleiben161. Im Pentagon sah man natürlich wie im State Department, dass eine offene Umsetzung der Reduzierungsabsichten aus 157 158 159 160 161

Dockrill, Retreat from the Continent?, S. 45. Britischer Militärattache an War Office, 31.10.1957, PRO, F.O. 371/130777. Vgl. dazu insgesamt Thoß, Deterrence and Defense. „Konflikt u m die amerikanischen Truppen in Deutschland«, Die Tat, 14.1.1957. Positionspapier Heusingers »Gedanken zur Abrüstung«, 12.2.1957, BA-MA, BW 17/40.

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dem Vorjahr allianz- und deutschlandpolitisch derzeit nicht durchsetzbar war. Ähnlich wie in London dachte man daher an eine formale Aufrechterhaltung der reinen Anzahl an Großverbänden bei gleichzeitigem Abspecken ihres Personalbestandes von bislang 17 000 bis 18 000 Mann auf mittelfristig 10 000 bis 12 000 Mann pro Division. Damit erklärte sich auch Dulles einverstanden, bestand jedoch darauf »to do it quietly and not shout it from the roof-tops«162. Den Weg dazu sollte ein Ausdünnen der Stäbe und ein Abbau der Versorgungstruppen weisen. Vor diesem Hintergrund sah man deshalb auch im Pentagon das unbedingte Beharren des SACEUR auf seinen Streitkräftezielen mit einiger Skepsis, würde Norstad damit den Westeuropäern doch ein unerwünschtes »Zertifikat« über einen unbegrenzten Verbleib von U.S.-Truppen in Europa ausstellen163. Doch im Frühjahr 1957 galt es erst einmal, gemeinsam mit den übrigen NATO-Partnern die weitreichenden britischen Abbaupläne zu verlangsamen. Schon im Sommer 1957 drängte freilich Eisenhower erneut auf eine Überprüfung der für die NATO noch erforderlichen U.S.-Truppen. In Abstimmung mit dem SACEUR und unterstützt durch Verteidigungsminister Wilson gab Dulles seinem Präsidenten jedoch dringend zu bedenken, davon beim derzeitigen Zustand der Allianz Abstand zu nehmen. Wenn man an eine generelle Verringerung der amerikanischen Streitkräfte denken musste, dann sollte man zuerst an die für einen möglichen Kriegseinsatz in Europa in den USA vorgehaltenen Mob-Verbände der zweiten Welle gehen und unter keinen Umständen die Substanz der Präsenzverbände in Westeuropa antasten, da dies bündnispolitisch »disastrous« sein würde 164 . Was den Deutschen aber auch von ihrem amerikanischen Partner her nicht erspart bleiben würde, waren jetzt ähnlich wie aus London Forderungen nach weiteren Stationierungskosten, da der Aufbau der Bundeswehr nicht im zugesagten Tempo vorankam, deutsche Sicherheit mithin noch überwiegend von den Verbänden der Verbündeten garantiert werden musste. Jedenfalls machte der amerikanische Heeresminister in einem »harten Gespräch« mit Strauß schon im Sommer 1957 unmissverständlich klar, dass Bonn auch um eine Fortzahlung von Stationierungskosten für die amerikanischen Divisionen in der Bundesrepublik nicht herumkommen würde 165 . In engem Zusammenhang damit stand der im Frühjahr 1957 konkretisierte Plan des USAREUR über eine Umdislozierung seiner Verbände auf deutschem Boden. Als Zeitansatz dafür waren die nächsten beiden Jahre in Aussicht genommen, wobei seine Umsetzung nicht ohne deutsche finanzielle Beteiligung

162

Feiken, Dulles und Deutschland, S. 373 f. 163 Telefonat Dulles - Verteidigungsminister Wilson, 4.3.1957, LOC, Dulles Telephone Memoranda, reel 6. 1M Briefwechsel Dulles - Wilson - Norstad, 15.6.-7.8.1957, NA, RG 218, Geographic File, box 27, CCS 092 Western Europe (3-12-48) (2), sect. 85. 165 Gespräch Secretary of the Army, Brucker, mit Strauß, 1.8.1957, Tagebucheintrag de Maiziere, BA-MA, Ν 673/v. 23, Bl. 38.

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abgehen würde166. Für den Bundeskanzler zählte dagegen bei der augenblicklichen Schwäche der NATO-Truppen in der Bundesrepublik nur eines: »Er wünscht Festlegung möglichst vieler Amerikaner an der Grenze.« Selbst eine »Verlegung von U.S.-Einheiten nach Norddeutschland« kam ihm in den Sinn, weil allein die Involvierung amerikanischer GI's in den ersten Stunden eines europäischen Krieges an vorderster Front einigermaßen garantieren konnte, dass die Führungsmacht auch wirklich sofort zur Verteidigung der Bundesrepublik mit allen Mitteln antreten würde167. Wenn man freilich die Lücken in der Mitte und im Norden der Verteidigungsfront auf deutschem Boden durch eine Umdislozierung von amerikanischen Verbänden wenigstens einigermaßen abdichten wollte, wie dies in der Operationsplanung der CENTAG mit ihrer Konzentration auf den nordbayerisch-südhessischen Raum beabsichtigt war, riskierte man ein Aufreißen an anderer Stelle: »Masse Süddeutschland, vor allem Bayern, soll mehr oder weniger kampflos geräumt werden. Erster wirklicher Widerstand in emnec Linie [= an Ems und Neckar. d.V.]. Eingreifen bei Landcent u. evtl. Shape dringend nötig!«, notierte der Stabsabteilungsleiter Fü S III, Brigadegeneral de Maiziere, Ende Mai 1957 alarmiert in sein Tagebuch168. Genau darauf lief aber die Ausgangslage für die nächste NATO-Übung LION BLEU (18.-22. März 1958) hinaus, die von einer Besetzung der RheinLinie durch die Hauptkräfte von CENTAG und NORTHAG ausging, während lediglich bei der 1. (FR) Armee ein Frontvorsprung ostwärts davon im Schwarzwald angenommen wurde. In deutschen Augen war das naturgemäß politisch unerwünscht. Deshalb wollte man der Öffentlichkeit gegenüber nachdrücklich den reinen Übungscharakter solcher Annahmen betonen169. Intern war den deutschen Verteidigungsplanern jedoch klar, wie real die Annahmen aus der Übungslage tatsächlich waren. Bereits Anfang Mai 1957 hatte das in Aufstellung befindliche II. (GE) Korps den Einsatzplänen des benachbarten VII. (US) Korps entnehmen können, dass de facto an eine Verteidigung Süddeutschlands frühestens am Neckar gedacht war. Die 1. (FR) Armee würde südlich der Donau sogar nur zwei Aufklärungsbataillone bis an die Iiier vorschieben und sich vor stärkerem Feinddruck sofort in den Schwarzwald zurückziehen. Deutsche Soldaten in Aufstellungs-, Ausbildungs- und Territorialeinheiten hatten deshalb mit den alliierten Truppen ebenfalls umgehend hinter den Neckar auszuweichen. Die Führung des II. (GE) Korps erhob dagegen bei Fü Η schwere Bedenken. Immerhin wurde aus ihrer Sicht nicht nur ein Raum zwischen ostbayerischen Grenzgebirgen und Neckar kampflos preisgegeben, der sich mit seinen quer verlaufenden Flüssen und Mittelgebirgen durchaus zu einer den Angreifer erheblich verlangsamenden Kampfführung eignete. Bedacht werden mussten aber vor allem die schweren psychologischen Belastungen, da »im Falle der 166 167 168

Übergabe des Hodes-Plans im BMVg, 1.3.1957, ebd., Ν 673/v. 22, Bl. 50. Besprechung beim Bundeskanzler, 1.5.1957, ebd., Ν 673/v. 23, Bl. 15. Vortrag Abt. V (Heer) über operative Planung der CENTAG bei Fü B, 28.5.1957, ebd., Bl. 22.

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Ausgangslage LION BLEU, 4.6.1957, ebd., BW 2/2065 (Verschlusssache).

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Rückführung deutscher Truppen in westlich gelegene Stellungen der einfache Soldat vor der Tatsache steht, Frau und Kinder schütz- und kampflos dem Russen preiszugeben«. Riesige, kaum zu steuernde Flüchtlingsbewegungen nach Westen mussten die zwangsläufige Folge sein und schon in den ersten Kriegstagen chaotische Verhältnisse in ganz Süddeutschland schaffen. Dabei waren die Panikreaktionen auf den Einsatz eigener und feindlicher taktischer Atomwaffen in dieses Szenario noch gar nicht eingerechnet. Der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Hans Röttiger, stellte sich hinter die Bedenken seines Kommandierenden Generals, konnte diesem aber kaum mehr zusagen, als dass sich der Generalinspekteur beim CINCENT für eine grundsätzliche Änderung der Kampfführung im süddeutschen Raum einsetzen wollte170. Ähnliche Erfahrungen wie das II. (GE) Korps bei den Amerikanern mussten deutsche Offiziere auch im Hauptquartier der NORTHAG bei einer Einweisung in die dortigen Operationspläne machen. Noch 1960 bis 1962 wollte man die eigenen Kampfverbände erst zum Aufmarsch an der Weser versammeln und den Raum ostwärts davon nur durch leichte Deckungstruppen überwachen lassen, während es aus deutscher Sicht »keine kampflose Räumung des Raumes ostw. der Weser durch dt. Truppen« geben durfte 171 . Auf Anraten des Deutschen Militärischen Vertreters im NATO-Hauptquartier strich deshalb General Heusinger unmittelbar nach der Assignierung der ersten drei Heeresdivisionen an die NATO (1. Juli 1957) gegenüber dem SACEUR die deutsche Kernforderung heraus: »Deutsches Territorium dürfe nicht kampflos geräumt werden.« Für Fü Β war dies ein »erstes dt. Eingreifen in die Op. Planung der Nato«172. Einen weiteren Erfolg der deutschen Bemühungen stellte es dann dar, dass der Deutsche Verbindungsoffizier bei USAREUR Mitte Juli 1957 erstmals Einblick in dessen Alarm- und Operationsplan 1957 (gültig ab Ende August) erhielt, in dem zumindest für die CENTAG-Verbände keine kampflose Räumung der Zone zwischen der deutschen Ostgrenze und der Weser mehr vorgesehen war173. Dass die jetzt geplante kämpfende Rücknahme vor dem Hintergrund des Mangels an hinreichenden Einsatzverbänden vorerst mehr symbolischen als militärischen Wert haben würde, blieb dabei natürlich unausgesprochen, war beiden Seiten aber stillschweigend präsent. Wesentlich für die Führung der Bundeswehr war, dass die CENTAG mit ihrer Zusage Ernst machte und bereits bei ihrer folgenden Übung COUNTER PUNCH (19.-21. September 1957) nicht

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Denkschrift des II. Korps über die Verteidigung des süddeutschen Raumes an Abt. V (Heer), 20.5., sowie Übersicht über Auftrag und beabsichtigte Kampfführung des VII. (US) Korps und Stellungnahme Insp H, 12.6.1957, ebd., BW 2/2667, Vorg. 38. Besuch von GM von der Groeben (Fü H) beim Chef des Stabes NORTHAG, 12.6.1957, ebd., Ν 673/v. 23, Bl. 25. Anregung des NMR bei SHAPE, BG Graf Kielmansegg, 24.6., und Brief Heusingers an Norstad, 15.7.1957, ebd., Bl. 28 bzw. 34; vgl. auch Maiziere, In der Pflicht, S. 200 f. Schreiben des Verbindungsoffiziers, Oberst Meyer-Detring, an BG de Maiziere (Abt. IV A) nebst Karte, 19.7.1957, BA-MA, BW 2/2668.

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mehr automatisch, sondern kämpfend von der innerdeutschen Grenze auf die Weser-Lech-Linie auswich174. Noch einen Schritt weiter suchte man nach der Übernahme des Oberbefehls über die Landstreitkräfte Europa-Mitte (LANDCENT) durch General Speidel zu kommen. Sah der EDP 1957, der seit August in Kraft war, noch eine Aufnahme der Verteidigung an der Ems-Neckar-Linie vor, wobei der tatsächliche Abwehrkampf nach wie vor erst an Rhein und Ijssel geführt werden sollte, so plante man nun im Zusammenwirken von Fü Β und LANDCENT für den EDP 1958 bereits darüber hinaus. Danach sollte mit Wirkung vom 1. August 1958 der Beginn der Verteidigung nach vorn an die Linie Weser-Schweinfurt-NürnbergRosenheim geschoben und der tatsächliche Abwehrkampf dann bereits an der Ems-Neckar-Linie aufgenommen werden. Dabei klang aber noch ein erhebliches Stück Zukunftsmusik mit, denn Speidels Richtlinien für die Vorbereitung des EDP 1958 basierten darauf, dass die LANDCENT-Kräfte 1957/58 durch den Aufwuchs deutscher Divisionen eine entsprechende Steigerung ihres Kampfwertes erfahren hatten. Anfang 1958 konnte der für die Operationsplanung in Europa Mitte verantwortliche CINCENT jedoch mit Blick auf das erreichte Streitkräfteniveau nur darauf verweisen, dass man vorerst bestenfalls zu einer »half forward strategy« befähigt sei175. Anders als die Bundeswehrführung blieben nämlich die Befehlshaber von NORTHAG und CENTAG deutlich vorsichtiger in der Beurteilung des augenblicklichen Kampfwertes der ersten assignierten deutschen Divisionen. Eine der wesentlichsten Schwächen stellte ihre mangelhafte Versorgung dar, die sie mit ihren vorhandenen Vorräten noch kaum einen Tag kämpfen lassen würde176. Ganz den deutschen Wünschen entsprach dagegen Norstads Antwort auf den Heusinger-Brief zur Vorwärtsverteidigung. Danach bekamen alle Partnerstaaten, die Truppen auf dem Territorium der Bundesrepublik unterhielten, eigene Abschnitte an der Front verantwortlich zugewiesen, aus denen es »keine automatischen Rückzüge mehr« geben sollte177. Der im Herbst zur Mitprüfung an alle betroffenen Partner herausgegebene EDP 1958 ließ dann freilich doch wieder gewichtige deutsche Wünsche unzureichend berücksichtigt, da er im wesentlichen nur den EDP 1957 fortschrieb. Am wenigsten befriedigte bei Fü Β die gedachte Operationsführung auf der cimbrischen Halbinsel. Als unbedingt zu verteidigende Räume waren für den Bereich AFNORTH nämlich ausdrücklich nur Jütland, die dänischen Inseln und die Ostseezugänge ausgewiesen. Damit hing aber die für den deutschen Partner unverzichtbare Frage einer Verteidigung Schleswig-Holsteins in der Luft. Das war umso weniger hinnehmbar, als damit die Großstädte Hamburg und Lübeck einem Angreifer kampflos preisgegeben würden. Um das zu verhindern, baute die Bundeswehr doch gerade die 6. Panzergrenadierdivision mit Vorrang auf 174 175 176

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Operationsplan der CENTAG für COUNTER PUNCH, 20.7.1957,vom Autor eingesehen. Gespräch General Valluy mit dem SACEUR, 24.1.1958, SHAPE History 1958, S. 107. Informationen von Oberst i.G. von Butler (LANDCENT) an BG de Maiziere (Fü B), 22.8.1957, BA-MA, BW 2/2668. Tagebucheintrag de Maiziere über Norstads Antwort, 3.9.1957, ebd., Ν 673/ν. 23, Bl. 39.

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und verstärkte sie zusätzlich durch eine auf das Nordufer der Elbe zu verlegende Panzerbrigade. Außerdem würde der Befehlshaber im WBKI (Kiel) im Frühjahr 1958 in Personalunion NATO-Befehlshaber Schleswig-Holstein sein und damit alle deutschen Landstreitkräfte (Heer und Territorialverbände) in seinem Raum unter einheitlicher Führung haben. Es musste aus Sicht von Fü Β daher alles unternommen werden, um auch dänische Kräfte schon in Spannungszeiten in den Süden vorzuführen und damit die Voraussetzungen für eine Aufnahme der Verteidigung an der innerdeutschen Grenze zu schaffen. Bei AFCENT waren dazu zumindest in zwei Positionen erste Annäherungen an deutsche Wünsche erkennbar. Ein sowjetischer Angriff sollte bereits vorwärts der Rhein-Ijssel-Linie aufgefangen werden und auf dem Weg dahin sollte es keine automatischen Rückzüge mehr geben. Deutschem Interesse hätte es freilich mehr entsprochen, wenn dem Gedanken der Vorwärtsverteidigung noch größerer Nachdruck verliehen worden wäre. Dazu wollte man den EDP 1958 dahingehend präzisiert sehen, dass eine Kampfaufnahme mit Deckungskräften bereits ab der innerdeutschen Grenze und die eigentliche Verteidigung spätestens an der Linie Weser-Frankfurter Becken-Iller festgeschrieben wurde, so dass ein Ausweichen auf die Rhein-Ijssel-Linie nur noch den äußersten Notfall darstellte178. Zumindest für die Verteidigungsführung im AFCENT-Bereich erreichte die deutsche Seite ein Entgegenkommen des SACEUR. Danach sollte zwar der noch gültige EDP 1957 ab 1. Januar 1958 lediglich zum EDP 1-58 umgetauft werden, ab 1. Juli 1958 dann aber bereits ein neuer EDP 2-58 in Kraft treten, der die deutschen Wünsche für eine konkretisiertere Vorwärtsverteidigung beinhalten würde 179 . Nach wie vor blieben alle Überlegungen zu einem Vorschieben der Verteidigungslinien allerdings so lange Absichtserklärungen, wie die dafür erforderlichen Präsenzstreitkräfte nicht vorhanden waren. Dass ausgerechnet in diesem Herbst 1957, da man in den Operationsplänen für 1958 schon deutlichere Schritte zugunsten einer nach Osten vorgeschobenen Vorwärtsverteidigung einzuplanen begann, in Washington neuerdings über Kürzungen bei den eigenen Verbänden in Europa nachgedacht wurde, machte den amerikanischen NATO-Botschafter und den SACEUR deshalb »deeply concerned«. Am stärksten sollte dies bei den Geschwadern der U.S. Air Force zu Buche schlagen, deren 49 Kampfverbände in Europa bis 1963 auf 28 heruntergefahren, also um 40 % gekürzt werden sollten. Nahm man dazu die beabsichtigte Halbierung der RAF-Geschwader bei der 2. ATAF, dann waren diese Reduzierungen schwerlich durch ein allmähliches Aufstocken bei den Raketenverbänden aufzufangen. General Norstad sah bei einer Realisierung derartiger Pläne geradezu eine »Kettenreaktion« bei den übrigen NATO-Staaten auf sich zukommen 180 . Die 178 179 180

Stellungnahme Fü Β zum EDP 1958 des SACEUR, 19.11.1957, ebd., BW 2/2668. LANDCENT/Deputy ACOS G3 an BMVg IV A 1, 2.12.1957, ebd. U.S.-NMR an Secretary of Defense, 7.10., und SACEUR an JCS, 18.10.1957, NA, RG 218, Geographie File, box 28, CCS 092 Western Europe (3-12-48) (2), sect. 88 bzw. 89.

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Zweiter Teil: Aufbau der Bundeswehr und modifizierte atomare Abwehrplanung

treibende Kraft bei solchen Überlegungen - und das machte sie für die amerikanischen Offiziere und Diplomaten vor Ort so bedenklich - war einmal mehr der Präsident selbst. Unter Verweis auf die gravierende Glaubwürdigkeitskrise in den transatlantischen Beziehungen seit dem Sputnik-Schock und der Debatte um eine Raketenlücke konnte Norstad das Weiße Haus aber immerhin davon überzeugen, dass »now is no time to make substantial cuts in units in NATO«181. Im BMVg war man nach alledem gut beraten, beim Aufbau der eigenen Streitkräfte Tempo aufzunehmen und Erfolge möglichst unverzüglich auch öffentlich werden zu lassen. Zu Jahresbeginn gab Strauß deshalb bei einer Pressekonferenz bekannt, dass zwei weitere Panzerdivisionen, eine Transportstaffel und ein Schnellboot-Geschwader der NATO assigniert worden waren. Damit unterstanden der Allianz nunmehr bereits fünf Divisionen in einer Sollstärke von 60 bis 80 %, und im Laufe diesen Jahres sollten mit der Luftlande- und der Gebirgsdivision zwei weitere Großverbände verfügbar werden 182 . Nur musste man wenige Wochen später aus dem neuen Verteidigungsweißbuch der Briten entnehmen, dass hier die Schwerpunktsetzung unvermindert auf die eigenen Atomwaffen gelegt wurde, was eine neuerliche »Schwächung der Erdstreitkräfte« befürchten ließ183. Und genau das kündigte sich schon am Vorabend der NATO-Frühjahrskonferenz von 1958 an, als der britische Außenminister seinen amerikanischen Kollegen davon unterrichtete, dass man die Rheinarmee 1958 noch auf einer Personalstärke von 55 000 Mann halten konnte, sie aber aus Haushaltsgründen schon im nächsten Jahr auf 45 000 Mann herunterfahren musste. Dieser neuerliche Truppenabbau ließe sich allenfalls bis 1960 hinausschieben, wenn die NATO - in diesem Falle dachte Lloyd an eine einmalige Hilfe der USA - einen Weg zur Finanzierung dieser an sich abzubauenden 10 000 Mann fand184. So kurz nach zwei vorausgegangenen Reduzierungen des britischen NATO-Kontingents erntete London damit jedoch vehemente Kritik von Seiten des SACEUR. Man habe eben erst in der MC 70 dreißig Präsenzdivisionen der NATO als Mindestziel der Allianz bis 1963 festgeschrieben. Ein Unterschreiten der gerade noch hinnehmbaren 55 000 Mann bei der Rheinarmee sei daher inakzeptabel185. Würde es dennoch dazu kommen und die Rheinarmee weitere Kasernements freimachen, dann ließ sich aber eventuell die von Den Haag angebotene Vorverlegung einer holländischen Brigade auf deutsches Territorium realisieren, die bislang aus Raummangel nicht verwirklicht werden konnte186. 181

Sitzung im Weißen Haus unter Beisein des SACEUR, 30.10.1957, zit. nach Dockrill, Eisenhower's New Look, S. 208. 182 Presse-Erklärung des BMVg Nr. 25, 3.1.1958, BA-MA, BW 1/21642. 183 p r esse-Erklärung Nr. 42, 18.2.1958, ebd. 184 Unterredungen Lloyd - Dulles, 4.5. u n d 7.5.1958, FRUS, 1958-1960, vol. 7, part 1, S. 327 bzw. 348. 185 Schreiben der britischen NATO-Botschaft an Foreign Office, 7.7.1958, Dockrill, Retreat from the Continent?, S. 61. 186 Schreiben GenlnspBw an niederländischen Militärattache, 8.8.1958, BA-MA, BW 2/1802, Bl. 165 f.

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Wenn daher trotz allem, wie Ende 1957 zugesagt, vom CINCENT die Vorwärtsverteidigung in seinem EDP 2-58 am 1. Juli 1958 von der Rhein-Ijssel- an die Weser-Lech-Linie vorverlegt und NORTHAG wie CENTAG zu einem entsprechenden Vorziehen ihrer Kampftruppen aufgefordert wurden 187 , dann klafften zu diesem Zeitpunkt einmal mehr Absichten und Realisierungsmöglichkeiten noch deutlich auseinander. Schon drei Wochen später musste nämlich das deutsche Heer mit Blick auf seine Einsatzbereitschaft melden, dass es ostwärts des Rheins nur zu hinhaltendem Widerstand fähig war. Ohne den deutschen Streitkräftebeitrag gestand sich aber auch Fü Β ein, dass es »unrealistisch« sei, eine Vorwärtsverteidigung »mit den letzten Konsequenzen« von seinen Verbündeten zu erwarten 188 . Als Fazit daraus hatte sich die deutsche Heeresführung schon im Frühjahr 1958 bewusst gemacht, welche Folgen es unter den gegebenen Voraussetzungen haben würde, wenn Vorwärtsverteidigung zum jetzigen Zeitpunkt an der innerdeutschen Grenze begonnen werden sollte. Bei einem Rückzug hinter die Weser wurden dann große Teile Niedersachsens ostwärts davon zur eigentlichen Kampfzone, die von einem »Großeinsatz taktischer Atomwaffen« unmittelbar betroffen war, von dem das dahinter liegende dichtbesiedelte Ruhrgebiet durch »seine Ausstrahlungen« mittelbar betroffen sein würde. Die davon zu erwartenden atomaren Verwüstungen waren aber nur Teil eines zur Verlangsamung des gegnerischen Angriffsschwunges geplanten großräumigen Zerstörungsprogramms der NORTHAG in den zeitweilig zu räumenden Gebieten der östlichen Bundesrepublik. Darauf ging die Heeresführung hier aber nur in Andeutungen ein, wenn sie die in anderem Zusammenhang noch zu beschreibenden Pläne 189 nicht automatisch, sondern erst unter »unmittelbarem Feinddruck« ausgelöst sehen wollte. Es war zu diesem Zeitpunkt noch eine Sache, von der NATO zu fordern, dass der »Feind [...] bei Überschreiten der Grenze keine Zone vorfindet, der vonseiten der westlichen Verteidigung nur untergeordnete Bedeutung zugemessen wird, daß vielmehr sofort bei Überschreiten der Grenzen mit aller Macht zugeschlagen wird« 190 . Eine andere, noch weit davon entfernte Frage war es, wie man Vorwärtsverteidigung unter den gegebenen Umständen tatsächlich realisieren und doch gleichzeitig Schadensbegrenzung auf dem eigenen Territorium betreiben wollte. Das Dilemma deutscher Verteidigungsplanung ohne hinreichende Streitkräfte blieb demnach unverrückt. Wollte man militärisch erfolgversprechend vorne verteidigen, dann konnte das unter den gegebenen Umständen nur heißen: unter vollem Einsatz atomaren Feuers als Ausgleich für fehlende Streitkräfte. War man dagegen an schadensbegrenzender Verteidigung interessiert, mussten die fehlenden Divisionen so schnell wie irgend möglich aufwachsen. 187

188 189 190

Der EDP 2-58 des CINCENT, 1.7.1958, ist erstmals ausgewertet bei Hoffenaar/Schoenmaker, Met de blik, S. 146. Fü H: Notiz über Einsatzbereitschaft Heer, 25.7.1958, BA-MA, BW 2/2686. Siehe Teil 2, Kap. V.l., S. 613-619. Fü Η II an Fü Β betr. Vorwärts-Strategie, 27.2.1958, NHP-Dokument 019/3 und 019/4.

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So lange dies jedoch nicht der Fall war, blieb man auf die Stationierungskräfte der Verbündeten in größtmöglichem Umfang angewiesen. Das kam andererseits finanziell teuer zu stehen, da man zum jetzigen Zeitpunkt eigene Aufrüstung und Stationierungskosten an andere parallel aufzubringen hatte. Wie hoch sich die Kosten dafür beliefen, war im Herbst 1958 Gegenstand der Verhandlungen im Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages. Nach den Berechnungen Fritz Erlers (SPD) waren aus deutschen Mitteln pro Jahr für einen U.S.-Soldaten 2500 DM, für einen britischen Soldaten angesichts der Diskrepanz zwischen zugesagtem und tatsächlich vorhandenem Personal der Rheinarmee dagegen umgerechnet 7000 DM aufzubringen. Bei den Franzosen stand man schnell vor »astronomischen Zahlen«, da das Gros ihrer in der NATO-Verteidigung eingeplanten Soldaten gar nicht in der Bundesrepublik, sondern in Algerien eingesetzt war191. Selbst die aufgewandten Gelder konnten freilich Ende der fünfziger Jahre wenig daran ändern, dass letztlich für eine effiziente Vorwärtsverteidigung die deutschen Verbände zu langsam aufwuchsen, während die Stationierungstruppen aus fiskalischen Gründen oder um ereuropäischer Einsätze willen zu schnell abgeschmolzen wurden. Mochte der deutsche Befehlshaber von LANDCENT, General Speidel, deshalb dem Generalinspekteur im Frühjahr 1959 einmal mehr versichern, dass nunmehr Übereinstimmung mit der NORTHAG und CENTAG über eine beweglich zu führende und grenznah beginnende Verteidigung bestehe192. Das Streitkräftepotenzial dafür sah immer noch alles andere als erfolgversprechend aus. Am Südabschnitt der mitteleuropäischen Hauptfront hatten sich die Franzosen zwar gem. MC 70 im Einsatzfalle auf ein NATO-Kontingent von insgesamt 14 Divisionen verpflichtet, von denen aber derzeit nur 32/3 in Europa, davon 273 in der Bundesrepublik stationiert waren. Zwar waren von den in Nordafrika eingesetzten Divisionen im V-Fall drei für den Rücktransport nach Mitteleuropa vorgesehen. Nur konnte man aus amerikanischer Sicht vor Abschluss des Algerienkrieges nicht damit rechnen, dass diese Verbände in ihrem personellen und materiellen Klarstand eine tatsächliche Verstärkung der NATO abgeben würden. Der Verteidigungsauftrag des SACEUR in Süddeutschland blieb mithin bis auf weiteres »seriously reduced«193. Nicht annähernd so dramatisch, mit Blick auf die von den Deutschen gewünschte Vorverlegung der Verteidigungslinie in Norddeutschland aber ebenfalls gravierend, waren und blieben die Einschnitte bei der britischen Rheinarmee. Intern gestanden die Stabschefs in London offen ein, dass sie auf dem Kontinent im Gegensatz zu den laut MC 70 zugesagten vier Divisionen nur noch aus fünf Brigaden und zwei Divisionsstäben bestand. Innerhalb von sieben 191

192 193

Debatte über die Aufwendungen für Stationierungstruppen, 1.10.1958, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 3. Wahlperiode, 27. Sitzung, Zitat auf S. 12. Speidel an Heusinger, 15.3.1959, BA-MA, BW 2/20373. Ν SC 5910/1: Statement of U.S. Policy on France, 4.11.1959, FRUS, 1 9 5 8 - 1 9 6 0 , vol. 7, part 1, S. 301.

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Tagen glaubte man sich aber in der Lage, diese Kräfte aus den Kriegsreserven auf den Britischen Inseln zur geforderten Streitmacht aufwachsen lassen zu können (Plan ROMAN HOLIDAY). Dazu waren allerdings bis zu 70 000 Reservisten innerhalb einer Woche auf den Kontinent zu verbringen, was in Krisenzeiten bei den Alarmaufgaben der RAF nur zum Teil auf dem Luftwege geschehen konnte. Außerdem mussten zumindest Teile der Depotorganisation der Rheinarmee, die bislang in Belgien für eine Verteidigung am Rhein angelegt waren, für eine jetzt geforderte Aufnahme der Verteidigung an der Weser ebenfalls nach Osten vorverlegt werden. Bei den Schwierigkeiten der Bundeswehrführung, für die eigene militärische Infrastruktur den notwendigen Landbedarf zu befriedigen, würde dies in der an sich schon äußerst dicht mit militärischen Einrichtungen belegten Bundesrepublik kein leichtes Unterfangen sein. Selbst wenn dies gelang, musste man die Realisierung von ROMAN HOLIDAY aber aus finanziellen Gründen auf etwa dreieinhalb Jahre strecken194. Gegen eine Rückverlegung zweier Brigaden auf die Britischen Inseln, die hier als strategische Reserve für Einsätze in und außerhalb Europas geplant waren, erhob allerdings der SACEUR Einspruch, der allenfalls für eine zeitweilige Herauslösung von Präsenzverbänden für außereuropäische Einsätze in konkreten Krisen zu haben war. Dem hielten die Briten einmal mehr nüchtern entgegen, dass ein Verbleib ihrer strategischen Reserve auf dem Kontinent letztlich das fiskalische Problem einer »additional deutschmark expenditure« nach sich ziehen musste. Immerhin zeigte sich Norstad geneigt, zwei Panzerregimenter der Rheinarmee durch das Äquivalent von zwei mit CORPORAL ausgerüsteten Artillerieregimentern ablösen zu lassen, also teures Personal und Material durch atomare Feuerkraft zu ersetzen. Dagegen erhob freilich sofort General Speidel für LANDCENT Einspruch, weil dies die Verbände seiner »operationsfähigen Masse« für eine beweglich zu führende Verteidigung ostwärts des Rheins ausdünnte. Schließlich lenkten die Briten ein, um keine »ernsten Störungen« im Verhältnis zu den USA und den westeuropäischen Partnern zu provozieren. Es blieb deshalb zunächst bei dem zugesagten Potenzial von sieben britischen Brigaden in der Bundesrepublik nach Zahl und Ausstattung 195 . Für den verantwortlichen NATO-Befehlshaber Europa-Mitte bedeutete dies alles, dass er vorerst bestenfalls zwischen Kassel und Main die günstigen Geländebedingungen der Mittelgebirge für eine weiter nach vorn geschobene Verteidigung nutzen konnte, während er sich in Nord- und Süddeutschland operativ so beweglich halten musste, dass seine Kampfverbände bei den enormen Frontbreiten nicht frühzeitig durchstoßen und zerschlagen wurden 196 . Als der neue Oberbefehlshaber der 7. (US) Armee, General Clyde Eddleman, im 194

195

196

Diskussion der BCOS betr. Reinforcement of B.A.O.R. and the Holding of War Reserves, 13.3.1959, PRO, DEFE 4/117, COS (59) 19. Diskussionen darüber in den Sitzungen der BCOS, 21.7., 11.8., 15.9. und 27.10. sowie Kabinettsbeschluss, 26.11.1959, ebd., DEFE 4/120, COS (59) 46, 50, 57 und 67 bzw. CAB 128, C.C. (59) 60. CINCENT an SACEUR, 20.3.1959, BA-MA, BW 2/1801.

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Mai 1959 in Konsequenz daraus von einer wirklichen Verteidigung erst am Rhein sprach, löste er damit freilich sofort eine öffentliche Kontroverse aus und musste zu weicheren, politisch vertretbareren Formulierungen Zuflucht nehmen197. Verteidigungsminister Strauß schrieben seine militärischen Berater indes noch ein halbes Jahr später ganz Ahnliches in einen Sprechzettel: »Im gegenwärtigen Verteidigungszustand ist die Vorwärtsverteidigung nicht durchführbar 198 .« Damit meinte man bei Fü Β allerdings bereits die volle Realisierung des Konzepts an der innerdeutschen Grenze, denn die Aufnahme einer Verteidigung an der Weser war zu diesem Zeitpunkt aus ihrer Sicht nach den entsprechenden Zusagen des SACEUR an sich nicht mehr strittig. Natürlich war sich General Norstad selbst dann noch der politischpsychologischen Belastungen seines deutschen Partners bewusst, wenn damit nach wie vor ganze Teile von dessen Territorium geräumt und an wesentlichen Punkten zerstört werden mussten, um den Vormarsch des Gegners zumindest zu verlangsamen. Nur konnte er nicht an den militärischen Realitäten vorbeisehen, die schon jetzt eine wesentliche Steigerung des Umfangs und des Einsatzwertes der dazu erforderlichen deutschen Divisionen verlangt hätten. Hoffnungen machte da immerhin die Haltung der Benelux-Staaten, bei denen die Belgier bereits zwei Divisionen über den Rhein vorgeschoben, davon eine bis in den Raum Kassel vorverlegt hatten, während die Holländer mit den Deutschen in Verhandlungen standen, um eine ihrer Divisionen im Weserraum zu stationieren. War bis 1961 auch die Masse der deutschen Divisionen verfügbar, dann stellte Norstad der NORTHAG ein Potenzial von sechs bis sieben Präsenzdivisionen in Aussicht, mit dem sich von da an - aber eben tatsächlich erst frühestens ab diesem Jahr - im Sinne der deutschen Forderungen zumindest »a more forward strategy« unmittelbar an der innerdeutschen Grenze aufnehmen ließ. Bei aller Akzeptanz dieser Zukunftsperspektive machten die britischen Stabschefs dem SACEUR allerdings deutlich, dass bis dahin auch die aufwändige Vorverlegung der Logistik für die Rheinarmee einer »ernsthaften Betrachtung« unterzogen werden musste. Für allzu gravierend sah General Norstad dieses Problem jedoch nicht an, denn nach seinen Vorstellungen würden dann deutsche Truppen zusammen mit ihren belgischen und holländischen Partnern die vordersten Verteidigungslinien besetzen, während »the majority of the United Kingdom forces« erst dahinter »the main defensive position on the Weser line« zu halten hatten199. Für seinen Besuch in den USA im Oktober 1959 ließ sich der Generalinspekteur die zentralen Folgerungen für die Verteidigungsplanung in Mitteleuropa zusammenstellen. Da er sich ausrechnen konnte, dass er Rechenschaft über den Stand der deutschen Aufrüstung abzulegen haben würde, griff Heusinger an diesem Punkt einmal mehr zum Mittel einer optimistischen Perspektive. Die 197 196 199

Vgl. Kelleher, Germany and the Politics, S. 84 f. sowie 333, Anm. 36. Sprechzettel für Herrn Minister, Oktober 1959, BA-MA, BW 2/1799. Besuch Norstads bei den BCOS, 1.10.1959, PRO, DEFE 3276, COS (59) 61.

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Aufstellung des für die Vorwärtsverteidigung ausschlaggebenden Heeres sah er »im wesentlichen« 1961 abgeschlossen. Dass auch dieses Ziel nicht erreicht wurde, sollte der Bundeswehr 1962 im Vorfeld der Kubakrise das Verdikt der NATO »bedingt abwehrbereit« eintragen200. Obwohl die Ergebnisse der deutschen Aufrüstung mithin immer noch hinter den Zusagen an das Bündnis zurückhingen, beabsichtigte Heusinger mit seinen operativen Forderungen in die Offensive zu gehen. Bei aller Anerkennung des erstrangigen Zieles nuklearer Abschreckung sah er einen europäischen Konflikt sich nicht sofort zum Atomkrieg auswachsen. Militärische Planung hatte sich deshalb darauf einzustellen, der Politik für wahrscheinlichere Konfliktformen Alternativen zu verschaffen. Blieben die Schildstreitkräfte der NATO dagegen so schwach wie bisher, würden der politischen Führung genau diese Mittel zu politischer wie strategischer Beweglichkeit vorenthalten; sie war allein auf die »eine ultimative Form der Verteidigung«, den sofortigen und umfassenden Griff zu Atomwaffen verwiesen. Als Schritt in die richtige Richtung war es von daher immerhin anzusehen, dass man nunmehr auf deutsches Verlangen hin die Verteidigungslinie wenigstens im Norden an die Weser, im Süden an den Neckar vorgeschoben hatte. Durch den damit verbundenen »freiwilligen Verzicht auf NATO-Gebietsteile« schränkte man jedoch von vornherein die eigene Operationsfreiheit ostwärts des Rheins wesentlich ein. Außerdem deutete das Planen entlang von Flussläufen auf ein »starres Denken [...] in festen Linien« hin, das den Erfahrungen einer beweglich und damit bei weitem effizienter zu führenden Verteidigung aus den deutschen Ostkriegserfahrungen eklatant widersprach. Vor allem verlor die NATO als kollektives Verteidigungsbündnis mit der Aufgabe von Raum aber ein entscheidendes Moment ihres inneren Zusammenhaltes: »gegenseitiges Vertrauen der Partner«. Das musste sich insbesondere im geteilten Deutschland bei der »Empfindlichkeit des Gebietes der Bundesrepublik im Vergleich zu anderen grenznahen NATO-Partnern« extrem nachteilig auf die Verteidigungsbereitschaft seiner Bevölkerung auswirken. In dem wenige hundert Kilometer breiten Gebiet zwischen innerdeutscher Grenze und Rhein waren nicht nur die »Potentiale eines 50 Mill. Volkes zusammengedrängt«. Bei der Abhängigkeit der NATO-Verteidigung von taktischen Atomwaffen lagen in diesem engen Raum mit der größten Bündnisstreitmacht der NATO, ihren Munitionslagern, ihren Einsatzbasen und ihrer Infrastruktur auch militärische Ziele für den gegnerischen Atomeinsatz besonders eng zusammen. Nahm man Siedlungsdichte und Ballung militärischer Infrastruktur mit der atomaren Verwundbarkeit von beidem zusammen, dann musste im Falle eines möglichen europäischen als eines atomar geführten Krieges schon in den ersten Stunden und Tagen die Operations- wie die allgemeine Bewegungsfreiheit auf diesem »Hauptkriegsschauplatz« nahezu völlig verloren gehen. Potenziert würde dieses Chaos zusätzlich durch panikartige massenhafte Fluchtbewegungen aus den freiwillig 200

Thoß, »Bedingt abwehrbereit«, S. 80.

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geräumten und von den »Russen« besetzten Gebieten. Allein ostwärts von Weser und Neckar ballten sich nämlich 30 Millionen Einwohner und 75 % des deutschen Industriepotenzials. Gab man das im wesentlichen kampflos preis, dann rüttelte man letztlich für den deutschen Partner an den Grundfesten der Bündnisverteidigung, denn: »Die Echtheit der NATO beruht auf ihrer Fähigkeit und dem Willen, ihr Gebiet zu verteidigen201.« Was Heusinger dem großen Verbündeten hinter verschlossenen Türen vortragen würde, machte die Jahrestagung des Arbeitskreises für Wehrforschung zur gleichen Zeit zum öffentlichen Thema. Der Hauptreferent zog wie sein Mentor im BMVg blank gegen »eine einfallslose starre Kordon-Abwehr in der Form der Perlenschnur, die alles decken will«. Dem hielt er eine »wohldurchdachte, bewegliche Abwehr« nach deutschem Muster entgegen, die sich auf den Gegenangriff als »Operation aus der Nachhand« abstützte. Diesen »gesunden Grundsätzen« musste man »innerhalb der NATO-Führung Geltung verschaffen«, wenn man wegkommen wollte von linear ausgerichtetem, einfallslosem operativem Denken im Bündnis. Natürlich war auch dem Referenten klar, dass bewegliche Abwehr auf deutschem Boden »das ganze Volk einer der schwersten Belastungsproben unterziehen« würde. Wenn dazu aber geradezu appellhaft die Erziehung der Westdeutschen »zu Wehrbejahung, zu Opferbereitschaft, zu Kampfwillen, Ausdauer und Vertrauen in seine Führung« gefordert wurde, dann waren Zweifel angebracht, ob derlei Anlehnung an vergangenes heroisches Denken und Handeln noch zeitgerecht war202. Bei weitem nüchterner lassen sich da schon die Erfahrungen an, die der scheidende CINCENT Valluy von seinen Abschiedsbesuchen in Brüssel, Den Haag und Bonn wie aus Gesprächen mit der militärischen Führung in Paris an General Norstad wiedergab. In den Benelux-Staaten ließ man seine Enttäuschung über die geringe Entlastung durchblicken, die der verzögerte Bundeswehraufbau bislang für die eigenen Verbände in der Bundesrepublik erbracht hatte. Die angeplanten Vorverlegungen belgischer und holländischer Verbände wurden zwar von militärischer Seite weiterhin als notwendig betrachtet, stießen aber schnell auf ökonomische und innenpolitische Bedenken. Einig war man sich dabei mit dem deutschen Partner über die fatalen Rückwirkungen, die von den kontinuierlichen Reduzierungen bei der Rheinarmee nicht nur auf die geforderte Vorwärtsverteidigung, sondern auch auf das gaullistische Frankreich ausgingen. Insbesondere Verteidigungsminister Strauß zeigte sich zunehmend besorgt darüber, dass die allmähliche militärische Abwendung der Briten vom europäischen Kontinent in Paris zur Begründung einer Renationalisierung der eigenen Verteidigungsplanung als Antwort auf ein Versagen der militärischen Integration im Bündnis verwandt wurde. Und General Valluy konnte seinem

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202

Fü Β III: Entwurf für Besprechungspunkte des Herrn Generalinspekteurs bei seinem Besuch in Washington, 15.10.1959, BA-MA, BW 2/2530. Zitate aus Bechtolsheim, Landesverteidigung, S. 124-129.

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deutschen Gesprächspartner aus eigener Erfahrung in Paris nur wenig Ermutigendes in dieser Richtung vermitteln203. Was das konkret für die von Norstad und Speidel einvernehmlich geforderte Aufstockung der ausgedünnten französischen Truppen in der Bundesrepublik und deren angedachte Vorverlegung näher an ihre Einsatzräume in der Vorwärtsverteidigung bedeutete, wurde im BMVg bereits Anfang 1960 aus Erkenntnissen des Deutschen Militärischen Vertreters bei SHAPE erkennbar. Bestenfalls durfte man mit der Zuführung einer leichten französischen Brigade nach Deutschland rechnen, die das französische NATO-Kontingent aber immer noch näher an den bisher verfügbaren zwei als an den von SACEUR geforderten 31/3 Divisionen hielt. Auch die zeitweilig angedachte Vorverlegung der 1. (FR) Panzerdivision, die nach wie vor nicht auf vollen Stand gebracht war, aus dem Trierer Raum nach Süddeutschland, um die dortige Streitkräftelücke zur CSSR und zum neutralen Österreich hin zu schließen, wurde in Paris offenbar nicht mehr ernsthaft weiterverfolgt. Ähnliches galt für die 3. (FR) Panzerdivision, die vom Oberrhein und dem Schwarzwald weiter nach Osten in den Raum südlich der Donau vorgeschoben werden sollte. Nicht unerwähnt bleiben sollen dabei auch Klagen aus der deutschen Bevölkerung gegenüber dieser »farbigen« Division »mit ihren unsicheren marokkanisch-algerischen Elementen«, die eigentlich nur vorübergehend in Deutschland stationiert werden sollte, ein Zustand, der jetzt aber bereits fünf Jahre andauerte204. Auch für die deutsche Bevölkerung hatte mithin die allseits geforderte effiziente Vorwärtsverteidigung ihre bis in die französische Besatzungszeit nach dem Ersten Weltkrieg zurückreichenden psychologischen Grenzen205. Im Herbst 1960 erreichten Bonn dann Gerüchte über Pläne des neuen französischen CINCENT, General Maurice Challe, dem man nachsagte, dass er die französischen Verbände in Südwestdeutschland sogar noch weiter nach Westen zurückverlegen wollte. Der General dementierte sofort gegenüber Norstad alle derartigen Pläne, sah es im Gegenteil als sein ureigenstes Anliegen an, die 1. (FR) Armee schrittweise wieder auf ihre vier Divisionen zu bringen. Unterstützt wurde dieses Anliegen durch eine formelle Erklärung des französischen Mitglieds im Militärausschuss der NATO, die als Hauptanstrengung einer Modernisierung und Aufstockung der französischen Streitkräfte ab 1961 ausdrücklich die in der Bundesrepublik stationierten Verbände benannte. Sie sollten schrittweise von jetzt zwei auf drei und später auf die von SACEUR

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205

Dt. Übersetzung des Schreibens von Valluy an Norstad, 1.12.1959, BA-MA, BW 2/2546 (Verschlusssache). NMR bei SHAPE, BG von Butler, an Fü Β III betr. Planung für Verbände des französischen Heeres im Bereich CENTAG, 12.1.1960, ebd. Vgl. dazu die Erfahrung und Verarbeitung des Einsatzes Farbiger in den französischen Besatzungstruppen am Rhein nach 1918, Koller, Von Wilden aller Rassen niedergemetzelt, S. 207-261.

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geforderten vier Divisionen gebracht werden. Nur stand das alles einmal mehr unter dem Vorbehalt, dass die Verhältnisse in Algerien dies zuließen206. Nicht zur Ruhe kamen freilich auch die Diskussionen in Washington, wo sich im Herbst 1959 Präsident Eisenhower neuerlich beunruhigt darüber zeigte, dass die Europäer offenbar immer noch nicht bereit waren, ihre militärische Selbsthilfe auf einen Stand zu bringen, der es erlaubte, das amerikanische NATO-Kontingent von bislang fünf auf dann eine, eher symbolische U.S.-Division abzubauen. Außerdem brachte das Pentagon die längst geplante Rückverlegung von 14 Staffeln der US Air Force aus Europa in Erinnerung. Immer nachdrücklicher schlugen dabei fiskalische Gründe zu Buche, die den amerikanischen Finanzminister nach Möglichkeiten Ausschau halten ließen, das weltweite militärische Überengagement der USA auf ein mit dem eigenen Haushalt verträgliches Maß zurückzuschneiden 207 . Schließlich ging selbst aus einem Vermerk der Deutschen Bundesbank von Ende 1959 hervor, dass allein die Bundesrepublik aus der Stationierung fremder Truppen auf ihrem Territorium Deviseneinnahmen zwischen 1950 und 1959 von 16,5 Mrd. DM erzielt hatte, davon den Löwenanteil von 78 % aus der Anwesenheit von amerikanischen Truppen 208 . Wohl formierte sich erneut eine starke Gegenposition innerhalb der U.S.-Administration aus State Department und CIA, unterstützt vom NATOOberbefehlshaber, die in der sich verschärfenden Lage um Berlin eine amerikanische Truppenreduzierung in Europa als das falscheste aller Signale ansah. Präsident Eisenhower verstand sich denn auch neuerdings auf einen Kurs, der es auf keine plötzlichen Veränderungen ankommen lassen wollte. NATOGeneralsekretär Paul Henri Spaak musste sich daher zwar anhören, dass die USA mit Blick auf die Verteidigung Westeuropas »plays too big a part in it all«, und dass »we must make absolutely sure that Europe accepts its responsibilities«. Einigermaßen ernüchternd gestand sich der Präsident freilich auch ein, dass »never in our lifetime will all our troops be withdrawn from Europe because it is important to carry the flag«209. Noch beruhigender klangen die Zusicherungen Eisenhowers an den Bundeskanzler im Frühjahr 1960, dass bei dem bevorstehenden Pariser Gipfel zwar »Abrüstung das wichtigste Thema sei«, dass aber eben deswegen die Sowjetunion nicht durch einseitige westliche Vorleistungen zu der Fehlartnahme verleitet werden durfte, als akzeptiere der Westen dies als Voraussetzung für einen Verhandlungserfolg. Die USA würden deshalb nicht nur »ihre Streitkräfte in Europa nicht vermindern«, sie würden 206 Bericht des NMR bei SHAPE, BG von Butler, an Fü Β III über sein Gespräch mit Norstad am 3.10., 4.10.1960, sowie fanzösische Erklärung vor dem Military Committee, 13.12.1960, BA-MA, BW 2/2546. 207 Gemeinsame Sitzung von State Department und Pentagon, 24.10., sowie Gespräch Eisenhower - Norstad, 4.11.1959, FRUS, 1958-1960, vol. 7, part 1, S. 494-496 bzw. 497-500. 208 Vermerk der Deutschen Bundesbank, 4.12.1959, zit. nach Zimmermann, ... they have got to put, S. 330. 209 Gespräch Eisenhower - Spaak, 24.11.1959, DDRS 1978, 423 B; zu den Auseinandersetzungen innerhalb der U.S.-Regierung: NSC-Sitzung, 12.11., u n d Besprechung beim Präsidenten, 16.11.1959, FRUS, 1958-1960, vol. 7, part 1, S. 504-517.

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vor allem dafür sorgen, »daß die amerikanische Flagge in Berlin bleiben werde« 210 . Der innereuropäische wie der transatlantische Disput über eine angemessene Lastenteilung im Bündnis sollte freilich auch den Regierungswechsel in den USA an der Jahreswende 1960/61 überdauern. Mit ihrem Kurs auf eine partielle Denuklearisierung der NATO-Strategie als Antwort auf das gewandelte atomare Kräfteverhältnis zwischen den beiden Supermächten im Zeichen eines nuklearen Patts würde das neue Gespann Kennedy/McNamara diese Auseinandersetzungen sogar noch stärker akzentuieren. Schließlich sollte es nunmehr um eine ausgeprägt mehroptionale Verteidigungsplanung im Bündnis gehen, bei der die Erfüllung der einzelnen Streitkräftezusagen an die Allianz zur zwingenden Voraussetzung flexiblerer militärischer Antworten auf mögliche militärische Herausforderungen deklariert wurde. Militärische Absichten und Planungen würden allerdings auch dann nur die eine Seite der Medaille bleiben. Die finanzielle Realisierbarkeit gemeinsamer Verteidigungsanstrengungen als die mindestens ebenso gewichtige Voraussetzung von Stabilität im Systemwettlauf sollte auch dann noch ein unübersehbares Markenzeichen westlicher Sicherheitsbefriedigung im Kalten Krieg darstellen.

3. Die »Vorwärtsverteidigung« als nationale Verteidigungsaufgabe Die Bundeswehrführung mochte zu wiederholten Malen die notwendigen Voraussetzungen in der Bündnisstrategie für ihr zentrales Ziel einer effizienten Vorwärtsverteidigung auflisten und daraus Forderungen nach einem frühzeitigen Vorschieben der Verteidigungslinien in Mitteleuropa ableiten. So lange die Mittel dafür in Gestalt der gem. MC 70 erforderlichen 30 Präsenzdivisionen nicht vorhanden waren, konnte die NATO-Führung letztlich nicht mehr tun, als darauf mit Absichtserklärungen einer schrittweise nach Osten auszuweitenden Verteidigungsplanung zu reagieren. Dies blieb freilich immer mit dem Vorbehalt der dafür im konkreten Einsatzfall dann auch tatsächlich gegebenen Möglichkeiten verbunden. Vor diesem Hintergrund suchte man bei Fü Β nach nationalen Aushilfen, mit denen sich im Falle eines Angriffs noch vor dem Abschluss des Bundeswehraufbaus bereits eigene Verteidigungsmaßnahmen im unmittelbaren Grenzbereich einleiten ließen, um der NATO gegenüber frühzeitig zu untermauern, dass es den Deutschen ernst war mit der Absicht, Bündnisterritorium nicht kampflos zu räumen. Dahinter schwang die Hoffnung mit, dass man bei entsprechenden Anfangserfolgen an der Grenze eventuell auch die Verbän-

210

Gespräch Eisenhower - Adenauer, 15.3.1960, StBKAH, IX, 88 III 2.

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de der Verbündeten zu einer früheren Aufnahme der Verteidigung bewegen konnte. Ein erster Gedanke in dieser Richtung war der Bonin-Plan über eine panzerabwehrstarke Grenzverteidigung gewesen, der aber schon 1955 als nicht mit den NATO-Plänen vereinbar verworfen worden war211. In eine ähnliche Richtung, freilich näher an den Bündnisvorgaben orientiert, ging ein Jahr später das Plädoyer des ehemaligen Generals Hans Kissel, »die Ostgrenze durch eine verteidigte Stellungsfront zu schützen«. Dazu wollte er neben den zwölf deutschen ΝATO-DiVisionen »als zweiten Wehrmachtteil« eine heimatnahe Miliz aufgebaut sehen. Der Grundgedanke ließ sich durchaus mit den Vorgaben aus der MC 36 verbinden, die jedem Bündnispartner zur Erhaltung der Operationsfreiheit auf seinem Territorium die Möglichkeit zur Aufstellung national verbleibender Territorialverbände eröffnete. Wenn Kissel für die Verteidigung einer derartigen Stellungsfront »rund 40 bodenständige Grenzinfanterie-Divisionen« für erforderlich hielt, dann kam dies durchaus ein Stück weit den Absichten der NATO von einem vorrangig infanteriestarken deutschen Heer entgegen, hinter dem sich die gepanzerten Großverbände der Verbündeten zu Gegenstößen gegen einen eingebrochenen Gegner bereithalten würden 212 . Nur sprengten solche Größenordnungen eines zusätzlichen Territorialheeres die personellen und finanziellen Möglichkeiten der Bundesrepublik natürlich bei weitem213. Lösungsbedürftiger als ein derartiger nationaler Grenzschutz aus neu aufzustellenden Territorialverbänden war es dagegen aus Sicht der Verbündeten, die Überwachungslücken an der innerdeutschen Grenze möglichst rasch zu schließen, die durch Überführung wesentlicher Teile des Bundesgrenzschutzes (BGS) in die Bundeswehr als Kader für die ersten drei Heeresdivisionen gerissen worden waren. Die Britische Botschaft in Bonn gab jedenfalls schon im Frühjahr 1956 für das Vorfeld der Rheinarmee ihrer »Besorgnis« darüber Ausdruck und forderte eine umgehende »Wiederauffüllung« des BGS. Da dies bei dem erheblichen Aderlass des BGS nicht so rasch zu erreichen sein würde, wollte der Bundesinnenminister bis dahin bei ernsthaften Grenzverletzungen auf die Bereitschaftspolizeien der Länder zurückgreifen, wozu ihm ein entsprechendes Verwaltungsabkommen die Handhabe bot. Auch das BMVg stellte Hilfe in Aussicht, wobei die Polizeikräfte bei schweren Grenzzwischenfällen künftig durch »Streitkräfte unter nationaler Führung« unterstützt werden sollten. Um eine dazu erforderliche Zusammenarbeit zwischen NATO-Verbänden, eigener Territorialverteidigung und Polizeikräften realisieren zu können, bedurfte es allerdings noch einer einvernehmlichen Regelung214. Noch behielten sich die Westmächte allerdings die letzte Verantwortung über die Grenzsicherung an den deutschen Ostgrenzen selbst vor. An der 211 212 213 214

Vgl.TeiIl,Kap.III.l.,S.92 Vgl. Hammerich u.a., Das Heer (Beitrag Rink). Kissel, Gedanken zur Verteidigung, Zitate auf S. 598 und 600 f. Notiz BMVg IV/A/3 über eine Besprechung mit Α Α und BMI, 20.4.1956, BA-MA, BW 2/2660, Vorg. 20.

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deutsch-tschechischen Grenze war daher vorerst nicht an Standorte des BGS gedacht215, weil hier die Amerikaner weit vorgeschobene Aufklärungs- und Sicherungskräfte eingesetzt hatten. Formal lag diese Verantwortung auch in der ehemaligen britischen Zone an der innerdeutschen Grenze weiterhin beim Oberbefehlshaber der Rheinarmee, da man bei Grenzzwischenfällen unter Beteiligung sowjetischer Soldaten direkt mit sowjetischen Autoritäten verhandeln, aber auch keine deutsch-deutschen Zusammenstöße mit internationalen Folgen riskieren wollte. Gleiches galt im Übrigen für den britischen bzw. amerikanischen Oberbefehlshaber der 2. und 4. ATAF in allen Fragen der Luftsicherung. Aus Sicht der Westmächte sollte dies zunächst auch so bleiben; über Anpassungen konnte man dann reden, wenn die Bundesrepublik einmal ihre Streitkräfte auf den notwendigen Stand gebracht haben würde. Nur hatten die Briten ihren Teil des Grenzschutzes schon bisher arbeitsteilig mit dem deutschen Zoll und dem BGS wahrgenommen, freilich immer »under surveillance of the British Frontier Service«, weil sie damit Personal einsparen und doch gleichzeitig die Oberaufsicht für sich selbst sicherstellen konnten216. Deshalb waren sie auch jetzt daran interessiert, den BGS so rasch wie möglich wieder in seine alte Stärke gebracht zu sehen, gaben aber - im BMVg aufmerksam registriert - durchaus zu erkennen, dass man bereit war, bei ernsten Notfällen neu aufgestellte Bundeswehreinheiten in Grenznähe ebenfalls heranzuziehen 217 . Mindestens ebenso wichtig wie die Zusammenarbeit von Zoll und BGS mit den Alliierten waren BMI und BMVg freilich die unmittelbare Kooperation von BGS und Bundeswehr, wenn man das nationale Interesse im Rahmen der Landesverteidigung angemessen zur Geltung bringen wollte. Günstige Voraussetzungen dafür schuf die krisenhafte Zuspitzung der internationalen Lage im Gefolge des Ungarnaufstandes vom Herbst 1956. Sollte sich nämlich die Lage in Ostmitteleuropa allgemein verschärfen, dann musste man auch an der innerdeutschen wie an der deutsch-tschechischen Grenze auf Zwischenfälle gefasst sein, die möglicherweise mit polizeilichen Mitteln allein nicht mehr zu bereinigen waren. Die beiden Ministerien verständigten sich deshalb auf ein Zusammenwirken ihrer Einsatzkräfte vor Ort. Auf territorialer Ebene stellten die Wehrbereichskommandos II (Hannover), IV (Mainz) und VI (München) Verbindungskommandos zu den BGS-Kommandos in Hannover, Kassel und München ab. Im unmittelbaren Grenzraum leiteten die Dienststellen des BGS Meldungen über Grenzzwischenfälle unverzüglich auch an die nächstgelegenen Dienststellen der Territorialverteidigung weiter. Würden zur Bereinigung derartiger Zwischenfälle gemeinsame Einsätze von Bundeswehr und BGS erforderlich, behielten sich Minister Strauß für das BMVg und Staatssekretär von Lex 2,3

BMI an BMF, 9.5.1956, ebd., BW 1/4492. z'* Directive for the C-in-C, British Forces G e r m a n y , 23.5.1956, PRO, DEFE 5/68, COS (56) 200. 217 AA an BMI mit Ü b e r s e t z u n g des britischen A i d e - M e m o i r e v o m 14.6., 21.6.1956, BA-MA, BW 2/2660, Vorg. 16. A n der e n t s p r e c h e n d e n Stelle über eine mögliche Z u z i e h u n g der B u n d e s w e h r notierte UAL IV A, BG d e Maiziere, handschriftlich: »Ja, besser!«

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für das BMI die Entscheidung selbst vor. Angedacht war dabei ein Vorziehen von Bundeswehrkräften in Bataillonsstärke bis in Grenznähe. Um die Öffentlichkeit nicht zu beunruhigen, waren dafür keine besonderen Alarmvorbereitungen vorgesehen; erst bei Eingang des Einsatzbefehls aus dem BMVg sollte die betroffene Einheit kurzfristig Marschbereitschaft herstellen. Kam es tatsächlich zum gemeinsamen Einsatz, würde die Bundeswehr dem jeweiligen BGSKommandeur unterstellt, der vor Ort das bessere Lagebild hatte218. Mit dem Abklingen der Krise wurden die beiderseitigen Maßnahmen Ende November 1956 wieder aufgehoben 219 . Die Sicherung des östlichen Grenzraumes gegen einen Überraschungsangriff blieb für den Militärischen Führungsrat freilich auch weiterhin das »brennendste Problem«, musste man doch zur Kenntnis nehmen, dass zwar die Amerikaner in Süddeutschland entsprechende Vorkehrungen getroffen hatten, während die Briten in Norddeutschland in deutschen Augen kaum verhohlen »Desinteresse« zeigten. Den U.S.-Aufklärungskräften in Ostbayern auf der Linie Regensburg-Straubing-Landshut, die eine Überwachung der Grenze im Böhmerwald mit gepanzerten Spähtrupps vornahmen, stand in Niedersachsen nichts Gleichwertiges seitens der Rheinarmee zur Seite220. Vor diesem Hintergrund prüfte Fü Η seit Ende 1956 den Gedanken an einen eigenen »Späh-, Horch- und Warndienst durch sogenannte Grenzsicherungs-Bataillone, die gegebenenfalls zu Brigaden zusammengefaßt werden können«221. Die Krux lag nämlich aus deutscher Sicht darin, dass die NATO für den Raum zwischen innerdeutscher Grenze und Weser vorerst nur leichte Deckungstruppen vorgesehen hatte, die lediglich Fühlung mit dem Angreifer halten, aber rasch vor härterem Feinddruck ausweichen sollten222. Im MFR suchte man deshalb nach Möglichkeiten zum Aufwuchs einer so genannten »bodenständigen Landesverteidigung«, die zu einer zusätzlichen grenznahen Sicherung geeignet war und gleichzeitig die vorgesehenen hochbeweglichen und kampfkräftigen Deckungstruppen der NATO verstärken konnte223. Dazu mussten die grenznahen Verbände der Bundeswehr wie des BGS jedoch gegen einen angenommenen Panzerangriff mit panzerbrechenden Waffen ausgestattet werden. Das BMI wollte allerdings seine BGS-Verbände allenfalls mit Gewehrgranaten ausrüsten, während die Bundeswehr die verfügbaren 1741 Bazookas mit absoluter Priorität an ihre acht grenznahen Grenandierbataillone verteilte. Die angedachte Ausstattung mit panzerbrechenden Leichtgeschützen war dagegen noch nicht zu realisieren, da die 218 Weisungen von BMI und BMVg an die unterstellten Kommandobehörden, 7.-10.11.1956, ebd., BW 2/3889. 219 Weisungen von BMVg, 29.11., und BMI, 13.12.1956, ebd. 220 Einschätzungen MFR, 21. und 24.1.1957, ebd., BW 17/36, S. 53 f. bzw. 55. 221 Besprechung Chef des Stabes MFR mit den verantwortlichen Unterabteilungsleitern bei Fü H, Fü L und Fü M, 6.12.1956, sowie Überlegungen bei MFR, 3.1.1957, ebd., BW 17/36, S. 37 bzw. 45. 222 Stellungnahme Speidels betr. Vertretung deutscher Führungsauffassungen bei GETI, 22.12.1956, ebd., BW 2/1946. 223 Überlegungen im MFR, 24.1.1957, ebd., BW 17/36, S. 55 f.

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Typenauswahl dafür noch nicht abgeschlossen war224. Überlegt wurde auch eine »Verstärkung des Geländes durch Befestigungen« in den Mittelgebirgen vom Böhmerwald bis zum Harz. Heusinger warnte jedoch davor, in Fragen der Grenzsicherung »zu starr zu denken«. Zum einen sei eine »durchgehende Befestigungslinie von Lübeck bis Passau« finanziell wie personell zu aufwendig; außerdem riskierte man damit die Massierung eigener Verbände, die leicht aufzuklären waren und dann »lohnende Atomziele« boten. Deshalb machte sich der Vorsitzende des MFR zwar den Gedanken an eine Befestigung der Mittelgebirge zu eigen, in der norddeutschen Tiefebene war dagegen »jegliche Starrheit zu vermeiden« und stattdessen alles auf eine panzerstarke bewegliche Verteidigung abzustellen225. Beim Besuch des britischen Premierministers Macmillan im Mai 1957 in Bonn trug Heusinger seine Überlegungen über eine panzerabwehrstarke Grenzsicherung vor. Danach wollte die Führung der Bundeswehr die Möglichkeiten aus den Pariser Verträgen zur Aufstellung national verbleibender Territorialverbände voll nutzen, um auf diesem Wege eine »frontier force of 60 000 - 70 000 men« aufstellen zu können. Der Bundesregierung wie der NATO sollte damit ein zusätzliches militärisches Mittel verschafft werden, um bei ernsteren Grenzzwischenfällen erst einmal die Absichten des Gegners zu testen, bevor man »the whole apparatus of the NATO military machine« in Gang setzte. Die deutschen Territorialverbände würden dazu zunächst unter nationalem Kommando verbleiben und der NATO erst dann unterstellt, wenn diese sich selbst zum Einsatz ihrer Kampfverbände entschloss. Heusinger gab zu verstehen, dass dies vorerst nur auf informeller Basis an den SACEUR herangetragen worden sei, Norstad aber der Idee gegenüber nicht abgeneigt gewesen sei. Bei allem Verständnis für das deutsche Interesse an einem nicht sofort atomar eskalierenden Konflikt reagierte Macmillan jedoch mit einem Lehrstück aus der Allianzstrategie. Was halte der General denn bei einem sowjetischen Versuch zur Übernahme von Teilen Westberlins für geboten? Aus Sicht Heusingers musste der Westen dann bereit sein »to threaten full-scale global war against the Russians«. Dies lag nach Macmillans Auffassung aber auch an der innerdeutschen Grenze in der Logik der Abschreckung. Von daher erschienen dem Premierminister die Ideen seines deutschen Gesprächspartners illusionär, da für eine rein konventionelle Verteidigung des deutschen Territoriums auf absehbare Zeit schlicht die Truppen fehlen würden. Deshalb forderte er seine Stabschefs auf, einem derartigen Denken im Widerspruch zu den Möglichkeiten der NATO gegenzusteuern 226 . Ganz so rigoros lehnten die britischen Stabschefs den Gedanken allerdings nicht ab, da auch ihnen jedes Gegenmittel gegen »local actions« auf dem euro224

225

226

Sprechzettel für den Herrn Minister für die Sitzung des BVR am 22.1., 21.1.1957, ebd., BW 2/3889. Überlegungen bei Fü Β zur Grenzsicherung und Stellungnahme Heusingers dazu, 30.1.1957, ebd., BW 17/36, S. 58. Bericht über das Gespräch Macmillan - Heusinger vor den BCOS, 10.5.1957, PRO, DEFE 5/75, COS (57) 197.

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päischen Kontinent durchaus gelegen kommen musste, wenn man sie nicht sofort zum allgemeinen Krieg eskalieren lassen wollte. Im Übrigen erschien es ihnen vom deutschen Interesse her nur zu verständlich, wenn die Bundeswehrführung, nachdem sie erkannt hatte, dass ihr Land im Falle eines Krieges das Hauptschlachtfeld für den Einsatz taktischer Atomwaffen werden würde, dem mit Überlegungen zu einer effizienteren Landes- und Grenzverteidigung begegnen wollte227. Was in London allerdings erhebliche Besorgnis auslöste, war die Betonung seitens des BMVg, dass es sich dabei um Streitkräfte unter ausdrücklich nationalem Kommando handeln sollte. Zwischen der britischer NATO-Botschaft und dem Foreign Office tauschte man sich deshalb darüber aus, ob dergleichen wirklich im Interesse der Allianz sein konnte. Wer garantierte einem, dass sich nicht in Zukunft eine »weniger verantwortungsbewußte« deutsche Regierung als die derzeitige im Falle einer Krise auf der Basis dieser unmittelbar verfügbaren Truppen zu Dingen provozieren lassen mochte, die der vorrangigen Bündnisabsicht zur Kriegsverhinderung zuwiderlaufen würde? Konnten sich nicht sogar im Falle neuerlicher Unruhen in der DDR oder eines östlichen Vorgehens gegen Westberlin einzelne dieser Verbände zu ganz unkalkulierbaren militärischen Aktionen hinreißen lassen? Wenn man daher in Bonn schon an eine derartige Verstärkung der eigenen Grenzverteidigung dachte, darin musste sichergestellt sein, dass diese wie die übrige Bundeswehr unter das Kommando des SACEUR gestellt wurde. Im Foreign Office war man sich im Übrigen einigermaßen sicher, dass bei einem solchen deutschen Antrag in der WEU schon der unmittelbare Nachbar Frankreich aus wohlverstandenem Eigeninteresse darauf bestehen würde, dass diese Truppen »along the most sensitive frontier of the world« gerade nicht »under purely German command« gestellt werden durften228. Der britische Botschafter in Bonn riet dagegen zu mehr Gelassenheit, da die verschiedenen deutschen Ideen in dieser Richtung noch »very confused« seien. Verteidigungsminister Strauß hatte seinem britischen Kollegen während seines London-Besuchs ausdrücklich versichert, dass man mit Blick auf die eigenen personellen und finanziellen Möglichkeiten den ursprünglich angedachten Umfang der eigenen Territorialverteidigung bereits von 70 000 auf 30 000 Mann reduziert habe. Außerdem wollte er das zusätzliche Potenzial ganz im Sinne seiner Verbündeten als weitere Reserve für die NATO-Verteidigung verstanden wissen. Auch von Seiten der militärischen Planer klangen die Zukunftsaussichten für das Projekt mittlerweile wesentlich zurückhaltender. So versicherte der verantwortliche Unterabteilungsleiter, Brigadegeneral de Maiziere, dem britischen Militärattache, dass derzeit alle Prioritäten auf der Aufstellung der Einsatzverbände lägen und im Übrigen auch aus seiner Sicht im V-Falle ein

227

228

JP (57), 63 (Final) betr. Treffen des deutschen mit dem britischen Verteidigungsminister in London, 21.5.1957, PRO, DEFE 4/97, COS (57) 40. Briefwechsel Sir Frank Roberts (U.K. Delegation NATO) mit Viscount Hood (Foreign Office), 22. bzw. 31.5.1957, PRO, FO 371/130 777.

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dann verfügbarer deutscher Grenzschutz nur unter NATO-Kommando einsetzbar wäre. Jedenfalls sah Sir Christopher Steel momentan keinen Handlungsbedarf Londons, da weder definitive deutsche Pläne vorlagen, noch zu erwarten war, dass die WEU oder der SACEUR einer rein nationalen Grenzstreitmacht der Bundesrepublik zustimmen würden, falls Strauß, wie beabsichtigt, mit einem entsprechenden Antrag hervortreten sollte 229 . Im Herbst 1957 verglich man schließlich bei Fü Η in einer Studie zur Grenzsicherung Voraussetzungen und Realisierungsmöglichkeiten miteinander 230 . Danach konnte man die momentan vorhandenen Kräfte von Polizei und BGS an der Grenze nur als eine Art »Frühwarnsystem« bewerten. Wollte man von dieser reinen Grenzüberwachung zu zeitlich und örtlich begrenzter Verteidigung kommen, dann mussten die angedachten Grenzsicherungsverbände schrittweise von Überwachungseinheiten über Sperrverbände für die Sicherung eines durchlaufenden Sperrsystem bis zu einsatzfähigen Grenzsicherungsverbänden aufwachsen. Als Rückhalt dieser Verbände sollte ein durchgängiges Sperrsystem dienen, das parallel zur Grenze verlaufen würde und in Anpassung an die Geländegegebenheiten aus einer ganzen Serie örtlicher Sperren - von Drahtüber Baum- bis Minensperren - bestehen sollte, die an besonders gefährdeten Stellen durch den Bau von Panzergräben zusätzlich zu verstärken waren. Für die grenznahe Unterbringung der Verbände im Einsatz wurde zudem der Bau von Feldbefestigungen als »dringend notwendig« angesehen, aus denen man weniger gegen herkömmliche Streitkräfte kämpfen, sondern in denen man vor allem Schutz im Atomkrieg finden konnte. Mit Blick auf ein flächendeckendes System an Sperren regten sich freilich bei den verantwortlichen Kommandeuren schnell Bedenken gegen einen allzu ausgedehnten Einsatz von Minen. Bei dem unterstellten rigorosen Umgang eines russischen Gegners mit Menschenopfern ging man nämlich davon aus, dass sich dieser Angreifer nicht lange mit dem Aufspüren und Aufnehmen von Minen aufhalten, sondern deutsche ansässige Bevölkerung oder Kriegsgefangene zur Öffnung von Schneisen über solche Minenfelder treiben mochte. Wohl konnte man sich dadurch selbst nicht völlig dieses Kampfmittels begeben, sein Einsatz musste aber sehr sorgfältig und konzentriert geplant werden 231 . Vor dem Hintergrund von kritischen Stimmen aus den betroffenen Regionen, in denen die hohe Zahl schon im Frieden vorbereiteter Sperren nicht unerkannt geblieben war, entschloss sich Fü Β daher schon im Sommer 1959 zu einer Anordnung, »daß bei Anträgen auf Errichtung neuer vorbereiteter Sperren - auch aus Gründen politischer Schwierigkeiten - ein strenger Maßstab anzulegen ist«. Durchgeführte Uberprüfungen hatten nämlich ergeben, dass auch aus militärischer Sicht eine beträchtliche Zahl davon als »unzweckmäßig« zu betrachten

229 230 231

Steel an Viscount Hood, 5.7.1957, ebd. Inhaltsangabe Studie »Grenzsicherung«, Oktober 1957, BA-MA, BW 2/2668, Bl. 90-93. Anfrage III. (GE) Korps mit entsprechenden Bedenken an Fü Η und dessen Antwort, 25.3. bzw. 6.5.1959, ebd., BH 1/27520.

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war. Deshalb sollte man sich bei künftigen Planungen strikt auf den unmittelbarsten Grenzraum und das dringende Erfordernis zur Absicherung einer konkreten Verteidigungsstellung beschränken 232 . Die Stärke der aufzubauenden Grenzsicherungsverbände von jeweils 1000 Mann sollte sich aus 35 % festen Kadern, 40 % Reservisten, die in jährlichen 8Wochen-Kursen einsatzfähig gehalten wurden, und den restlichen 25 % Einzuberufenden im Alarmfall zusammensetzen. Geführt werden sollten sie von Brigadestäben, die jeweils drei bis vier Grenzsicherungsbataillone mit zwei Unterstützungsbataillonen (Versorgung und Pioniere) zusammenfassen würden. Hier deuteten sich die späteren Heimatschutzbrigaden bereits in Ansätzen an233. Die Frage war freilich, wie man dem anspruchsvollen Ziel einer derartigen Grenzsicherung überhaupt personell und materiell gerecht werden wollte, hatte man doch noch alle Hände voll zu tun, die zugesagten NATO-Verbände auch nur einigermaßen zeitgerecht und einsatzfähig aufzubauen. Da beim Heer dafür weder Unterkünfte noch Stammpersonal verfügbar zu machen waren, blieb nur eine »realisierbare Minimal-Lösung«. Danach sollte jedes der zwölf grenznahen Grenadierbataillone zunächst einen Ausbildungszug bereitstellen, der ab 1959 jährlich 2000 Mann für die allmählich aufwachsenden Grenzschutzverbände auszubilden hatte. Wieder einmal dachte man dabei auch an den BGS, bei dem sofort zwölf kasernierte Bataillone mit insgesamt 7000 Mann greifbar waren, die im Frieden als Kader- und Ausbildungstruppe, im V-Fall als Grenzsicherungsbataillone verwendet werden konnten234. Mochte der Generalinspekteur dies als eine »sehr gute, nüchterne Studie« bewerten, die zur Grundlage für weitere Untersuchungen und künftige Planungen gemacht werden sollte235, so stand dem allerdings eine ganz anders gelagerte Interessenlage des BMI entgegen, die Heusinger natürlich kannte. Schließlich hatten die Besprechungen darüber zwischen Bundeswehrführung und den Verantwortlichen für Zivilverteidigung das BMVg seit 1956 immer wieder mit der grundsätzlichen Position des BMI konfrontiert, dass der BGS als »bundeseigene Polizeitruppe« dringend für die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung unter den chaotischen Bedingungen eines möglichen Atomkrieges gebraucht wurde und damit für militärische Zwecke nur noch sehr bedingt zur Verfügung stehen konnte. Im Herbst 1956 hatte man sich dann auf einen zeitweiligen Kompromiss geeinigt, der wesentlich mit den internationalen Spannungen dieser Monate zusammenhing. Danach würden die BGS-Verbände bei einem Überraschungsangriff vor und während der ersten Kampfhandlungen an der Feindaufklärung und den Abwehrkämpfen teilnehmen. Für ihre polizeilichen Aufgaben sollten sie zwar »frühestmöglich«, aber eben erst »sobald es die militärische Lage erlaubt«, herausgelöst werden. Es würde dabei dem verant232 233 234

235

KTV an WBK I-VI u n d die DBv bei NORTHAG u n d CENTAG, 17.7.1959, ebd. Vgl. hammerich u.a., Das Heer (Beitrag Rink). Inhaltsangabe Studie »Grenzsicherung«, Oktober 1957, BA-MA, BW 2/2668, Bl. 90-92; Hervorhebung - Unterstreichung - im Original. GenlnspBw an Fü H, 14.10.1957, ebd., Bl. 94.

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wortlichen Wehrbereichsbefehlshaber obliegen, nach Maßgabe der militärischen Lage und den Verpflichtungen aus der MC 36 - Aufrechterhaltung der Operationsfreiheit für die NATO-Truppen - über »die Vordringlichkeit weiterer militärischer Maßnahmen« unter Mitwirkung des BGS zu entscheiden. Von dieser Vereinbarung war das BMI jedoch schon Anfang 1957 einseitig wieder abgerückt und hatte sich den Zeitpunkt der Rückführung von BGS-Verbänden ins Landesinnere zum Zwecke der Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit selbst vorbehalten236. Der Grunddissens über den Vorrang gemeinsamer militärischer Aufgaben oder der spezifischen Ordnungsfunktion des BGS als Bundespolizei war auch bei einer neuerlichen Suche nach einem Kompromiss auf Staatssekretärsebene im Sommer 1957 nicht abzubauen gewesen237. Im BMVg berief man sich auf den Gesetzesauftrag des BGS, das Zonenrandgebiet zu überwachen, der sich im Kriegsfalle erst dann erübrigt haben würde, wenn im Grenzraum von den militärischen Kommandeuren die Verantwortung für die weiteren Operationen übernommen wurde. Dabei war es schon aus psychologischen Gründen schwer denkbar, dass man die BGS-Verbände bereits während einer Spannungszeit aus den Grenzräumen herauslöste, da dies mit einer »verheerenden Wirkung auf die Haltung der Grenzbevölkerung« verbunden sein würde. Die »Gefahr einer Massenflucht«, die alle Maßnahmen zur militärischen Landesverteidigung wie zum zivilen Bevölkerungsschutz in Frage stellen musste, würde nämlich die absehbare Folge sein. Schließlich war eine ganze Serie von Nadelstichen als östliche Testoperationen unterhalb der Ebene eines offenen Krieges denkbar, die nicht einseitig vom Westen durch Truppeneinsatz militärisch eskaliert werden sollten, also über einen längeren Zeitraum allein mit BGS-Mitteln steuerbar bleiben mussten. Verhandlungsziel des BMVg mit dem BMI musste es von daher sein, die BGS-Verbände vor und in der ersten Phase von Kampfhandlungen im Grenzraum zu behalten und mit Beginn militärischer Einsätze unter Bundeswehrkommando zu stellen. Erst wenn die militärische Lage dies erlaubte, sollte diese Verbände wieder in die Zuständigkeit des BMI überführt werden. Außerdem musste man anstreben, dass die BGS-Verbände dazu angemessen mit Panzerabwehrwaffen ausgestattet wurden. Darüber hinaus brauchte man wegen der Engpässe im Heer Ausbildungs- und Unterbringungskapazität des BGS für den Aufwuchs der angedachten Grenzsicherungsbataillone 238 . Die Auffassungsunterschiede zum BMI ließen sich mit einem derartigen Katalog von Forderungen des BMVg freilich nicht ausräumen. Weil sich dabei die Bundeswehrführung immer wieder auf die Vereinbarung aus der Ungarnkrise vom November 1956 berief, die ein Zusammenwirken grenznaher Bundeswehreinheiten mit dem BGS zur Bereinigung von Grenzzwischenfällen ab 236

237 238

Aufzeichnung Fü Β III 5 betr. Verwendung des Bundesgrenzschutz im Kriege, 19.5.1958, ebd., BW 2/3889; Hervorhebungen - Unterstreichungen - im Original. Tagebucheintrag de Maiziere über Gespräch beim BMI, 16.7.1957, ebd., Ν 673/v. 23, Bl. 34. Inhaltsangabe Studie »Grenzsicherung«, Oktober 1957, ebd., BW 2/2668.

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einer polizeilich nicht mehr zu bereinigenden Größe vorgesehen hatte, forderte Staatsekretär von Lex nunmehr eine Aufhebung dieser Übereinkunft, da sie nach beiderseitigem Eindruck nicht mehr den Notwendigkeiten entsprach239. Im BMVg suchte man dagegen weiterhin dringend nach einer Regelung der Befehlsführung im Falle einer notwendig werdenden, gemeinsamen militärischen Sicherung des Grenzgebietes, da die NATO die Verhältnisse an der innerdeutschen Grenze im Falle eines östlichen Überraschungsangriffs nach wie vor für zu unorganisiert ansah und deshalb endlich eine »einheitliche Befehlsführung« forderte 240 . Dagegen sorgte man sich im BMI um die Erfahrungen aus ΝΑΊΌGroßübungen, bei denen der BGS schon in der ersten Phase von Kampfhandlungen zu zwei Dritteln zerschlagen wurde, mithin für seine folgenden rückwärtigen Aufgaben weitestgehend ausfiel241. In einer neuerlichen Besprechung auf Staatssekretärsebene musste Fü Β schließlich erleben, wie sich die beiden Spitzenbeamten letztlich im Grundsatz einig waren, dass die Hauptaufgabe des BGS unter Einsatzbedingungen bei der Aufrechterhaltung der inneren Ordnung zu liegen hatte. Unter diesen Umständen musste sich der Vertreter des Fü B, Brigadegeneral von Hobe, mit einem Kompromiss abfinden, der sehr nahe an den Wünschen des BMI lag. Danach würde der BGS nur noch in einer Übergangszeit bis zum Aufwuchs der militärischen Grenzsicherungsverbände bei Kriegsbeginn in vorderster Linie benötigt, wobei die Kräfte der Bundeswehr dafür allerdings voraussichtlich erst ab 1962 aufgebaut werden konnten. Bis dahin sollte der BGS so lange im Grenzeinsatz bleiben, bis er durch militärische Verbände abgelöst werden konnte. Auch in diesem Falle würden allerdings nur noch Teile der BGS-Verbände am Feind bleiben, die Masse dagegen frühzeitig für ihre eigentlichen Aufgaben zurückgezogen werden 242 . Im BMVg konnte man sich damit abfinden, weil auch dem BGS im Falle eines Überraschungsangriffs gar nichts anderes übrig bleiben würde, als mit den NATO-Kampfverbänden schrittweise und kämpfend nach rückwärts auszuweichen. Konnte man also auf den BGS für den aktiven Grenzschutz im Verteidigungsfall nur in sehr begrenztem Maße zurückgreifen, so regte WBKI (Kiel) seit Jahren einen anderen Ansatzpunkt dafür an, wie man durch die Aktivierung regionalen Eigeninteresses schon jetzt einen wesentlichen Schritt vorankommen mochte: über die Schaffung einer »Heimatverteidigung« auf freiwilliger Basis in enger Anlehnung an die Territorialverbände. Einen besonders neuralgischen Eckpunkt der deutschen Verteidigungsplanung stellte die Südgrenze von Schleswig-Holstein dar. Ein schneller Durchstoß auf Hamburg würde nämlich nicht nur diese Millionenstadt mit dem größten deutschen Überseehafen in die Hand des Gegners fallen lassen. Damit wäre gleichzeitig das nördlichste Bundesland vom restlichen Bundesgebiet abgeschnitten und 239 240

241 242

Staatssekretär von Lex (BMI) an BG von Hobe (Fü B), 6.6.1959, ebd., BW 2/3889, Bl. 184. Speidel (LANDCENT) an Strauß, 5.4.1960, ebd., BW 2/20.373; ähnlich hatte Fü Β III bereits im Sommer 1959 argumentiert, 10.6.1959, ebd., BW 2/2443. Bericht der deutschen Delegation bei SIDE STEP, 15.1.1960, ebd., BW 2/262. Vermerk über die Besprechung BMI - BMVg, 19.5.1960, ebd., BW 2/2538, Bl. 120-127.

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seine Versorgung zum kaum lösbaren logistischen Problem gemacht worden. Alle Überlegungen zu einer wesentlichen Verstärkung der deutschen aktiven Verbände nördlich der Elbe waren bislang freilich ebenso gescheitert wie die Forderungen an den dänischen Partner, seine Jütland-Division weiter nach Süden vorzuschieben 243 . Andererseits war in Schleswig-Holstein seit dem 19. Jahrhundert ein ausgeprägtes Nationalgefühl wach gehalten worden, auf das man sich im WBKI auch jetzt wieder abstützen zu können glaubte. Im Einvernehmen mit der Kieler Landesregierung und dem Hamburger Senat hoffte man deshalb auf eine breite Bereitschaft, neben Bundeswehr und Territorialverbänden eine zusätzliche freiwillige »Landeswehr« nach skandinavischem Beispiel aufbauen zu können. Sah man einmal von den Kommunisten ab, dann mochte es hier noch am ehesten gelingen, auf parteiübergreifender Basis einen eingetragenen Verein unter der vorgeschlagenen Bezeichnung »Vereinigung für Heimatverteidigung e.V.« ins Leben zu rufen. Ein Aufruf renommierter, möglichst nicht parteipolitisch gebundener Persönlichkeiten sollte dazu den öffentlichen Startschuss geben, um aus dem erwarteten freiwilligen Aufgebot als erstes den Objektschutz an der innerdeutschen Grenze und im Landesinneren zu verstärken. Schrittweise würde man die leichtbewaffneten, aber mit Panzerabwehrwaffen ausgestatteten Verbände dann in die Sicherung vorbereiteter Sperren im Grenzgebiet einbeziehen und schließlich zu kampfkräftigen Sicherungsund Sperrverbände im Mob-Falle aufwachsen lassen können. In einer angedachten Stärke von etwa 26 000 Mann ließ dies eine wirksame Verstärkung der Grenz- und Küstenverteidigung wie des Schutzes wichtiger Objekte im Hinterland gegen Sabotage und feindliche Kommandounternehmen erwarten244. Mit derartigen Gedankenspielen kam man nicht nur den Absichten der Bundeswehrführung auf eine frühzeitige Vorverschiebung der Verteidigungslinien entgegen, sie ließen sich auch nützlich zur Abmilderung wachsender alliierter Kritik an den langsamen Fortschritten bei der deutschen Territorialverteidigung insgesamt verwenden. Dass man nämlich in der NATO allmählich die Geduld mit den ständigen Verzögerungen des deutschen Partners bei der vollen Übernahme seiner Verpflichtungen aus der MC 36 zu verlieren begann, bekamen die Mitspieler von KTV im Herbst 1959 bei den Übungen SIDE STEP (17.-25. September 1959) und HOSTAGE JAUNE (17.-20. November 1959) auf ganzer Breite zu spüren. Bei der CENTAG wie bei der NORTHAG machten die Befehlshaber geltend, dass man vier Jahre nach dem Start des Bundeswehraufbaus endlich auch mit einer voll einsatzfähigen Territorialorganisation rechnete und deshalb Verbände als reine Spielannahmen nicht mehr mitzählte. Aus Mangel an deutschen Territorialverbänden musste ein breiter Streifen deutschen Rückwärtigen Gebietes, also die eigentliche Versorgungszone der ostwärts des Rheins eingesetzten NATO-Verbände, nahezu ausnahmslos von holländischen, 243

Vgl. Teil 2, Kap. I.I., S. 265-267. :« YVBK I/G 3: Vorschlag f ü r A u f b a u einer die NATO-Streitkräfte e r g ä n z e n d e n Heimatverteidigung, 1.9.1959, BA-MA, BH 25/171.

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belgischen und französischen Sicherungsverbänden gesichert werden, die damit für Sicherungsaufgaben in den eigenen Ländern fehlten245. Kamen die Deutschen nicht in Bälde voran, dann ließ man auf Seiten der NATO-Kommandeure sogar erkennen, dass man im Einsatz eben Teile der vollziehenden Gewalt den national Verantwortlichen vor Ort entziehen musste. Mit Blick auf die eigenen Nationalmilizen in den meisten NATO-Staaten trafen da jedenfalls deutsche Überlegungen zugunsten von Heimatschutzverbänden auf der Basis von Bürgerwehren durchaus auf Verständnis246. Das Dilemma einer national verstärkten Vorwärtsverteidigung blieb damit freilich unaufgelöst. Bei der Übung SIDE STEP im Herbst 1959 musste man im Fü Β nämlich neuerdings realisieren, dass nach wie vor alle Fortschritte zugunsten einer Aufnahme der Verteidigung ostwärts des Rheins zunächst einmal mit der Aufgabe von beinahe 50 % des eigenen Territoriums erkauft werden mussten247. Andererseits stand aber gerade aus dem BMI die Forderung im Raum: »Eine Verteidigung, die nicht darauf angelegt ist, einen feindlichen Angriff in unmittelbarer Grenznähe zum Stehen zu bringen, ist für die zivile Seite untragbar.« Nur musste Generalinspekteur Heusinger bei der Übungsauswertung vor dem Verteidigungsausschuss klar machen, dass derzeit allein der »Block zwischen Main und Kassel« unbedingt vorne verteidigt würde, da anderenfalls die Gefechtsführung der NATO auf dem Gebiet der Bundesrepublik bei Frankfurt a.M. von vornherein in zwei Hälften auseinanderbrach. Nördlich und südlich davon konnten die Deutschen bei der vorhandenen Überlegenheit eines Angreifers nur für ihr Konzept einer »beweglichen Verteidigung« werben - und das sah eben zum Erhalt der eigenen operationsfähigen Verbände ebenfalls weiträumige Ausweichmanöver vor248. Mehr als eine »Halb-Vorwärtsverteidigung«, das stellte der scheidende CINCENT Valluy zeitgleich heraus, war mit den vorhandenen Kräften schlicht nicht zu realisieren249. Von daher musste auch Heusinger eingestehen, dass letztlich der Begriff »Vorwärtsverteidigung« eine Schimäre war. Schließlich suggerierte er ganz im Sinne der frühen Forderungen Kurt Schumachers250 ein Vortragen des Krieges auf das Territorium des Gegners zur Schadensbegrenzung im eigenen Lande und nicht lediglich eine grenznahe Verteidigung. Da dies bei dem vorhandenen und auch kaum noch wesentlich über den Aufwuchs der Bundeswehr hinaus zu verstärkenden Streitkräftepotenzial der westlichen Allianz weder derzeit noch in Zukunft zu 245

246

247 248

249

250

So die Kritik des CINCENT an den deutschen Verhältnissen bei der Abschlussbesprechung zu HOSTAGE JAUNE, 11.1.1960, ebd., BW 2/2442 (Verschlusssache). Berichte des G 3 op von KTV, 3.10. und 23.11., sowie der WBK III, IV, V und VI, 28.9.-15.10.1959, ebd., BW 2/2621. Fü Β III 7 zu SIDE STEP, 2.12.1959, ebd., BW 2/2620. Bericht Heusingers zur Lage und Vortrag BG von Hobe zu SIDE STEP, 13.1.1960, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 3. Wahlperiode, 70. Sitzung, Zitate auf S. 55 bzw. 32 f. Stellungnahme AFCENT zu HOSTAGE JAUNE, 18.1.1960, BA-MA, BW 2/2442 (Verschlusssache). Zur strategischen Konzeption Schumachers: Löwke, Die SPD und die Wehrfrage, S. 22-36.

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erreichen sein würde, plädierte der Generalinspekteur für den realistischeren Begriff der »Vorneverteidigung« 251 , also einer Verteidigung an den Grenzen des Bündnisses, und nicht wesentlich darüber hinaus. Doch selbst das war Ende der fünfziger Jahre praktisch Zukunftsmusik, weil die eigenen Divisionen noch nicht aufgestellt, die Verbände der westlichen Verbündeten dagegen bereits nicht unerheblich abgeschmolzen waren. Wie ein Schock musste es da auf den Bundeskanzler wirken, wenn er von seinem unmittelbaren französischen Nachbarn erfahren musste, dass für de Gaulle das deutsche Territorium faktisch den Charakter eines »Glacis« für die westliche Verteidigung abzugeben hatte. Gegenüber dem britischen Premierminister im Frühjahr 1960 und wortgleich im selben Sommer qualifizierte der französische Staatspräsident die militärischen Aufgaben danach so: »Deutschland bildet die Vorhut, Frankreich die zweite Reihe [...], die Hauptkampflinie«, den Briten und den Benelux-Staaten würde die Deckung des Ärmelkanals, den Amerikanern die Rolle als »große Reserve« der NATO zukommen 252 . Da wirkte es denn auch einigermaßen überraschend, wenn sich Verteidigungsminister Strauß und sein französischer Kollege Pierre Messmer im gleichen Frühjahr 1960 über die Bedeutung der Vorwärtsverteidigung und ihre gemeinsame Besorgnis wegen der zögerlichen angelsächsischen Haltung einig waren253. Immerhin war es der Stabschef der U.S. Army und künftige Vorsitzende der Joint Chiefs of Staff unter Kennedy, der öffentlich ein bei weitem zukunftsträchtigeres Plädoyer für effiziente Vorwärtsverteidigung abgab. Bei aller Betonung der globalen Abschreckung sah er die eigentliche Gefahr künftiger Verwicklungen in regional begrenzten Kriegen voraus. Um dagegen gewappnet zu sein, suchte General Lyman L. Lemnitzer nach Möglichkeiten zur »quick reaction to enemy aggression so as to limit the extent of his gains«, und das hieß: Steigerung der herkömmlichen Kampfkraft bei den Präsenzverbänden in Europa einschließlich ihrer jederzeitigen Verstärkung durch schnelle Heranführung von Reserven über ein entsprechend ausgebautes Transportsystem. Das für die Westeuropäer fatale Gegenkonzept dazu sei ein Denken in den Kategorien der »Festung Amerika« und ein Rückzug der U.S.-Truppen aus Ubersee. Dazu schrieb er seinen amerikanischen Zuhörern aber ins Stammbuch: »A >Fortress America< could prove to be as great a delusion as was Hitler's >Fortress EuropeReinforced Alert< den NATO-Kommandobehörden unterstellt, während die TV-Verbände zur Aufrechterhaltung der Operationsfreiheit auf deutschem Gebiet gem. MC 36 unter deutscher Führung blieben. Personell würden die spezifischen Heimatschutzverbände zu 25 % aus Stammpersonal und der Rest aus örtlichen Milizangehörigen bestehen, die mit verkürzter dreimonatiger Ausbildung und Wiederholungskursen einsatzfähig zu machen waren. Die Milizen an den Grenzen mussten »mit starker Abwehrkraft gegenüber Infanterie und Panzern« ausgestattet sein und sich dazu auf vorbereitete Feldbefestigungen und Sperren abstützen können. Dabei wollte man für die besonderen Sperraufgaben im Grenzgebiet auf berufliche Spezialkenntnisse des Einzelnen aufbauen. Priorität sollten Aufstellungen in Schleswig-Holstein und Bayern haben, da sich die Verteidigung in beiden Regionen am schwächsten auf aktive Verbände abstützen konnte. Das Problem bei alledem war freilich einmal mehr, dass durch den Aufbau der Milizen »die planmäßige Aufstellung der Divisionen [...] so wenig wie möglich gestört wird«. Beim allgemeinen Zeitverzug des Bundeswehraufbaus hieß dies aber konkret, dass erst ab 1963 voll mit dem Milizprogramm begonnen und der Abschluss dann nicht vor Ende 1965 erwartet werden konnte.

255 Bewertung der Übung SHAPEX-60 durch den DSACEUR, General Sir Richard Gale, 17.6.1960, BA-MA, BW 2/2107 (Verschlusssache). 256

Gedanken über die Ergänzung unserer Streitkräfte durch eine Miliz, verteilt mit Anschreiben GenlnspBw, 21.6.1960, ebd., BH 1/9489; Hervorhebung - Unterstreichung - im Original.

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Um diesen leichter bewaffneten und mit Mehrheit aus Reservisten zusammengesetzten Grenzsicherungsbataillonen aber neben dem vorgelagerten System von Sperren zusätzlichen Rückhalt im Gelände zu geben, hatte bereits die Fü Η-Studie von 1958 ihre Verstärkung durch Befestigungen angedacht. Der Inspizient der Pioniertruppen im Heeresamt war daher vom Generalinspekteur beauftragt worden, entsprechende pioniertechnische Richtlinien für die Anlage einer so genannten Landesbefestigung zu erarbeiten. Erste konkretere Überlegungen dazu legte er Heusinger und dem Befehlshaber KTV im Sommer 1959 vor257. Natürlich konnte es jetzt nicht mehr darum gehen, einen durchgehenden Festungsgürtel mit dazwischen angelegten Feldstellungen entlang der ganzen deutschen Ostgrenze zu errichten. Darüber war die Waffenentwicklung ebenso hinweggegangen, wie dafür auch die finanziellen Mittel fehlten. Was man dagegen erreichen wollte, war vorrangig ein Schutz von Mann und Gerät gegen die Feuerwirkung einschließlich der Hitze- und Druckwelle bei Atomdetonationen wie gegen ihre Strahlenwirkungen, um die eigene Truppe beim eigentlichen Angriff des Gegners möglichst unversehrt in ihre vorbereiteten Feldstellungen vorführen zu können. Daneben boten die Befestigungen gedeckte Beobachtungs- und Befehlsstellen sowie gut geschützte Versorgungsanlagen. Und schließlich ließen sich aus ihnen die vorbereiteten Sperren im Vorfeld überwachen. Um dabei je nach Hauptangriffsrichtung und Entwicklung der Lage beweglich zu bleiben, konnte man entsprechende Fertigteile als Bauelemente auch kurzfristig herstellen bzw. in so genannten Armierungslagern vorrätig halten, um sie von da aus rasch an den Bedarfsort transportieren zu können. Selbst in dieser reduzierten Form würde eine solche Landesbefestigung allerdings erhebliche Personalprobleme und Materialkosten aufwerfen. Unter den weltkrieggedienten Pionieroffizieren verfügte die Bundeswehr nur noch über ein geringes Reservoir mit Erfahrungen über den Festungspionierdienst. Jüngeren Nachwuchs musste man dagegen aus einer boomenden Bauwirtschaft suchen, wobei ein Lohnvergleich mit der Privatwirtschaft zu Lasten der Soldaten ausgehen würde. Außerdem würde sofort auch das an sich schon leidige Thema zusätzlichen militärischen Landbedarfs im Grenzraum auftreten. Trotz dieser voraussehbaren Schwierigkeiten hielt Heusinger die Ideen des Pionierinspizienten jedoch unter dem Gesichtspunkt der Vorwärtsverteidigung bei möglichst geringer Raumaufgabe für überzeugend genug, um sie nachdrücklich weiterverfolgen zu lassen. Dazu sollte noch im Herbst 1959 eine erste grundlegende Weisung herausgegeben werden. Um die politischen und psychologischen Gegenwirkungen in Grenzen zu halten, war dabei aber an Stelle des Begriffs »Landesbefestigung« die weniger belastende Bezeichnung »feldmäßiger bzw. verstärkt feldmäßiger Ausbau« zu verwenden. Mit besonderer Dringlichkeit war ein Ausbau im Raum Bad Hersfeld - Rhön sowie an der bayerisch-tschechischen Grenze ins Auge zu fassen. Im ersteren Falle ließ sich dadurch die Lücke zwischen hessischen und nordbayerischen Mittelgebirgen 257

Bericht darüber an Fü Β III, 7.7.1959, ebd., BH 1/27520, Bl. 37-43.

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absichern, während eine Befestigung der ostbayerischen Übergangsstellen zum böhmischen Becken den militärisch nur schwach gesicherten bayerischen Raum zur Vorwärtsverteidigung vorbereiten und damit die bisher notwendigen großen Evakuierungen aus Bayern nach Westen einschränken konnte. Für den dafür weniger geeigneten niedersächsischen Raum waren demgegenüber Verminungen in größerem Umfang zu untersuchen. Ganz in diesem Sinne bereitete denn auch schon im Herbst 1959 der Arbeitskreis für Wehrforschung die Öffentlichkeit vorsichtig darauf vor, dass »für eine wohldurchdachte, bewegliche Abwehr [...] Befestigungen als Stütze und Skelett von größtem Wert« seien, weil man damit »eine sinnvolle Verstärkung der Abwehr an unserer Ostgrenze« erreichen könne258. Am weitesten vorangebracht waren bis Frühjahr 1960 die Überlegungen für die ostbayerischen Grenzgebirge. Dies erschien deshalb besonders vordringlich, weil sonst ein vorerst immer noch weites Ausweichen der Kampfverbände an den Neckar letztlich zu einer schnellen Preisgabe von ganz Bayern mit seinen neun Millionen Menschen führen musste. An Stelle eines vorschnellen Rückzugs nach Westen wollte die Bundeswehrführung daher über ein weit nach Osten vorgeschobenes System von tiefgestaffelten und überwachten Sperren, die durch Befestigung zusätzlich gesichert waren, »eine wirkliche Vorwärtsverteidigung« vorantreiben. Im Zusammenwirken von WBK VI (München) und 4. PzGrenDiv (Regensburg) waren dazu seit 1958 Mittel und Möglichkeiten für ein ausdifferenziertes Konzept zur Landesverteidigung in Ostbayern analysiert worden. Als Grundannahme ging man davon aus, dass man sich zwischen Fichtelgebirge und Donau nur auf eine aktive Division (4. PzGrenDiv) abstützen konnte, die wenigstens um sechs Sperrbataillone an den als Übergänge für mechanisierte Großverbände allein geeigneten Senken im Oberpfälzer und Böhmerwald verstärkt werden musste. Die günstigen Geländebedingungen tief eingeschnittener Täler und die geringe Wahrscheinlichkeit eines Hauptangriffs sowjetischer Stoßverbände aus Böhmen gaben solchen Überlegungen zusätzlichen Rückhalt. Operativ konnte man das der in diesem Raum verantwortlichen CENTAG dadurch schmackhaft machen, dass sich damit ein nordbayerischer »Brückenkopf« im Raum Hof behaupten ließ, von dem aus sich im Falle tiefer Einbrüche des Warschauer Paktes nach Nordhessen Gegenoffensiven in deren tiefe Flanke in Richtung Leipzig ansetzen ließen. Gegliedert sollte das Ganze in zwei Grenzabschnittskommandos sein, die über einen vierten Brigadestab an die aktive 4. PzGrenDiv angebunden sein würden. Ausbildungshilfen für die als Mob-Verbände ausgelegten Sperrbataillone konnte die Division in Regensburg allerdings erst ab 1962 leisten. Für die Unterbringung dachte man an zusätzliche Anbauten in den Kasernen der Heeresbataillone für je 200 Mann. Natürlich würde man auch die ansässige Bevölkerung durch frühzeitige Aufklärung auf die geplanten Maßnahmen vorbereiten müssen. Mit besonderen 258 Vortrag auf der Jahrestagung in Bad Godesberg, 22.10.1959, Bechtolsheim, Landesverteidigung, S. 128 f.

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psychologischen Schwierigkeiten rechnete man allerdings nicht, da die Menschen hier an einer »alten« Grenze siedelten 259 . Die Probe aufs Exempel über eine frühzeitige Vorverlegung der Verteidigung an die bayerische Ostgrenze suchte man beim WAR GAME-60 der CENTAG in Oberammergau (30. März-1. April I960) 260 zu machen. Aufgegriffen worden war dafür eine Idee Heusingers, über eine Anlehnung an die ostbayerischen Grenzgebirge als besonders günstige Geländehindernisse nicht nur grenznah verteidigen, sondern eventuell sogar noch Kräfte für anderweitige Aufträge freimachen zu können. Im Zusammenspiel der aktiven CENTAGDivisionen mit neu aufgestellten deutschen Sperrbataillonen und einem dichten Netz angenommener vorbereiteter Sperren an den fünf Haupteinfalltoren Hof, Waldsassen, Waidhaus, Furth i.W. und am Südostrand des Böhmerwaldes sollte ein Einbruch tschechischer Kräfte in Stärke von 230 000 Mann verhindert und der folgenden Hauptangriff von 15 sowjetischen Divisionen um mindestens drei Tage verzögert werden. Um das zu erreichen, hatte man allerdings in erheblichem Umfang Atomminen (ADM) in das Planspiel eingebaut, da sie mit ihrer Sprengwirkung geeignet erschienen, die Höhenränder der tief eingeschnittenen Täler so abzusprengen, dass die Talstraßen durch das frei werdende Geröll unpassierbar gemacht wurden. Gespielt wurde auf einer Frontlänge von etwa 300 km mit dem Einsatz von 60 ADM. Das bedeutete natürlich eine beträchtliche Gefährdung der Zivilbevölkerung, die sich wegen der verbreiteten Armut in der Region hauptsächlich noch mit Fahrrädern fortbewegen musste. Wollte man sie andererseits mit bereitgestellten Transportmitteln wenigstens 14 km von der Sperrlinie entfernt evakuieren, wurde ein Zeitbedarf von mindestens drei Tagen erforderlich. Selbst unter so erheblichem Einsatz atomarer Munition ließen sich aber mit den vorhandenen vier Divisionen der 7. (US) Armee, der 1. (FR) Armee und des II. (GE) Korps nur verzögernde Operationen durchführen. Eine ernsthafte Verteidigung würde selbst unter Einbeziehung atomarer Sperrmittel erst nach der Verstärkung der CENTAG auf sechs Divisionen möglich sein. Insgesamt waren für eine Verzögerung mit den derzeitigen Kräften aber so erhebliche Anstrengungen erforderlich, dass sie schwerlich in einem schnellen und kombinierten zivil-militärischen Kraftakt vorbereitet werden konnten: Zusätzliche Pionier-Materiallager für die Spreng- und Sperrmittel mussten in Bayreuth, Grafenwöhr, Hohenfels, Regensburg und Straubing angelegt werden; die Kampfverbände in Süddeutschland waren durch Umquartierungen näher an ihren Einsatzräumen zu stationieren; der zivile Transportraum in der Region für die Evakuierungen bedurfte der Verstärkung; die benötigten Versorgungsgüter für Truppe und Bevölkerung waren schon im Frieden weiter im Osten auszulagern. Eine schnelle Aushilfe für die angedachte Vorverschiebung der 259

260

Zusammenfassung der Ergebnisse von Besprechungen zwischen 4. PzGrenDiv WBK VI, März I960, BA-MA, BH 1/9489. Zusammenfassender Bericht II. (GE) Korps, 25.4.1960, ebd., BH 1/27.521.

und

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Zweiter Teil: Aufbau der Bundeswehr und modifizierte atomare Abwehrplanung

Verteidigungslinien an die bayerische Ostgrenze war jedenfalls auch damit nicht zu erreichen. Eines hatte das BMVg aber mittlerweile zum Beschluss erhoben: Auf der Basis einer Ministerweisung von Ende 1959 sollte nunmehr zumindest in den beiden besonders von aktiven Streitkräften entblößten Regionen Schleswig-Holstein und Ostbayern die Aufstellung von so genannten »Landeswehren« von den WBKI (Kiel) und VI (München) ernsthaft untersucht werden. Die Federführung sollte gemeinsam bei KTV und Fü Η liegen. Militärisch würde man damit die Abwehrkraft der NATO-Verbände vor Ort zu verstärken und gleichzeitig psychologisch eine »Stärkung des Wehrwillens in der Bevölkerung« zu erreichen suchen. Auch in diesem Falle blieb die Planung allerdings an die vorherige gesetzliche Absicherung gebunden, denn erst nach Verabschiedung einer Novelle zum Wehrpflichtgesetz war überhaupt an die Verwendung von Wehrpflichtigen in diesen Einheiten in kürzeren als sechsmonatigen Übungen zu denken261. Hatte man so eine Verteidigung unter Einsatz atomarer Kampfmittel noch in beiderseitigem Einvernehmen geplant, weil der in Frage stehende Raum relativ dünn besiedelt und die Sperraussichten im Gebirge besonders günstig für eine grenznahe Verteidigung auf dieser Basis erschienen, so stieß ein Verteidigungsplan des neuen CINCENT für den norddeutschen Raum im Herbst 1960 bei den Deutschen auf unverhohlenes Befremden. Um die französischen Divisionen - so die an die Bundesregierung gelangten Alarmmeldungen Blankenborns aus dem Ständigen NATO-Rat - noch weiter nach Westen an die französische Grenze zurückverlegen zu können, stellte General Challe die Einrichtung einer Sperrlinie parallel zum Eisernen Vorhang zur Diskussion, hinter die man die eigene Bevölkerung evakuieren sollte, um innerhalb der freigemachten Zone den Angreifer sofort in volles nukleares Feuer laufen zu lassen. Gegenüber Norstad gab der CINCENT die Idee zwar durchaus zu, relativierte sie aber in ihrem Stellenwert für seine Operationspläne, sobald sie unter Beschuss gerieten262. Aus Sicht von Fü Β hatte der französische General damit nämlich seine in Nordafrika gewonnenen Erfahrungen in einer für einen Kriegsschauplatz Mitteleuropa völlig unbrauchbaren Weise »atomar auffrisiert« 263 . Adenauer mahnte jedenfalls nach seiner Informierung durch General Speidel vorsichtshalber bei de Gaulle persönlich an, dass man in Paris von allen Plänen über strukturelle Veränderungen bei den französischen Streitkräften in Deutschland Abstand

261 262

263

Fü Β III 5 an KTV und Fü Η betr. Aufstellung einer Landeswehr, 1.2.1960, ebd., BH 25/171. Information Blankenborns an Außenminister von Brentano über die französischen Rückzugspläne, Schwarz, Adenauer, Bd 2, S. 582 sowie Planungen Challes unter der Bezeichnung DOUBLE BARRAGE und sein Gespräch darüber mit Norstad, 28.9. bzw. 4.10.1960, BA-MA, BW 2/2546. Chef des Stabes Fü B, GM Schnez an Strauß, 16.8.1960; vgl. auch einen Bericht über den deutsch-französischen Dissens des britischen NATO-Botschafters Sir Frank Roberts vor den BCOS, 4.10.1960, PRO, DEFE 32/6, COS (60) 61.

IV. Die beginnende Flexibilisierung der NATO-Strategie

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nehmen solle, da die Bundesrepublik unter allen Umständen auf eine integrierte Vorwärtsverteidigung angewiesen sei264. Letztlich kamen alle derartigen Überlegungen in der Phase einer massiven Vergeltungsstrategie nicht über den Status von Gedankenspielen hinaus. Ins Positive gewendet, signalisierten sie ein Denken in den Kategorien schadensmindernder Verteidigungsplanung für die Bundesrepublik, um Vorwärtsverteidigung wenigstens ansatzweise auch schon dann realisieren zu können, wenn dafür noch die Streitkräfte fehlten. Grundsätzlich fanden solche Planspiele bei der NATO-Führung durchaus Anklang, soweit sie über ihre Verzögerungswirkungen Zeitgewinne für die eigentliche Operationsführung auf deutschem Boden versprachen. Zu keinem Zeitpunkt resultierte daraus aber eine erkennbare Bereitschaft, die Prioritäten einer auf dem Einsatz taktischer Atomwaffen aufgebauten Operationsplanung im Bündnis in Frage stellen zu lassen. Das erwarteten in diesen Jahren wohl auch die deutschen Militärplaner nicht wirklich. Aus NATO-Sicht mochte man dieser Art von grenznaher Heimatverteidigung allenfalls die Qualität ergänzender Maßnahmen beimessen, und selbst das nur in dem Maße, wie dadurch nicht das Hauptanliegen der Allianz gestört wurde: der möglichst rasche Aufwuchs der deutschen Präsenztruppen und ihrer Abstützung auf Territorialverbände zur Sicherstellung der Operationsfreiheit auf dem Bundesgebiet. Genau daran krankte aber auch ihre Umsetzung im Innern, da die Mittel für die Verteidigungsplanung bereits durch die Gleichzeitigkeit von Streitkräfteaufbau, Aufstellung von Territorialverbänden und Forderungen nach einer flächendeckenden Zivilverteidigung so extrem ausgelastet waren, dass für einen vierten personellen wie materiellen Bedarfsträger, einer zur Heimatverteidigung befähigten Miliz, kaum noch Nennenswertes übrig blieb. Eine wirkliche Alternative zur NATO-Planung konnten solche nationale Anstrengungen mithin in den Aufbaujahren der Bundeswehr nie wirklich abgeben.

264

Gespräch darüber zwischen Speidel und dem Bundeskanzler, 23.9., sowie Schreiben Adenauers an de Gaulle, 8.10.1960, Schwarz, Adenauer, Bd 2, S. 581-583, bzw. Soutou, De Gaulle, S. 500.

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung Bei der jährlich im NATO-Hauptquartier abgehaltenen Übung auf oberster Führungsebene (Command Post Exercise, CPX) suchten sich die Teilnehmer im Frühjahr 1955 einen Überblick über die in einem Krieg voraussichtlich auf beiden Konfliktseiten zum Einsatz kommenden Atomwaffen zu verschaffen. Das Ergebnis wies der NATO zwar immer noch ein deutliches Übergewicht zu, war mit Blick auf die Möglichkeiten einer Begrenzung der davon zu erwartenden Schäden auf Bündnisgebiet freilich trotz allem mehr als ernüchternd: Einsatz von Atomwaffen bei CPX 5, Frühjahr 1955 Zeitraum

Einsatz durch NATO

Einsatz durch UdSSR

1. Ubungstag 2.-3. Ubungstag

1500 1800

800

Insgesamt

3300

800

-

Quelle: Wampler, Ambiguous Legacy, S. 683

Vor diesem Hintergrund breitete sich bei den Übungsteilnehmern unverkennbare Frustration über den Grad an Zerstörung aus, den der Westen hinzunehmen haben würde, selbst wenn er bei seiner zu diesem Zeitpunkt noch unbestritten hohen atomaren Überlegenheit dem Gegner bei weitem höhere Verluste beizubringen vermochte. Der anwesende britische Militärpublizist Sir Basil Liddell Hart brachte die Stimmung auf den Punkt: Unter diesen Umständen würde letztlich alles darauf hinauslaufen, »that >victory< lost its point« 1 . Wohl war das operative Ziel auf einem mitteleuropäischen Schlachtfeld vorrangig darauf ausgerichtet, die angreifenden Kampfverbände des Warschauer Paktes wenn nötig unter Ersteinsatz taktischer Atomwaffen der NATO - zu vernichten und dazu auch die militärisch wichtigen Objekte rückwärts der Angriffstruppen auszuschalten. Dass man sich dazu nur »im geographisch begrenzten Bereich« bewegen und außerdem »unter möglichst weitgehender Schonung der Zivilbevölkerung« 2 vorgehen wollte, war allgemeine Richtlinie. In jedem Falle würde aber der Einsatz zunächst einmal an den eigenen operativen Zielsetzungen und nicht vorrangig am Bevölkerungsschutz ausgerichtet sein. Da mochte Zit nach Wampler, Ambiguous Legacy, S. 683. So Steinhoff/Pommerin, Strategiewechsel, S. 61.

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etwa der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes dem Bundeskanzler unter Verweis auf die 4. Genfer Konvention zum Schutz der Zivilbevölkerung (12. August 1949)3 die Einrichtung so genannter »Sanitäts- und Sicherheitszonen« abfordern und dazu entsprechend erfolgreiche Erfahrungen aus den letzten Kriegsjahren vorstellen 4 . Allein die Masse der flächendeckend zum Einsatz kommenden Atomwaffen - das hatte die Übung CARTE BLANCHE im zurückliegenden Sommer bewiesen und künftige NATO-Übungen sollten dies in vollem Umfang bestätigen - machte derartige Erwartungen und Hoffnungen schlicht illusorisch. Mit allem Realismus sollte Präsident Eisenhower seinem Nationalen Sicherheitsrat Anfang 1956 Liddell Harts Befund aus der CPX 5 bestätigen, dass »no one is going to be the winner in [...] a nuclear war. The destructions might be such that we have ultimately to go back to bows and arrows5.«

1. Das zentrale Ziel: Verteidigungsplanung und Schadensbegrenzung im Atomkrieg Um sich über den Grad der auf westdeutschem Territorium zu erwartenden Schäden ein erstes Bild machen und von da aus Einfluss auf die atomare Planung im westlichen Bündnis nehmen zu können, erstellte man bei Fü Β noch Anfang 1956 eine so genannte »Karte der Empfindlichen Punkte«6. Gestützt auf die Unterlagen der einzelnen Fachministerien, suchte man darin zu einer »Gesamtbeurteilung des Lebens- und Wirtschaftsraumes der Bundesrepublik« zu kommen. Sie sollte die Grundlage für die nationalen Schutzvorkehrungen abgeben und gleichzeitig die eigenen Vorstöße beim Bündnis zugunsten einer schadensbegrenzenden Einsatzplanung untermauern. Analysiert wurden dazu die Siedlungsdichte und die wirtschaftliche wie versorgungstechnische Infrastruktur. Nahm man dabei unter dem Gesichtspunkt ihrer besonderen Gefährdung die Ballungsräume und das Zonenrandgebiet als sofortige Kampfzone zusammen, dann waren von den 50 Millionen Einwohnern der Bundesrepublik etwa 60 % als »besonders gefährdet« anzusehen. Ähnliches galt für die wirtschaftliche Lage: Entlang einer Lebenslinie vom Stuttgarter Raum über das Rhein-Main-Gebiet und das Ruhrgebiet bis in den Raum Hannover-Braunschweig-Kassel ballten sich die Wirtschafts- und Versorgungszentren in einer Dichte, dass sie den Einsatz feindlicher Flächenwaffen geradezu herausfordern mussten. Hinzu kamen im Süden das Städtedreieck 3 4 5 6

Text der 4. Genfer Konvention, 12.8.1949: Völkerrecht, Bd 2, S. 2069-2125. DRK-Präsident Weitz an Adenauer, 22.12.1955, BA-MA, BW 2/2663. NSC-Sitzung, 13.1.1956, zit. nach Dockrill, Eisenhower's New Look, S. 193. BMVg IV/A betr. Beurteilung der Karte der Empfindlichen Punkte der BR, 4.2.1956, BAMA, BW 17/26.

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung

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München-Augsburg-Nürnberg und im Norden die Hafenstädte Bremen, Hamburg, Lübeck und Kiel. Je nach Verschränkung der eigenen Truppen mit den gegnerischen Angriffsverbänden mussten auf deutschem Gebiet zusätzlich aber auch die wesentlichen Zielpunkte für das eigene atomare Abwehrfeuer liegen, selbst wenn man die NATO von deutscher Seite zu einem zurückhaltenden Einsatz zu bewegen versuchen würde. Da sich zu diesem Zeitpunkt der Schwerpunkt des Massenverkehrs noch auf der Schiene bewegte - der Straßenverkehr litt unter den schlecht ausgebauten Ost-West- im Unterschied zu den günstiger gestalteten Nord-Süd-Verbindungen - würden außerdem zwei Drittel der wichtigsten Eisenbahnknotenpunkte wegen ihrer Lage in bzw. bei Ballungszentren ebenfalls schwer luftgefährdet sein. Bei einem erwarteten schnellen Durchstoß feindlicher Angriffsverbände auf Hamburg und Frankfurt a.M. sowie einer weitgehenden Zerstörung der Rheinbrücken würde die Bundesrepublik mithin schon in den ersten Kriegstagen in vier Kampf- und Versorgungsinseln aufgespalten sein: Schleswig-Holstein, Nord- und Süddeutschland beiderseits der Linie Fulda-Frankfurt a.M. sowie Westdeutschland westlich des Rheins. Ausweichräume für die Bevölkerung in dünner besiedelten Regionen standen nur in begrenztem Maße zur Verfügung, so dass man günstigstenfalls lokale Auflockerungen anstreben konnte: in den Mittelgebirgen Westfalens, Hessens und Baden-Württembergs sowie in Teilen Südbayerns und im Emsland. Dabei geriet man freilich sofort in die Stationierungs- und Aufmarschräume der NATO-Verbände, die gerade hier stärker als in den Ballungsräumen untergebracht waren bzw. noch werden sollten. Größere Flüchtlingsmassen würde man dagegen, wenn die weniger dicht besiedelten NATO-Partner dies akzeptierten, über die Grenzen nach Westen und Norden abfließen lassen müssen. Ein wirksamer flächendeckender Schutz gegen die Luftbedrohung, die immer zugleich atomare Gefährdung bedeutete, so das Fazit der militärischen Planer, würde von daher »nur teilweise« möglich sein. Insgesamt blieb die Bundesrepublik nämlich wegen ihrer Vorfeldlage im atlantischen Bündnis durchgängig »Kampfzone«, in der die hohe Bevölkerungs- und Wirtschaftsdichte sowie die extrem anfälligen Verkehrs-, Kommunikations- und Versorgungsstrukturen »insbesondere in einem Atomkriege« gerade für eine zivile Landesverteidigung kumulative Schadenswirkungen verursachen mussten. In dem Maße, wie sich seit 1956 die Erkenntnis von einer Kriegführung unter atomaren Bedingungen endgültig auch in der Bundeswehrführung durchsetzte, suchte Fü Β in einer Reihe von Vorträgen und Grundsatzpapieren 7 dafür zunächst einmal die bewusstseins- und ausbildungsmäßigen Voraussetzungen zu schaffen. Erste Ansprechpartner dafür waren das Offizierkorps in den Sonthofener Weiterbildungslehrgängen sowie die nunmehr mit Priorität eingerichteten Wehrbereichskommandos der Territorialen Verteidigung. Als Grundannahme ging man 7

Zentrale Sammlung dazu seitens der Militärabteilung an die Kommandostäbe WBK I-VI, 5.2.1957, ebd., BW 17/22.

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dabei im BMVg wie bei der NATO von der hohen Wahrscheinlichkeit aus, dass die Sowjetunion, sollte sie sich trotz aller Abschreckungsmaßnahmen des Westens dennoch zu einem Angriff entschließen, diesen ihrerseits durch einen weltweiten und schlagartigen Einsatz ihrer Atomwaffen einleiten würde. Damit mussten aber auch alle Vorkehrungen für die zivile Notstandsplanung diesen schlimmsten denkbaren Fall ins Zentrum jeder weiteren Planung rücken. Für die Bundesrepublik hieß das, dass sie unter solchen Voraussetzungen binnen kürzester Zeit mit einer »strukturauflösenden Wirkung« konfrontiert sein würde. Ihr Territorium würde nicht nur in mehrere Teile zerrissen sein, auf diesen »Inseln« würde man auch zumindest zeitweilig mit einer »weitgehenden Desorganisation und Stagnation aller Bewegungen« zu rechnen haben. Nur der hoher Stand einer schon im Frieden vorbereiteten Zivilverteidigung konnte deshalb das völlige Chaos verhindern. Daraus begründete sich auch die von nun an verwendete Sprachregelung, die den Begriff der herkömmlichen »Heimatverteidigung« durch die weitergehende Absicht zur »Landesverteidigung« ersetzte, um den unauflösbaren Zusammenhang von militärischer Verteidigung und ziviler Notstandsvorsorge in den Köpfen aller Beteiligten zu verankern. Ziel eines umfassenden Maßnahmenbündels dazu sollte es sein, möglichst große Teile des Bevölkerungs- und Wirtschaftspotenzials zu erhalten, um beides nach ersten Bestandsaufnahmen der eingetretenen Schäden wieder nutzbar machen zu können für eine Weiterführung des Krieges. Dazu unterschied man den aktiven militärischen Schutz der wirtschaftlichen Kraftquellen und der lebens- wie verteidigungswichtigen Funktionen des Staates von den passiven Schutzvorkehrungen für das Überleben der Bevölkerung und ihre Versorgung. Die Enge des westdeutschen Raumes und die Dichte seiner Bevölkerung und Infrastruktur ließen dabei keine herkömmliche Trennung von Front und Heimat mehr zu; alle militärischen wie zivilen Dienststellen hatten sich deshalb die »Unteilbarkeit der Verteidigung« bewusst zu machen. Von daher würden der Ausbildung des soldatischen Führungspersonals ab Februar 1957 unmittelbare Einweisungen des Spitzenpersonals in den Regierungen und Verwaltungen auf Länderebene folgen müssen, um auch hier einheitliche Handlungsmaximen für die zivil-militärische Zusammenarbeit erreichen zu können. Schon die erste Atomübung der NATO, an der deutsche Soldaten in größerer Zahl teilnahmen, sollte im Frühjahr 1957 allerdings selbst pessimistische Annahmen noch übertreffen. Da den Deutschen noch keine Einsicht in die atomaren Einsatzpläne möglich war, hatten sie in einer Karte alle eingespielten feindlichen wie eigenen Atomeinsätze auf deutschem Boden eingezeichnet, um wenigstens einen generellen Überblick über Anzahl und Sprengwerte zu erhalten. Das Ausmaß der Zerstörungen an den in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Flusslinien von Oder-Neiße, Elbe-Saale und Rhein einschließlich der Angriffe gegen Häfen, Flugplätze, Depots und Verkehrsknotenpunkte lösten bei den deutschen Beobachtern und Mitspielern geradezu schockartige Wirkungen aus. Immerhin mussten sie mit ansehen, dass die Städte Mannheim, Frankfurt, Gießen, Köln und Düsseldorf weitgehend zerstört wurden, wobei man den Eindruck gewann, dass die eigenen Verbündeten beim Einsatz taktischer Atomwaffen ziemlich »großzügig« vorgegangen waren. Das gab bei manchem

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung

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Anlass zu skeptischem Nachfragen: »In der Ausgangslage wird von dem >Ziel des Uberlebens der deutschen Bevölkerung< gesprochen. Dieses Ziel muß das Primäre sein. Ob es die Alliierten, die ja nicht auf eigenem Boden kämpfen, immer im Auge haben, mag dahingestellt bleiben«. Das BMVg verwies jedenfalls während wie nach der Übung eindringlich darauf hin, dass auf eigenem Territorium »der Einsatz von taktischen Atomwaffen sorgfältig überlegt werden muß« 8 . Beruhigende Erklärungen der Amerikaner an die ersten deutschen Offiziere, die in Nevada an Atomtests teilnehmen durften, fruchteten da wenig, sahen die Deutschen doch in den Hinweisen auf schadensbegrenzende Einsatzarten und die Entwicklung so genannter »clean bombs« kaum mehr als eine »Übertreibung« derartiger Möglichkeiten 9 . Gravierender als solche internen Stimmen auf der Ebene der militärischen Stäbe war allerdings die auf einen Artikel des »Spiegel« hin sofort nachhakende öffentliche Stellungnahme von 18 führenden Kernphysikern in ihrem >Göttinger Manifeste Ihre Einschätzung von der technischen Unmöglichkeit, »große Bevölkerungsmengen vor dieser Gefahr [der Radioaktivität] zu schützen« 10 , stellte ein parallel zu den operativen Annahmen geplantes Zivilschutzprogramm derart grundsätzlich in Frage, dass ihm noch vor seiner auch nur ansatzweisen Realisierung bereits ein wesentlicher Teil seiner Berechtigung abhanden zu kommen drohte: seine öffentliche Akzeptanz. Zivile Verteidigung würde daher durchgängig nicht nur mit dem Mangel an dafür kaum aufzubringenden finanziellen Mitteln zu kämpfen haben. Sie hatte auch von Anfang an erhebliche psychologische Überzeugungsarbeit zu leisten, wenn sie das überwinden wollte, was amerikanische Meinungsforscher seit 1955 als weit verbreiteten »Atomfatalismus« bei der Mehrheit der Bundesbürger analysierten 11 . Noch konkreter wurden die Gefährdungen, denen Truppe und Bevölkerung auf dem Gebiet der Bundesrepublik in besonderem Maße ausgesetzt sein würden, als sich der Verteidigungsausschuss Ende 1958 einen Bericht des BMVg über den Schutz gegen ABC-Waffen abgeben ließ 12 . Der vortragende ABCAbwehr-Fachmann konzentrierte sich naturgemäß auf die Wirkungsweise und den Schutz vor atomaren, biologischen und chemischen Waffen in der Truppe. Nur war unübersehbar, dass sich davon im Kampfraum Bundesrepublik die Gefahren für die Zivilbevölkerung nicht abtrennen ließen. Von einer Verstrahlung, Verseuchung oder Vergiftung würden nämlich gerade die wesentlich

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Erfahrungsbericht WBK II zur Übung LION NOIR, 10.4., sowie ein darauf zurückgreifender Entwurf von BMVg IV/A/2 für einen Vortrag vor dem Bundeskabinett, 21.5.1957, ebd., BW 2/2077 bzw. 2/2688. Bericht der teilnehmenden Offiziere Trettner, von Tempelhoff und von Ciaer, 28.5.1957, zit. nach Steinhoff/Pommerin, Strategiewechsel, S. 32 f. Göttinger Manifest, 12.4.1957, zit. nach Atomwaffen und Ethik, S. 36. Belege dafür: Speier, German Rearmament, S. 247-259. Bericht zu Fragen des Schutzes gegen ABC-Waffen, 4.12.1958, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 3. Wahlperiode, 35. Sitzung.

608 _ Zweiter Teil: Der Aufbau der Bundeswehr und die modifizierte atomare Abwehrplanung

ungeschützteren Menschen, soweit sie sich nicht im Schutz von Gebäuden aufhielten, bei weitem härter betroffen sein als die Soldaten, die immerhin eine persönliche Schutzausrüstung am Mann trugen und zusätzlich ab BrigadeEbene von eigenen ABC-Abwehr-Einheiten versorgt werden konnten. Dazu war die allgemeine Wasser- und Lebensmittelversorgung davon nachhaltig gefährdet. Der Referent des BMVg plädierte deshalb dringend dafür, neben den militärischen Vorkehrungen auch den Zivilschutz in das Programm von Schutzmaßnahmen zur ABC-Abwehr einzubeziehen und mit geeigneten Einheiten und Mitteln auszustatten. Außerdem mussten bei der räumlichen Dichte der Bundesrepublik militärische und zivile ABC-Abwehr aufs engste miteinander vernetzt werden. Die Aufstellung von ABC-Abwehr-Einheiten und die Entwicklung von Abwehrmitteln war allerdings selbst in der Bundeswehr noch im Fluss und würde erst in den kommenden Jahren mit dem Aufwuchs der Streitkräfte voll wirksam werden. Die militärischen Verbände verfügten aber wenigstens schon jetzt über Atommeldezentralen, in deren Programme zur Früherkennung und Warnung die zivilen Luftwarnämter einbezogen werden mussten. Die Debatte über all dies blieb jedoch zunächst noch wesentlich auf den Kreis der an NATO-Übungen beteiligten Stäbe und damit einseitig auf den militärischen Bereich begrenzt. Abstimmungen mit den Organen der zivilen Verteidigung waren dem BMI und seinen nachgeordneten Dienstellen vorbehalten, wobei die notwendige Koordination im Sinne von Gesamtverteidigung sich erst allmählich zu einem System der zivil-militärischen Zusammenarbeit verdichten lassen würde. Die schon bei LION NOIR im Frühjahr 1957 geäußerte Hoffnung, »Je mehr Bundeswehr, desto weniger Atombomben«13, war das eine, die ständig wiederholten Anmahnungen der deutschen Seite bei allen NATO-Übungen zum dosierten Atomeinsatz nur dort »wo dies auf Grund der Entwicklung der Lage sinnvoll und zwingend ist«14, die andere Seite, um auf der Bündnisebene nach Auswegen aus einem allzu unverhältnismäßigen Einsatz zu suchen. Dabei waren in solchen regionalen Szenarios nur die noch vergleichsweise begrenzten Folgewirkungen taktischer Atomwaffeneinsätze in die Rechnungen der militärischen und zivilen Schutzplanungen eingestellt. Selbst bei der eigentlichen Atommacht des Westens, in den USA, begannen sich daneben zunehmend skeptischere Stimmen zu Wort zu melden, wie weit man in einem globalen Atomkrieg wirklich beim massiven wechselseitigen Einsatz von Kernwaffen gehen durfte. Eine im Pentagon kursierende Analyse kam jedenfalls schon im Frühjahr 1958 zu dem Schluss, dass es mit Blick auf einen denkbaren »massive exchange of nuclear weapons« notwendig sei, »to give greater weight than before to other than purely military considerations«. Eine vor kurzem abgehaltene Übung war nämlich zu dem Ergebnis gekommen, dass man zur Bekämpfung 13 14

Erfahrungsbericht WBK II zur Übung LION NOIR, 10.4.1957, BA-MA, BW 2/2077. Beispielhaft dafür die Forderungen von Fü Η für eine »Vorwärts-Strategie«, 27.2.1958, zit. nach Bald, Die Atombewaffnung der Bundeswehr, S. 54.

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung

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von mehreren tausend großen und kleinen Zielen innerhalb der ersten fünfzehn Stunden eines Atomkrieges auf beiden Seiten etwa 7 Millionen KT zur Wirkung bringen würde, davon über die Hälfte bereits in den ersten drei Stunden! Was dieser Masseneinsatz spaltbaren Materials je nach Entfernung zu den Haupteinsatzgebieten »would do to the weather, to crop cycles, to human reproduction, to the population of all areas of the world«, war aus Sicht der Bewerter schlicht nicht mehr prognostizierbar. Was von daher gefordert war, hieß Neuberechnung der militärisch erforderlichen Ziele - und zwar unter »strict civilian control« sowie Voranbringen aller Anstrengungen zur Entwicklung so genannter »clean bombs«, für die man allerdings noch fünf bis zehn Jahre brauchen würde. Die Verfasser gingen dabei sogar so weit, sich mit der Sowjetunion über technische Fortschritte auf diesem Gebiet austauschen zu wollen, da man schließlich nur so auch von ihr einen entsprechend dosierten Waffeneinsatz erwarten konnte15. Den weitergehenden Gedanken, solche Informationen öffentlich zu machen, um dadurch einen Einsatz von Atomwaffen für die Weltöffentlichkeit akzeptabler zu machen, verwarfen die wissenschaftlichen Berater des Präsidenten allerdings sofort mit Blick auf das Prinzip der Wahrung militärischer Geheimnisse. Stattdessen empfahlen sie, sich international stärker für ein TeststoppAbkommen einzusetzen 16 . Immerhin waren darüber aber schon genügend Andeutungen bis zu den Europäern durchgedrungen, dass Luftwaffeninspekteur Josef Kammhuber bereits zeitgleich darüber im Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages zu berichten wusste. Sein angestrebtes Ziel erreichte er freilich nicht, eine breitere Mehrheit für die Anschaffung des Marschflugkörpers MATADOR zu erlangen, wenn er von der »sauberen Atombombe« sprach, die in ihrer »Wirkung auf [den] Sprengteil beschränkt [ist], der radioaktive Staub fällt weg«. Für den Sprecher der Opposition, Helmut Schmidt, war dies nämlich der kaum getarnte Versuch, damit »die angekündigte atomare Bewaffnung« der Bundeswehr vorzubereiten 17 . Mehr an Schadensbegrenzung durfte man da schon der Versicherung des amerikanischen Oberbefehlshabers der CENTAG entnehmen, dass die NATO nicht die Absicht habe, dichtbevölkerte Gebiete mit eigenen Atomwaffen zu beschießen. Hier wie bei der NORTHAG schienen entsprechende deutsche Einsprüche zu fruchten, denn schon im Sommer 1958 berichteten deutsche Teilnehmer an weiteren NATO-Übungen, dass in den Atomeinsatzplänen beider Heeresgruppen nach der deutschen Karte Empfindlicher Punkte verfahren werde. Es bestehe nunmehr Übereinstimmung, 15

16

17

DoD-Memorandum »Massive Exchange of Nuclear Weapons«, 16.3.1958, DDRS 1982, 1542, Hervorhebung - Unterstreichung - im Original. Aufzeichnung von Eisenhowers Sicherheitsberater Cutler über eine Besprechung beim Präsidenten betr. »Clean Nuclear Weapons«, 21.3.1958, Dockrill, Eisenhower's New Look, S. 243 f. Bericht Kammhubers und Stellungnahme Schmidts (SPD), 27.3.1958, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 3. Wahlperiode, 13. Sitzung, Zitate S. 6 bzw. 29.

610 _ Zweiter Teil: Der Aufbau der Bundeswehr und die modifizierte atomare Abwehrplanung

dass »Städte und größere Bevölkerungsballungsräume [...] grundsätzlich von Atomschlägen ausgenommen« würden, während Objekte »besonderen volkswirtschaftlichen und kulturellen Wertes« vorläufig noch nicht von dieser Regelung betroffen waren. Das kommentierte der zuständige Referatsleiter bei Fü Β allerdings mit dem berechtigten Einwand: »Mit der Erhaltung ökonomischer und kultureller Werte ist es ja ganz schön; aber zunächst geht es um das Uberleben der Menschen18.« Zumindest von der CENTAG konnten die deutschen Übungsteilnehmer von nun an berichten, dass sich die aus der Karte Empfindlicher Punkte erstellten »Planpausen« mittlerweile bewährt hätten, da sie inzwischen durchgängig als »Overlays« über die allgemeinen Lagekarten gebreitet würden. Nur ließ es sich im Fortgang der Übungen bei operativ anders nicht zu lösenden Lagen kaum je vermeiden, »auch Feindmassierungen in Ballungsräumen zu bekämpfen«19. Bei der NORTHAG gingen die Ansichten der britischen Führung und ihrer deutschen Kommandeure dagegen nach wie vor auseinander. Ein besonders gravierendes Beispiel dazu gab die Schlussansprache des für den Einsatz von Atomminen verantwortlichen britischen Pionierführers der Heeresgruppe bei der Übung MAKE FAST im Sommer 1960 ab. Bei dem eklatanten Ungleichgewicht zwischen Verteidigern und Angreifern war für ihn die Atomwaffe in allen ihren Varianten »der entscheidende Faktor auf dem Schlachtfeld«. Deutsche Einwände gegen die Verwendung von Atomminen, die wegen der NATO-Richtlinie des »stay at home« zwangsläufig auch die ansässige Bevölkerung schädigen mussten, suchte er mit dem Argument zu widerlegen, dass ein »wohlüberlegter, geschickter Einsatz der ADM Zufälle und ungenaue Einstellung von Waffen [...] weitgehend ausschaltet«. Die deutschen Bedenken könne er zwar verstehen, nur konnte aus seiner Sicht gerade mit dem gut dosierten Einsatz solcher Waffen »ein Großteil des Mordens und der Schäden an der Zivilbevölkerung vermieden werden«. Die zugrunde gelegte Annahme, dass Atomminen zwar einen Krater von 30 m Durchmesser aufreißen würden, »dabei aber kein nennenswerter radioaktiver Niederschlag entstehe«, war für den Kommandierenden General des I. (GE) Korps dagegen »physikalisch völlig unmöglich und stellt eine bewußte oder unbewußte Irreführung dar«. Nach Auffassung von Generalleutnant Heinz Trettner widersprach der umfassende Einsatz derartiger Waffen auf deutschem Boden im Übrigen der SHAPE-Richtlinie, wonach auf eigenem Territorium »Bodentreffer nach Möglichkeit zu vermeiden« waren20. Der Inspekteur des Heeres konnte seinem Kommandierenden General in der Sache nur zustimmen, da man damit »ohne Zweifel in erster Linie die deutsche Be18

19 20

Handschriftliche Notiz betr. Karte der Empfindlichen Punkte δ •) 3> ο ° ω · § | a! Ö I ε ω ·§ ( 5οΕ sΪ Οε Μο w hi υ — •σ π U.

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626 _ Zweiter Teil: Der Aufbau der Bundeswehr und die modifizierte atomare Abwehrplanung

Eng damit zusammen arbeitete das seit 1952 bestehende Planning Board for European Inland Surface Transport (PBEIST)49, dessen Hauptaufgaben im Umschlag von Truppenverstärkungen und Versorgungsgütern aus Ubersee auf die innereuropäischen Verkehrswege und Transportorganisationen bestand. Spezielle Arbeitsgruppen befassten sich dazu mit dem Eisenbahn- und Straßenverkehr, den Schifffahrtswegen auf Flüssen und Kanälen, den Übersee- und Binnenhäfen sowie der Küstenbeschaffenheit für den Fall notwendig werdender Anlage von Nothäfen oder Anlandungen direkt über die Küste. Auch hier war schon im Frieden eine den gesamten Inlandsverkehr auf dem westeuropäischen Kontinent koordinierende und kontrollierende Leitstelle vorbereitet, die allerdings erst im Einsatzfall in Aktion treten würde: die Authority for Coordination of Internal Surface Transports in Central Europe (ACTICE). In ihr wirkten die USA, Großbritannien, Frankreich, die Bundesrepublik und die Benelux-Staaten aktiv mit; der Aufbau ähnlicher Organisationen in Nord- und Südeuropa und die Zusammenarbeit mit ihnen waren angedacht. Erstes Ziel war es dabei, die Verwundbarkeit der Verkehrswege im Atomkrieg zu reduzieren, um den Inlandsverkehr unter Kriegsbedingungen auf einem Mindestniveau halten zu können. Schadensbekämpfung und Standardisierung von Verkehrswegen und Transportorganisationen waren dafür die Schlagworte. Den beiden Ausschüssen für Transportfragen standen gleichgewichtig die Ausschüsse für die Versorgung des europäischen NATO-Raums mit Lebensmitteln, Energie und Rohstoffen zur Seite50. Sie alle waren durchgängig bereits 1952 ins Leben gerufen worden, mussten jetzt aber ebenfalls an die Bedingungen unter atomarer Kriegführung angepasst werden, weil die zu erwartenden Großschäden Westeuropa schnell in völlige Abhängigkeit von überseeischer Versorgung bringen würden. Kriegsbevorratung schon im Frieden für die ersten 30 Tage eines militärischen Konflikts war freilich als militärische Forderung leichter zu erheben denn als konkretes Ressourcen-, Finanz- und Infrastrukturproblem mit den Mittel westlicher Friedensgesellschaften umzusetzen. Immerhin existierten dafür bereits einvernehmlich beschlossene und gemeinsam finanzierte Infrastrukturplanungen der NATO, deren Prioritäten einschließlich der Mittelverteilung jährlich neu zu verhandeln und festzulegen waren. Am weitesten vorangekommen, weil für gemeinsame Operationsplanung und militärische Versorgungsführung gänzlich unverzichtbar, war dazu die Anlage eines NATO-weiten Pipeline-Netzes, das sich schrittweise von den Atlantikhäfen nach Osten zu den Betriebsstoff-Depots der vorn eingesetzten NATOArmeen vorschob, unter Kriegsbedingungen aber auch die nichtmilitärische Energieversorgung mit unterstützen musste. Schließlich stellte dies das vorerst einzige Versorgungssystem bereit, das in seiner baulichen Ausstattung wie in seiner Führungstechnik und in seinen Verteilungsmechanismen voll auf Bündnisebene zu koordinieren war und dabei gleichzeitig dezentral zur Wirkung 49 50

Ebd., S. 6-9. Ebd., S. 11-14.

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung

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kommen würde. Mit Vorrang wurden aus dem Infrastrukturfond der NATO aber auch alle Maßnahmen für den übrigen kriegsnotwendigen Nachschub aus Übersee und seinen Transport zu den im Kampf stehenden Armeen bestritten. Über seine rein militärische Funktion hinaus hatte zudem auch die gemeinsame Finanzierung eines integrierten NATO-Frühwarnsystems zentrale Bedeutung für die nationalen zivilen Luftschutzorganisationen 51 . Wesentlich skeptischer waren da schon alle Überlegungen zur Koordination von Bevorratung vor dem und Nachschubregelung im Kriege auf NATO-Ebene zu beurteilen, weil die Führungsmacht USA ihre europäischen Partner unter dem Gesichtspunkt effektiver Lastenteilung nicht in die kommode Rolle reiner Kostgänger entlassen wollte und deshalb auf strikt nationaler Logistik im Bündnis bestand 52 . Wie schwierig es allerdings war, aus den jeweiligen Infrastrukturprogrammen der NATO die in nationalem Interesse liegenden baulichen Maßnahmen durch die Allianz unterstützt zu erhalten, bekamen die deutschen Antragsteller schon bei der Behandlung ihrer ersten Forderungen durch SHAPE im Frühjahr und Sommer 1956 zu spüren. Zwar ließen sich anteilig die Kosten für zusätzliche taktische Flugplätze durchbringen, um eine größere Auflockerung bei den Luftwaffengeschwadern als Schutz gegen Atomwaffen zu erreichen. Dagegen wurden deutsche Wünsche nach Unterstützung zusätzlicher Fernmeldekabel rund um atomar bedrohte deutsche Großstädte gerade einmal auf 10 % der Antragssumme zusammengestrichen, obwohl man in Bonn geltend machte, dass nur so die Kommunikation zu den vorn eingesetzten Hauptquartieren der NATO-Verbände abzusichern war. Noch schlimmer erging es dem Anliegen, das NATO-Pipeline-Netz über den Oberrhein hinaus in den süddeutschen Raum hinein zu verlängern, das zunächst ganz abgelehnt wurde. Bei der enormen Konkurrenz unter den NATO-Staaten um derartige Mittel ließ SHAPE nur die allerdringlichsten Projekte unter dem Gesichtspunkt der unmittelbaren Gefechtsführung gelten, obwohl man von deutscher Seite doch mit guten Gründen darauf verweisen konnte, dass man als später zum Bündnis gekommenes Mitglied erheblichen Nachholbedarf hatte53. Ganz so rigoros sollten die Kürzungen an den deutschen Anträgen dann doch nicht ausfallen, da sich SHAPE schließlich auf ein nachträgliches Sonderprogramm für die Bundesrepublik einließ, dass sich allerdings ausschließlich auf militärische Bauprogramme beschränkte54. Für den Zivilschutz blieben mithin im wesentlichen nur die Nutzeffekte aus dem integrierten Frühwarnsystem mit seinen Verbindungen zum Luftschutzwarndienst. Zusätzliche Flugplätze, neu eingerichtete Raketenstellungen und andere militärische Großobjekte wurden in den betroffenen Regionen dagegen weniger in ihrer Schutzfunktion als 51 52 53

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Sitzung des Ständigen NATO-Rats, 11.10.1955, NISCA, C - R (55) 44. Siehe Teil 2, Kap. V.5. Berichte Abt. IV, G3 betr. Behandlung der deutschen Forderungen für 8. Slice NATOInfrastruktur durch SHAPE, 23.5. bzw. 10.9.1956, BA-MA, BW 2/1911. BMVg IV, G3 betr. Besprechung der deutschen Delegation für die Sitzungen bei SHAPE, 3.9., sowie BMVg IV an DMV Washington über deren Ergebnisse, 23.10.1956, ebd.

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Mittel zur Verteidigung denn als Gefahrquellen empfunden, da sie in der Öffentlichkeit als lohnende Atomziele für den Gegner angesehen wurden 55 . Es sollte sich dann freilich ebenso schnell zeigen, dass die Größenordnungen der beantragten Baumaßnahmen rasch die deutschen infrastrukturellen Möglichkeiten überstiegen, weil die Verfügbarmachung des benötigten Geländes nicht Schritt halten konnte mit der militärischen Planung, während daran andererseits die Mittelzusage von SHAPE gebunden war56. Dem internen Befund entgegenstehender Hindernisse musste Strauß jedenfalls noch beinahe zwei Jahre danach ein ziemlich kleinlautes Eingeständnis des nur zum Teil Realisierbaren vor dem NATO-Rat nachschieben 57 . Ein Problem hatte die Allianz dabei neben den Fragen einer gemeinsamen militärischen Infrastruktur seit der Einrichtung eines entsprechenden Notstandsausschusses im Herbst 1952 kontinuierlich verfolgt, das unter atomaren Bedingungen geradezu dramatische Ausmaße anzunehmen drohte: der Umgang mit der Frage notwendiger Evakuierungen und spontaner Fluchtbewegungen. Der NATO war natürlich klar, dass beim massenhaften Einsatz taktischer Atomwaffen auf beiden Seiten eines europäischen Schlachtfeldes Problemlagen entstehen mussten, die alle bisher angedachten Überlegungen bei weitem übersteigen würden. Mochte man ausgewählte Bevölkerungsteile noch aus wahrscheinlichen Zielgebieten des Gegners oder geplanten eigenen Zielräumen in vorbereitete Schutzzonen evakuieren und dort versorgen können. Bei den zu erwartenden massenhaften Fluchtbewegungen unter panikartigen Begleitumständen aus allen Kampfzonen mit oder ohne Atomwaffeneinsätzen war man dagegen vorrangig darauf eingestellt, über die Forderung nach einem »stay at home« eine Politik präventiver Verhinderung derartiger Massenbewegungen zu betreiben, wohl wissend, wie schnell einem dafür unter Kriegsbedingungen die notwendigen Steuerungsmechanismen entgleiten konnten. Das galt insbesondere dann, wenn die Menschenmassen auf den Straßen auch noch weitgehend schutzlos den Wirkungen radioaktiver Niederschläge ausgesetzt sein würden. Wollte man hier präventiv gegenhalten, dann musste man auch die infrastrukturellen Folgerungen aus dem zu erwartenden Massenphänomen von Flüchtlingen unter atomaren Bedingungen ziehen, denn die damit verbundenen Probleme der Unterbringung und Versorgung machten zusätzliche Raumplanungen erforderlich - und gerade dafür wurden die Möglichkeiten auf einem militärisch an sich schon überbelasteten deutschen Territorium immer enger. Was die führungstechnische und organisatorische Seite der Zivilschutzfrage zusätzlich verkomplizierte, war das Problem einer außerordentlichen Streuung der Kompetenzen in der Bundesrepublik, von den Kommandobehörden der 55

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Vgl. dazu etwa die im Verteidigungsausschuss vorgetragene Sorge des Abgeordneten Bausch (CDU), 9.1.1957, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 2. Wahlperiode, 127. Sitzung, S. 49. BMVg IV/VI an Staatssekretär betr. NATO-Infrastruktur-Programm 1957 (8. Slice), 22.2.1957, BA-MA, BW 2/1911. Sitzung vom 17.12.1958, NISCA, C-R (58) 64.

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung

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NATO über die um Zuständigkeiten ringenden beiden Hauptkonkurrenten BMVg und BMI einschließlich der in Versorgungs- und Notstandsfragen einzuschaltenden übrigen Bundesressorts bis hin zu den Ausführungsorganen der Verwaltungen auf Länder-, Regierungsbezirks-, Kreis- und Gemeindeebene im föderalen System. Da mochte das BMI Ende 1958 auf der Basis eines entsprechenden Bundesgesetzes ein »Bundesamt für zivilen Bevölkerungsschutz« einrichten, das 1974 nach einer Neufassung des Gesetzes und seiner Erweiterung um den Katastrophenschutz zum »Bundesamt für Zivilschutz« umbenannt wurde 58 . Grundsätzliche Kompetenz für diese klassische Gesamtaufgabe des Bundes würde damit zwar von den Ländern gern mit Blick auf die Finanzierung der damit verbundenen Personal- und Infrastrukturkosten akzeptiert werden 59 . Die Verwaltungsstrukturen unterhalb der Bundesebene machten aber auch weiterhin erhebliche Feinabstimmungen mit entsprechenden Reibungsverlusten erforderlich, wobei die parteipolitische Zusammensetzung der einzelnen Länderregierungen gerade in der Aufbauphase der Bundeswehr Zusätzliches an Differenzen bereithielt60. Umso vordringlicher würde es daher in der Folgezeit sein, dass man gerade wegen der unterschiedlichen Kompetenzebenen erhebliche Anstrengungen darauf verwenden musste, eine grundsätzliche Abstimmung über das Zusammenwirken von NATO-Planung, Territorialverteidigung und Zivilschutz zu erreichen. Um dafür von militärischer Seite die Voraussetzungen zu schaffen, begann man im Amt Blank schon unmittelbar nach Abschluss der Beitrittsverhandlungen zu NATO und WEU im Spätherbst 1954 gedankliche Vorarbeit für den Aufbau einer »bodenständigen Verteidigung« parallel zum Aufwuchs der Streitkräfte zu leisten. Wirksame Verteidigung des Bundesgebiets in ihrer gesamten Bandbreite setzte danach neben den »mobilen Streitkräften« und ihren ebenfalls »mobilen Reserveverbänden« zusätzliche »bodenständige Verteidigungsverbände« voraus. Natürlich musste der Vorrang bei allen militärischen Aufstellungsvorhaben zunächst einmal bei den Streitkräften liegen, die der NATO zugesagt waren, da sich Menschen, Material und Finanzmittel nicht beliebig vermehren ließen. Deshalb war für die bodenständigen Verbände von Anfang an eine »Langzeitplanung« vorgesehen, bei der man noch auf absehbare Zeit »auch erhebliche Lücken [...] in Kauf zu nehmen« haben würde. Bei aller Forderung nach frühzeitiger Vorneverteidigung musste man deshalb von den

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Vgl. dazu Festl, Die Gesamtverteidigung, S. 219 f. Beispielhaft dafür: Aufzeichnung Abt. IV/A über die Besprechung der Landesinnenminister am 21.2., 22.2.1957, BA-MA, BW 17/26. Die Literatur zum Verhalten der Länderregierungen in Verteidigungsangelegenheiten ist noch äußerst spärlich. Eine Ausnahme bildet der Fall Bremen, für den mit der Dissertation Sommer, Wiederbewaffnung, eine eingehende Studie vorliegt; zu Hessen hat der ehemalige Oberbürgermeisters von Gießen ein Typoskript angefertigt: Schneider, Streitkräfteaufbau; zur Regierung Hoegner in Bayern gibt Schmidt, Integration und Wandel, wichtige Hinweise.

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Kommandeuren den »Mut der Verantwortung« abfordern, »im Ernstfall notfalls auch unter Aufgabe von Teilen oder des Gesamtgebietes Westdeutschlands zu kämpfen«. Den künftigen bodenständigen Verbänden würde dabei nach der MC 36 vorrangig die Erhaltung der Operationsfreiheit für die NATO-Truppen auf dem Gefechtsfeld Bundesrepublik zufallen. Von daher bestand ihr wesentlicher Zweck in der »Entlastung und Unterstützung der Streitkräfte«, und das hieß konkret, dass sie vorrangig - einen Beitrag zur »europäischen Luftverteidigung« durch Flugmeldedienst und Bodenflugabwehr, - »örtliche Bewachungs-, Sicherungs- und Abwehraufgaben gegen feindliche Kommandounternehmen, feindliche Luft- und See-Landeunternehmen« sowie - »Verwaltung, Pflege, Instandsetzung und örtlichen Nachschub« von militärischem Material zu leisten hatten. Unterstützungsmaßnahmen für den Zivilschutz konnten sich daran nur in dem Maße anschließen, wie dafür Kräfte und Mittel aus dem rein militärischen Einsatz freizubekommen waren 61 . Um die kleingehaltenen Kader der Territorialverbände im Mob-Fall rasch aufwachsen lassen zu können und in ihnen den Gedanken der Heimatverteidigung zu verankern, sollten diese national verbleibenden militärischen Einheiten in ihrer Organisation stark regional ausgerichtet werden. Als Reservoir dafür sollten um ein ständig verfügbares Stammpersonal aus länger dienenden Freiwilligen herum diejenigen Teile des bald heranwachsenden Reservistenpotenzials genutzt werden, die im V-Falle nicht unmittelbar zur Auffüllung der aktiven Truppe benötigt wurden 62 . Gedacht war dabei an den »Rückgriff auf ausschließlich am Ort verfügbare Menschen«. Überlegungen über milizartige »Heimatschutzverbände« analog zu anderen westlichen Demokratien hielt man im Amt Blank zu diesem Zeitpunkt dagegen noch für problematisch. Wer derlei vorschlage, vergesse völlig »den unerhörten Faktor des Erlebens zweier Weltkriege im deutschen Volk«, der allen Gedanken an ein »Volk in Waffen« und an einen »Kampf bis zum Letzten mit fragwürdigem Heldentum« entgegenstehe. Nüchtern schätzte man auch die innen- und außenpolitischen Widerstände dagegen ein. Auch das vorrangige Ziel einer wirksamen sozialen Marktwirtschaft setze im Übrigen der »Schaffung umfassender Heimatschutzverbände aufgrund einer Bürgerwehrpflicht« psychologische, personelle wie ökonomische Grenzen gleichermaßen entgegen. Vom Standpunkt der inneren Sicherheit aus und wohl auch mit Blick auf die historischen Erfahrungen mit Wehrverbänden und Bürgerkriegen in der Weimarer Republik hielt man zudem wenig davon, »die Waffen nach beendetem Dienst mit nach Hause zu nehmen«. Im

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1. Vorentwurf Abt. II/5 »Zur Frage einer bodenständigen Verteidigung«, 22.11.1954, BAMA, 2/2663, Bl. 118-125; zu den Begriffsbestimmungen u n d Aufgabenstellungen: Abt. IV betr. bodenständige Verteidigung, 13.4.1956, ebd., BW 17/26, Vorg. 7. Vgl. Die Reservisten der Bundeswehr, S. 99-102.

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung

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Übrigen rechnete man sofort mit »stärkstem Mißtrauen« insbesondere beim französischen Nachbarn, falls sich die Bundesrepublik auf diesem Wege eine größere Nationalstreitmacht neben ihren NATO-Verbänden zulegen sollte. In enger Anlehnung an diese Vorüberlegungen im Amt Blank erließ Heusinger unmittelbar nach dem Bündnisbeitritt noch im Sommer 1955 eine Planungsweisung mit ersten Richtlinien für den Aufbau einer bodenständigen Verteidigung 63 . Vertraglich berief er sich dabei auf den Art. 5 des Protokolls Nr. II über die Streitkräfte der WEU. Darin war ausdrücklich zusätzlich zu den NATO-Truppen die Möglichkeit zur Aufstellung nationaler Verbände in Erfüllung der aus der MC 36 resultierenden, national verbleibenden Landesverteidigung vorgesehen. Stärke und Bewaffnung waren allerdings entsprechend den geltend gemachten Aufgaben und dem dazu erforderlichen Bedarf in einem Sonderabkommen auf WEU-Ebene festzulegen. Deshalb würde sich die Bundeswehrführung auf ein Aufgabenprofil ihrer bodenständigen Verteidigung konzentrieren, das sich aus der Erhaltung der Operationsfreiheit für NATO-Truppen auf deutschem Boden herleitete: Schutz von Bevölkerungszentren, wesentlichen Verkehrsverbindungen, kriegs- und lebenswichtigen Betrieben sowie Vorratslagern und logistischen Einrichtungen. Hinzu kamen militärischer Objektschutz, Kampf gegen feindliche Kommandounternehmen und Fallschirmjägereinsätze im Hinterland, Beiträge zur Küstenverteidigung sowie Schutz, Betrieb und Instandhaltung der Rheinübergänge wegen ihrer herausragenden Bedeutung als Verbindungszone zwischen Gefechtsgebiet ostwärts und rückwärtigen Versorgungseinrichtungen westlich des Flusses. Im ersten Aufstellungsjahr würde man nur Versuchstruppenteile in einer Gesamtstärke von etwa 800 Mann bilden, die in den folgenden vier Jahren auf ihren jetzt noch nicht näher bestimmten Endumfang zu bringen waren. An welche Größenordnungen man dabei aber dachte, ließ bereits ein erster »Anhalt für den weiteren Ausbau der bodenständigen Luftverteidigung« erkennen. Danach würde man allein zur Erfüllung dieser Teilaufgabe für den Flugmeldedienst als Friedens- wie Kriegsstärke 10 000 Mann benötigen, während die Bodenflugabwehr mit ihren angedachten 2000 Fla-Artillerie-Batterien als Geräteeinheiten der leichten bzw. raketengestützten Provenienz im Frieden auf 30 000 Mann berechnet war, die im Mob-Fall auf 2500 Fla-Batterien in Stärke von ca. 230 000 Mann gebracht werden sollten. Die übrigen benötigten Kräfte für Aufgaben des militärischen Objektschutzes und der Sicherung des Hinterlandes gegen Kommandounternehmen sowie gegen See- und Luftlandungen waren darin noch gar nicht berücksichtigt 64 . Gerade die mit der Nuklearisierung der Bündnisstrategie schnell offenkundig werdenden Notwendigkeiten zur Koordination von NATO- und nationalen Verteidigungsaufgaben unter Einschluss der zivilen Notstandsplanung machte 63

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Planungsweisung bodenständige Verteidigung P-18/55, von Heusinger in Kraft gesetzt, 26.7.1955, BA-MA, BW 2/2673, Bl. 266-272. Zusammenfassend zum Aufgabenprofil: Schuler, Die Territoriale Verteidigung, S. 670-674.

632 _ Zweiter Teil: Der Aufbau der Bundeswehr und die modifizierte atomare Abwehrplanung

allerdings ein rascheres Aufwachsen der Territorialverbände als ursprünglich geplant erforderlich. Wenn auch noch nicht sofort mit angemessenem militärischen Unterbau versehen, brauchte man doch auf allen Ebenen frühzeitig territoriale Kommandobehörden als unverzichtbare Zwischenglieder zwischen NATO und nationaler Zivilverteidigung. In enger Anlehnung an die Ländergrenzen wurden dazu 1956/57 sechs Wehrbereichskommandos (WBKI bis VI) eingerichtet, die militärische Ansprechpartner einer oder mehrerer Landesregierungen und zugleich Koordinatoren von militärischer und ziviler Landesverteidigung sein sollten. Frühzeitig herrschte dabei Einvernehmen zwischen den NATO-Kommandobehörden und dem Führungsstab der Bundeswehr, dass nur auf der Ebene der beiden Heeresgruppen CENTAG und NORTHAG mit Bundes- und Landesbehörden verhandelt werden und die Verbindungslinien dazu nicht direkt zu den zivilen Ansprechpartnern, sondern vermittelt durch die WBKs laufen sollten65. Als Unterbau wurden auf der Ebene der Regierungsbezirke Verteidigungsbezirkskommandos (VBK) geschaffen, die in Zusammenarbeit mit den zivilen Verwaltungsbehörden sogenannte »Territoriale Verteidigungsstäbe« als zivilmilitärische Koordinationsorgane aufzubauen hatten. Zu einem späteren Zeitpunkt, wenn die Territoriale Verteidigung über hinreichende personelle Substanz verfügte, wollte man dieses Zusammenspiel auch auf Kreisebene ausdehnen, wo dann die jeweiligen Verteidigungskreiskommandos (VKK) mit den Kreisverwaltungen entsprechende »Kreisverteidigungsstäbe« bilden sollten66. Waren dabei die ersten Verbände noch je nach ihrer Hauptaufgabe vom Heer bzw. von der Luftwaffe aufgestellt worden und den beiden Teilstreitkräften auch in Frieden wie Krieg truppendienstlich und versorgungstechnisch unterstellt67, so löste die besondere Aufgabenstellung der Territorialen Verteidigung frühzeitig Diskussionen über einen den Teilstreitkräften vergleichbaren Sonderstatus aus. Insbesondere beim Führungsstab des Heeres hielt man freilich wenig von einer bundeswehrgemeinsamen Aufgabe, da man hier ihren vorwiegenden Auftrag einer Sicherstellung der Operationsfreiheit auf deutschem Territorium als genuine Heeresangelegenheit ansah68. Das Ziel des ersten Heeresinspekteurs Röttiger wurde jedoch erst 1967 erreicht, als die Territoriale Verteidigung an das Heer angegliedert wurde. 1957 wurden die sechs Wehrbereichskommandos dagegen noch unter einem eigenständigen »Kommando Territoriale Verteidigung« zusammengefasst, das neben den Teilstreitkräften positioniert war. Zu den drei NATO-Kommandobehörden, die unmittelbar auf dem Territorium der Bundesrepublik eingerichtet waren (CENTAG/Heidelberg und NORTHAG/ Mönchen-Gladbach) oder wie AFNORTH/Oslo Verantwortung für die Vertei65

66 67 68

Schriftwechsel zwischen dem CINCENT Valluy und Leiter Abt. IV (Streitkräfte) im BMVg, Speidel, November 1957, BA-MA, BW 2/2679 (Verschlusssachen). Schuler, Territoriale Verteidigung, S. 670. Planungsweisung »Bodenständige Verteidigung«, 26.7.1955, BA-MA, BW 2/2673, Bl. 266-272. Disput darüber im MFR zwischen den Abt. IV (Streitkräfte) und V (Heer), 31.10. bzw. 2.11.1956, BA-MA, BW 17/35, S. 13 und 15; vgl. auch Maiziere, In der Pflicht, S. 205.

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung

633

digung Schleswig-Holsteins trugen, hatte man zunächst kleine deutsche Verbindungsstäbe abgeordnet, die zwischen 1959 und 1961 zu »Deutschen Bevollmächtigen« (DBv) aufgewertet wurden. Der Aufbau einer Stabs- und Kaderorganisation war freilich nur der Einstieg in eine von der NATO unter den Bedingungen einer auf Atomwaffen basierenden Abwehrplanung für dringlich gehaltene enge Verschränkung von Bündnis-, Territorial- und Zivilverteidigung. Dazu hätten letztlich in der Bundesrepublik aktive Verbände, territoriale Einheiten und Zivilschutzorganisationen einigermaßen parallel aufwachsen müssen, und dafür fehlten schlechterdings die personellen wie materiellen Möglichkeiten. Außerdem brauchte man speziell für den Umfang der Territorialverbände erst noch das prinzipielle Einverständnis der WEU. Zu diesem Zweck stellte man bei Fü Β Anfang 1956 die Bonner Vorstellungen zusammen. Danach wollte man sich 1956 noch allein auf die Aufstellung erster Kader für die bodenständige Luftverteidigung in Stärke von etwa 800 Marin beschränken. Der Aufbau der Verbände für die bodenständige Landesverteidigung einschließlich der Küstenverteidigung sollte erst nach Zustimmung der WEU einsetzen und bis Ende 1958 auf annähernd 32 000 Mann für militärischen Objektschutz, ortsfeste Fernmelde-, Küstenartillerie-, Pionierund Versorgungsverbände anwachsen 69 . Gingen hier wenigstens die Planungen voran, so sah General Heusinger in einem Vortrag vor dem Bundeskabinett über »operative Planung im Atomkrieg« riesige und noch nicht wirklich in Angriff genommene zivile Notstandsaufgaben auf die Bundesrepublik zukommen. Dazu müsse man das deutsche Territorium als »geschlossenes Operationsgebiet« betrachten, auf dem es »keine Trennung von Front und Heimat« mehr geben könne. Im Atomkrieg würden sich »Völker im Ganzen der Gefahr der Vernichtung ausgesetzt« sehen; deshalb müsse man sich bewusst machen, dass ein »Krieg nur noch mit allen Kräften eines Volkes zu führen« sei, weil in der ersten atomaren Phase nicht nur das militärische, sondern das nationale Überleben insgesamt auf dem Spiel stehe70. Innenminister Gerhard Schröder nahm dies zum Anlass, um nun seinerseits auf das Tempo zu drücken. Dazu stellte er dem Bundeskanzler ein breitgefächertes Bedarfsprogramm vor, das von den gesetzlichen Grundlagen über Bauvorhaben zur Sicherstellung der Regierungstätigkeit unter Notstandsbedingungen, die Einrichtung eines Bundesamtes für den Luftschutzwarndienst in Vernetzung mit regionalen Warn-Ämtern, die Vorbereitung von Evakuierungsund Umquartierungsmaßnahmen der Zivilbevölkerung aus besonders bedrohten Städten, die Aufrechterhaltung des Gesundheitsdienstes einschließlich einer angemessenen Arzneimittelbevorratung bis hin zur Sicherstellung der Lebensmittel- und Energieversorgung wie des lebenswichtigen Verkehrs reichte. 69

70

UAL IV/A an Leiter IV betr. Umfang der bodenständigen Landesverteidigung, 4.1.1956, BA-MA, BW 2/2663, Bl. 129-131. Vortrag bei der 122. Kabinettssitzung, 22.2.1956, Kabinettsprotokolle, Bd 9, S. 213 und Anm. 27.

634 _ Zweiter Teil: Der Aufbau der Bundeswehr und die modifizierte atomare Abwehrplanung

Wollte man in dieser komplexen Materie vorankommen - und der Innenminister konnte sich dabei auf dringende Forderungen des NATO-Generalsekretärs stützen - dann mussten dafür nicht nur im Bundeskabinett entsprechende finanzielle Prioritäten beschlossen, sondern dazu auch das Bundeskanzleramt als der berufenste Koordinator aller Verteidigungsaufgaben dazu organisatorisch wie personell befähigt werden 71 . Für seinen eigenen Geschäftsbereich hatte Schröder bereits eine Abteilung Ziviler Bevölkerungsschutz (ZB) zur Verfügung, die nunmehr eine ganze Serie von Fachausschüssen einrichtete, um Planung, wissenschaftliche Unterstützung und praktische Umsetzung von der Bundesebene aus koordinieren zu können 72 . Wie sehr die NATO mittlerweile auf vollwertige Mitarbeit deutscher Fachleute in ihren Notstandsausschüssen drängte, konnte man im selben Frühjahr 1956 aus einem Bericht der eigenen Ständigen Vertretung bei der Allianz entnehmen. Da weitere Verzögerungen in der Bundesrepublik bei den zu erwartenden desorganisierenden Wirkungen eines Atomkrieges die Operationsfreiheit für die Bündnistruppen auf deutschem Territorium gefährdeten, forderte man die Bundesregierung dringend auf, endlich ihre Verpflichtungen aus der MC 36 voll wahrzunehmen. Dazu war es notwendig, dass die Deutschen entsprechende Experten in ausreichender Zahl und Qualität in die NATO-Ausschüsse entsandten, um sich in deren Notstandsplanungen einweisen zu lassen73. Im Sommer 1956 kam es dann endlich zur ersten eingehenden Besprechung zwischen BMVg und AFCENT über die zentralen Problembereiche in der zivil-militärischen Zusammenarbeit aus der MC 3674. Dabei interessierten die Vertreter von AFCENT mit Vorrang alle die Fragen, die sich aus dem Grundsatz der operativen Bewegungsfreiheit von NATO-Truppen im Einsatz auf deutschem Territorium sowie aus den NATO-Forderungen nach personellen wie materiellen Unterstützungsmaßnahmen aus dem Lande ergaben. Die deutschen Teilnehmer um General Speidel und den Leiter seiner Militärabteilung, Oberst de Maiziere, mussten dagegen immer wieder auf die besondere deutsche Situation als Kampfzone verweisen, in der neben den militärischoperativen Erfordernissen mindestens ebenso sehr auch die Belange einer Millionenbevölkerung, deren Überleben und ihre Versorgung Berücksichtigung finden mussten. Auf die Einzelheiten wird bei der Behandlung von Spezialfragen der Landesverteidigung noch näher einzugehen sein. Wichtig für die künftige führungstechnische Koordination war es, dass schon hier der Gedanke der deutschen Seite aufgenommen wurde, die Kommandobehörden der NATO nicht unmittelbar auf die Verbindung zu den regionalen Wehrbereichskom-

71 72 73

74

Schröder an Adenauer, 13.3.1956, BA-MA, BW 17/30, Bl. 9-14. Abt. ZB: Aufstellung der Ausschüsse im Geschäftsbereich BMI, 4.7.1957, BA, Β 106/85 373. Leiter der Militärabteilung bei der Ständigen Vertretung an BMVg, 22.3.1956, BA-MA, BW 17/30, Bl. 15-20. Protokoll der Besprechung über Zusammenarbeit auf den Gebieten der Operations- und logistischen Planung zwischen AFCENT und BMVg am 11.7., 14.8.1956, ebd., BW 2/2758.

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung

635

Fachausschüsse für den Bevölkerungsschutz (Geschäftsbereich Bundesministerium des Innern, Abt. ZB) Stand: 4.7.1957

Ständiger Ausschuss für die Planung des zivilen Luftschutzes (ZB 1)

Luftschutz-Warndienst und Fernmeldewesen (ZB 10) Luftschutzhilfsdienst (ZB 4) Brandschutz (ZB 8)

Schutzkommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft (ZB 9)

Ausschuss 01: Schutzwirkung von Bauten Ausschuss 02: Strahlungsnachweisgeräte 1 Ausschuss 03: Atem- und Körperschutz Ausschuss 04: Dosis-Kommission Ausschuss 05: Blutersatz- und Verbrennungsschäden Ausschuss 06: Strahlungskrankheiten Ausschuss 07: Schutz von Nahrungsmitteln und Wasser Ausschuss 08: Pharmakologie und Toxikologie Ausschuss 09: Bakterien Ausschuss 10: Schrifttum/Veröffentlichungen Ausschuss 11: Radioaktive Entgiftung Ausschuss 12: Radioaktive Niederschläge

Luftschutzfachausschüsse

{Fachausschuss Städtebau und Raumplanung (BMWo) Fachausschuss Bautechnik (BMWo) Fachausschuss Brandschutz (ZB 8) •) Fachausschuss Tarnung (ZB 8) Fachausschuss Sanitätsdienst (BMI, Abt. IV A 2) Arbeitsausschuss Entgiftung (ZB 9) ·) Arbeitsausschuss Bergungs- und Instandsetzungsdienst (ZB 8)

Quelle: BA, Β 106/85373.

©MGFA 05032-04

636 _ Zweiter Teil: Der Aufbau der Bundeswehr und die modifizierte atomare Abwehrplanung

mandos zu verweisen, sondern ihnen jeweils einen nationalen Verbindungsstab, die künftigen Deutschen Bevollmächtigten bei CENTAG, NORTHAG und AFNORTH beizugeben. Das deutsche Dilemma war offensichtlich: die NATO drängte auf rasches Handeln, da der Ernstfall jederzeit eintreten konnte; die Bundesrepublik sah sich dagegen außerstande, den Streitkräfteaufbau, die territoriale und die zivile Verteidigung gleichzeitig in Angriff zu nehmen. Dem standen schließlich nicht nur Gründe der finanziellen und personellen Überforderung entgegen. In einer Bevölkerung, die noch die Erfahrungen totaler Kriegführung auf dem eigenen Territorium voll in Erinnerung hatte und im Übrigen auf dem besten Wege in eine zivile Wohlstands- und Freizeitgesellschaft war, mussten dafür auch erst in einem längeren Prozess öffentlicher Überzeugungsarbeit die psychologischen Grundlagen geschaffen werden. Von daher hatte sich die Bundesregierung erst einmal auf ein vorläufiges Programm für die nächsten drei Jahre verständigt, das sich mit Schwerpunkt um Warndienste für den Luft- und ABC-Schutz, Einrichtung und Verstärkung der zivilen Hilfsdienste, Evakuierungsplanungen und Betreuung von Flüchtlingsbewegungen sowie um die Aufrechterhaltung einer öffentlichen Notversorgung drehte75. Dieser vorrangig um Maßnahmen des Bevölkerungsschutzes kreisenden Betrachtung des BMI stellte das BMVg eine stärker auf den Verteidigungsgedanken abgestellte Sehweise entgegen. In der Anfangsphase eines Atomkrieges waren danach alle Anstrengungen auf zwei Ziele auszurichten: - Aufrecherhaltung der Regierungsgewalt und - Überleben der Bevölkerung einschließlich der dazu erforderlichen Infrastruktur. Im weiteren Verlauf eines Krieges musste sich dazu aus militärischer Sicht auch die Zivilverteidigung wesentlich umfassender in die Unterstützung der Kriegführung einbringen, wenn sie den von der NATO geforderten »bestmöglichen Beitrag für die gemeinsame Verteidigung« leisten wollte. Anders als das BMI sah das BMVg organisatorisch, wie bereits früher gezeigt76, die Koordination von militärischer und ziviler Verteidigung allerdings nicht in einem erst noch einzurichtenden Leitreferat des Bundeskanzleramts, sondern im bereits existierenden Bundesverteidigungsrat angesiedelt. Dazu listete der mit Notstandsfragen befasste Referatsleiter bei Fü Β zunächst einmal die Hauptaufgabengebiete der einzelnen Bundesministerien auf:

75

76

Memorandum BMI zum Stand der Zivilverteidigung in der Bundesrepublik Deutschland vom 10.8., verteilt im BMVg, 28.9.1956, ebd., BW 17/26; vgl. dazu auch einen 1956 vom Staatssekretär im BMI, Hans Ritter von Lex, vor dem Wirtschaftsbeirat der CDU gehaltenen Vortrag »Aufgaben und Möglichkeiten der zivilen Verteidigung«, ebd., BW 2/2663. Vgl. Teil 1, Kap. III.2.b„ S. 150-155.

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung

»Für das BMI

Für das BML Für das BMWi Für das BMV Für das BMP Für das BMA

637

Gesetzgebung Organisationsfragen Fragen der inneren Sicherheit und solche, die als rein zivile Verteidigungsaufgaben anzusehen sind (Schutz der Zivilbevölkerung) Lebensmittelbevorratung Fragen der Erhaltung der Ernährungsindustrie Energieversorgung Fragen der Rüstungsindustrie Binnenverkehr (Straße, Schiene, Binnenwasserstraßen) Nothafenplanung Fernmeldeverbindungen Rundfunk Arbeitskräfteausgleich. «

Die Aufstellung eines solchen Katalogs an Forderungen und das Wissen um die Lösungsbedürftigkeit der anstehenden Probleme war freilich nur die eine Seite der Medaille. Die erst noch zu schaffenden Voraussetzungen für die Realisierung angedachter Programme ließen dagegen bis dahin noch einen langen Weg befürchten. Schließlich konnte man, wie die später zu behandelnde Notstandsproblematik zeigen sollte, nicht einmal die gesetzlichen Grundlagen dazu rechtzeitig durch den Bundestag bekommen, geschweige denn die erforderlichen personellen und materiellen Mittel verfügbar machen. Außer ständigen Anmahnungen aus der NATO und dem BMVg hatte man von Seiten der militärischen Planer somit wenig Handhaben, um Druck auf eine Beschleunigung der vorbereitenden Maßnahmen für eine effiziente Zivilverteidigung auszuüben. Zwei entscheidende Hindernisse stellten sich vorerst einer schnelleren Gangart in den Weg: Die finanzielle Doppelbelastung aus fortdauernden Stationierungskosten für NATO-Verbände auf deutschem Boden bei gleichzeitiger Fahrtaufnahme der eigenen Aufrüstung und politisch-psychologische Hemmnisse aus einem anbrechenden Wahljahr. So hatten schon die ersten Hinweise auf eine Ausstattung der Bundeswehr mit atomaren Trägermitteln eine vehemente öffentliche Debatte ausgelöst77. Eine breite Diskussion über Zivilschutz im Atomkrieg mochte da zwar den Schutzbedürfnissen aus der Bevölkerung entgegenkommen, musste andererseits aber unter Wahlkampfbedingungen eher auf das Belastende des gesamten Aufrüstungsprozesses hinweisen. Deshalb würde man auf Seiten der Bundesregierung die Thematik bis in den Herbst 1957 hinein auf der innerexekutiven Planungsebene zu halten suchen. So verständigte man sich im Bundesverteidigungsrat auf Drängen der NATO wohl noch im Dezember 1956 auf ein »Sofortprogramm« für die Notstandsplanung,

77

Vgl. Teil 2, Kap. II.2.

638 _ Zweiter Teil: Der Aufbau der Bundeswehr und die modifizierte atomare Abwehrplanung

das sich jedoch erst einmal nur auf die Maßnahmen konzentrieren sollte, die 1957 abzuschließen waren, da sie keiner weiteren gesetzlichen Voraussetzungen bedurften und auch keine zusätzlichen finanziellen Mittel erforderlich machten. Auf einer Konferenz mit den Innenministern der Länder hatte man immerhin deren Bereitschaft erreicht, entsprechende Referenten für zivilen Bevölkerungsschutz als ständige Ansprechpartner zu bestimmen, wobei das BMVg versuchen würde, über die Wehrbereichskommandos in die wesentlichen Planungen auf Länderebene eingeschaltet zu sein78. Im Bundesverteidigungsrat wie auf der Innenministerebene hatten zweifellos die Umstände einer internationalen Doppelkrise im Herbst 1956 wesentlich dazu beigetragen, exekutive Planungen vor dem Hintergrund allgemeiner Bedrohungsgefühle beschleunigen zu lassen. Das galt natürlich mit besonderem Nachdruck für das BMVg, wo Heusinger nunmehr darauf drang, das »Augenmerk der bodenständigen Verteidigung mehr zuzuwenden« und dazu auch die bislang eher skeptisch bewertete »Frage milizartiger Einheiten zu untersuchen«, um die territorialen Verbände schneller als zunächst geplant aufwachsen lassen zu können 79 . Verstärkt wurde der Druck auf die Deutschen aber auch von den Kommandobehörden der NATO. Hier hatte der CINCENT als Ergebnis aus seinem Planspiel HOSTAGE VERT (28.-30. November 1956) entnehmen müssen, dass die deutschen Wehrbereichskommandos weder nach ihrem derzeitigen Organisationsstand, noch nach den für 1957 geplanten Personalstärken ihrer Verbände auch nur annähernd in der Lage waren, ihre beiden zentralen Aufgaben - Entlastung der Feldstreitkräfte von logistischen und Sicherungsaufgaben sowie Sicherstellung der Operationsfreiheit für die NATO-Truppen zu erfüllen. Organisatorisch benötigte man dafür als Ansprechpartner eine gleichrangige Führungsspitze der Territorialverteidigung analog zu den Führungsstäben der Teilstreitkräfte mit einem regionalen Unterbau auf dem gesamten Bundesgebiet und in enger Verzahnung mit den Zivilbehörden. Außerdem musste die Wehrersatzorganisation vorangetrieben werden, um neben den Präsenzverbänden auch die Territorialeinheiten zumindest in ihrem aktiven Stammpersonal aufwachsen lassen zu können 80 . Der Vorsitzende des MFR, General Heusinger, trat dazu Ende Februar 1957 selbst vor die Innenminister der Länder, um sie mit einer eindringlichen Schilderung der Lage im Falle eines Atomkrieges zu konfrontieren und ihnen gleichzeitig darzulegen, wie eng begrenzt »zur Uberwindung der Folgen« derzeit noch die Kräfte für eine zivile Notstandsplanung waren 81 . 78

79 80

81

Hinweise auf die Sitzungen des BVR, 4.12., und der Länderinnenminister, 13.12.1956, gibt BMVg IV/A betr. Forderungen der NATO Kommando-Behörden an die Notstandsplanung, 15.1.1957, BA-MA, BW 17/26. MFR-Tagebuch, 21.12.1956, ebd., BW 17/35, S. 44. Speidel an Minister und Staatssekretär betr. Aufbau der Militärischen Territorialorganisation, 8.1.1957, ebd., BW 2/2663. Planung und Durchführung einer Rede Heusingers vor den Innenministern, MFRTagebuch, 12. bzw. 21.2.1957, ebd., BW 17/35, S. 61 und 63.

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung

639

Befördert durch die Nachwirkungen vor dem Hintergrund der erst kurz zurückliegenden Doppelkrise aus dem Spätherbst 1956 konnte man im MFR Anfang 1957 immerhin mit einiger Genugtuung feststellen, dass die Frage der »bodenständigen Verteidigung« endlich »erstrangig behandelt wird« 82 . Der Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages befasste sich außerdem schon Ende Januar 1957 mit einem ersten Entwurf für ein »Gesetz über die Organisation der militärischen Landesverteidigung« 83 . Im BMVg zeichnete sich zudem eine Entscheidung zugunsten eines eigenständigen »Kommando Territoriale Verteidigung« neben den Teilstreitkräften ab, selbst wenn der Heeresinspekteur nach wie vor »energisch« für eine Unterstellung unter Fü Η eintrat. Im Mai 1957 fiel die Vorentscheidung im MFR für die einheitliche »Wehrmachtlösung« eines eigenständigen Kommandos in direkter Anbindung an den Generalinspekteur. Als Trostpflaster verblieb dem Heer nur die Verantwortung für Aufstellung, Ausbildung und Erhaltung der Verbände für die Landes- und Küstenverteidigung 84 . Die Begründung dafür war, dass die Territorialverteidigung, anders als das Heer mit seinen drei regional begrenzten Korpsbereichen, nicht nur mit militärischen Aufgaben für den Gesamtraum der Bundesrepublik betraut war, sondern zusätzlich alle Feldstreitkräfte der NATO zu unterstützen sowie eine Mittlerstellung zur zivilen Landesverteidigung einzunehmen hatte. Das hätte an sich die Voraussetzungen für eine eigenständige Inspektion geboten; der Minister entschied sich jedoch aus haushaltsrechtlichen Gründen lediglich für die Form eines nachgeordneten Kommandos unmittelbar unter dem Generalinspekteur, weil man dadurch mit einer begrenzteren Zahl von Planstellen auskam 85 . Das alles konnte freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass man in einer entscheidenden Frage sogar einen Rückschlag zu verzeichnen hatte: bei der personellen Ausgestaltung der Territorialverbände. Hatte man sich im Januar 1956 noch auf eine Planungsgröße bis 1961 von 32 000 Mann Stammpersonal verständigt, so stand man nunmehr nach der Entscheidung des neuen Ministers für eine generelle Reduzierung der personellen Aufstellungsziele der Bundeswehr von 490 000 auf 340 000 Mann vor der Folge, dass auch die Territorialverbände nur noch auf ein Stammpersonal von 12 000 Mann rechnen konnten. Das Personal musste demnach auf ein Drittel der ursprünglichen Planung schrumpfen, während gleichzeitig die Anforderungen der NATO an die Deutschen zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen aus der MC 36 kontinuierlich wuchsen! Das betraf neben zusätzlichen Aufgaben beim militärischen Objektschutz und für kriegswichtige Infrastruktur die Sicherung der besonders gefährdeten Fernmel82 83

84

85

MFR-Tagebuch, 14.1.1957, ebd., S. 51. Debatte über den Entwurf eines Gesetzes über die Organisation der militärischen Landesverteidigung, 30.1.1957, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 2. Wahlperiode, 131. Sitzung. Tagebuch de Maiziere über »langes Gespräch mit Heusinger«, 31.1.1957, BA-MA, Ν 673/V.22, Bl. 45. ChdSt Fü Β an GenlnspBw betr. Stellung KTV, 4.3.1958, ebd., BW 2/2663.

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deeinrichtungen und die Mitwirkung an einem umfangreichen Sperrprogramm an den deutschen Ostgrenzen, um die Verteidigungslinien der NATO ganz in deutschem Interesse vorverlegen zu können. Hinzu kamen Aufgaben in der Sanitätsversorgung der Bevölkerung in Großschadensgebieten, die vom zivilen Gesundheitswesen und den karitativen Verbänden unter Atomkriegsbedingungen unter keinen Umständen allein zu bewältigen waren. Das ließ in der Streitkräfteabteilung des BMVg den Gedanken reifen, nunmehr wenigstens das Reservoir an Wehrpflichtigen voll auszuschöpfen, das für die reduzierte Bundeswehrplanung nicht mehr im bisherigen Umfang benötigt wurde. Mit Blick auf die eingeschränkteren spezifisch militärischen Aufgaben der Soldaten in den Territorialverbänden konnte man dafür mit einer wesentlich verringerten Ausbildungszeit von sechs Monaten und vergleichsweise leichter Bewaffnung auskommen. Sorgen bereitete allerdings sofort die Unterkunftslage, die an sich schon so angespannt war, dass der Aufwuchs der aktiven Verbände weit langsamer vorankam, als man dies der NATO gemeldet hatte. Da die internationale militärische Lage indes an der Jahreswende 1956/57 düster eingeschätzt wurde und die Zeit drängte, dachte man an Aushilfen. So erschien es durchaus zumutbar, wenn man diese kürzer auszubildenden Wehrpflichtigen lediglich in Anlehnung an die festen Unterkünfte der aktiven Truppe, aber in Baracken oder Zeltlagern unterbrachte bzw. den BGS, die Länderpolizeien, das Rote Kreuz und das Technische Hilfswerk um zeitweilige Unterstützung bei der Unterbringung bat. Selbst eine Herabsetzung der »Anforderungen auf das zur Gesunderhaltung der Mannschaft notwendige Maß« war unter diesen Umständen kein noli me tangere mehr86. Für wie dringlich man bei der NATO mittlerweile Fortschritte hinsichtlich der Notstandsplanung in den Partnerstaaten, und hier insbesondere in der Bundesrepublik mit seinen Problemen eines Frontstaates ansah, machte die Übung LION NOIR (20.-27. März 1957) unübersehbar. Als eines ihrer Hauptziele war dafür erstmals die Zusammenarbeit zwischen NATO- und Territorialbefehlshabern hervorgehoben worden, wobei wegen der Unfertigkeit der deutschen Organisation allerdings noch mit zahlreichen unrealistischen Annahmen und Improvisationen gespielt werden musste. So wurden insbesondere bereits »innerstaatliche Rechtsgrundlagen« simuliert, »die noch nicht existieren«, da man sonst ganze Abläufe gar nicht hätte üben können. Ein zentrales Manko war es dabei, dass man vorerst ohne Beteiligung ziviler Vertreter des Bundes und der Länder auskommen musste. Erkennbar geworden war aber gerade deswegen aus Sicht des BMVg, wie unverzichtbar es für die Bundesrepublik war, sich Gedanken über eine bereits im Frieden einzuspielende »Kriegsstruktur der Verwaltung« innerhalb einer ausdifferenzierten »Kriegsorganisation der Bundesrepublik« zu machen. Diese musste wegen der zu erwartenden operativen »Insellagen« auf dem Bundesgebiet insbesondere hinsichtlich ihrer VersorAbt. IV betr. Forderungen zum Aufstellungsplan der bodenständigen Landes- und Küstenverteidigung, 31.1.1957, ebd., BW 17/26.

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung

641

gungsorganisation für die Bevölkerung weitestgehend dezentral ausgerichtet sein. Außerdem würde man kaum um eine Erweiterung der Wehr- zu einer »allgemeinen Verteidigungspflicht« herumkommen, wenn der enorme Personalbedarf für das breite Spektrum an Zivilschutzaufgaben abgedeckt werden sollte. Es bestätigte sich schließlich auch die gemeinsame Forderung von Verteidigungs- und Postministerium, dass man ein eigenes »militärisches Grundnetz« benötigte, das unempfindlich gegen Kriegseinwirkung, von möglichst vielen Punkten her zugänglich und mit dem bestehenden Fernmeldenetz so vermascht war, dass man jederzeit von dem einen in das andere Netz vermitteln konnte. Damit würde man nicht nur das öffentliche Netz in Spannungsund Kriegszeiten entlasten; wegen dessen Verwundbarkeit durch Kriegseinwirkungen würde man dann wahrscheinlich für alle Fernmeldebelange überhaupt nur noch über dieses funktionsfähige militärische Kommunikationssystem verfügen 87 . Gerade die vielen Defizite bei der Erfüllung der deutschen Aufgaben aus der MC 36, die bei den Übungen wie bei den Sitzungen der verschiedenen Spezialausschüsse der NATO für Notstandsfragen seit 1955/56 kontinuierlich sichtbar geworden waren, veranlassten die Allianz zu zunehmend besorgteren Nachfragen an Bonn. Wie skeptisch man die langsamen Fortschritte in der Bundesrepublik beobachtete, wurde den deutschen Vertretern bei der Sitzung des Oberausschusses für Notstandsfragen (SCEPC) im Herbst 1957 vor Augen geführt. Der Ausschuss beschloss nicht nur ganz formell »Empfehlungen an die deutsche Bundesregierung zur Durchführung vordringlicher ziviler Notstandsmaßnahmen«, die von deutscher Seite nur mit dem Zusatz »soweit nicht bereits geschehen« etwas entschärft werden konnten. Man plante sogar analog zur Annual Review über die von den Partnerstaaten gemachten Streitkräfte- und Rüstungszusagen hinaus die Abgabe verpflichtender Erklärungen der Regierungen über die Erfüllung der nationalen Notstandsprogramme, die über eine Jahreserhebung ebenfalls auf Bündnisebene überprüft werden sollten. Dagegen verstanden sich allerdings die nationalen Vertreter einvernehmlich nur zu so genannten »declarations of intention«, mit denen die einzelnen Regierungen ihre beabsichtigten Programme melden sollten. Eine formale Kritik des NATOGeneralsekretariats an den nationalen Programmen und ihrer Durchführung wie im Falle der Annual Review in Streitkräftefragen wurde mit der Begründung abgelehnt, dass dazu die Möglichkeiten in den einzelnen Ländern zu unterschiedlich seien88. Bei den nächsten NATO-Übungen sah sich die deutsche Seite denn auch weiterhin vor die Wahl zwischen zwei Übeln gestellt. An sich war für ihre Territorialverteidigung die Teilnahme mit Blick auf deren unfertigen Zustand verfrüht Abt. IV/A/2: Entwurf eines Vortrages LION NOIR vor dem Bundeskabinett, 21.5.1957, ebd. BW 2/2688. Bericht des BMI an den Staatssekretär im Bundeskanzleramt über die 4. Sitzung des NATO-Oberausschusses für zivile Notstandsplanung am 15./16.10., 26.10.1957, ebd., BW 2/2663.

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und setzte sie deshalb mit schöner Regelmäßigkeit entsprechender Kritik aus. Andererseits musste man gerade in allen Fragen der nationalen Landesverteidigung Flagge zeigen, wenn man in nationalem Interesse rechtzeitig Einfluss nehmen wollte auf die Operationsplanung der NATO auf deutschem Territorium mit allen ihren Weiterungen für Maßnahmen zur Schadensbegrenzung. Bei allen Defiziten musste man deshalb die vielfältigen Kontakte während einer Übung dazu nutzen, auf die besonderen Probleme des eigenen Landes als vollständig in der »combat zone« liegend zu verweisen und dabei gleichzeitig um Verständnis für die spezifischen psychologischen Belastungen in der deutschen Bevölkerung aus ihren erst kurz zurückliegenden Kriegserfahrungen zu werben89. Wie begrenzt dazu immer noch die faktischen Möglichkeiten waren, konnte die Öffentlichkeit im Spätherbst 1957 einer Presseverlautbarung des BMVg entnehmen, in der die verfügbaren Kräfte des inzwischen eingerichteten Kommandos Territoriale Verteidigung gerade einmal auf »einen schweren Pionierregimentsstab, ein schweres Pionierbataillon, ein Fernmeldebataillon, ein Wachbataillon und sechs Feldjägerkompanien« beziffert wurden90. Unter diesen Umständen musste das BMVg gegenüber dem BMI Anfang 1958 klarstellen, dass der Aufbau der Territorialverbände »noch mehrere Jahre in Anspruch nehmen« werde, so dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt »selbst die Erfüllung dringender militärischer Aufgaben nicht in ausreichendem Umfange gewährleistet ist«. Eine Unterstützung der Hilfsdienste in der Zivilverteidigung werde daher »erst in weiterer Zukunft möglich sein«91. Ähnlich zurückhaltend konnte man sich auch nur bei den Abklärungsgesprächen mit den Innenministern der Länder und ihren Zivilschutzbeauftragten verhalten. Als Beispiel dafür mag eine Ministerbesprechung im BMVg mit den Vertretern des im Verteidigungsfall besonders hart betroffenen Landes Niedersachsen gelten92. Ungeschminkt musste der Verteidigungsminister eingestehen: »Wenn auf einen gegnerischen Angriff mit allen verfügbaren Mitteln zurückgeschlagen wird, würde dies eine schauerliche Katastrophe und physische Vernichtung der betroffenen Bevölkerung zur Folge haben.« Um eben dies zumindest bei begrenzteren militärischen Konflikten verhindern zu können, forderte Strauß deshalb vom niedersächsischen Minister des Innern, Otto Bennemann (SPD), endlich in den »sehr langwierigen Verhandlungen« um den Ausbau der Infrastruktur zu Verteidigungszwecken nachzugeben. Dies betraf in Sonderheit die unter dem Gesichtspunkt der Vorneverteidigung gesehene Notwendigkeit, »entlang der kritischen Grenze [...] eine Verteidigungslinie aufzubauen, mit der man örtlichen Konflikten sofort und wirksam begegnen kann«. Um lokale Widerstände dagegen abzubauen, suchte der Generalinspekteur die Landesver89

90 91 92

So etwa besonders deutlich im Bericht des G 3 op/KTV betr. Erfahrungen aus der Übung COUNTER PUNCH, 13.11.1957, ebd., BW 2/2689. Presseerklärung Nr. 13, 19.11.1957, ebd., BW 1/21642. BMVg an BMI, 9.1.1958, ebd., BW 2/2663. Niederschrift des Referats U 1 3 über das Ergebnis der Besprechung mit dem niedersächsischen Minister des Innern am 25.3., 11.7.1960, ebd., BH 1/98 h, Bl. 13-38.

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung

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treter darüber zu beruhigen, dass man im Frieden zumindest »keine geschlossenen Minenfelder« anlegen werde. Auch in der Frage eines von der Regierung in Hannover abgelehnten Sperrgürtels mit Flugabwehrraketen vom Typ NIKE lenkte das BMVg wenigstens so weit ein, dass man die Lage dieser Raketenstellungen hinsichtlich ihrer Nähe zu Großstädten und Ballungsgebieten nochmals unter Beteiligung der Landesregierung prüfen wollte. Nicht die in Rede stehenden Einzelaspekte sind dabei das Entscheidende, sondern der Nachweis, wie sehr bis in Einzelheiten der Verteidigungsplanung hinein im föderalen System Bundesrepublik Abstimmungsbedarf zwischen einer Kernaufgabe des Bundes und ihrer Realisierung auf Länderebene bestand. Was man im Frieden noch hinnehmen konnte, würde sich jedoch aus Sicht der militärischen Führung im Krieg schnell als gänzlich ungangbar erweisen. Den Beweis dafür hatte für Fü Β die NATO-Übung LION BLEU (18.-22. März 1958) endgültig erbracht, bei der »eine erste, wenn auch noch schüchterne Zusammenarbeit mit den zivilen Stellen« von Bund, Ländern und Regierungsbezirken stattgefunden hatte. Die schnelle Zerschlagung des Bundesgebiets in einzelne Verteidigungsinseln, zu denen kaum noch überregionale Kommunikationsstränge intakt waren, auf denen nicht einmal mehr die hierarchische Verwaltungsorganisation funktionierte, hatte offenbar endgültig bei allen Beteiligten die Erkenntnis reifen lassen, wie wesentlich für jede Aufrechterhaltung einer Mindestversorgung in den voneinander getrennten Regionen die zivilmilitärische Zusammenarbeit war. Das Ziel musste es von daher sein, schon im Frieden regionale Organe dafür einzurichten und gemeinsam üben zu lassen: »Schwerwiegende Bedeutung kommt dem Gedanken der Verteidigungsräte zu.« Darunter verstand man analog zum Bundesverteidigungsrat Koordinationsorgane in den Ländern, Regierungsbezirken und Kreisen bis hinunter zu den Kommunen, in denen der jeweils ranghöchste zivile Vertreter (vom Ministerpräsidenten bis zum Bürgermeister) den Vorsitz führen und die »Regierungsgewalt für mehr oder minder längere Zeit regional aufrechterhalten [würde], wenn die Zentralgewalt (Bundesgewalt) unter dem Atomschlage zerbrechen sollte« 93 . Wie weit dabei einmal mehr Realitäten und Spielannahmen auseinander gingen, konnte man aus den Auswertungen der ABC-Abwehr-Offiziere bei KTV herauslesen. Im Bereich des WBK IV (Mainz) hatten zwölf Atomdetonationen in der Pfalz auf einem Raum von 400 bis 500 qkm ausgereicht, um alle Versuche zur Entstrahlung von Menschen, Wasser und Lebensmitteln unmöglich zu machen. Auf bayerischem Territorium waren gar so viele Atomschläge eingespielt worden, dass zeitweilig sämtliche militärischen Operationen und Maßnahmen für den Zivilschutz zum Erliegen gekommen waren 94 .

93

94

Fü Β III: Kurzauswertung der Übung LION BLEU, Anl. 11: Zivile Dienststellen, 27.3.1958, ebd., BW 2/1969. Lehrstab Α betr. Zusammenstellung von Erfahrungsberichten LION BLEU aus dem KTVBereich, 18.7.1958, ebd.

644 _ Zweiter Teil: Der Aufbau der Bundeswehr und die modifizierte atomare Abwehrplanung

Was Territorialverteidigung dabei zur Unterstützung des Zivilschutzes leisten konnte und wo ihre Grenzen lagen, analysierte WBK III (Düsseldorf) beispielhaft an den Erfahrungen aus der NATO-Übung HOSTAGE BLEU (4.-7. November 1958). Danach sahen sich sein Befehlshaber und seine erst langsam aufwachsenden Verbände mit einer dreifachen Aufgabenstellung konfrontiert. Als nationale Kommandobehörde hatte man im Auftrag des BMVg in erster Linie die NATO-Streitkräfte in der Kampfzone bei der Aufrechterhaltung der Operationsfreiheit zu unterstützen. Dafür mussten auf deutschem Territorium die militärische Ordnung und Sicherheit gewährleistet sowie kriegs- und lebenswichtige nationale Einrichtungen, Hilfsquellen und Verkehrswege gesichert bzw. bei Beschädigung wiederhergestellt werden. Im Land Nordrhein-Westfalen war dies an sich schon eine kaum lösbare Aufgabe, sorgte dessen Industrieproduktion zu diesem Zeitpunkt doch noch für 98 % der Kohleförderung sowie für je 82 % der Rohstahl- und Roheisengewinnung in der Bundesrepublik. Im Rahmen des gültigen Einsatzplans der NORTHAG lag ein zusätzlicher regionaler Schwerpunkt auf der Verkehrslenkung für den gesamten NATO-Aufmarsch in diesem Raum sowie auf der Sicherung und Aufrechterhaltung des Verkehr auf und über den Rhein als Verbindung zwischen Kampf- und rückwärtiger Versorgungszone. Außerdem hatten die territorialen Versorgungseinheiten das linksrheinische Pipeline-Netz der NATO mit seinen Tankanlagen in Betrieb zu halten. Was unter diesen Umständen noch an Unterstützungsmaßnahmen für den Zivilschutz in Zusammenarbeit mit den dafür verantwortlichen Landesbehörden getan werden konnte, beschränkte sich deshalb wesentlich auf die in militärischem Interesse liegende Lösung des Flüchtlingsproblems, das sonst zum erheblichen Hindernis für die militärische Operationsfreiheit zu werden drohte. Dazu sollten die erwarteten Flüchtlingsmassen, die auf die RheinUbergänge zuströmten, an nach Osten gestaffelten Auffanglinien, spätestens aber im Rheintal selbst von den Flussbrücken abgedrängt und in vorzubereitende Auffangzonen umgeleitet werden. Letztlich würden die Landesregierung und ihr Verwaltungsunterbau damit jedoch bei der Masse anfallender Sicherungsaufgaben in einem so dicht besiedelten Bundesland auf die eigenen Polizeikräfte verwiesen bleiben95. Nahm man dazu die Sicherungsbelange der Bundesregierung im Bonner Raum, dann wird allein schon an diesem Beispiel nachvollziehbar, dass der Bundesinnenminister seine Exekutivkräfte im BGS unter keinen Umständen in den militärischen Verteidigungsoperationen an der deutschen Ostgrenze festbinden lassen konnte. Einen eindrucksvollen Beleg dafür, wie problematisch es für die innere Sicherheit der Bundesrepublik zu Buche schlagen musste, wenn der BGS nicht rechtzeitig aus dem Grenzeinsatz zurückgenommen wurde, lieferte die Übung SIDE STEP im Herbst 1959. Die BGS-Truppe blieb nach der Spiellage auch nach Verkünden des >Simple Alert< noch im Grenzgebiet und wurde deshalb schon bei den ersten Feindangriffen 95

WBK III betr. Deutscher Beitrag zu HOSTAGE BLEU, 29.10.1958, ebd., BW 2/2063, Bl. 127-133.

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung

645

zu großen Teilen zerschlagen. Erst allmählich konnten die Restverbände wenigstens notdürftig auf einen Stand von etwa 30 % ihrer Friedensstärke gebracht werden und fehlten damit bei den vorgesehenen Notstandsaufgaben im Innern des Landes96. Damit war aber auch ein anderes Problem angesprochen, das unter den Bedingungen eines möglichen Atomkrieges dringend der Lösung bedurfte: das der Fortführung der Regierungstätigkeit aus dazu erforderlichen und gegen Luft- wie Atomangriffe geschützten Ausweichquartieren. Bei einer Bewertung denkbarer Zielgruppen ging man zwar im BMVg wie bei der NATO davon aus, dass militärische Objekte von hoher operativer Bedeutung in den gegnerischen Angriffsplänen als Ziele absolute Priorität genießen würden. Dazu gehörten mit Vorrang Flugplätze, Raketenstellungen, Munitionslager, Depots und Massierungen von Truppen. Daneben musste man aber auch mit Angriffen gegen Verkehrsknotenpunkte, Energieversorgungszentren und kriegswichtige Industrieanlagen rechnen. Da diese zweite Zielgruppe von zivil wie militärisch gleichermaßen nutzbaren Objekten aber in aller Regel nahe bei oder direkt in Ballungszentren lagen, würden von derartigen Angriffen natürlich mittelbar auch die wesentlichsten Regierungs- und Verwaltungsbehörden betroffen sein, auf denen im Krieg die Hauptlast bei der Lenkung aller Schutz- und Versorgungsmaßnahmen für die Zivilbevölkerung ruhte. Nach militärischer Einschätzung lagen immerhin 80 % aller Regierungs- und Verwaltungszentren innerhalb von Luftschutzorten, Ballungsräumen oder nahe der innerdeutschen Grenze, für die man schon im Frieden Ausweichmöglichkeiten schaffen musste, in denen sie nach Unterbringung und Fernmeldemöglichkeiten weiter leitungsfähig blieben. Der Bedarf dafür beschränkte sich freilich nicht allein auf die staatlichen Behörden; auch als »Kriegsbehörden« einzurichtende Versorgungs-, Transport- und Fernmeldezentralen waren darin Inbegriffen. Im BMVg hatte man deshalb frühzeitig eine entsprechende Karte der Empfindlichen Punkte (EP) der Bundesrepublik angelegt, deren Schutz mit Vorrang zu betreiben war, die aber gleichzeitig auch den Kommandobehörden der NATO zugeleitet wurde, um sie möglichst weitgehend aus der eigenen atomaren Zielplanung herauszunehmen 97 . Da von alledem neben seinen Funktionen für die Aufrechterhaltung der Regierungstätigkeit und einer Notversorgung der Bevölkerung aber in den voraussichtlichen Kampfgebieten ostwärts des Rheins immer sofort auch die Operationsführung der NATO beeinträchtigt sein würde, hatte deren Oberauschuss für zivile Notstandsplanung diese Problematik zum Gegenstand seiner Beratungen und Empfehlungen gemacht98. Besonders befremdlich musste es von daher auf die NATO wie die deutsche militärische Führung wirken, dass zwar 96

97

98

Anl. zu BMI VII 2a: Bericht der deutschen Delegation über die Erfahrungen aus der Ü b u n g SIDE STEP, 15.1.1960, ebd., BW 2/2621. BMVg IV/Α betr. Beurteilung der Empfindlichen Punkte, 4.2.1956, ebd., BW 17/26, Bl. 48-74. Stellungnahme VR I 3 zur Tagesordnung der 5. Sitzung des SCEPC am 15.-17.10. in Paris, 8.10.1958, ebd., BW 2/2663.

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mit der Zweiten Wehrergänzung vom Frühjahr 1956 nach schwierigen Verhandlungen im Grundgesetz die Frage des Oberbefehls in zivilen Händen geregelt werden konnte, so dass die Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte im Frieden beim Verteidigungsminister (Art. 65a), mit der Verkündung des Verteidigungsfalles beim Bundeskanzler (Art. 115b) lag". Noch bei der NATO-Übung TOP WEIGHT im Frühjahr 1959 mussten sich die NATO-Befehlshaber auf deutschem Boden dagegen mit der Auskunft begnügen, dass über eine »Kriegsspitzengliederung« des deutschen Partners voraussichtlich eine »baldige Entscheidung« zu erwarten war. In diesem Zusammenhang mussten nämlich endlich auch die Kompetenzen der Deutschen Bevollmächtigten bei den beiden Heeresgruppen NORTHAG und CENTAG sowie bei AFNORTH für Schleswig-Holstein geklärt werden, über die schließlich alle Anforderungen der NATO-Verbände an die nationalen Dienststellen laufen sollten100. Für die folgende Herbstübung SIDE STEP arbeitete Fü Β deshalb zur Erprobung eine Kriegsspitzengliederung aus, die in einer I. Staffel den Bundeskanzler mit einem militärischen Stab unter Leitung des Generalinspekteurs als seinem unmittelbaren militärischen Berater und den für die Zivilverteidigung zuständigen Beamten aus den einzelnen Bundesministerien zusammenbinden sollte. In enger räumlicher Verbindung damit und in militärischer Unterstellung darunter sollte das zusätzliche Hauptquartier eines erst noch zu benennenden »Generalquartiermeisters der Bundeswehr« eingerichtet werden, der alle Versorgungsmaßnahmen zu koordinieren hatte und außerdem über die Deutschen Bevollmächtigten mit den NATO-Kommandeuren in Verbindung stand. Auf der Ebene der Territorialverteidigung würde schließlich der Stab des jeweiligen Wehrbereichskommandos mit der I. Staffel der für Zivilverteidigung zuständigen Beamten in den Landesregierungen zusammenarbeiten. Seitens des Übungsstabes hatte man sich dazu eng an die Spitzengliederung im Frieden angelehnt, da man unter der Annahme eines überraschenden Kriegsbeginns mit geringer Vorwarnzeit mit einigem Recht davon ausging, dass dies unter den gegebenen Umständen der voraussichtlich erfolgversprechendste Weg war, einigermaßen eingespielte Abläufe auch unter Kriegsbedingungen aufrechterhalten zu können101. Da man andererseits aber nach wie vor von sehr unterschiedlichen Vorstellungen und Vorbereitungen des BMVg und der zivilen Ministerien in Bund und Ländern auszugehen hatte, drängte man in der Rechtsabteilung des Verteidigungsministeriums auf eine klare Abgrenzung der rein militärischen Führungsfunktionen von den Aufgaben der Landesverteidigung. Letztere sollten von Leitungsorganen wahrgenommen werden, in denen die Territorialkommandos mit allen daran beteiligten zivilen Kräften entspre-

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100

101

Zu den Verhandlungen darüber 1955/56: AWS, Bd3, S. 4 9 5 - 5 0 0 (Beitrag Ehlert); zur Oberbefehlsfrage allgemein: Busch, Der Oberbefehl und Hornung, Staat und Armee. VSt Bw NORTHAG/BAOR: Bericht über die Übung TOP WEIGHT, o.D. (Frühjahr 1959), BA-MA, BW 2/1979. Fü Β III 7: Kurzauswertung der Übung SIDE STEP, 2.12.1959, ebd., BW 2/2620.

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chend ihrem Gewicht zusammenarbeiteten 102 . Wegen der besonderen Bedeutung für die Wahrnehmung nationaler Interessen im Verteidigungsfall gegenüber den NATO-Befehlshabern auf deutschem Boden hatte man noch vor der Übung SIDE STEP im Herbst 1959 eine Kommandostruktur für den Deutschen Bevollmächtigten Nord als Bindeglied zwischen regionaler Territorialverteidigung und NORTHAG/2. ATAF verfügt, die sich nach allgemeinem Eindruck bei der Übung selbst bewährte. Sie sollte deshalb die Grundlage für ähnliche Vereinbarungen beim DBv Süd mit der CENTAG/4. ATAF sowie für den DBv Schleswig-Holstein mit AFNORTH abgeben 103 . Sie würden als bevollmächtigte Vertreter des BMVg und des Oberkommandos der Deutschen Streitkräfte (ODS) bei den jeweiligen NATO-Kommandos fungieren. Ihnen oblag dazu »die Führung aller [...] unter nationalem Kommando verbleibenden deutschen Kommandobehörden, Dienststellen und Truppen«. Sie waren zudem verantwortlich für die Versorgung aller deutschen Streitkräfte in ihrem Kommandobereich und verfügten dazu über die Vorräte des strategischen Vorrats, die in der vorgeschobenen Basis nahe an den Einsatzverbänden lagerten. Außerdem unterlag ihnen die gesamte Verkehrs- und Transportführung in den deutschen Teilen der jeweiligen Kampfzone. Alle Anforderungen seitens der NATO-Kommandeure auf personelle oder materielle Unterstützung hatten mithin über sie in ihrer Funktion als oberste territoriale und logistische Befehlshaber im Einsatzland Bundesrepublik zu laufen. Letztlich waren dies alles jedoch immer noch Provisorien in der Erprobung. Ließ man daher, wie dies Fü Β selbst Mitte 1959 tat, das Erreichte Revue passieren, dann klafften militärische und zivile Verteidigungsbereitschaft nach wie vor eklatant auseinander 104 . Es reiche einfach nicht aus, wenn zwar für die mittlerweile aufgestellten Bundeswehrverbände eng mit der NATO abgestimmte Einsatzpläne vorlägen, die Vorbereitungen im übrigen staatlichen Bereich dagegen noch »in den ersten Anfängen« steckten. »Behörden der Länder und Gemeinden ungenügend unterrichtet und im wesentlichen ohne Weisungen; mögliche Selbsthilfe der Bevölkerung bisher unterblieben«, so lautete das Fazit der Militärplaner mit Blick auf die Zivilverteidigung. Komme es daher in nächster Zukunft zu einem Überraschungsangriff des Warschauer Paktes als schlimmster denkbarer Fall, dann sei der »Zusammenbruch der staatl. Ordnung im Lande« und eine »schnelle Entwicklung zum Chaos (Atomschreck, Flüchtlingsnot, Mangellagen, Seuchen)« die unausweichliche Folge. Wollte man Abhilfe schaffen, dann mussten in nächster Zukunft fünf Probleme »vordringlich und bald gelöst« werden: 102

103

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Abschlussbericht VR III: Die Wehrverwaltung als Teilnehmer an der NATO-Übung SIDE STEP, 13.1.1960, ebd., BW 2/2621. Ständige Vereinbarung für den Verteidigungsfall im Bereich DBv Nord, 9.9., Information darüber durch Fü Η an I. - III. Korps, 19.9., sowie Anl. zu Erfahrungsbericht DBv Nord über SIDE STEP, 29.9.1960, ebd., BH 1/98 bzw. BW 2/2621. Ausarbeitung Fü Β III 5, hier Kap. III: Ergänzung und Vervollständigung der Verteidigungsbereitschaft, 10.6.1959, ebd., BW 2/2443.

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»a) Pers. und materielle Ergänzung der Bundeswehr und ihre vorrangige Unterstützung durch öffentliche Dienste b) Befehlsregelung zur Sicherung im Grenzgebiet bei Kriegsgefahr und Konflikten (Bundesgrenzschutz) c) Kontrolle großer Bevölkerungsbewegungen (Flüchtlingsströme, planmäßige Räumung) d) Abriegelung und schrittweise Wiederingangsetzung von AtomwaffenSchadensgebieten (Aufbau straff geführter Zivilverteidigung) e) Vorsorge für eine Verwaltungsstruktur, mit der die Exekutive auch unter Kriegsbedingungen tätig werden und sich gegen Strömungen aller Art durchsetzen kann (klare Unterstellungsverhältnisse für Kriegsfall planen; selbständige arbeitsfähige Fü-Gremien auf mittlerer und unterer Ebene; vorsorgliche Richtlinien für Polizeieinsatz).« Alles das musste im Frieden vorbereitet und eingeübt sein, weil sonst verfügbare Zeit und Mittel im Einsatzfall nicht ausreichten. Um unmittelbaren Zugriff auf kriegsnotwendige Versorgung und Infrastruktur zu haben, mussten an den davon betroffenen Personenkreis »vorsorgliche Leistungsbescheide [und] MobBeorderung« ergehen; »dezentrale Bevorratung« war einzulagern; »Räumungsbescheide« einschließlich des »Ausbau[s] der Kader für Hilfsorganisationen« zu umfassenden Evakuierungen waren vorzubereiten; an den gesamten Bereich der mittleren und unteren Verwaltungsbehörden von den Regierungspräsidenten über die Landräte und Polizeidirektoren bis zu den Verantwortlichen in den Rundfunkanstalten mussten »Mob-Anweisungen« vorbereitet und »unter Geheimschutz« schon im Frieden ausgegeben werden. Letztlich lief alles darauf hinaus, dass man »Kriegsdekrete in der Schublade [hatte], nur in bestimmten Sonderfällen noch ausführbar (z.B. Pressezensur, gewisse Sicherheitsvorkehrungen)«. Da all dies jedoch weit hinter den Realitäten zurückhing, machte man bei Fü Β »immer häufiger und drängender« einen »Zwiespalt zwischen NATOAuftrag für Kriegsfall und dessen tatsächlicher Undurchführbarkeit« aus. Werde hier nicht bald Abhilfe geschaffen, dann seien die Folgen unausweichlich: »Vertrauen der Truppe zur Führung ist bedroht.« Lange vor der so genannten Schnez-Studie von 1968 deuteten sich damit Verwerfungen zwischen militärischer Verteidigungsplanung und ziviler Notstandsvorsorge an, die in ihren Konsequenzen an die Grundlagen einer zivil verfassten Gesellschaft gingen. Von daher nimmt es nicht wunder, dass der gesamte Fragenkomplex eines Zusammenspiels von militärischer Operationsführung und zivilen Verteidigungsmaßnahmen Gegenstand heftigster politischer Auseinandersetzungen über Möglichkeiten und Grenzen einer Notstandsverfassung sein mussten. Immerhin würde diese nichts Geringeres zu leisten haben als die militärischen Vorkehrungen für einen potenziell totalen Krieg mit den Strukturen einer zu verteidigenden Demokratie westlichen Zuschnitts in Einklang zu bringen. An der NATO-Herbstübung 1959 nahmen denn auch mittlerweile neben allen Bundesministerien, die unmittelbar oder mittelbar mit Verteidigungsaufgaben betraut waren, bereits vier Landesregierungen (Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Rheinland-Pfalz) aktiv teil, während das Saarland wenigstens mit Beobachtern präsent war. Nur krankten alle Maßnahmen in der zivil-militäri-

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung

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sehen Zusammenarbeit an den weiterhin fehlenden Rechtsgrundlagen. Die Verwaltungsbeamten mussten sich deshalb zwangsläufig auf geltende Bestimmungen berufen, die in ihren Festlegungen nur sehr unbefriedigend mit den Notwendigkeiten der militärischen Operations- und Versorgungsführung in Einklang zu bringen waren. Um ihre Mitspieler nicht völlig zu überfordern, spielten zivile und militärische Seite außerdem mit weit voneinander abweichenden Lagen. So bewegte sich die Zahl der eingespielten Atomschläge zwischen NATO-Stäben und deutschem Zivilschutz bei einem Verhältnis von 10:1, was nicht nur bei den Flüchtlingszahlen zu gänzlich unvereinbaren Größenordnungen führte. So waren auf dem Bundesgebiet allein etwa 400 feindliche Atomsprengkörper zum Einsatz gekommen, die das Territorium in vier Verkehrs- wie versorgungstechnische getrennte Teile zerschlagen und schwerste Verluste unter der Zivilbevölkerung sowie flächendeckende Zerstörungen verursacht hatten. Die Wirtschaft war unter diesen Umständen nahezu völlig zum Erliegen gekommen. Vor diesem Hintergrund klafften die militärischen Anforderungen zur Schadensbeseitigung um der Wiederherstellung der Operationsfreiheit willen und die Möglichkeiten der deutschen Zivilverteidigung natürlich weit auseinander. Außerdem empfanden die betroffenen Bundesländer die militärischen Personal- und Materialforderungen von ihrem wesentlich günstigeren Lagebild her als vollkommen überzogen, fühlten sich im Übrigen aber auch den Belangen der eigenen Zivilbevölkerung mehr verbunden als den Gefechtsnotwendigkeiten der Truppe 105 . Wenn die NATO andererseits zunehmend zu erkennen gab, dass man im Falle unzureichender nationaler Maßnahmen des deutschen Partners die Dinge im Zweifelsfall in die Hände der eigenen Kommandeure zu übergeben gedachte, dann musste dies aus deutscher Sicht die absolute Ausnahme von anders nicht zu lösenden und von ihrer Wertigkeit her angemessenen Konfliktlagen bleiben. Deshalb mahnte Fü Β im Auftrag der Bundesregierung beim DMV Washington für die laufende Überarbeitung der MC 36 die Streichung des missverständlichen Begriffs »areas under national control« an. Sonst musste man nämlich besorgen, dass elementare Souveränitätsrechte der Bundesrepublik ins Wanken gerieten, weil es im Verteidigungsfall schließlich auch nicht mehr unter deutscher Kontrolle befindliche Bundesgebiete geben konnte106. Der deutsche Wunsch nach Beseitigung des Unterschiedes von Kampf- und rückwärtiger Verbindungszone im Kriege - in der einen lag die Verantwortung zu wesentlichen Teilen bei den NATO-Befehlshabern, in der anderen bei den nationalen Territorialbefehlshabern - ließ sich freilich in der revidierten MC 36/2 nicht durchsetzen. Ganz im Gegenteil: In militärisch kritischer Lage konnte der kommandierende NATO-Befehlshaber jetzt sogar vorübergehend die ihm erforderlich erscheinende Gesamtverantwortung für beide Teile übernehmen, 105

106

Erfahrungsbericht WBK IV zu SIDE STEP, 2.11.1959, u n d Abschlussbericht der deutschen Delegation, 15.1.1960, ebd., BW 2/2621. FS Fü Β III 5 an DMV Washington, 25.11.1959, ebd., BW 2/2663.

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was der Operations- und militärischen Versorgungsführung dienen mochte, die Bewegungsspielräume der nationalen Behörden dagegen nachdrücklich einschränken konnte. Da die Verbesserungen im Gesamtdokument jedoch auch in deutschen Augen überwogen, stimmte der Bundesverteidigungsrat der revidierten Fassung am 8. März 1960 zu, so dass die MC 36/2 schließlich am 18. Mai 1960 vom NATO-Rat gebilligt werden konnte107. Damit war auf NATO-Ebene, gleichzeitig aber auch endgültig Einvernehmen darüber herbeigeführt worden, dass die NATO-Befehlshaber für ihre Forderungen im Einsatz letztlich nur einen Ansprechpartner hatten, den jeweiligen nationalen Territorialbefehlshaber. Die Abteilung Verwaltung und Recht (VR) im BMVg kam denn auch als Ergebnis der Übungen FLASH BACK und HOLD FAST im Herbst 1960 zu der Schlussfolgerung, nunmehr sei eindeutig klargestellt, dass dem Verteidigungsressort über seine Wehrbereichsbefehlshaber die Federführung auch in Fragen der Landesverteidigung zustehe, unbeschadet der Tatsache, dass man natürlich die zivile Behördenorganisation in ihren Aufgabenstellungen nicht aus ihrer Verantwortung entlassen wolle. Eine solche Sicht der Dinge höhlte allerdings die labile Balance zwischen dem für die militärische Verteidigung verantwortlichen BMVg und dem in Fragen der Zivilverteidigung zuständigen BMI einseitig zulasten des Bundesinnenministers und der Länder aus. Deshalb war sich selbstverständlich auch die Rechtsabteilung im BMVg klar darüber, dass im föderal ausgestalteten Verfassungssystem der Bundesrepublik dafür erst noch die innerstaatlichen Rechtsgrundlagen zu schaffen sein würden. Die Möglichkeiten dazu sah man im Art. 87 b des Grundgesetzes inzwischen prinzipiell gegeben, wenn man denn aus militärischer Sicht dazu bereit war, sie als Erfahrung aus den zurückliegenden NATO-Ubungen nunmehr voll auszuschöpfen108. Diese Zwangsläufigkeit sah man im Innenministerium jedoch durchaus nicht, und so blieb es denn auch in künftigen Kompetenzrangeleien zwischen beiden Ressort dabei, dass nach Auffassung des BMI alle Fragen der zivilen Landesverteidigung wie bisher beim Innenressort und seinen nachgeordneten Behörden angesiedelt bleiben sollten. Das Urteil des Verteidigungsministers blieb dementsprechend kritisch zu dem, was Landesverteidigung eigentlich zu leisten hatte, wegen unzureichender gesetzlicher Grundlagen und mangelhafter zivil-militärischer Absprachen aber nicht wirklich zustande brachte. Schon Anfang 1959 hatte Strauß den Verteidigungsausschuss mit dem Verdikt aufgeschreckt, dass alle Zivilverteidigung »so lange in der Luft hängen [müsse], als das Bundesinnenministerium keinen Unterbau habe«. Damit bestätigte sich für ihn einmal mehr die Erkenntnis, das Zusammenspiel von militärischer Verteidigungsplanung und Zivilschutz in der Bundesrepublik kranke nach wie vor daran, dass zwar ein »rein militärischer Verteidigungsapparat« aufwuchs, »dessen Einseitigkeit nicht gewährleiste, daß 107 108

Fü Β III 5 betr. MC 36/2 (revised), 1.7.1960, vom Autor eingesehen. Erfahrungsbericht VR 11 zu den Übungen FLASH BACK und HOLD FAST, 1.10.1960, BA-MA, BW 2/2624.

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung

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das im Interesse der Zivilbevölkerung Mögliche getan werde«109. Dem Bundeskanzler hielt Strauß deswegen Ende 1960 erneut vor, derzeit sei weder Vorsorge getroffen, die Operationsfreiheit für die NATO-Truppen auf deutschem Boden sicherzustellen, noch die Zivilbevölkerung mangels hinreichenden Schutzraumbaus zu schützen oder gar ausreichende wehrwirtschaftliche Vorsorge für die militärische wie zivile Versorgung zu ermöglichen110. Das Verhältnis zwischen den beiden Kabinettskollegen Schröder und Strauß, zusätzlich über ihre künftigen politischen Ambitionen angeheizt, würde sich von daher perpetuieren. Sehr zur Unzeit würde es sich ausgerechnet während der Kubakrise im Herbst 1962 vehement entladen, als sich in einer emotional aufgeheizten Krisensitzung des Bundesverteidigungsrates die beiden Minister zum Entsetzen ihrer Kabinettskollegen wechselseitiges Versagen in zentralen Belangen der Verteidigungsplanung vorwerfen sollten111. Bei Lichte betrachtet waren unter den Bedingungen eines möglichen Atomkrieges freilich beide Ressorts, wie noch zu zeigen sein wird, mit den Größenordnungen der dann auftretenden Probleme überfordert, wenn sie sich unter den Bedingungen einer demokratisch verfassten Zivilgesellschaft auf eine von den einsetzbaren Waffen her totale Kriegführung vorzubereiten hatten.

3. Das Defizit fehlender gesetzlicher Grundlagen und die Suche nach Aushilfen Bis zur Erlangung ihrer Teilsouveränität mit der Ratifizierung der Pariser Verträge 1955 hatte die Befugnis zur Erklärung des inneren wie äußeren Notstandes in der Bundesrepublik als Ausdruck eines immer noch gültigen Besatzungsstatuts bei den Alliierten Hochkommissaren gelegen. In den dann wirksam werdenden Verträgen war jedoch schon im Herbst 1954 ein Kompromiss erzielt wurden, der für eine volle Mitwirkung deutscher Truppen an einer westlichen Verteidigungsplanung unverzichtbar war. Danach sollte die Beibehaltung der bisherigen Notstandsbefugnisse nur noch bis zum Inkrafttreten der Westverträge fortgelten. Anschließend würden zwar die alliierten Rechte für Deutschland als Ganzes und für Berlin fortbestehen, die Maßnahmen für den Fall eines inneren oder äußeren Notstands sollten dagegen in dem Moment von der Bundesrepublik nach eigenem Recht ausgelöst und durchgeführt werden können, sobald sie die dafür erforderlichen Notstandsgesetze erlassen hatte. Bis dahin würden die alliierten Kommandeure im Falle einer Bedrohung 109

1,0

Debatte betr. Dringlichkeit von Notstandsgesetzen, 14.1.1959, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 3. Wahlperiode, 26. Sitzung, Zitate S. Β 8 bzw. Β 10. Strauß an Adenauer, 10.11.1960, StBKAH. Thoß, »Bedingt abwehrbereit«, S. 67.

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der Sicherheit ihrer Truppen die Notstandsbefugnisse weiter ausüben, ihre Anwendung jedoch schon jetzt an eine vorherige Konsultation mit der Bundesregierung binden112. Es sollte freilich bis in die Jahre einer Großen Koalition dauern, bevor es 1968 innenpolitisch gelingen würde, die notwendige verfassungsändernde Mehrheit im Deutschen Bundestag für eine entsprechende Notstandsregelung zu erhalten. Auf dem Weg dahin würde neben der deutschen Frage und dem Problem einer Atombewaffnung der Bundeswehr kein anderes Thema die innenpolitischen Kontroversen derart aufheizen wie die so genannte Notstandsdebatte113. Wie dringlich für die deutsche Mitwirkung an den NATO-Planungen eigene Notstandsgesetze waren, erfuhr man andererseits im neugegründeten Bundesministerium für Verteidigung bereits im Herbst 1955, als die Militärabteilung (zunächst noch Abt. II, dann Abt. IV) über die Einrichtung eines NATOFührungsausschusses für Notstandsmaßnahmen, das Senior Civil Emergency Planning Committee (SCEPC) informiert wurde. Seine Aufgabe würde es ausweislich eines dafür vom NATO-Rat beschlossenen Grundsatzdokuments sein, »Maßnahmen zur passiven Abwehr feindlicher thermonuklearer Waffen und zur Überwindung der Auswirkungen schwerer Atomangriffe in den Mitgliedstaaten voranzutreiben und international zu koordinieren« 114 . Um auf die notwendigen Abgleichungen dazu zwischen den einzelnen Bundesministerien vorbereitet zu sein, setzte Staatssekretär Josef Rust noch im selben Herbst 1955 eine eigene Arbeitsgruppe »Notstandsplanung«, bestehend aus ständigen Vertretern der Abteilungen I, II und Mat ein, zu der fallweise auch andere Abteilungen zugezogen werden konnten. Auftrag der Arbeitsgruppe sollte die »Erarbeitung einer gemeinsamen Zielsetzung für Notstandsplanungen und deren einheitliche Vertretung gegenüber den anderen Ressorts« sein115. Im Verteidigungsausschuss wurde die Frage allerdings Anfang 1956 zunächst nur im Zusammenhang mit der Regelung des Oberbefehls thematisiert. Allgemeine Ablehnung bei CDU und SPD erfuhr dabei die Empfehlung des Berichterstatters Erich Mende (FDP), der den Oberbefehl beim Bundespräsidenten verankern und ihn damit »außerhalb des parteipolitischen Spannungsfeldes« stellen wollte. Verbunden damit sollte auch das Recht zur Verkündung des Notstandes sein. Demgegenüber wollte die Mehrheit im Ausschuss einschließlich der Vertreter des BMVg die Streitkräfte eindeutig durch das Parlament kontrolliert halten. Deshalb wurde frühzeitig Einvernehmen darüber hergestellt, dass nicht das Staatsoberhaupt, sondern die dem 112

Zur Notstandsfrage in den EVG- und Ν ΑΤΟ-Verträgen: AWS, Bd 4, S. 321-324 (Beitrag Schwengler). 113 Zur politischen Notstandsdebatte: Krohn, Die gesellschaftliche Auseinandersetzung u n d Schneider, Demokratie in Gefahr?; zu Notstandsverfassung und Verteidigungsauftrag: Brunkow, Rechtliche Probleme; Karpinski, Öffentlich-rechtliche Grundsätze und Bartke, Verteidigungsauftrag, S. 51-65. 1,4 BMVg II betr. NATO-Führungsausschuss für Notstandsmaßnahmen, 25.10.1955, BA-MA, BW 2/594; das zugrunde liegende Dokument ist zugänglich über NISCA, C-M (55) 48 (Final). Π5 Weisung Staatssekretär betr. Arbeitsgruppe »Notstandsplanung«, 24.10.1955, BA-MA, BW 2/594.

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung

653

Bundestag verantwortliche Regierung für den Oberbefehl über die Streitkräfte wie für die Auslösung des Notstandsfalles zuständig sein sollte 116 . Wenige Wochen später trug der Vorsitzende des MFR, Generalleutnant Heusinger, im Bundesverteidigungsrat über das Bild des zukünftigen Krieges mit dem Ergebnis vor, dass auch hier allgemeine Ubereinstimmung über die Notwendigkeit und Dringlichkeit einer deutschen Notstandsgesetzgebung hergestellt werden konnte 117 . Die erste Kabinettsvorlage aus dem BMI dazu fand dann freilich eine klare Ablehnung in der Militärabteilung des BMVg, da sie »zwar die Notwendigkeiten eines inneren, nicht aber die Erfordernisse bei einem äußeren Notstand« abdecke 118 . Aus Sicht der Militärplaner orientierte sich das Innenministerium nämlich noch viel zu sehr an den gesetzlichen und verwaltungstechnischen Vorgaben einer Gesellschaft im Frieden. Im Einsatz musste die Bundesregierung dagegen in den Stand versetzt werden, »schnell zu reagieren und die gesamte Exekutivgewalt zentral auszuüben«. Dazu argumentierte der zuständige Referatsleiter in der Militärabteilung mit der MC 36, die bereits im Alarmfalle eine ganze Reihe nationaler Befugnisse an die NATO-Befehlshaber übergehen lassen würde. Die Bundesregierung musste daher mindestens über die Befugnisse verfügen, die sie nach NATOAuffassung an deren Kommandeure abzutreten hatte. In letzter Konsequenz bedeutete dies, dass die Bundesregierung im Verteidigungsfall »Vollmachten zur Erfüllung ihrer Verantwortlichkeiten« benötigte, die noch weit gravierender in die grundgesetzlichen Bestimmungen eingriffen, als dies in der Kabinettsvorlage des BMI vorgesehen war. So mussten aus militärischer Sicht im Verteidigungsfall etwa das Vetorecht des Bundesrats in der Steuergesetzgebung, das Verbot zur Grundgesetzänderung und »die sehr engen Bestimmungen für das Außerkraftsetzen bestimmter Grundrechte« ausgesetzt werden. Zusätzlich erforderten die vom SACEUR vorgesehenen Alarmmaßnahmen eine weitgehende Aufhebung von Grundrechten, als da waren: »a) die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Gesamtbevölkerung, b) die Überwachung, erforderlichenfalls Festnahme politisch verdächtiger Personen, c) personelle und materielle Räumungen, d) die Aufhebung des Post- und Fernmeldegeheimnisses, e) sachliche Dienstleistungen (Beschlagnahmerecht).« Bei seiner Kritik an den eingeschränkteren Überlegungen im BMI konnte sich der zuständige Referent im BMVg warnend auf das Faktum abstützen, dass die Westmächte »bereits mehrfach darauf hingewiesen« hätten, dass allein »eine ausreichende innerdeutsche Notstandsgesetzgebung« geeignet sei, die alliierten 116

1,7 118

Beratung der Frage des Oberbefehls, 11.1.1956, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 2. Wahlperiode, 64. Sitzung. Tagebucheintrag de Maiziere, 3.2.1956, BA-MA, Ν 673/ν. 21, Bl. 27. Dazu und zum Folgenden: Stellungnahme Abt. IV/A/3 betr. Kabinettsvorlage BMI vom 13.1., 6.3.1956, ebd., BW 2/2663, Bl. 3 - 5 (Hervorhebungen - Unterstreichungen - im Original).

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Vorbehaltsrechte auf dem Notstandsgebiet abzulösen. Vor diesem Hintergrund erschien es nicht mehr zu genügen, seitens des BMVg lediglich Korrekturen am Entwurf des BMI anzumahnen. Empfohlen wurde vielmehr, einen wesentlich weiter gehenden eigenen Alternativentwurf im Kabinett vorzulegen. Dem folgte der Verteidigungsminister allerdings in seiner vollen Konsequenz nicht. Er ließ aber noch im Frühjahr 1956 den mit Notstandsmaßnahmen befassten Ministerien ein grundlegendes Papier zugehen, in dem die militärischen Annahmen im Falle eines Krieges aufgelistet waren, die von der zivilen Notstandsplanung unbedingt berücksichtigt werden mussten. An der Spitze stand der Befund, dass das strategische Konzept der NATO auf der abschreckenden Wirkung ihrer Überlegenheit an Atomwaffen und der Bereitschaft zu ihrem Einsatz beruhte. Von daher mussten um der Glaubwürdigkeit westlicher Nuklearstrategie willen auch alle zivilen Verteidigungsvorkehrungen auf den beiden für militärische Planung gültigen Grundsätzen basieren: einer »ständigen Bereitschaft« aller militärischen Verbände wie der mit Verteidigungsfragen befassten Dienststellen und der Fähigkeit, die erste atomare Phase eines Krieges durch »angemessene Schutzmassnahmen« zu überleben. Erfolg versprach dabei nur die engste Abstimmung der zivilen Notstandsplanung »mit den Bedürfnissen der NATO-Kriegführung«. Da die Bundesrepublik zumindest vorübergehend in mehrere auf sich selbst gestellte Teilgebiete gespalten sein würde, in denen man nach Beginn eines Atomkrieges »für einige Zeit eine weitgehende Desorganisation und Stagnation aller Bewegungen« annehmen musste, brauchte man aus militärischer Sicht ein schon im Frieden vorbereitetes und eingeübtes »einheitliches und elastisches System der Auslösung von vorbereiteten Maßnahmen im Notstandsfall, das eng an das militärische Alarmsystem gekoppelt ist«. Oder anders ausgedrückt: der zu erwartende totale Krieg war nur dann zu bestehen, wenn sich auch die zivile Verteidigung voll darauf einstellte und dazu die Künstlichkeit eines Nebeneinanders von ziviler und militärischer Notstandsplanung aufgab119. Die Dringlichkeit für eine deutsche Notsandsregelung sah natürlich auch der Bundesinnenminister, wobei es für ihn zwei Wege zu ihrer Realisierung gab. Entweder man ließ sich mit aller Konsequenz auf die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung ein - und darauf zielte sein Entwurf vom Jahresbeginn oder man musste es im Notstandsfall darauf ankommen lassen, dass die Westmächte über ihre Botschafter entsprechende Weisungen zur Ermächtigung der Bundesregierung für Notstandsmaßnahmen erließen120. Mit Blick auf die Forderungen der NATO-Kommandobehörden und die Empfehlungen der von der Allianz geschaffenen Notstandsausschüsse durfte man im BMVg nach den intensiven Diskussionen von 1956 im Bundesverteidigungsrat, auf Kabinettsebene 119

120

BMVg IV an das Bundeskanzleramt und die betroffenen Bundesministerien betr. Militärische Annahmen als Grundlage für die zivile Notstandsplanung, 19.5.1956, ebd., BW 17/26, Vorg. 11 (Hervorhebungen - Unterstreichungen - im Original). Schröder an Adenauer, 13.3.1956, ebd., BW 17/30, Bl. 9 - 1 4 .

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung

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und zwischen den beteiligten Ministerien zwar davon ausgehen, dass alle wesentlichen Probleme erkannt und in Angriff genommen waren. Einmal mehr musste man sich allerdings auch eingestehen, dass bis zur Umsetzung in konkrete Maßnahmen erst noch die gesetzliche Absicherung erfolgen musste. So war zwar auf Kabinettsebene als Ergänzung des Grundgesetzes der besagte Entwurf für eine »Notstandsverfassung« ausgearbeitet, doch niemand ging davon aus, dass diese bereits bis Ende 1957 mit der notwendigen verfassungsändernden Mehrheit durch den Bundestag zu bekommen sein würde. Hoffnungsvoller war man da schon bezüglich einer Reihe von Begleitgesetzen, die sich auf einem Stand der Beratung bewegten, dass ihre Verabschiedung bis Ende 1957 ins Auge gefasst werden durfte 121 . Das Bundesleistungsgesetz, das im V-Fall die Verpflichtung zu bestimmten materiellen Dienstleistungen vorsah, war bereits im Bundesgesetzblatt veröffentlicht122, musste allerdings wegen seiner komplizierten Verfahren für den Notstandsfall in der Umsetzung noch einer Vereinfachung unterzogen werden. Daneben benötigte man ein Schutzbereichsgesetz, um es dem Verteidigungsminister und den Streitkräften der Partnerstaaten auf deutschem Boden zu ermöglichen, Verteidigungsanlagen zu errichten und zu unterhalten. Ein Sicherstellungsgesetz, das Leistungen der gewerblichen Wirtschaft zur Absicherung völkerrechtlicher Verpflichtungen der Bundesrepublik festschrieb, existierte seit 1951, musste aber ebenfalls erst noch den neuen Forderungen aus dem Verteidigungsauftrag des Bundes angepasst werden, und das sollte bis 1965 dauern 123 . Für den Zivilschutz wesentlich war schließlich ein Luftschutzgesetz, das bereits seit Sommer 1955 in einem Referentenentwurf auf dem Weg der Mitprüfung war, bei dem aber noch das ganz Jahr 1956 auf Kabinettsebene über die Verteilung seiner finanziellen Kosten gestritten wurde 124 . Weniger Hoffnungen als bei dem bislang präsentierten Gesetzespaket, das im Wesentlichen die Kompetenzverteilung und die materiellen Voraussetzungen für eine wirksame Zivilverteidigung zu regeln hatte, hegte man dagegen bei einem weiteren wichtigen Gesetzesvorhaben, das man als Ergänzung zum Wehrpflichtgesetz zu benötigen glaubte. Insbesondere der Luftschutz, aber auch die übrigen Hilfsorganisationen zur Versorgung der Bevölkerung wie zur Schadensbekämpfung mussten aus militärischer Sicht dringend auf ausreichende personelle Basis gestellt werden, da der Personalbedarf dafür unter den Be121

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124

D a z u u n d z u d e n Details der einzelnen Gesetzesvorhaben: M a n u s k r i p t eines Vortrages von OTL Roth (IV/A/3) vor d e r N A T O betr. O r g a n i s a t i o n u n d P l a n u n g d e r Zivilverteidig u n g in der B u n d e s r e p u b l i k Deutschland u n d voraussichtlicher Stand Ende 1957, 15.11.1956, ebd., BW 17/32. Bundesleistungsgesetz v o m 19.10.1956, in Kraft getreten a m 1.1.1957, BGBl. I, 1956, S. 815. Vgl. d a z u Festl, Die Gesamtverteidigung, S. 223 f.; d a s Gesetz f ü r S i c h e r u n g s m a ß n a h m e n auf einzelnen Gebieten der gewerblichen Wirtschaft v o m 9.3.1951 ist abgedr. in: BGBl. I, 1956, S. 679. Das Gesetz w u r d e a m 30.12.1956 a u f g e h o b e n ; seine N e u f a s s u n g v o m 22.12.1959 ist abgedr. ebd., 1959, S. 785. Der Referentenentwurf f ü r ein Gesetz über erste M a ß n a h m e n auf d e m Gebiete des zivilen Luftschutzes v o m 15.6.1955 ging bereits im selben M o n a t u.a. d e m BDI z u r Stellungnahm e zu, BA, Β 106/17589; Einzelheiten z u r Frage d e r Finanzierung im folgenden Kapitel.

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dingungen eines Atomkrieges außerordentlich hoch sein, die Bereitschaft zu freiwilligen Hilfsdiensten aller Voraussicht nach aber nicht ausreichen würde. Deshalb erschien es den militärischen Planern wie dem Präsidenten der Bundesanstalt für zivilen Luftschutz unabdingbar, ein so genanntes Dienstpflichtgesetz zu schaffen, das die Grundvoraussetzungen für die Erfassung, Bereitstellung und den Einsatz ziviler Kräfte im Verteidigungsfall abgab. Weil dafür allerdings noch nicht einmal ein Referentenentwurf vorlag, machte man sich im BMVg keine Illusionen, ein solches Gesetz schon in absehbarer Zeit vorliegen zu haben125. Wie die Zukunft zeigen sollte, würden die innenpolitischen Widerstände dagegen letztlich bis in die Regierungsparteien hinein unüberwindbar sein. Einen erneuten Anlauf zur Beschleunigung unternahm der neue Verteidigungsminister Strauß in der internationalen Doppelkrise des Herbstes 1956, wenn er im Kabinett dringend die Notwendigkeit einer Notstandsgesetzgebung anmahnte 126 . Unterstützt wurde er darin vom Vorsitzenden seines Militärischen Führungsrats, der noch Ende November 1956 befürchtete, dass sich die abklingende Krise jederzeit zu einer neuen west-östlichen Machtprobe aufschaukeln konnte. Kippte aber eine Krise dieser Größenordnung zum Verteidigungsfall um, dann würde »jede Auseinandersetzung [...] in Zukunft einen totalen Charakter tragen müssen«. Daraus ergab sich für Heusinger zwingend, dass man die eigene Notstandsplanung endlich an NATO-Standards anpassen musste. Wie wollte die Bundesrepublik sich in ein ernsthaftes Krisenmanagement einbringen, wenn sie - um nur ein besonders gravierendes Defizit zu benennen noch weit von einer auch nur einigermaßen ausreichenden Vorratshaltung bei Nahrungsmitteln und kriegswichtigen Rohstoffen entfernt war? Immerhin hing sie bei Getreide zu 24 %, bei Nahrungsfetten gar zu 58 % von Einfuhren ab; bei Schwermetallen und Gummi lagen die Abhängigkeiten sogar bei 100 %, beim Erdöl immer noch bei 70 %. Die Einsicht in die Notwendigkeit entsprechender Vorkehrungen durfte der General dabei im Kabinett durchaus voraussetzen. Nur legte seine Bemerkung, dass man »aus politischen und psychologischen Gründen [...] diese Dinge nicht vor der Öffentlichkeit zu diskutieren« bereit war, den Finger natürlich selbst in die offene Wunde 127 . Die geradezu schockartigen Erfahrungen deutscher Teilnehmer aus der Übung LION NOIR im Frühjahr 1957 mit ihrem extremen Atomwaffeneinsatz auf deutschem Territorium von beiden Konfliktseiten veranlassten den Verteidigungsminister zum neuerlichen Vorstoß. Dazu ließ er einen äußerst realitätsnahen Vortrag, den Heusinger zu diesem Thema vor den Abteilungsleitern seines Ministerium gehalten hatte, nunmehr vor dem Bundeskabinett wiederholen. Was der General dabei vor allem herausstellen sollte, war einmal mehr die »Totalität des Krieges« und die daraus erwachsende Vielzahl der trotz aller 125 126 127

Vortragsmanuskript von OTL Roth (IV/A/3), BA-MA, BW 17/32. Sondersitzung des Bundeskabinetts, 7.11.1956, Kabinettsprotokolle, Bd 9, S. 695. Heusinger an Staatssekretär, 29.11.1956, BA-MA, BW 17/24.

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung

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Bündnisverteidigung immer noch in nationalen Händen verbleibenden Aufgaben. Nur wenn es gelinge, so der Grundtenor des Vortrages, die zivil-militärische Zusammenarbeit auf der Grundlage einer endlich zu schaffenden Notstandsgesetzgebung zu intensivieren, würde sich die Gesellschaft des Frontstaates Bundesrepublik den Herausforderungen eines möglichen Krieges gewappnet zeigen. Immerhin gehe es um nichts Geringeres, so im Entwurf zum HeusingerVortrag, wie »die biologische Substanz des deutschen Volkes zu erhalten« 128 . Damit man an der eben beendeten NATO-Übung überhaupt hatte mitwirken können, war man von der Annahme ausgegangen, dass die Bundesregierung »gesetzesvertretende Verordnungen mit der Möglichkeit, Grundrechte vorübergehend einzuschränken« erlassen und diese Befugnisse im erforderlichen Umfang auch auf die Regierungschefs der Länder übertragen hatte. Das betraf eine allgemeine Dienstpflicht, eine Preis- und Lohnkontrolle, eine Einschränkung der Pressefreiheit, eine Verordnung von Kriegsstrafgesetzen sowie eine Vereinfachung des Bundesleistungs- und Wehrpflichtgesetzes 129 . Auf der nächsten Sitzung des NATO-Oberausschusses für Notstandsplanung im Herbst 1957 musste man freilich einräumen, dass Fortschritte auf dem Weg zu einer deutschen Notstandsgesetzgebung in den zurückliegenden Monaten »dürftig« geblieben waren, weil man sich »politische Zurückhaltung vor der Wahl« auferlegt hatte. Um wenigstens nach der Regierungsneubildung voranzukommen, wollte man deshalb seitens des BMVg einen Katalog von Forderungen zur zivilmilitärischen Zusammenarbeit ausarbeiten und im Kabinett zur Entscheidung vorlegen 130 . Nur änderte das vorerst nichts an der Tatsache, dass man auch bei den nächsten NATO-Ubungen erneut von der Annahme ausgehen musste, dass sich die Bundesregierung für den Fall eines überraschenden Kriegsausbruchs letztlich von den Botschaftern der drei Westmächte die gesamte vollziehende Gewalt übertragen und diese von nicht näher qualifizierten »Kriegsverwaltungschefs« in den Ländern ausüben lassen würde. Im Falle einer hinreichend langen Spannungszeit wollte man mit der Annahme spielen, dass im Kabinett in einem Blitzverfahren ein generelles Notstandsgesetz einschließlich seiner Nachfolgegesetze verabschiedet und innerhalb von zwei Monaten durch die gesetzgebenden Körperschaften gebracht worden war 131 . Besonders enttäuschend war es bei diesem Stand der internen Debatte aus Sicht der Verteidigungsplaner, dass Innenminister Schröder bei einer Rede in Stuttgart über eine notwendige Notstandsgesetzgebung selbst im Herbst 1958 noch ausschließlich den Gesichtspunkt des inneren Notstandes betont hatte. Eine derartige Haltung war aus Sicht der Rechtsabteilung im BMVg »nicht geeignet«, um in der Sache voranzukommen. Immerhin gehe es um die weiterhin Stichworte des UAL IV A, BG de Maiziere dazu, 11.4., sowie Entwurf des Vortrages selbst, 21.5.1957, ebd., BW 2/2574 bzw. 2/2688. 12" Erläuterungen des Rechtsberaters WBK III, 2.5., ebd., BH 28-3/7. ™ Vermerk Fü Β A 3, 18.9.1957, ebd., BW 2/2663. 131 Fü B/Leitungsstab LION BLEU, 2.12., und Fü B/A 2, Informationen zur AFCENT-Planübung HOSTAGE NOIR, 27.12.1957, ebd., BW 2/2263 bzw. 2/2065. 128

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uneingelösten Bündnisverpflichtungen, die Glaubwürdigkeit der Abschreckung beim Gegner und die notwendige rechtliche Basis für exekutives Handeln in der zivil-militärischen Zusammenarbeit im Kriege, also um die »Schaffung der gesetzlichen Voraussetzung für die Verteidigung« generell132. Warnend schrieb der Verteidigungsminister deswegen seinem Kabinettskollegen vor dem Verteidigungsausschuss ins Stammbuch, dass bei weiterer Säumigkeit des deutschen Gesetzgebers die Botschafter des Westmächte gezwungen sein würden, »per Proklamation« - und zwar an die Adresse der Oberkommandierenden ihrer Streitkräfte in der Bundesrepublik - das Notwendige zu tun133. Weil jedoch keinerlei Aussicht bestand, die vorhandenen Gesetzesvorlagen mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit durch das Parlament zu bekommen, reagierte Innenminister Schröder auf die Vorhaltungen aus dem BMVg mit einem Katalog »improvisierter Notstandsmaßnahmen«. Da man »jederzeit« in die Lage versetzt werden könne, tätig werden zu müssen, selbst wenn die Vorbereitungen dazu im Frieden wegen fehlender gesetzlicher Grundlagen notgedrungen »unvollständig« seien, forderte der Bundesinnenminister seine Länderkollegen nunmehr dazu auf, »prüfen zu lassen, was in Ihrem Lande getan werden kann, um solche Improvisationen im Notfalle zu ermöglichen«. Dabei sollten die Länderverwaltungen aber so vorsichtig mit allen derartigen Vorkehrungen vorgehen, dass »eine Beunruhigung der Bevölkerung« nach Möglichkeit vermieden wurde 134 . Kam man freilich aus militärischer Sicht bei der gesetzgeberischen Vorarbeit nicht endlich aus der Phase der Referentenentwürfe heraus, dann ließ sich zumindest die zivile Notstandsplanung nicht wirklich in kriegstaugliche Maßnahmen umsetzen. Denn eines durfte man schwerlich erwarten: dass die Botschafter der drei Westmächte an Stelle einer dazu verfassungsmäßig nicht in der Lage befindlichen deutschen Regierung und Verwaltung treten würden. So lange es noch keine Notstandsverfassung gab, hatten sie nämlich lediglich erkennen lassen, »daß von ihnen nur an eine Erklärung gegenüber der Bundesregierung, nicht jedoch an einzelne Kriegsdekrete oder Anweisungen gedacht ist«. Was daher in den Augen der militärischen Planer vorrangig Not tat, war eine »Beschleunigung und Festsetzung einer Dringlichkeitsfolge für die gesetzgeberischen Vorarbeiten (ggf. Geschäftsverteilungspläne durchbrechen; ständige tagende Arbeitsgruppen einrichten; Termine setzen)«. Außerdem galt es, die »Zuständigkeiten für die Planung und Vorbereitung der Landesverteidigung beim Bund selbst und gegenüber den Ländern (Verwaltungsabkommen)« zu überprüfen und radikal zugunsten einheitlicher Bundeskompetenzen zu straf-

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Notiz VRI, 31.10.1958, ebd., BW 2/2663. Einlassung von Strauß zur Dringlichkeit von Notstandsgesetzen, 14.1.1959, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 3. Wahlperiode, 36. Sitzung, Zitat S. Β 4. Der Bundesminister des Innern an die Innenminister (Senatoren) der Länder - persönlich o.V.i.A., 5.3.1959, BA-MA, BW 2/2663.

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung

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fen135. Beschleunigung brachte das alles jedoch nicht, denn dazu fehlten nicht nur die parlamentarischen Mehrheiten. In vielen Detailfragen waren auch die Fachministerien durchaus nicht bereit, zu weitgehende Kompetenzen der militärischen Dienststellen im Verteidigungsfall zu akzeptieren, da man dann besorgen musste, dass im Zweifelsfalle jederzeit militärische Belange vor den Versorgungsproblemen der Bevölkerung Vorrang genießen würden. Da half es auch wenig, wenn der Verteidigungsminister im Sommer 1959 vor dem Verteidigungsausschuss des Bundesrates »die Diskussion über die Gesamtverteidigung der Bundesrepublik und Europas in einer gespenstischen Irrealität« befangen sah. In seinem Ministerium vermerkte ein Referent von Fü Β III vor diesem Sachstand mit Blick auf die Sicherstellung militärischer Bedürfnisse kühl: »Tatsächlich wird sich bei und nach Kriegsbeginn die Truppe unmittelbar Geltung verschaffen. Es wäre viel erreicht, wenn es durch geeignete Vorschriften gelingt, wenigstens der Willkür einzelner Soldaten und Unterführer Grenzen zu setzen und ein Verfahren zu finden, das einerseits praktikabel ist, andererseits den Begriff des Rechts wahrt136.« Da die verschiedenen Warnungen aus militärischem Munde darüber, dass im Verteidigungsfall die Alliierten die Notstandsgewalt an sich ziehen und auf ihre Kommandeure übertragen könnten, zunehmende Besorgnisse bei Politikern auslösten, beeilte sich der Vertreter der Rechtsabteilung im BMVg Anfang 1960 vor dem Verteidigungsausschuss beruhigend zu versichern, die Westmächte beabsichtigten nicht »eine totale Übernahme der vollziehenden Gewalt«. Nach der MC 36 sei vielmehr eindeutig vorgesehen, »daß die nationale Gewalt völlig intakt bleibe«137. Solange es jedoch keine deutsche Notstandsgesetzgebung gab, war diese Aussage zwar formal richtig, in ihrer Substanz dagegen höchst zweifelhaft. Wenn man tatsächlich deutsches Interesse unter Kriegsbedingungen hinreichend geltend machen wollte, ohne dafür vorerst wegen der innenpolitischen Blockaden die gesetzlichen Grundlagen schaffen zu können, dann blieb nach Lage der Dinge nur der Ausweg, möglichst viele Vorkehrungen für den Notfall schon im Frieden so vorzubereiten, als ob man dafür im Verteidigungsfall die erforderlichen gesetzlichen Voraussetzungen haben würde. Als Erfahrung aus den Herbstübungen von 1959 zog man bei den Mitspielern des BMI daher die Folgerung, dass man auf der Basis von »Schubladengesetzen« zu handeln hatte. Sie waren übungsmäßig so einzuspielen, dass sie selbst dann funktionierten, wenn man wie bisher darauf angewiesen sein würde, dass die Bundesregierung im V-Fall erst noch durch die Botschafter der Westmächte zur Übernahme von Notstandsbefugnissen ermächtigt werden

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Ausarbeitung Fü Β III 5, Kap. III: Ergänzung und Vervollständigung der Verteidigungsbereitschaft, 10.6.1959, ebd., BW 2/2443. Besprechungsvermerk Fü Β III 5 an U II 1, 8.9.1959, BA-MA, BW 2/2663. Aussprache über die Übung SIDE STEP, 14.1.1960, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 3. Wahlperiode, 71. Sitzung, Zitat S. 25.

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musste138. Noch ein Jahr später konnte der Verteidigungsminister gegenüber seinem Bundeskanzler freilich nach wie vor nur konstatieren, dass man auch an den Herbstübungen von 1960 lediglich deswegen habe mitwirken können, weil man »eine ganze Reihe von Annahmen« gleichsam wie Als-ob-Lösungen aus der NATO akzeptiert bekommen habe139. Als Fazit bleibt mithin, dass die Bundesrepublik ausgerechnet unter den für sie gravierendsten Bedingungen einer massiven Vergeltungsstrategie mit allen ihren möglichen Folgen für das deutsche Territorium und seine Bevölkerung im Verteidigungsfall faktisch ohne hinreichende gesetzliche Basis hätte agieren müssen.

4. Ungelöste Probleme des Bevölkerungsschutzes: Schutzraumbau, Evakuierungen und Flüchtlingsfrage Zum parteiübergreifenden Konsens gehörte es in Deutschland nach den Erfahrungen aus dem zurückliegenden Bombenkrieg, dass die Bevölkerung in einem künftigen europäischen Konflikt unter allen Umständen gegen die Gefahren aus einem Luftkrieg angemessen geschützt werden musste. Die Debatten darüber waren beinahe so alt wie die Bundesrepublik. Schon im Sommer 1950 hatten ehemalige hochrangige Fachleute für den Zivilschutz im Zweiten Weltkrieg den Ausbruch des Koreakrieges zum Anlass genommen, um bei der Bundesregierung über Wohnungsbauminister Eberhard Wildermuth dringend Maßnahmen für den Luftschutz »im Falle militärischer Operationen in Westeuropa« anzumahnen140. Der Zeitpunkt war günstig gewählt, denn die Öffentlichkeit stand unter dem Eindruck von Einsätzen der geballten amerikanischen Luftmacht in Ostasien, die bei einem Übergreifen des Konflikts auf Westeuropa insbesondere für das dicht besiedelte Mitteleuropa noch wesentlich flächendeckendere Bombardements beider Konfliktparteien befürchten ließen. Fragen der Luftverteidigung hatten denn auch Eingang in die Diskussionen von Militärexperten um einen westdeutschen Verteidigungsbeitrag im Rahmen des westlichen Bündnisses im Kloster Himmerod gefunden, wobei die Aufgabe »Ziviler Luftschutz« von vornherein beim Bundesministerium des Innern verankert worden war141.

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Anl. BMI VII 2a: Bericht der deutschen Delegation über die Erfahrungen aus der Übung SIDE STEP, 15.1.1960, BA-MA, BW 2/2621. Strauß an Adenauer, 10.11.1960, ebd., BW 2/14255, Bl. 7. Memorandum der Luftschutzexperten August Eberhard, Dr. Rudolf Hanslian und Heinrich Paetsch »Die Schutzlosigkeit des deutschen Volkes im Falle militärischer Operationen in Westeuropa«, 21.8.1950, BA, Ν 251 (Eberhard Wildermuth), Bd 7. Für den Hinweis danke ich Nicholas J. Steneck, der am Department of History, Ohio State University eine Dissertation zum Luftschutz in der Bundesrepublik 1950-1965 abgeschlossen hat. Rautenberg/Wiggershaus, Die »Himmeroder Denkschrift«, S. 40 und 45-47.

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung

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Das Problem war freilich, dass den Deutschen nach den Kontrollratsgesetzen Nr. 8 und Nr. 23 von 1945/46 immer noch alle Planungen und Maßnahmen zur Zivilverteidigung ausdrücklich untersagt waren, man also auf Regierungsseite vorerst gar nicht handlungsfähig war142. Auf Anfrage des Bundeskanzlers bei der Alliierten Hochkommission dauerte es noch bis Ende 1951, bevor man zumindest eine stillschweigende Duldung entsprechender deutscher Planungen erreichte. Auf dieser Basis konnte man Ende 1952 mit der »Kommission zum Schutz der Zivilbevölkerung gegen atomare, biologische und chemische Angriffe« wenigstens ein Beratungsgremium wissenschaftlicher und technischer Experten schaffen und mit der Zeitschrift »Ziviler Luftschutz« ein entsprechendes öffentliches Aufklärungsorgan publizieren. Noch vor dem Bündnisbeitritt der Bundesrepublik erwuchs daraus ein einvernehmliches Grundprogramm um die drei Pfeiler eines staatlich einzurichtenden Luftschutzwarndienstes, eines freiwillig zu organisierenden Luftschutzhilfsdienstes und einer breiten Aufklärungsinitiative in die Öffentlichkeit hinein zum Selbstschutz der Bevölkerung, in das Ende 1953 auch bereits die anderen Bundesressorts einschließlich der Dienststelle Blank eingebunden waren143. Allen Planungen für einen künftigen Zivilschutz stand allerdings eine darin durchgängig gespaltene öffentliche Stimmungslage gegenüber. Auf der einen Seite dominierte zwar ein allgemeines Gefühl des Bedrohtseins, das aber von der Regierung nicht gleichermaßen für die Unterstützung ihrer Planungen zur militärischen und zivilen Verteidigung umgesetzt werden konnte144. Alle öffentlichen Auftritte der mit Zivilschutzfragen befassten Mitarbeiter des BMI wie aus den Reihen des 1951 gegründeten Bundesluftschutzverbandes fruchteten da wenig. Noch im Frühjahr 1954 war man sich auf der Kabinettsebene darin einig, dass »die Zeit noch nicht reif ist für eine öffentliche Debatte« darüber und man sich deshalb in der eigenen Planung erst einmal »so vorsichtig wie möglich« zu bewegen hatte145. Von daher kursierten im Bundeskabinett zwar seit Anfang 1953 mehrfach veränderte Entwürfe des BMI über ein »Gesetz für den zivilen Luftschutz«, die vor allem die Notwendigkeit für einen flächendeckenden Schutzraumbau und die dazu erforderliche Kostenverteilung zwischen Bund, Ländern, Kommunen und Privathaushalten zu fixieren suchten146. Zu Recht monierte die Opposition freilich noch im Sommer 1954, dass dafür bei den exorbitanten Kosten - die 142

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Memorandum dazu von Staatssekretär Gerhard Egidi, BMI an BKA, 17.8.1950, BA, Β 106/17569. Steneck, Protecting the Population. Der Autor hat den Verfasser freundlicherweise Einblick in das Manuskript seiner Dissertation nehmen lassen, die jedoch noch nicht im Druck vorliegt. Eingehende Analysen dazu für die Jahre 1950-1954 in: AWS, Bd 2, S. 463-493 (Beitrag Volkmann); zu den Daten betr. Luftschutz: Steneck, Protecting the Population, zu den gesetzlichen Grundlagen für den Schutzraumbau allgemein: Zivilschutz und Zivilverteidigung, Heft C. CDÜ-Fraktionsvorsitzender von Brentano an Innenminister Schröder, 11.3.1954, BA, Β 106/50239. Entwürfe vom 24.1.1953 und 1.2.1954, ebd., Β 106/1936.

662 _ Zweiter Teil: Der Aufbau der Bundeswehr und die modifizierte atomare Abwehrplanung

Zahlen schwankten für ein angedachtes Vierjahresprogramm zwischen 1,2 und 2,1 Mrd. DM - bislang keinerlei Finanzierungsrahmen festzulegen war. Innenminister Schröder konnte sich gegen solche Kritik nur mit dem Verweis auf einen »unnatürlichen Defaitismus« in der Öffentlichkeit zur Wehr setzen. Diese Antistimmung werde von der Presse und den Gegnern einer deutschen Aufrüstung zusätzlich angeheizt und mache es der Bundesregierung so schwer, gerade mit Blick auf die neuen atomaren Bedrohungen ein angemessenes Luftschutzprogramm durch das Parlament zu bekommen147. Erst die erregenden Presseberichte über die NATO-Übung CARTE BLANCHE vom Sommer 1955 führten geradezu schlagartig zu einer breiten öffentlichen Debatte über das jetzt allgemein als vernachlässigt wahrgenommene Manko unzureichender Vorkehrungen für den Luftschutz. Schon im Herbst 1955 kündigte Bundesinnenminister Schröder nunmehr neuerlich seine Absicht an, in allen öffentlichen wie privaten Neubauten Schutzräume gesetzlich zur Pflicht zu machen148. Ein revidierter Referentenentwurf dazu im Rahmen eines Luftschutzgesetzes lag im BMI seit Mai 1955 vor, in den inzwischen auch bereits erste Anregungen des BDI hinsichtlich des Schutzes von Industriebetrieben eingearbeitet waren149. Nur sollte das jetzt und in der Zukunft wenig daran ändern, dass Bedrohungswahrnehmung einerseits und öffentliche Aversion gegen die damit verbundenen Pflichten und Kosten auf der anderen Seite weit auseinander gingen. Um aber endlich »eine Bresche in das vorherrschende Mißtrauen zu schlagen«, das in der Bevölkerung aus den Kriegserfahrungen wie aus der verbreiteten Skepsis über die Schutzmöglichkeiten gegen Atomwaffen herrührte, kündigte der Bundesluftschutzverband zeitgleich mit der Einbringung des Gesetzesentwurfs eine fahrbare Ausstellung an. Sie sollte »von Stadt zu Stadt« geschickt werden, um die angedachten staatlichen Vorkehrungen durch die Bereitschaft der Bürger zum »Selbstschutz« zu flankieren150. Schon einen Monat nach seiner öffentlichen Ankündigung lag der Entwurf für ein »Gesetz über Maßnahmen auf dem Gebiet des zivilen Luftschutzes« im Kabinett zur Beratung vor. Vorbehalten seitens der Wirtschaft gegen die beabsichtigte Festlegung, dass künftig »lebens- oder verteidigungswichtige Betriebe und Einrichtungen [...] nur an Standorten errichtet werden, die von der Bundesregierung aufzustellenden Grundsätzen über die Berücksichtigung des Luftschutzes entsprechen«, wollte man von Seiten der Bundesregierung nicht folgen. Der Vorschlag des Wohnungsbauministers, im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus Bauherren mit niedrigeren Einkommen öffentliche Zuschüsse für die geforderten Schutzräume zuzubilligen, fand dagegen allgemeine Zustimmung. Einwände erhob naturgemäß der Finanzminister gegen eine allzu weitSteneck, Protecting the Population. «β Ν WDR-Interview betr. Luftschutzgesetz, abgedr. in: Bulletin Nr. 177 vom 19.9.1955. 149 Referentenentwurf des BMI, 15.6., detaillierte Stellungnahme BDI, 1.7., sowie positive Antwort darauf seitens des BMI, 6.10.1955, BA, Β 106/17589. 150 Erläuterungen Dr. W. Lennartz, Bundes-Luftschutzverband zu der Ausstellung, abgedr. in Bulletin Nr. 177 vom 21.9.1955. 147

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gehende Zuständigkeit des Bundes, da er Bundespost und Bundesbahn wie andere Wirtschaftsunternehmen auch nicht zu seinen Lasten von der Verpflichtung zur Kostenübernahme für ihre Luftschutzmaßnahmen freistellen wollte. Zudem hielt er Überlegungen über Steuervergünstigungen für Bauherren in den nächsten fünf Jahren als Anschub für einen forcierten Schutzraumbau für zu weitgehend, drohten ihm daraus doch Steuerausfälle in Höhe von 250 Mill. DM zu erwachsen. Immerhin erreichte er eine Streichung der Passage, die den Ländern ein Drittel der anfallenden Kosten für eine Bevorratung von Arzneimitteln in den Schutzräumen aus dem Bundesetat erstattet hätte, weil er dies als Länderaufgabe deklarieren konnte151. Die Auseinandersetzungen über die Fragen der Kostenverteilung zwischen Bund, Ländern, Kommunen und Privathaushalten sollten sich noch über zwei Jahre hinziehen, bis im Herbst 1957 endlich das grundsätzlich von allen geforderte Luftschutzgesetz in Kraft treten konnte. Finanzminister Schäffer sah seinen Kurs rigider Haushaltsführung gefährdet, da die Kosten für einen einigermaßen flächendeckenden baulichen Schutz gegen Luftkriegsgefahren wie bereits gezeigt schon nach ersten Schätzungen exorbitant zu werden drohten. Dagegen wandten die Fachminister für Post und Verkehr ein, dass man derartige »betriebsfremde Kosten« - für die Bundesbahn würden sie sich nach ersten Schätzungen auf mindestens 1 Mrd. DM, für die Bundespost auf etwa 250 Mill. DM belaufen - deswegen nicht auf die Bundesunternehmen abwälzen konnte, weil sie aus der beim Bund angesiedelten Verteidigungspflicht resultierten. Gegen den Ausweg des BMI, sie dann dem Verteidigungshaushalt zuzuschlagen, gab dagegen Verteidigungsminister Blank seinen Einspruch zu Protokoll, würde dies doch Mittel vom Aufbau der Streitkräfte und ihrer Infrastruktur abgezogen haben152. Aber auch die Länder sträubten sich über den Bundesrat, die Zuschüsse für derartige Baumaßnahmen zu ihren oder zu Lasten der Kommunen gehen zu lassen. Dagegen befürchtete der Bund eine erhebliche Einschränkung des von ihm doch ausdrücklich gewünschten und deshalb staatlich geförderten sozialen Wohnungsbaus, wenn aus diesen Bundesmitteln auch noch die Schutzräume anteilig finanziert werden mussten. Legte man die Kosten dafür andererseits auf die Mieten um, würde dies das Ziel konterkarieren, Wohnraum für Einkommensschwache bezahlbar zu halten153. Einsprüche des BMF einerseits, der davon betroffenen Fachministerien anderseits hielten die Beratungen über das Luftschutzgesetz schließlich das ganze Jahr 1956 hindurch unterhalb der Entscheidungsreife. Für Finanzminister Schäffer stellten die Maßnahmen zur militärischen Aufrüstung und zum damit eng verbundenen Zivilschutz ein Gesamtpaket von Verteidigungsausgaben des Bundes dar. Seinem Kanzler klangen dagegen die Anmahnungen der NATO in den Ohren,

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100. Kabinettssitzung, 14.10.1955, Kabinettsprotokolle, Bd 8, S. 570-572. 104. Kabinettssitzung, 2.11.1955, ebd., S. 624-627. Zu den Auseinandersetzungen zwischen Bund und Ländern: 109. Kabinettssitzung, 14.12.1955, ebd., S. 730 f.

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endlich Ernst zu machen mit der zugesagten Aufstellung von Kampfverbänden in den versprochenen drei Jahren. In Abwesenheit Schäffers lehnte das Bundeskabinett deshalb Anfang Dezember 1957 dessen Einsprüche ab. Adenauer machte ihn sogar persönlich für die Verzögerungen beim Streitkräfteaufbau verantwortlich. Das alles fruchtete freilich wenig. Das BMF weigerte sich weiterhin strikt, den aus einem Luftschutzgesetz herrührenden »überplanmäßigen Ausgaben« für den Bund im geforderten Umfang zuzustimmen154. Nach einem weiteren Jahr der Auseinandersetzungen konnte das »Erste Gesetz über Maßnahmen zum Schutze der Zivilbevölkerung« schließlich im Oktober 1957, also mehr als zwei Jahre nach der Vorlage eines Gesetzesentwurfs, verabschiedet werden. Und selbst das war nur unter Inkaufnahme eines Kompromisses erreicht worden, der seine Umsetzung in Baumaßnahmen letztlich in wesentlichen Teilen vertagte. So sollten Gemeinden über 10 000 Einwohner bei öffentlichen Neubauten von nun an zwar für deren Benutzer gleichzeitig zur Einrichtung von Schutzräumen verpflichtet sein. Wegen der hohen finanziellen Belastungen dafür schob § 39 des Gesetzes diese Schutzbaupflicht aber bis zum Erlass eines besonderen Gesetzes auf. Dazu würde es freilich erst mit dem Schutzbaugesetz des Jahres 1965 kommen155. Auch in diesem Falle setzten mithin die verfügbar zu machenden Mittel den einvernehmlich als notwendig erachteten Verteidigungsmaßnahmen ihre innenund finanzpolitischen Grenzen. Wenn aber der Schutzraumbau vorerst nicht in ausreichendem Maße zu realisieren war, was war dann zu tun, um wenigstens einen Mindestschutz für die Bevölkerung zu erreichen? Auf einen Weg suchte der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes den Bundeskanzler zu stoßen. Unter Verweis auf Art. 14 der 4. Genfer Konvention zum Schutz der Zivilbevölkerung vom 12. August 1949 forderte er von Adenauer die Einrichtung von darin vorgesehenen »Sanitäts- und Sicherheitszonen« auf dem Gebiet der Bundesrepublik, die allerdings nur wirksam werden konnten, wenn sie von der Gegenseite ebenfalls anerkannt wurden. Eben wegen der dabei zu gewärtigenden Schwierigkeiten sollte man aus Sicht des DRK schon internationale Kontakte dazu aufnehmen, da es unter Kampfbedingungen dafür in jedem Falle zu spät sein würde. Um der Umsetzbarkeit willen war dabei zunächst nur an Kinder, Frauen und Betagte (über 65 Jahre) gedacht, die insgesamt freilich 37 % der Gesamtbevölkerung ausmachten. Natürlich war man sich auch im DRK darüber im Klaren, dass derartige räumliche Absprachen nur im Einvernehmen mit der NATO und unter Berücksichtigung der dafür militärisch überhaupt noch freien Gebiete auf deutschem Territorium zu treffen waren. Mit Blick auf die Anerkennung einiger Städte während des Zweiten Weltkrieges als »VerwundetenStädte« und der Einrichtung »neutralisierter Zonen« in Jerusalem nach dem 162. und 164. Kabinettssitzung, 5. bzw. 19.12.1956, Kabinettsprotokolle, Bd 9, S. 753 f. bzw. 777 f. iss Ygj dazu Festl, Die Gesamtverteidigung, S. 188 f. Das Erste Zivilschutzgesetz (ZBG) vom 9.10.1957 und das Schutzbaugesetz (SBauG) vom 9.9.1965 sind abgedr. in: BGBl. I, 1957, S. 1696 bzw. BGBl. I, 1965, S. 1232. 154

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Kriege hielt man den Weg seitens des DRK jedoch für erfolgversprechend genug, um ihn der Politik dringend anzuempfehlen 156 . In ähnliche Richtung dachte der ehemalige Panzergeneral Frido von Senger und Etterlin, wenn er in einem Aufsatz157 die Möglichkeiten eines zivilen Luftschutzes unter der Frage diskutierte: »Können wir die Folgen eines vollen Atomkriegs auf die Bevölkerung voraussehen und wenn ja, können wir etwas zu ihrem Schutz tun?« Seine Antwort lautete, dass dies durch Bunker und Luftschutzanlagen einfach deswegen nicht möglich war, weil sich in der Bundesrepublik in 54 Großstädten 60 % des Industriepotenzials und 65 Millionen Menschen angesammelt hatten. Außerdem würden die Einwohner durch eine Verbunkerung auch nur zeitweilig vor den Erstwirkungen von Atomwaffen, nicht aber vor deren eigentlichen Langzeitwirkungen, der »radioaktiven Bestrahlung« zu schützen sein. Von daher diskutierte er ähnlich wie das DRK den Ausweg einer »rechtzeitigen Evakuierung auf weit abgelegene Landstriche«, wie er dies beispielhaft bei den Schweden geplant sah. Die inzwischen publik gewordenen Hinweise aus dem Gaither Report, einer wissenschaftlichen Expertise für den amerikanischen Präsidenten über die Gefahren eines atomaren Überraschungsangriffs als Auftaktphase eines künftigen Krieges, ließen ihn freilich schnell zweifeln, ob man darin noch in der Lage sein würde, selbst gut vorbereitete Massenevakuierungen zeitgerecht vornehmen zu können. Der Einsatz von Fernlenkwaffen ließ dafür einfach keine hinreichende Vorwarnzeit mehr übrig. Wenn der Autor deshalb auf den militärischen Ausweg von »Gegenwaffen« in Form von Raketenabwehr-Raketen als erfolgversprechenderen Weg aus dem Dilemma eines sonst kaum noch wirksamen Luftschutzes verfiel, darin würden darauf die negativen Antworten allerdings erst in den sechziger Jahren gegeben werden. Zum gegebenen Zeitpunkt eines Einstiegs in die reine Vergeltungsstrategie war damit jedoch nicht weiterzukommen. Und da man sich noch auf Jahre hinaus über die Kostenfrage für den Neubau von Luftschutzanlagen nicht verständigen konnte, blieb zunächst nur der Rückgriff auf bereits vorhandene bzw. wiederherstellbare Anlagen aus dem Weltkrieg. Um die noch nutzbaren Bunker zu erhalten, war dazu bereits 1950 im Zuge der Koreakrise ein »Entfestigungsstopp« für derartige Anlagen vorgenommen worden. Nachdem die Westmächte 1951 für die Bundesrepublik zwar nicht formell, aber stillschweigend das bis dahin geltende Verbot eines zivilen Luftschutzes aufgehoben hatten, waren frühzeitig entsprechende Kompetenzen beim BMI verortet worden, die Ende 1953 in der Gründung einer Bundesanstalt für zivilen Luftschutz gipfelten. In ihr wurden ehemalige Spezialisten aus der Technischen Nothilfe und dem Reichsluftfahrtministerium zusammengezogen. Zum Zwecke wissenschaftlicher Expertise hatte man Verbindungen zum »Deutschen Forschungsrat«, dem 156 157

Schreiben des DRK-Präsidenten Weitz an Adenauer, 22.12.1955, BA-MA, BW 2/2663. Manuskript »Civiler Luftschutz« mit d e m handschriftlichen Vermerk »Zeit! ab 9.11.56«, ebd., Ν 64/13.

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Vorläufer der »Deutschen Forschungsgemeinschaft« hergestellt. Erste Erfahrungsaustausche hatten zu dem Ergebnis geführt, dass bei entsprechender baulicher Umrüstung in den noch vorhandenen Luftschutzbunkern ein 60 bis 80%iger Schutz zu erreichen war158. Damit hatte man zwar Ansatzpunkte zur Sicherung noch verfügbarer Bausubstanz und ein Expertenwissen angesammelt, das sich schon im Sommer 1955 niederschlug in den »Richtlinien für den Schutzraumbau«, erlassen vom Bundesministerium für Wohnungsbau. Was einem dagegen auf nationaler Ebene fehlte, waren Kenntnisse über den zusätzlichen Schutz vor Atomwaffen. Erst im August 1957 wurden deutsche Wissenschaftler von ihren amerikanischen Kollegen zu Bunkertests mit Kernwaffen in die Wüste von Nevada eingeladen. Da jedoch, wie gezeigt, vorerst gar keine hinreichenden Mittel für Neuanlagen bereitgestellt werden konnten, wurden zunächst einmal die Stadtverwaltungen damit beauftragt, alte Anlagen mit einer Mindestaußenwandstärke von 1,10 m auf ihre »luftschutztaktische« Tauglichkeit im Atomkrieg zu prüfen. Aus diesen Erfassungsübersichten ließen sich immerhin 1500 Bunker entnehmen, deren Umrüstung noch lohnend erschien. In Erweiterung der Vorgaben von 1955 und der inzwischen erhaltenen Expertise aus den USA konnte das Bundesministerium für Wohnungsbau schließlich im Mai 1960 seine jetzt auch für atomare Gefährdungen fortentwickelten »Richtlinien für die bauliche Instandsetzung der Bunker« herausgeben 159 . Mit derartigen Aushilfen konnte es freilich aus Sicht des für Schutzraumbauten federführenden Ministeriums nicht sein Bewenden haben. Dazu war die Bundesrepublik in ihrer geographischen Lage zu »luftgefährdet« und wegen ihrer Siedlungsdichte auch »in hohem Maße luftempfindlich«. Andererseits hatte die Expertise der eigenen Fachleute ergeben, dass sich im Zweiten Weltkrieg die Verluste über einen flächendeckenden Luftschutz bezogen auf die Gesamtbevölkerung auf 1 % hatten reduzieren lassen. Und da man bei entsprechender Ausstattung kritischer Zivilgebiete mit »hochwertigen Schutzraumbauten« selbst unter atomaren Bedingungen »eine hohe Sicherheit« zu erreichen hoffte, wurden Forschung und Planung dafür unabhängig von einem noch ausstehenden Schutzbaugesetz seit 1955/56 konsequent vorangetrieben. Vom Grundsatz her wollte man dabei neben dem öffentlichen Schutzraumbau zusätzlich Richtlinien für die Ausstattung von Kellern in Privathäusern mit »trümmersicherer Decke«, Bauvorgaben für den Schutz von Hochbauten sowie Vorkehrungen zugunsten einer weiträumigeren Städteplanung einschließlich einer Raumordnung für eine »möglichst aufgelockerte Wohnungs- und Industriestruktur« entwickeln. Nur war man sich von vornherein im Klaren darüber, dass solcher vom Luftschutz her gebotenen aufgelockerten Bebauung natürlich wirtschaftliche und infrastrukturelle Grenzen gesetzt waren. Deshalb wollte man sich zunächst mit Vorrang auf Großstädte über 100 000 Einwohner sowie militärische und industrielle Neubauten konzentrieren. Weil indes selbst die iss Foedrowitz, Bunkerwelten, S. 173. 159 Ebd., S. 174 f.

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung

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Durchführung dieser begrenzteren Programme »viele Jahre« erfordern würde, drängte man seitens des Wohnungsbauministeriums darauf, dass damit zumindest umgehend begonnen werden sollte, da »neben dem Aufbau einer Bundeswehr gleichzeitig und gleichrangig ein Schutz der Zivilbevölkerung vorgesehen werden« müsse160. Unterstützung dafür erhielt man aus der Presse, in der jetzt endlich an herausgehobener Stelle Luftschutz zur »Führungsaufgabe« erklärt wurde, weil bereits der letzte Krieg gezeigt habe, dass um des Uberlebens willen »dem totalen Krieg [...] die totale Verteidigung entgegengestellt werden« müsse161. Argumentative Hilfestellung kam aber vor allem auch von der Wissenschaft, wenn die Schutzkommission der DFG zwar einen »Vollschutz« gegen Atomwaffen für »nicht durchführbar«, technisch und wirtschaftlich verwirklichbare Schutzmaßnahmen aber anders als die Unterzeichner der Göttinger Erklärung gegen eine Atombewaffnung der Bundeswehr für notwendig und möglich erklärte, da dies »Verluste an Menschenleben entscheidend verringern« könne162. Demgegenüber konfrontierte Helmut Schmidt den zuständigen Bundesinnenminister Schröder schon im Mai 1957 in der Haushaltsdebatte mit dem Befund, den wenige Wochen zuvor bereits die Göttinger Kernphysiker vor die Öffentlichkeit gebracht hatten. Wohl plädierte auch der Sicherheitsexperte der SPD für umfassende Vorkehrungen zum Luftschutz; die »Sicherheitsmythologie« der Regierungen, als ließen sich damit auch wirksame Schutzvorkehrungen gegen die atomare Gefährdung der deutschen Bevölkerung erreichen, lehnte er für seine Partei dagegen vehement ab163. Dass dies alles jedoch eine Frage der einsetzbaren Mittel sein würde, lässt ein Vergleich mit zeitgleichen Überlegungen in den USA erkennen. Ein eigens dafür eingerichteter Untersuchungsausschuss prüfte dazu Kosten und Möglichkeiten für ein Luftschutzbauprogramm, wie es die amerikanische Zivilschutzbehörde gefordert hatte. Je nachdem, welchen Grad des Schutzes man erreichen wollte - die Spanne reichte von Verlustzahlen zwischen über 90 % bis 2 % der amerikanischen Bevölkerung bei unterschiedlich intensiven Atomangriffen - sprangen die Kosten von Schutzbauten für Programme mit achtjähriger Laufzeit von 5,1 auf 70 Mrd. Dollar164. Die Prüfung dieser dann ja zusätzlich zu den an sich schon hohen für Verteidigungsausgaben aufzubringenden Mittel durch die Fachleute im Finanzministerium führte freilich zu dem Ergebnis, dass man mit einem umfassenden Bauprogramm für den zivilen Luftschutz letztlich inflationäre fiskalische wie bauwirtschaftliche Risiken eingehen würde 165 . Der 160

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Grundlagenpapier des BMWo »Baulicher Luftschutz, verteilt an die Abgeordneten der Fachausschüsse des Deutschen Bundestages, 25.9.1956, BA-MA, BW 2/740. Eberhard Bitzer, Luftschutz ist eine Führungsaufgabe. In: FAZ v o m 15.2.1957. Erklärung der Professoren Haxel, Maier-Leibniz und Riezler, abgedr. in: Bulletin Nr. 77 v o m 17.4.1957. Soell, Helmut Schmidt, S. 284. Report to the NSC by the Special Committee on Shelter Programs, 1.7.1957, LOC, DDRS 1997,1093. Memorandum of the Council of Economic Advisers on Economic Implications of Alternative Shelter Programs, 14.8.1957, ebd., 1092.

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Kommentar des Präsidenten dazu war, dass unter diesen Umständen nicht der bauliche Luftschutz, sondern die Verstärkung der eigenen atomaren Abschreckung das einzig realisierbare Ziel zum Schutz der eigenen Bevölkerung darstellte166. Eine ähnliche Auffassung hatte NATO-Generalsekretär Paul Henri Spaak im Herbst 1957 gegenüber den Vertretern der Deutschen Atlantischen Gesellschaft bei ihrem Besuch in Paris vertreten: Ein »totaler Schutz« der Zivilbevölkerung im Atomkrieg sei unmöglich; würde man dennoch den Versuch dazu unternehmen, müsse man zu Lasten der militärischen Aufrüstung »ganz enorme Mittel aufbringen«; von daher sei der beste Schutz eine lückenlose nukleare Abschreckung167. Der Einsicht, dass gegen Atomwaffen »kein absoluter, nur relativer Schutz möglich« war, verschloss man sich auch im BMI nicht. Das Problem aus deutscher Sicht war nur, dass man das Gebiet der Bundesrepublik als potenzielles Gefechtsfeld als »unterschiedslos gefährdet« einstufen musste und deshalb bei allen Überlegungen über eine Prioritätensetzung beim Schutzraumbau letztlich »nicht nur in Schwerpunkten« denken und planen konnte. Bei der »Schwere« der Schutzbauten mochte man nach der Wahrscheinlichkeit variieren, die man als atomare Gefährdung für eine Region annahm. Generell war jedoch »Schutz überall und für alle erforderlich«, dies allerdings wiederum unter dem zwingenden Vorbehalt: soweit »finanziell realisierbar«168. Einig war man sich jedenfalls mit den westeuropäischen Partnern, dass man der radikalen Schlussfolgerung nicht folgen wollte, die in den USA mittlerweile beim Schutzbauprogramm aus seinem Kostenvolumen gezogen worden war169. Die hier vorgenommene Umstellung auf Bauten, die nur noch gegen die Wirkungen des atomaren Fallout schützten, waren nicht nur deshalb nicht auf Westeuropa übertragbar, weil verschiedene Länder bereits Programme für schwerere Schutzbauten eingeleitet hatten. Auch psychologisch wirkten die Erfahrungen aus dem Bombenkrieg des Weltkrieges noch zu sehr nach, als dass man die eigene Bevölkerung von solchen Leichtbauten hätte überzeugen können. Man verständigte sich deshalb darauf, dass es in der NATO kein einheitliches Programm geben sollte, da die Bedingungen dafür in den Partnerstaaten zu unterschiedlich seien. In letzter Konsequenz blieb man aber auch in der Bundesrepublik bei allem Einvernehmen über die Notwendigkeit hinreichender Schutzvorkehrungen während der gesamten Dauer einer Verteidigungsplanung unter den Bedingungen der >massive retaliation weit unterhalb des dafür zwar für erforderlich Gehaltenen, aber eben nicht gleichzeitig mit dem Streitkräfteaufbau Finanzier166

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Kommentar Eisenhowers zu den Vorschlägen des Gaither Report, 4.11.1957, Dockrill, Eisenhower's New Look, S. 214. Gespräch Spaaks mit Vertretern der Deutschen Atlantischen Gesellschaft, Bulletin Nr. 199 vom 24.10.1957. Fü Β III 5: Notiz zum Gespräch mit dem Staatssekretär im BMI, Hans Ritter von Lex, 5.2.1958, BA-MA, BW 2/2663; Hervorhebung - Unterstreichung - im Original. Bericht der Militärabteilung bei der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik bei der NATO über die Sitzung des Ausschusses Zivile Verteidigung am 19./20.5., 31.5.1958, ebd.

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baren. Schockiert stellte deshalb der Übungsstab des BMWi nach der NATOÜbung SIDE STEP im Herbst 1959 fest, dass die Zivilbevölkerung des eigenen Landes »der Vernichtung ausgesetzt« sei, wenn man nicht endlich einen umfassenden Schutzraumbau realisieren könne. Auch der Leiter der Deutschen Delegation bei dieser Übung konnte die Verluste in der Bevölkerung wegen des Fehlens von Schutzbauten nur als »ungeheuer« qualifizieren. Mit Blick auf die bisherigen und wohl auch noch auf absehbare Zukunft zu erwartenden Verzögerungen beim Schutzraumbau hielt er vorerst allerdings umfangreiche Evakuierungen und Umquartierungen für ein realistischeres Mittel, um zu einer »Verringerung der Tötungsdichte« zu gelangen 170 . Untrennbar mit dem Schutzraumbau hing die Frage einer rechtzeitigen Luftschutzwarnung zusammen. Ihre notwendige enge Verkoppelung mit den militärischen Frühwarneinrichtungen ist bereits unter dem Blickwinkel einer integrierten Luftverteidigung beschrieben worden 171 . Um erkannte Gefährdungen aber auch rechtzeitig an die davon betroffene Bevölkerung bringen zu können, benötigte man die technischen Mittel und das dafür ausgebildete Luftschutzpersonal. Der NATO meldete das federführende BMI schon im Herbst 1956 172 , dass dazu im Laufe der nächsten drei Jahre eine Einteilung des Bundesgebiets in zwölf Warnzonen und der Aufbau eines freiwilligen Luftschutz-Hilfsdienstes von 260 000 Helfern geplant war. Davon sollten 230 000 Helfer auf 70 besonders gefährdete städtische Zielgebiete verteilt und 30 000 Helfer als regionale Reserven überörtlich zusammengehalten werden. In jeder der zwölf Warnzonen wollte man außerdem aus den Erfahrungen mit Tieffliegerangriffen im Weltkrieg je zwei Beobachtungssektoren ä 50 Bodenbeobachtern, also verteilt über das Bundesgebiet insgesamt 1200 Luftraumbeobachter, einrichten. Sie sollten zusätzlich zu den aus der militärischen Früherkennung gewonnenen Daten durch Auge- und Ohrbeobachtung Objekte melden, welche die eigene Radaraufklärung unterflogen hatten. Außerdem wollte man sie mit Spürgeräten zur Feststellung von radioaktiven Niederschlägen ausstatten und die gewonnenen Erkenntnisse im nächstgelegenen Warnamt durch Meteorologen auswerten lassen, um sofort regional über Sirenen gesonderte Signale zur ABC-Warnung abgegeben zu können. Ein erstes Warnamt zu experimentellen Zwecken hatte man dafür schon Anfang 1956 in Düsseldorf eingerichtet; die Vorbereitungen für den Aufbau weiterer vier Warnämter waren eingeleitet; eine erste Luftbeobachtungsabteilung sollte im Herbst des Jahres mit dem Probebetrieb beginnen. Im Frühjahr 1957 trug der Staatssekretär des BMI, Hans Ritter von Lex, über die ersten Resultate und die weitergehenden Absichten im Verteidigungsausschuss vor 173 . Danach hatte man die Bundesrepublik mittlerweile in zehn Luft170

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Erfahrungsberichte BMWi und Leiter Deutsche Delegation bei SIDE STEP, 28.10.1959 bzw. 5.1.1960, ebd., BW 2/2621. Vgl. Teil 1, Kap. III.l. SCEPC: Progress Report, Germany and the Politics, 14.9.1956, NISCA, AC/23 (CD) D/144. Vortrag des Staatssekretärs, 3.4.1957, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 2. Wahlperiode, 153. Sitzung.

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Funktionsschema für den Warn- und Alarmdienst

Quelle: Zivilschutz und Zivilverteidigung, S. 87.

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schutzwarnämter mit je 2000 Warnstellen eingeteilt. Vertreter dieser Warnämter saßen in den militärischen Flugmeldezentralen, um Daten aus der Früherkennung sofort an die betroffenen Regionen durchgeben und dort über Sirenen Luftalarm auslösen zu können. Anders als noch im Vorjahr beim Testfall Düsseldorf begonnen, wollte man nunmehr die Warnämter aber außerhalb von atomgefährdeten Großstädten, also im Fall Düsseldorf nach Düren verlegen, um sie nicht frühzeitig durch Zerstörung ausfallen zu lassen. Ein eigenes elektronisches Warnnetz würde man sich ersparen. Die Auslösung durch Sirenen im Alarmfall wollte man vielmehr über das Postnetz laufen lassen, sie wegen dessen Verwundbarkeit aber zusätzlich durch Funk überlagern. Die rückwärtigen Einrichtungen der Bundeswehr wollte man, wie vom Haushaltsausschuss aus Kostengründen angeregt, an das zivile Warnnetz anschließen, um sich eine zivil-militärische Doppelorganisation für Luftalarme ersparen zu können. Die technischen Einrichtungen für einen flächendeckenden Warndienst sollten sich freilich noch als die am leichtesten zu realisierende Maßnahme erweisen. Es war nämlich eine vergleichsweise einfache Sache, die Notwendigkeit einer dazu erforderlichen umfassenden Hilfsorganisation zu begründen, die sich nach gemeinsamen Ermittlungen von BMVg und BMI zusammensetzen würde aus

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- 64 000 Mann Brandschutzdienst, - 55 000 Mann Bergungs- und Instandsetzungsdienst, - 56 000 Mann Luftschutz-Sanitätsdienst, - 45 000 Mann ABC-Dienst, - 30 000 Mann Luftschutz-Betreuungsdienst, - 10 000 Mann Fernmeldedienst. Als überregionale Reserven plante man nunmehr, die zunächst an die NATO gemeldeten 30 000 Helfer auf das Doppelte zu verstärken, um dadurch in die besonders von Atomeinsätzen bedrohten Großstädte von außen her schnelle und ausreichende Unterstützung heranbringen zu können. Zum Schutz ihrer Fahrzeuge und Geräte vor frühzeitiger Zerstörung durch Kriegseinwirkung würde man dieses Material außerhalb der Stadtgrenzen lagern müssen. Die Planung für die Fahrzeug- und Geräteausstattung sah man schon im Herbst 1956 als abgeschlossen an; ihre Beschaffung war angelaufen. Ein weit weniger leicht zu lösendes Problem stellte dagegen die Gewinnung des erforderlichen Personals dar. Man dachte dabei an freiwillige Rekrutierung auf der Basis der vorhandenen staatlichen, kommunalen und privaten Einrichtungen und Verbände wie Feuerwehren, Technisches Hilfswerk, die Gesundheitsdienste des Deutschen Roten Kreuzes, der Johanniter- und Malteser-Orden sowie des Arbeiter-Samariter-Bundes, unterstützt von öffentlich betriebenen bzw. subventionierten wissenschaftlichen Instituten und Laboratorien. Die Ausbildung der Luftschutzhelfer sollte auf der Leitungsebene durch die Bundesanstalt für zivilen Luftschutz, regional durch die zentral geschulten Einheitsführer vorgenommen werden174. Als Grundstock dafür glaubte der damit beauftragte Bundesluftschutzverband nach eigenen Angaben schon einmal erste 25 000 Helfer an der Hand zu haben175. Bereits im Herbst 1957 äußerte der Präsident des Bundesamtes für Zivilschutz freilich öffentlich seine erhebliche Skepsis darüber, ob man auf freiwilliger Basis tatsächlich zu den benötigten 260 000 Luftschutzhelfern kommen würde. Die Erfahrungen aus dem Bombenkrieg waren mittlerweile weitgehend aus der öffentlichen Debatte verdrängt worden, von daher genossen alle Maßnahmen zum Luftschutz in der erklärten westdeutschen Friedens- und Freizeitgesellschaft nur eine »sehr geringe Volkstümlichkeit«. Die Abneigung dagegen erhöhte sich im Gegenteil noch dadurch, dass Informationen über atomare Kriegführung aus Sicht der Zivilschutzplaner geradezu eine »Atompsychose« bei den Bundesbürgern verbreitet hatten. Bei aller Notwendigkeit zu öffentlicher Aufklärung darüber musste man mithin sehr darauf bedacht sein, zwar »die Gefahren [von Atomwaffen] nicht zu verkleinern, aber auch nicht zu übertreiben«. Andererseits entstanden selbst aus Sicht der Fachleute nach ihrem

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Memorandum des BMVg zum NATO-Dokument AC/23 (CD) D/141, 8.10.1956, BA-MA, BW 17/26. Vortrag des für Zivilschutzaufgaben verantwortlichen Referatsleiters Fü Β IV A 3, OTL Roth, 15.11.1956, ebd., BW 17/32.

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Einsatz gerade durch die auftretenden radioaktiven Niederschläge nicht nur für die Bevölkerung »fast unlösbare Probleme«. Das galt im Übrigen in verstärktem Maße für die völlig ungeschützte Natur und das kaum zu schützende Vieh, das man jedoch als lebende Reserve für die Sicherstellung der Ernährung dringend brauchte. Wie in allen Fragen der Vorbereitung auf einen atomar geführten Krieg stand man also auch bei der Personalgewinnung für einen flächendeckenden Luftschutz vor dem Dilemma, dass gerade die Größe der atomaren Herausforderungen zur schwersten Belastung für alle Sicherheitsvorkehrungen schon im Frieden wurden. Wenn man dem allerdings mit dem Zwangsinstitut einer allgemeinen »Verteidigungspflicht« beikommen wollte, dann stieß man selbst in den Regierungsparteien schnell an die Grenzen des innenpolitisch Durchsetzbaren176. Dem Oberausschuss der NATO für Zivilschutzfragen musste man deshalb ein Jahr später einmal mehr melden, dass »in der BRD die Frage der Notdienstverpflichtung nicht geregelt« sei177. Ein weiteres Jahr später gestand man sich im BMI ein, dass die bisher erreichten Ergebnisse beim Aufbau eines freiwilligen Luftschutz-Hilfsdienstes (LSHD) bislang »enttäuschend« seien. So habe man den überörtlichen Einrichtungen des LSHD zwar bereits Ausrüstung im Wert von etwa 80 Mill. DM zur Verfügung gestellt; weitere Beschaffungen von über 36 Mill. DM seien mittlerweile angelaufen; im Haushalt für das kommende Jahr 1960 habe man zusätzliche 35 Mill. DM für den Luftschutz angesetzt. Auf Länderebene sei dagegen »bisher nicht einmal die Aufstellung einer einzigen LSHD-Bereitschaft für irgendeinen der Fachdienste gelungen«. Selbst die Bildung der Aufstellungsstäbe, für die aus Bundesmitteln bereits die Bezahlung sichergestellt war und die bis Ende 1959 eine erste Sollstärke von etwa 26 000 Helfern erreichen sollten, war entgegen der früher abgegebenen überoptimistischen Prognosen des Deutschen Luftschutzverbandes noch nicht zu realisieren gewesen. Von der für 1960 geplanten Aufstellung der ersten örtlichen Hilfsdienste musste man deshalb ohne die dafür notwendige überregionale Grundorganisation zunächst einmal ganz Abstand nehmen. Der zuständige Abteilungsleiter im BMI sah seinem Staatssekretär gegenüber daher den eingeschlagenen Weg grundsätzlicher Freiwilligkeit »als vorerst gescheitert« an. Die Länder hatten von Anfang an einmütig die Forderung nach einer staatlichen Luftschutzorganisation erhoben, die um ihrer dezentralen Wirksamkeit willen kommunal ausgerichtet werden sollte. Angelehnt an das Vorbild aus dem Weltkrieg sollte dazu das Führer- und Unterführerpersonal »straff zentralisiert« ausgebildet und gelenkt werden. Den freiwilligen Verbänden und Einrichtungen würden »lediglich Zubringerdienste« wie Werbung, Ausbildung und Einsatz der Helfer auf unterster Ebene zufallen. Einer so weitgehenden Unterordnung des insbesondere in den Wohlfahrtsverbänden ge176

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Vortrag Hampes auf der gemeinsamen Tagung des Arbeitskreises für Wehrforschung und der Arbeitsgruppe für Wehrtechnik, 25.10.1957, Hampe, Zivilverteidigung, S. 69 - 72. Bericht BMVg, Abt. VR 13 zur 5. Sitzung des SCEPC, 8.10.1958, BA-MA, BW 2/2663.

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung

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pflegten Prinzips der »Subsidiarität« wollte man also um der Kontrolle der eingesetzten Mittel und der Verfügbarkeit im Einsatz willen die nachdrückliche »Staatsregie« vorschalten. Dem widersetzten sich die in Aussicht genommenen Basisorganisationen von den Feuerwehren bis zu den Gesundheitsdiensten mit großem Nachdruck. Ministerialrat Walter Bargatzky hatte dies in seiner doppelten Eigenschaft als Abteilungsleiter im BMI und Vizepräsident des DRK am eigenen Beispiel erleben müssen, obwohl es seiner Überredungskunst immerhin gelungen war, wenigstens in der Mehrzahl der DRK-Landesverbände die Bedenken gegen zu viel staatliche Einflussnahme auf die zu Luftschutzdiensten bereiten Mitglieder und ihre Ausbildung zurückzudämmen. Gegenüber den Berufs- und Freiwilligen Feuerwehren mit ihrem Personalreservoir von etwa 650 000 Mitgliedern, die zudem noch in erheblicher Konkurrenz zueinander standen, lag man dagegen noch weit vom Ziel einer staatsnäheren Zusammenarbeit entfernt, obwohl man gerade sie ähnlich wie das Technische Hilfswerk natürlich besonders dringend benötigte für die Brandbekämpfung und die Wiederherstellung beschädigter Versorgungseinrichtungen. Wollte man also in der Sache weiterkommen, musste man - so Bargatzkys Vorschlag - den Eigeninteressen in den bestehenden zivilen Hilfsorganisationen entgegenkommen und das Element staatlicher Ausbildung und Lenkung deutlich zurücktreten lassen 178 . Da dies offenbar nicht in genügendem Maße geschah, waren die Reaktionen vorhersehbar. Ein weiteres halbes Jahr später konstatierte der Ständige Ausschuss des BMI und der Länderinnenministerien, dass Aufstellungsziele und ereichte Resultaten nach wie vor weit auseinanderklafften. Mit Stichtag 12. Mai 1960 stand in den überregionalen Luftschutzdiensten einem Soll von 27 158 gerade einmal ein Ist von 9722 Helfern gegenüber. Die Aufstellung lokaler Dienste hatte man unter diesen Umständen noch gar nicht in Angriff nehmen können. Und bei den Verhandlungen mit dem Deutschen Feuerwehrverband über eine Mitarbeit der Freiwilligen Feuerwehren am Brandschutzdienst zeichnete sich vorerst ebenfalls kein positives Ergebnis ab179. Von daher nimmt es nicht wunder, dass alle Stabsrahmenübungen der NATO, wie jetzt erst wieder im Herbst 1959 SIDE STEP, entweder Atomeinsätze im zivilen Bereich weit unterhalb der Schwelle der auf militärischer Seite geplanten Zahlen und Wirkungen hielten, um die Übungsstäbe der deutschen zivilen Verteidigung überhaupt mitwirken lassen zu können. Im anderen Falle führten die mit ungenügenden Mitteln zu erzielenden Ergebnisse wie seit der ersten Übung unter deutscher Mitwirkung - LION NOIR im Frühjahr 1957 - regelmäßig zu chaotischen Erscheinungen der Desorganisation. Damit bissen sich aber militärische Operations- und zivile Notstandsplanung an einem für die Operationsführung entscheidenden Punkt. Nach der

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BMI, Abteilungsleiter VII, an Staatssekretär betr. Luftschutzhilfsdienst, 4.12.1959, BA, Β 106/38085. Kurzreport zur Sitzung des Ständigen Ausschusses für zivile Notstandsplanung a m 24.5.1960 in Bonn, ebd.

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MC 36 würde der Bundesrepublik als potenziellem Gefechtsgebiet die Verpflichtung zufallen, die Operationsfreiheit für die auf ihrem Territorium operierenden NATO-Verbände zu garantieren. Alle militärischen Bewegungen mussten von daher absoluten Vorrang vor gesteuertem oder ungesteuertem Bevölkerungs- und sonstigem Versorgungsverkehr genießen. Da der Schutz und die Versorgung der Zivilbevölkerung auf dem Gefechtsfeld nahezu unmöglich waren, ungesteuerte Menschenmassen auf den Straßen aber die Bewegungen der Truppe nachhaltig belasten würden, galt in der NATO das Prinzip des »stay at home« für den weit überwiegenden Teil der Landeseinwohner in einer Kampfzone. Dagegen machten allerdings die deutschen Vertreter im Committee on Refugees and Evacuees der NATO von Anfang an geltend, dass man diese Maxime zwar vom Grundsatz her billigte, ihre Durchführbarkeit aber in Zweifel zog. Dazu verwies man insbesondere auf eine psychologische Sonderbefindlichkeit der Bundesbürger, von denen immerhin 11 Millionen als Vertriebene oder Flüchtlinge aus Mittel- und Ostdeutschland stammten. Bei ihrer mitgebrachten »Russenangst« aus den letzten Kriegsmonaten würden sie schwerlich an ihren Wohnorten zu halten sein, sobald Verbände der Roten Armee in Westdeutschland eindrangen. Der Einsatz von Atomwaffen, das hatten bereits die öffentlichen Reaktionen auf die Übung CARTE BLANCHE im Sommer 1955 gezeigt, würde die Tendenz zu panikartigen massenhaften Fluchtbewegungen noch wesentlich steigern. Man musste daher aus deutscher Sicht von vornherein zwei in ihrer Bündelung nur schwer steuerbare Probleme in den Verteidigungsplanungen des Bündnisses mitberücksichtigen: die notwendige und planbare Evakuierung von Zivilpersonen aus unmittelbaren Kampfzonen sowie aus sonst nicht vor Luftangriffen zu schützenden Teilen der großstädtischen Bevölkerung einerseits und die spontanen oder durch bewusste psychologische Kriegführung des Gegners ausgelösten und kaum kontrollierbaren Flüchtlingsbewegungen. Da sich mithin schon unmittelbar nach Kriegsbeginn, bei einer sich schnell aufschaukelnden internationalen Krise möglicherweise auch bereits davor, Millionen von Deutschen aus ihren Wohngebieten auf den Weg nach Westen machen würden, mahnten die deutschen Vertreter im Flüchtlingsausschuss der NATO schon Ende 1955 Solidarität ihrer Partner bei den sonst unlösbaren Schwierigkeiten mit der Unterbringung und Versorgung derartiger Bevölkerungsmassen an180. Um das Thema unter Planungskonditionen wenigstens einigermaßen handhabbar zu machen, unterschied man dazu bei den geplanten Bevölkerungsverschiebungen zunächst einmal unterschiedliche Kategorien von Evakuierungen. Da waren an vorderster Stelle die Angehörigen der Stationierungstruppen auf deutschem Boden, für die ausgearbeitete Pläne zu ihrer Rückführung hinter den Rhein bzw. auf die Britischen Inseln vorbereitet waren, um sie schon in Spannungszeiten aus möglichen Kampfzonen zu entfernen. Damit sollten psycholoi8o Deutsche Stellungnahme auf der Sitzung des Committee on Refugees and Evacuees, 21.11.1955, NISCA, AC/23 (RE) - R / 8 , Nr. 15.

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gische Belastungen in Soldatenfamilien vor dem Einsatz abgebaut, die Kampftruppe aber vor allem auch von den Belastungen aus der Versorgung ihrer Angehörigen befreit werden 181 . Hinzu kamen Überlegungen zur Rückführung deutscher Wissenschaftler, Techniker und Facharbeiter, die für kriegs- und überlebenswichtige Bereiche als unverzichtbar galten. Aber auch die für den Wehrersatz anstehenden Jahrgänge der Wehrpflichtigen einschließlich des zu ihrer Ausbildung erforderlichen militärischen Stammpersonals gedachte man, wenn möglich, »planmäßig und rechtzeitig zurückzuführen«, um sie in den östlichen Teilen der Bundesrepublik nicht sofort in Feindeshand fallen zu lassen 182 . Und schließlich wollte man wesentliche Teile der Bevölkerung aus Großstädten, die mit einiger Sicherheit Atomziele darstellen würden, in vorbereitete Sicherheitszonen evakuieren. Im BMI unterschied man dazu drei gesonderte Vorgehensweisen. Von einer »Fernevakuierung«, also eine Verbringung außerhalb der deutschen Grenzen in weniger gefährdete Gebiete der westlichen Nachbarländer sollte nur ein sehr begrenzter Personenkreis - Wissenschaftler, Geheimnisträger sowie einige nicht näher qualifizierte, aber besonders schützenswerte zivile und militärische Einrichtungen - betroffen sein. Eine »Verbringung in Gebiete innerhalb der Bundesrepublik«, die von unmittelbaren Kampfhandlungen und schwereren Luftangriffen voraussichtlich verschont bleiben würden, sah man für kriegs- und überlebenswichtige Betriebe und ihre Belegschaft, aber auch für wehrtaugliche Männer vor, die man für die Streitkräfte und ihren Ersatz benötigte. Aus unmittelbaren Kampfzonen und Großstädten über 200 000 Einwohner wollte man schließlich zum Zwecke der »Auflockerung« oder der zeitweiligen »Räumung« Menschen und Sachwerte in die nächste Umgebung verbringen, gedacht war an einen Umkreis von 100 km. Wo immer durchführbar, wollte man aus psychologischen Gründen in den von solchen Maßnahmen betroffenen Bevölkerungsteilen das Zusammenbleiben der Familien anstreben. Damit sollte das Entstehen sogenannter »labiler Massen« als Bedrohung für die innere Sicherheit vermieden werden und gleichzeitig die Motivation zum Einsatz in der Kriegswirtschaft erhalten bleiben. Jedes weiträumigere Verschieben von Bevölkerungsteilen sollte die absolute Ausnahme bleiben, da alle derartigen Bewegungen, darauf bestanden die militärischen Vertreter von SHAPE und AFCENT unbedingt, »must not under any circumstances be permitted to hamper military operation« 183 . Außerdem mussten politische Führung und Verwaltung daran interessiert sein, schon nach kurzer kriegsbedingter Verlegung die Bevölkerung wieder zur Schadensbekämpfung und Ingangsetzung von Wirtschaft und Versorgung nahe an ihren Wohn- und Betriebsorten zusammenzuhalten. Und schließlich erschienen bei dem noch kaum möglichen Luftschutz für eine Millionenbevölkerung unter den Bedin181

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Aktennotiz betr. Besprechung zwischen Offizieren von CINCENT und Vertretern des BMVg über Transportfragen am 16. und 17.2., 25.2.1957, BA-MA, BW 2/2660. Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der NATO an BMVg zum Stand der Notstandsplanung, 22.3.1956, ebd., BW 17/30. Sitzung des Committee on Refugees and Evacuees, 16.4.1956, NISCA, AC/23 (RE-CE) R/l.

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gungen eines Atomkrieges gesteuerte Auflockerungen in weniger bedrohten Räumen als ein wesentliches Mittel, um die Entstehung von Massenfluchtbewegungen zumindest in Grenzen zu halten, die mit einer annähernd geregelten Operations- und Versorgungsführung gleichermaßen unverträglich sein musste. All das hing natürlich davon ab, ob eine vorausgehende Spannungszeit dafür überhaupt zeitliche Spielräume eröffnete und man schon im Frieden entsprechende Aufnahmeräume vorbereitet und mit Versorgungsgütern ausgestattet hatte184. Im BMVg und im BMI zog man daher zwar an einem Strang, wenn man die Politik des »stay at home« als unbedingt auch in deutschem Interesse unterstützte, weil Schutz und Versorgung der Bevölkerung damit noch am ehesten möglich erschienen. Nur gab man sich keinen Illusionen über die Grenzen ihrer Durchsetzbarkeit unter den Bedingungen eines Atomkrieges auf dem eigenen Territorium hin. Damit stand man im Übrigen durchaus nicht allein. Als Präsident Eisenhower den Führern des U.S.-Congress eine drastische Lehrstunde über die Verhältnisse in den USA nach einem atomaren Überraschungsangriff gab, war eines seiner zentralen Argumente für die Unmöglichkeit, die eigenen Soldaten schon in der ersten Kriegsphase zur Verstärkung nach Westeuropa einzuschiffen, dass man sie dringend zur Steuerung des dann hereinbrechenden Chaos im eigenen Lande benötigte185. Jedenfalls wurden die deutschen Vertreter im Flüchtlingsausschuss der NATO nicht müde, auf die beiden sich wechselseitig aufschaukelnden Gründe für Massenfluchten in der Bundesrepublik zu verweisen. Da würden sich geschätzte 3,5 Millionen Bundesbürger sofort fluchtartig aus dem etwa 100 km breiten Grenzraum an der innerdeutschen Demarkationslinie vor den anrückenden Russen zu schützen versuchen, während weitere 2,5 Millionen Bewohner ihre von Atomangriffen bedrohten oder bereits getroffenen Großstädte panikartig verlassen würden. Ob diese Massenbewegungen noch innerhalb der Bundesrepublik, etwa an der Rheinlinie, zu stoppen sein oder sich kaum gebremst auf die Grenzen zu den westlichen Nachbarländern zuwälzen würden, war schwer einzuschätzen 186 . Für eine bei SHAPE im Sommer 1956 angesetzte Besprechung über »Verhalten im Verteidigungsfall«, brachte der Unterabteilungsleiter für militärische Planung bei Fü Β die »Frage der Anwendbarkeit einer >Stay at homegood will· der nationalen Betreiber angewiesen, ein Zustand, der unter den angenommenen atomaren Kriegsszenarien völlig unangemessen erschien227. Zusätzlich verschärfen musste sich diese Lage schließlich wegen der harten Konkurrenz der Versorgungsziele zwischen militärischer Bündnis- und nationaler Zivilverteidigung, wobei aus Sicht der Militärplaner die Sicherstellung der Kriegführung allemal Vorrang vor einer noch so notwendigen und unbestrittenen Versorgung der Bevölkerung haben musste228. An diesem Punkt stießen jedoch gerade in der Bundesrepublik, wie bereits an den Kompetenzstreitigkeiten zwischen BMVg und BMI gezeigt229, militärische und zivile Notfallplanung nachhaltig aufeinander. Faktisch ließen sich die logistischen Forderungen für den militärischen und zivilen Bedarf nämlich auf deutschem Territorium noch weit weniger voneinander trennen als auf der Bündnisebene insgesamt. Hier griffen schließlich vorgeschobene Kampf- und rückwärtige Verbindungszone der NATO-Verbände unmittelbar ineinander und waren zusätzlich aufs Engste mit den materiellen Bedürfnissen einer Millionenbevölkerung, ihren Lebens- und Arbeitswelten

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Aufschlüsselung der logistischen Aufgaben in der MC 48/1, 9.12.1955, NATO Strategy Documents, S. 266 f. Bericht der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik bei der NATO über Aufgaben/Organisation von ACTICE, 10.11.1955, BA-MA, BW 2/594. Beispielhaft dafür ist der 6. Bericht des PBOS an NAC vom 10.6.1955, der sich mit Blick auf Koordinationsprobleme über den Atlantik ausschließlich mit militärischen Versorgungs- und Transportfragen befasste, NISCA, C-M (55) 57. Vgl. Teil 2, Kap. V.2.

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verzahnt. Von daher macht es keinen Sinn, bei der Betrachtung deutscher Verteidigungsplanung militärische und zivile Versorgungsführung unabhängig voneinander schildern zu wollen. Auf Anfrage der für die Verteilung der U.S.-Militärhilfe zuständigen MAAG in Bonn hatten die Logistiker im Amt Blank allerdings bereits im Mai 1955 klarstellen müssen, dass anders als in den angelsächsischen Ländern in der Bundesrepublik weder ein eigenständiges Versorgungsministerium noch besondere Ministerien für die Teilstreitkräfte vorgesehen waren, bei denen die gesamte Versorgungsführung im Krieg zentral zusammenlaufen würde. Wohl würde der Verteidigungsminister im Frieden und der Oberbefehlshaber im Krieg - zu diesem Zeitpunkt ging man noch vom Bundespräsidenten aus - auf logistischem wie operativem Gebiet die Befehlsgewalt über die Streitkräfte und ihre Versorgungseinrichtungen ausüben. Im BMVg sollte dazu ein Amt »Material und Nachschub« eingerichtet werden, das den Minister logistisch beriet. In allen Fragen von gesamtwirtschaftlicher Bedeutung beabsichtigte man dagegen, einen »ständigen Ausschuß« zur Abstimmung mit dem federführenden Wirtschaftsministerium zu bilden 230 . In dem Maße, wie sich die Verteidigungsplanung 1955/56 weit in den gesamtgesellschaftlichen Raum hinein ausweitete, sollten schließlich auch die anderen mit Versorgungsfragen betrauten Ministerien für Landwirtschaft, Post und Verkehr in die Koordination von militärischer und Zivilverteidigung integriert werden. Was sich dabei nicht zweiseitig zwischen BMVg und betroffenem Fachministerium regeln ließ, würde auf der Ebene des für Fragen der Gesamtverteidigung eingerichteten Bundesverteidigungsrates zur Beratung kommen, der allerdings auch in Versorgungsfragen keine Entscheidungskompetenz erhielt. Nicht im zweiseitigen Benehmen auszutragende Konflikte würden deshalb dem Bundeskabinett zur Entscheidung vorbehalten bleiben 231 . Die Abstimmung zwischen den logistischen Belangen der nationalen und der Bündnisverteidigung oblag dagegen den Kommandobehörden der militärischen Territorialverteidigung und ihren Verbindungsorganen zu den NATO-Befehlshabern (ab 1959: DBv Schleswig-Holstein, DBv Nord, DBv Süd). Dabei würden Bereitstellung und Zuführung von Versorgungsgütern national organisiert, ihre Koordination zwischen den einzelnen Bedarfsträgern in den NATO-Verbänden dagegen auf Bündnisebene vorgenommen werden 232 . Mochte man daher im nationalen Bereich die Versorgung der Bevölkerung auch organisatorisch auf die höhere politische Ebene gehoben haben, so würden sich auf dem Gefechtsfeld Bundesrepublik im Kriege letztlich die Gewichte schnell zugunsten der militärischen Befehlshaber und ihren selbst

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231 232

Anfrage MAAG an Dienststelle Blank II/Pl betr. Iogistisches System und deren Antwort, 4. bzw. 11.5.1955, BA-MA, BW 17/19, Bl. 1 0 3 - 1 1 4 bzw. 8 6 - 9 4 . Zu Organisation und Aufgabenstellung des BVR: siehe Teil 1, Kap. III.2.b. Vortrag Abteilungsleiter IV A, BG de Maiziere, 12.1.1956, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 2. Wahlperiode, 65. Sitzung, S. 16; zur Aufgabenstellung der dazu eingerichteten NATO-Ausschüsse: Bericht des NATOGeneralsekretärs an NAC, 31.10.1955, NISCA, C-M (55) 94.

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nach Feindeinwirkung immer noch eher intakten Versorgungs-, Transport- und Fernmeldemöglichkeiten hin verschieben. Es würde den Rahmen eines Überblicks über die Gesamtorganisation von Verteidigungsmaßnahmen auf dem Gebiet der Bundesrepublik sprengen, wollte man dafür die geplante Versorgungsführung in extenso ausbreiten. Die zentralen Problemstellungen treten im Übrigen bereits bei einer Analyse von drei exemplarisch vorzustellenden Kernbereichen deutscher logistischer Planung für den Kriegsfall überdeutlich hervor. Dazu wird der Blick zunächst auf den Grad der Selbstversorgung durch Kriegsbevorratung sowie den Bedarf an logistischer Zufuhr von außen zu richten sein. In einem nächsten Schritt werden Überlegungen und Maßnahmen zur Nutzung und Wiederingangsetzung nationaler Versorgungsquellen unter Einsatzbedingungen vorzustellen sein. Exemplarisch werden dazu die Bereiche der Energie- und Wasserversorgung, der Bevorratung und Zuführung von Lebensmitteln sowie von Rohstoffen und Industriegütern herangezogen. Schließlich sind ihr Transport und ihre Verteilung aus den Überseehäfen und den im Ausland eingerichteten deutschen Depots in die rückwärtige Verbindungszone westlich des Rheins sowie über die logistisch hochbedeutsamen Rheinbrücken hinweg in das Gefechtsfeld der NATO-Verbände ostwärts des Flusses zu beschreiben. Dabei wird besonderes Augenmerk auf die Möglichkeiten deutscher Interessenwahrung und die Abstimmung zwischen militärischen und zivilen Versorgungsbelangen zu richten sein. Die Schwerpunkte der Planung dafür waren schon 1955/56 eindeutig auf eine Krieg- und Versorgungsführung unter atomaren Bedingungen ausgerichtet. Arbeitsteilig konzentrierten sich dazu die Fachleute des BMI für Zivilschutz auf eine Notversorgung von Industrie, Gewerbe und Bevölkerung, während die Logistiker im BMVg den Zusammenhang von Operations- und Versorgungsplanung ins Zentrum ihrer Planung rückten. Klar war für beide Aspekte einer kriegsmäßigen Versorgung, dass die logistische Lage in Mitteleuropa selbst dann voll vom transatlantischen Nachschub abhängig blieb, wenn der ins Auge gefasste, noch weit über die bislang geforderte Bevorratung für einen Monat hinausreichende »Aufbau eines 90tägigen Kriegsvorrates« gelingen würde. Davon war man im Herbst 1956 nach Einschätzung der Bundeswehrplaner allerdings selbst mit Blick auf den vom Bündnis generell geforderten Mindestvorrat für die ersten dreißig Tagen noch weit entfernt: »Die beabsichtigte und bis zum Anlaufen einer transatlantischen Versorgung erforderliche Bevorratungshöhe ist bisher bei keinem NATO-Staat erreicht.« Eine von der deutschen Seite ins Spiel gebrachte integrierte Versorgung, die zumindest für die Bundeswehr wesentliche Entlastung in einer Phase bedeutet hätte, da der Aufbau der eigenen logistischen Organisation noch weit hinter den NATO-Forderungen zurückhing, war vorerst nicht zu erreichen. Das war für die Bundeswehrführung auch deswegen besonders misslich, weil die eigenen Großverbände anders als bei den Verbündeten auf den Gesamtbereich der Bundesrepublik verteilt waren und deshalb eine Dezentralisierung ihrer Versorgungseinrichtungen benötigten, die sich auf fünf über das gesamte Bundesgebiet verteilte Depotgruppen abstützen musste. Hinzu kam, dass der deutsche Raum bereits durch die Infrastruktur

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der dicht gelagerten Kampfverbände erheblich überlastet war und in seiner Nord-Süd-Ausrichtung außerdem nur über geringe räumliche Tiefe verfügte 233 . Schließlich schränkte die an nationaler Rüstungswirtschaft orientierte Versorgungsführung vorläufig noch die Austauschbarkeit von Rüstungs- wie Versorgungsgütern unter den Bündnispartnern erheblich ein. Wegen des Fehlens einer insbesondere von deutscher Seite bislang erfolglos geforderten integrierten Logistik beurteilte man deshalb im Führungsstab der Bundeswehr die logistische Lage der NATO-Streitkräfte in Mitteleuropa »nicht als günstig«234. Das musste vor dem Hintergrund einer gerade erst anlaufenden Planung für Maßnahmen der Zivilverteidigung auf dem Felde der Versorgung einer Millionenbevölkerung noch in weit höherem Maße gelten. Im militärischen Bereich konnten sich die Befehlshaber der NATO-Verbände immerhin auf eine ausgebaute und mit der Operationsführung verzahnte Logistik abstützen, die freilich bei dem rasanten Verbrauch unter Einsatzbedingungen noch nicht einmal den rein militärischen Bedarf zur Gänze abdecken können würde. Zwar war eine Entnahme von Lebensmitteln und Kraftfahrzeugen dafür aus dem Lande nicht vorgesehen; die Einsatzverbände sollten sich vielmehr möglichst vollständig auf ihre nationalen logistischen Einrichtungen abstützen. Vor dem Hintergrund ihrer besonders ungünstigen Lage als Frontstaat reklamierte die Bundeswehrführung allerdings dazu frühzeitig einige Sonderkonditionen für sich. Wegen der dichten Belegung der Bundesrepublik mit militärischer Infrastruktur und deren erhöhter Verwundbarkeit im Falle eines Angriffs gegen und über deutsches Territorium hinweg benötigte man rückwärtige Depots in den Nachbarstaaten, eine bevorzugte Außenversorgung der deutschen Bevölkerung über die Atlantikhäfen und Möglichkeiten einer zeitweiligen Verlagerung kriegswichtiger Betriebe und Einrichtungen aus dem grenznahen Raum nach rückwärts, eventuell sogar ins befreundete Ausland. Umgekehrt würde für die Einsatzverbände der NATO auf deutschem Boden und ihre frühzeitig schwer beschädigte Infrastruktur schnell ein erheblicher Bedarf an deutschen Arbeitskräften wie an materieller Zusatzversorgung aus dem Lande entstehen, da die Rheinbarriere als Hindernis zwischen Kampf- und Verbindungszone natürlich sofort ein bevorzugtes Ziel feindlicher Luftangriffe darstellen würde. Nur fehlten für den Rückgriff auf derartige personelle und materielle Ressourcen bis auf weiteres alle gesetzlichen Voraussetzungen in der Bundesrepublik, so dass auch auf logistischem Felde im Notstandsfall auf ein System von Aushilfen zurückgegriffen werden musste 235 .

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BMVg, Abt. V/C: Vorschlag für ein deutsches Kriegsversorgungssystem und seine Eingliederung in die Logistik Mittel-Europa, 13.7.1956, BA-MA, BW 17/29 (Verschlusssache). Anlage Logistik zur Studie Nr. 1 »Gedanken zur deutschen Verteidigung«, 8.10.1956, ebd., BW 2/2673, Bl. 245-247; Hervorhebung - Unterstreichung - im Original. Protokoll der ersten Besprechung über Zusammenarbeit auf Gebieten der Operationsund logistischen Planung zwischen AFCENT und BMVg in Bonn am 11.7., 14.8.1956, ebd., BW 2/2758.

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Hinsichtlich der Zivilverteidigung hatte man sich immerhin schon 1956 im Bundeskabinett auf ein vorläufiges Programm für die nächsten drei Jahre verständigt, das den Schutz und die Versorgung der Bevölkerung organisatorisch planen, personell unterfüttern und materiell ausstatten sollte. Gegenüber der NATO machte man zu diesem frühen Zeitpunkt allerdings geltend, dass man die psychologischen und praktischen Grundlagen dafür als neu hinzugetretenes Bündnismitglied erst noch zu schaffen haben würde 236 . Auf dem Versorgungssektor sollten dabei mit Vorrang organisatorische, bauliche und bevorratungstechnische Maßnahmen für eine allgemeine Notversorgung mit Wasser, Elektrizität und Gas sowie mit festen und flüssigen Brenn- und Treibstoffen eingeleitet werden. Außerdem musste man außerhalb der Ballungsräume in dafür vorzubereitenden Aufnahmegebieten für Evakuierte und Flüchtlinge eine besondere Vorratsbildung betreiben, die zusätzlich die Lebensmittel- und Sanitätsversorgung der davon betroffenen Bevölkerungsteile sicherzustellen hatte. Bis Ende 1957 hoffte man zwar die von der NATO geforderten generellen Vorräte für einen Monat bei Getreide, Zucker und Kraftfuttermitteln anlegen zu können; bei Fleisch, Fett und Milch würde die dafür vorgesehene Bundesreserve aber auch danach noch unzureichend sein. Standen somit auf dem Ernährungssektor wenigstens erste Teillösungen in Aussicht, so krankte die Versorgung mit Wasser, Gas und Elektrizität bis auf weiteres daran, dass dafür bei den zu erwartenden, flächendeckenden Zerstörungen erhebliche und sehr kostenintensive bauliche Schutzmaßnahmen erforderlich wurden. So waren insbesondere in den Ballungsgebieten die entsprechenden Versorgungseinrichtungen für den Luftschutz zu härten; Reserveanlagen mussten errichtet und mit den notwendigen Fernmeldeverbindungen ausgestattet werden; dezentral waren zusätzliche, gegen Verseuchung und Vergiftung geschützte Trinkwasserbrunnen und Kläranlagen anzulegen; das erwartete Ausmaß an Luftangriffen machte eine erhebliche Ausweitung der Löschwasseranlagen schon im Frieden erforderlich. Wie man darüber hinaus die wichtigsten Produktionsstätten sichern bzw. nach Beschädigung wieder in Gang setzen wollte, war zwar zumindest für kriegswichtige Rüstungsbetriebe angedacht; Planungen dafür hatten jedoch ebenfalls noch keine konkretere Form angenommen. Und all das stand natürlich unter dem Vorbehalt seiner Finanzierbarkeit, da die Mittel dafür zusätzlich zu den Kosten für den Aufbau der Streitkräfte aufgebracht werden mussten 237 . In einer Spezialstudie zur Bevorratung 238 der Bundesrepublik machte die militärische Führung aber genau das zu einem »kriegsentscheidenden Problem« und eine dezentrale Auslagerung der Kriegsvorräte auf die zu erwartenden Verteidigungsinseln zu einer »Existenzfrage« für die Bundesrepublik. Dabei 236

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Dazu und z u m Folgenden: Vorentwurf des BMI für ein Memorandum z u m ΝΑΤΌPapier AC/23 (CD) D/141,10.8.1956, ebd., BW 17/26. Vortragsmanuskript des Referatsleiters IV A 3 betr. Organisation und Planung der Zivilverteidigung bis Ende 1957, 15.11.1956, ebd., BW 17/32. Als Ausfluss einer Besprechung mit d e m Staatssekretär durch Leiter IV am 22.11.1956 vorgelegt, ebd., BW 2/2660.

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konnten es die Planer bei Fü Β nicht mehr nur bei einer einmonatigen Vorratshaltung belassen, da voraussichtlich bei der Gefährdung der atlantischen Seeverbindungen durch sowjetische Luft- und Seestreitkräfte erste Geleitzüge in Westeuropa frühestens zwei bis drei Monate nach Kriegsausbruch in den notwendigen Größenordnungen zu erwarten waren. Besonders dramatisch mussten sich die Verhältnisse in Schleswig-Holstein und in der Millionenstadt Hamburg entwickeln, die voraussichtlich schon in einer sehr frühen Phase von der Versorgungsführung im übrigen Bundesgebiet abgeriegelt sein würden. Zusätzliche Probleme bereiteten die langen Transportwege von den Atlantikhäfen über die Verkehrsengpässe an den Rheinbrücken in den Kernraum der Bundesrepublik. Die großen deutschen Nordseehäfen würden nämlich frühzeitig unter Kriegseinwirkungen ausfallen, während die verbleibenden kleineren Häfen nicht über die nötigen Umschlagskapazitäten verfügten. Kriegs- und lebenswichtige Betriebe der Grundstoffindustrie und der Energieversorgung mussten deshalb möglichst schon im Frieden hinreichend geschützt, zu ausreichender Vorratshaltung veranlasst und im Krieg bei Beschädigung rasch wieder in Betrieb genommen werden können. Das alles war mit einer hinlänglichen Bevorratung in den Privathaushalten für die ersten kritischen Tage zu koppeln, in denen die allgemeine Versorgung zeitweilig ganz auszufallen drohte. Uber welche finanziellen und infrastrukturellen Größenordnungen man dabei reflektierte, ließ eine Serie von Vorträgen im Atomreferat des BMVg zum Thema »Versorgung im Atomkrieg« Anfang 1957 erkennen 239 . Das begann bereits bei der kriegswichtigen Industrieproduktion. Ihr voller Schutz gegen Luftbedrohung war nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und vor dem Hintergrund einer atomar potenzierten Kriegführung nicht zu erreichen. Die in den beiden letzten Kriegsjahren betriebene Verlagerung in unterirdische Produktionsstätten schloss man von vornherein als undurchführbar aus. Blieb nur der Gedanke an eine Dezentralisierung, bei der die Fertigung kriegswichtiger Güter schon im Frieden auf möglichst viele kleinere Teilfabriken verlagert werden sollte, um die Bauteile erst in der Endmontage wieder zusammenzuführen. Dazu musste man allerdings die Standardisierung von Rüstungsgütern noch wesentlich weiter vorantreiben, als dies bislang im Bündnis bei der nationalen Ausrichtung von Rüstungsgüterproduktion gelungen war. Außerdem hätte dies eine zentral gelenkte Auftragsvergabe in wirtschaftlich rentablen Einzelportionen erforderlich gemacht, die mit den wirtschaftsliberalen Grundsätzen der westdeutschen Wirtschaftspolitik schwerlich in Einklang zu bringen war. Vor allem orientierte sich das deutsche Wirtschaftsgeschehen aber in seinen Produktionspaletten wie in seinen Industriestandorten an den jeweils wirksamen Marktmechanismen, würde also auch von daher - sieht man einmal von strukturschwachen Branchen und Betrieben ab - schwerlich für eine so weitge239

Der Vortrag von Oberst Härtel, Abt. IV Ε über Transportprobleme liegt im Wortlaut, der Vortrag von Oberst Rutz zu Produktion, Lagerung und Verteilung in Stichworten vor, 6.2.1957, ebd., BW 2/2660 bzw. 2/2717-2.

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hende staatliche Steuerung zu gewinnen sein. Nahm man dazu die exorbitanten Kosten für die einmalige Beschaffung eines 90-Tage-Vorrats von geschätzten 9 Mrd. DM und den dezentralen Lagerungsbedarf von 240 Depots, dann konnte man zwar aus militärischer Notwendigkeit heraus die frühzeitige Einleitung derartiger Maßnahmen zur Kriegsbevorratung einfordern, da man sonst den Kampfwert der Truppe und die Durchhaltefähigkeit der Bevölkerung in Frage gestellt sah. Nur gab man sich bei Fü Β keinen Illusionen darüber hin, dass dafür allein schon aus finanziellen Gründen voraussichtlich ein Zeitbedarf von wenigstens zehn, möglicherweise sogar 20 Jahren zu erwarten war. Etwas günstiger sahen demgegenüber die Perspektiven für eine ausreichende Bevorratung von Lebensmitteln aus. Der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (BML), Heinrich Lübke, setzte sich schon Anfang 1957 für eine Doppelstrategie aus »ausreichender Vorratshaltung« des Bundes und dezentraler Anlage von Vorräten durch die Wirtschaft wie in den Privathaushalten ein, um die »Sicherheitsprämie für die Volksernährung in Krisenzeiten« bezahlbar zu halten240. Um die von der NATO geforderte Notversorgung sicherzustellen und die Erfahrungen aus der Suez-Krise des Vorjahres für eine öffentlich unterstützte Initiative zu nutzen, legte das BML Anfang Februar 1957 eine Kabinettsvorlage vor, die zumindest schon einmal eine Erweiterung der Bundesreserve um 20 000 Tonnen Fleischkonserven ansteuerte. Die Lagerungskosten ließen sich in Grenzen halten, da Konserven platzsparender zu bevorraten waren als die entsprechenden Mengen an Gefrierfleisch. Hatte man die Bundesreserve zu dieser Größenordnung aufgestockt, würde man, analog zum Beispiel der Schweiz, auch die Privathaushalte zu entsprechender Vorratshaltung aufrufen. Dies musste freilich phasenverschoben vonstatten gehen, da aus der laufenden Produktion momentan Fleisch- und Wurstkonserven nicht ausreichend für beide Zwecke gleichzeitig verfügbar zu machen waren. Die Zeit dafür erschien ökonomisch günstig, denn »nach den vorliegenden Erhebungen wird der Auftrieb an Schlachtvieh, insbesondere an Schweinen, den Konsumbedarf zeitweilig nicht unerheblich übersteigen«. Da man sonst zur Uberbrückung von »politisch unerwünschten Preiseinbrüchen« zu »laufenden Marktentnahmen« gezwungen war, würde derzeit eine Aufstockung der Bundesreserve preisstabilisierend und zugleich für die Kapazitäten in den Kühlräumen entlastend wirken241. Der Finanzminister lehnte den Vorstoß freilich erst einmal ab, da er anders als sein Kabinettskollege die Forderungen der NATO als völkerrechtlich nicht verbindlich einstufte und deshalb mit Blick auf das augenblickliche Überangebot an Fleisch auf den Märkten eine Vorratshaltung in der angesteuerten Größenordnung für eine unangemessene Belastung des Bundeshaushalts hielt242. Das geschah beinahe zeitgleich mit einem für die Bundesre240

241 242

So schon im Titel seines für Mitte Januar 1957 vorgesehenen Vortrages in Bad Boll, BA,

Β 116/10866. Kabinettsvorlage BML, 8.3., als Antwort auf die Einwände des BMF vom 27.2. gegen die erste Vorlage vom 9.2.1957, ebd. Kabinettsvorlage BMF, 14.3.1957, ebd.

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung

699

gierung zwar zunächst noch nicht erkennbaren, aber für die geplante Versorgungsführung im Kriegsfalle bezeichnenden Vorgang auf der Bündnisebene. Während hier nämlich der mit den Versorgungsschwierigkeiten Westeuropas voll vertraute SACEUR dafür eintrat, dass schon in den ersten drei Monaten eines europäischen Krieges ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem Transport von Truppenverstärkungen, Waffen und Munition mit den für das Uberleben der Bevölkerungen notwendigen Nahrungsmittelzufuhren aus Nordamerika angestrebt werden sollte, machte der für die Versorgungsrouten über den Atlantik zuständige SACLANT klar, dass in dieser Anfangsphase militärische Transporte absolute Priorität genießen würden 243 . Für die Bundesrepublik war eine derartige Schwerpunktsetzung zugunsten des militärischen Versorgungsverkehrs besonders misslich, da sie ausweislich der Bestandsaufnahmen in den Notstandsausschüssen der NATO selbst im Herbst 1958 immer noch zu den Partnerstaaten zählte, die mit ihren Bevorratungsmaßnahmen weit hinter den Bündnisforderungen zurückhingen 244 . Beispielhaft dafür waren die Aussagen zu einigen der dringlichsten Bevorratungsund Planungsgebote für einen so ausgeprägten Industriestaat wie Energieversorgung, Arbeitskräfteverteilung und Transportorganisation im Kriege. Der geforderte Mindestbedarf eines 30-Tage-Vorrats an Erdölprodukten war »bei weitem noch nicht erreicht«. Die Erörterungen im Ν ΑΤΟ-Ausschuss für Arbeitskräfteplanung hatten solange »kaum mehr als theoretische Bedeutung«, wie es dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales an den gesetzlichen Möglichkeiten für eine Notdienstverpflichtung mangelte. Und mit Blick auf die notwendigen Zufuhren aus Übersee verfügte die Bundesrepublik zwar über eine ausreichende friedensmäßige Schifffahrtsorganisation; ihre Verplanung für den Kriegseinsatz befand sich jedoch »noch in den Anfängen«. Selbst die Untersuchungen über den Einfuhrbedarf, die Hafenaufnahmekapazitäten und die Nothafenplanung würden voraussichtlich erst im Laufe des Jahres 1959 abgeschlossen sein. Hinsichtlich der Erdölversorgung bahnte sich seit 1956 insofern eine Verbesserung für die Zukunft an, als die von den Atlantikhäfen ausgehenden NATOPipelines mittlerweile den Rhein erreicht hatten oder unmittelbar davor standen. Ihre Weiterführung nach Osten in Treibstoff-Depots ostwärts des Flusses zu den Endpunkten Oldenburg, Münster, Olpe, Hanau und Tübingen war ausgeplant und würde schrittweise in die jährlichen Infrastrukturpläne der Allianz eingestellt werden 245 . Insgesamt war ein europaweites NATO-Pipeline-Netz mit den Versorgungsabschnitten Nord-, Mittel- und Südeuropa geplant, von dem im Frühjahr 1957 der Teil für die Versorgung der angenommenen Hauptfront 243

244

245

Gespräche SACEUR - BCOS, 12.2., bzw. SACLANT - BCOS, 1.4.1957, PRO, DEFE4/95, COS (57) 12 bzw. 4/96, COS (57) 16. Vorbericht VR I 3 an Fü Β III 5 zur bevorstehenden 5. Sitzung des Oberausschusses für zivile Notstandsplanung vom 15.-17.10., 8.10.1958, BA-MA, BW 2/2663. BMVg, Abt. Β 5 an Leiter V Β betr. Treibstoffversorgung des Heeres, 26.3.1956, ebd., BW 2/1911.

700 _ Zweiter Teil: Der Aufbau der Bundeswehr und die modifizierte atomare Abwehrplanung

bei Europa Mitte am weitesten vorangekommen war. Um die Bundeswehr von der Wartung und Betreuung der schon auf deutsches Territorium verlegten bzw. noch dahin weiterzuführenden Ölleitungen zu entlasten, hatte die Bundesregierung dazu eine bundeseigene Gesellschaft, die Fernleitungsbetriebsgesellschaft (FBG) gegründet. Ihren Betrieb hatte man ganz bewusst den großen Mineralölgesellschaften entzogen, obwohl dies wirtschaftlicher gewesen wäre, um ihre vorrangig militärische Zweckbestimmung zu gewährleisten246. Seitens des Oberausschusses der NATO für zivile Notstandsplanung hatte man allerdings schon im selben Frühjahr besorgt registriert, dass es darüber hinaus in der Bundesrepublik immer noch keine für die Ölversorgung im Kriege verantwortliche Organisation gab und ihre Einrichtung vor einer Fülle ungelöster Probleme stand. Die deutsche Seite suchte mit dem Hinweis darauf aus der Schusslinie zu kommen, dass es schließlich im letzten Weltkrieg auch ohne eine derartige Institution eine funktionierende Zusammenarbeit der Regierung mit der Erdölindustrie gegeben habe und man zuversichtlich sei, dies auch künftig wieder erreichen zu können247. Im entsprechenden NATO-Ausschuss gab man sich damit jedoch nicht zufrieden, und so sah sich der deutsche Vertreter »in einer sehr unangenehmen Lage«. Schließlich musste er selbst nach den Erfahrungen mit einer eingeschränkten Ölzufuhr in der Suez-Krise noch bis in den Sommer 1957 hinein immer wieder begründen, warum sein Land über keine Regelungsbehörde für die Treibstoffversorgung in einem Krisen- oder Kriegsfalle, ja noch nicht einmal über angemessene Treibstofflager für ihre allmählich aufwachsenden Streitkräfte verfügte248. In den Bundeshaushalt 1957 konnte dann immerhin ein Betrag von 30 Mill. DM für die Anlage erster TreibstoffVorräte eingestellt werden, wobei die Realisierung eines umfassenderen Kriegsvorrats nach wie vor am Mangel von Lagerungsmöglichkeiten krankte. Das BMVg hatte deshalb Verhandlungen mit den Stationierungsstreitkräften wegen Überlassung von Tankraumkapazitäten aufgenommen, verbunden mit der Hoffnung, dadurch im laufenden Jahr wenigstens einen ersten Vorrat von 60 000 m3 anlegen zu können249. Ganz generell musste man sich indes bei Fü Β Ende 1957 eingestehen, dass man selbst die für die ersten Bundeswehrverbände vorgesehenen operativen Aufgaben aus dem Einsatzplan des SACEUR (EDP 1958) logistisch vorerst nur für einige Tage gewährleisten konnte, da man beim Aufbau der eigenen Versorgungseinheiten und Depots noch erheblich zurückhing250. Was für die militärische Versorgung 246

247

248

249 250

Stellungnahme BMVg zum Stand der NATO-Pipeline-Organisation, 22.3.1957, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 2. Wahlperiode, 148. Sitzung, S. 22; zur Organisation des Pipeline-Systems bei AFCENT: SHAPE History 1957, S. 185 f. Bericht SCEPC über Fortschritte in der Notstandsplanung der Mitgliedstaaten, 10.4.1956, NISCA, AC/98-D/15. Bericht des Leiters der Militärabteilung beim NMR in Paris, BG von Zawadzky, 19.7.1957, BA-MA, BW 2/593. Fü Β Ε an Fü Β A, 17.9.1957, ebd. Fü Β Ε an Fü Β A, 12.11.1957, ebd., BW 2/2668.

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung

701

mit ihren vergleichsweise immer noch lösbareren Problemen an Einschränkungen galt, musste für die Versorgung einer von Außenzufuhren so erheblich abhängigen Bundesrepublik bei der Versorgung ihrer Bevölkerung und Wirtschaft in noch weit höherem Maße in Rechnung gestellt werden. Deshalb mahnte der Verteidigungsminister nicht nur nationale Anstrengungen für die Anlage des von der NATO geforderten Mindestvorrats für 30 Tage an. Er verband dies zusätzlich mit der weit darüber hinausreichenden Forderung nach einem 90-Tage-Vorrat, wobei er sich von vornherein klar war, dass sich solche Größenordnungen für sein Land letztlich nur »in integrierter Form« einer Ν ΑΤΟ-weiten Logistik erreichen ließen251. Ein Bericht des Oberbefehlshabers der U.S.-Streitkräfte in Europa ließ Ende 1957 das ganze Ausmaß der logistischen Probleme beim deutschen Partner hervortreten 252 . Danach wollte man im BMVg die Anlage eines ausreichenden Kriegsvorrats bis 1959 erst einmal zugunsten des Streitkräfteaufbaus zurücktreten lassen, und selbst danach plante man bis Frühjahr 1961 vorläufig nur für einen 15-Tage-Vorrat. Außerdem verfügte die Bundesrepublik über zu geringe räumliche Tiefe, so dass sie auf eigenem Territorium auch langfristig bestenfalls die Depotkapazitäten für einen 30Tage-Vorrat ausbauen konnte. Alles was darüber hinausreichte, musste man in Frankreich oder auf dem Gebiet anderer Partnerstaaten anlegen. Die Industrieproduktion würde in Kriegszeiten »seriously interrupted [...], or probably completely curtailed«. Das Land würde deshalb in erheblichem Umfang aus Übersee - »principally from US« - nachversorgt werden müssen. General Norstad sah in diesen unzureichenden deutschen Plänen freilich wesentlich einen Testversuch des BMVg, die eigenen Versorgungsprobleme als ohne amerikanische Hilfe nicht lösbar darzustellen, um sich Entlastung bei der Begründung der eigenen Defizite zu verschaffen. Er ermutigte die Deutschen deshalb nicht in ihren sehr weitgehenden Erwartungen an den amerikanischen Partner. Das galt vorerst auch mit Blick auf ihre Forderungen nach einer im Bündnis integrierten Logistik. Um vor diesem logistischen Hintergrund überhaupt ernsthaft an den großen NATO-Übungen teilnehmen zu können, mussten die Deutschen selbst bei der militärischen Versorgung vorläufig von sehr optimistischen Annahmen ausgehen. Anders hätte man bei der bis dahin größten Stabsrahmenübung LION NOIR im Frühjahr 1957 deutsche Interessen gar nicht ins Spiel bringen können, mit der Gefahr, dass die NATO daraus den für die Bundesrepublik misslichen Schluss gezogen hätte, im Krieg über die Köpfe der deutschen politischen und militärischen Führung hinweg ihre logistischen Bedürfnisse durch ihre Befehlshaber selbst stillen zu lassen. Weit jenseits der zu diesem Zeitpunkt bereits erreichten gesetzlichen, organisatorischen, personellen und materiellen Grundla251

252

Ausblick von Strauß auf die nächste NATO-Konferenz, 3.12.1957, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 3. Wahlperiode, 2. Sitzung, S. 9. USCINCEUR an Department of the Army, 20.12.1957, NA, RG 218, Geographic File, box 6, 092 Germany (5-4-49), sect. 34.

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gen für die nationale Sicherstellung der aus der MC 36 resultierenden Verpflichtungen gelang es den deutschen Mitspielern so aber immerhin, »etwaige Zweifel alliierter Stellen über eine zukünftige Funktionsfähigkeit der deutschen Territorial-Organisation« fürs Erste zu beheben. Die eigentlichen Probleme kriegsmäßiger Versorgung traten dafür umso unübersehbarer hervor: Die flächendeckenden Zerstörungen würden ein Heer von Arbeits- und Hilfskräften erforderlich machen, um wenigstens Verkehrswege und lebenswichtige Versorgungsbetriebe zu reparieren und einsatzfähig zu halten. Am Rhein mussten alle Vorkehrungen für Behelfsübergänge getroffen werden, da der anzunehmende Ausfall der Rheinbrücken den Zusammenhang zwischen der Kampfzone ostwärts und dem rückwärtigen Versorgungsbereich westlich des Flusses zu zerreißen drohte. Für die räumliche Auflockerung der Versorgung benötigte man größere Tiefe, die nach Lage der Dinge nur durch eine Ausweitung der deutschen Depotorganisation in die westlichen Nachbarländer zu erreichen sein würde. Ähnliches galt für den Massenanfall von Verwundeten und Kranken, die unter den Bedingungen eines Atomkrieges nicht mehr allein national zu versorgen waren, da die deutschen Krankenhäuser entweder zerstört oder schnell völlig überlastet sein würden. Die deutsche Bevölkerung würde jedenfalls selbst unter sehr optimistischen Annahmen »bei jeder kriegerischen Auseinandersetzung in unvorstellbarem Maße in Mitleidenschaft gezogen werden«. Deshalb meldeten die Militärplaner im BMVg als Erfahrung aus LION NOIR über den rein militärischen Bereich weit hinausgreifend »die Vorbereitung einer Kriegsorganisation der Bundesrepublik« schon im Frieden an. Nur war man bisher selbst auf militärischer Seite erst durch kleine Verbindungsstäbe mit den NATO-Befehlshabern in operativen und über die »Zwischenlösung« so genannter Deutscher Logistischer Bevollmächtigter bei AFNORTH, NORTHAG und CENTAG in logistischen Fragen verbunden. Durch Zusammenlegung beider Institutionen sollten daraus 1959 die mit umfassenderen Kompetenzen ausgestatteten Deutschen Bevollmächtigten (DBv) bei den genannten Kommandostäben hervorgehen, die von da an die eigentlichen Koordinatoren zwischen NATO- und Territorialbefehlshabern bildeten. Im Zuge einer dringlich gewordenen generellen Neuregelung der Befehls- und Kommandostrukturen in der Bundeswehr mit Blick auf die Führungsfähigkeit der Bundesregierung im Verteidigungsfall kam auch die Ausgestaltung dieser Verbindungsorgane zu den NATO-Befehlshabern zur Sprache. Dabei plädierte die Rechtsabteilung des BMVg dafür, den DBv auch Verwaltungsfachleute mit angemessener Qualifikation beizugeben253. Damit würde schon rein personell sichergestellt sein, dass neben den operativen und logistischen Belangen auch die Aspekte einer im besonderen nationalen Interesse liegenden Zivilverteidigung das notwendige Gewicht erhielten. Mindestens 253 v r J J. Aufzeichnung über das Ergebnis der Besprechungen betr. Befehls- und Kommandostruktur der Bundeswehr am 17. und 21.8., 16.9.1959, BA-MA, BW 2/2629 (Verschlusssache).

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung

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ebenso dringlich wie die ständige Koordination auf dem Felde der militärischen Logistik musste es nämlich sein, in diese für das Uberleben der Bevölkerung so wesentlichen Versorgungsprobleme von Anfang an auch die regionalen Behörden und die Dienststellen einer zivilen Verteidigung bei Übungen wie im Einsatzfall adäquat einzubinden. Doch dazu sollte es realiter erst im Herbst 1959 bei der Übung SIDE STEP mit ihrem logistischen Schwerpunkt kommen. Im Übrigen wäre zu diesem frühen Zeitpunkt eine zivil-militärische Zusammenarbeit im Kriege wahrscheinlich schon daran gescheitert, dass bei den zu erwartenden Großzerstörungen im Frankfurter Raum das Fernmeldenetz der Bundesrepublik zusammengebrochen wäre, also zwischen und innerhalb der schnell entstehenden »Verteidigungsinseln« auf deutschem Gebiet kaum noch geregelte Kommunikation möglich gewesen wäre. Eine besonders dringliche Forderung war es daher aus Sicht von Fü B, über ein »Sonderbauprogramm der Deutschen Bundespost« ein vom öffentlichen Netz unabhängiges »militärisches Grundnetz« anzulegen, das im Verteidigungsfall militärischer wie politischer Führung zur Verfügung stehen sollte. Die Frage war nur, was nach den angenommenen atomaren Großzerstörungen selbst bei vorhandener Kommunikation überregional überhaupt noch zu regeln und zu verteilen gewesen wäre, denn als Erfahrung aus LION NOIR musste man sich ganz generell eingestehen: »Bisher verfügt die Bundeswehr über keinen Kriegsvorrat, auch im Haushaltsjahr 1957/58 ist aus finanziellen Gründen keine Bevorratung möglich.« Was immer man also in Übungen einspielte, de facto konnte man kriegsmäßige Versorgung zunächst nur auf dem Papier darstellen, und auch das vorerst im Wesentlichen auf den militärischen Bereich begrenzt 254 . Selbst wenn man ab Ende der fünfziger Jahre beginnen konnte, im Laufe der kommenden Jahre allmählich erste Kriegsvorräte für die ersten 30 Tage anzulegen, blieb bis dahin zunächst einmal die Frage ihrer Einlagerung in dazu noch nicht hinreichend vorhandenen Depots zu klären. Die Schwierigkeiten dafür lagen zum einen in der räumlichen Enge der Bundesrepublik, bei Waffen- und Munitionslagern aber auch in regionalen Widerständen gegen solche Einrichtungen, da sie von der Bevölkerung »als Punkte gesteigerter Gefährdung« durch gegnerische Luftangriffe angesehen und ihre Anlage daher überwiegend abgelehnt wurde. Deshalb wollte man seitens des BMVg zweigleisig fahren. In einer »spinnenartig« über den Raum verteilten Depotorganisation ostwärts des Rheins wurde infrastrukturell für eine allgemeine 30-Tage-Bevorratung geplant. Erhebliche Teile der eigenen Munitionsvorräte versuchte man dagegen möglichst »ins Ausland, insbesondere nach Frankreich« zu verlagern. Begründen konnte man dies den Partnern gegenüber damit, dass diese kriegswichtigen Vorräte in der vorgeschobenen Bundesrepublik zu gefährdet vor Kriegseinwirkungen seien und man hier im Übrigen »keine geeigneten Räume« mehr finde, war das deutsche Territorium doch schon jetzt mit militärischen Einrichtungen 254

BMVg, IV A 2: Entwurf eines Vortrages »LION NOIR« vor dem Bundeskabinett, 21.5.1957, BA-MA, BW 2/2688.

704 _ Zweiter Teil: Der Aufbau der Bundeswehr und die modifizierte atomare Abwehrplanung

der Stationierungsstreitkräfte überproportional belegt. Neben dem national anzulegenden Kriegsvorrat rechnete man dabei zusätzlich mit einem Einfuhrbedarf von 34 000 t für die Bundeswehr und weiteren 100 000 t für die Zivilbevölkerung pro Tag, wovon 40 % über die Nordsee und eine kriegsfähige Nothäfenorganisation herangeführt werden sollten. Damit war für die Marineführung ein zusätzlicher Ansatzpunkt für die Forderung gegeben, die Bundesmarine neben ihrer Sicherungsaufgabe an den Ostseeausgängen auch zum Einsatz zumindest in der östlichen Nordsee zu befähigen255. Für die Übung LION BLEU im Frühjahr 1958 ging man dann bereits von der Spielannahme aus, dass man wenigstens für die schon an die NATO assignierten Verbände bei der Truppe selbst über fünf Tagessätze, in Depots auf deutschem bzw. französischem Boden über weitere zwanzig Tagessätze für den Kampf- und allgemeinen Versorgungsbedarf verfügte. Auf dem zivilen Sektor wollte man mit einer zu diesem Zeitpunkt noch völlig irrealen Bevorratung für 45 Tage rechnen, wobei die Ernährung der Bevölkerung nur bei Kartoffeln aus eigenen Beständen gedeckt werden konnte, bei Getreide dagegen zu 75 % aus dem Ausland herangeführt werden musste. Damit die eigenen Vorräte aber nicht in Feindeshand fielen oder durch Kriegseinwirkung vorzeitig vernichtet wurden, stand das BMVg mit dem BMI und dem BML in Verbindung, weit vorn oder in Ballungsräumen gelegene Depots in Spannungszeiten durch zivile Transportunternehmen rechtzeitig räumen und dezentral auslagern zu lassen256. Auch das waren aber vorläufig im Wesentlichen nur Annahmen, weil ein Kriegsvorrat, der diesen Namen verdient hätte, noch nicht vorhanden war. Die nach Westeuropa ausgeweitete Depotorganisation musste dagegen mit den dafür ins Auge gefassten Nachbarn erst noch ausgehandelt werden, bevor man zu den erforderlichen Baumaßnahmen schreiten konnte. Ende der fünfziger Jahre kamen dazu zwar bilaterale Verhandlungen in Gang, die ersten Ergebnisse waren allerdings alles andere als zufriedenstellend. Vor dem Verteidigungsausschuss beklagte sich der für Logistik zuständige Unterabteilungsleiter von Fü B, dass die meisten dieser Auslandsdepots operativ gesehen »falsch liegen«, weil die dazu bereiten NATO-Partner nur die für sie selbst am wenigsten brauchbaren Objekte anboten und die Deutschen nehmen mussten, was sie bekommen konnten257. Gänzlich kontraproduktiv verliefen dabei die von der spanischen Regierung angebotenen und vom Auswärtigen Amt Ende 1959 aufgegriffenen Gespräche über Stützpunkte und Depots auf der iberischen Halbinsel. Neben der Perspektive, auf spanischem Boden Waffensysteme entwickeln und erproben sowie 255

256 257

Debatten zum Thema Kriegsbevorratung, 6. und 11.6.1958, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 3. Wahlperiode, 21. bzw. 23. Sitzung. Das operative Rollenverständnis der Marineführung ist eingehend beschrieben bei Sander-Nagashima, Die Bundesmarine. Vorbesprechung des Leitungsstabes LION BLEU, 20.12.1957, BA-MA, BW 2/2261. Bericht BG Schnez, 21.1.1960, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 3. Wahlperiode, 72. Sitzung, S. 55.

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung

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Kampfflieger ausbilden zu können, mochten sich auf diesem Wege auch Lösungen für die deutschen Nachschubprobleme erreichen lassen. Dafür schienen insbesondere geostrategische Erwägungen zu sprechen. Die Zufuhr aus den USA würde sich im Vergleich zu den französischen, belgischen und niederländischen Häfen um 24 Stunden verkürzen und die Versorgungsgüter sich fernab von der mitteleuropäischen Hauptfront auch geschützter entladen und lagern lassen. Nach den noch zu erörternden deprimierenden Erfahrungen aus der Übung SIDE STEP im Herbst 1959 mussten die deutschen Verteidigungsplaner außerdem an einer schnellen Lösung ihrer logistischen Probleme interessiert sein, und auch dafür ließ der Weg nach Madrid bei dem erklärten spanischen Interesse raschere Erfolge als im westeuropäischen NATO-Raum erwarten. Als Außenminister von Brentano freilich im Januar 1960 seine NATO-Partner offiziell von den zunächst strikt vertraulich in Gang gekommenen Gesprächen informierte, handelte er sich herbe Kritik ein. Im Bündnis wandte man sich nicht nur gegen den bislang mit der Allianz nicht abgestimmten Alleingang außerhalb des Bündnisgebietes, sondern auch gegen die als Partner dazu ins Auge gefasste spanische Diktatur. In Fehleinschätzung eines Gesprächs mit dem NATO-Oberbefehlshaber, der zwar die Dringlichkeit des deutschen Anliegens, nicht aber den dazu in Aussicht genommenen Lösungsweg akzeptiert hatte, setzte der nunmehr federführende Verteidigungsminister Strauß mit Rückendeckung seines Kanzlers trotz der insbesondere von amerikanischer und britischer Seite geäußerten »schweren Bedenken« die vom Auswärtigen Amt eingeleiteten Verhandlungen in Madrid im Februar 1960 auf geheimer Basis fort. Die Folge war, dass General Norstad nunmehr über ein Hintergrundgespräch mit dem einflussreichen Korrespondenten der >New York Times

267

Schreiben JCS an SoD betr. German Resupply, 29.12.1958, LOC, Twining Papers, box 106. Gespräch Strauß - Quartes, 23.1.1959, FRUS, 1958-1960, vol. 7, part 1, S. 406 f. Stellungnahmen JCS zu den Strauß-Quarles-Gesprächen, 10. und 30.4.1959, NA, RG 218, Central Decimal File 1959, box 143, CCS 9165/4000 Germany (West). Antwort SACLANT, Admiral Wright, auf eine entsprechende Nachfrage des Ausschussvorsitzenden Jaeger, 22.4.1959, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 3. Wahlperiode, gemeinsame Sitzung mit dem Auswärtigen Ausschuss, S. 17.

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echten Übungsstäben teilnehmen. Die Verbindung zu den NATO-Befehlshabern sollten die nunmehr eigens dazu geschaffenen Deutschen Bevollmächtigten bei AFNORTH, NORTHAG und CENTAG herstellen268. Obwohl man mit Rücksicht auf die mangelhafte Kriegsbevorratung in Westeuropa eine mehrmonatige Spannungszeit als Vorlauf angenommen hatte, waren die Ergebnisse auf logistischem Gebiet bei den eingespielten Einsätzen von über 350 Atomsprengkörpern auf Bundesgebiet doch vorhersehbar. Zum Schutz der Zivilbevölkerung hatte man umfangreiche Evakuierungen von etwa 25 % der Bevölkerung aus den Großstädten vorgenommen, zu denen schon in den ersten Kriegstagen etwa 10 Millionen Flüchtlinge traten. Die Zerstörungen in den Ballungsräumen und der Massenexodus ihrer Bevölkerung führte nicht nur eine weitgehende Lähmung des gesamten Wirtschaftslebens herbei, sondern schuf gleichzeitig kaum lösbare Versorgungsprobleme. In den Notaufnahmegebieten war weder die Versorgung mit Wasser, noch mit Lebensmitteln oder Medikamenten gesichert. Den über sie hinweggehenden Kampfhandlungen wie der radioaktiven Verstrahlung waren die ungelenkten Flüchtlingsströme praktisch schutzlos ausgesetzt. Der Übungsstab des BMWi rechnete von daher im Einsatzfall mit einem Ausfall in der arbeitsfähigen Bevölkerung in einer Größenordnung von 50 %269. Die Lage verschärfte sich zusätzlich unter den Bedingungen eines Kriegsverlaufs, bei dem die Bundesrepublik unmittelbar nach Kriegsbeginn in mehrere Verteidigungsinseln zerschlagen und durch Zerstörung der Rheinbrücken von ihren westlichen Versorgungslagern abgeschnitten worden war. Das Ergebnis schilderte der Unterabteilungsleiter Fü Β V, Brigadegeneral Albert Schnez, vor dem Verteidigungsausschuss in drastischen Bildern. Versorgung habe nur noch »unter chaotischen Bedingungen« stattfinden können, da das Bundesgebiet schnell »Verkehrs- und versorgungsmäßig aufgesplittert« worden sei, so dass man »praktisch in vielen Teilen Deutschlands in Wüsteneien hätte kämpfen« müssen: »Im Zeitalter der Massenvernichtungsmittel stehe der Heldentod dicht neben dem Hungertod. Das Problem der Versorgung des Ruhrgebiets habe wie ein Alptraum vor der Führung der Bundeswehr [···] gestanden.« Abhilfe habe man letztlich kaum schaffen können, da der Bundesrepublik dafür die räumliche Tiefe fehle. Aus den Versorgungsdepots westlich des Rheins sei nämlich wegen der Zerstörung der Infrastruktur die »Verkehrsregelung in der Übung völlig zusammengebrochen. [...] Nicht in einem einzigen Fall sei eine Bewegung von Vorräten ostwärts des Rheins möglich gewesen«270. Um die zivilen Bundesministerien mit ihren Übungs- und Verbindungsstäben überhaupt einigermaßen mitwirken lassen zu können, musste man für sie die Atomlage in »abgemilderter Form« einspielen und zudem mit einem Pla268

269 270

Einweisungsvortrag SIDE STEP zu Teilnehmern und Kommandostruktur, 5.9.1959, BAMA, BW 2/2161. Erfahrungsbericht BMWi zur Übung SIDE STEP, 28.10.1959, ebd., BW 2/2621. Vortrag BG Schnez zur logistischen Lage bei SIDE STEP, 13.1.1960, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 3. Wahlperiode, 70. Sitzung.

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nungsstand arbeiten, der frühestens 1961 erreicht sein würde. Doch selbst dann entwickelte sich die Spiellage schnell in eine Richtung, bei der zentrale Steuerungsmöglichkeiten nur noch sehr bedingt griffen. Am Beispiel der Lebensmittelversorgung sah sich etwa der Übungsstab aus dem BML voll in seiner seit längerem vertretenen Skepsis bestätigt, dass die seit 1958 im Aufbau begriffenen Notvorräte der öffentlichen Hand bestenfalls eine erste Notversorgung der evakuierten oder als Flüchtlinge obdachlos gewordenen Teile der Bevölkerung sicherstellen konnten. Und auch das würde im Verteidigungsfall nur dann zu erreichen sein, wenn man schon im Frieden ihre dezentrale Auslagerung aus den Ballungsgebieten in vorbereitete Schutzzonen durchgeführt hatte. Die einzige Möglichkeit, für die Bevölkerung insgesamt ein Überleben in den ersten kritischen Tagen und Wochen zu erreichen, lag deshalb in einer »verbrauchernahen Bevorratung«, also in einer Anlage von Vorräten in Privathaushalten wie in deren unmittelbarer Nähe beim Einzelhandel 271 . Es sollte indes noch Jahre dauern, bis auf dem Ernährungssektor allmählich die geforderten Bundesreserven heranwuchsen und dezentral ausgelagert werden konnten. Eine immer wieder geforderte Bevorratung in Privathaushalten war letztlich zu keiner Zeit zu erreichen, selbst wenn man der NATO 1964 melden ließ, dass die Aufklärungsaktion »Freiwillige Haushaltsbevorratung« wachsende Resonanz in der Bevölkerung finde. Nur dürfe man sich nicht darüber hinwegtäuschen lassen, dass selbst erste Erfolge in den Privathaushalten nicht hinreichen würden, »den Bedarf der Bevölkerung für eine bestimmte Anzahl von Tagen in einem Notstandsfall zu decken« 272 . Mit dem Nachlassen des Kalten Krieges in den siebziger und achtziger Jahren sollte dieser Ansatz zu einer dezentralen Bevorratung dann auch alle psychologischen Grundlagen entsprechender Bedrohungsgefühle in der Bevölkerung verlieren. Aber selbst die öffentliche Bevorratung würde immer wieder an Probleme bei der Kostenverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen stoßen. Noch im Krisenjahr 1962, an dessen Ende immerhin die bis dahin schwerste Gefährdung durch eine atomare Eskalation der Kubakrise drohte, stritten sich beispielsweise BMI und BMF über die Frage, wer die Kosten für notwendige Lebensmittelvorräte in den öffentlichen Luftschutzbunkern zu tragen hatte. Das BMI erklärte die Kommunen nur hinsichtlich Verwaltung und Unterhalt für zuständig, das BMF sah darin eine kommunale Gesamtaufgabe der Gemeinden »als deren eigene Angelegenheit« 273 . Unmittelbar nach Abflauen der Krise konnte das BML immerhin vermelden, dass inzwischen 6000 t Kondensmilch in der Notstandsreserve eingelagert seien, um »im Falle der Erhöhung der Radioaktivität der Milch durch Strontium 90 die Milchversorgung der Säuglinge und Kleinkinder sicher[zu]stellen«. Auch war bis dahin die Notbevorratung in den westlichen Bundesländern sowohl im Umfeld der Ballungsgebiete als auch in den vorge-

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Erfahrungsbericht BML über SIDE STEP, Oktober 1959, BA-MA, BW 2/2661. BML, Ref. III Β 4 an Ständige Vertretung bei der NATO, 26.11.1964, BA, Β 116/41043. Schreiben BMF, Ref. II Β 5 an BMI, 14.5.1962, ebd., Β 106/54691.

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planten Aufnahmeräumen für Evakuierte und Flüchtlingen vorangekommen; die landwirtschaftlichen Überschussländer Niedersachsen und Bayern sollten folgen274. Ein Wassersicherstellungsgesetz - wegen möglicher radioaktiver Verstrahlung ein Desiderat seit Jahren - konnte dagegen erst im Herbst 1965 in Kraft treten275. So weit war man 1959/60 freilich noch lange nicht, als man die extrem defizitären Erfahrungen aus der Logistikübung SIDE STEP zu verarbeiten hatte. Wie sehr dem BMVg die Lösungsbedürftigkeit der offenen Versorgungsfragen auf den Nägeln brannte, mag man daraus ersehen, dass der bisherige Unterabteilungsleiter Logistik, Brigadegeneral Albert Schnez, mit der Begründung zum Chef des Stabes Fü Β befördert wurde, »weil die logistischen Probleme jetzt und in weiterer Zukunft eine besonders bedeutsame Rolle für die Bundeswehr spielen werden« 276 . Verteidigungsminister Strauß hatte sich der Sache mittlerweile persönlich angenommen und sie zu einem zentralen Besprechungspunkt im NATO-Rat gemacht277. Geschickt band er dazu die Interessen der operativen Stäbe an einer kontrollierten und effizienten Versorgungsführung auf einem möglichen Gefechtsfeld Bundesrepublik mit der durchgängigen deutschen Forderung nach einer integrierten Logistik und gemeinsamen Ausbildungseinrichtungen zusammen. Das Territorium der Bundesrepublik sei dafür aber schon mit militärischer Infrastruktur der Stationierungsstreitkräfte überproportional belastet. Jetzt müsse man schrittweise zusätzliche Areale für die aufwachsenden eigenen Streitkräfte für Kasernen, Depots, Übungs- und Flugplätze freimachen. Wenn man nunmehr auf Bündnisebene auch noch einvernehmlich zu der Einsicht komme, dass die ursprünglich einmal anvisierte Kriegsbevorratung für 30 Tage nicht mehr ausreiche, sondern auf 90 Tage erhöht werden müsse, dann lasse sich das für die Bundesrepublik eben nicht mehr rein national einlösen. Deshalb habe man zwar bereits mit der Planung für einen 55-TageVorrat begonnen, der bis 1965 angelegt werden solle. Alles was darüber hinausgehe, sei aber nur dann in Angriff zu nehmen, wenn vorher die bilateralen Verhandlungen über deutsche Auslandsdepots zum Erfolg geführt hätten. Machte man sich zusätzlich klar, dass auf dem engen mitteleuropäischen Raum letztlich die Bevorratung für die Verbände von neun Partnerstaaten koordiniert werden musste, die hier Streitkräften unterhielten, dann gewann die deutsche Sicht einer notwendigen Übertragung der Verantwortung dafür an den SACEUR, der schließlich im Einsatz befähigt sein musste, Operations- und Versorgungsführung zu koordinieren, an Überzeugungskraft.

274 275

276 277

Vermerk BML, Ref. III Β 6, 2.1.1963, ebd., Β 106/50724. Präsentation dazu aus dem Bundesministerium für Gesundheitswesen in: Bulletin Nr. 158 vom 24.9.1965; das Gesetz über die Sicherstellung von Leistungen auf dem Gebiet der Wasserwirtschaft für Verteidigungszwecke (Wassersicherstellungsgesetz) vom 24.8.1965 ist veröffentlicht in: BGBl. 1965, Teil I, S. 1225-1231. Mitteilungen BMVg über Personalveränderungen, Bulletin Nr. 85 vom 7.5.1960. Tagesordnung Logistics in Peace and War, 31.3.1960, NISCA, C-R (60) 12.

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung

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Erreicht wurde mit dem deutschen Vorstoß wenigstens, dass der NATO-Rat seine Prüfung durch die militärischen Autoritäten in der Standing Group und im Military Committee empfahl. Schon in seiner Endauswertung der Übung SIDE STEP folgte der Militärausschuss dem Antrag immerhin so weit, dass er jetzt ebenfalls eine European Supply Agency anregte. Sie machte freilich nur dann Sinn, wenn die einzelnen Partnerstaaten national ihre Verpflichtungen zur Kriegsbevorratung aus der MC 55/1 angemessener als bisher erfüllten 278 . Mit anderen Worten: integrierte Logistik basierte zwingend auf der Voraussetzung, dass dafür zunächst einmal die national aufzubringenden Ressourcen bereitgestellt wurden. Die Standing Group wurde nunmehr damit beauftragt, drei Berichte zu erarbeiten: -

über Integration der Logistik, über die Voraussetzungen dazu bei Bevorratung und Depotraum, über ein gemeinsames System von Ausbildungseinrichtungen und Übungsplätzen, verteilt über den gesamten Bündnisraum, das die Überbelegung der Bundesrepublik auffing. Im Sommer 1960 konnten die einzelnen Partnerstaaten dann daran gehen, diese zu einem NATO-Dokument, der MC 86/1 279 , zusammengefassten Überlegungen mitzuprüfen. Interessant ist dabei die britische Stellungnahme 280 , die den deutschen Gedanken an sich zwar durchaus attraktiv fand, würde er die deutschen Streitkräfte über eine integrierte Logistik doch zusätzlich in die NATO einbinden, »so that independent German military action would be impossible«. Vor dem Hintergrund ihrer generellen Skepsis gegen Integration kamen die Briten dann aber doch wieder darauf zurück, dass man die im deutschen Antrag formulierten Ziele auch durch effizientere Kooperation ohne den Weg in eine neue supranationale Institution erreichen konnte. Letztlich würde nämlich der Versuch zur Integration derart viele politische und wirtschaftliche Hindernisse zu überwinden haben, dass die Resultate möglicherweise den Aufwand nicht lohnten. Deshalb erschien es London vollkommen ausreichend, wenn man anstelle einer zusätzlichen NATO-Agentur die wechselseitige logistische Unterstützung auf bilateraler Grundlage ausbaute. Das hieß in der Endabrechnung: internationale Kooperation wenn nötig, aber weiterhin so viel nationale Verantwortung wie möglich. Im Herbst 1960 mahnte schließlich auch der DMV Washington zu Realismus. Eine integrierte Logistik innerhalb der NATO hänge von einer vorherigen Änderung der MC 36 ab, in der die nationale Verantwortung für Versorgungsfragen festgeschrieben sei. Eine Änderung dieses Dokuments werde derzeit aber aus politischen Gründen von den USA abgelehnt, die gerade auf logistischem Gebiet ihre westeuropäischen Partner nicht von ihrer Eigen Verantwortung entbinden wollten 281 . 278 279 280

281

Bericht des NMC an NAC zu SIDE STEP, 25.5.1960, NISCA, MC 43/8. NATO Logistics in Peace and War - The Integration of Logistic Resources, ebd., MC 48/1. Stellungnahme des Principal Administrative Officers' Committee (PAO) der britischen Stabschefs zur MC 86/1,16.8.1960, PRO, DEFE 4/128, PAO/P (60) 19. DMV-Bericht 1960/III, 25.11.1960, BA-MA, BW 2/20063.

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Die Auswertung der nächsten NATO-Übung FLASH BACK (20.-30. September I960) 282 konnte von daher nur die gleichen Desiderata monieren, wie sie bereits im Vorjahr bei SIDE STEP aufgetreten waren: - Wegen des Anlaufens logistischer Hilfe aus Übersee erst nach zwei bis drei Monaten eine dringend erforderliche Notbevorratung in Westeuropa für 90 Tage; - Schaffung der gesetzlichen Voraussetzungen für alle Maßnahmen einer Kriegsbewirtschaftung bis hin zu Dienstverpflichtungen; - dezentrale Auslagerung wichtiger Versorgungsgüter auch ostwärts des Rheins in weiträumig aufgelockerten kleineren Depots, um sie vor kriegsbedingter Zerstörung schützen zu können und ihre Vorräte doch gleichzeitig nahe an den Bedarfsträgern ausgelagert zu haben; - Ausweitung des deutschen Depotsystems in den westeuropäischen Raum hinein; - schließlich Sonderbevorratung für Schleswig-Holstein mit Priorität, da die Versorgung dorthin im Kriegsfalle voraussichtlich sofort zum übrigen Bundesgebiet hin unterbrochen sein würde. Neben dem weiterhin ungelösten Problem einer ausreichenden Kriegsbevorratung hatten sich dabei unter den Bedingungen eines möglichen Atomkrieges zwei zusätzliche Schwierigkeiten zunehmend in den Vordergrund geschoben: die Wiederingangsetzung nationaler Versorgungsbetriebe nach ihrer Beschädigung und die Transportorganisation für die anlaufende Nachversorgung aus Übersee. Gerade weil die Hilfslieferungen über den Atlantik für die Versorgung der Bevölkerung in Westeuropa zunächst hinter dem Nachschub für die Kriegführung zurückstehen mussten und deshalb phasenverschoben erst nach Monaten voll zur Wirkung kommen konnten, hatte die NATO in ihren Notstandsausschüssen die Themen Ingangsetzung und Instandhaltung der Wirtschaft in Westeuropa unter Kriegseinwirkungen an herausragender Stelle auf ihre Agenda gesetzt. Dabei sollten alle Betriebe, die mit kriegswichtiger Produktion oder überlebenswichtigen Versorgungsaufgaben befasst waren, absolute Priorität genießen. An die deutsche gewerbliche Wirtschaft und ihre Versorgungsunternehmen traten dafür allerdings mit Blick auf ihre Lage auf dem potenziellen Hauptgefechtsfeld in Mitteleuropa von den ersten Stunden eines Krieges an Herausforderungen in besonders gebündelter Form heran. Ein baulicher Schutz gegen Luftbedrohung war, wie gezeigt283, wegen der nur langfristig verfügbar zu machenden finanziellen Mittel vorerst kaum oder nur in sehr eingeschränkter Weise möglich. Die Masse der Betriebe lag aber in den von Atomeinsätzen am schwersten bedrohten Ballungsgebieten. Wollte man daher wenigstens ihr Potenzial an Facharbeitern schützen, das man dringend dazu benötigte, um sie nach kriegsbedingten Zerstörungen wieder in Gang zu setzen, musste man ihre

Erfahrungsbericht Fü Β über FLASH BACK, 15.12.1960, ebd., BW 2/2622. 283 Vgl. Teil 2, Kap. V.4.

282

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung

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Belegschaften rechtzeitig evakuieren, was freilich die Wirtschaft zunächst einmal gänzlich zum Erliegen bringen würde. Noch schwieriger lagen die Dinge bei der Lagerung kriegswichtiger Rohstoffe und der Zuteilen der erforderlichen Energien. Schon für die Lenkung von Mineralöl anteilig nach dem Bedarf der bevorzugt zu versorgenden militärischen Verbände, der Zivilverteidigung, der gewerblichen Wirtschaft und des öffentlichen wie privaten Verkehrs fehlten vorerst die erforderlichen Notstandsvorschriften. Bei den Übungen arbeitete man daher bis auf Weiteres mit sehr großzügigen Annahmen darüber, ohne vorerst zu wissen, was sich davon in den erst noch zu leistenden Verfassungsergänzungen auch tatsächlich innenpolitisch und rechtlich umsetzen lassen würde. Ähnlich lagen die Dinge bei den übrigen Versorgungsgütern und insbesondere bei den Arbeitskräften. Der Grad flächendeckender Zerstörungen würde bei militärischen wie zivilen Dienststellen einen gleichzeitigen riesigen Bedarf an Arbeitskräften zur Schadensbekämpfung, zur Ingangsetzung der wichtigsten Verkehrsverbindungen und zur Reparatur beschädigter Versorgungseinrichtungen erforderlich machen. Da aber für eine Dienstverpflichtung von Arbeitskräften ebenfalls die gesetzlichen Voraussetzungen fehlten, musste man befürchten, dass im Einsatzfall ein Wettlauf um die personellen Ressourcen einsetzen würde, bei dem die Befehlshaber der NATO-Verbände aus der MC 36 ihre Vorrechte für die Belange der Kriegführung geltend machen und - so war zumindest aus deutscher Sicht zu befürchten - im Zweifelsfalle sogar einseitig gegen andere Bedarfsträger durchsetzen würden284. Die in den NATO-Übungen regelmäßig eingespielten Annahmen über bereits vorhandene Vorschriften zur Zwangsverpflichtung und Verteilung von Arbeitskräften halfen da kaum weiter, da sie nicht allgemein im durchführenden Verwaltungsbereich bekannt und schon im Frieden zu vorbereitenden Maßnahmen umgesetzt waren. Ein Bericht zur Logistikübung SIDE STEP aus dem Herbst 1959, in den erstmals auch die Erfahrungen des mitübenden BMWi eingearbeitet waren, verwies auf die Folgen für die Lage schon am ersten Kampftag, selbst wenn man bei den Übungsstäben der Zivilverteidigung mit geringeren Atomeinsätzen als im militärischen Bereich geübt hatte: »Lähmung des Staats- und Wirtschaftslebens; Stillstand der Produktion; starke Menschen- und Güterverluste; Daueralarm im ganzen Bundesgebiet; überlebende Bevölkerung ohne Schutzräume; psychologischer Schock, auch bei dem unter normalen Umständen überdurchschnittlich einsatzbereiten Personal der Versorgungsbetriebe; sinnlose Fluchtbewegungen mit ihren Folgeerscheinungen; [...] Notwasserversorgung ist nicht vorbereitet; [...] Seuchengefahr wegen Ausfalls der Abwasserbeseitigung. [...] Gasversorgung, 284

So warnten U.S.-Offiziere während der Logistikübung SIDE STEP im Herbst 1959 mehrfach, dass die deutsche Seite w e g e n des schleppenden Aufbaus ihrer Territorialverbände ihre Aufgaben - Aufrechterhaltung der Operationsfreiheit der NATO-Truppen - nicht erfüllen könnten und man sie deshalb notfalls »selbst zu übernehmen« haben würde, Berichte von WBK V/G3 sowie WBK IV/G3, 12. bzw. 15.10.1959, BA-MA, BW 2/2621.

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insbesondere aus dem Ruhrgebiet, ist zum großen Teil, insbesondere wegen Fernbleibens des Personals, ausgefallen [...]. Zusammenhängende Stromversorgung großer Gebiete nicht mehr möglich. Wiederingangsetzung lebensund verteidigungswichtiger Anlagen: mangels einer im Frieden vorbereiteten Instandsetzungsorganisation können größere Schäden nicht behoben werden. [...] Treibstoffversorgung unterbrochen. Wichtige Produktionsstätten und oberirdische Groß- und Zwischenlager zerstört. [...] Der Einsatz von Polizei, Luftschutz und Luftschutzhilfsdiensten, Feuerwehren usw. kommt nach Aufbrauchen der Tagessätze - weitgehend zum Erliegen285.« Vor diesem Hintergrund fehlender Voraussetzungen hatte man gar nicht erst eine eigene Lage »Bewirtschaftung« für die mitübende Verbindungsgruppe des BMWi vorgesehen, spielte aber immerhin durchgängig Anfragen über noch vorhandene oder wiederherstellbare Produktionsmöglichkeiten und Anforderungen auf Zuteilung von Gütern ein. Dabei wurde neben der mangelnden Vorbereitung aller Beteiligten auf kriegswirtschaftliche Lenkungsmaßnahmen, für die wie gesagt schlicht die gesetzlichen Voraussetzungen fehlten, ein Grunddilemma sofort sichtbar. Das dezidiert marktwirtschaftliche System sperrte sich in nicht unbeträchtlichem Maße dagegen, »daß der der Notstandsplanung innewohnende dirigistische Zug die Friedenswirtschaft beeinflußt«. Das »Notwendige« dazu wollte man zwar wie in anderen Partnerstaaten auch tun, bestand aber darauf, dass alle im Frieden vorzubereitenden Lenkungsmaßnahmen, so insbesondere das Sammeln unternehmensinterner Unterlagen oder das Erteilen von Bereitstellungsbescheiden für kriegswichtige Güter, »eine sorgsame Abschirmung« notwendig machten, um der deutschen Wirtschaft daraus keine ökonomischen Nachteile unter dem Gesichtspunkt wirtschaftlicher Konkurrenz im NATO-Raum entstehen zu lassen. Andererseits hing alle Bewirtschaftung im Kriege auch aus Sicht des BMWi und der Wirtschaft davon ab, dass im Frieden rechtzeitige und ausreichende Bevorratung betrieben worden war. Dezentrale Auslagerung war dafür wie für alle Versorgungsmaßnahmen das Zauberwort, da nur so die frühzeitige Zerstörung der Vorräte und ihre Verfügbarkeit für eine nur noch regional zu leistende Wiederingangsetzung einer Notwirtschaft außerhalb der Ballungsräume zu gewährleisten war. Da dies alles nur für eine erste Notversorgung ausreichen konnte, unterstützte das BMWi nachdrücklich die deutsche Forderung nach einer integrierten Logistik. Ging man nämlich davon aus, dass die Nachversorgung aus Ubersee nur langsam anlaufen würde, dann brauchte man gerade auch aus wirtschaftlicher Sicht eine »zentrale Versorgungsbehörde bei NATO« [sie!]. Sie hatte übernational für angemessene Zuteilung an Gütern je nach nationalem Bedarf zu sorgen und speziell für die am stärksten zerstörte Bundesrepublik auch Zulieferungen aus dem übrigen Europa einzuleiten, bevor die Versorgung über den Atlantik in Gang kam. Und ein Weiteres fiel den erstmals mitübenden Fachleuten aus dem BMWi natürlich sofort auf: wie wenig letztlich immer noch die Zuständig285

Dazu u n d z u m Folgenden: Erfahrungsbericht über die NATO-Übung SIDE STEP - Beteiligung des Bundesministeriums f ü r Wirtschaft, 28.10.1959, ebd., BW 2/2621.

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keiten bei Maßnahmen der Gesamtverteidigung zwischen militärischen und zivilen Dienststellen geklärt waren. Wenn es nämlich zu den befürchteten »Insellagen« auf deutschem Boden kam, war aufgrund der Übungslagen unter atomaren Bedingungen äußerst zweifelhaft, ob die Annahmen über »weiterfunktionierende Zivilbehörden« noch realistisch waren. Würden dagegen entsprechend der MC 36 die dann allein noch leitungsfähigen NATO-Befehlshaber im Operationsgebiet die vollziehende Gewalt übernehmen, dann blieb aus Sicht der Wirtschaftsfachleute für eine koordinierte zivil-militärische Versorgungsführung offen, ob die militärischen Stellen sich auch in jedem Falle der Konsequenzen ihrer Entscheidungen »hinsichtlich der Sorge für die Zivilbevölkerung« bewusst sein würden. Gesetzt den Fall, dass es trotz all der geschilderten Schwierigkeiten gelang, über Jahre verteilt eine angemessene Notbevorratung anzusammeln und nach einer kurzen Schockphase auch gewichtige Teile der gewerblichen Wirtschaft wie der Versorgungseinrichtungen wieder in Betrieb zu nehmen, war die anlaufende Produktion dennoch binnen kurzem auf Heranführung von Nachschub aus Ubersee angewiesen. Auch auf dem dazu im NATO-Rahmen zu koordinierenden Transportsektor war freilich für die deutsche Seite schon bei einer frühen Besprechung mit den Fachleuten von AFCENT deutlich geworden, wie weit die Planungskompetenzen eines NATO-Befehlshabers im Frieden und seine Koordinierungs- und Uberwachungsbefugnisse im Krieg reichten. Jeder Staat würde zwar auf einem gemeinsamen Kriegsschauplatz Mitteleuropa grundsätzlich für die Transport- und Verkehrsorganisation auf dem eigenen Territorium verantwortlich bleiben. Nach der MC 36 hatte er beides aber so zu gestalten und mit den NATO-Planungen zu vernetzen, dass die Belange der Operationsführung Priorität genossen. Dabei waren die Befugnisse der NATOBefehlshaber in der Kampfzone ostwärts des Rheins natürlich umfassender als in der Verbindungszone westlich davon. Für die Koordination aller Transportbewegungen hatte die NATO zwei feste Einrichtungen geschaffen: - Das Priorities Board als einen Ausschuss bei AFCENT, um aus den Anträgen der einzelnen Bedarfsträger die Dringlichkeit für militärische Transporte festzulegen; - die Authority for Coordination of Internal Surface Transports in Central Europe (ACTICE) beim NATO-Ausschuss für Inlandstransporte zur Überwachung und Abstimmung aller Landtransporte aus den Atlantikhäfen über Eisenbahnen, Straßen und Binnenwasserwege. In beide Organisationen entsandten die davon betroffenen Anrainerstaaten ihre Vertreter. Uber den Rhein hinweg waren jeder ostwärts davon eingesetzten Armee je ein Eisenbahn- und zwei Straßenübergänge zugewiesen, in deren Nähe Reservematerial für die Instandsetzung der Brücken und Fähren für den behelfsmäßigen Ubersetzverkehr bereitlagen. Zur Sicherung ihrer logistischen Verbindungen über den Fluss hinweg hatten die Amerikaner in Heidelberg, die Briten in Köln und die Franzosen in Kehl jeweils eigene Befehlsstellen eingerichtet. Die Verbindungen zu ihnen hielten die angrenzenden Wehrbereichskommandos III (Düsseldorf), IV (Mainz) und V

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(Stuttgart). Als erste Maßnahmen im Kriege würden dabei über die zugewiesenen Ubergangsstellen die vorgeplanten Evakuierungen von alliierten Staatsbürgern und Nichtkämpfern auf Straße und Schiene nach Westen erfolgen. Im Gegenverkehr mussten umgehend Soldaten und ihre Ausrüstung aus Standorten westlich des Rheins in die unmittelbare Kampfzone befördert werden. Die Zuständigkeiten für die Transportorganisation würde in beiden Fällen bis zur deutschen Grenze in alliierten, anschließend in deutschen Händen liegen. Das für die deutsche Seite besonders lösungsbedürftige Problem des Abschiebens von Flüchtlingen über den Rhein hatte dagegen hinter diesen beiden Prioritäten zurückzustehen. Wesentlicher war vielmehr die Sicherung des rollenden Materials für den Schienen- und Straßenverkehr, also der Transportmittel, die für die weitere Krieg- und Versorgungsführung unverzichtbar waren. Dazu zählten vor allem Tank- und Kesselwagen für die Mineralölversorgung sowie schwere Flachwagen zur raschen Verlegung von Militärfahrzeugen. Ihre Rückführung aus den östlichen Teilen der Bundesrepublik musste schon im Frieden so vorbereitet sein, dass sie selbst bei einem Überraschungsangriff nicht in die Hände des Gegners fallen würden. Auch in diesem Falle waren die zivilen logistischen Bedürfnisse zwar angesprochen, rangierten aber ebenfalls eindeutig hinter den für Militärtransporte benötigten Transportmitteln. Der deutschen Seite wurde dazu eine Transportorganisation abverlangt, die im Einsatzfall möglichst leicht an die Transportsysteme ihrer Partner anzupassen war, so dass sie in der Kampfzone sofort auf die Bedürfnisse der vorn eingesetzten Heeresgruppen umgestellt werden konnte. Gleichzeitig hatten aber auch die Deutschen ihren Bedarf an Hafenkapazitäten am Atlantik und ihren Transportbedarf über westeuropäisches Territorium für militärische wie zivile Zwecke mit den Gastgeberstaaten abzustimmen und in einen gemeinsamen Hafenplan Europa Mitte bei AFCENT einzubringen. Erst damit würde nämlich der Frontstaat Bundesrepublik die dringend benötigte logistische Tiefe für seine Gesamtverteidigung erlangen286. Um die großräumige Versorgung Westeuropas aus Übersee sicherzustellen, hatten alle Partnerstaaten nationale Organisationen für die Kontrolle ihrer Handelsschifffahrt einzurichten, über die im Einsatzfall jederzeit deren Überführung aus ziviler Verfügung unter das Dach der dafür eingerichteten NATOOrganisation für den transatlantischen Ozeanverkehr (PBOS) erfolgen konnte. Wie in der gesamten logistischen Planung war auch hier von Anfang an mit dezentralen Strukturen zu arbeiten, um nicht beim kriegsbedingten Ausfall einer Zentralstelle das betroffene nationale Transportsystem insgesamt unbenutzbar zu machen. Eine ähnliche Pool-Lösung für den Lufttransportraum scheiterte dagegen an der Ablehnung der beiden Hauptluftmächte USA und

286

Aktennotiz BMVg IV G4 über die Besprechung zwischen Offizieren von CINCENT und Vertretern des BMVg am 16. und 17.2., 25.2.1956, ebd., BW 2/2660.

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Großbritannien 287 . Alle NATO-Planung ging dabei auch auf dem Transportsektor davon aus, dass man bei Ausbruch eines europäischen Krieges mit einem umfassenden atomaren Überraschungsschlag des Gegners zu rechnen hatte. Die Sowjetunion konnte sich dazu im Herbst 1956 neben ihren überlegenen konventionellen Bomberverbänden bereits zusätzlich auf etwa 200 Atomwaffen abstützen - mit jährlich weiter wachsender Tendenz. Neben den unmittelbaren militärischen Zielen - Flugplätze, Munitionslager, Hauptquartiere und Streitkräfte der NATO - würden dabei die Atlantikhäfen, das Kommunikations- und Transportsystem und die großen Depotanlagen bevorzugte Ziele abgeben. Zusätzlich würden sich Sabotageaktionen gegen die neuralgischen Flussübergänge von Rhein, Maas und Mosel richten, um die Logistik der NATO an ihren verwundbarsten Punkten zu treffen. Gelang es daher nicht, die eigene Logistikund Transportorganisation durch Dezentralisierung aufzulockern und durch Anlage von Nothäfen sowie die Bereitstellung von Ersatz bei den Übersetzmitteln über die Flüsse in Gang zu halten, drohten schon in den ersten drei bis vier Tagen nach Kriegsausbruch irreversible Schäden und Engpässe in der gesamten Versorgung einzutreten 288 . Was man dazu aus Sicht des NATO-Ausschusses für den europäischen Inlandsverkehrs (PBEIST) benötigte, war eine zentrale Koordination aller Notstandsmaßnahmen im Frieden und ihre dezentrale Funktionsfähigkeit im Kriege. Außerdem mussten militärische und Zivilverteidigung eng miteinander verzahnt werden und gemeinsam üben, wenn ihr komplexes Zusammenspiel unter Einsatzbedingungen national wie auf Bündnisebene reibungslos ineinander greifen sollte. Dabei stieß man freilich im Falle eines überraschend ausbrechenden Konflikts an kaum überwindbare Grenzen bei den Koordinationsmöglichkeiten, weil zwar die militärischen Verteidigungsplanungen auf ständig präsenten Streitkräften aufbauen konnten, während die zivilen Notstandsorganisationen mit Ausnahme von Norwegen in allen NATOStaaten auf freiwilliger Basis organisiert waren. Ohne hinreichende Vorwarnzeit würde man deshalb das Personal dieser Zivilschutzorganisationen nur mit einiger Mühe und schwerlich rechtzeitig zusammenbekommen können. Ähnliches hatte man bei dem enormen Bedarf an Arbeitskräften zu gewärtigen, die man von den ersten Stunden eines Atomkrieges an dringend zur Ingangsetzung und Instandhaltung beschädigter oder zerstörter Anlagen, Kommunikationseinrichtungen und Verkehrsverbindungen benötigte289.

287

Bericht über die 8. Sitzung des North Atlantic Planning Board for Ocean Shipping am 8.-11.10.1956 in Washington sowie Bericht der Ständigen Ν ΑΤΟ-Vertretung der Bundesrepublik über einen Vorstoß des SCEPC betr. Einrichtung eines NATO-Planungsausschusses für Lufttransporte, 12.3.1956, ebd., BW 2/594. 288 PBEIST-Dokument Evaluation of the Effects of Enemy Attacks against the Central European Transport System, 30.10.1956, NISCA, AC/15 (CE) D/15. 289 PBEIST-Dokument Measures to be Taken from the Military Standpoint to Minimize the Effects of Nuclear Attack on the Central European Transport System nebst Anhang, 24.11. bzw. 20.12.1956, ebd., AC/15 (CE) D/18.

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Die Folgerungen daraus für die Transportorganisation der Bundeswehr unter atomaren Bedingungen lagen auf der Hand: Die Bundesrepublik verfügte einerseits über eine hochentwickelte und sehr leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur, die aber gerade deswegen besonders anfällig gegen flächendeckende kriegsbedingte Zerstörungen war. Das lag vor allem daran, dass sich 70 % ihrer empfindlichen Knotenpunkte ausgerechnet in den von Atomeinsätzen besonders bedrohten Ballungsgebieten befanden. Hinzu kam die vorrangige NordSüd-Ausrichtung des Verkehrs entsprechend der Lage von Wirtschafts- und Bevölkerungszentren in der Bundesrepublik, während für die Belange der Operations- und Versorgungsführung eine zumindest teilweise Verlagerung in West-Ost-Richtung geboten gewesen wäre. Das machte vor allem die 15 Eisenbahn· und 21 Straßenbrücken über den Rhein verkehrstechnisch so bedeutsam, da ihr Ausfall die Bundesrepublik sofort in zwei Teile zerschlagen würde. Tiefe Feindeinbrüche in die so genannte »Wespentaille« Fulda - Frankfurt und der schnelle Vorstoß gegen Hamburg würden ostwärts des Rheins mit SchleswigHolstein, Nord- und Süddeutschland drei weitere derartige Verkehrs- und Versorgungsinseln schaffen. Da nach dem raschen Aufbrauchen der Kriegsvorräte der Gesamtraum Bundesrepublik im Übrigen von überseeischen Zufuhren abhängig sein würde, mussten die deutschen Nordseehäfen wie die belgischnordfranzösischen Atlantikhäfen natürlich ebenfalls als bevorzugte Atomziele eingeschätzt werden. Nach den Berechnungen von Fü Β würden 80 % des täglichen logistischen Bedarfs über Nothäfen in Frankreich und den Benelux-Staaten angelandet und davon wiederum 75 % über den Rhein in die eigentlichen Kampfzonen transportiert werden müssen. Die Hauptträger dieser Transporte waren und blieben dabei Schiene und Straße. Die Binnenschifffahrt mit ihrem ausgebauten Kanalsystem war zwar angemessen einzuplanen, würde aber in der Endabrechnung ähnlich wie der geringe Lufttransportraum der Bundesrepublik nur den einen oder anderen logistischen Engpass überwinden helfen. Wollte man unter diesen Bedingungen eine einigermaßen funktionierende Logistik im Atomkrieg aufrechterhalten, dann waren mithin auch auf diesem Sektor Dezentralisierung der Transportmittel und atomgeschützte Unterbringung der Verkehrsführung vorrangige Maßnahmen schon im Frieden. Dazu kam eine umfangreiche Planung für Nothäfen an Nordsee und Atlantik, für den Ausbau von Umgehungsstraßen um die Ballungszentren und für die Aufstellung gut ausgestatteter Instandsetzungseineinheiten zur schnellen Schadensbehebung. Da ein derart umfangreiches Programm zur Sicherung und Wiederherstellung eines hochverwundbaren Verkehrssystems und seiner Transportmittel an materielle und personelle Grenzen stieß, musste man sich in jedem Falle auf erhebliche Ausfälle und Einschränkungen im Einsatz einstellen. Ausreichende Kriegsbevorratung und deren dezentrale Auslagerung mussten auch von daher in der gesamten logistischen Planung absolute Priorität genießen290. 290

Vortrag Oberst Härtel, BMVg IV G4, vor dem Atomausschuss des BMVg am 6.2.1957 über Transport und Verkehr im nuklearen Krieg, BA-MA, BW 2/1946.

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Bei aller geforderten Dezentralisierung eines Transportsystems im Atomkrieg suchte das BMVg aber für seine Verteidigungsplanungen im Frieden einen Interessenausgleich mit dem Verkehrsministerium über eine »oberste nationale Transportleitung« herbeizuführen. Die militärische Notwendigkeit dafür lag auch hier in der »Vorrangstellung« begründet, die der Operationsführung auf deutschem Boden zukommen musste, da im Einsatzfall faktisch »das gesamte Gebiet der Bundesrepublik Kampfzone ist, in welcher den alliierten Oberbefehlshabern der Heeresgruppen gemäß MC 36 die Entscheidungsbefugnis zusteht«. Da man andererseits davon auszugehen hatte, dass der Einsatz von Atomwaffen »die Kapazität [der Verkehrsnetze] auf einen Bruchteil der Friedensleistung absinken« lassen würde, war ein für die deutsche Versorgungsführung dringend gebotener Abgleich zwischen militärischem und zivilem Transportbedarf nur zu erreichen, wenn es gelang, die regionalen Interessen auf den zu erwartenden »Verkehrsinseln« so zu bündeln, dass deutsche Versorgungswünsche mit einer Stimme vorgetragen werden konnten. Dazu verhandelte man freilich »seit Jahren« auf Referentenebene zwischen BMVg und BMV erfolglos über eine entsprechende nationale Transportleitung. Der Grund dafür lag hier wie in anderen Fragen der zivil-militärischen Zusammenarbeit auch in der Forderung des BMVg, in einer derartigen Institution als Mittler zwischen NATO-Forderungen und nationalen Verteidigungsbelangen den militärischen Vertretern das Prävenire zuzugestehen 291 . Diesen Schritt zu einer von den militärischen Planern immer wieder ins Spiel gebrachten »Kriegsorganisation der Bundesrepublik« schon im Frieden waren die Verhandlungsführer des BMV ebenso wenig mitzuvollziehen bereit wie etwa das BMI in Fragen der Zivilverteidigung insgesamt. Ein weiteres Problem kündigte sich mit der ersten Vorverlegung der Verteidigungslinien an Weser und Lech ab Sommer 1958 an. Für die Britische Rheinarmee mit ihren Depots in Belgien bedeutete dies nämlich im Vergleich zur bisherigen Verteidigung am Rhein eine Verlängerung ihrer Versorgungslinien um zusätzliche fünf Tage Landtransport, weil damit die Rheinbarriere zu einer ernsthaften logistischen Hürde wurde. Führte man dagegen wesentliche Teile der eigenen Versorgung über die holländischen Häfen und den Niederrhein heran, benötigte man 30 000 deutsche Hilfskräfte an den Ausladehäfen des Flusses. Deshalb plädierten die Briten für eine schrittweise Vorverlegung ihrer Depots näher an ihre Einsatzverbände heran, mussten damit aber die an sich schon schwerwiegenden Infrastrukturprobleme auf dem militärisch bereits dicht belegten Raum ostwärts des Rheins zusätzlich erhöhen 292 . Die Frage blieb deshalb vorläufig in der Schwebe, würde aber natürlich im Vorfeld der Implementierung der Vorwärtsverteidigung an der innerdeutschen Grenze im Herbst 1963 erneut zum Tragen kommen. 291 292

Fü B/Übungsstab an Bundesminister der Verteidigung, 21.3.1958, ebd., BW 2/2411. Diskusssion der BCOS betr. Reinforcement of BAOR and the Holding of War Reserves, 13.3.1959, PRO, DEFE 4/117, COS (59) 19.

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Der hauptsächliche Schwachpunkt einer Versorgung Westeuropas und seiner vorgeschobenen deutschen Kampfzone war und blieb freilich die Umschlagszone dafür an den Atlantikhäfen. Mochte man bei den britischen Stabschefs in London die Lage nicht ganz so dramatisch wie auf dem Kontinent sehen, weil man trotz aller atomaren Bedrohung der großen Häfen nicht davon ausging, dass sie wirklich bis zur Unbenutzbarkeit zu zerstören waren. Deshalb erschien auch eine im NATO-Rahmen geforderte, sehr umfangreiche Nothafenplanung von daher nicht so unabdingbar 293 . Die deutsche Bewertung der ersten großen logistischen NATO-Übung SIDE STEP kam dagegen im Herbst 1959 zu dem für die Versorgung der Bundesrepublik alarmierenden Ergebnis, dass bei einem Ausfall der Atlantikhäfen durch Atomeinsätze der Nachschub für Europa letztlich nicht gesichert werden konnte, weil dann nicht genügend Nothäfen vorbereitet waren294. Eine zusätzliche Bedrohung stellten ein Jahr später für die NATO-Parlamentarier die maritimen Fortschritte der Sowjetunion im Mittelmeer und auf Kuba dar, weil damit nicht mehr nur die atomare Verwundbarkeit der westeuropäischen Seehäfen in Rechnung gestellt werden musste, sondern die für die Versorgung wichtige Südroute über den Atlantik in Reichweite sowjetischer Seestreitkräfte zu geraten drohte295. Wie bei der atomaren Schadensbegrenzung allgemein stieß die NATO mithin auch auf dem Felde ihrer logistischen Probleme auf Hindernisse, die sich schon auf der Ebene ihrer Planungsausschüsse nur noch in einen Katalog von Forderungen kleiden ließen, in den Realitäten ihrer innenpolitischen wie finanziellen Umsetzbarkeit jedoch weit vor dem als militärisch notwendig Erachteten stecken bleiben mussten. Eine Kriegsbevorratung für die kritischen ersten 30 Tage eines Konflikts war bis Ende der fünfziger Jahre nirgends in Westeuropa erreicht worden; das diskutierte Ziel einer Ausweitung dieser Bevorratung auf 60 oder gar 90 Tage lag mithin außerhalb der finanziellen Reichweite der meisten NATO-Partner. In der Bundesrepublik begannen sich zwar allmählich die Lebensmittelvorräte in der Bundesreserve aufzustocken und eine Mindestbevorratung bei Treibstoffen anzusammeln. Solange freilich große Teile Westdeutschlands das unmittelbare Gefechtsfeld für eine vorerst nur auf dem Papier stehende Vorwärtsverteidigung abzugeben hatten, würden die flächendeckenden Zerstörungen aus einer wesentlich auf taktisch-atomare Waffen abgestützten Operationsführung Versorgungsprobleme in Größenordnungen aufwerfen, die mit nationalen Mitteln - Kriegsbevorratung plus Wiederingangsetzung der schwer getroffenen wirtschaftlichen Infrastrukturen - auch nicht annähernd zu lösen waren. Die daraus abgeleitete Forderung nach einem frühzeitigen Anlaufen der überseeischen Versorgung trug zwar erste Früchte, als sich die westeuropäischen Partner zu einer Anlage deutscher Depots auf ihren Territorien 293

294 295

Stellungnahme JP (59) 25 (Final) zu MC 84/1: International Coordination of Supplies in Wartime Resupply of Europe, 3.4.1959, ebd., DEFE 4/117, COS (59) 27. Bericht DMV Washington über SIDE STEP, 7.10.1959, BA-MA, BW 2/2621. Bericht über die 6. Jahreskonferenz der NATO-Parlamentarier in Paris vom 21.-26.11.1960, Bulletin Nr. 222 vom 21.11.1960.

V. Schadensbegrenzung und zivile Landesverteidigung

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bereit fanden. Auch für die Transportwege und -mittel von den Atlantikhäfen nach Westdeutschland verdichteten sich die Absprachen. Nur hing letztlich für die Versorgung der Bundesrepublik weiterhin alles davon ab, zu welchem Zeitpunkt und in welchem Umfang der transatlantische Nachschub über die Seerouten im Nord- und Südatlantik herangeführt und über eine durch Nothäfen verstärkte Hafenorganisation an der Atlantikküste angelandet werden konnte. Auch unter dem Gesichtspunkt einer alles andere als leistungsfähigen Kriegsorganisation der Versorgung war daher der Stoßseufzer des Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses im Nachtrag zu der Logistikübung SIDE STEP nur zu verständlich, »daß die Gnade des Himmels und die Klugheit der eigenen Politik einen Tag D ersparen mögen«296.

296

Fazit Richard Jaegers (CDU) auf der 70. Sitzung, 13.1.1960, Archiv des Deutschen Bundestages, Protokolle des Verteidigungsausschusses, 3. Wahlperiode, 70. Sitzung, S. 66.

Schlussbetrachtung Blickten deutsche Sicherheitspolitiker und militärische Planer am Ende der Ära Eisenhower auf das erste Jahrfünft ihrer NATO-Zugehörigkeit zurück, dann kamen sie nicht um Antworten auf die eingangs aufgeworfene Kernfrage herum, wie sich die Bündnisvorgaben aus einer 1954 einvernehmlich beschlossenen Nuklearisierung der Allianzstrategie und ihren ersten Modifizierungen von 1956/57 mit dem nationalen Verteidigungsinteresse des Neumitglieds Bundesrepublik vertrugen. Oder anders gewendet: Hatten sich die Erwartungen aus dem Bündnisbeitritt erfüllt bzw. war man wenigstes auf dem Weg dahin, dass auf westdeutschem Territorium durch die Verstärkung der NATO-Streitkräfte um deutsche Verbände jener Zuwachs an Abwehrkraft erwuchs, der das vorgeschobene Schlachtfeld Bundesrepublik, seine Bevölkerung und seine Infrastruktur zumindest schrittweise zum wirksam verteidigten Schutzraum der Allianz machte? Dazu sind in einer Zusammenschau zunächst einmal die beiden Grundannahmen auf ihren Realitätsgehalt hin zu überprüfen, die von der deutschen politischen wie militärischen Führung 1955 für die Verteidigung des westdeutschen Territoriums mit dem Aufbau eigener Streitkräfte verbunden wurden: dass sich erst damit die Verteidigungslinien vom Rhein an die deutschen Ostgrenzen vorschieben und gleichzeitig die extreme Abhängigkeit der Bündnisverteidigung von Atomwaffen mit ihren nicht hinzunehmenden Schadenswirkungen wesentlich verringern ließen. Wenn der Stellvertretende Inspekteur des Heeres, Generalmajor Joachim Schwatlo Gesterding, als Ergebnis der Generalstabsreise des Heeres von 1960 darauf abhob, er habe seinen Übungsteilnehmern »einmal zeigen [wollen], daß der Einsatz taktischer Atomwaffen keineswegs das Ende militärischer Führungskunst bedeutet [...] daß trotzdem die Führung der Verbände unbeschadet aller Verluste und aller Behinderungen möglich geblieben ist«, so nimmt dies kaum wunder. Übungszweck war es schließlich gewesen, die operativen Möglichkeiten eines Einsatzes von Atomwaffen im Landkrieg und unter den Bedingungen des Gefechtsraumes Bundesrepublik zu studieren. Die Folgen derartiger Gefechtsführung für die davon mittel- wie unmittelbar betroffene Bevölkerung und ihre Versorgung sowie für die wirtschaftlichen und verkehrstechnischen Infrastrukturen des Landes waren deshalb aus solcher Betrachtung bewusst ausgeklammert worden 1 . Wenige Wochen danach kamen freilich den deutschen Teilnehmern an einer Kommandeurbesprechung bei der 7. (US) Armee sogar 1

Schlussansprache, 30.9.1960, BA-MA, BH 1/24683.

724

Schlussbetrachtung

auf dem engeren Feld der Operationsführung einmal mehr Zweifel daran, ob man den in Aussicht genommenen Gegenangriff der NATO-Verbände zur Rückeroberung zeitweilig aufgegebenen Raumes nach einem umfassenden Einsatz taktischer Atomwaffen - während der Übung FLASH BACK (20.-30. September 1960) waren allein im CENTAG-Bereich 40 eigene und 170 feindliche Atomschläge eingespielt worden - überhaupt noch durchführen konnte. Die vorgenommene Simulation der dadurch hervorgerufenen Verformungen hatte nämlich das Gelände in der Angriffsrichtung als derartig ungangbar erwiesen, dass man sich darin mit den vorhandenen Karten nicht mehr zurechtfinden, geschweige denn noch koordiniert mit den benachbarten Verbänden angriffsweise vorgehen konnte2. Einen Ausweg aus diesem operativen Dilemma, dass eine Gefechtsführung unter Einsatz taktischer Atomwaffen zur nachhaltigen Zerstörung dessen führen musste, was man eigentlich gegen eine Invasion von außen schützen oder wenigstens nachträglich wieder befreien wollte, mochte eine weitere Miniaturisierung von Atomwaffen mit ihren Schäden begrenzenden Wirkungen bieten. Generalinspekteur Heusinger waren anlässlich seiner USA-Reise Ende 1959 neuerlich Hoffnungen gemacht worden, dass die Amerikaner fähig sein würden, »in absehbarer Zeit kleine Atomwaffen - er [Chairman JCS Twining] nannte Bazookas mit Atomkopf, Atomhandgranaten usw. - zu produzieren«3. Bei der bereits erwähnten Kommandeurbesprechung in Heidelberg stellte man deshalb ein Jahr später nicht nur in Aussicht, dass der vom CINCENT unterstützte Antrag der CENTAG Anfang Dezember 1960 vom SACEUR genehmigt würde, den Einsatz von Atomwaffen nunmehr von der Korps- bis auf die Divisionsebene herunter zu delegieren. Die in der U.S. Army bereits erprobte DAVY CROCKETT, ein atomares Kleinkampfmittel für die Infanterie mit einem Gefechtskopf von 0,01 bzw. 0,02 KT, wollte man sogar binnen kurzem in die Hände von Regiments- und Bataillonskommandeuren übergehen sehen4. Ganz in diesem Sinne war im Sommer 1960 auch die Army Operational Research Group im britischen Kriegsministerium zu der Einschätzung gekommen, dass atomare Kampfmittel im Sprengwert unterhalb einer Kilotonne für die unmittelbare Unterstützung der Kampftruppe auf dem Gefechtsfeld verwendbar waren. Wollte man solche Feuerunterstützung allerdings möglichst effizient gestalten, »it seems reasonable that they should be available in the same way and of the same level of command as conventional close support artillery«5. Wie selbstverständlich solche unmittelbare atomare Feuerunterstützung inzwischen in das Gefechtsgeschehen der Kampftruppe eingeplant war, hatten 2

3

4

5

Vortrag III. (GE) Korps auf der Kommandeurbesprechung bei der 7. (US) Army am 31.10., 2.11.1960, ebd., BH 1/98, lfd. Nr. 138. Bericht Heusingers, 17.11.1959, ebd., BW 2/1801, Bl. 11; die Waffe ist beschrieben bei Hansen, U.S. Nuclear Weapons, S. 197 f. Vortrag Arko 7. (US) Armee und anschließende Diskussion darüber, 2.11.1960, BA-MA, BH 1/98, lfd. Nr. 138. ARDE War Game - An Assessment of Sub-KT Nuclear Weapons, August 1960, PRO, WO 291/2237.

Schlussbetrachtung

725

die deutschen Teilnehmer eben erst aus der Pionierübung MAKE FAST VIII bei der NORTHAG erfahren müssen. So zeigten Briten, Belgien und Holländer »ein gewisses Befremden«, weil bei ihren deutschen Partnern der von britischer Seite geforderte und von den übrigen Mitspielern durchwegs akzeptierte Einsatz von atomaren Kampfmitteln »bewußt unterblieben war«. Der zeitweilig auf dem deutschen Gefechtsstand anwesende Kommandierende General des I. (GE) Korps, Generalleutnant Heinz Trettner, hatte vielmehr mit Blick auf die schwer eingrenzbaren Nebenwirkungen von Atomminen als Marschroute bei seinen Kommandeuren größte Zurückhaltung ausgegeben. Forderte man nämlich von Seiten der NATO-Führung im Gefechtsraum ein >stay at home< der Zivilbevölkerung, dann war dies aus deutscher Sicht nur »schwer vorstellbar«, wenn in deren Nahbereich eigene Atomwaffen in immer größerer Zahl zum Einsatz kamen. Demgegenüber sah es der verantwortliche britische Pionierführer der NORTHAG als zwingend an, dass man auch unmittelbar auf dem Gefechtsfeld »mit der modernen Ausrüstung des 20. Jahrhunderts und ihrer Konzeption für die atomare Kriegführung Schritt halten« müsse, da »Atom [...] die entscheidende Waffe« sei, mit der man Kommandeure und Soldaten ständig und auf allen Ebenen »vertraut machen« müsse 6 . Der eingeschalteten deutschen Heeresführung blieb schließlich wenig mehr, als dem eigenen Korpskommandeur in seinen Vorbehalten gegen einen allzu »rigorosen Einsatz« taktischer Atomwaffen auf deutschem Boden zwar einerseits den Rücken zu stärken, gleichzeitig aber klarzustellen, dass auch die Bundeswehr im Verteidigungsfalle derartige Kampfmittel »einsetzen muß, wenn die Gesamtsituation und der Befehl der NATO es fordern« 7 . Auf mehrfache deutsche Einsprüche hin hatte SHAPE den Deutschen immerhin nach den alarmierenden Reaktionen aus der deutschen Öffentlichkeit während und nach den NATO-Übungen CARTE BLANCHE (1955) und LION NOIR (1957) bei künftigen Planspielen einen maßvolleren Einsatz von Atomwaffen auf eigenem Territorium und erst nach vorheriger Rücksprache oder wenigstens nach rechtzeitiger Warnung zugesagt. Wie begrenzt solche Einschränkungen freilich mit Blick auf eine verbindliche NATO-Strategie anwendbar waren, blieb allerdings selbst unter den mitwirkenden deutschen Mitspielern umstritten. Insbesondere aus den Stäben der Territorialverbände, die sich im Zusammenwirken mit den Zivilschutzkräften am unmittelbarsten mit den Folgen derartiger Einsätze konfrontiert sahen, waren nahezu nach jeder Übung warnende Stimmen zu vernehmen wie die vom Herbst 1957: »Es muß unseren Verbündeten klar gesagt werden, daß Atombomben auf deutsche Siedlungen, soweit sie vom Feind besetzt sind, nicht abgeworfen werden dürfen. Es wäre unmöglich, eine derartige Maßnahme der deutschen Bevölkerung zu erklären.« Gerade wenn man die Bundesbürger entsprechend der NATO-Forderung zum

Bericht des Generals der Pioniere I. (GE) Korps, BG Dorn, über die NATO-Planübung MAKE FAST VIII, 28.7.1960, BA-MA, BH 1/98, lfd. Nr. 113-135. Schreiben InspH, GL Zerbel, an KG I. Korps, GL Trettner, 16.9.1960, Pommerin, General Trettner, S. 647 f.

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Schlussbetrachtung

Verbleiben an ihren Wohnorten bewegen wolle, müsse man sonst nämlich schwerwiegende psychologische Folgen in Rechnung stellen. Die bei Atomeinsätzen zu erwartenden Flüchtlingsmassen, die weder angemessen zu schützen, noch zu versorgen seien, würden in diesem Falle »zu leicht Zentren der Kriegsmüdigkeit«. Der Adressat des Berichtes beim deutschen Leitungsstab der Übung kommentierte solche Vorbehalte jedoch sofort mit der einschränkenden Bewertung: »So kraß geht das nicht«8. Schließlich hätte man damit wesentliche Teile der NATO-Einsatzpläne in Frage gestellt. Im Übrigen wurde man sich selbst bei den Anhängern einer beweglich geführten großen Land-Luft-Schlacht um Mitteleuropa im Fü Β schon 1956/57 bewusst, dass die eigene Forderung nach Vorneverteidigung ohne den frühzeitigen Einsatz von Atomwaffen zumindest so lange operativ in der Luft hing, wie die langsamen Fortschritte beim Aufbau der Bundeswehr andere Optionen kaum zuließen. Für die Luftwaffenführung um ihren inzwischen am reinen Abschreckungsdenken ausgerichteten Inspekteur Josef Kammhuber kam freilich solches Festhalten der Bundeswehrführung und der anderen beiden Teilstreitkräfte an einer lediglich dosiert von taktischen Atomwaffen unterstützten herkömmlichen Operationsplanung letztlich einem rückwärts gewandten Glasperlenspiel gleich. Unter den Konditionen einer atomaren Revolutionierung der Kriegsmittel seien »herkömmliche Landoperationen eine Illusion«, weil es nach dem atomaren Schlagabtausch »nichts mehr zu operieren gibt - außer in den Krankenhäusern«, was man von Seiten des Fü Η mit der Randbemerkung kommentierte: »Sadismus9!« Unterstützt von Fü Μ vertrat man dagegen in der Heeresführung gerade mit Blick auf die unannehmbaren Schäden einer ausschließlich atomar zu führenden Verteidigung die Gegenposition einer strategischen Arbeitsteilung mit den angelsächsischen Atommächten. Nur ihrem atomaren >Schwert< konnte die Aufgabe zufallen, »durch ausreichende schwere strategische Streitkräfte das atomare Gleichgewicht zu erhalten«, während es Aufgabe der Bundeswehr als Teil des unmittelbar verteidigenden >Schildes< sein musste, »ein starkes Gegengewicht gegen die überlegenen sowjetischen Streitkräfte in Zentraleuropa zu schaffen«10. Im Heer wie in der Marine ging man nämlich davon aus, dass man binnen kurzem mit einem atomaren Patt zwischen den Supermächten zu rechnen hatte, so dass sich deren strategische Potenziale in Bälde wechselseitig neutralisieren würden. Um so dringlicher musste es dann sein, auch gegen das verbleibende konventionelle Übergewicht des Warschauer Paktes und seiner Führungsmacht adäquate NATO-Streitkräfte für den Fall begrenzter militärischer Auseinandersetzungen bereitzuhalten. Gleichviel, ob man voll auf lückenlose Abschreckung oder auf die weiterhin notwendige Option zur lediglich atomar unterstützten herkömmlichen Verteidigung setzte, in jedem Falle blieben ihre Realisierungsmöglichkeiten an die 8

9

10

WBK VI, Abt. II an Leitungsstab WBK VI für die Übung COUNTER PUNCH, 25.9.1957, BA-MA, BW 2/2689. Stellungnahme InspLw zu den Studien des Heeres und der Marine über die künftige strategische Konzeption, 6.11.1959, ebd., BH 1/9487. Stellungnahmen Fü Η und Fü Μ zu den Auffassungen von Fü L, 9.11.1959, ebd.

Schlussbetrachtung

727

uneingeschränkte Verfügbarkeit von Atomwaffen gebunden. Denn nach Einschätzung der Lage bei SHAPE im Sommer 1960 würde die Allianz mit ihren dann aufgestellten Streitkräften auch 1964 »noch nicht in der Lage sein [...], einen sowjetischen Durchbruch zu verhindern«. Scheiterte mithin die Kriegsverhinderung durch Abschreckung, dann würde auch mittelfristig »nahezu das ganze Bundesgebiet Kampfplatz« bleiben. Die NATO-Führung konnte sich unter diesen Umständen, wenn sie ein vollständiges Überrollen großer Teile Westeuropas verhindern wollte, auf keine andere Alternative abstützen, als sich »auf den Atomkrieg abgestellter defensiver Kampfverfahren« zu bedienen. Und genau das, so meldete der darüber Bericht erstattende Chef des Stabes Fü B, Brigadegeneral Albert Schnez, seinem Minister, habe man bei SHAPE »mit wissenschaftlicher Gründlichkeit« untersucht. Über die Risiken und Erfolgsaussichten derartiger Gefechtsführung mochte man freilich mangels anderer Optionen noch auf militärischer Planungsebene Einvernehmen erzielen können, für die Bundesrepublik würden bereits die Ergebnisse eines auf Mitteleuropa begrenzten Atomkrieges dagegen in einem Desaster enden: »Die Durchführung einer derartigen Planung bedeutet jedoch unweigerlich das Ende der Deutschen Nation, vielleicht auch Europas. Der paradoxe Fall würde Wirklichkeit: ein Teil der Armee übersteht und erringt einen fraglichen >SiegAtomschlachtfeldes< nach Verlust der Substanz unseres Volkes« überhaupt noch Sinn machen würde 12 . Natürlich zog man daraus bei der militärischen Führung der Bundeswehr weder 1959 noch 1960 den Schluss, dass eine weitere Verteidigungsplanung auf dieser Basis obsolet sei. Man konnte sich schließlich nicht mit allen seinen Kampfverbänden voll in die NATO integrieren und gleichzeitig die atomaren Grundlagen der Allianzstrategie ablehnen. Die Folgerungen daraus liefen denn auch bei Fü Β auf etwas anderes hinaus. Wenn schon die westeuropäischen Partner hinter ihren Verpflichtungen zur Bereitstellung zugesagter Kampfverbände zurückblieben, dann musste wenigstens die Bundesrepublik aus wohlverstandenem Eigeninteresse »den Ausweg über eine Erhöhung des deutschen Wehrbeitrags« suchen, um über eine so verstärkte NATO-Streitmacht auf deutschem Boden die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen so weit wie irgend 11

12

Bericht Chef des Stabes Fü Β an seinen Minister über seinen zweitägigen Besuch in Fontainebleau und Paris am 3./4.8„ 16.8.1960, ebd., BW 2/14255, Bl. 65-73; Zitate: Bl. 70 f. Strauß notierte an den Rand: »Ich habe diesen Bericht mit großem Interesse gelesen. Er trägt zur Bildung klarer Begriffe bei und führt zu einem den Tatsachen Rechnung tragenden deutschen NATO-Denken«, ebd., Bl. 65. Ausarbeitung Leiter Fü Β III: Atomare Bewaffnung der Bundeswehr, 8.1.1959, ebd., BW 17/42, Bl. 46-63; Zitat Bl. 49.

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Schlussbetrachtung

möglich zu erhöhen. Da man dazu freilich die eigene ökonomische Leistungsfähigkeit nicht überdehnen durfte, würde man jedoch selbst dann nicht umhin können, die NATO-Verbände auf allen Ebenen mit taktischen Atomwaffen auszurüsten, und das hieß wiederum für den deutschen Partner, dass auch er nur bei »einer verstärkten atomaren Ausrüstung und Bewaffnung der Bundeswehr« wirklich voll einsatzfähig war. Wollte man unter diesen Umständen der in einem europäischen Atomkrieg zu befürchtenden Selbstvernichtung entgehen, musste man sogar noch eine viel weitergehende Option ins Auge fassen, die man im unmittelbaren Umfeld von Präsident Eisenhower schon vor Jahren beim Einstieg in die atomare Ausrichtung der Bündnisstrategie angedacht hatte13. Das gegnerische Atompotenzial war bereits in einer unmittelbar auf Krieg vorausdeutenden Krise so frühzeitig und so nachhaltig zu reduzieren, dass seine nicht schon am Boden zerstörten Reste nur noch sehr eingeschränkt zur Wirkung kommen würden. Im Klartext hieß dies, und auch das scheint General Schnez aus seinem Besuch im Sommer 1960 bei SHAPE als denkbare Konsequenz mitgenommen zu haben, »evtl. den pre-emptive war« nicht mehr grundsätzlich aus den eigenen Überlegungen auszuschließen14. Solchem Denken in den Kategorien einer präventiven Kriegführung versagte sich die NATO aber eigentlich nach ihrem Selbstverständnis eines reinen Defensivbündnisses. Und selbst wenn darüber doch im National Security Council wie bei den Vereinigten Stabschefs in Washington nachgedacht werden mochte, so würde der nichtnukleare deutsche Partner auf solche Überlegungen oder gar Planungen auf keinen Fall Einfluss nehmen können. Doch wie stand es mit der zweiten Grundannahme beim Einstieg in den deutschen Streitkräfteaufbau, mit der Erwartung, durch den Aufwuchs der deutschen Verbände die NATO-Streitkräfte an der mitteleuropäischen Hauptfront so nachhaltig verstärken zu können, dass man sich zumindest aus den Einseitigkeiten atomarer Abhängigkeit ein wesentliches Stück weit würde lösen können? Wie bereits eingangs gezeigt werden konnte, basierten derartige Hoffnungen in mehrfacher Hinsicht auf einer zweifelhaften Rechnung. Nicht um eine wesentliche Erhöhung der in Mitteleuropa dauerhaft stationierten NATOVerbände ging es nämlich den angelsächsischen Partnern, als sie 1954/55 den über Jahre blockierten direkten Weg für die Bundesrepublik in die nordatlantische Allianz freimachten. Ihre über Europa hinausreichenden globalen Verpflichtungen, verbunden mit den Kosten ihrer strategischen Rüstungen, ließen die USA wie Großbritannien vielmehr strikt an ihrer Grundmaxime einer militärischen wie finanziellen Lastenteilung im Bündnis festhalten. In dem Maße, wie sich durch den Aufwuchs der deutschen Verbände die Streitkräftelücke in Mitteleuropa schließen lassen würde, hofften Washington wie London daher die eigenen Land- und Luftstreitkräfte auf einen eher symbolischen direkten Beitrag zur Verteidigung des westeuropäischen Kontinents abschmelzen zu können. 13 14

Belege dafür: Teil 2, Kap. III.4, S. 463 f. Schreiben an Strauß, 16.8.1960, BA-MA, BW 2/14255, Bl. 71.

Schlussbetrachtung

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Dass sich insbesondere die Erwartungen der USA, nach einem wirksam gewordenen deutschen Verteidigungsbeitrag das eigene militärische Engagement in Westeuropa wesentlich verringern zu können, durch den Gesamtzeitraum des Kalten Krieges nie wirklich erfüllen sollten, darf man daher getrost als einen gemeinsamen Erfolg der Westeuropäer ansehen. Als doppelte Rückversicherung gegen eine Regionalisierung der Sicherheit Westeuropas wie gegen ein zu starkes Übergewicht der Bundeswehr innerhalb der Bündnisstreitkräfte im Falle eines weitgehenden Rückzugs der amerikanischen Truppen blieb Washington nämlich um des Zusammenhalts der NATO willen bis zur Auflösung des Warschauer Paktes nichts anderes übrig, als trotz aller gelegentlichen Drohungen seine Verbände in nur wenig verändertem Umfang auf dem europäischen Kontinent zu belassen, was weit über die ursprünglich zeitlich begrenzten eigenen Absichten hinausging. Während der hier in Rede stehenden fünfziger Jahre war es dagegen durchaus noch nicht ausgemacht, ob es zu dieser langfristigen Stationierung amerikanischer, britischer und kanadischer Verbände auf deutschem Boden kommen würde. Gerade der erste SACEUR Eisenhower hatte sich in der so genannte >Great Debate< 1950/51 in den USA nur unter dem Vorbehalt für eine Erhöhung der U.S.-Streitkräfte in Europa von IV2 auf über 5 Divisionen stark gemacht, dass es um einen temporären Schutzschirm der Führungsmacht gehe, hinter dem die zur regionalen Selbstverteidigung aufzustellenden Streitkräfte möglichst unbeeindruckt von sowjetischem Gegendruck aufwachsen konnten15. Eine derartige Verstärkung der westeuropäischen Kontingente, wie man sie zur wirksamen Selbstverteidigung benötigt hätte und wie man sie sich bei SHAPE gerade vom Aufwuchs der westdeutschen Verbände versprach, sollte Ende der fünfziger Jahre freilich weiter auf sich warten lassen. Eine in Aussicht gestellte Aufstellung der deutschen Heeresdivisionen als dem Kernbestandteil der Bundeswehr innerhalb von drei Jahren, also bis 1959, war erkennbar schon Ende 1956 als Illusion auszumachen. Das hinderte freilich die übrigen westeuropäischen Partner nicht, ihre auf deutschem Boden stationierten Verbände, wie im Falle der Belgier und Holländer, nur langsam zu modernisieren, oder sie gar, wie bei der 1. (FR) Armee und bei der Britischen Rheinarmee, bereits abzuschmelzen, noch bevor die davon gerissenen zusätzlichen Lücken in der Bündnisverteidigung durch deutsche Divisionen geschlossen werden konnten. Als man dann im Sommer 1956 in Bonn auch noch aus Washington unüberhörbare öffentliche Signale über eine schrittweise Reduzierung der amerikanischen Truppen in Europa registrieren musste, machte der Mangel an einsatzfähigen Bodentruppen die anvisierte Vorneverteidigung gegen eine Invasion überlegener Streitkräfte des Warschauer Paktes unmöglich, es sei denn, man griff sofort auf das einzig verbleibende wirksame Abwehrmittel zurück, die ab 1957 schrittweise in die operativen Planungen der NATO eingestellten taktischen Atomwaffen.

15

Sisk, Forging the Weapon, S. 73-75.

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Schlussbetrachtung

Der Ausweg aus einer dauerhaften Überlastung der angelsächsischen Führungsmächte durch ihr direktes Engagement auf dem europäischen Kontinent bei gleichzeitigen weltweiten Verpflichtungen, die Hoffnung auf eine ökonomisch besser durchzuhaltende Strategie der Abschreckung durch atomare Aufwertung der nicht angemessen zu erweiternden NATO-Streitkräfte sollte sich indes nur zu bald ebenfalls von starken allianzinternen Dissonanzen belastet sehen. Schon die Zustimmung Großbritanniens und Frankreichs zur faktischen Übernahme des seit 1953 in den USA eingeleiteten >New Lookgeneral war< darstellen, führt oder unterstützt«. Daraus leitete er im Sommer 1960 - und dies bereits als Vorsitzender der Vereinten Stabschefs - auch für die eigenen Streitkräfte eine »Schwerpunktverlagerung« ab: »Im Verhältnis zur Vergeltungsanstrengung haben wir [...] nun größeren Nachdruck auf die Fähigkeit gelegt, wirkungsvoll in Auseinandersetzungen zu kämpfen, die kleiner sind als ein >general warmassive retaliation bereits Überlegungen über das künftige Grundmuster der >flexible response< einer wieder stärker politisierten Allianzstrategie des Nebeneinanders von Entspannungsbemühungen und Sicherheitsvorkehrungen an. Dass die »derzeitige Unzulänglichkeit der deutschen militärischen und zivilen Verteidigungsvorbereitungen« effiziente Vorneverteidigung des eigenen Territoriums bei weitem noch nicht zuließ, musste auch Verteidigungsminister Strauß seinem Kanzler nach den Herbstübungen der NATO 1960 in einer sehr alarmierenden Bestandsaufnahme19 eingestehen. Die Bundeswehr hatte einmal 16

17

18 19

Aussagen vor dem House Subcommittee on Appropriations, 28.1., bzw. vor dem Senate Armed Services Committee, August 1960, zit. nach Anl. 1 zum Einzelbericht Η 18/1960 des Heeresattaches an der Deutschen Botschaft Washington, 14.9.1960, BA-MA, BW 2/20033; Hervorhebungen im Original. Zusammenfassung des Berichts »The North Atlantic Nations: Tasks for the 1960s«, in: FRUS 1958-1960, vol. 7, part 1, S. 622-627. Das Umdenken in der sowjetischen Führung ist inzwischen auch aus ehemals sowjetischen Akten belegt bei Holloway, Stalin and the Bomb, S. 337 f. Ebd., S. 625; Hervorhebungen im Original. Dazu und zum Folgenden: Schreiben von Strauß an Adenauer, 10.11.1960, BA-MA, BW 2/14255.

Schlussbetrachtung

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mehr überhaupt nur einigermaßen realistisch an der eben abgeschlossenen Übung FLASH BACK teilnehmen können, weil man neuerlich mit Annahmen über den Stand der Notstandsmaßnahmen und der Versorgungsplanung gespielt hatte, die weit hinter den geforderten Möglichkeiten zurücklagen. Doch der Minister ging noch einen wesentlichen Schritt weiter, wenn er neben den militärischen Schwachstellen beim Aufstellungstempo der Verbände wie bei ihren mangelnden personellen und materiellen Reserven besonders scharf die gänzlich unzureichenden Vorkehrungen für die Zivilverteidigung und den Bevölkerungsschutz kritisierte: - Fehlende Notstandsgesetze zur überfälligen Schließung der verfassungsrechtlichen Lücken im Verteidigungsfall; - »absolute Schutzlosigkeit der Bevölkerung gegen feindliche Waffenwirkung«, für die zudem weder ernährungswirtschaftliche noch sanitätsdienstliche Vorsorge in ausreichendem Maße getroffen sei; - keine auch nur annähernd hinreichende Personalbewirtschaftung, die dringend zur wehrwirtschaftlichen Sicherstellung wie zur Schadensbekämpfung im Kriege geboten sei; - kaum eingespielte organisatorische Vorbereitungen für das Zusammenspiel politischer und militärischer Führungsstellen in Bund und Ländern. Verantwortlich dafür machte Strauß nicht nur den von der NATO und den USA immer wieder beklagten zu geringen Anteil von Verteidigungsausgaben am Bundeshaushalt. Nachdrücklich stellte er als innenpolitisches und gesellschaftliches Defizit »die mangelnde geistige und psychologische Vorbereitung der ganzen Bevölkerung auf einen Krieg, vor allem auf einen Atomkrieg« heraus. Anders als dies aus den unüberhörbaren Hinweisen aus den USA über die zunehmende Unwahrscheinlichkeit eines globalen Atomkrieges herauszulesen war, orientierte sich die Bundeswehrführung mithin am bisherigen totalen Kriegsbild, »daß ein allumfassender Krieg allumfassende Vorsorge verlangt«. Die bereits zitierten Erfahrungen von General Schnez aus dem NATO-Hauptquartier schienen dies zum jetzigen Zeitpunkt auch noch als einvernehmliche Linie in der Allianz zu rechtfertigen. Abschreckung lasse sich nur erreichen, wenn man »gegen jede Form einer Aggression« gewappnet sei: »Erst das Gefühl, einer feindlichen Bedrohung nicht unvorbereitet ausgesetzt zu sein, nimmt dieser Bedrohung ihr Gewicht. [...] Mängel in unseren Verteidigungsanstrengungen bedeuten keine Abschreckung, sondern fordern zu Machtproben heraus.« Seinem Kanzler schrieb der Verteidigungsminister daher einmal mehr ins Stammbuch: »Die Staatsführung hat keine freie Wahl, ob sie diese Maßnahmen unternehmen und durchsetzen will, wenn sie für sich in Anspruch nimmt, die Freiheit wahren zu wollen. Wir müssen zu größerem Verteidigungsaufwand materiell und ideell - kommen, der gesetzlich gesund fundiert sein muß.« Mitten in einer noch längst nicht ausgestandenen Berlinkrise zwischen Chruscev -Ultimatum (1958) und Mauerbau (1961), die nach allgemeiner Einschätzung im Westen das größte Eskalationsrisiko von einer lokalen Krise zu einem europäischen Krieg in sich barg, mochten sich solche Forderungen nach dem Maximum an Verteidigungsanstrengungen noch rechtfertigen lassen,

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Schlussbetrachtung

wenn man wenigstens ein Optimum an Fortschritten erreichen wollte. Die durchgängigen Erfahrungen aus den Übungen der NATO taten ein Übriges, um der Bundeswehrführung und jetzt zunehmend auch den zivilen Mitspielern aus den Bundesministerien und Landesregierungen den Eindruck zu vermitteln, als stehe man vor Herausforderungen totaler Kriegführung, die sich verantwortbar nur noch mit entsprechend umfassender Kriegsvorbereitung schon im Frieden bestehen lassen würden. Nicht mehr zu übersehen war freilich auch, dass sich die reine Vergeltungsstrategie inzwischen an ihren inneren Widersprüchen zu verzehren begann. Erhalten geblieben war der Grundkonsens, dass es im atomar aufgeladenen Kalten Krieg nicht mehr vorrangig darum gehen konnte, Strategien zur optimalen Kriegführung zu entwickeln, sondern wegen der Disproportionen zwischen erreichbaren politisch-militärischen Zielen und damit unvermeidlich verbundenen gesamtgesellschaftlichen Schäden Kriegsverhinderung zum obersten Gebot der Verteidigungsplanung in einem Bündnis demokratischer Staaten erhoben werden musste. Das war in der NATO als Ziel vorgäbe ganz unstrittig. Nur blieb damit die weitere Frage noch nicht beantwortet, wie man Verteidigung unter atomaren Bedingungen organisieren konnte, ohne das zu Verteidigende der Vernichtung preiszugeben, wenn die Abschreckung versagte. Daraus erwuchs das hauptsächliche Dilemma der Vergeltungsstrategie. Ihr überzeugendstes Argument für die NATO 1953/54 war die Hoffnung gewesen, die von der Führungsmacht auch nachdrücklich genährt wurde, dass sich damit Bündnisverteidigung endlich auf eine Basis stellen lassen würde, die von den Partnerstaaten auch ökonomisch durchzuhalten war. Schließlich hatte man schon Ende 1952 das zu ehrgeizige Ziel als nicht durchsetzbar aufgeben müssen, gegen das konventionelle Übergewicht der Sowjetunion und ihrer osteuropäischen Satelliten eine adäquate NATO-Streitmacht nach Umfang und Bewaffnung aufbauen und längerfristig unterhalten zu können. Wenn die Sicherheitspolitiker freilich die Erwartung hegten, über eine Ausstattung der Einsatzverbände mit taktischen Atomwaffen nicht mehr nur als Abschreckungs-, sondern als Einsatzmittel auf dem Gefechtsfeld zu billigerer und effizienterer Abwehrkraft gleichermaßen gelangen zu können, so hatte die militärische NATO-Führung solchen Optimismus von Anfang an gedämpft. Schon in der Phase der atomaren Umplanung hatte der SACEUR mehrfach auf die Notwendigkeit einer atomaren und konventionellen Doppelrüstung verwiesen, wenn man nicht völlig alternativlos und damit unglaubwürdig auf jede kleinste militärische Herausforderung atomar antworten wollte und konnte. Was ursprünglich als Versuch zur Einhegung eines innenpolitisch wie ökonomisch inakzeptablen konventionellen Rüstungswettlaufs mit dem östlichen Gegner durch Konzentration auf die eigenen überlegenen Nuklearwaffen gedacht war, sollte sich wegen der untrennbar damit verbundenen Notwendigkeit zur Schadensbegrenzung schnell als uferlose Ausweitung von Verteidigungsplanung mit noch ungleich höheren wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und psychologischen Kosten behaftet sehen. Übersetzt in die nationale Verteidigungsplanung der Bundesrepublik resultierten daraus jene beiden letztlich untrennbaren Herausforderungen: dass man

Schlussbetrachtung

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entsprechend den eingegangenen Bündnisverpflichtungen mit Vorrang den eigenen Streitkräfteaufbau vorantreiben, gleichzeitig und gleichgewichtig aber auch auf dem potenziellen Schlachtfeld eines künftigen Krieges um des nationalen Überlebens willen eine flächendeckende Zivilverteidigung mit ihren enormen personellen und materiellen Ansprüchen organisieren musste. Räumliche Enge, dichte Besiedlung, extrem anfällige Infrastrukturen und die noch kaum verarbeiteten Erfahrungen totaler Kriegführung auf eigenem Boden bündelten sich dabei mit den verbreiteten psychologischen Vorbehalten in der Öffentlichkeit gegen eine derart einschneidende, alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringende Verteidigungsplanung. Eine Bevölkerung, die gerade die ersten Früchte des Wiederaufbaus zu ernten begann und sich zudem in einen Prozess nachholender Modernisierung eingebunden sah, zeigte sich nach ihrer extensiven Inanspruchnahme für militärische Zwecke in zwei Weltkriegen in ihrer überwiegenden Mehrheit nicht erneut und diesmal schon im Frieden zu so einschneidender Kriegsvorsorge bereit, wie dies den Verteidigungsplanern in Fontainebleau und Bonn unter den Auspizien atomarer Kriegführung zwingend erschien. Wenn daher die Verantwortlichen in der militärischen und zivilen Verteidigungsplanung unisono über einen Mangel an gesellschaftlichem Verständnis für die Notwendigkeiten einer umfassend ausgelegten Notstands- und Kriegsvorsorge klagten, dann lag dem neben den damit verbundenen finanziellen und individuellen Belastungen ein weiteres Hindernis im Wege: dass in der Wahrnehmung breiter Teile der Bevölkerung die durchaus real empfundene äußere Bedrohung im Kalten Krieg und die dagegen einzusetzenden militärischen Mittel einer auf Atomwaffen abgestützten Verteidigung nie wirklich zur Deckung zu bringen waren. Den NATO-Beitritt mit seinen Souveränitätsgewinnen für die Bundesrepublik und seiner allianzpolitischen Absicherung ihrer äußeren Sicherheit begrüßte man daher überwiegend, sieht man einmal von den vornehmlich deutschlandpolitischen Einwänden der Oppositionsparteien ab. Auch den daraus folgenden Streitkräfteaufbau nahm man jetzt mehrheitlich hin. Sobald jedoch die atomaren Grundlagen der Bündnisstrategie ins öffentliche Bewusstsein drangen, schlug solche bedingte Akzeptanz sofort in breite Ablehnung um. Dabei durfte sich die Bundesregierung nicht mit dem schnellen Zurückdrängen der aktivsten Gegner aus der Bewegung »Kampf dem Atomtod« in eine gesellschaftliche Minderheitenposition beruhigen, denn alle Meinungsumfragen machten deutlich, wie weit solche grundsätzlichen Vorbehalte selbst bis in die eigene Anhängerschaft hineinreichten 20 . Generelle Bejahung der von Adenauer eingeschlagenen und schließlich von allen seinen Nachfolgern grundsätzlich übernommenen Linie von Sicherheit im Bündnis grenzte sich daher in der öffentlichen Wahrnehmung eindeutig ein. Ihre atomare Ausrichtung wurde im günstigsten Falle als Kriegsverhinderung durch Abschreckung akzeptiert, erstreckte sich in der öffentlichen Wahrnehmung aber zu keinem Bewertung der Meinungsumfragen über Parteigrenzen hinweg bei Bald, Die Atombewaffnung der Bundeswehr, S. 123-130.

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Schlussbetrachtung

Zeitpunkt in der Geschichte der Bundesrepublik auch auf eine atomare Kriegführung auf deutschem Boden mit den damit untrennbar verbundenen Risiken für Bevölkerung und Infrastrukturen. Der frühzeitig von amerikanischen Meinungsforschern analysierte durchgängige »Atomfatalismus« der Deutschen 21 - gemeint war damit 1954/55 noch eine Bewusstseinslage, bei der atomare Fragen bei den Amerikanern angesiedelt und damit letztlich von den Deutschen gar nicht zu beeinflussen waren machte selbst vor den militärischen Eliten nicht halt. Für die hier in Rede stehende Phase der massiven Vergeltungsstrategie verweist einer der führenden Mithandelnden zu Recht darauf, dass »die Bundeswehrführung noch Jahre im Fahrwasser der Amerikaner [blieb], deren Doktrinen in der operativen Planung des Bündnisses eine dominierende Rolle spielten. Wir vertrauten auf die abschreckende und damit kriegsverhütende Wirkung dieser Waffen und hofften, daß die im Bündnis entwickelten Einsatzgrundsätze niemals praktiziert werden müßten« 22 . Von dem Moment an, da sich Bundeskanzler Adenauer und seine sicherheitspolitischen Ratgeber, allen voran sein zweiter Verteidigungsminister Strauß, allerdings der Folgen einer allgemeinen Nuklearisierung der Bündnisstrategie für ihre Forderung nach gleichberechtigter Teilhabe in der NATO bewusst wurden, beließ man es auch in Bonn nicht mehr bei solcher Hinnahme des in der Allianz Beschlossenen. Das Moment, über eine als militärisch ineffektiv eingestufte konventionelle Rüstung der eigenen Streitkräfte als Bündnismitglied zweiter Klasse diskriminiert zu werden, war dabei die eine wesentliche Seite der Medaille. In dem Maße, wie den deutschen Mitspielern an den NATO-Übungen die schweren Folgewirkungen atomarer Verteidigung für das eigene Territorium als Schlachtfeld, seine nur ungenügend zu schützende Bevölkerung und seine hoch verwundbare Infrastruktur vor Augen geführt wurden, trat dazu die unabdingbare Forderung nach Schadensbegrenzung. Dabei stieß man selbst dort, wo man die Dinge noch militärisch beeinflussen konnte, schnell an die Grenzen der Umsetzung im Bündnis, wollte man die verbindlichen Einsatzpläne von SHAPE nicht auf dem Umweg über zu weitgehende nationale Vorbehalte in ihrer Substanz unwirksam machen. Das zentrale deutsche Interesse an einer rasch an die Ostgrenzen der Allianz vorzuschiebenden Vorneverteidigung war so lange nur in Etappen erreichbar, wie der Aufbau der Bundeswehr nicht annähernd in den dafür zugesagten Zeittakten vorankam. Zeitweilig reduzierten sich die Einsatzstärken der übrigen NATOVerbände auf deutschem Boden sogar so dramatisch, dass man bei SHAPE auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung im Sommer und Herbst 1956 nur noch völlig unzureichende Verteidigungsfähigkeit konstatieren konnte. Versuche der Bundeswehrführung, die Verteidigungslinien schon vor dem Abschluss des Bundeswehraufbaus über die 1958 festgesetzte Weser-Lech-Linie hinaus nach Osten vorzuschieben, indem man als Aushilfen für die zu langsam aufwach21

22

Vgl. dazu insbesondere Kelleher, Germany and the Politics, S. 57 f. und Cioc, Pax atomica, S. 35-37. Maiziere, In der Pflicht, S. 222.

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senden Kampfverbände Befestigungen in den dafür geeigneten Mittelgebirgen anlegen und lokal einsetzbare zusätzliche Heimatschutzverbände aufstellen wollte, blieben im Planungsstadium stecken. Immerhin bekam man allmählich das System vorbereiteter Sperren in Norddeutschland und in den grenznahen Räumen südlich davon in nationale Verfügungsgewalt, so dass sich die Belange der ansässigen Bevölkerung im Verteidigungsfall angemessener mit der Operationsfreiheit der NATO-Verbände abstimmen ließen. Vorrangiger waren aber die Anstrengungen der Bundeswehr, Einfluss auf die atomare Planung von SHAPE zu gewinnen. Dazu hatte man zwar frühzeitig die grundsätzliche Bereitschaft des SACEUR erlangt, Einsätze eigener taktischer Atomwaffen auf deutschem Boden vorher mit der deutschen Seite abzustimmen und dazu die vom Führungsstab der Bundeswehr entwickelte »Karte Empfindliche Punkte« als Grundlage unbedingt auszusparender Ziele anzuerkennen. Nur blieb dies immer unter den einschränkenden Vorbehalt gestellt, dass davon die vorrangige Operationsführung der NATOVerbände nicht behindert werden durfte. Bei den durchgängig atomar angelegten NATO-Übungen wurde den deutschen Mitspielern denn auch nachhaltig vor Augen geführt, wie schnell derartige nationale Einsprüche im konkreten Gefechtsgeschehen mit den operativen Absichten der NATO-Kommandeure vor Ort kollidierten, wobei sich im Konfliktfall nahezu regelmäßig die operativen Notwendigkeiten durchsetzten. Nur als Wechsel auf die Zukunft konnte man schließlich auf deutscher Seite die technologischen Versprechen werten, dass sich über die Entwicklung so genannter »sauberer« und »kleinerer« Atomwaffen die unmittelbaren Schäden und ihre radioaktiven Nachwirkungen wesentlich verringern ließen. Die einen ließen nach amerikanischem Eingeständnis noch auf absehbare Zeit auf sich warten, während die immer kleineren atomaren Gefechtsfeldwaffen die Zahl verfügbarer Atomsprengkörper wesentlich erhöhten und im Übrigen wegen ihrer als begrenzbar eingeschätzten Folgen die Hemmschwelle zum Einsatz bei den Kommandeuren sogar noch weiter absenkten. Außerdem zeitigte selbst der Einsatz von Atomwaffen mit niedrigen Detonationswerten in der dicht besiedelten Bundesrepublik in aller Regel bereits weit über ihren taktischen Einsatzzweck hinaus reichende allgemeine Schadenswirkungen. Als bestes Beispiel dafür mögen die Erfahrungen deutscher Übungsteilnehmer am Einsatz von Atomminen bei der mehrfach erwähnten NORTHAG-Übung MAKE FAST VIII gelten. Vor allem aber kumulierten die zu erwartenden atomaren Schäden auf dem Gefechtsfeld Bundesrepublik noch erheblich dadurch, dass man zum vorgeplanten eigenen Einsatz von Atomwaffen zusätzlich noch die Wirkungen gegnerischer Operationen mit atomarer Unterstützung hinzurechnen musste. Die bei NATO-Übungen von beiden Konfliktparteien auf deutschem Boden eingesetzten Nuklearwaffen beliefen sich dabei im vorgestellten Zeitraum durchgängig auf mehrere hundert Atomsprengkörper. Seit den schockierenden Nachrichten über den ersten massenhaften Einsatz taktischer Atomwaffen bei der Übung CARTE BLANCHE (1955) setzte die Bundesregierung deshalb den zivilen Bevölkerungsschutz im Atomkrieg in

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Schlussbetrachtung

ihren Verteidigungsplanungen gleichrangig neben die militärischen Aufrüstungsvorhaben. Organisatorische und bauliche Erfahrungen aus dem Bombenkrieg der Jahre 1943 bis 1945 wurden auf ihre Tauglichkeit im Atomkrieg hin überprüft, blieben aber mit Blick auf die Flächenwirkung von Atomwaffen weit hinter den Erfordernissen zurück. Ein ganzes Netzwerk von Warneinrichtungen und Schutzdiensten, koordiniert durch das federführende Bundesministerium des Innern, begann sich über die Bundesrepublik zu spannen. Ihr Einsatzwert krankte jedoch an einer nur sehr begrenzten Bereitschaft der zivilen Hilfsdienste, sich unter die Belange vorrangig militärischer Verteidigungsplanung unterordnen zu lassen. Unterhalb des im Bundestag noch nicht durchzubringenden Gesamtpakets einer Notstandsgesetzgebung fanden Schutz- und Vorsorgebestimmungen Eingang in erste Schutzgesetze und Verordnungen. Für die zu erwartenden Massen an Evakuierten und Flüchtlingen wurden Bewegungslinien und Unterbringungsräume festgelegt, da man nach den Erfahrungen der letzten Kriegsmonate 1944/45 mit guten Gründen der Wirksamkeit des von der NATO angestrebten »stay at home« misstraute. Mit den Verbündeten suchte man sogar, wenn auch mit geringem Erfolg, Abkommen darüber abzuschließen, ob und wie sich die in Panik nach Westen strömenden Flüchtlingsmassen zumindest zeitweilig in den Nachbarstaaten aufnehmen ließen. Schrittweise wurden auch die Vorräte an Lebens- und Arzneimitteln aufgestockt und Vorkehrungen für die Wasser- und Energieversorgung getroffen. Auf NATO-Ebene wurde oberhalb davon und parallel dazu ein eigenes System von Notstandsausschüssen eingerichtet, das die für militärische Aufgaben zuständigen Ausschüsse zahlenmäßig bei weitem übertraf. Ende der fünfziger Jahre gab es kaum noch einen kriegswichtigen Sektor, der nicht zumindest auf der Planungsebene organisiert gewesen wäre. Das reichte von der gemeinsamen Treibstoffversorgung über die Anlage von Kriegsvorräten bis zur Einbeziehung der Handelsschiffe und Verkehrsflugzeuge in militärisch gesteuerte Transportorganisationen, um im Verteidigungsfall sofort nationale und NATO-Zuständigkeiten koordinieren zu können. Das dazu erforderliche Zusammenspiel zwischen operativer Bündnisplanung und ziviler Verteidigung wurde in den allgemeinen NATO-Ubungen wie in eigens dafür geschaffenen zivil-militärischen Planspielen geübt. Die Ergebnisse klafften jedoch nach Einschätzung der NATO wie der Verteidigungsplaner in Bonn während der gesamten Geltungsdauer der massiven Vergeltungsstrategie zwischen militärischer Operationsplanung und den sie abstützenden Notstandsmaßnahmen extrem weit auseinander. Gerade für die vorgeschobene Bundesrepublik und ihre hochsensible Öffentlichkeit galt nämlich, dass man trotz aller Bedrohungsannahmen die eigenen politischen, ökonomischen und psychologischen Möglichkeiten an der Nahtstelle des Ost-WestKonflikts nicht überreizen durfte. Sonst riskierte man genau das, wovor Präsident Eisenhower seine Sicherheitsfachleute und Generale immer wieder warnte. Man dürfe beim Versuch einer vermeintlich unumgänglichen totalen Kriegsvorsorge nicht das nachhaltig schädigen, was man eigentlich als höchstes Gut zu schützen trachte: den Typus der westlichen Demokratie als einer vorrangigen Wirtschafts- und Zivilgesellschaft. Natürlich spielte dabei in einer parla-

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mentarischen Demokratie der Blick auf die häufigen Wahlen in Bund und Ländern wesentlich mit, wenn sich die Politiker - wie dies der Innensenator von Hamburg, Helmut Schmidt, als unmittelbar Betroffener monierte - scheuten, »das Volk oder die Angehörigen der Verwaltung oder der Wirtschaft mit den sehr unerfreulichen Notwendigkeiten [im Atomkrieg] zu konfrontieren«23. Gewichtiger noch waren aber die Einsichten in die finanziellen, personellen und materiellen Grenzen des Machbaren. Wohl war der wirtschaftliche Wiederaufbau in der Bundesrepublik inzwischen besser vorangekommen als in den meisten westeuropäischen Partner Staaten. Auch lasteten auf dem eigenen Haushalt anders als in Großbritannien, Frankreich, Belgien oder den Niederlanden keine zusätzlichen Militärausgaben für deren außereuropäische spätkoloniale Verwicklungen. Das machte ja den neuen deutschen Partner so attraktiv für eine ausgewogenere Lastenteilung im Bündnis. Andererseits konnte Bonn darauf verweisen, dass man als Frontstaat des Kalten Krieges neben den Verteidigungsausgaben im engeren Sinne zusätzliche Kosten für die Kriegsopfer-, Vertriebenen- und Flüchtlingsversorgung, für die Sicherung des Vorpostens Westberlin und für den Devisenausgleich bei den auf deutschem Boden stationierten Bündnistruppen aufzubringen hatte. Nahm man daher die Festlegungen im NATO-Vertrag und in den Bündnisdokumenten ernst, dass militärische Verteidigungsanstrengungen und wirtschaftliche wie gesellschaftliche Stabilität als gleichwertige Ziele zu verfolgen waren, dann musste man gerade in einem geteilten Land auch dessen exzeptionelle Probleme berücksichtigen. Im Übrigen war sich selbst der am stärksten auf nukleare Abschreckung setzende U.S.-Präsident Eisenhower frühzeitig bewusst geworden, dass man für den Systemkonflikt des Kalten Krieges eine vor allem ökonomisch durchzuhaltende Strategie des langen Atems (>long haulGrey AreasVon Wilden aller Rassen niedergemetzelt*. Die Diskussion um die Verwendung von Kolonialtruppen in Europa zwischen Rassismus, Kolonial- und Militärpolitik (1914-1930), Stuttgart 2001 (= Beiträge zur Kolonial- und Uberseegeschichte, 82)

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Personenregister Acheson, Dean 318, 321 Adenauer, Konrad 1 f., 18, 29, 56, 72, 98,103,106,124,130,132,134, 152-154,178,190,193,195-198, 228, 232, 234, 237 f., 242, 254, 292 f., 307, 309, 318, 322 f., 340 f., 355, 357-364, 366 f., 386, 405, 432,436 f., 443 f., 450, 452-455, 482-491, 493-496, 506 f., 509 f., 519 f., 522, 526, 528 f., 535 f., 552, 554 f., 567 f., 570, 582, 604, 613, 660, 663 f., 683, 732, 735 f. Alphand, Pierre 254 Anderson, Robert B. 525 Bargatzky, Walter 673 Bauch, Botho 98 Baudissin, Wolf Graf von 406 Bausch, Paul 430 Bennemann, Otto 642 Bidault, Georges 59 Blank, Theodor 17,135,139,140,145, 151,157,177 f., 181 f., 195, 223, 334, 341, 663 Blankenhorn, Herbert A. 130-132, 135,151,174, 230, 242 Blücher, Franz 154 Bonin, Bogislav von 18, 96,107,132, 584 Bowie, Robert R. 134, 244, 518, 546 f., 550, 551 f., 554, 731 f. Bradley, Omar 19,39 Brandt, Hugo 411 Brandt, Willy 301,370 Brentano, Heinrich von 2,445, 493 f., 705 Broadhurst, Sir Harry 161

Brodie, Bernard 52,118,134 Bruce, David 305,364 Bundy, McGeorge 321 Bush, Prescott 443 Butler, Richard Austen 187 Carpentier, Marcel 160 Cassels, Sir Alan 505 Chaban-Delmas, Jacques 492-495, 510 Challe, Maurice 161, 543, 549 f., 581, 600 Chruscev, Nikita S. 298 f., 314-316, 320 f., 324, 327, 491, 731, 733 Churchill, Sir Winston Spencer 42, 72, 83,187, 215, 464 Ciaer, Carl-Gideon von 380 Clay, Lucius D. 324 Conant, James P. 193 Cutler, Robert 518,524 Dahlmann, Heinz 98 Debre, Michel 453 Dehler, Thomas 367 Dierske, Ludwig 180 Dillon, Douglas C. 59, 509 Döring, Wolfgang 539 Dulles, Allan 197,535 Dulles, John Foster 59, 61 f., 69, 72, 81, 91,121,192,197 f., 211, 220, 236, 238, 298 f., 301, 308 f., 323, 341, 355, 362, 385, 394, 396, 433-436, 440, 443, 445, 484, 490, 494, 497, 516-518, 524, 528, 568 f., 730 f. Eckardt, Felix von 198 Eddleman, Clyde D. 289, 577

772 Eden, Sir Anthony 181,186 f., 393, 487, 490 Eisenhower, Dwight D. 26, 28, 35, 40, 43, 45, 47, 51, 55-58, 61, 65 f., 69, 72, 75 f., 81, 83, 85,103,117, 119 f., 134,143,158,190,192-194, 197, 211, 212, 214, 219 f., 226, 230, 241, 244, 291 f., 294, 299 f., 305, 310, 340, 350, 371, 385, 395 f., 398, 432 f., 438, 442, 455, 457, 462, 464 f., 476, 478 f., 485, 490, 497 f., 501, 506-508, 516-518, 520-522, 524, 529, 531 f., 534, 536, 546 f., 549, 567-569, 582, 604, 676, 723, 728 f., 731, 739 Ely, Paul 161,289 Embry, Sir Basil 76,159, 202 Erler, Fritz 17,135, 239, 355, 567, 576 Faure, Maurice 493, 495 Fechteier, William M. 284 Figl, Leopold Fink, Troels 259 Foertsch, Friedrich 322 Gaillard, Felix 495 Gaitskell, Hugh 234 Gale, Sir Richard 542 Gates, Thomas 457, 502 f., 552 Gaulle, Charles de 206, 299, 419 f., 436, 439 f., 452 f., 494 f., 500 f., 506 f., 510, 595, 600 Gavin, James M. 134,334 George, Walter F. 198 Graf, Ferdinand 283,286 Gromyko, Andrej 328 Grüber, Heinrich Ernst Karl 357 Gruenther, Alfred M. 48, 60, 65, 67, 73, 87 f., 95,115,122,130,142-144, 149,160 f., 184 f., 203 f., 210, 217, 225, 233 f., 237, 254, 331, 334, 340, 408, 433 f., 523 Hahn, Otto 356-358 Hampe, Erich 168, 620, 622 Harmel, Pierre 548,732

Personenregister

Hassel, Kai-Uwe von

274, 290

Head, Anthony 231,559 Healey, Denis 23,567 Heinemann, Gustav 259, 357, 367 Heisenberg, Werner 356-358 Herter, Christian 299, 419, 452, 531, 552 Heusinger, Adolf 2,48,86,89-97, 104,124,127,130,132-141,150, 157 f., 161,167,178,181, 190,196, 209, 216 f., 222 f., 228 f., 234, 239, 241 -243, 252, 265, 269 f., 276, 289, 295, 317 f., 321, 333, 338 f., 357, 360, 376, 380 f., 389-391, 401 f., 405 f., 419, 443, 445, 447, 468, 472, 487, 491 f., 505, 513-516, 519, 532, 535, 538 f., 549, 567 f., 572, 578-580, 587, 590, 594 f., 599, 613 f., 617, 631, 633, 638 f., 642, 653, 656 f., 724 Heuss, Theodor 152,489 Hinrichs, Hans 137 Hitler, Adolf 595 Hobe, Cord von 167,169, 415, 426, 551, 592 Hodes, Henry I. 471, 473, 561 Höcherl, Hermann 170 Horn, Hans Joachim von 616 Howard, Michael 4 Humphrey, George M. 65, 69,133, 190 Ismay, Lord Hastings Lionel 44 f., 153 Jaeger, Richard 232, 415 f., 565 Jaspers, Karl 359 Jaujard, Robert 158 Johnson, Lyndon B. 324 Jordan, Pascual 360 f. Juin, Alphonse Pierre 69, 71, 74, 81, 87, 94,123 f., 141,158-161,179 Kahn, Herman 553 Kammhuber, Josef 390 f., 404, 418, 426, 430, 454, 609, 726

773

Personenregister

Kennan, George F. 21,488 Kennedy, John F. 9,134, 244, 318-322, 324-328, 481, 510, 540, 549, 552 f., 583, 595 Khrushchev siehe Chruscev Kielmansegg, Johann Adolf Graf von 122 f., 130, 227, 374 f., 409, 481 Killian, James R. 66,119, 212 Kissel, Hans 584 Kissinger, Henry A. 5, 85,134, 394, 517, 526, 530, 553 Koenig, Pierre 82 Kuby, Erich 369

Mendes-France, Pierre 121 Messmer, Pierre 290, 595 Meyer-Detring, Wilhelm 410, 469 Middeldorf, Eike 137 Mikojan, Anatolij 454 Mills, Sir George 548 Montgomery of Alamein, Bernard Law Viscount 24, 32 f., 35 f., 69 f., 94,124,139-141,151,182,189, 239-241, 276, 515 f., 567 Mountbatten of Burma, Louis Earl 240, 307, 315 Murphy, Robert 197 f., 461

Lange, Halvard 207 Lattre de Tassigny, Jean-Marie Gabriel de 70 LeMay, Curtis 150, 218, 465 f. Lemnitzer, Lyman L. 95, 139, 549, 552, 595, 731 Lex, Hans Ritter von 153, 585, 592, 669 Liddell Hart, Sir Basil 245, 603 f. Liebitzky, Emil 284 Lloyd, Selwyn 308, 499, 564, 574 Lübke, Heinrich 698

Niemöller, Martin 357 Nitze, Paul 43,553 Nixon, Richard Μ. 5,299 Norstad, Lauris 53, 60, 95,158,161 f., 239, 263 f., 267,270 f., 300, 315, 317, 319-321, 325,364, 372, 381 f., 384 f., 396 f., 399-401,406, 418 f., 434 f., 438, 440 f., 443,445, 451 f., 455-458, 498 f., 502-504, 507 f., 519, 522 f., 528, 530,532, 547, 556, 563 f., 569, 571 -574,577 f., 580 f., 587, 600, 701, 731

McElroy, Neil H. 525,534 McMahon, Brien 53, 344, 372, 458 Macmillan, Sir Harold M. 242, 295, 303, 310, 313, 376, 393, 442, 462, 496, 515 f., 563, 567, 587, 595 McNamara, Robert S. 134, 319, 321-323, 325 f., 540,583 Maiziere, Ulrich de 168, 275, 290, 352, 570, 588, 634 Mancinelli, Guiseppe 284 Mann, Siegfried 427 Manstein, Erich von 219 Martin, Alfred 333 Martino, Gaetano 207 Matzky, Gerhard 180 Medaris, John B. 134 Mellies, Wilhelm 97 Mende, Erich 135, 354, 652

Ollenhauer, Erich 103, 370 Pauling, Linus 367 Pearson, Lester 207 Pedlow, Gregory 10 Pineau, Christian 495 Pius XII. 358 Polk, James H. 481 Pyman, Sir Harold 274 Quarles, Donald 437 Raab, Julius 284,287 Radford, Arthur 57,133, 141,149, 184,191-194,196 f., 212, 215, 223, 225, 228, 232-234, 241, 294, 371, 492, 526, 554, 568 Rapacki, Adam 363, 367, 441,487-491

774 Rendulic, Lothar 623 Ridgway, Matthew B. 35, 47, 56, 90, 104,115,133,143, 432 Roberts, Sir Frank 550 Röttiger, Hans 88, 217, 348, 356, 365, 406 f., 571, 632, 639 Rüge, Friedrich 267,426 Russell, Sir Bertrand 367 Rust, Josef 145,652 Sandys, Duncan 393, 525 Schäffer, Fritz 37,100,105,173-176, 189, 558, 662-664 Scharnhorst, Gerhard von 178 Schindler, Albert 139, 209, 335 Schmid, Carlo 97 Schmidt, Helmut 17,155, 427, 430, 609, 667, 682, 739 Schnez, Albert 346, 455, 498, 611, 648, 708, 710, 727 f., 733 Schröder, Gerhard 105,153,170,181, 415, 633 f., 651, 657 f., 662, 667 Schuykr, Cortlandt van Rennselaer 115 Schumacher, Kurt 18,594 Schatlo Gesterding, Joachim 723 Schweitzer, Albert 358 Senger und Etterlin, Frido von 665 Slessor, John 42 Spaak, Paul-Henri 500 f., 507, 582, 668 Speidel, Hans 94 f., 98,115,124, 126 f., 129 f., 132,157 f., 160,162, 178,196; 209, 227, 262, 334, 360, 375, 405, 408-410, 446, 448, 471 f., 505, 557, 561, 572, 576 f., 581, 600, 634 Stalin, Jossif W. 260 Stassen, Harold568 Steel, Sir Christopher 588 f. Steinhoff, Johannes 327 Strauß, Franz Josef 107,126,131,135, 150-152,154,169,180,182,195 f., 222 f., 228, 232-236, 242, 249, 270,

Personenregister

286, 295, 307, 319, 321 -323, 334, 339, 341 -343, 361, 376, 387, 391, 413, 437, 443 f., 450-453, 455, 477, 482 f., 492-496, 498, 504, 510, 516, 526, 529, 531, 554, 558, 567, 569, 574, 578, 580, 585, 588 f., 595, 611, 613, 639, 642, 651, 654, 656, 658, 660, 677, 701, 705, 707, 710, 732 f., 736 Strauss, Lewis 349 f. Sulzberger, Cyrus L. 705 Taviani, Paolo 283 f., 493 f., 510 Taylor, Maxwell D. 134, 212, 221 Tempelhoff, Hans Georg von 158 Thielicke, Helmut 359 Trettner, Heinz 540 f., 725 Truman, Harry S. 21, 31, 40, 44, 52, 190, 291, 318, 458, 462 Twining, Nathan F. 296, 305, 419, 534, 724 Ulbricht, Walter 324 Valluy, Jean 186, 264, 267, 338, 381, 400 f., 446, 471, 537 f., 542 f., 560, 580, 594 Weinstein, Adelbert 106,107,132, 335 Weizsäcker, Carl-Friedrich von 356-358, 689 White, Napier 127 Wiesner, Jerome 553 Wildermuth, Eberhard 97, 660, 662 Wilson, Charles E. 133,145, 236, 522, 569 Winterhager, Herbert 553 Wolfers, Arnold 394 f. Wright, Jerauld 268 Zedong, Mao 21 Zerbel, Alfred 541,551 Zuckerman, Sir Solly 540