Nationalistische Intellektuelle in der Slowakei 1918-1945: Kulturelle Praxis zwischen Sakralisierung und Säkularisierung 9783110359558, 9783110359305

In the newly created Republic of Czechoslovakia, the intention was to replace the previously dominant Hungarian influenc

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1 Einleitung
2 Nationalismus und kulturelle Praxis
2.1 Forschung zum slowakischen Nationalismus
Zum Begri „Nationalismus“
Rekonstruktion einer Nationalgeschichte
Divergierende Historiograen
2.2 Nationalismuskonzepte
Typologien
Konstruierte Nationen
Antiliberale Nationalismen
Vorgeschichten der Nation
Nationalismus als politisches Feld
Akteure des Nationalismus
2.3 Ein kulturhistorischer Ansatz
Kultur als Praxis
Die symbolische Macht der Sprache
Praxisbeispiel Antisemitismus
Antiliberaler Modernismus
Säkularisierung und Sakralisierung
3 Nationale Ideen vor 1918
3.1 Von der Schrift zum Minderheitsnationalismus
Drei konkurrierende Schriftvarianten
Sprache als nationales Merkmal
Schriftsprache als politisches Argument
Magyarisierung und „nationale Unterdrückung“
3.2 Liberale, Konservative und Klerikale
Der konservative Martiner Kreis
Fortschrittsorientierte Prager Slowaken
Hodžas liberaler Nationalismus
Klerikale Nationalisten
3.3 Der tschechische Blick
Fazit
4 Tschechoslowakische Nationalisierung und slowakischer Nationalismus
4.1 Ambivalenter Tschechoslowakismus
4.2 Ungleiche Startbedingungen
Status und „Magyaronen“
Weitere Minderheiten
4.3 Tschechische Konkurrenz
4.4 Politischer Katholizismus und Radikalisierung
Der innerslowakische Graben
Hlinka und die Volkspartei als nationalistische Repräsentanz
Einfluss des politischen Katholizismus
Politisches Programm mit kulturellen Forderungen
Vojtech Tuka als Leitgur der jungen Radikalen
Radikalisierung und Provokation
4.5 Vorbild Polen
4.6 Neue Machtverhältnisse in der Autonomiephase
Die Abschiebung der Tschechen
4.7 Im slowakischen Nationalsozialismus
Zwischen radikalem und konservativem Flügel
Ständische Gesellschaft und Propaganda
Priester als Stützen des Regimes
Jüdische Segregation und Judengesetze
Fazit
5 Eine neue intellektuelle Elite
5.1 Soziale Hintergründe
Ländliche Herkunft
Säkulare Studien
5.2 Pioniere des slowakischen Journalismus
Beschäftigungsmöglichkeiten in der politischen Presse
Vatra und Rozvoj – erste Zeitschriften
Nástup – radikale politische Publizistik
Nachwuchsförderung durch den Slovák
5.3 Sprung auf die politische Bühne
Motor der gesellschaftlichen Radikalisierung
5.4 Kulturorganisatoren
5.5 Aufstieg in die Führungsriege
Propaganda durch Presse
Die neuen Exegeten des Nationalsozialismus
Linientreue Kulturfunktionäre
Abtrünnige
Fazit
6 Die „Nation“ in der institutionellen Praxis
6.1 Tschechoslowakische Kultur
„Bratislava“ – die unslowakische Hauptstadt
Die Universität als tschechische Bastion
6.2 Resistentes Nationaltheater
Slowakizität
Politische Dimension
6.3 Ausschlusspraktiken und Verteilkämpfe
Zwei Künstlerverbände
Symbolische Kulturpolitik
Spontane Solidarität und verdeckte Dierenzen
6.4 Vom geschriebenen zum gesprochenen Wort
Umgangssprache versus Schrift
Kontroverse Deutungen der Schriftvergangenheit
Matica slovenská – nationalistische Forschungspraxis
Der Martiner Usus
Tschechoslowakische Rechtschreibreform
Gegenentwürfe und Putsch
Verschiedene Schriftnormen
Ideelle Bedeutung
6.5 Praxis der Ethnisierung
Assimilation an die Pseudo-Minderheit
Opportunistischer Umschwung
6.6 Kulturelle Praxis des Katholizismus
Svoradov – katholischer Netzwerkknoten
Verein hl. Adalbert – Rekatholisierung der säkularen „Nation“
6.7 Transformation der Kultur
Gardistische Populärkultur
Demonstrative Loyalität
Katholisierung der kulturellen Sphäre
Zwei konkurrierende Akademien
Die Matica slovenská gerät ins Abseits
Fazit
7 Nation als rhetorische Praxis
7.1 Adaptionen des Konzepts „Slawen“
Ende der „slawischen Wechselseitigkeit“
Slawischer Unionismus
7.2 Polen: Von der Verwandtschaft zur politischen Nachbarschaft
Kultureller Aktivismus und mediale Präsenz als Provokation
Wende zum Autoritären
„Der Sohn des weißen Adlers“
7.3 Rezeption von Faschismus und Nationalsozialismus
Gewaltbereite Rodobrana: Aneignung fremder Strategien
Nationalistische Front oder tschecho-slowakischer Faschismus?
Skepsis im Nástup
Willkommener „Totalismus“
7.4 Distanzierung vom Klerikalismus
7.5 Kampf um Symbole
7.6 Juden: Feinde im Innern
7.7 Eine gesäuberte Kultur
Fazit
8 Literarische Praxis
8.1 Die „Nation“ erschreiben
8.2 Ökonomische und ideelle Ressourcen
Schwacher slowakischer Buchmarkt
Katholische und völkische Quellen
Religiös-ästhetische Rezeption französischer Literatur
Politisch-nationale Rezeption polnischer Literatur
Modernismus und nationalistische Literatur
Mythenadaption
Auferstehungsmythen
8.3 Martyrium, Auferstehung und Reinigung
Auftrag der Toten bei Tido Gašpar
Verkörperungen des nationalen Willens
Andrej Žarnovs pathologische Wiedergänger
8.4 Umbruchsversionen
Milo Urbans neuer Adam
Anton Prídavoks opportunistische Helden
Tido Gašpars konservativer Opportunismus
Ján Hrušovskýs republikanischer Jesus
Uninationale Regeneration bei Štefan Gráf
8.5 Biologistische und völkische Konzepte
Andrej Žarnovs ländliche Therapie
Charismatische Heilung und mythische Erdkraft bei Milo Urban
Štefan Gráfs antisemitische Säuberung
Andrej Žarnov: Vollzug des Blutopfers
Frauen auf dem Altar der Nation
8.6 Die auferstandene Nation
Von der geistigen zur nationalsozialistischen Revolution
Milo Urbans revolutionärer Sprengsatz
Štefan Gráfs kulturfähige Slowaken
Ein Ideal völkischer Dichtung
Fazit
Schlussfolgerungen
Handeln aus Überzeugung
Nationales Martyrium als Primärmythos
Kulturelle Grenzziehungen
Von der Reinigung zur Säuberung
Säkularisierende Praxis
Autoritäre Anschlussmöglichkeiten
Modernität
Abruptes Ende der Visionen
Wirkungsmacht nationalisierender Repräsentationen
Bibliografie
Quellen
Zeitungen und Zeitschriften
Literarische Werke
Monograen, Lexika
Wissenschaftliche Werke
Ordnungssysteme
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Nationalistische Intellektuelle in der Slowakei 1918-1945: Kulturelle Praxis zwischen Sakralisierung und Säkularisierung
 9783110359558, 9783110359305

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Sabine Witt Nationalistische Intellektuelle in der Slowakei 1918–1945

Ordnungssysteme

| Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit Herausgegeben von Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael

Band 44

Sabine Witt

Nationalistische Intellektuelle in der Slowakei 1918–1945 | Kulturelle Praxis zwischen Sakralisierung und Säkularisierung

Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschafltichen Forschung

ISBN 978-3-11-035930-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-035955-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039690-4 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Vorwort | XI 1

Einleitung | 1

2 2.1

Nationalismus und kulturelle Praxis | 9 Forschung zum slowakischen Nationalismus | 9 Zum Begriff „Nationalismus“ | 9 Rekonstruktion einer Nationalgeschichte | 11 Divergierende Historiografien | 15 Nationalismuskonzepte | 19 Typologien | 20 Konstruierte Nationen | 22 Antiliberale Nationalismen | 26 Vorgeschichten der Nation | 28 Nationalismus als politisches Feld | 30 Akteure des Nationalismus | 33 Ein kulturhistorischer Ansatz | 37 Kultur als Praxis | 38 Die symbolische Macht der Sprache | 40 Praxisbeispiel Antisemitismus | 43 Antiliberaler Modernismus | 44 Säkularisierung und Sakralisierung | 49

2.2

2.3

3 3.1

3.2

3.3

Nationale Ideen vor 1918 | 53 Von der Schrift zum Minderheitsnationalismus | 53 Drei konkurrierende Schriftvarianten | 53 Sprache als nationales Merkmal | 55 Schriftsprache als politisches Argument | 58 Magyarisierung und „nationale Unterdrückung“ | 60 Liberale, Konservative und Klerikale | 61 Der konservative Martiner Kreis | 62 Fortschrittsorientierte Prager Slowaken | 63 Hodžas liberaler Nationalismus | 65 Klerikale Nationalisten | 67 Der tschechische Blick | 68 Fazit | 71

VI | Inhalt

4 4.1 4.2

4.3 4.4

4.5 4.6 4.7

5 5.1

5.2

5.3 5.4 5.5

Tschechoslowakische Nationalisierung und slowakischer Nationalismus | 73 Ambivalenter Tschechoslowakismus | 74 Ungleiche Startbedingungen | 78 Status und „Magyaronen“ | 79 Weitere Minderheiten | 81 Tschechische Konkurrenz | 85 Politischer Katholizismus und Radikalisierung | 88 Der innerslowakische Graben | 88 Hlinka und die Volkspartei als nationalistische Repräsentanz | 90 Einfluss des politischen Katholizismus | 92 Politisches Programm mit kulturellen Forderungen | 93 Vojtech Tuka als Leitfigur der jungen Radikalen | 96 Radikalisierung und Provokation | 98 Vorbild Polen | 100 Neue Machtverhältnisse in der Autonomiephase | 103 Die Abschiebung der Tschechen | 105 Im slowakischen Nationalsozialismus | 106 Zwischen radikalem und konservativem Flügel | 106 Ständische Gesellschaft und Propaganda | 109 Priester als Stützen des Regimes | 109 Jüdische Segregation und Judengesetze | 110 Fazit | 112 Eine neue intellektuelle Elite | 113 Soziale Hintergründe | 113 Ländliche Herkunft | 114 Säkulare Studien | 116 Pioniere des slowakischen Journalismus | 118 Beschäftigungsmöglichkeiten in der politischen Presse | 120 Vatra und Rozvoj – erste Zeitschriften | 122 Nástup – radikale politische Publizistik | 127 Nachwuchsförderung durch den Slovák | 129 Sprung auf die politische Bühne | 132 Motor der gesellschaftlichen Radikalisierung | 134 Kulturorganisatoren | 138 Aufstieg in die Führungsriege | 141 Propaganda durch Presse | 144 Die neuen Exegeten des Nationalsozialismus | 145

Inhalt |

VII

Linientreue Kulturfunktionäre | 146 Abtrünnige | 148 Fazit | 149 6 6.1

6.2

6.3

6.4

6.5

6.6

6.7

Die „Nation“ in der institutionellen Praxis | 151 Tschechoslowakische Kultur | 153 „Bratislava“ – die unslowakische Hauptstadt | 156 Die Universität als tschechische Bastion | 160 Resistentes Nationaltheater | 164 Slowakizität | 167 Politische Dimension | 170 Ausschlusspraktiken und Verteilkämpfe | 174 Zwei Künstlerverbände | 174 Symbolische Kulturpolitik | 176 Spontane Solidarität und verdeckte Differenzen | 177 Vom geschriebenen zum gesprochenen Wort | 181 Umgangssprache versus Schrift | 181 Kontroverse Deutungen der Schriftvergangenheit | 184 Matica slovenská – nationalistische Forschungspraxis | 185 Der Martiner Usus | 189 Tschechoslowakische Rechtschreibreform | 191 Gegenentwürfe und Putsch | 193 Verschiedene Schriftnormen | 195 Ideelle Bedeutung | 200 Praxis der Ethnisierung | 203 Assimilation an die Pseudo-Minderheit | 204 Opportunistischer Umschwung | 210 Kulturelle Praxis des Katholizismus | 213 Svoradov – katholischer Netzwerkknoten | 215 Verein hl. Adalbert – Rekatholisierung der säkularen „Nation“ | 219 Transformation der Kultur | 226 Gardistische Populärkultur | 230 Demonstrative Loyalität | 232 Katholisierung der kulturellen Sphäre | 234 Zwei konkurrierende Akademien | 236 Die Matica slovenská gerät ins Abseits | 242 Fazit | 245

VIII | Inhalt

7 7.1

7.2

7.3

7.4 7.5 7.6 7.7

8 8.1 8.2

8.3

8.4

Nation als rhetorische Praxis | 249 Adaptionen des Konzepts „Slawen“ | 249 Ende der „slawischen Wechselseitigkeit“ | 249 Slawischer Unionismus | 253 Polen: Von der Verwandtschaft zur politischen Nachbarschaft | 256 Kultureller Aktivismus und mediale Präsenz als Provokation | 256 Wende zum Autoritären | 258 „Der Sohn des weißen Adlers“ | 263 Rezeption von Faschismus und Nationalsozialismus | 265 Gewaltbereite Rodobrana: Aneignung fremder Strategien | 266 Nationalistische Front oder tschecho-slowakischer Faschismus? | 270 Skepsis im Nástup | 273 Willkommener „Totalismus“ | 275 Distanzierung vom Klerikalismus | 277 Kampf um Symbole | 279 Juden: Feinde im Innern | 282 Eine gesäuberte Kultur | 286 Fazit | 291 Literarische Praxis | 293 Die „Nation“ erschreiben | 293 Ökonomische und ideelle Ressourcen | 295 Schwacher slowakischer Buchmarkt | 295 Katholische und völkische Quellen | 298 Religiös-ästhetische Rezeption französischer Literatur | 302 Politisch-nationale Rezeption polnischer Literatur | 306 Modernismus und nationalistische Literatur | 310 Mythenadaption | 313 Auferstehungsmythen | 315 Martyrium, Auferstehung und Reinigung | 317 Auftrag der Toten bei Tido Gašpar | 320 Verkörperungen des nationalen Willens | 322 Andrej Žarnovs pathologische Wiedergänger | 324 Umbruchsversionen | 330 Milo Urbans neuer Adam | 330 Anton Prídavoks opportunistische Helden | 334

Inhalt

8.5

8.6

| IX

Tido Gašpars konservativer Opportunismus | 336 Ján Hrušovskýs republikanischer Jesus | 338 Uninationale Regeneration bei Štefan Gráf | 341 Biologistische und völkische Konzepte | 343 Andrej Žarnovs ländliche Therapie | 349 Charismatische Heilung und mythische Erdkraft bei Milo Urban | 352 Štefan Gráfs antisemitische Säuberung | 355 Andrej Žarnov: Vollzug des Blutopfers | 362 Frauen auf dem Altar der Nation | 366 Die auferstandene Nation | 369 Von der geistigen zur nationalsozialistischen Revolution | 370 Milo Urbans revolutionärer Sprengsatz | 376 Štefan Gráfs kulturfähige Slowaken | 378 Ein Ideal völkischer Dichtung | 380 Fazit | 383

Schlussfolgerungen | 387 Handeln aus Überzeugung | 388 Nationales Martyrium als Primärmythos | 390 Kulturelle Grenzziehungen | 391 Von der Reinigung zur Säuberung | 393 Säkularisierende Praxis | 393 Autoritäre Anschlussmöglichkeiten | 395 Modernität | 396 Abruptes Ende der Visionen | 397 Wirkungsmacht nationalisierender Repräsentationen | 398 Bibliografie | 401 Quellen | 401 Zeitungen und Zeitschriften | 401 Literarische Werke | 401 Monografien, Lexika | 402 Wissenschaftliche Werke | 403 Ordnungssysteme | 413

Vorwort Das vorliegende Buch wäre nicht ohne die Unterstützung vieler Menschen entstanden, die mich auf unterschiedliche Weise förderten. Ich danke meiner Doktormutter Prof. Marina Cattaruzza für die jahrelange Begleitung, ihr Interesse und ihre vielen konstruktiven Kommentare. Prof. Ulrich Schmid, der Co-Referent, lud mich regelmäßig zu den Treffen seines Forschungsprojektes zum Nationalismus in Polen ein. Für die anregenden Diskussionen danke ich ihm und der Projektmitarbeiterin Isabelle Vonlanthen. Dem Schweizerischen Nationalfonds gebührt mein Dank für die Finanzierung des größten Teils der Arbeit im Rahmen eines NationalfondsProjektes, was mir mehrere Forschungsaufenthalte in der Slowakei ermöglichte. Der Hofer-Wild-Stiftung verdanke ich einen wertvollen Forschungsaufenthalt an der School for Slavonic and East European Studies in London, wo ich von den Seminaren mit Prof. Robert Pynsent und seiner kritischen Lektüre profitierte. Meinem Freundeskreis danke ich für das stete Interesse, für Inspirationen, die nötigen Ablenkungen und nicht zuletzt für die Mithilfe; insbesondere Susanne Kalt, Corinne Gürçan, Oliver Schlumpf, David Werner und Isabelle Vonlanthen für die Diskussion des Manuskripts sowie Roger Nickl, Simona Ryser, Marita Fuchs, Regula Peter, Franziska Gugger und Angela Hohlfeldt für ihre akribischen Korrekturen. Dass sie mir den Abschluss des Projekts ermöglichten und mich durch ihr Wohlwollen stets förderten, dafür danke ich Prof. Hansjörg Kistler und Elsy Kistler. Wesentlich getragen wurde die Arbeit in allen, auch schwierigen Phasen von meinem Mann Lukas Kistler.

1 Einleitung Nationsvorstellungen und ihre Durchsetzung provozieren immer wieder gesellschaftliche Konflikte. Rivalisierende Interessensgruppen argumentieren nationalistisch im Versuch, eine Bevölkerung „national“ zu organisieren. Trotz Kenntnis negativer Beispiele sind Menschen für nationalistische Ideologien empfänglich und stellen sich kluge Köpfe in deren Dienst. Die Herauslösung der Slowakei aus der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik im Jahr 1993 brachte lang unterdrückte Emotionen hoch und rief die Verlierer historischer nationaler Kämpfe wieder auf den Plan. Intellektuelle Remigranten kehrten im hohen Alter in die alte Heimat zurück, publizierten Bücher oder brachten ihre alten Ideen gar als Präsidentenberater in der Slowakei zur Geltung. Dort trafen sie noch immer auf einen fruchtbaren Boden, der auch im Kommunismus nicht ausgedörrt war. Sie waren die letzten Repräsentanten des slowakischen Nationalismus der Zwischenkriegszeit und des 1939 folgenden autoritären Regimes. Am 28.Oktober 1918, als die Tschechoslowakische Republik gegründet wurde, erhielten Slowaken erstmals eine staatliche Repräsentation. Slowakische Nationalisten nutzten die neue Freiheit und machten sich mit Eifer daran, eine slowakische Nation zu erschaffen. Dabei forderten sie den jungen Staat mit ihrem Beharren auf einer nationalen Autonomie heraus. Mit Hilfe der äußeren Umstände führten ihre Aktivitäten 1939 schließlich zur Gründung eines slowakischen Staates. Auch wenn dieser Staat 1945 abrupt beseitigt und durch ein neues Regime ersetzt wurde, etablierten sie dauerhaft und breit ein nationales slowakisches Denken.¹ Daraus ergibt sich die leitende Fragestellung für die vorliegende historische Untersuchung: Mit Hilfe welcher kulturellen Praktiken und Techniken etablierte sich ein slowakischer Nationalismus? Wie dieser Nationalismus wirksam wurde, wird schwergewichtig für die Zeit von 1918 bis 1939 und ausblickartig bis 1945 untersucht. Der Fragestellung liegt die Hypothese zugrunde, dass kulturelle Praktiken von Intellektuellen maßgeblich zur Durchsetzung der Kategorie des Nationalen in der slowakischen Gesellschaft beitrugen. Ein weiterer Zugriff auf den Untersuchungsgegenstand besteht darin, den slowakischen Nationalismus für sich zu betrachten. Das wird als legitim vorausgesetzt, weil der slowakische Nationalismus sich bis auf vereinzelte Ausnahmen auf die slowakische Landeshälfte beschränkte. In der tschechischen Landeshälfte gab es während dieser Zeit keinen

1 Auf die Kontinuität des slowakischen Nationalismus über 1945 hinaus weist insbesondere David W. Paul hin. Er stellt dies für die politische Kultur fest, in der sich gerade unter den Kommunisten slowakische Nationalisten etablieren konnten. Paul, David W.: The Cultural Limits of Revolutionary Politics. Change and Continuity in Socialist Czechoslovakia, New York 1979.

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vergleichbaren beziehungsweise einen anders ausgerichteten Nationalismus.² Die tschechische Nation stand nicht ernsthaft zur Diskussion, da die Tschechen zusammen mit Slowaken und Karpatho-Ukrainern den Deutschen im Lande zahlenmäßig überlegen waren. Sie hatten auch keine Mühe, das tschechische Selbstverständnis in ein weiter gefasstes tschechoslowakisches zu integrieren, zumal sie die Bedingungen gegenüber den schwächeren Partnern weitgehend bestimmten. Hingegen unternahmen slowakische nationalistische Aktivisten große Anstrengungen zur Selbstvergewisserung und -behauptung. Die Erste Tschechoslowakische Republik war mit ihrem Konzept von einem Einheitsstaat und einer zusammengesetzten Nation mit einer schweren Hypothek beladen. Doch machten das schwierige internationale Umfeld, die Gebiets- und Bevölkerungsansprüche von Nachbarländern die Unnachgiebigkeit der Tschechen gegenüber den politischen Forderungen der Slowaken ein Stück weit verständlich. Während in den umliegenden zentraleuropäischen Ländern autoritäre Regime an die Macht kamen, blieb die Tschechoslowakei als demokratischer Staat bis zum Münchner Abkommen 1938 intakt. Das war der verhältnismäßig guten wirtschaftlichen Ausgangslage in den Böhmischen Ländern zu verdanken sowie der stabilen parlamentarischen Demokratie, in die auch die nationalen Minderheiten eingebunden waren. Von Konflikten mit autoritären Bewegungen und der nationalen Frage als Unruheherd wurde der Staat indes nicht verschont. Damit der neu gegründete Staat nach 1918 seine Bevölkerung real und symbolisch integrieren konnte, musste er sich nationalisieren. Das große Projekt der Tschechoslowakisierung wurde aber nicht von allen Interessensgruppen gleichermaßen mitgetragen. Vielmehr entstanden Konkurrenzprojekte, im Wesentlichen zwischen Tschechoslowakisten und slowakischen Nationalisten. Der tschechoslowakische Nationalismus war liberal und zielte auf Modernisierung und politische Partizipation ab, auch wenn er in einzelnen Punkten ebenfalls antiliberale Elemente aufwies. Der slowakische Nationalismus hingegen zeigte sich überwiegend antiliberal und modernisierungsfeindlich und argumentierte dabei ethnisch-kulturell. Beide Nationalismen, sowohl der slowakische als auch der tschechoslowakische, zielten jedoch letztlich darauf ab, eine einheitliche kulturelle Nation zu schaffen. Autoritäre Ideen kamen in der Slowakei bereits in den frühen Zwanzigerjahren auf, blieben aber vorerst marginal. Erst um 1930, im Zuge der Weltwirtschaftskrise,

2 Carol Skalnik Leff geht davon aus, dass es praktisch keinen tschechischen Nationalismus gab, was sicher für etwaige Bestrebungen nach einer Autonomie gilt. Dessen ungeachtet gab es einen starken tschechischen Nationalismus, der sich gegen die deutsche und die ungarische Minderheit richtete. Vgl. Skalnik Leff, Carol: The Czech and Slovak Republics. Nation versus State, Boulder 1997, S. 28 f.; dagegen Auer, Stefan: Liberal Nationalism in Central Europe, New York 2004, bes. S. 107 ff.

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ließen sich breite Bevölkerungsschichten von rechtspopulistischen Ideen mobilisieren. Die Analysen der gesellschaftlichen Probleme und die Lösungsvorschläge von slowakischen Schriftstellern und Publizisten waren von den Entwicklungen und Ideen in den europäischen Ländern beeinflusst. Deshalb unterschieden sich deren autoritäre Ansätze auch nicht wesentlich. Der resultierende antiliberale Nationalismus war weder die Folge kultureller Vorbestimmung noch reiner Nachahmung von Vorbildern autoritärer Regimes. Vielmehr sind die Ursachen des radikalen Nationalismus unter Slowaken in deren ablehnendem Verhältnis zum eigenen Staat zu finden. Die oft unzimperliche Wahl der Mittel folgte allerdings dem autoritären Diskurs, wie er sich im Verlauf der Zwischenkriegszeit in Zentraleuropa ausbreitete. Meine Untersuchung des Nationalismus fokussiert nicht auf den äußersten rechten Rand der Gesellschaft. Denn auch politisch weniger aktive Intellektuelle hatten Teil an einer nationalisierenden gesellschaftlichen Praxis, in der „Kulturfähigkeit“ ein wesentliches Attribut der Kategorie „national“ darstellte. Das erklärt auch die zentrale Rolle, die junge Intellektuelle aus publizistisch-literarischem Umfeld bei den Nationalisierungsbemühungen spielen konnten. Die beabsichtigte Nationalisierung verlief nicht einheitlich, sondern bildete ein gewisses Spektrum ab, an dessen einem Rand sich extreme Positionen sammelten, die für faschistische und nationalsozialistische Ideen anschlussfähig waren. Slowakische Intellektuelle stellten sich nach 1918 die Aufgabe, eine eigenständige Nationalkultur zu schaffen. Sie sahen sich als Schöpfer einer Nationalkultur, auch wenn diese offiziell Teil der tschechoslowakischen Kultur zu sein hatte. Viele Künstler wandten sich nationalen Themen zu, selbst wenn sie ihre Arbeiten zuvor an der zivilisatorisch orientierten, internationalen Moderne ausgerichtet hatten. Das Feld der Kultur musste neu definiert werden. Der ungarische personelle und institutionelle Kontext fiel plötzlich weg, doch das alte Selbstverständnis wandelte sich nur allmählich. Die tschechische Kultur, zu der sich nur ein Teil der slowakischen Intellektuellen hingezogen fühlte, wurde mit einem Mal dominant und zentraler Bezugspunkt. Die Umbruchssituation von 1918/1919, die Bildung des neuen, zentralistischen Staates und vor allem die de facto ungleiche Position der Slowaken entfachten einen partikularistischen slowakischen Nationalismus, in dem intellektuelle Führer alternative Gesellschaftsmodelle entwarfen. Anfänglich setzte der Nationalismus kreative Prozesse in Gang, von denen Zeitschriften, Literatur, Film, Malerei und Bildhauerei profitierten. Die kulturellen und künstlerischen Aktivitäten bewegten sich dabei zwischen den Polen des Politischen und des Ästhetischen. Angesichts der relativ großen Vielfalt handelte es sich bei den nationalistischen Kulturschaffenden nicht um eine einheitliche kulturelle Bewegung oder Gruppierung. Vielmehr ist hier von einer thematisch bestimmten Elitenbildung mit einem Netzwerkcharakter auszugehen. Nichtsdestoweniger hatten die

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unterschiedlichen Manifestationen dieser neuen intellektuellen Elite im Kern eine gemeinsame Idee, und zwar die der Segregation, verstanden als die Absonderung von Menschengruppen unter der Kategoriebildung des „Nationalen“. „Segregation“ als ein negativer Begriff wurde selten in offener Form propagiert, stattdessen in euphemistische Formeln gekleidet. Je programmatischer die Texte, desto repetitiver sind die nationalistischen Phrasen. An der Oberfläche solcher Texte lassen sich wenige Erkenntnisse gewinnen. In literarischen Texten hingegen werden komplexere Narrative entwickelt, in denen die kulturellen Quellen nationalistischer Vorstellungen umfassender entzifferbar sind. Der Begriff der „intellektuellen Elite“ wird in der vorliegenden Arbeit zum Erfassen der Akteure gewählt. Das ist von Vorteil für die Bestimmung einer Gruppe von Intellektuellen, die professionell in verschiedenen Feldern tätig war. Eine Elite wird vor allem durch ihren Status in der Öffentlichkeit definiert, nicht aber durch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten und einzigen gesellschaftlichen Feld. Zudem muss sie sich nicht genuin als politisch verstehen, kann durchaus aber Ziele verfolgen, die einer bestimmten politischen Richtung nahestehen. So verdanken etwa die kulturellen Produkte ihre Gestalt nicht allein politischen Zielen, sondern gleichzeitig einer eigenständigen symbolischen Praxis, die künstlerische Kriterien oder sozialen Absichten folgt. Berücksichtigt werden in der vorliegenden Untersuchung Kulturschaffende, deren publizistische und literarische Werke über die angestrebte Nationalisierung Auskunft geben, das heißt über den Versuch, das gesellschaftliche Leben mit der nationalen Idee zu durchdringen und umzugestalten. Voraussetzung und Rahmen der Elitenbildung sind Organisationen wie Vereine und Parteien und deren Zeitschriften. Schreibende Frauen gab es einige, darunter vereinzelte professionelle Journalistinnen. Doch waren sie nicht an der nationalen Elitenbildung beteiligt. Sie fanden weder Eingang in die nationalistischen Netzwerke, noch wurden sie politische Funktionsträgerinnen. Die Männer wiesen den Frauen indes bestimmte Rollen im Nationalismus zu, was die „Nation“ als männliche Imagination in den fiktiven Texten spiegelt. Dominant im slowakischen Nationalismus waren die Intellektuellen im Umfeld der Slowakischen Volkspartei sowie einzelne Personen der kleineren Slowakischen Nationalpartei. Die populistische und teilweise als völkisch zu charakterisierende Partei war zwar dominant, doch nicht allein bestimmend. Ein Teil der Intellektuellen, oft im Umfeld katholischer Organisationen, hielt die junge Nation innerhalb der Doppelnation für gefährdet und sah es als persönliche Pflicht an, sie zu stärken. Sie taten dies durch das Verfassen literarischer und publizistischer Texte oder öffentlicher Reden. Der intellektuelle Nationalismus profitierte von der paradoxen Ungleichzeitigkeit der Nation: Sie war zugleich Legitimation und Ziel im Nationalismus. Somit

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war sie wesentlich auf Symbolisierungen und deren Kommunikation angewiesen.³ Die Notwendigkeit einer Arbeit am Symbolischen erwies sich oft als Karrierechance für junge Intellektuelle. Methodisch folgt meine kulturhistorische Untersuchung einem soziologischen Praxisbegriff. Dem Praxisansatz zufolge ist eine „Nation“ vor allem eine Kategorie, die in einer Gesellschaft als wesentliche Deutungsinstanz etabliert werden soll. Dabei stellt sich die Frage nach wichtigen Akteuren bei der Umsetzung. Im untersuchten Zeitraum und im abgesteckten politischen Raum richtet sich der Fokus auf Intellektuelle und Kulturschaffende, bei denen sich eine kulturelle und zugleich nationalistische Praxis nachweisen lässt. Bezogen auf die kulturelle Tätigkeit vermeidet der Praxisbegriff einerseits eine essentialistische Definition von „Kultur“ und erfasst andrerseits die zwei unterschiedlichen, in dieser Arbeit relevanten Dimensionen von „Kultur“. Es werden die literarischen und publizistischen Werke einer intellektuellen Elite untersucht, die Identifikations- und Deutungsangebote schaffen will. Die Werke dieser elitären Kultur werden nach ihrem anthropologischen kulturellen Gehalt befragt, nach kulturellen Mustern, die sich darin teilweise unbewusst manifestieren. In erster Linie werden die Texte als Teil einer gesellschaftlichen Praxis gedeutet, die gleichzeitig mittendrin ist und dennoch immer auf der Suche nach reflektierender Distanz gegenüber der Gesellschaft. Einigen Raum nimmt die Darstellung der Geschichte slowakischer Ideen des Nationalen ein, wobei Divergenzen und Spannungen deutlich gemacht werden, so dass die Kontingenz und Arbitrarität der historischen Nationsvorstellungen zu Tage treten. Unumgänglich war es im Weiteren, den historischen Kontext, in dem die nationalistischen Akteure agierten, gründlich darzustellen. Der ethno-politisch motivierte, historische Nationalismus verlangt geradezu, die politischen Verhältnisse des binationalen und multiethnischen Staatsgebildes mit seinen diversen Kulturen und Religionen genauer zu beleuchten. Erst vor diesem Hintergrund sind die Handlungsgrundlagen der Akteure und ihrer nationalistischen Entwürfe zu erkennen.

3 „Die Nation muss symbolisiert und kommuniziert werden, die Vielzahl der Stimmen muss ausgerichtet werden. Die Arbeit an der symbolischen Figuration des Nationalen als einem einheitlichen, sich abgrenzenden Raum, bewohnt von prinzipiell gleichen Individuen, die an einem gemeinsamen Projekt ausgerichtet sind, ist weder Nebenprodukt noch bloße Repräsentation, denn sie muss das vorausgesetzte Kollektiv schaffen helfen. Schrift, Rede, Bild und Stimme schaffen gemeinsam mit den konkreten Organisationen und Institutionen – Schule, Heer, Bildung, Wahlrecht – die Vorstellung der Einheit.“ Bielefeld, Ulrich: Die lange Dauer der Nation, in: ders., Gisela Engel, Bilder der Nation. Kulturelle und politische Konstruktionen des Nationalen am Beginn der europäischen Moderne, Hamburg 1998, 401–435; hier S. 426.

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Als Quellen dieser Arbeit dienen publizistische und literarische Texte, die mit dem Fokus auf der nationalistischen Praxis erstmalig zusammengestellt und untersucht werden. Doch ist der eigentliche Ausgangspunkt nicht ein bestimmter Quellenkorpus, sondern vielmehr eine nach sozialen Kriterien zusammengestellte Gruppe von jungen aufstrebenden Intellektuellen aus ähnlichem Milieu und derselben Generation, die sich durch ihr nationalistisches Engagement in der Öffentlichkeit hervortaten. Dieser biografisch-thematische Zugang erlaubt den Blick auf Akteure, die sich als bereits bekannte Persönlichkeiten in verschiedenen Öffentlichkeitsbereichen profiliert hatten: in Politik, Journalismus und Literatur. Der den Akteuren gemeinsame Weg vom journalistischen Schreiben bis zur Übernahme öffentlicher Funktionen ist als Teil einer historischen nationalistischen Praxis erkennbar und wird im biografischen Kapitel nachgezeichnet. So wie sich die kulturellen Institutionen ausdifferenzierten und etablierten, diversifizierten sich auch die Werdegänge der nationalistischen Intellektuellen. Oftmals stand gerade die Initiative einzelner nationalistischer Intellektueller hinter der Gründung und Profilierung von Presseorganen und Kulturinstitutionen. Wie diese Einrichtungen als Teil des slowakischen Nationsprojektes und in Opposition zum gesamtstaatlichen Nationalismus funktionierten, wird in einem eigenen Kapitel dargestellt. Untersucht man die literarische Praxis der nationalistischen Intellektuellen im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Kontext, zeigt sich als vorrangiges Ziel, die Nation als Gefühlsgemeinschaft in Analogie zur christlichen Glaubensgemeinschaft zu deuten. Dafür gründeten sie ihre nationalistischen Entwürfe und Vorstellungen auf christlichen Mythen. Sie transformierten das christliche Narrativ und dessen Elemente wie Martyrium, Opfer, Auferstehung und Reinigung in nationale Narrative und säkularisierten diese dabei. Besonders eignete sich die fiktionale Literatur dafür, was detailliert an Romanen und Gedichtzyklen von exemplarischen Vertretern der jungen nationalistischen Elite herausgearbeitet wird. In der publizistischen Rhetorik mit ihren journalistischen Textsorten wurden mythische Verfahren weniger angewendet. Doch selbst in der institutionellen kulturellen Praxis lassen sich Spuren von Mythentransformationen nachweisen. Gewisse mythische Motive verbinden wie Rhizome diese drei untersuchten Praxisbereiche, die in eigenständigen Kapiteln dargestellt sind. Die Praxis der kulturell tätigen Nationalisten changierte zwischen der Säkularisierung von religiösen Inhalten und der Sakralisierung von nationalistischen Ideen. Religiöse Themen dominierten, weil katholische Theologen das Fundament des modernen slowakischen Nationalismus legten. Der Grad an Säkularisierung des katholischen Glaubens zugunsten der Gestaltung und Durchsetzung einer nationalen Religion blieb unausgesprochen der Zankapfel zwischen den verschie-

1 Einleitung

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denen Lagern, den gemäßigten und den radikalen, den älteren und den jüngeren Nationalisten. Was war aber das Ziel der säkularisierenden und sakralisierenden kulturellen Praxis? In den Kategorien christlicher Moralvorstellungen wurde die Gestalt der idealen slowakischen Nation entworfen und verhandelt. Die starke Position der Schriftsteller im nationalistischen Diskurs rührte nicht zuletzt vom grundsätzlich antistaatlichen, integralistischen Charakter des dominierenden slowakischen Nationalismus her. Mit ihren Beiträgen zu einem Nationalismus mit religiösen Zügen stellten sich die Intellektuellen – beabsichtigt oder nicht – in den Dienst der autonomistischen politischen Bewegung, die aus ihren totalitären Absichten keinen Hehl machte.

2 Nationalismus und kulturelle Praxis 2.1 Forschung zum slowakischen Nationalismus Zum Begriff „Nationalismus“ Der Begriff „Nationalismus“ ist für die wissenschaftliche Untersuchung nicht nur von den Konzepten „Faschismus“ und „Nationalsozialismus“ abzugrenzen. Seine Semantik differiert auch aufgrund unterschiedlicher nationaler Vergangenheiten und Wissenschaftskulturen. Im Polnischen versteht sich unter dem Begriff Nationalismus ein National-Chauvinismus. Auch im Tschechischen wird darunter die Priorität der eigenen nationalen Werte gegenüber allen anderen Werten und Gruppen verstanden.¹ Ähnlich wie in Zentraleuropa ziehen einige westliche Philosophen wie Hannah Arendt und Jürgen Habermas den Begriff Patriotismus dem Nationalismus sowie Staatsbürgerschaft dem „Nationentum“ vor. Ein weniger belastetes Verhältnis hingegen weist die Verwendung im englischen Sprachraum auf, in dem Nationalismusforschung in verschiedenen Disziplinen etabliert ist. In der Slowakei wird der Begriff Nationalismus bis heute als eine Bezeichnung für rechtsextreme Strömungen verwendet. Der Begriff „Nationalismus“ war nach 1918 unter slowakischen Nationalisten im Gegensatz zur Verwendung bei den politischen Gegnern positiv besetzt. Davon ausgehend etablierte sich die bis heute in der Slowakei gebräuchliche Aufspaltung in „národovec“² und „nacionalista“. Beide Ausdrücke stehen für „Nationalist“. Allerdings ist der erste Ausdruck aus dem slowakischen Wort „národ“ (Nation, Volk) gebildet und positiv konnotiert – das erlaubt auch die Übersetzung als „Patriot“. Der zweite Ausdruck hingegen ist aus dem lateinischen Wort „natio“ gebildet und trägt die negative Konnotation. Die slowakische Variante gilt für die „guten“ Nationalisten des 19. Jahrhunderts mit ihren emanzipatorischen Zielen. Die lateinische Variante hingegen steht retrospektiv für rechte, antidemokratische Kräfte und wird auf die Nationalisten nach 1918 bezogen, und zwar auf jene, die für das Auseinanderbrechen der Ersten Republik verantwortlich gemacht werden.

1 Vgl. Auer 2004, S. 19. Auer führt als Beleg Adam Michniks und Miroslav Hrochs Verwendungsweise des Begriffs Nationalismus an. 2 Der Begriff diente den Mitgliedern der nationsbildenden Elite als Selbstbezeichnung. Er wird auch mit „Nationaleiferer“ übersetzt und bezieht sich laut Pichler auf ethnische Nationalisten. Vgl. Pichler, Tibor: Nationaleiferer oder Bürger. Institutionalisierung als Problem, in: Elena Mannová (Hg.), Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft in der Slowakei 1900–1989, Bratislava 1997 S. 61– 66; hier S. 62, Anm. 1. – Da „Eiferer“ im Deutschen pejorativ verwendet wird, bevorzuge ich als Übersetzung „nationale Aktivisten“.

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In der historischen Forschung werden etwa die Hlinka-Garden unter diesem Schlagwort untersucht. Ein breiteres Verständnis wird in letzter Zeit wieder mit dem Begriff „slowakisches Denken“³ oder durch das zurückkehrende „nationale Bewusstsein“⁴ abgedeckt, das vor allem in der Zwischenkriegszeit mit Blick auf die nationalen Erwecker des 19. Jahrhunderts angewandt wurde. Meines Erachtens ist der Begriff „nationales Bewusstsein“ bereits ein Ideologem, da er etwas Unbewusstes impliziert, das zu Bewusstsein gebracht werden muss. Abgelöst wurde die kognitive Kategorie „Bewusstsein“ in jüngerer Zeit vom Begriff „Identität“, der ebenfalls problematisch ist, da er in der Gegenwart einer Politik von Interessengruppen⁵ dient und eine positiv-tendenziöse Konnotation trägt. Zudem wird „Identität“ hinsichtlich ihrer analytischen Aufgaben überfrachtet.⁶ Der slowakische Ausdruck für Patriotismus „vlastenectvo“ [Vaterlandsliebe] taucht zögerlich wieder auf im Zusammenhang mit Bildungsthemen, wurde allerdings ehedem stark in der marxistischen Forschung verwendet. Der slowakische Nationalismus in der Zwischenkriegszeit wird in der historischen Forschung oft als separatistische Bewegung bezeichnet. Die Slowakische Volkspartei Hlinkas benutzte die Eigenbezeichnung „autonomistische Bewegung“. Der Begriff des Nationalismus verdeckt die Binnendifferenzierung, die weder durch einheitliche Ziele, geschweige denn einen einheitlichen Separatismus charakterisierbar ist. In einer ideologiefreien Betrachtungsweise ist die auf moralischen Werten basierende Unterscheidung zwischen einem emanzipatorischen und einem autoritären Nationalismus nicht haltbar. Jenen Aktivisten des 19. wie auch jenen im 20. Jahrhundert ging es primär darum, mit Hilfe der Kategorie der „Nation“ eine 3 Bakoš, Vladimír: Question of the Nation in Slovak Thought, Bratislava 1999. Auch Bakoš unterscheidet in seiner kritischen Studie wertend zwischen positivem „slowakischen Denken“ und negativem „Nationalismus“. Letzteren Begriff verwendet er strikt für Tschechoslowakismus, den Nationalismus der slowakischen Volkspartei sowie für die Ideologie zur Zeit des slowakischen Staates. 4 Ďurica, Milan: Nacionalizmus alebo národné povedomie [Nationalismus oder nationales Bewusstsein], Bratislava 2006. Ďurica, ein remigrierter slowakischer Theologie- und Geschichtsprofessor, versucht darin, den Begriff Nationalismus aufzuwerten, indem er den slowakischen Nationalismus historisch aus den katholischen Sozialwissenschaften ableitet. – Es ist kein Zufall, dass John Breuilly im deutschen Aufsatzband „Formen des nationalen Bewusstseins im Lichte zeitgenössischer Nationalismustheorien“ „‹national consciousness›“ in Anführungszeichen verwendet und ansonsten „nationalism“ oder auch „national identity“ bevorzugt. Breuilly, John: Approaches to Nationalism, in: Eva Schmid-Hartmann (Hg.), Formen des nationalen Bewusstseins im Lichte zeitgenössischer Nationalismustheorien, München 1994, S. 15–38. 5 Taras, Ray: Liberal and Illiberal Nationalisms, Basingstoke 2002, S. 204. 6 Vgl. Brubakers Diskussion des Begriffs im Kapitel Jenseits der „Identität“, in: Brubaker, Rogers: Ethnizität ohne Grenzen, Hamburg 2007, S. 46–95.

2.1 Forschung zum slowakischen Nationalismus | 11

bestimmte Gesellschaft zu formen.⁷ Die mit der Kategorie verknüpften Attribute wandelten sich freilich in Abhängigkeit von den historischen Umständen und den daraus abgeleiteten konkreten Zielen.

Rekonstruktion einer Nationalgeschichte Die slowakische Geschichtsschreibung in der jüngeren Vergangenheit und in der Gegenwart ist grundsätzlich identifikatorisch ausgerichtet. Die Rekonstruktion einer slowakischen Nationalgeschichte mit dem Fokus auf der nationalen Emanzipation steht dabei im Zentrum, was allerdings auch kritische Ansätze nicht ausschließt. Rudolf Chmel etwa, Literaturprofessor in Prag und als slowakischer Politiker bereits in den Funktionen eines Ministers für Kultur und eines Regierungsverantwortlichen für Minderheiten gewesen, konstatiert bei den Slowaken eine „Deformationen ihrer nationalen Identität“⁸, die ihre Ursachen in den historischen Ereignissen vor 1918 habe. Das Argument des „Natürlichen“ setzt er ideologisch ein: „Das ganz natürliche Interesse an einer slowakischen Selbstidentifikation und Selbstbestimmung wurde häufig als Extremismus dargestellt.“ (S. 16) Chmel interessiert nicht die diskursive Konstruktion von Identität, vielmehr hat er einen affirmativen Zugang zur slowakischen Kulturgeschichte. Thematisch wird diese Art von Geschichtsschreibung vom Begriff „slowakische Frage“ geleitet, die sich die Untersuchung der historischen Existenzbedingungen der slowakischen Nation vornimmt. Eine Zäsur in der vormals marxistischen Historiografie war das Jahr 1989 mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes. Ivan Kamenec ist einer der eigenständigsten und renommiertesten slowakischen Historiker, der sich in den 1960er-Jahren intensiv mit der Rolle des slowakischen Staates bei der Deportation von Juden auseinandersetzte und in den 80er-Jahren eine deutliche Wende zur marxistischen Geschichtsschreibung vollzog. Im Jahr 1988 gab er zusammen mit dem tschechischen Historiker Josef Harna eine Darstellung der kulturellen Beziehungen zwischen Slowaken und Tschechen⁹ heraus. Obwohl nur ein Jahr vor der Samtenen Revolution erschienen, ist das Buch ganz aus einer marxistischen

7 Nach dem weiter unten eingeführten praxistheoretischen Ansatz wäre als begriffliche Konsequenz „Nationalisierer“ statt „Nationalist“ zu verwenden. 8 Chmel, Rudolf : Zum nationalen Selbstverständnis der Slowaken im 20. Jahrhundert, in: Alfrun Kliems (Hg.), Slowakische Kultur und Literatur im Selbst- und Fremdverständnis. Ludwig Richter zum 70. Geburtstag, Stuttgart 2005, S. 13–47. 9 Harna, Josef, Kamenec, Ivan: Na společné cestě: česká a slovenská kultura mezi dvěma válkami [Auf gemeinsamem Weg: tschechische und slowakische Kultur zwischen zwei Kriegen], Prag 1988.

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Gesellschaftsvorstellung heraus geschrieben. Dass es von einem slowakischen Nationalismus durchdrungen ist, stellt kein Pardox dar. Sowohl die Vorstellungen von einer einheitlichen tschechoslowakischen Kultur als auch die nationalistischen Ziele der Autonomisten werden als bürgerliche verurteilt. Mit ihren sozialen Anliegen würden die Kommunisten und die linken Intellektuellen als einzige der slowakischen Nation wirklich gerecht, versuchen die Autoren an verschiedenen Beispielen zu beweisen. Damit steht das Werk in der Tradition eines kommunistischen Nationalismus in der Slowakei. 1991 betont Josef Harna im Gegensatz zu Kamenec die integrierende Kraft einer demokratisch orientierten, gemeinsamen tschechoslowakischen Kultur: Die Ursache der spezifischen, integrierenden Fähigkeit der tschechischen und slowakischen Kultur und des kulturellen Lebens in der Tschechoslowakei ist einerseits im überwiegend humanistischen Charakter der beiden Nationalkulturen selbst, in deren demokratischem Inhalt zu suchen, andrerseits aber auch im bewussten Streben des überwiegenden Teils der Kulturschaffenden, die sich mehr oder minder mit der demokratischen Idee der tschechoslowakischen Staatlichkeit identifizierten und ihre Fähigkeiten und ihr Talent in deren Dienst stellten.¹⁰

Harna hat ebenso wie Kamenec eine utilitaristische Vorstellung von „Kultur“ als politischem Integrationsinstrument. Nur, wer sich mit dem herrschenden Staat identifiziert, ist Teil der Nationalkultur. In den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts begannen slowakische Historiker die „nationale Frage“ als Teil des Modernisierungsparadigmas neu zu betrachten. 1996 stellte Lubomír Lipták fest, dass von allen langzeitigen und kontinuierlichen Problemen der vergangenen 200 Jahre der „Prozess der slowakischen nationalen Emanzipation“ von der slowakischen Historiografie am gründlichsten, aber jeweils ideologisch eingefärbt, bearbeitet worden sei.¹¹ Er empfiehlt, die Geschichte der Slowakei im 19. und 20. Jahrhundert mit modernisierungstheoretischem Zugriff neu zu analysieren. Dabei erklärt er das ab 1970 dominierende sowjetische Modernisierungskonzept für überholt. Nichtsdestoweniger bleibt der Autor im nationalen Argumentationsmuster, wenn er die „nationale Frage“ weiterhin als Geschichte eines hindernisreichen Emanzipationsprozesses betrachtet, nicht aber die Ambivalenzen von Modernisierung wie auch Nationalismus fokussiert.

10 Harna Josef : Nationalkulturen und Koexistenz der Tschechen und Slowaken in den Jahren der Ersten Tschechoslowakischen Republik, in: Bohemia, 32, 1991, 2, S. 412–423; hier S. 414. 11 Lipták, Ľubomír: Modernizácia Slovenska: národ, štát, spoločnosť [Modernisierung der Slowakei: Nation, Staat, Gesellschaft], in: Historický časopis, 45, 1, 1997, S. 71–76, Bratislava, S. 73.

2.1 Forschung zum slowakischen Nationalismus | 13

Mit Fragen von Faschismus, Nationalismus und Kultur hat sich Ivan Kamenec auseinandergesetzt. In einem zuerst 1998 erschienen Aufsatz¹² stellt er die Frage, welche unterschiedlichen Haltungen Repräsentanten der slowakischen Kultur in der Zwischenkriegszeit eingenommen hatten. Er bildet dabei eine Opposition von „nationalem“ und „bürgerlichem“ Prinzip, gibt aber zu Bedenken, dass diese vagen Begriffe womöglich auf die Vergangenheit projiziert werden.¹³ Er stellt fest, dass die Kulturschaffenden zwar die aus historischen Gründen fehlenden Politiker weitgehend ersetzten, dass aber auch die Ansicht verbreitet war, eine „kleine Nation“ könne sich im europäischen Raum am besten mit Hilfe ihrer Kultur durchsetzen. Kamenec kommt zum Schluss, dass der nationale Standpunkt in der Kultur dominierte. Die Gründe dafür seien die Erfahrungen mit Magyarisierung und darauffolgendem politischem und kulturellem Tschechoslowakismus gewesen. In seiner Untersuchung berücksichtigt Kamenec nur linke oder bürgerliche Autoren, worin sich Berührungsängste mit rechten Kulturschaffenden zeigen, was letztlich mit dem Eingeständnis eines antidemokratischen Kulturschaffens als Teil der slowakischen Geschichte verbunden wäre. „National“ war, wie Kamenec selber nahe legt, in der Zwischenkriegszeit ein Hochwertwort unter Anhängern verschiedener politischer, literarischer oder konfessioneller Richtungen. Die sich aufdrängende Frage nach der Rolle von nationalistischen Autoren stellt Kamenec in seiner Untersuchung nicht. Eine Entwicklungslinie in der slowakischen Historiografie stellen neuere Studien zu vormals tabuisierten Institutionen dar, die eine wichtige Rolle zur Zeit des slowakischen Staates gespielt hatten. Eine solche, revidierende Arbeit stellt die materialreiche, fundierte Darstellung der Geschichte der Slowakischen Volkspartei von Robert Letz aus dem Jahr 2006 dar. Er zeichnet darin die innere Entwicklung der Partei nach mit ihren verschiedenen Phasen der Radikalisierung und des Generationswechsels. Allerdings berücksichtigt er bis auf zwei Ausnahmen keine Werke von nicht slowakischen Historiografen, darunter ein Werk von Jörg K. Hoensch¹⁴ aus dem Jahr 1965. In seiner expliziten Bewertung der Politik der HSĽS im Bezug auf das Auseinanderbrechen der ČSR drückt sich seine (neo-)nationalistische Position aus:

12 Kamenec, Ivan: Národný a občiansky princíp v postojoch a činoch predstaviteľov slovenskej kultúry v medzivojnom období. [Das nationale und das bürgerliche Prinzip in den Haltungen und Taten der Vertreter der slowakischen Kultur in der Zwischenkriegszeit], in: ders., Hľadanie a blúdenie v dejinách [Das Suchen und Irren in der Geschichte], Bratislava 2000, S. 325–336. 13 Kamenec 2000, S. 325. 14 Hoensch, Jörg K.: Die Slowakei und Hitlers Ostpolitik. Tübingen 1965. Slowakisch: Slovensko a Hitlerová východná politika, Bratislava 2001.

14 | 2 Nationalismus und kulturelle Praxis

Es wäre naiv anzunehmen, dass die Volksparteiler nach zwanzig Jahren schweren Ringens für die Autonomie der Slowakei diese Idee und mit ihr die Idee der Eigenständigkeit der slowakischen Nation opfern würden, um damit die innere und außenpolitische Situation der ČSR zu stabilisieren. Die Krisensituation der ČSR hatte nicht die HSĽS verursacht, sondern die außenpolitische Krise verbunden mit Deutschland, die Außen- und Innenpolitik der ČSR und ihre Unfähigkeit, die slowakische Frage zu lösen.¹⁵

Nach dieser Ansicht hätte die HSĽS in zwanzig Jahren Autonomiepolitik wenig bewirkt. Hinter Letz’ Aussage steht die Frage nach der Schuld am Auseinanderbrechen der ČSR, und er versucht, den Anteil der HSĽS an den Geschehnissen herunterzuspielen. Sicher hat die HSĽS nicht allein zur existenziellen Krise der ČSR geführt. Doch führte sie stets eine offensive und oft aggressive Politik gegen den Zentralstaat. Noch stärker fällt ins Gewicht, dass sie einen Alleinvertretungsanspruch für die slowakische Nation behauptete und sich in den Dreißigerjahren von demokratischen Prinzipien abwandte, was 1938 in das autoritäre Autonomieregime mündete. Die nationalistisch orientierte Kultur wurde gelegentlich in jüngeren Einzeluntersuchungen über den slowakischen Staat von 1939 bis 1945 thematisiert. Der Nationalismus in der Kultur wird rehabilitiert für die slowakische Geschichte. Ungeachtet der Verbrechen des slowakischen Regimes gibt ihr damaliger Nationalismus den nationalistischen Intellektuellen in den Augen heutiger Historiker Recht. So zitiert etwa Anna Magdolenová den regimenahen Publizisten Stanislav Mečiar unkritisch in einer Studie zur Kultur des slowakischen Staates: „. . . es darf nicht mehr geschehen, dass vor allem an der Kultur gespart werde, wie es das den Slowaken nicht wohlgesonnene [tschechoslowakische, d. Verf.] Regime getan hat.“¹⁶ Die Kulturhistorikerin vernachlässigt Mečiars bedenkliche Verknüpfung mit dem System, solange er sich günstig über die nationale Kultur äußerte. Wie für Magdolenovás Aufsatz gilt auch für Július Valachs Referat¹⁷ über die Tätigkeit der Matica slovenská in der Zeit des slowakischen Staates eine museale Absicht. Beide reihen die kulturelle „Leistungen“ dieser Jahre affirmativ wie Exponate auf, die dem Wohl der Nation gedient haben: „Die Matica slovenská realisierte in den Jahren der Slowakischen Republik weitreichende wissenschaftliche und

15 Letz, Róbert: Hlinková slovenská ľudová strana. Pokus o syntetický pohľad [Hlinkas slowakische Volkspartei. Versuch eines synthetischen Überblicks], in: ders., Peter Mulík, Alena Bartlová (zost.), Slovenská Ľudová Strana v dejinách 1905–45, Martin 2006, S. 12–108; hier S. 60. 16 Magdolenová, Anna: Slovenská kultúra v rokoch 1939–1945 [Die slowakische Kultur in den Jahren 1939–1945], in: Ján Bobák (Hg.), Slovenská republika (1939–1945), Martin 2000, S. 142–154; zit. nach S. 142. 17 Valach, Július: Činnosť Matice slovenskej v rokoch 1939–1945, in: Ján Bobák (Hg.), Slovenská republika (1939–1945), Martin 2000, S. 167–173.

2.1 Forschung zum slowakischen Nationalismus | 15

kulturelle Aufgaben, war eng mit der Nation verbunden und diente ihr. Sie lehrte die Liebe zur Nation, zum Vaterland und zur Muttersprache.“¹⁸ Darüber hinaus bescheinigt Valach der Matica slovenská, die Phase der nationalen Erweckung hinter sich gelassen und die slowakische Kultur und Wissenschaft professionalisiert zu haben. Grundsätzlich ist dieser Aussage zuzustimmen. Jedoch konnte sich die kulturelle Sphäre kaum so autonom entwickeln, wie suggeriert wird. Das heißt, die staatsrepräsentative Funktion der weitgehend abhängigen Kultur wird in beiden Aufsätzen nicht einmal angedeutet. Der bei der Matica slovenská erschienene Sammelband steht für die nach wie vor gespaltene Historikerzunft in der Slowakei, wenn es um die Bewertung des slowakischen Staates von 1939 bis 1945 geht, wobei die Historiker und Historikerinnen der Matica slovenská eher eine affirmative Haltung einnehmen, gegenüber jenen, die an der Slowakischen Akademie der Wissenschaften lehren und forschen. Im Vorwort polemisiert der Herausgeber Ján Bobák gegen jene Historiker, die die emanzipatorische Bewegung in der Slowakei diskreditieren würden, weil diese sich nie um einen eigenen Staat bemüht hätte und jener lediglich ein Abfallprodukt des Münchner Abkommens gewesen sei.¹⁹ Aus einer ideengeschichtlichen Perspektive behandelt der slowakische Historiker Vladimír Bakoš²⁰ den slowakischen Nationalismus. Anhand von überwiegend Zeitungsartikeln arbeitet er die intellektuellen Strömungen im Zusammenhang mit dem Nationalismus auf. Sein Ausblick auf die junge „modernistische“ Generation, deren Entstehen er für die Zwischenkriegszeit konstatiert, bleibt begrifflich unscharf. Seine Sympathien für die tschechoslowakische, fortschrittliche Orientierung sind deutlich, gleichwohl unterscheidet er linke und rechte Intellektuelle und akzeptiert letztere als Teil der slowakischen Kultur.

Divergierende Historiografien Die blinden Flecken der kommunistischen Historiografie zu füllen, bemühten sich westliche Historiker im Kalten Krieg. Ein Aufsatz Jörg K. Hoenschs²¹, des heraus-

18 Valach 2000, S. 172 [Matica slovenská v rokoch prvej Slovenskej republiky realizovala široké vedecké a kultúrne úlohy, bola úzko spätá s národom a slúžila mu. Učila láske k národu, k svojeti, k materčine.]. 19 Bobák, Ján (Hg.): Slovenská republika (1939–1945), Martin 2000, S. 7 f. 20 Bakoš 1999. 21 Hoensch, Jörg K.: Slovakia: „One God, One People, One Party!“ The Development, Aims, and Failure of Political Catholicism, in: ders., Richard J. Wolff (ed.), Catholics, the State, and the European Radical Right 1919–1945, New York 1987, S. 158–181.

16 | 2 Nationalismus und kulturelle Praxis

ragenden Vertreters der älteren Generation der deutschen Slowakeiforschung, zeichnet ein differenziertes Bild des politischen Katholizismus in der Slowakei von der Zwischenkriegszeit bis in die Zeit des slowakischen Staates. Der Verfasser verfolgt darin die Aufspaltung von Hlinkas Volkspartei zwischen konservativem, kirchennahem „Prälatenflügel“ und den radikalen, säkular orientierten Nationalisten. In den sich im slowakischen Staat zuspitzenden Machtkämpfen sieht er zugleich den spezifischen Charakter des einerseits klerikalen, andererseits faschistischen slowakischen Staates. Hoensch verlässt nie das Feld der politischen Geschichte und stützt sich vor allem auf programmatische Schriften der politischen Führer Hlinka, Tiso und Tuka. In der Forschung zum slowakischen Staat hat sich die Spaltung in die gemäßigten und die radikalen Faschisten als grundlegendes Erklärungsmuster durchgesetzt, etwa auch für die Judendeportationen.²² Die jüngeren Publikationen aus Deutschland zeichnen sich durch multiperspektivische Ansätze und Fragestellungen aus. Ein wichtiger Sammelband erschien 2010 zum Verhältnis von Kultur und Politik, allerdings mit Fokus auf transkulturelle Prozesse zwischen Deutschland, Tschechien und der Slowakei.²³ In den Beiträgen zur Slowakei wird entweder das städtische Leben im multiethnischen Bratislava im verklärenden Licht der Memoirenliteratur dargestellt.²⁴ Oder aber es werden die deutsch-slowakischen Kulturkontakte untersucht. Die historische Wirkung von symbolischen Vorstellungen wurde in zwei Sammelbänden untersucht, die sich mit dem engeren Themengebiet der vorliegenden Untersuchung befassen. Der von Martin Schulze-Wessel herausgegebene Sammelband stellt Untersuchungen zum Verhältnis von Nationalismus und Religion im östlichen Europa vor, enthält indes keinen Beitrag zur Slowakei im entsprechenden Zeitraum.²⁵ Mehrere Aufsätze zu slowakischen Mythen in der Politik finden sich hingegen im von Dieter Langewiesche herausgegebenen Band als wichtiger Beitrag zu diesem vernachlässigten Forschungsgegenstand.²⁶

22 z. B. Kallis, Aristotle: Genocide and Fascism. The Eliminationist Drive in Fascist Europe, London 2009, S. 246 ff. 23 Marek, Michaela, Kováč, Dušan, Pešek, Jiři, Prahl, Roman (Hg.): Kultur als Vehikel und als Opponent politischer Absichten. Kulturkontakte zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1980er Jahre, Essen 2010. 24 Košťálová, Dagmar: Zur Bedeutung der Kaffeehäuser und Weinstuben im Kulturleben Bratislavas zwischen den beiden Weltkriegen, in: Marek/Kováč 2010, S. 143–152. 25 Schulze-Wessel, Martin (Hg.): Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa, Stuttgart 2006. 26 Ivaničková, Edita, Langewiesche, Dieter, Míšková, Alena (Hg.): Mythen und Politik im 20. Jahrhundert. Deutsche – Slowaken – Tschechen, Essen 2013. Darin auch der Aufsatz der Verfasserin: „Auferstehung“ als politischer Mythos: Ein slowakisches Konzept des Neubeginns nach 1918, S. 45–70.

2.1 Forschung zum slowakischen Nationalismus | 17

Eine wegweisende Geschichte des politischen Alltags im slowakischen Staat hat Tatjana Tönsmeyer²⁷ verfasst, in der sie deutlich die machtpolitischen Querelen zwischen den verschiedenen nationalistischen Lagern konturiert vor dem Hintergrund der deutschen Berateraktivitäten in der Slowakei. Ihre gründliche Analyse des Handelns von Akteuren in politischen Institutionen liefert eine Grundlage für die vorliegende Arbeit. Von unreflektierter nationalistischer Tendenz sind die zahlreichen Darstellungen der slowakischen Geschichte aus der Feder slowakischer Emigranten²⁸ bzw. Remigranten, die unkritisch den alten Nationalismus legitimierende Werke veröffentlichen. Ein Beispiel ist der produktive Emigrant Imrich Kružliak, der während der Samtenen Revolution von München nach Bratislava zurückkehrte und mehrere Jahre als Berater des linkspopulistischen Regierungschefs Vladimír Mečiar tätig war. Ein weiterer Remigrant mit einer akademischen Karriere in Italien ist Milan S. Ďurica, der es 1995 mit einem historischen Schullehrbuch zu zweifelhafter Berühmtheit in der Slowakei brachte, da seine Darstellung der slowakischen Geschichte aufgrund nationalistischer Tendenz den Schulen bald nicht mehr zur Verwendung empfohlen wurde.²⁹ Werke, die sich kritisch mit dem slowakischen Nationalismus auseinandersetzen sind rar und eher älteren Datums, hervorzuheben sind Arbeiten, deren Fokus sich durch die jeweilige Disziplin und die Wahl des Untersuchungsgegenstandes bestimmt: politische Geschichte bei David Paul, Carol Leff Skalnik, Yeshayahu Jelinek und James Felak, Sozialgeschichte bei Ismo Nurmi und Dorothea H. El Mallakh, das Thema Bildung bei Johnson Owen, Literaturgeschichte bei Robert Pynsent.³⁰

27 Tönsmeyer, Tatjana: Das Dritte Reich und die Slowakei 1939–1945. Politischer Alltag zwischen Kooperation und Eigensinn, Zürich 2003. 28 z. B. Jozef Kirschbaum, ehemaliges Kader der Hlinka-Partei und Emigrant in Kanada, trug zu verschiedenen wissenschaftlichen Publikationen in der Slowakei nach 1993 bei: Svedectva pravdy o Slovensku. Diel I. Prvá slovenská republika 1939–1945. Výpovede svedkov, ktorí v nej žili [Die Zeugen der Wahrheit über die Slowakei. Teil 1. Die erste slowakische Republik 1939–1945. Aussagen der Zeugen, die in ihr lebten], Sereď 1997; Bobák, Ján (Hg.): Slovenský politický exil v zápase za samostatné Slovensko [Das slowakische politische Exil im Ringen um eine eigenständige Slowakei], Bratislava 1996. 29 Ďurica, Milan S.: Dejiny Slovenska a Slovákov [Die Geschichte der Slowakei und der Slowaken], Bratislava 1995. Ďurica verbreitet weiterhin seine von der Emigration geprägte nationalistische Sicht, etwa in Ders.: Jozef Tiso (1887–1947). Životopisný profil [Jozef Tiso (1887–1947). Biografisches Profil], Bratislava 2006. 30 Jelinek, Yeshayahu: The Parish Republic: Hlinka’s Slovak People’s Party, 1939–1945, Boulder 1976; Felak, James: „At the Price of the Republic“. Hlinka’s Slovak People’s Party, 1929–1938, Pittsburgh 1994; Owen, Johnson V.: Slovakia 1918–1938: Education and the Making of a Nation,

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Hervorzuheben ist die jüngere Publikation von Alexander Maxwell, weil er methodisch die politische und die linguistische Perspektive verbindet, um die Entstehung des slowakischen „partikularistischen“ Nationalismus zu untersuchen.³¹ Er verfolgt die verschiedenen konkurrierenden Nationskonzepte in programmatischen Äußerungen und legt deren Quellen, etwa in ungarischen Texten sowie in der tschechischen und slowakischen Romantik, frei. Dabei streicht er zwar die politische Funktion linguistischer Argumentationen heraus, das heißt den Nutzen des Slowakischen für die nationalistische Mobilisierung, hat allerdings kein Interesse an den determinierenden kulturellen Dispositionen. Im Gegenteil spitzt er seine Erkenntnisse dahingehend zu, dass die „slowakische Nation“ ein Zufallsprodukt sei, das zwar durch die Maßnahmen eines Tschechoslowakismus etwa, aber entgegen dessen Intentionen und schon gar nicht als Ergebnis gezielter slowakischer nationalistischer Propaganda entstanden sei.³² In vergleichender zentraleuropäischer Perspektive taucht der slowakische Fall gelegentlich in britischen oder amerikanischen Publikationen auf, etwa bei Peter F. Sugar und Stefan Auer.³³ Vor allem aus dem Bereich der Literaturwissenschaft datieren einige jüngere Sammelbände, in denen Werke von hier behandelten Schriftstellern neu bewertet werden, allerdings ohne ausgeprägtes Forschungsinteresse an der Rolle der Literatur in gesellschaftlichen Nationalisierungsprozessen.³⁴ Außerdem wurden seit den Neunzigerjahren vom slowakischen Kulturministerium finanziell unterstützte Neueditionen von tabuisierten nationalistischen Schriftstellern mit sachlich-

Boulder 1985; Paul, David W.: The Cultural Limits of Revolutionary Politics. Change and Continuity in Socialist Czechoslovakia, New York 1979; Leff, Carol Skalnik: National Conflict in Czechoslovakia: the Making and Remaking of a State, 1918–1987, Princeton 1988; Pynsent, Robert B.: Questions of Identity: Czech and Slovak Ideas of Nationality and Personality, London 1994; Nurmi, Ismo: Slovakia – a playground for nationalism and national identity 1918–1920, Helsinki 1999; El Mallakh, Dorothea H.: The Slovak Autonomy Movement, 1935–1939: A Study in Unrelenting Nationalism, Boulder 1979. 31 Maxwell, Alexander: Choosing Slovakia. Slavic Hungary, the Czechoslovak Language and Accidental Nationalism, New York 2009. 32 „The assorted Pan-Slavs, Hungaro-Slavs and Czechoslovaks who made Slovak history did not foresee the consequences of their actions.“; Maxwell 2009, S. 186. 33 Sugar, Peter F., Lederer, Ivo (eds.): Nationalism in Eastern Europe, Seattle 1969; Auer 2004; Kamusella, Tomasz: The Politics of Language and Nationalism in Modern Central Europe, Basingstoke 2009. 34 Kliems, Alfrun (Hg.): Slowakische Kultur und Literatur im Selbst- und Fremdverständnis, Stuttgart 2005; Habaj, Michal: Druhá moderna [Die zweite Moderne], Bratislava 2005; Mikula, Valér, Robertsová, Dagmar (ed.): Štyridsiate roky 20. storočia v slovenskej literatúre [Die Vierzigerjahre des 20. Jahrhunderts in der slowakischen Literatur], Bratislava 2006.

2.2 Nationalismuskonzepte | 19

kritischen Einleitungen vorgelegt, etwa von Tido Gašpar und Valentín Beniak.³⁵ Parallel dazu erschien eine vollständige Edition der Gedichte von Andrej Žarnov aus der Hand des hochbetagten, neo-nationalistischen Literaturwissenschaftlers Julius Pašteka.³⁶ Arbeiten, die sich aus einer kulturwissenschaftlichen Sicht mit Techniken befassen, die der Etablierung von nationalistischen Repräsentationen in der Zwischenkriegsslowakei dienten, gibt es bislang nicht. Die nationalismustheoretischen Voraussetzungen, auf deren Basis die Methodik der folgenden Untersuchungen beruht, werden im Folgenden umrissen.

2.2 Nationalismuskonzepte Die Entstehung der modernen Nationalstaaten wurde von akademischer Reflexion begleitet. Der einflussreiche Historiker Friedrich Meinecke erklärte die beobachteten Phänomene vor allem ideengeschichtlich. Seine Werke werfen ein Licht auf das Verständnis der gesellschaftlichen Prozesse unter seinen Zeitgenossen. Sowohl vor der polnischen und slowakischen Staatlichkeit etwa war die Idee der schlafenden Nation verbreitet, die geweckt und zu einem nationalen Bewusstsein geführt werden müsse. In „Weltbürgertum und Nationalstaat“ unterscheidet Meinecke analog eine frühere Periode, in denen die Nationen im ganzen ein mehr pflanzenhaftes und unpersönliches Dasein und Wachstum hatten, und eine spätere, in denen der bewusste Wille der Nation erwacht, in der sie sich selbst – und sei es auch nur durch das Organ ihrer Führer – als große Persönlichkeit, als große geschichtliche Einheit fühlt und das Kennzeichen und Recht der entwickelten Persönlichkeit, die Selbstbestimmung beansprucht.³⁷

Diese Idee einer historischen Existenz, „eines vegetativen und schlummernden Daseins der Nationen“ begründet Meinecke mit einer kulturellen Kontinuität. Diese Idee des Erwachens aus dem Schlaf war ein Leitmotiv der zeitgenössischen Nati-

35 Beniak, Valentín: Poézia I, II. Hg. von Stanislav Šmatlák, Bratislava 2000; Gašpar, Tido J.: Pamäti I/II [Erinnerungen I/II], Bratislava 1989/2004; Gašpar, Tido: Červený koráb [Das rote Schiff], Bratislava 2005. 36 Žarnov, Andrej: Môj domov jediný [Meine einzige Heimat], hg. v. Julius Pašteka, Prešov 2007. Pašteka stellt Žarnov als Opfer des totalitären kommunistischen Regimes dar, der 30 Jahre im Exil verbringen musste, und nun als großer nationaler Dichter mit seinen Werken in die Heimat zurückkehren könne. Vgl. Schutzumschlag und Einleitung, S. 5. 37 Meinecke, Friedrich: Meinecke, Friedrich: Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates, 7. Aufl., München, Berlin 1928. S. 6.

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onsdiskurse, denn mit ihr ließen sich selbst Machtansprüche legitimieren, für die es keine herrschaftsmäßigen Vorläufer gegeben hatte. Meineckes Ausführungen lesen sich geradezu als Ermunterung nationalistischer Bewegungen: Alle Neubildungen, die von dem bewußten Willen der Nationen, d. h. von ihren national empfindenden Regierungen, Parteien und Führern betrieben werden, greifen nur auf und führen nur fort, was leise schon vor sich gekeimt hat, was langsam von unten nach oben durchgedrungen ist.³⁸

Während Meinecke seine zugrundeliegende Unterscheidung von Kultur- und Staatsnation eher entwicklungsgeschichtlich begründete – auch wenn er selber über Staaten als „Persönlichkeiten“ schrieb –, gab es in seiner Nachfolge Typologisierungen, die jene Entwicklungen durch völkerpsychologische Zuschreibungen erklärten.

Typologien Der Blick auf den Nationalismus oder die Nationalismen in Zentraleuropa (Central Europe)³⁹ wurde durch die Theoriebildung lange Zeit in dichotomische Bahnen gelenkt. Besonders die Jugoslawienkriege Ende des vergangenen Jahrhunderts schienen die Annahmen eines westlichen und eines östlichen Nationalismus zu bestätigen. Diese Typologie vertrat – an Hans Kohn⁴⁰ anknüpfend – der Historiker John Plamenatz⁴¹ in seinen Schriften in den Siebzigerjahren. Die slawischen Nationen sind laut Plamenatz zu einem östlichen Nationalismus bestimmt, der überwiegend antiliberal ist. Das beruhe auf Ressentiments gegenüber den vorher modernisierten westlichen Ländern, denen sie aber zugleich nacheiferten im Bewusstsein ihrer unterlegenen Kulturen. Diese Frustration würde zum Extremismus führen. Plamenatz’ Argumentation ist äußerst widersprüchlich, da gerade Deutschland und Italien nach dem Ersten Weltkrieg die extremsten Regimes in Europa bildeten. Doch erklärt er diese Beispiele als Unfälle, welche die Regel nicht umstießen. Im Widerspruch dazu konstatiert Stefan Auer für die Zwischenkriegs-

38 Meinecke 1928, S. 7. 39 Der Begriff Zentraleuropa ist eine buchstäbliche Übersetzung des englischen Ausdrucks Central Europe, der seit dem Ende des Kalten Krieges wieder für die mitteleuropäische Region verwendet wird, und dabei den historisch problematischen Begriff Mitteleuropa vermeidet. 40 Kohn, Hans: The Idea of Nationalism: A Study in its Origins and Background, New York 1969. 41 Plamenatz, John: Two Types of Nationalism, in: Eugene Kamenka (ed.), Nationalism: The nature and evolution of an idea, Canberra 1975, S. 23–36; hier S. 29 ff.

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zeit, dass die Tschechoslowakische Republik und Deutschland den westlichen und den östlichen Nationalismus geradezu getauscht hätten.⁴² Dem Westen wird üblicherweise ein staatsbürgerlicher Nationalismus (civic nationalism) zugeschrieben, dem Osten hingegen ein ethnischer. Der französische und der amerikanische Nationalismus traten traditionell als staatsbürgerlicher Nationalismus auf, mit dem die Souveränität eines Volkes erkämpft werden sollte. Die Staatszugehörigkeit wurde primär politisch definiert, und ein Ausschlusskriterium stellten lediglich die Grenzen des Territoriums dar. Demgegenüber basiert das ethnische Nationskonzept auf Abstammung, Zugehörigkeit durch Geburt, Blut oder eben Ethnizität. Während im staatsbürgerlichen Nationalismus die Angehörigen einer Nation eine willentliche Verbindung eingehen, stellt die ethnische Nation eine Schicksalsgemeinschaft dar. Der ethnische Nationalismus trat Ende des 19. Jahrhunderts zutage und sei, laut Anthony Smith⁴³, bis in die Gegenwart für die Menschen im östlichen Europa bestimmend, obgleich er auch eingesteht, dass jeder Nationalismus bis zu einem gewissen Grad Elemente beider Formen enthält: „For even the most ‹civic› and ‹political› nationalisms often turn out on closer inspection to be also ‹ethnic› and ‹linguistic› [. . . ]“.⁴⁴ Staatsbürgerlicher Nationalismus wird normalerweise mit Liberalismus und ethnischer Nationalismus mit Antiliberalismus, der zum autoritären Regime neigt, assoziiert. Ähnlich wie Smith’ Feststellung, dass Nationalismen sich nicht scharf in ethnische und staatsbürgerliche unterteilen lassen, gilt der Befund auch für das Verhältnis von liberalen zu antiliberalen Elementen. So lehnt Will Kymlicka die Ansicht, dass bestimmte Kulturen essenziel antiliberal seien, grundsätzlich ab: To assume that any culture is inherently illiberal, and incapable of reform, is ethnocentric and ahistorical. Moreover, the liberality of a culture is a matter of degree. All cultures have illiberal strands, just as few cultures are entirely repressive of individual liberty. Indeed it is quite misleading to talk of ‹liberal› and ‹illiberal› cultures, as if the world was divided into completely liberal societies on the one hand, and completely illiberal ones on the other.⁴⁵

Die Differenzierung in liberal und illiberal bzw. antiliberal erlaubt – im konkreten Fall – unvoreingenommenere Charakterisierungen von Nationalismen als die Gegenüberstellung von „ethnic“ und „civic“. Die Unterscheidung von Nationalismen nach dem Verhältnis zum Liberalismus nimmt stärker auf den gesellschaftspolitischen Kontext Bezug und besitzt darüber hinaus ein größeres analytisches Potenzial. Wie Auer in seiner vergleichenden Untersuchung zeigt, findet sich in den

42 43 44 45

Auer 2004, S. 12. Smith, Anthony D.: Nationalism and Modernism, New York 1998, S. 126. Auer 2004, S. 5, Anm. 2. Zit. nach Auer 2004, S. 18.

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Ländern Zentraleuropas durchaus ein liberaler Nationalismus. Diese Differenzierung ist insofern hilfreich, als sie dem kulturellen Determinismus der Dichotomie von Ost und West entgeht. Eine normative Definition für liberalen beziehungsweise antiliberalen Nationalismus ist gleichwohl wenig sinnvoll. Gewisse Merkmale können sich im Einzelfall überschneiden, oder liberaler Nationalismus kann unter Umständen sich schnell in einen antiliberalen verwandeln. Beide Begriffe entstammen der politischen Terminologie. Doch werden mit ihnen bestimmte Werte verbunden, mit „liberal“ etwa universalistische – wie die Respektierung individueller Freiheit oder die Tolerierung von Unterschieden, aber auch ein demokratisches Regierungsverständnis – die hier von besonderem Interesse sind. „Antiliberal“ hingegen kann auf der einen Seite die aggressive, diskriminierende, intolerante Seite eines Nationalismus bezeichnen, auf der anderen Seite kann der Begriff nichtsdestoweniger die Symbolik und Praxis gemeinschaftlicher Solidarität umfassen.⁴⁶

Konstruierte Nationen Ein einflussreicher Theoretiker des Nationalismus ist Elie Kedourie. Methodisch bildet Kedourie einen Gegenpol zu den modernisierungstheoretischen Ansätzen von Eric Hobsbawm, Ernest Gellner, Benedict Anderson.⁴⁷ In „Nationalism“⁴⁸ beschreibt Kedourie Nationalismus vor allem als intellektuelles Produkt, das als solches überhaupt erst die Entstehung und Entwicklung von modernen Nationalstaaten ermöglicht hat. Wie die genannten drei Theoretiker geht auch er grundsätzlich von der Annahme aus, dass Nationen etwas Konstruiertes sind. Jedoch sind nach seiner Auffassung intellektuelle Urheber die Konstrukteure. Kedourie trennt die Geschichte des Nationalismus als Ideologie strikt von der Geschichte der politischen Institutionen, die den Nationalismus in der politischen Praxis umsetzten. Eine erste nationalistische Manifestion sieht Kedourie in der Französischen Revolution, von der ausgehend sich in Europa ein ideologischer Politikstil ausgebreitet habe. Allerdings sei die „Lehre“ des Nationalismus zu diesem Zeitpunkt noch nicht voll entwickelt gewesen. Einen großen Anteil hatten daran in der Folge

46 Taras schlägt in seiner Studie zu liberalen und antiliberalen Nationalismen wegen der problematischen Typologisierung vor, die beiden Begriffe als analytische Kategorien zu betrachten, die die Erforschung moderner Politik mit erklärender Kraft ausstatten. Taras 2000, S. 54. 47 Anderson, Benedict: Imagined communities: reflections on the origin and spread of nationalism, London 1983; Hobsbawm, Eric, Ranger, Terence (eds.): The Invention of Tradition, Cambridge 1983; Gellner, Ernest: Nations and Nationalism, Oxford 1983. 48 Kedourie, Elie: Nationalism. 4., expanded edition, Oxford 1996 [1969].

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Philosophen der romantischen Bewegung wie Schleiermacher, Herder oder etwa Fichte, der die Idee der Selbstbestimmung des Individuums auf die Nation übertrug. Als zentrale Ideen zeichneten sich ab: das Prinzip der Selbstbestimmung, die Idee des Kampfes und die Idee der Mannigfaltigkeit der Nationen. Nach Kedourie ist aus der Verbindung vom Prinzip des Selbstbestimmungsrechtes und der Anerkennung des Krieges als der natürlichen Kraft der Geschichte die Doktrin des Nationalismus entstanden. Er bezieht sich in seiner philologisch-hermeneutischen Vorgehensweise auf normative Texte und leitet entsprechende Schlüsse ab: Die nationalistischen Ideen seien vor allem ein romantischer Ausdruck des Protests der Jungen gegen die Realitäten in der Welt gewesen. In dieser Hinsicht betrachtet Kedourie Nationalismus als politischen Ausdruck des romantischen Strebens nach einer gesteigerten Existenz, was sich in der Verachtung des Lebens selbst und in Todessehnsucht äußerte. (S. 90) Bemerkenswert ist an Kedouries Ansatz der Versuch, die individuelle Erfahrung von Transzendenzverlust bzw. -sehnsucht in einen kausalen Zusammenhang mit der politischen Programmatik zu bringen. Kedourie insistiert jedoch darauf, dass die Denker des Nationalen weit von einer politischen Praxis entfernt waren: . . . these men were still, whether they liked it or not, academics and intellectuals versed in the arguments of logic and theology, but with little conception of political power, or of administrative problems. This created a remarkable gulf between political speculation and political practice which was no doubt also responsible for the extravagant hopes of spiritual fulfilment which they set on the state.⁴⁹

Er betont die ambivalente Rolle der Intellektuellen hinsichtlich des Nationalismus. Es sei „absurd zu glauben, Sprachwissenschaftler oder Volkskundler könnten das Geschäft von Politikern oder Soldaten verrichten“.⁵⁰ Kedourie hält strikt an der Separierung der kulturellen und politischen Sphären fest. Das Jahr 1983 brachte der Nationalismusforschung einen modernisierungstheoretischen Paradigmenwechsel. Auch die jüngere Unterscheidung von liberalem und antiliberalem Nationalismus basiert letztlich auf dieser Veränderung. 1983 publizierten Gellner, Hobsbawm und Anderson ihre einflussreichen Werke zum Thema Nationalismus.⁵¹ Bei aller Verschiedenheit, die durch den jeweiligen disziplinären Zugang der Geschichtswissenschaft, Ethnologie oder Soziologie geprägt ist, etablierten sie doch eine grundlegend soziologische Perspektive, das heißt Nationalismus wurde als eine Folgeerscheinung gesellschaftlicher Moderni-

49 Kedourie 1996, S. 38. 50 Kedourie, Elie: Nationalismus, München 1971, S. 129. 51 Bibliografische Angaben am Anfang dieses Unterkapitels.

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sierungsprozesse betrachtet, wie sie im Zeitalter der Industrialisierung einsetzten. Nationen existierten nach diesem Ansatz nicht mehr seit Urzeiten, sondern waren moderne Konstrukte und die Nationsbildungen relativ junge Prozesse. Nach Gellner entstanden Nationalismen als Begleiterscheinung des gesellschaftlichen Wandels vom Agrar- zum Industriezeitalter. Er geht in seinen Werken „Nations and Nationalism“ und „Nationalism“⁵² davon aus, dass Nationalismus am Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft entstand. In der Agrargesellschaft setzte, so Gellner, eine soziale Differenzierung ein, die organisatorische Probleme brachte. Eine wesentliche Rolle spielte demzufolge die Etablierung einer Schriftkultur, die den Anforderungen der Industriekultur gerecht wurde und sozialen Aufstieg sowie vertikale Mobilität ermöglichte. Laut Gellner sind nationalistische Intellektuelle bestrebt, den nationalen Markt mit dem eigenen Idiom abzuschotten, weil sie dann weniger Konkurrenz fürchten müssen, dafür aber mehr Profit und Anerkennung gewännen. Die Kultur böte die Möglichkeit, Mittel des Ausschlusses zum Vorteil der Privilegierten zu produzieren.⁵³ Für die Bildung nationaler Eliten auf der Basis einer neuen Hochkultur argumentiert er allerdings zu utilitaristisch und monokausal. Auch mit dem großen zeitlichen Abstand seiner theoretischen Veröffentlichungen zum Thema Nationalismus behält er diese Argumentationsweise bei. Nationalismen würden vor allem der Legitimierung von politischem Handeln dienen. Initianten eines neu gegründeten Nationalstaates seien Intellektuelle, die das Modernisierungsprojekt unter neuer Flagge fortführen, alle wichtigen Posten einnehmen und sich somit der Konkurrenz jener Intellektuellen, von denen sie vorher dominiert wurden, entziehen. Gellners Denken liegt eine strikte Trennung von politischer und kultureller Sphäre zugrunde. Zwar versteht er unter „Kultur“ kommunikative und soziale

52 Gellner, Ernest: Nationalismus. Kultur und Macht, Berlin 1999 (engl. Originalausgabe „Nationalism“ 1997). 53 In „Thought and Change“ (London 1972) stellt Gellner das Modell der Gruppen A und B auf, in denen aufgrund ungleichen Modernisierungs- und Industrialisierungsstandes die Unzufriedenheit einen nationalen Ausdruck findet und die jeweilige, kleine intellektuelle Klasse um die gegenseitige Abschottung bemüht ist, weil sie das Monopol über die wünschbaren Posten im neuen Abzw. B-Land erlangen möchte. S. 164–169. Auch Hobsbawm nimmt das Argument von einer entstehenden Mittelklasse auf, die bereit ist, den Markt schnellstmöglich ihren eigenen Fähigkeiten entsprechend abzuschotten. Ähnlich basiert Maxwells zentrales Argument auf der Feststellung, dass sprachliche Fähigkeiten bestimmte ökonomische und soziale Interessen hervorrufen können. So habe die Einführung und Etablierung einer eigenen Schriftsprache im slowakischen Teil des tschechoslowakischen Bildungssystems eine Gruppe von Anwärtern auf slowakische Posten in der Slowakei, nicht aber für den tschechischen Landesteil produziert. Die neue slowakische Mittelklasse sei auf dem tschechoslowakischen Arbeitsmarkt unterlegen gewesen, was ihre Isolierung förderte. Maxwell 2009, S. 182–184.

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Handlungen, separiert davon jedoch analytisch soziale Organisationsformen. Diese würden durch politisches Denken gestaltet, wovon der Nationalismus eine Form darstelle.⁵⁴ Gellner beantwortet dabei nicht, wie die Loyalität der Bevölkerung gegenüber einer angeblich legitimen Elite hervorgerufen wird, wie eine nationale Vorstellung erzeugt und verbreitet wird, was die notwendige Voraussetzung dafür ist, dass solch ein neuer Staat eine gewisse Zeit überdauert. Ein stark rezipierter Autor im Gefolge Gellners ist Benedict Anderson. Sein Buchtitel „Imagined Communities“ hat viel zur Popularisierung einer bestimmten Richtung der Nationalismusforschung beigetragen. Im Wesentlichen meint Anderson mit „imagined“, dass jede Gemeinschaft, ausgenommen primordiale, die auf face-to-face-Kontakt beruhten, vorgestellt ist, das heißt auf einer Abstraktion gründet. Der entscheidende Punkt ist bei Anderson das Medium, das die Möglichkeit der Vorstellung von einer Zusammengehörigkeit mit anderen Gemeinschaftsmitgliedern überhaupt ermöglicht. Er führt als Beweis dafür an, dass große religiöse Kulturen auf der ganzen Welt sich als Gemeinschaft nur durch eine heilige Schrift (sacred language) und geschriebenen Text (written script) vorstellen konnten, ähnlich war die heilige Schrift auch eine Voraussetzung für das Entstehen der Christenheit. Der Niedergang des Lateins in Europa aber war eine Voraussetzung für den Prozess der stufenweisen Fragmentierung, Pluralisierung und Territorialisierung der einst einheitlichen Gemeinschaft. Das Ende kultureller Sicherheiten (religiöse, dynastische und zeitlich-kosmologische), unterstützt von technischen Erfindungen brachte die Voraussetzungen für die Suche nach alternativen Gemeinschaftskonzepten. Die größte Beschleunigung habe in diesem Prozess der (kapitalistische) Buchdruck gebracht, „which made it possible for rapidly growing numbers of people to think about themselves, and to relate themselves to others, in profoundly new ways“.⁵⁵ Anderson stellt eine Kausalität zwischen der Ökonomie des Buchdrucks und der Nation fest. Kapitalismus und Drucktechnologie haben im Zusammentreffen mit der Diversität menschlicher Sprache die Möglichkeit geschaffen, eine neue Form der vorgestellten Gemeinschaft zu denken. Somit hätten sie die Bühne für die moderne Nation bereitetet. Selbst wenn man diesem weitgehenden Schluss nicht folgen möchte, ist die Bedeutung von Printmedien in der Realisierung von Nationalismen sicher ein zentrales Element, so wie die konkreten Vorstellungen von Gemeinschaften in gedruckten Texten wichtige Repräsentation von nationalistischen Ideen sind.

54 Gellner 1999, S. 17. 55 Anderson 1983, S. 36.

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Dieser Ansatz war der Wegbereiter für die kulturgeschichtliche Erforschung des Nationalismus. Der Wandel nationaler Repräsentationen wie Identitätskonstruktionen und symbolischer Praktiken rückten in den Blick verschiedener Disziplinen.

Antiliberale Nationalismen Ein dezidierter Vertreter des Primats der Politik und der modernen Staatsentwicklung gegenüber kulturellen und sozialen Faktoren im Zusammenhang mit der Entstehung von Nationen ist der Historiker Eric Hobsbwam. Regierung und Eliten haben seiner Ansicht nach die heutigen Nationen geschaffen, nicht aber breite Bevölkerungskreise. Allerdings gesteht er auch den unteren Bevölkerungsschichten soziale und kulturelle Traditionen zu, die gemeinschaftliche Bindungen erzeugen. Indes seien diese regionaler, religiöser oder sprachlicher und gerade nicht territorial-geographischer Natur, wie Hobsbawm es als entscheidendes Kriterium für das heutige Verständnis von „Nation“ betrachtet.⁵⁶ Entsprechend analysiert Hobsbawm in politischen Schriften territoriale Vorstellungen von „Nation“. Ein wesentliches Kriterium sei die Größe gewesen. Kleinen Staaten traute etwa der Nationalökonom Gustav Cohn „nur eine verkrüppelte Literatur, nur krüppelhafte Anstalten für die Beförderung der Künste und Wissenschaften“ zu. Das „Nationalitätsprinzip“ galt erst ab einer bestimmten Größe, was sich im so genannten „Schwellenprinzip“ äußerte. Giuseppe Mazzini war ein renommierter Verfechter dieses Prinzips. Er betrachtete aber auch religiöse Empfindungen als wesentlichen Bestandteil des Nationalismus. Das Göttliche der „neuen Religion“ manifestierte sich seiner Ansicht nach in den verschiedenen Nationen mit ihrer jeweiligen Mission.⁵⁷ Nach 1830 begann sich in Europa ein Nationalismus zu verbreiten, für dessen Ideologen eine Sprache die Seele der Nation war und somit zunehmend das entscheidende Kriterium für Nationalität wurde. Die Brisanz dieses Nationalismus lag darin, so Hobsbawm⁵⁸, dass er unter den historischen Verhältnissen, sofern er nicht bereits mit einem Staat verbunden war, zu einem politischen Nationalismus wurde. Denn zur Umwandlung einer Nationalität in eine Nation war ein Staatsapparat notwendig, selbst wenn es vorderhand darum ging, eine Unterrichts- oder Amtssprache zu etablieren.

56 Hobsbawm, Eric: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität, Frankfurt am Main 2004 [1990]; vgl. auch die Kritik zu diesem Aspekt von Hobsbawms Ansatz in: Smith 2000, S. 32–34. 57 Kamenka, Eugene: Nationalismus, in: Iring Fetscher, Herfried Münkler (Hg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 4, München 1986, S. 589–614; hier S. 603. 58 Hobsbawm 2004, S. 114 f.

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Mit dem Ersten Weltkrieg verdrängten ethnische und sprachliche Zugehörigkeitsvorstellungen das Schwellenprinzip. Jede Gemeinschaft von Menschen, die sich als Nation betrachteten, beanspruchte nun das Recht auf Selbstbestimmung und auf einen souveränen unabhängigen Staat auf ihrem Territorium. Zudem vermehrten sich die potenziellen „Nationen ohne Geschichte“, womit ethnische Zugehörigkeit und Sprache zu zentralen Kriterien für die angestrebte Nation wurden. Parallel dazu vollzogen die nationalen Gesinnungen innerhalb der etablierten Nationalstaaten eine deutliche Wende zur politischen Rechten; der Begriff „Nationalisten“ wurde für diese neuen politischen Strömungen geprägt.⁵⁹ Dieser Punkt lässt sich analog, wenn auch verspätet, in der Tschechoslowakei feststellen, wo ein rechter, ethnisch-sprachlicher Nationalismus als Folge der Nationalstaatsgründung entstand.⁶⁰ Hinter den Äußerungen eines sprachlichen Nationalismus standen, wie Hobsbawm betont, letztlich nicht kulturelle Bedürfnisse, sondern Fragen von Macht, Status, Politik und Ideologie.⁶¹ Gleichwohl diente kulturelle Bildung als Instrument des Nationalismus, da mit ihrer Hilfe die nationale Einzigartigkeit zum zentralen Teil der Abgrenzungsrhetorik gegenüber anderen Nationen oder Reichen gemacht wurde. Gregory Jusdanys stellt diesbezüglich fest: „The singularity of nationalism rests in its tenet that a marriage must take place between culture and politics and that this union must be sanctified on a native land.“⁶² Das Dreieck von Kultur, Politik und Territorium lag Ansprüchen auf eine eigene Nation zugrunde. Hier ist anzumerken, dass im Fall der Slowaken in der Tschechoslowakei sowohl Territorium als auch Politik problematische Größen für die Nationalisten waren, hingegen die Kultur aufgrund der differenten Sprachvariante das Hauptkampffeld darstellte. Zum einen lässt sich der slowakische Nationalismus gemäß den von Hobsbawm aufgezeigten historischen Entwicklungslinien einordnen, zum anderen weist er dem historischen Kontext geschuldet spezifische Formen auf. Besonders in Umbruchssituationen zeigen sich die Kontingenz der historischen Ereignisse sowie die Perspektivität von Deutungen. Zum Beispiel forderte der Präsident der Ersten Republik, Tomáš G. Masaryk, zu Zeiten Österreich-Ungarns die Föderalisierung Österreichs und verurteilte nationalen Chauvinismus. In seinem (neu geschaffenen) Heimatland nach Kriegsende wurde er indes zum „triumphierenden Helden eines tschechischen Nationalismus“.⁶³ Masaryk passte seinen im Grunde gleichbleibenden Nationalismus situativ an. Angewandt auf Hobsbawms territoria-

59 Hobsbawm 2004, S. 122. 60 Hobsbawm 2004, S. 164. 61 Hobsbawm 2004, S. 131. 62 Zit. nach Taras 2002, S. xii. 63 Auer 2004, S. 108.

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les Argument lässt sich folgern, dass mit der konkret gewordenen geopolitischen Gestalt sich der Nationalismus stärker segregativ manifestierte.

Vorgeschichten der Nation Ein großer Teil des Nationalismustheorie-Diskurses ist der Frage nach präexistenten Elementen von modernen Nationen gewidmet. Die Konstruktivisten legen nahe, dass es keine Formen nationaler Gemeinschaften vor der modernen Nationalstaatsbildung gegeben hat. Hobsbawm selber schwächte seine markante Aussage von „Invented Traditions“ ab, wonach die „Nation“ eine junge historische Innovation sei, die auf bewussten „sozialtechnologischen Anstrengungen“ basiere⁶⁴, und konzedierte einen „volkstümlichen Protonationalismus“⁶⁵. Anthony D. Smith arbeitet in seinen jüngsten Werken vor allem eine Kritik an den Konstruktivisten heraus. Für ihn gibt es einen „ethnischen Kern“, der in Bräuchen, Mythen und Symbolen bestehen kann, und notwendig ist, damit nationalistische Ideen von der Bevölkerung auch angenommen werden können.⁶⁶ Smith setzt die Entstehung von Nationen viel früher an als die „Modernisten“. Nach seinem ethno-symbolischen Ansatz ist eine Nation eine „historische Kulturgemeinschaft“ und ihre Kulturgeschichte an enquiry into the successive social and cultural self-images and sense of identity, the ideological conflicts and the social changes of a culturally defined population in a given area and/or polity. These self-images, identities, conflicts and changes stem from the interplay of competing cultural and political projects of the different classes, religious confessions and ethnic groups within a given area and population and/or polity, as well as the political impact of external collectivities and events, especially, but by no means exclusively, in the modern era of nationalism.⁶⁷

Smith möchte sowohl die sozialgeschichtliche als auch die symbolische Dimension der Nationsbildung erfassen und so vor allem den blinden Fleck in der Theoriebildung der Modernisten füllen. Denn die kommunizierten Inhalte der Nationalbewegungen spielen in deren Theorien keine wesentliche Rolle, da Kultur darin den strukturellen Veränderungen nachgeordnet ist. Zudem werden die Nationsbildungen als Eliten-Projekte verstanden. Smith hält dem entgegen, dass selbst wenn 64 Hobsbawm, Eric: Das Erfinden von Traditionen [dt. 1984], in: Christoph Conrad, Martina Kessel (Hg.): Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart 1998, S. 97–118; hier S. 115. 65 Hobsbawm 2004, S. 19 ff. 66 Vgl. Smith 1998 und Ders.: Ethno-symbolism and Nationalism, New York 2009. 67 Smith 2009, S. 39.

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Gelehrte Symbole, Traditionen, Erinnerungen, Mythen und Werte als Grundlage für eine bestimmte Nation selektieren, sie doch nur erfolgreich sein können, wenn sie in der angesprochenen Bevölkerung eine Resonanz erzeugen.⁶⁸ Nationalisten müssen bestimmte Saiten einer ethnischen Kernpopulation anschlagen. Insofern richtet Smith’ seinen Blick auch auf die „Innenwelt“ der Mitglieder von nationalen Gemeinschaften. Obwohl Smith stärker die kulturellen Voraussetzungen von „Nationen“ in den Fokus nimmt, bleibt er einem Essenzialismus verhaftet, der nach katalogisierbaren Eigenschaften von Nationalismen oder Nationen fragt. Selbst seine Annahme einer „plurality of components“ drückt diesen Ansatz aus: (. . . ) each nationalism and every concept of the nation is composed of different elements and dimensions, which we choose to label voluntarist and organic, civic and ethnic, primordial and instrumental. No nation, no nationalism, can be seen as purely the one or the other, even if at certain moments one or other of these elements predominates in the ensemble of components of national identity.⁶⁹

Er lässt demnach eine Dynamik des Konzepts „Nation“ in Abhängigkeit vom sich verändernden historischen Kontext zu. Dennoch bleibt die Annahme einer „nationalen Identität“ als Oberbegriff problematisch, da substanzialistisch. Ausgehend von Smith lässt sich feststellen, dass Nationalisten mit ihren symbolischen Repräsentationen an bestimmte kulturelle Elemente und Erfahrungen der zu mobilisierenden Bevölkerung anknüpfen müssen, wenn sie erfolgreich sein wollen. Alle bisher erwähnten Ansätze untersuchen die Entstehung von Nationalismus aus einer langfristigen Entwicklungsperspektive. Dabei rücken die Zufälligkeit von historischen Ereignissen, das situativ bestimmte Geschehen und damit die aktuellen Handlungen von Individuen in den Hintergrund. Brubaker fordert in diesem Zusammenhang eine Betrachtung von nationness as an event, as something that suddenly crystallizes rather than gradually develops, as a contingent, conjuncturally fluctuating, and precarious frame of vision and basis for individual and collective action, rather than as a relatively stable product of deep developmental trends in economy, polity, or culture.⁷⁰

68 Vgl. Smith 2009, S. 31. 69 Smith, Anthony D.: The Nation in History. Historiographical Debates about Ethnicity and Nationalism, Cambridge 2000; S. 25–26. 70 Brubaker, Rogers: Nationalism reframed. Nationhood and the national question in the New Europe, Cambridge 1996, S. 19. Die in der vorliegenden Studie untersuchten Romane veranschaulichen das in diversen Aufstands- oder Umsturzszenen. Vgl. das Kapitel zur Literatur.

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Der angenommene Ereignischarakter von „Nationstum“ rückt die Differenz zwischen nationalistischen Praktiken und der behaupteten „Nation“ stärker in den Blick. Dieser handlungsbezogene Ansatz leitet auch die vorliegende Arbeit.

Nationalismus als politisches Feld Innerhalb eines Staates oder einer sonstigen politischen oder territorialen Einheit von einem Nationalismus zu sprechen greift zu kurz, sobald die verschiedenen Interessenslagen analysiert werden. Rogers Brubaker⁷¹ betont, während er einen institutionellen Ansatz verfolgt, dass es sich bei den verschiedenen Nationalismen, die gleichzeitig in einem Staat wirksam sein können, um dynamische Prozesse handelt. Er stellt für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg eine neue Phase und Form der nationalen Frage für Zentral- und Osteuropa fest, für die eine konfliktträchtige, triadische Konfiguration aus nationalen Minderheiten, nationalisierenden Staaten und externen nationalen „Heimatländern“ charakteristisch sei, die durch die fehlende Übereinstimmung von politischen und kulturellen Grenzen erzeugt wurde.⁷² Abgesehen von irredentistischen Ansprüchen der „Heimatland“-Ungarn in der Nachkriegszeit stellte die in der Slowakei lebende ungarisch-sprachige Bevölkerung keine reale politische Gefährdung für die nun politisch dominierende slowakische Titularnation dar. Allerdings waren die kulturellen Spuren der gemeinsamen Vergangenheit mit den Ungarn schwer zu tilgen; etwa die mangelnde oder gänzlich fehlende Beherrschung der slowakischen Sprache in Wort respektive Schrift und damit die Slowakisierung der magyarophonen Bevölkerung. Insofern forderten sie den Staat heraus, der sich um die Slowakisierung bzw. um kulturelle Homogenisierung im Sinne des Staatsnationalismus bemühte. Wie wenig allerdings auch eine nationale Minderheit eine homogene Einheit ist, die vom externen „Heimatland“ ferngesteuert werden kann, belegt allein schon die Tatsache, dass polnische und auch ungarische Parteien Wahlbündnisse mit der slowakischen Volkspartei eingingen. Eine nationale Minderheit, so Brubaker, müsse man sich nicht vorstellen als fixed entity or a unitary group but rather in terms of the field of differentiated and competitive positions or stances adopted by different organizations, parties, movements, or indivdiual political entrepreneurs, each seeking to ‹represent› the minority to its own putative mem-

71 Brubaker 1996. 72 Brubaker 1996, S. 55.

2.2 Nationalismuskonzepte | 31

bers, to the host state, or to the outside world, each seeking to monopolize the legitimate representation of the group.⁷³

Die tschechoslowakische Republik stellte mit ihrer einheitlichen Staatsform und zwei Titularnationen eine Besonderheit dar, die auch die Position der slowakischen Nationalisten komplexer machte. Laut Brubaker ist eine nationale Minderheit eine umkämpfte Gruppe. Einerseits wird ein Kampf geführt, um eine Position vis-àvis dem Staat zu etablieren und zu unterhalten. Zum anderen wird ein Kampf geführt, um den Staat als nationalisierenden oder national unterdrückenden zu etablieren. Darin liegt das Mobilisierungspotenzial als nationale Minderheit. Die slowakischen Nationalisten nahmen – was über jene Analyse hinausgeht – eine doppelte Position ein. Zum einen repräsentierten sie gegenüber den nationalen Minderheiten in der Slowakei den nationalisierenden Staat; so wirkten sie am kulturellen Homogenisierungsprojekt mit und bezeichneten Slowaken in Gebieten mit überwiegend ungarischer Bevölkerung irreführend als „Minderheit“. Zum anderen nahmen sie die Haltung einer nationalen Minderheit gegenüber dem Staat ein. Die staatliche Nationalisierung wurde als Tschechisierung wahrgenommen und bekämpft. Die Slowaken waren in dieser Logik eine durch den Zentralstaat unterdrückte Nation, die ihre Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte erkämpfen musste. Der von Brubaker konstatierte externe Heimatland-Nationalismus spielte für die slowakischen Nationalisten keine entscheidende Rolle. Jedoch bleibt diese Stelle des Dreiecks nicht leer. Durch ihre Attitüde einer nationalen Minderheit gegenüber dem Zentralstaat wurden sie von Seiten der Tschechoslowakisten stets mit dem Vorwurf konfrontiert, Ungarns irredentistische Bestrebungen zu unterstützen. Die Tschechoslowaken reagierten, als hätten sie es mit einer nationalen Minderheit zu tun, nur wäre das „Heimatland“ eben ein „historisches“. Für die Mehrheit der slowakischen Nationalisten kam jedoch eine Rückkehr unter die ungarische Hoheit nicht in Frage. Stattdessen liebäugelten sie mit Polen, so dass ein Gedankenspiel nahelegt, dass Polen die Position als ein „external homeland“ für die slowakischen Nationalisten einnahm. Zumindest provozierten Prag die politischen und kulturellen Beziehungen zu Polen, welche slowakische Nationalisten im Alleingang unterhielten. Die Analogie zu den nicht-staatlichen, völkisch motivierten Deutschtumsaktivitäten in der Weimarer Republik macht diese Annahme noch plausibler. Wie die Idee des gemeinsamen Volkes die bestehenden Grenzen zwischen In- und Auslandsdeutschen abschwächen sollte⁷⁴, so diente im slowakisch-polnischen Fall die Betonung einer kulturellen Verwandtschaft dem

73 Brubaker 1996, S. 61. 74 Brubaker 1996, S. 122 f.

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ähnlichen Zweck. Die kulturellen Kontakte wurden öffentlich als eine autonome, staatsübergreifende Angelegenheit inszeniert. Auf der polnischen Seite erfuhren, anders als in der Slowakei, die polnisch-slowakischen Beziehungen sogar eine Institutionalisierung.⁷⁵ Eine für Zentraleuropa hilfreiche Unterscheidung ist jene von nation-building und Nationalisierung. Die ethnokulturelle Nationalisierung ist laut Brubaker charakteristisch für die Folgestaaten der großen multinationalen Reiche der Habsburger, Ottomanen und Romanovs. Kennzeichnend war eine Politik der Nationalisierung ausgehend von einer jeweils angenommenen „Kernnation“. Eine Reihe von Maßnahmen wurde für notwendig befunden, um die Sprache, die kulturelle Entfaltung, das demographische Übergewicht, das wirtschaftliche Wohlergehen und die politische Vorherrschaft der Kernnation zu gewährleisten.⁷⁶ Legitimiert wurden diese Vorstellungen als notwendige Kompensation vorangegangener Diskriminerungen der Nation. Brubaker weist darauf hin, dass in den sich nationalisierenden Staaten nationalistische Bewegungen mit klaren und spezifischen Zielen schwerer auszumachen sind als im Fall von Nationalismen, die erst auf die Bildung eines Staates abzielen. Nationalismus sei im Fall der sich nationalisierenden Staaten ein Aspekt nicht nur von Politik, sondern auch Teil zahlreicher informeller Praktiken. In der Slowakei verfügte Hlinkas Volkspartei mit ihren Anhängern und intellektuellen Mitarbeitern über ein klares nationalistisches Profil, da sie programmatisch eindeutig auf eine politische Autonomie und stärkere Partizipation der Slowaken an politischen Prozessen abzielte. Daneben gab es aber auch nationalistische Ziele und Praktiken nicht nur bei anderen Parteien, sondern auch Institutionen und Personen, die mit Nationalisierungsprojekten auf einzelne Bereiche der Gesellschaft einwirkten.⁷⁷ Zu differenzieren ist im vorliegenden Fall die ethnokulturelle Ausrichtung der Nationalisierung. Nationalisierung, das heißt eine kulturelle Homogenisierung, wird zumeist von Dissimilation begleitet. Wenn etwa nach Kriegsende zahlreiche ungarische Beamte entlassen, zur Auswanderung gedrängt und durch Tschechen oder Slowaken ersetzt wurden, ist das Ausdruck einer dissimilatorischen Politik. Diese Unterscheidung findet sich auch im informellen Bereich, wie ihn die Literatur darstellt. So sind in den Darstellungen magyarisierte Slowaken Ziel der Assimilation, Deutsche und Juden indes der Dissimilation. Die ethnokulturelle Differenz soll dort nicht überwunden, sondern zementiert werden.

75 Die Rolle Polens für die slowakischen Nationalisten wird in mehreren Abschnitten dieser Studie an konkreten Beispielen untersucht. 76 Brubaker 1996, S. 83. 77 Das wird im Kapitel zur institutionellen Praxis ausführlich behandelt.

2.2 Nationalismuskonzepte | 33

Akteure des Nationalismus Noch bevor sich das Modernisierungsparadigma in der westlichen Nationalismusforschung durchsetzte, veröffentlichte Miroslav Hroch 1968 seine vielbeachtete Studie „Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas“⁷⁸. Er setzte sich unverkennbar mit den Vorgaben einer marxistischen Historiographie auseinander. Er stellte deren Prämisse in Frage, wonach der Nationalismus vom kapitalistischen Großbürgertum hervorgerufen wurde. Mit sozialhistorischer Methodik zeigt er, dass die Verbreitung des Nationalismus über verschiedene Trägerschichten und Phasen verlief, wobei in der Phase, als er zum Massenphänomen avancierte, Angehörige der unteren Schichten, etwa der kleinbürgerlichen, die wichtigsten Akteure waren. Bemerkenswert ist, abgesehen vom Erfolg seines Phasenmodells, insbesondere Hrochs Fokus auf den sozialen Hintergrund der Akteure des Nationalismus zusammen mit einem länderübergreifenden Vergleich. Nach seinem Ansatz liegen soziale Schichten dem Nationalismus als Bewegung zugrunde, entscheidende Determinanten sind die sozioökonomischen Bedingungen. Den Blick auf einzelne Akteure warfen in der jüngeren Vergangenheit vor allem jene Forscher, die sich mit einem „kulturellen Nationalismus“ befassen. Das liegt nicht zuletzt am Werk- und Autorbegriff im 20. Jahrhundert. Insbesondere John Hutchinson⁷⁹ hat in seinen Untersuchungen des irischen Nationalismus mit analytischer Absicht politischen und kulturellen Nationalismus unterschieden. Ähnlich wie Kedourie vertritt er die Auffassung von einer elitären Urheberschaft nationalistischer Ideen, die an eine Gruppe intellektueller Praktiker wie Journalisten und Politiker weitergegeben werden. Es ist charakteristisch für eine kulturhistorische Schule noch vor der Wende durch die Cultural Studies – dazu gehört neben Hutchinson auch Smith – dass sie von lange vor den modernen Nationen bestehenden Nationen oder ethnischen Vorformen ausgehen: „Its [cultural nationalism’s; Verf.] effectivness rests on its ability to evoke and appropriate genuine communal memories linked to specific homelands, cultural practices and forms of socio-political organization.“⁸⁰ Zu dieser Replik hatte Hutchinson Kedouries Annahme von Nationen als rein intellektuellen Konstrukten bewogen. Gleichwohl dichotomisiert er Kultur und Politik, begründet durch eine chronologische Abfolge:

78 Hroch, Miroslav: Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas: eine vergleichende Analyse zur gesellschaftlichen Schichtung der patriotischen Gruppen, Prag 1968. 79 Hutchinson, John: The Dynamics of Cultural Nationalism. The Gaelic Revival and the Creation of the Irish Nation State, London 1987. 80 Hutchinson 1987, S. 20.

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Indeed, the struggle for nationhood in the modern world has everywhere been preceded by emerging cultural nationalist movements. These movements have formed recurrently in posteighteenth century societies as historico-cultural revivals, in order to propound the idea of the nation as moral community, and have inspired rising social groups to collective political action. (S. 2)

Hier drückt sich eine grundsätzliche Dichotomie von Theorie und Handeln aus, wonach „Kultur“ als etwas Theoretisches aufgefasst wird, „Politik“ hingegen als Handlung – eine Vorstellung, die auch Kedouries Denken prägte. Die neueren Auseinandersetzungen mit Intellektuellen als Akteuren von Nationalismen unterscheiden sich gerade in dieser Frage aufgrund des Einflusses von Foucaults Diskursanalyse, aber auch der kultursoziologischen Arbeiten Pierre Bourdieus. Nun steht nicht mehr die Rekonstruktion der Enstehungs- oder Wirkungsgeschichte von bestimmten Ideen und Lehren im Zentrum, sondern Symbolisierungen als Wirkungsmechanismen von sozialen, politischen, wirtschaftlichen und besonders Machtverhältnissen. Als konzeptionell am Übergang zwischen den verschiedenen Traditionen stehend ist Liah Greenfelds vielbeachtete, begriffs- und sozialgeschichtlich angelegte Untersuchung „Nationalism. Five Roads to Modernity“⁸¹ zu verorten. Die Verfasserin hinterfragt darin implizit das Modernisierungsparadigma aus den Achtzigerjahren.⁸² Ohne Kedourie oder Gellner namentlich zu erwähnen, taucht doch deren Annahme, dass die intellektuellen Urheber des Nationalismus versuchten, eine angemessene Stellung in der Gesellschaft zu erlangen, zentral bei Greenfeld wieder auf. Die idealisierten Vorstellungen von Nation und Staat hätten, so Kedourie, viel mit ihrer Unzufriedenheit, mit fehlenden Karrierechancen und mangelndem Ansehen zu tun gehabt.⁸³ Liah Greenfeld konstruiert auf dieser Annahme (anglozentrisch) die Entwicklungslinien von Nationalismus ab dem 16. Jahrhundert in England. Als zentrale Motivation für nationalistische Bestrebungen etabliert sie dabei mit dem Begriff „Würde“ (dignity) eine anthropologische Größe. „The concept of the nation presupposed a sense of respect toward the individual, an emphasis on the dignity. One was entitled to nationality (membership in a nation) by right of one’s humanity.“ (S. 31) Sie bindet den so entstehenden Nationalismus an das Auftreten einer sozial mobilen Gruppe oder Schicht, die für ihren Aufstieg eine

81 Greenfeld, Liah: Nationalism. Five Roads to Modernity, Cambridge 1992. 82 Auch andere Arbeiten versuchen die Dominanz dieses Ansatzes zu überwinden, z. B. Geary, Patrick J.: The Myth of Nations. The Medieval Origins of Europe, Princeton 2001; Perkins, Mary Anne: Nation and Word 1770–1850. Religious and metaphysical language in European national consciousness, Sydney 1999. 83 Über die sozial bedingte Frustration von Intellektuellen äußert sich auch Gellner in „Nationalism“, in Gellner 1964, S. 169.

2.2 Nationalismuskonzepte | 35

narrative Legitimation sucht, indem sie sich eine Identität als „Nation“ gibt. Der Begriff „Nation“ wird dadurch bei Greenfeld zu einer sozialen Repräsentation. Die Gesellschaft wurde grundsätzlich verändert, indem ihr neu das Prinzip der Nationalität (nationality) zugrunde gelegt wurde. Die „Nationalität“, also die Zugehörigkeit zu einer Nation, erhöhte den Status jedes Mitglieds der Gemeinschaft, machte es somit souverän und gab ihm einen Grund stolz zu sein: „National identity is, fundamentally, a matter of dignity.“ (kursiv i.Orig.; S. 487) Die Rede von der Würde weist auf den Mangel derselben hin, auf eine prekäre soziale und wirtschaftliche Stellung bestimmter aufstrebender Gruppen. In jeder der fünf Fallstudien gibt es eine bereits vorhandene oder eine drohende asymmetrische Stellung einer sozialen Gruppe innerhalb der Gesellschaft, die zur treibenden Kraft auf der Suche nach einem alternativen Gesellschaftskonzept wird. Begleitet wird in Greenfelds Darstellung dieser Weg in die Moderne von einem institutionellen Wandel. Indem Greenfeld die Bedeutung von Statusfragen und damit verbunden die Würde im Prozess sozialer Transformationen herausarbeitet, weist sie auf die handlungsleitende Rolle von symbolischen Repräsentationen hin. Dessen ungeachtet behält sie die Elitenperspektive von Kedourie bei, wenn sie zum Schluss kommt, dass die Entstehung von Nationen oder Nationalstaaten ein Produkt der Vorstellungskraft sind: The basic framework of modern politics – the world divided into nations – is simply a realization of nationalist imagination; it is created by nationalism. The internal political structures of different nations reflect the original definitions of nationality in them, specifically whether it is defined as individualistic or collectivistic, and as civic or ethnic.⁸⁴ (S. 488)

Diese Art der „Vorstellung“ hat in der Tat wenig mit Benedict Andersons „imagined communities“, den sozialen Repräsentationen zu tun, als wiederum eher mit politischer Programmatik. Im Gegensatz zu den Modernisierungstheoretikern (re-)konstruiert Greenfeld einen kontinuierlichen, mehrheitlich intellektuellen nationalistischen Diskurs, der auf der einmal etablierten Idee der Nation beruht. Obgleich sie versucht, die Bedeutung von Machtfragen zugunsten der „Würde“ für die Entstehung von Nationen zu relativieren, ist deren Rolle dennoch nicht zu unterschätzen. Den sozialen Gruppen ging es in der Regel um die Erlangung oder Wahrung von Privilegien, was in allen untersuchten Gesellschaften an eine bessere Stellung innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie geknüpft und somit gerade nicht von der Machtfrage

84 Die Systematik dieser Aufzählung von Unterscheidungen ist unverständlich. Civic und ethnic nationalism sind m. E. spezifisch attribuierte Formen von individualistic (i. e. civic) und collectivistic (i. e. ethnic) nationalism.

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zu trennen war. Greenfeld zieht eine scharfe Trennlinie zwischen nationalistischen Intellektuellen, die von der Liebe zur Nation getrieben worden seien und eine Ideologie schufen, auf der nationale Identität und nationales Bewusstsein beruhen würden, und der politisch aktivistischen, xenophobischen Variante von nationalistischem Patriotismus.⁸⁵ Auch diese Differenzierung folgt der Vorstellung von Kultur als Theorie und Politik als Praxis, wie sie den älteren Arbeiten von Kedourie, Hroch und Hutchinson zugrunde liegt. Die Fokussierung auf die Identitätsfrage, wie eine Gruppe oder Gemeinschaft sich selber sieht und darstellt, bringt ebenfalls mit sich, dass die Machtfrage in den Hintergrund tritt. Das Thema kollektive Identitäten wird in der aktuellen Geschichtsforschung breit untersucht. Auch Greenfelds Untersuchung steht in diesem Kontext. Ein kritischer Einwand gegen die Identitätsforschung wäre deren stillschweigende Annahme, dass Individuen, Gruppen, Gemeinschaften vor allem darauf abzielen, eine gemeinschaftliche Identität zu erlangen. Hier fragt sich, inwiefern die Identitätsfrage, die angesichts des raschen sozialen Wandels und der Globalisierung in heutigen Industriegesellschaften den intellektuellen Diskurs dominiert, auf Fragestellungen der historischen Forschung projiziert wird. In der Arbeit von Greenfeld kommt es vor diesem Hintergrund zu einer fragwürdigen teleologischen Geschichtsrekonstruktion in Richtung auf die Nationswerdung, die jede Diskontinuität oder den nationalistischen entgegenlaufende Entwicklungen nur als Verzögerung oder verpasste Chance liest. So hätten laut Greenfeld die Vertreter der Reformation in Deutschland etwa die Chance, eine Nation zu werden, seinerzeit verpasst, obwohl das Potenzial vorhanden gewesen wäre.⁸⁶ Nicht klären kann Greenfeld mit ihrem Ansatz die Mechanismen von identifikatorischen Vorgängen in bildungsfernen Schichten. Ein pragmatisch geprägter Ansatz ließe einen Spielraum, um den Erfolg – oder eben Misserfolg – von Nationalisierungsprojekten ergründen zu können. Brubaker etwa stellt bei sich herausbildenden Eliten einen gewissen Opportunismus fest, weil diese nur durch nationalisierende Positionen der einen oder anderen Art ihre Stellung in Institutionen halten könnten.⁸⁷ Auf der anderen Seite findet er gegenläufige ethnische oder nationale Identifizierungen in der Alltagspraxis einfacher Leute – ebenfalls aus praktischen Erwägungen. In diesem Licht ist auch die obsessive nationalistische Praxis slowakischer Künstler und Intellektueller zu sehen, die sich nach 1918 plötzlich der Arbeit an der

85 Greenfeld 1992, S. 3. 86 Greenfeld 1992, S, 278 f. 87 Brubaker 1996, S. 66, Anm. 14. Brubakers Untersuchungen von ethnisch basierten Gruppenbildungen beruhen gerade auf der Erkenntnis von widersprüchlichen offiziellen und individuellen Identifizierungen.

2.3 Ein kulturhistorischer Ansatz | 37

Nationalkultur zuwandten. Durch die Beteiligung an einem der Nationalisierungsprojekte konnten sie die Kriterien für eine neue Elite überhaupt erst entwickeln und Teil davon werden. Der dafür notwendige Machtzuwachs ließ sich nur über die handlungspraktische Verbindung von kulturellem und politischem Feld erreichen.

2.3 Ein kulturhistorischer Ansatz Weder Urheber- noch Werkgedanke sind hilfreich, wenn Texte im historischen Kontext auf ihre Bedeutungen und Analysekraft im Zusammenhang mit bestimmten Nationalisierungstendenzen befragt werden sollen. Symbolische Repräsentationen einer Gesellschaft müssen mit ihren jeweiligen Bezugsgrößen konfrontiert werden, das heißt mit außertextlichen Referenzen wie biografischen Hintergründen, institutionellen Prozessen oder sozialen Netzwerken.⁸⁸ Nicht-essenzialistische oder nicht-substanzialistische Konzepte wie das Konzept eines veränderlichen sozialen Netzwerks sind nützlich, weil sie nicht sogleich zur Verdinglichung, etwa der Idee einer „Gruppierung“, neigen. Der Versuch von Netzwerk-Akteuren besteht darin, die „Nation“ durch ihre Praxis zu verdinglichen, das heißt eine bestimmte gesellschaftliche Realität herzustellen, über ein durch bestimmte Ereignisse hervorgerufenes Zusammengehörigkeitsgefühl, das wiederum als variabel und zufällig zu verstehen ist.⁸⁹ Die selbstauferlegte Aufgabe nationalistischer Akteure besteht darin, bestimmte Kategorien zu bilden, zu propagieren und durchzusetzen, die die Rezipienten, die Angehörigen der projektierten Nation, sich aneignen und internalisieren. Als wichtiges Vehikel dient dabei die „Nationalkultur“ mit der spezifischen Funktion, die Individuen unter einer kulturellen Identität zu vereinigen und diese mit der Mitgliedschaft im politischen Nationalstaat zusammenzufügen. Letztlich ist das Ziel, so Gellner, „Kultur und Staatswesen deckungsgleich zu machen“⁹⁰. Stuart Hall weist darauf hin, dass disparate Kulturen sich nicht ohne die gewaltsame Unterdrückung kultureller und sozialer Differenzen in eine einheitliche Kultur

88 Im Bezug auf die „Nation“ als symbolische Repräsentation einer politischen Institution beispielsweise ist die Entscheidung für eine einheitliche – durch einen charismatischen Führer – oder eine pluralistische Repräsentation – durch ein Parlament – interessant. Vgl. Pyta, Wolfram: Antiliberale Ideenwelt in Europa bei Kriegsende, in: Christoph Gusy (Hg.), Demokratie in der Krise: Europa in der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2008, S. 86–104; hier S. 99 – Im Kapitel zur literarischen Praxis dieser Studie wird die literarische Gestaltung einer charismatischen Führerfigur analysiert. 89 Vgl. Brubaker, Rogers: Ethnizität ohne Gruppen, Hamburg 2007, S. 21 ff. 90 Ernest Gellner, zit. nach Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität, Hamburg 1994, S. 205.

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verwandeln lassen. Dementsprechend seien nationale Kulturen als diskursive Entwürfe zu denken, die Differenzen lediglich als Einheit oder Identität darstellen: „Sie sind von tiefen inneren Spaltungen und Differenzen durchzogen und nur durch Ausübung kultureller Macht ‚vereinigt‘.“⁹¹ Bei der Unterdrückung von kulturellen Differenzen kommt es zwangsläufig zum Widerstand marginalisierter Akteure.

Kultur als Praxis Akzeptiert man, dass eine slowakische Nation 1918 primär eine symbolische Repräsentation ist, die von Nationalisten verbreitet wird, hilft es, Kategorien wie „national“ oder „ethnisch“ analytisch zu betrachten. In einem die zeithistorischen Ereignisse deutenden Romankosmos etwa zeigt sich, wie solche Kategorien das Handeln und die Beziehungen von Menschen oder Organisationen bestimmen. Um diese ethnokulturelle bzw. nationale Kategorie ist kulturelles Wissen organisiert, das befähigt, unbekannte Andere aufgrund von Merkmalen wie Sprache, Akzent, Namen oder Erscheinung einer bestimmten ethno-nationalen Kategorie zuzuordnen.⁹² Im Konzept der „Slowakizität“ etwa werden die Merkmale der Kategorie „slowakisch“ literarisch umrissen. Die Funktion von ethnischen Kategorien besteht nicht nur darin, Wahrnehmung und Interpretation zu strukturieren, sondern das Verhalten zu kanalisieren: So können ethnische (und andere) Kategorien benutzt werden, um Rechte zuzuweisen, das Handeln zu regulieren, Nutzen und Lasten zu verteilen, kategoriespezifische Institutionen zu schaffen, bestimmte Personen als Träger kategorialer Eigenschaften zu identifizieren, Bevölkerungen zu ‚züchten‘ oder, im Extremfall, unerwünschte ‚Elemente‘ ‚auszurotten‘.⁹³

Wie Brubaker aber zeigt, muss die Etablierung einer bestimmten ethnischen Kategorie in der Alltagswelt nicht zwangsläufig zum Nationalismus und zu ethnisch motivierten Konflikten führen. Es ist auf jeden Fall zwischen einer nationalistischen Elite, die den Anspruch erhebt, für eine bestimmte Gruppe zu sprechen, und einer Bevölkerung zu unterscheiden, die diese Behauptung, eine ethno-kulturelle Gruppe zu sein, durch ihr abweichendes Verhalten oft widerlegt. Nach Bourdieus kultursoziologischer Praxistheorie werden soziale Akteure gerade nicht von Rationalität oder Intentionalität geleitet, sondern von ihrem praktischen Sinn, der sich durch die Anforderungen der Praxis ergibt. Das heißt,

91 Hall 1994, S. 206. 92 Ich folge den Ausführungen zur ethnokulturellen Kategoriebildung bei Brubaker 2007, hier bes. S. 41 f. 93 Brubaker 2007, S. 43.

2.3 Ein kulturhistorischer Ansatz | 39

die Akteure bringen soziale Voraussetzungen mit, indem sie ihre Geschichte und Gesellschaft als „Dispositionen, Bewegungen, Haltungen ihrer Körper (. . . ) Verhaltensweisen bzw. Distanzstrategien“ stets mit sich herumtragen.⁹⁴ Bourdieu verwendet dafür den Begriff „Habitus“. Zu inkorporierten Mustern lassen sich in einem weiteren Sinne Bedeutungen zählen, die in künstlerischen Imaginationen enthalten sind. Solche kulturellen Muster, die dem Denken der jeweiligen nationalistischen Schriftsteller zu Grunde liegen, werden in der vorliegenden Studie exemplarisch in der institutionellen, publizistischen und literarischen Praxis als Belege unbewusster Motivationen kenntlich gemacht: Begriffe wie Habitus, Praxis usw. hatten unter anderem die Funktion, daran zu erinnern, dass es ein praktisches Wissen gibt, eine praktische Erkenntnis; dass in gewissem Sinne die Akteure besser über die soziale Wirklichkeit Bescheid wissen als die Theoretiker; und dennoch daran festzuhalten, dass sie nicht wirklich Bescheid wissen und dass die Arbeit des Wissenschaftlers darin besteht, dieses praktische Wissen explizit zu machen.⁹⁵

Die Theorie der Praxis nach Bourdieu richtet den Fokus auf das Handeln der Akteure, und nicht ihre Intentionen. Kultur wird dabei zum Handlungsrepertoire, zur alltäglichen symbolischen Dimension der Praxis. „Sie steht deshalb nicht im Gegensatz zur Gesellschaft, da sie als notwendiger Bestandteil der Strukturierung der die Gesellschaft konstituierenden Praxis verstanden wird.“⁹⁶ Daraus leitet sich die zentrale Frage ab, wie bestimmte Praktiken und ein in der Kultur manifestierter Sinn zusammenhängen, bzw. wie symbolische Formen Praktiken und Praxisformen bedingen und dadurch erst ermöglichen. Zur Erklärung der Entstehung von Praxisformen ist folglich die Thematisierung der Wechselwirkung zwischen sozialer Wirklichkeit, die sich in Praktiken und Praxisformen manifestiert, und ihrer kulturellen Repräsentation notwendig (. . . ).⁹⁷

Nach Bourdieus Verständnis sind Praktiken weder einfach Folgen äußerer Ursachen, noch beruhen sie auf Kalkulationen von Gewinnchancen und Handlungsfolgen⁹⁸, wie Ernest Gellner etwa als klassischer Soziologe die von Nationalisten mutmaßlich angestrebte Marktabschottung erklärte. 94 Ebrecht, Jörg, Hillebrandt, Frank (Hg.): Bourdieus Theorie der Praxis. Erklärungskraft – Anwendung – Perspektiven, Wiesbaden 2002, S. 8. 95 Bourdieu, Pierre: „Inzwischen kenne ich alle Krankheiten der soziologischen Vernunft“, in: ders. et al.: Soziologie als Beruf, New York 1991, S. 275. Zit. nach Hillebrandt, Frank: Praxistheorie, in: Georg Kneer, Markus Schroer (Hg.), Handbuch Soziologische Theorien, Wiesbaden 2009, S. 369– 394; hier S. 376. 96 Hillebrandt 2009, S. 384. 97 Hillebrandt 2009, S. 385. 98 Ebrecht/Hillebrandt 2002, S. 11.

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Um die Kategorie „national“ zu etablieren, genügt es nicht, die technischen Voraussetzungen zu haben, etwa ein liberales Pressegesetz, möglichst wenig Zensur und eine Druckindustrie zu erschwinglichen Preisen. Auch der Wille und die Überzeugung einer intellektuellen Elite reichen nicht aus. Die Attribute der „Nation“ müssen darüber hinaus auf einen möglichst großen Resonanzraum treffen, das heißt sich mit den individuellen Vorstellungen der Bevölkerung zur Deckung bringen lassen. Aus den Härten einer wirtschaftlichen Krise etwa, deren Schuldige sich außerhalb der Angehörigen der Nation festmachen lassen, können Nationalisten – wie im Falle der slowakischen – politisches Kapital schlagen, wenn die Vorstellung etabliert ist, dass die Anderen stets Schuld sind am eigenen Übel. Die Idee des Feldes nach Bourdieu gestattet die modellhafte Annahme von abgrenzbaren und zugleich durchlässigen gesellschaftlichen Sphären. Demnach lassen sich das politische und das kulturelle Feld gegeneinander abgrenzen bzw. die kulturellen Subfelder Kulturinstitutionen und Literaturbetrieb unterordnen. Für den Nationalismus ist das Überlappen verschiedener Felder sowie die Durchlässigkeit für die Akteure wesentlich, damit parallele Aktivitäten in Politik, Journalismus, Literatur sowie Kulturinstitutionen möglich sind.

Die symbolische Macht der Sprache Es stellt sich die Frage, weshalb infolge des Herrschaftswechsels in der Slowakei erneut die Sprache eine solche Bedeutung erlangte. Mit Donald Horowitz findet sich eine Antwort im symbolischen Potenzial von Sprache: „Language issues are symbolically capable of weaving together claims to exclude others with claims to shore up uncertain group worth. Language is the quintessential entitlement issue.“⁹⁹ Sprachen eignen sich demnach zu Gruppenbildungsprozessen, die an ein Machtgefälle zwischen einer dominanten und einer dominierten Gruppe gebunden sind. Miroslav Hrochs Analysen von nationalen Bewegungen bei den Slawen im 19. Jahrhundert bestätigen diese Erkenntnis. Entscheidende Voraussetzungen für die massenhafte Unterstützung linguistischer Programme seien Spannungen in der sozialen Sphäre: „The more difficulties that the members of a nondominant ethnic group had in moving from the lower to the higher classes, the more significant was the association between their language and the social position they

99 Horowitz, Donald L.: Ethnic Groups in Conflict, Berkeley 1985, zit. nach Safran, William: Nationalism, in: Joshua A. Fishman (ed.), Handbook of Language and Ethnic Identity, Oxford 1999, S. 77–93; hier, S. 86.

2.3 Ein kulturhistorischer Ansatz |

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occupied.“¹⁰⁰ Ein weiterer Grund, weshalb sich die Sprache als programmatisches Element für fast alle slawischen Nationalbewegungen geeignet habe, liegt nach Hroch in der politischen Unerfahrenheit der involvierten sozialen Gruppen. Ethnolinguistische Argumente seien verständlicher als abstrakte politische Theorien. Dies träfe ebenfalls auf die jungen slowakischen Nationalisten zu, deren nationalistisches Engagement aus der Beschäftigung mit Sprache und Literatur erwuchs, und die sich erst im Laufe der Jahre politische Bildung und Erfahrung aneigneten. Die doppelte Funktionsweise von gleichzeitigem Ausschluss und versuchter Statuserhöhung über Sprachfragen, die Horowitz konstatiert, lässt sich zum Beispiel an der Gründung des Slowakischen Schriftstellerverbandes (SSS) illustrieren. Als Mitglieder des Schriftstellerverbandes waren ausschließlich Slowaken zugelassen. Das Ausschlusskriterium war das Schreiben auf Slowakisch, womit ungarisch-, tschechisch- oder deutschsprachige Autoren von der Mitgliedschaft ausgenommen waren. Jüdische Schriftsteller stellten insofern kein Problem dar, als es unter den slowakisch schreibenden lediglich einen gab. Der Verband erhob den Anspruch, die slowakischen Schriftsteller in der Slowakei zu repräsentieren sowie ihre Stellung und die der slowakischen Sprache als Literatursprache zu stärken. Das Verhältnis von Sprache und Nationalismus hängt wesentlich von der Art des Nationalismus ab, intendiert William Safran. Unterscheidet man politischen von kulturellem Nationalismus, nimmt die Sprache eine jeweils andere Position darin ein: The foregoing suggests that the relationship between a „civic“ (or political) and an „ethnic“ (or cultural) nation is reciprocal; it is a two-way process in which a preexistent language facilitates the creation of a state, and in which the state, once established, legitimates and develops a language and a culture laden with statespecific ingredients.¹⁰¹

In einem politischen Nationalismus, so Safran, tendiert die Sprache dazu, das Produkt der staatlichen Politik zu sein. Er denkt dabei vermutlich an das französische Beispiel, wonach im Ergebnis der Französischen Revolution das Hochfranzösische das Patois verdrängte. Im ethnischen Nationalismus hingegen sei die Sprache ein wichtiges Element einer organischen historischen Gemeinschaft, die zu einem Staat aufsteigt. Nach diesem Modell lässt sich die Politisierung der Sprachenfrage in der Tschechoslowakei zumindest ein Stück weit erklären: Aufgrund der verschiedenen nationalistischen Perspektiven war auch der Umgang mit der Sprache so unterschiedlich. Während aus der Sicht des tschechoslowakischen politischen

100 Hroch, Miroslav: The Slavic World, in: Joshua A. Fishman (ed.), Handbook of Language and Ethnic Identity, Oxford 1999, S. 319–333; hier S. 330. 101 Safran 1999, S. 84.

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Nationalismus das abstrakte Konzept einer tschechoslowakischen Sprache mit zwei unterschiedlichen Realisationen durchaus denkbar war, schien dies aus der Sicht der ethnisch argumentierenden slowakischen Nationalisten unvorstellbar. Die Argumente der genannten Autoren haben eine begrenzte Erklärungskraft. Ihre Analysen beschränken sich auf das beschreibbare Phänomen der linguistischen Argumentation innerhalb konkreter historischer Nationalismen. Weiter geht hingegen Pierre Bourdieu, der Sprache in einer kultursoziologischen, gesellschaftsbildenden Perspektive in eine funktionale Beziehung zu Machtfragen setzt. In seinen Untersuchungen über die Durchsetzung einer einheitlichen Amtssprache in Frankreich deckt Pierre Bourdieu die Möglichkeiten von Sprache auf: One should never forget that language, by virtue of the infinite generative but also originative capacity – in the Kantian sense – which it derives from its power to produce existence by producing the collectively recognized, and thus realized, representation of existence, is no doubt the prinicpal support of the dream of absolute power.¹⁰²

Für die vorliegende Untersuchung ist gerade diese kollektiv anerkannte Repräsentation von Existenz von Interesse. Denn es stellt sich die Frage, worauf genau denn die kollektive Anerkennung im Fall der slowakischen Nationalisten beruhte. Und zwar ist Sprache der Schlüssel zur „symbolischen Macht“: Symbolic power – as a power of constituting the given through utterances, of making people see and believe, of confirming or transforming the vision of the world and, thereby, action on the world and thus the world itself, an almost magical power which enables one to obtain the equivalent of what is obtained through force (whether physical or economic), by virtue of the specific effect of mobilization – is a power that can be exercised only if it is recognized, that is, misrecognized as arbitrary.¹⁰³

Symbolische Macht funktioniert demnach nur, wenn sie als legitime, natürliche Macht erscheint. Deshalb muss sie ihre Konstruiertheit verbergen und den Glauben an ihre Legitimität durch immer wieder neue Äußerungen produzieren und reproduzieren. Der Aspekt der kontinuierlichen sprachlichen Produktion lässt sich als Teil des Kampfes um die politische Macht in der Slowakei in der Zwischenkriegszeit lesen. Mit Vehemenz publizierten die verschiedenen Kräfte Zeitungstexte und andere Broschüren. Es brach ein regelrechter publizistischer Krieg aus, in dem es vielfach zu heftigen und aggressiven Polemiken kam, um die eigene Position immer wieder plausibel zu machen und zu verteidigen. Eine für die Betroffenen zermürbende Fortsetzung fanden solche Zeitungspolemiken oft im Gerichtssaal.

102 Bourdieu 1995, S. 42. 103 Bourdieu 1995, S. 170.

2.3 Ein kulturhistorischer Ansatz |

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Der Gang vors Gericht bezeugt zum einen den hohen Stellenwert der Justiz als Legitimierungsinstanz, zum anderen auch die faktische Bedeutung sprachlicher Äußerungen und deren Legitimität bzw. Illegitimität, die vom Gesetz, das heißt ebenfalls durch eine (juristische) Sprache, beglaubigt wurden. Vielmehr jedoch als die Inhalte der umstrittenen sprachlichen Äußerungen sind die Legitimierungspraktiken Ausdruck des Kampfes um die symbolische Macht im bourdieuschen Sinne. Ein bedeutender argumentativer Schauplatz von Slowakisierern und Tschechoslowakisierern war gerade die Frage nach der legitimen Sprache. Dabei ging es nur zum Teil darum, ob Tschechisch oder Slowakisch verwendet werden sollte. Wesentlich war für die slowakischen Nationalisten die Frage nach der Beschaffenheit des Slowakischen, was sich aus der legitimierenden Funktion ergab. In der Frage der Legitimation von Machtansprüchen unterscheidet sich Bourdieus Ansatz wesentlich von den oben vorgestellten.

Praxisbeispiel Antisemitismus Im Rahmen der vorliegenden Studie wird das Thema Antisemitismus berücksichtigt, sofern der Antisemitismus eine wesentliche Rolle in den Nationsentwürfen von Schriftstellern und Journalisten/Politikern spielt. Ein nützlicher Begriff ist in diesem Zusammenhang der „nationale Antisemitismus“, wie ihn Klaus Holz¹⁰⁴ empirisch herleitet. Er geht davon aus, dass „Juden“ in einer binären nationalistischen Semantik als das ausgeschlossene Dritte konstruiert werden. Das binäre Schema konstituiert eine Welt, die aus Nationen – wir/andere Nationen – besteht, wobei die konstruierte Nicht-Identität der Juden die national verfassten Identitäten bedroht. Paradoxerweise wird aber in der nationalistischen Weltanschauung die Nicht-Nation gleichwohl als Nation dargestellt, woraus sich eine Ambivalenz ergibt. Holz betont, dass diese Konstruktion sich nicht aus der jüdischen Sozialgeschichte ergibt, sondern jene höchstens zu Scheinbelegen beizieht. Die Ambivalenz der „nicht-nationalen Nation“ dient dem nationalen Antisemitismus als Gegenbegriff zur „Nation“. „Der Antisemitismus kann die nationale Ordnung der Welt, deren Fokus die nationale Identität der Wir-Gruppe ist, als Gewissheit präsentieren, da er die Infragestellung dieser Konstruktion im „Juden“ personifiziert. Aus der Ungewissheit wird das Schreckbild, das man bekämpfen kann.“¹⁰⁵

104 Holz, Klaus: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001. 105 Holz 2001, S. 544.

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Personifizierung ist per se ein literarisch fiktionalisierendes Verfahren. Dementsprechend ist davon auszugehen, dass sofern antisemitische Darstellungen von Juden in den zu analysierenden Texten eine Rolle spielen, sie Repräsentationen bestimmter ideologischer Vorstellungen sind. Diese werden im historischen Kontext gedeutet. Eine ebenfalls für die vorliegende Studie relevante Erkenntnis Holz’ ist, dass der nationale Antisemitismus seine weltanschauliche Breite erst durch die Verbindung der beiden Gegensatzpaare Identität/Nicht-Identität und Gemeinschaft/Gesellschaft gewinnt. In der Gemeinschaft als Modell einer Sozialform geht Identität vor Differenz, die Gruppe vor Einzelne, Moral vor Herrschaft und Interessen. Durch die Verbindung von Gemeinschaft und nationaler Identität entsteht eine exklusive Wir-Gruppe, die sich durch verschiedene Attribute auszeichnet. Fremde gelten als Glieder anderer Gemeinschaften bis auf die Juden, die mit dem antagonistischen Sozialmodell ‹Gesellschaft› identifiziert werden. Der Inbegriff dessen, so Holz, ist die Unterscheidung zwischen der ‚Produktionsgemeinschaft Volk‘ und dem ‚jüdischen Finanzkapital‘. ‚Gesellschaft‘ entspricht der konstruierten Nicht-Identität von Juden: nicht-reziproke, unbegrenzte, durch konkurrierende Interessen und durch Medien vermittelte Sozialbeziehungen, die prinzipiell jeder Person offenstehen, aber keine Person umfassend inkludieren. Aus der Perspektive einer Gemeinschaftssemantik erscheint die ‚Gesellschaft‘ deshalb als individualistisch, abstrakt, künstlich, auflösend, zersetzend.¹⁰⁶

Beide Gegensatzpaare werden dahingehend personifiziert, dass die Wir-Gruppe als Opfer und die Juden als Täter erscheinen. Aus diesen Gegensatzpaaren ergibt sich, was die Juden sind: agierende Täter, die aus „anonymen Verhältnissen“ – der Presse, dem Geld, der Großstadt – hervorgehen. Der Antisemitismus wird dann zur berechtigten und rationalen Gegenwehr.¹⁰⁷

Antiliberaler Modernismus Nimmt man eine nationalistische Moderne als thematisch bestimmte Subströmung der Moderne an, müsste sich diese zum einen hinreichend durch bestimmte gemeinsame Merkmale als moderne literarische Strömung ausweisen, zum anderen sich aber auch deutlich von anderen Strömungen abgrenzen lassen.

106 Holz 2001, S. 545. 107 Analoge Darstellungen von Feinden der Nation lassen sich auch bei Vertretern einer nichtantisemitischen Moderne- bzw. Liberalismuskritik finden. Für eine Differenzierung wäre hier nach zugrundeliegenden legitimatorischen Konzepten zu fragen.

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Mit dem Ästhetizismus um 1900 hätte die nationalistische Moderne die Distanzierung von den gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen gemein; zudem ist anzunehmen, dass sie diese nicht einfach ablehnte, sondern sie als eine Voraussetzung für ihre eigenen Anliegen benötigte. Die Ästhetizisten schufen eine l’art pour l’art, die ästhetisch innovativ war, die nationalistische Moderne schuf Repräsentationen einer nationalen Erneuerung. Zwar distanzierten sich Ästhetizismus und nationalistische Moderne gleichermaßen von der zivilisatorischen Moderne, doch divergierten sie in der Vorstellung von der Rolle der Kunst. Erstere zielte deutlich auf die Autonomie ab, während die Nationalisten in der Konsequenz eine lebensweltlich relevante – und zwar identifikatorische – Kunst wollten. Das hatten sie wiederum mit der Avantgarde gemeinsam, die Kunst in der Lebenspraxis aufzuheben suchte.¹⁰⁸ In beiden Strömungen ähnelten sich aus diesem Grund die rezeptionsästhetischen Haltungen, die das Zeitalter der Massenkultur bedienten, die einen, um eine Alltagskultur zu schaffen, die andere, um propagandistische Zwecke zu erfüllen. In formalästhetischer Hinsicht unterscheidet sich die hier vorausgesetzte nationalistische (moderne) Literatur sowohl von den – unterschiedlich motivierten – Formexperimenten des Ästhetizismus als auch der Avantgarde durch eine Zurückhaltung, wenn auch nicht Abstinenz, gegenüber formalen Neuerungen. Gemeinsam ist ihr in diesem Punkt mit der klassischen Moderne der Traditionalismus, der ästhetische Konservativismus, nicht aber die beibehaltene Absicht der Kunstautonomie und die Reflexivität.¹⁰⁹ Der gemeinsame Wert- und Formkonservativismus nähern klassische Moderne und nationalistische Moderne¹¹⁰ einander an. Doch auch mit dem Ästhetizimus und der Avantgarde gibt es verschiedene Überschneidungen in den Merkmalen. Begrifflich kann ein Blick auf den unbestimmt wirkenden Terminus „AntiModerne“ wie auch den im englischsprachigen Raum verwendeten Begriff „Modernism“¹¹¹ weiterhelfen. Im deutschsprachigen literaturwissenschaftlichen Diskurs wird der englische Terminus „Modernism“ kaum verwendet. Peter V. Zima bezeichnet, was oben als klassische Moderne beschrieben wurde, als „Modernismus“.¹¹² In 108 Becker, Sabina, Kiesel, Helmuth: Literarische Moderne. Begriff und Phänomen, in: dies. (Hg.), Literarische Moderne. Begriff und Phänomen, Berlin 2007, S. 9–35. 109 Becker/Kiesel 2007, S. 26. 110 Vgl. auch zum engen Verhältnis von nationalistischer Literatur und Modernität das Kapitel zur Literatur in dieser Studie. 111 „Modernism“ wurde kurz nach dem Ersten Weltkrieg zum gängigen Begriff, um neue experimentelle Literatur, namentlich von T. S. Eliot, James Joyce, Ezra Pound und Virginia Woolf, zu beschreiben. Vgl. Lewis, Pericles: The Cambridge Introduction to Modernism, Cambridge 2007, S. xvii. 112 Zima, Peter V.: Moderne/Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Basel 1997.

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der Übersetzung von Peter Gays bedeutendem Übersichtswerk zur modernen Kunst mit dem Titel „Modernism“¹¹³ taucht das Wort „Modernismus“ nicht auf, vielmehr wird es konsequent als Moderne, „modernists“ als „die Modernen“ übersetzt. Da Gay eine Übersicht über die Moderne von ihren Anfängen bis zu ihrem Ende anstrebt, kommen jene Künstler, die in der Zwischenkriegszeit und besonders den Dreißigerjahren mit autoritären Regimen sympathisieren, lediglich als individuelle „Exzentriker“ vor, die er noch am Rande zur Moderne zählt. Bei T. S. Eliot und Knut Hamsun als Vertretern einer „antimoderne Moderne“ findet er einen Widerspruch zwischen formaler Modernität und konservativen bis radikalen Haltungen zu Politik und/oder Religion¹¹⁴ und er stellt fest, dass ihnen ihre Ambivalenzen selber nicht aufgefallen seien. Hamsun als weiterer Vertreter habe in seinen Romanen gar mit psychologischer Tiefgründigkeit brilliert: „Doch Hamsun war ein besonderer Fall. Er war der einzige Nobelpreisträger, der Hitler bewunderte, und ein subtiler Psychologe, dem es auf spektakuläre Weise misslang, seine eigene Verblendung hinsichtlich der Regime in Deutschland und Italien zumindest mit einem Rest an Rationalität zu durchschauen.“¹¹⁵ Es ist wenig plausibel, die Sympathien von Intellektuellen für autoritäre Regime deren mangelnder Erkenntnisfähigkeit zuzuschreiben. Ein grundsätzliches analytisches Problem besteht in der unscharfen und eben unzureichenden Bezeichnung „antimodern“. Wie Gay im Falle Eliots und Hamsuns erwähnt, machten sich beide Schriftsteller eine antiliberale Haltung zu eigen. Während Eliot sich öffentlich rassistisch und antisemitisch äußerte, erhoffte sich Hamsun von den Nationalsozialisten die Wiederkunft antiker Führer. Gay erwähnt bei Eliot indes nicht die starke nationalistische Position, die dessen antiliberalistische Gesinnung bestimmte.¹¹⁶ An Gays konkreter Anwendung des Begriffs „antimoderne Moderne“ zeigt sich die Notwendigkeit einer differenzierteren Begrifflichkeit, etwa „antiliberale Moderne“, da diese die in bestimmten Punkten tatsächlich vorhandene Modernität

113 Gay, Peter: Die Moderne. Eine Geschichte des Aufbruchs. Frankfurt am Main, 2008. Die Originalausgabe erschien im selben Jahr unter dem Titel „Modernism. The Lure of Heresy. From Baudelaire to Beckett and Beyond“. 114 Wegweisend aufgearbeitet hat diese nur scheinbare Widersprüchlichkeit bereits Jeffrey Herf in seiner Studie über die Vertreter der Konservativen Revolution: Reactionary Modernism: Technology, culture, and politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge 1984. 115 Gay 2008, S. 449. 116 Der dritte unter den von Gay als antimodern vorgestellten „Exzentrikern“ ist der amerikanische Komponist Charles Ives. Dieser wurde durch sein Lebensumfeld nicht zu einer politischen Stellungnahme herausgefordert. Seine antiliberale Haltung äußerte sich vor allem in seiner Homophobie.

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nicht in Frage stellt, beziehungsweise die Modernekritik auf die durch liberale Vorstellungen hervorgerufenen gesellschaftlichen Neuerungen beschränkt. Ganz ohne Einschränkungen hingegen verwendet Pericles Lewis den Begriff „Modernism“ für die literarische Moderne von den Anfängen bei Baudelaire bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei schließt er die so genannt Anti-Modernen als Vertreter der literarischen Moderne ein. Das ist nach seinem Ansatz möglich, weil er bei den modernen Autoren als zugrunde liegende Gemeinsamkeit voraussetzt, dass sie „die Krise der Repräsentation, die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzt, anerkennen und versuchen, Antworten auf sie zu finden“.¹¹⁷ Während in der Malerei die Experimente bis zur puren Abstraktion führten, ging die Literatur selten so weit. Die traditionelle Mimesis-Absicht, Realität darzustellen oder Bedeutungen zu generieren, blieb bei aller Experimentierfreude erhalten. Entsprechend legt Lewis’ Untersuchung nahe, dass moderne Literatur Konventionen nicht gänzlich ablehnt, sondern vielmehr neue Konventionen von Repräsentationen sucht, die adäquater waren für die neue Zeit.¹¹⁸ Eine entscheidende Krise erlebte der politische Liberalismus am Vorabend des Ersten Weltkrieges, was viele Sympathisanten unter den Intellektuellen enttäuschte und radikalere politische Lösungen suchen ließ. Doch die verheerendste Krise erlebte der Liberalismus mit dem Aufkommen der kommunistischen bzw. faschistischen Regimes in der Zwischenkriegszeit. Die involvierte literarische Moderne habe sich, so Lewis, von der daraus resultierenden finalen Krise nie mehr erholt.¹¹⁹ Eine bedeutende Zahl an Schriftstellern glaubte, ihr Werk könnte wie Prophetie die eigene Nation oder die ganze westliche Welt aus den Konflikten herausführen. Das Verhältnis von Kunst und Politik wurde jedenfalls zentral für die moderne Literatur in der Zwischenkriegszeit.¹²⁰ Nach Lewis ist die Politisierung der modernen Literatur in ihrer Schlussphase kein Randphänomen, sondern eine logische Folge der historischen Entwicklung. Die antiliberalistische Haltung einer Reihe moderner Schriftsteller erscheint dann ebenso konsequent, und nicht als Exzentrismus wie etwa bei Gay. Ein neueres Werk der slowakischen Literaturforschung führt den Begriff der „Zweiten Moderne“ ein.¹²¹ Der Begriff wird aufgrund der Binnensicht wesentlich enger gefasst als die oben vorgestellten Konzepte. In seiner Studie geht Michal Habaj autorenzentriert vor, einige Schriftsteller decken sich mit den hier unter-

117 Lewis 2007, S. xviii. 118 Lewis 2007, S. 5. 119 Lewis 2007, S. 12 f. 120 Lewis 2007, S. 16. 121 Habaj, Michal: Druhá moderna, Bratislava 2005.

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suchten, etwa Tido Gašpar und Jan Hrušovský¹²². Er arbeitet vor allem ästhetische Innovationen heraus, die an die „Erste Moderne“, das heißt das Fin de Siècle anschließen. Von der Zweiten Moderne unterscheidet er die neorealistische sowie die sozial engagierte, von der Avantgarde beeinflusste Literatur. In der Einleitung verwendet er zwar den Begriff „Modernismus“, allerdings ohne Referenz. Es liegt nahe, dass er den Begriff „Zweite Moderne“ im Sinne der „klassischen Moderne“ verwendet, ähnlich wie Peter V. Zima diese als „Modernismus“ bezeichnete. Da Habaj vor allem ästhetische Fragen und motivisch-thematisch die Liebe fokussiert, streift er das Thema des Nationalismus – am Fall Gašpars – lediglich am Rande, das zu einem vollständigen Bild der modernen Zwischenkriegsliteratur indes gehören würde. Die gesellschaftliche sowie die kulturelle Modernisierung fanden zwar unter den besonderen historischen Voraussetzungen der ČSR statt, nichtsdestoweniger partizipierten die slowakischen Intellektuellen an der europäischen Moderne. Aus diesem Grunde ist es sinnvoll, jene Werke, die sich durch eine starke politische, und zwar konkret eine antiliberale Positionierung auszeichnen, als Werke der „antiliberalen Moderne“ zu bezeichnen. Damit sind überwiegend Werke der Zwischenkriegszeit gemeint, ältere wären aber nicht ausgeschlossen. Die Werke von Autoren mit deutlich nationalistischer Positionierung bildeten dann als „nationalistische Literatur“ eine Spielart der antiliberalen Moderne. In der jüngeren politischen Historiografie gibt es Vorschläge, das – ästhetische – Konzept des Modernismus auf die Politik, das heißt einen politischen Modernismus, anzuwenden. Demnach wäre auch ein organisch-biologischer Nationalismus als modernistisch anzusehen, indem er Lösungen für die Krise der Moderne zu finden versucht. Der Philosoph Peter Osborne sieht kein Paradox in den Begriffen „konservative Revolution“ oder „reaktionärer Modernismus“, da die Denker dieser Strömung versuchten, die von der Dekadenz bedrohte Moderne nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs zu transzendieren, und zwar mit einem Blick auf die mythisierte Vergangenheit als Jungbrunnen der Gesellschaft.¹²³ Gerade die zeitliche Komponente bestimme den Charakter von biologischen Nationalismen als auf die Zukunft gerichtet (futural) und modernistisch. Osborne bezeichnet die Haltung der vermeintlich antimodernistischen Denker zur Moderne als „novel, complex, but integral form of modernism in its own right“. „Its image of the future may derive from the mythology of some lost origin or suppressed national essence,

122 Štefan Gráf wird in der Studie lediglich nicht porträtiert, weil sein Schaffen in die Dreißigerjahre, und nicht in die fokussierten Zwanzigerjahre fällt. Vgl. Habaj 2005, S. 16. 123 Dazu Griffin, Roger: Modernism and Fascism. The Sense of a Beginning under Mussolini and Hitler. Houndmills, Basingstoke 2007, S. 175 f.

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but its temporal dynamic is rigorously futural.“¹²⁴ Mit Blick auf den zukunftsgerichteten revolutionären Gestus unterschieden sich so gegensätzliche Bewegungen wie Sozialismus und Faschismus nicht durch „Revolution“ und „Reaktion“, sondern durch die jeweilige revolutionäre bzw. konterrevolutionäre Zeitdimension, zur Überwindung des Kapitalismus bzw. als Vielfalt reaktionärer Modernismen.¹²⁵ Das Kriterium der futurischen Ausrichtung erlaubt aus einer neuen Perspektive, integrale, antiliberale, biologische Nationalismen als Teil modernistischer Bewegungen zu erfassen.

Säkularisierung und Sakralisierung Nationalistische Theoretiker bemühten sich häufig, das infolge der französischen Revolution ausgeschlossene Sakrale in säkularisierter Form für die Politik nutzbar zu machen.¹²⁶ In Italien versuchte Giuseppe Mazzini durch einen revolutionären politischen Mythos das Volk und den angestrebten italienischen Staat zu verbinden. Eine patriotische Religion sollte zu einer moralischen Erneuerung verhelfen, wobei der Staat selber die Menschen moralisch unterweisen und mit patriotischem Bewusstsein ausstatten sollte. Der politische Mythos diente dazu, die staatsbürgerliche Idee zu überformen. Emilio Gentile spricht diesbezüglich von einer „civic religion“¹²⁷, einer staatsbürgerlichen/politischen Religion. Die historischen Voraussetzungen in der Zwischenkriegsslowakei waren andere als in Italien Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Idee der slowakischen Nation wurde gerade im Gegensatz zum tschechoslowakischen Nationalstaat weiterentwickelt. Staat und Nation schlossen sich somit konzeptionell aus, was unter anderem verhinderte, dass ein slowakischer Separatismus Fuß fassen konnte. Über das Konzept einer politischen Autonomie bzw. einer Föderalisierung des Staates ging lediglich eine begrenzte Gruppe radikaler Nationalisten hinaus. Das Ziel der Mehrheit der slowakischen Nationalisten war in erster Linie, eine ethnische Nation

124 Zit. nach Griffin 2007, S. 178. 125 Osborne, nach Griffin 2007, S. 179. 126 Vgl. besonders Gentile, Emilio: The Sacralization of Politics in Fascist Italy. London 1996, S. 3 – Der Grad der Sakralisierung der Politik, die Gentile für das faschistische Italien feststellt, war viel höher als vergleichsweise in der Slowakei. Dort war – laut den Ergebnissen der hier folgenden Untersuchungen – die Säkularisierung als Voraussetzung der Sakralisierung in der Politik viel weniger fortgeschritten, da der politische Katholizismus im slowakischen Nationalismus dominant blieb und zudem der Katholizismus ein identifikatorisches Element im slowakischen Nationalismus war. 127 Der Begriff geht auf Eric Voegelins Schrift „Die politischen Religionen“ aus dem Jahr 1938 zurück. Ich beziehe mich hier vor allem auf Gentile 1996.

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zu bilden, wenn auch mit den politischen Rechten eines autonomen Landesteils. Daraus folgte, dass eine moralische Erneuerung angestrebt wurde, bei der die Religion als Bindemittel für das slowakische Volk dienen sollte – nicht die Kirche als Institution, sondern der Glaube an ein gemeinsames Volk. Die Nation war nicht die sakrale Referenz einer staatsbürgerlichen Religion (civic religion), sondern einer säkularen ethnischen Religion. Gentile spricht im Fall solch einer säkularen Religion, die durch integrative und autoritäre Aspekte bestimmt ist, von einer „politischen Religion“.¹²⁸ Den politischen Charakter nahm die „Nation“ im besonderen slowakischen Fall jedoch durch ein ethnisch attribuiertes Kollektivkonzept an, das heißt ihre integrative Dimension hatte die Gestalt einer arbiträren „Slowakizität“. Schulze-Wessel weist darauf hin, dass das konkrete Verhältnis von Religion und Nationalismus im Einzelfall herauszuarbeiten ist, da nicht in jedem Fall eine radikale Ablösung der religiösen Gemeinschaft durch die nationale manifest werde. Diese sei im 19. und 20. Jahrhundert sogar die Ausnahme.¹²⁹ Im Gegenteil gebe es auch jene Fälle – etwa in Jugoslawien und seinen Nachfolgestaaten –, in denen konfessionalisierte Nationskonzepte überkonfessionelle ablösten. In entstehenden Nationalstaaten waren auch die Kirchen gezwungen, sich national zu profilieren.¹³⁰ Die Bemühungen der katholischen Kirche in der Slowakei waren in dieser Hinsicht außerordentlich stark, denn sie beeinflusste die Nationalisierung der Gesellschaft deutlich. Insofern ist von einer wechselseitigen Prägung von Religion und Nationalismus auszugehen. Ob ethnisch-politisch oder bürgerlich attribuiert wurden Vorstellungen von der „Nation“ gleichwohl sakral aufgeladen. Eine wesentliche Rolle spielten dabei Intellektuelle oder Künstler: These prophets and leaders of new religions, unceasingly generated in the fertile womb of intellectuals and politicians anxious to mold human nature to their prescriptions, readily find converts – not only because they are clever demagogues versed in the arts of seducing and manipulating the masses, but because their faith corresponds to the needs of a society thirsting for faith and security in a time of crisis, or because they represent deep and lasting currents within particular cultures (. . . )¹³¹

Gentile verweist hier implizit auf die Bedeutung des bourdieuschen Habitus sowie des historischen Kontexts, der besonders in Krisenzeiten politischen Religionen einen fruchtbaren Boden bereitet. Die Intellektuellen oder Künstler müssen in der Lage sein, die Symptome der Krise wahrzunehmen und daraus ihre Rolle

128 Vgl. Gentile 1996, S. 157. 129 Schulze-Wessel, Martin (Hg.): Einleitung zu: Die Nationalisierung der Religion und die Sakralisierung der Nation im östlichen Europa, Stuttgart 2006, S. 7–14; hier S. 9. 130 Schulze-Wessel 2006, S. 11–14. 131 Gentile 1996, S. 157.

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abzuleiten. Nur unter diesen Voraussetzungen können sie analog zur christlichen Geschichte die nationalistische „Offenbarung“ empfangen und verbreiten, das heißt politische Ideen sakral aufladen oder an das vorherrschende Glaubenssystem anbinden, um so eine größere Legitimität zu erreichen. Die kulturelle Sphäre kann zum Einfallstor für nationalistische Erlösungsideen werden, welche an transzendentes, metaphysisches Denken anknüpfen. Das Sakrale bildet eine Leerstelle, die von der modernen Gesellschaft benötigt wird, um die aber verschiedene Ideologien, Vorstellungswelten oder Denksysteme konkurrieren.¹³² Nicht nur Nationalisten, auch nationalstaatliche Politik wendet Sakralisierungstechniken mit Rückgriff auf die – religiös geprägte – Kultur an, um mehr als ein Zweckverband zur Sicherung des privaten und ökonomischen Nutzens zu sein. Die Staatsbürger sollen von ihren Interessen absehen und einen Blick fürs Ganze gewinnen können. Jenseits des Marktmechanismus dienen nationale Kulturinstitutionen wie Museen, Nationalgalerien, Theater und Oper der kollektiven und individuellen Identitätsstiftung. Im Gegenzug für die erbrachte Integrationsleistung gewährt ein Staat ökonomische Autonomie durch Subventionierung von Kunst. Die kulturelle Sphäre ist zwar vor direkter Einflussnahme geschützt, ihre besondere Stellung verhilft tatsächlich nationalstaatlicher Politik zur Sakralisierung.¹³³ Autoren nationalistischer Literatur verstanden ihre Literatur als Dienst an der Gesellschaft. Sie reagierten nicht nur auf die gesamtgesellschaftliche Krisensituation, sondern wollten einen Ausweg daraus weisen, indem sie sich in die Rolle von Propheten einer moralischen Erneuerung begaben. Nietzsches vernunftskritischer Perspektivismus wurde dabei zum Einfallstor für den Mythos. Der „Übermensch“ als personifizierte Kritik an christlichen Moralvorstellungen, sollte eigene moralische Standards setzen, angetrieben von einem Willen zur Macht, der auf Trieben und Instinkten beruhte.¹³⁴ Die „Nation“ als neue, quasi heilige Wahrheit, als neuer gesellschaftlicher Referenzpunkt versprach, die Verunsicherung der durch die Modernisierungsprozesse ausgelösten Krise der Vernunft zu beseitigen. Ein nationalistischer Autor erhob den Anspruch, der Gesellschaft den Weg in ruhigere Fahrwasser zu weisen. Die literarische Vorstellung von der „Nation“ stand für die Möglichkeit, die von Gott verlassene, krisengeschüttelte Welt zu erlösen: „In the modernist novel, the possibility of regaining Paradise on Earth becomes central again and the nation becomes the means for this redemption.“¹³⁵ Dass die nationalistischen Intellek132 133 134 135

Bürger, Peter: Prosa der Moderne, Frankfurt a. M. 1988, S. 17; zit. nach Klinger 2002, S. 157 f. Klinger 2002, S. 159. Lewis 2007, S. 22. Lewis 2000, S. 51.

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tuellen in der Slowakei einem religiösen Umfeld entstammten, in welchem sie grundlegend katholisch sozialisiert wurden, begünstigte die Sakralisierung des politischen Konzepts der Nation.¹³⁶

136 Ausführlich zu sozialem Hintergrund und Biografien der nationalistischen Akteure im Kapitel 4 dieser Studie.

3 Nationale Ideen vor 1918 Eine wesentliche ideelle Basis, die in die spätere Formulierung nationaler Konzepte einfloss, waren bestehende nationale Ideen, vorwiegend aus dem 19. Jahrhundert. Mit diesen Ideen machten sich junge nationalbewusste Slowaken schon vor 1918 in privaten Lesezirkeln vertraut, nach 1918 in Schulklubs oder je nach nationaler Identität der Lehrer im Schulunterricht sowie über Schüler- und Studentenzeitungen. Die Generation von „Altslowaken“, die noch lebte und bereits die Phase der Politisierung und politischen Differenzierung der entstehenden nationalen Bewegung unter ungarischer Herrschaft miterlebt hatte, begleitete und förderte die Jungen dabei. Ein Blick auf die Vorgeschichte der nationalen Ideen zeigt in diesem Zusammenhang auf, welche Vorstellungen nach 1918 fortwirkten, besonders aber auch, wie kontingent und arbiträr diese Repräsentationen von „Nation“ teilweise zustande kamen.

3.1 Von der Schrift zum Minderheitsnationalismus Drei konkurrierende Schriftvarianten Eine der prägendsten Überlieferungen war die eigenständige slowakische Schriftsprache als zentrales Attribut einer ethnisch-kulturell aufgefassten nationalen Kategorie. Um 1918 versuchten die verschiedenen politischen Lager die Geschichte der Schriftkodifizierung vom späten 18. Jahrhundert und jener der Mitte des 19. Jahrhunderts politisch zu instrumentalisieren. Die Bruchlinien verliefen hier einerseits zwischen den historisch aufeinanderfolgenden Kodifizierungen durch Katholiken und Lutheraner, andrerseits wurde die Emanzipation des Slowakischen vom Tschechischen unter den historischen Vorzeichen der Magyarisierung im 19. Jahrhundert problematisiert. Als Anfang einer slowakischen Nationalbewegung¹ wird üblicherweise der Versuch gewertet, eine slowakische Schrift zu kodifizieren. Joseph II. regierte Ungarn als Teil Habsburgs und regte durch sein Dekret über die Kultivierung der Muttersprache an, dass die Bauern in seinem multiethnischen Reich eine Grund-

1 Miroslav Hrochs Phasenmodell hat zwar einerseits zur Differenzierung der „nationalen Bewegungen“ nach dem Grad der Beteiligung und Sozialstruktur beigetragen, andrerseits verfestigt es die Sichtweise einer kontinuierlichen und zielgerichteten Entwicklung, ungeachtet der Zäsuren, die Hroch durch die drei Phasen einfügt.

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ausbildung in ihren Volkssprachen erhielten. Er unterstützte junge Anhänger der Aufklärung, besonders Geistliche, die die Landbevölkerung in den jeweiligen Volkssprachen unterrichteten. Einer von diesen jungen Geistlichen war Anton Bernolák (1762–1813), ein katholischer Priester, der mit dem katholischen Seminar in Bratislava in Verbindung stand. Der Kreis um Bernolák begann eine slowakische Schriftsprache auf der Basis westslowakischer Dialekte zu kodifizieren. 1787 veröffentlichte Bernolák die erste slowakische Grammatik und Orthographie, allerdings noch auf Lateinisch.² 1792 gründte er in Trnava mit seinen Mitstreitern die „Slowakische gelehrte Gesellschaft“, die in Bernoláks Slowakisch religiöse Literatur und Lehrmittel herausgab. Mit ihren rund 500 katholischen Priestern als Mitglieder verbreitete die Gesellschaft die neue Schriftsprache.³ Inwieweit diese Kodifizierung bereits ein bewusster politischer Akt war, ist umstritten.⁴ In der Vorgeschichte waren verschiedene slawophone Schriftvarianten im Umlauf. Das älteste Dokument in der böhmischen Kanzleisprache, die verständnishalber auch für die Slawen Oberungarns verwendet wurde, datiert aus dem Jahr 1422; mit einigen slowakischen dialektalen Einsprengseln entstand eine zweite Variante. Im Zuge der Gegenreformation entwickelten die zahlreich nach Oberungarn geflohenen tschechischen Protestanten die leicht slowakisierte Bibličtina, Bibelsprache. Die Antwort der Jesuiten darauf war die stärker lokal gefärbte, heute als „kulturelles Westslowakisch“ bezeichnete Schriftvariante. Eine dritte Variante entwickelten die Calvinisten, die weder mit den Lutheranern noch mit den Katholiken kooperieren wollten, und zwar auf der Basis des ostslowakischen Dialektes des Komitates Šariš; es wird heute als „kulturelles Ostslowakisch“ bezeichnet. Die Calvinisten nutzten das ungarische Zeichensystem, um ihre Variante deutlich von der Bibličtina abzugrenzen, die stark vom geschriebenen Tschechisch beeinflusst war. 1783 bis 1785 veröffentlichte Jozef Ignác Bajza den ersten slowakische Roman – in der modifizierten westslowakischen Volkssprache – und 1783 erschien

2 Bernolák, Anton: Dissertatio philologico-critica de literis Slavorum, Psonii 1787. 3 Felak, James: „At the Price of the Republic“ Hlinka’s Slovak Peole’s Party, 1929–1938, Pittsburgh 1994. S. 4 f. 4 Kováč sieht Ansätze einer Nationalbewegung bereits vor Bernolák, ein politischer Akt sei indes erst jene Kodifizierung von Štúr gewesen; im Gegensatz dazu Krajčovič. Auch Kamusella (2009, S. 134) sieht bei Bernolák noch keine bewusst nationale Idee. – Kováč, Dušan: The Slovak Political Agenda in the 19th and Early 20th Century: From Ľudevit Štúr to Czech-Slovak Statehood, in: Sabrina P. Ramet, James R. Felak, Herbert J. Ellison, Nations and Nationalism in East-Central Europe, 1806–1948, Bloomington 2002, S.93–110. Krajčovič, Milan: Der Tschechoslowakismus als Form des nationalen Bewusstseins, in: Eva Schmidt-Hartmann (Hg.), Formen des nationalen Bewusstseins im Lichte zeitgenössischer Nationalismustheorien, München 1994, S. 277–288, bes. S. 280.

3.1 Von der Schrift zum Minderheitsnationalismus | 55

in Pressburg die erste slowakische Zeitung in eben diesem Jesuiten-Slowakisch. Ausschlaggebend jedoch für die spätere Deutung der nationalen Geschichte wurde das 1780 erschienene historiographische Werk von Juraj Papánek „Historia gentis Slavae. De regno regibusque Slavorum“ (Geschichte des slawischen Volkes. Über das Königreich und die Könige der Slawen). Darin zeichnete Papánek die Geschichte der Slawen bis zum Grossmährischen Reich nach. Spätere, an Herder geschulte Gelehrte interpretierten Papáneks Werk als Geschichte der Slowaken, um diese mit einer besonderen nationalen Vergangenheit auszustatten. Demnach seien die Slowaken die Nation mit der ältesten Tradition einer Staatlichkeit in Zentraleuropa. In der nationalistischen Lesart ließen „tausend Jahre ungarischer Herrschaft“ die Slowaken diese Tradition vergessen. Einen „nicht vollkommen bewussten Ausdruck“, so Kamusella, findet diese frühe nationale Idee im grammatischen und lexikographischen Werk Bernoláks.⁵ Die Krönung von Bernoláks Werk war die katholische Übersetzung der Bibel in sein West- oder Jesuiten-Slowakisch zwischen 1829 und 1832. Doch die slowakischen lutheranischen Intellektuellen hielten vorerst dem Bibeltschechischen die Treue, das sie schon lange in der Liturgie verwendeten. Die westslowakische Variante beziehungsweise das Jesuiten-Slowakisch lieferte jedoch auch Argumente, um das Slowakische unter dem Tschechischen zugunsten einer gemeinsamen tschechoslowakischen Sprache zu subsumieren.

Sprache als nationales Merkmal Den Gedanken, dass primär eine Sprache die nationale Zugehörigkeit bestimme, entwickelten zwei slowakische Protestanten, der Dichter Ján Kollár (1793–1852) und der Philologe und Archäologe Pavol Jozef Šafárik (1795–1861), die während ihrer Studien in Deutschland die Lehren Herders und Hegels kennengelernt hatten. Sie glaubten, Tschechen und Slowaken könnten zu einer tschechoslowakischen Kultur verschmelzen. Selber slowakisierten sie ihr Tschechisch respektive ihre Bibličtina, was bei ihren tschechischen Kollegen allerdings auf Ablehnung stieß.⁶ Kollár vertrat die Idee, Tschechen und Slowaken seien eine Nation, die zusammen mit Polen, Russen und Südslawen die „slawische Nation“ bildeten.⁷ Diese Vorstellung beruhte auf Kollárs und Šafáriks Konzept der „slawischen Wechselseitigkeit“, einem an sich linguistisch-kulturellen Konzept, das jedoch auch politische Implikationen barg.⁸

5 6 7 8

Die Ausführungen in diesem Absatz folgen Kamusella 2009, bes. S. 131 ff. Krajčovič 1994, S. 280. Felak 1994, S. 5. Kováč 2002, S. 95.

56 | 3 Nationale Ideen vor 1918

Kollár reichte beim Kaiser in Wien eine Petition ein, nach der die oberungarische slawischsprachige Bevölkerung aus dem ungarischen Königreich herausgelöst und den böhmischen Ländern hinzugefügt werden sollte. Weder Kollár noch sein Lehrer Palkovič differenzierten klar zwischen Tschechen, Tschechoslowaken, Slowaken oder Slawen, jedoch konnten sie nach Herder die slawischsprachige Nation von der „natio hungarica“ unterscheiden.⁹ Erst in den drei Jahrzehnten vor der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde also der alte konfessionsbasierte Konflikt zwischen protestantischer Bibličtina und katholischer Bernolačtina ins nationalistische Paradigma, in das Panslawismus und Tschechoslowakismus gehören, übertragen.¹⁰ Kollár prägte überdies den nicht nur im slowakischen Nationalismus, sondern in allen anderen slawischen Nationalismen sowie im rumänischen Nationalismus im Königreich Ungarn verwendeten Begriff „Magyarisierung“. Er veröffentlichte 1821 in der in Aarau erscheinenden Zeitschrift Ueberlieferungen zur Geschichte unserer Zeit anonym den Artikel „Etwas über die Magyarisierung der Slawen in Ungarn“, der in Übersetzungen auch in kroatischen und serbischen Zeitschriften im Habsburger Reich veröffentlicht wurde.¹¹ Der Begriff „Magyarisierung“ wurde zur Formel eines Nationalismus aus der Sicht unterdrückter Nationen oder in der Terminologie Brubakers: eines Minderheits-Nationalismus¹². Dem slowakischen Nationalismus kam Kollárs Nationskonzept entgegen, weil es die Existenz von Slowaken als Nation zugestand, ohne auf ein klar begrenztes Territorium abzustellen: „Ein Vaterland kann man leicht wieder finden, wenn es auch verlorengeht: Nation und Sprache aber nie und nirgends, das Vaterland an sich ist tote Erde, ein fremdartiges Objekt, ein Nicht-Mensch: die Nation ist unser Blut, Leben, Geist, Subjektivität.“¹³ In den 1830er-Jahren sahen sich die Pressburger Protestanten mit der Ablehnung der von ihnen genutzten Bibličtina von seiten der Prager slawischsprachigen Elite konfrontiert. Die Bibličtina mit ihren Slowakismen stand nicht mehr im Einklang mit der neu standardisierten tschechischen Sprache. So waren die slowakischen Intellektuellen vor eine schwierige Aufgabe gestellt. 1836 und 1844 wurde Ungarisch zur einzigen offiziellen Sprache im Königreich erklärt und die Magyarisierungswelle ausgelöst. Lúdovit Štúr (1815–56), ein lutheranischer Prediger und Lehrer am Bratislavaer Lyzeum, richtete 1842 – erfolglos – einen Appell an den Kaiser, die Magyarisierung zu stoppen. Er kämpfte für die sprachlichen Rechte der Slawen im ungarischen Königreich und gelangte zur Überzeugung, dass eine

9 Kamusella 2009, S. 549. 10 Kamusella 2009, S. 537. 11 Kamusella 2009, S. 539. 12 Vgl. die Ausführungen zu den methodischen Überlegungen im ersten Kapitel dieser Arbeit. 13 Zit. nach Kamusella 2009, S. 540.

3.1 Von der Schrift zum Minderheitsnationalismus | 57

slowakische Schriftsprache die konfessionellen Gräben überbrücken müsste. Dafür zog er als Alternative zu den beiden bestehenden slawischen Schriftvarianten die Volkssprache in Betracht. Das war aber gar nicht so einfach, da bis Mitte des 19. Jahrhundert eine Taxonomie der slawischen Sprache Oberungarns existierte, die davon ausging, dass dort Tschechisch und eine Art Polnisch gesprochen würden, und im äußersten östlichen Teil zudem Ruthenisch. Weder die katholischen noch die lutheranischen Slawophonen hielten indessen das Ruthenische für eine verwandte Sprache, zum einen wegen der kyrillischen Schrift zum anderen wegen der kirchenslawischen Liturgiesprache.¹⁴ Weshalb sich erst Štúrs Kodifizierung etablieren konnte, wird in der Regel damit begründet, dass sie nicht auf einem west-, sondern auf einem mittelslowakischen Dialekt basierte, der besser zugänglich war für die breite Bevölkerung.¹⁵ Diese verkürzende Sichtweise, die von den dialektalen Eigenschaften der Sprache ausgeht, ist insofern anzuzweifeln, als ernsthafte Verständigungsschwierigkeiten weder zwischen dem Slowakischen und dem Tschechischen bestanden, geschweige denn zwischen den regionalen Varianten des Slowakischen. Vielmehr sind die Gründe in den nationalistischen Ambitionen des Štúr-Kreises zu suchen, die erst in der vorrevolutionären Situation der 1840er-Jahre auf einen fruchtbaren Boden fielen; ethnische Zugehörigkeit wurde erst ab dem Ende des 18. Jahrhunderts ein Thema im Habsburger Reich, als Modernisierungsprozesse mit Homogenisierungsbemühungen verknüpft wurden – bis dahin wurden Bauern und nicht Angehörige von Ethnien unterdrückt.¹⁶ Die Romantiker knüpften an die Schrifttradition des „kulturellen Mittelslowakisch“ an und distanzierten sich somit sowohl von der katholischen Bernoláčtina als auch von der lutheranischen Bibličtina. Eine Rolle mag dabei auch die romantisch-idealistische Vorstellung von der Sprache als Seele einer Nation gespielt haben, die auf eine quasi authentische, distinkte Volkssprache abstellen musste, die möglichst wenig Einflüsse anderer Sprachen in sich aufgenommen hatte. Das war am ehesten beim Mittelslowakischen gegeben. Gegen den polnischen Einfluss vom Norden war es durch das Tatra-Gebirge geschützt und die westlichen und östlichen slowakischen Dialekte schufen eine Insellage mit dem Komitat Martin als Zentrum.

14 Kamusella 2009, S. 544. 15 Sowohl Felak als auch Auer (2004, S. 137) geben diese Ansicht wieder. Kováč wiederum erklärt mit einem an der marxistischen Historiografie geschulten Argument Štúrs Entscheidung, einen Dialekt der Umgangssprache zur Basis für eine neue Kodifizierung zu machen, aus dem Anliegen, ein nationales Bewusstsein auch unter der Landbevölkerung zu verbreiten. Vgl. Kováč 2002. 16 Auer 2004, S. 136.

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Štúr entwickelte den neuen Schriftstandard auf der Grundlage des mittelslowakischen Dialekts. Er übernahm von Bernolák die Idee der distinkten slowakischen Sprache und von Kollár und Šafarík, dass Sprache, und nicht Staatsbürgerschaft, die Zugehörigkeit zu einer Nation bestimmen. 1844 gründete er nach dem Modell der Matice Česká die Tatrin-Gesellschaft, die mit ihren 80 Mitgliedern zum Kern der entstehenden slowakischen Nationalbewegung wurde und Publikationen in seiner Schriftsprache herausgab. 1845 wurde Štúr erlaubt, die Slovenskje národňje novini [Slowakische Nationalzeitung] zu gründen, in der er bereits eine Art nationales Programm formulierte, in dem er die Forderung nach Abschaffung der Leibeigenschaft mit nationalen Zielen verband.¹⁷ 1846 schließlich veröffentlichte er eine slowakische Grammatik sowie das Werk, in dem er die Notwendigkeit der slowakischen Schriftsprache begründete: „Nárečja slovenskuo alebo potreba písanje v tomto nárečje“ [Der slowakische Dialekt oder Die Notwendigkeit in diesem Dialekt zu schreiben]. Štúr verwendete zwar die Begriffe Dialekt oder Sprache nicht einheitlich für das Slowakische. Es war jedoch Štúrs Verdienst, dass sich seine Kodifikation der slowakischen Sprache gegenüber der Bernoláčtina, der Bibličtina und dem Standard-Tschechisch durchsetzte. So wurden seine Werke und Ansichten zur „Heiligen Schrift des slowakischen Nationalismus“¹⁸. Er bemühte sich auch besonders darum, die Katholiken von seiner Kodifizierung zu überzeugen, was ihm 1851 gelang¹⁹. Štúr brachte Katholiken und Protestanten in der Sprachenfrage zusammen. Martin Hattala (1821–1905) dominierte die Diskussion. Er akzeptierte Štúrs mittelslowakische Aussprache, buchstabierte aber stärker etymologisch mit mehr Zugeständnissen an die Bernoláčtina. Als Štúr und seine Anhänger sich mit den Vorschlägen einverstanden erklärten, beschlossen auch die Katholiken, die Bernoláčtina aufzugeben. Neue Schriften in Bernoláčtina erschienen danach nicht mehr. Die Bibličtina hielt sich in begrenztem Umfang weiterhin in religiösen Büchern und der Liturgie bis zum Ersten Weltkrieg. Hattalas und M. M. Hodžas anonym publizierte „Krátka mluvnica slovenská“ [Kurze slowakische Grammatik] aus dem Jahr 1852 enthielt die im wesentlichen bis heute gültigen Regeln des Slowakischen.

Schriftsprache als politisches Argument Štúr und seine Generation erweiterten die kulturellen Aktivitäten um die politische Dimension. Unter dem Eindruck der stetig wachsenden Magyarisierung etwa pro-

17 Kováč 2002, S. 96. 18 Kamusella 2009, S. 546. 19 Felak 1994, S. 7.

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klamierten Štúr und fünfzig seiner Anhänger sich am 11. Mai 1848 als Slowakische Nationalversammlung. In ihrer Petition an die Wiener Krone und das ungarische Parlament verlangten sie die Föderalisierung Ungarns mit Hilfe eines festzulegenden slowakischen Territoriums, eines eigenen Parlaments, einer Nationalgarde und einer nationalen Flagge. Zudem wurde neben einem generellen Wahlrecht Bildung auf Slowakisch von der Grundschule bis zur Universität gefordert.²⁰ Sie verlangten, dass diese Rechte auch für die anderen Nationen in Ungarn gelten sollten, besonders für die „brüderlichen und verwandten Polen“ in Galizien, nicht aber wurden hier die Tschechen erwähnt. Damit wären die Slowaken eine gewisse Verpflichtung gegenüber den Tschechen eingegangen.²¹ Die ungarische Verwaltung wollte die Führer der slowakischen Nationalbewegung daraufhin arrestieren, so dass diese ins revolutionäre Prag flohen und mit ihren Forderungen am Slawischen Kongress auftraten. Die Tschechen stellten sich vor, dass in einem nachrevolutionär föderalisierten Habsburg die Slowaken mit den Tschechen eine Einheit bildeten. So weit wollten die Slowaken zwar nicht gehen, doch hofften sie, dass sie mit Hilfe des Monarchen aus Ungarn herausgelöst und Teil Österreichs werden könnten.²² Die Bewegung scheiterte allerdings vorerst, und die Regierung verhängte das Militärrecht über die Slowakei. Štúr zog sich nach weiteren politischen Misserfolgen ganz aus dem politischen Leben zurück und blieb unter Hausarrest. Er verwarf die Idee einer Föderation und sah in der Anlehnung an Russland als einem großen slawischen Reich eine Alternative, die er 1851 in seinem Werk „Das Slawenthum und die Welt der Zukunft“ entwarf, das 1867 auf Russisch erschien und erst 1931 im deutschen Original in Bratislava. 1861, im Jahrzehnt des Neo-Absolutismus, versammelten die Führer der Nationalbewegung 5000 Menschen zu einer politischen Kundgebung in Martin, auf der sie ein an die ungarische Regierung gerichtetes Memorandum aufsetzten, das bis 1918 das slowakische nationale Programm blieb. Darin wurde erstmals ein Territorium für die Slowakei definiert, das aus 15 überwiegend slowakischsprachigen Komitaten bestehen sollte. Unter anderem wurden ein slowakisches Bildungssystem und ein Lehrstuhl für slowakische Sprache und Literatur an der Universität von Pest gefordert. Die Slowaken sahen ihre slowakische Region (okolie) weiterhin

20 Felak 1994, S. 8. 21 Es ist denkbar, dass die nach 1918 bekundeten Sympathien für Polen von Seiten der slowakischen Nationalisten teilweise durch das Memorandum beeinflusst waren. 22 Kamusella 2009, S. 448 f.

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als Teil des ungarischen Staates mit einer Anerkennung der nationalen Kultur und Sprache.²³ Auch wenn die slowakischen Forderungen nicht erfüllt wurden, konnten die Slowaken ihr kulturelles Leben in dieser Zeit stärker institutionalisieren. 1862 gründeten die Lutheraner zwei slowakischsprachige Gymnasien, die Katholiken 1867 ein weiteres. Zudem schloss die Gründung der Matica slovenská im Jahr 1863 die Lücke, die die Auflösung der Tatrín-Gesellschaft im Jahr 1848 hinterlassen hatte. Das Städtchen Martin wurde nun zum kulturellen Zentrum des nationalen Lebens. Auch die in Pest unter einem anderen Namen erscheinende slowakischsprachige Zeitung „Národnie noviny“ als bedeutendste slowakische Zeitung vor 1918 verlegte 1865 ihren Sitz nach Martin.

Magyarisierung und „nationale Unterdrückung“ Diese Periode des kulturellen Aufbruchs währte allerdings nur kurz. Nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 wurden viele Freiheiten zurückgenommen beziehungsweise wurde ein bislang ungekannter Druck zur Magyarisierung aufgesetzt. Der ungarische Nationalismus gewann zusehends an Bedeutung. Das Königreich versuchte mit allen Mitteln, die Idee einer einheitlichen ungarischen, das heißt magyarischen, Staatsnation durchzusetzen. Die Matica und die drei Gymnasien wurden wegen angeblich anti-ungarischer Aktivitäten 1875 wieder geschlossen. Ins ungarische Parlament wurde bis 1901 kein Slowake mehr gewählt, die Slowaken verfolgten eine Politik der Passivität. Ab 1900 war das Slowakische von allen Schulstufen nach der Primarschule ausgeschlossen. Die Slowaken steigerten zwar erst gegen Ende des Jahrhunderts ihre politischen Aktivitäten wieder allmählich. Doch für die Stärkung des slowakischen Nationalismus war die Phase der kulturellen Unterdrückung sehr nützlich gewesen. Ebenfalls als Ergebnis des Dualismus flauten tschechoslowakische Bemühungen ab, denn unter den Tschechen heizte der österreichisch-ungarische Dualismus den tschechischen Nationalismus an.²⁴ Prägend und folgenreich für die Entwicklung der Nationalkultur wurde die Dominanz der protestantischen intellektuellen Elite in dieser Zeit. Das gilt für die Literatur, die im 19. Jahrhundert eine protestantische Tradition entwickelte, aber auch für die Politik. Zu Gute kam den Protestanten ihre traditionelle Sympathie für

23 Kamusella (2009, S. 552) spricht hier vom Konzept des slowakischen Nationalstaates, der mit diesem Memorandum eine geographische Gestalt erlangte. Zwar wurde für die kulturelle slowakische Nation eine adäquate politische Verwaltung gefordert, jedoch keine Eigenstaatlichkeit. 24 Krajčovič 1994, S. 281.

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die Tschechen, besonders als Ideen für eine tschecho-slowakische Nation um die Jahrhundertwende wieder ernsthaft ins Gespräch kamen, etwa mit der Gründung der Tschechoslawischen Einheit (Českoslovanská jednota, 1896). Ein ungelöstes Problem blieb indessen aus der Sicht der Tschechoslowakisten der Separatismus der Štúrschen Sprachreform. Die Führer der tschechischen Nationalbewegung, darunter Palacký, betrachteten Štúrs philologische Arbeit als politschen Akt und warfen ihm sprachliche Sezession vor²⁵. Štúr selber lehnte einen antislawischen oder antitschechoslowakischen Separatismus explizit ab. Jedoch boten seine sich im Laufe der Zeit stark wandelnden Ansichten Anschlussmöglichkeiten für ganz unterschiedliche ideologische Orientierungen. Pro-westliche Liberale wie Hodža eigneten sich einzelne Ideen von ihm an, ebenso wie slowakische Nationalisten vom Schlage eines Alexander Machs oder kommunistische Ideologen wie Novomeský und Mináč. Die Nationalsozialisten hoben Štúrs intellektuelle Beziehungen zu Deutschland hervor, die Kommunisten stützen sich auf sein pro-russisches Spätwerk.²⁶ Vor allem durch die massive Magyarisierung nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich erhielt der slowakische Nationalismus, ungeachtet seiner sonstigen Attribute, eine stark emanzipatorische Komponente, was das Selbstverständnis als unterdrückte Minderheit förderte. Für die jungen Nationalisten in der Zwischenkriegszeit boten sowohl der Katholik Bernolák als erster Kodifizierer der slowakischen Sprache sowie Štúr als kulturell und politisch aktiver Nationalist Anknüpfungspunkte für emanzipatorische Forderungen und stellten somit eine Ressource für Provokation und nationalistische Mobilisation im tschechoslowakischen Staat dar.

3.2 Liberale, Konservative und Klerikale Die Geschichte der Schriftkodifizierung beeinflusste die Themen und Inhalte des slowakischen Nationsdiskurses bis nach 1918. Sie führte zu einer folgenreichen politischen Differenzierung, aus der auf der einen Seite die dominierende slowakische Repräsentanz im tschechoslowakischen Staat, auf der anderen Seite die oppositionellen nationalistischen Kräfte hervorgingen. Die Spaltung fand zwischen den konservativen und den „fortschrittlichen“ Kräften der slowakischen nationalen Akteure statt. Anfänglich bildete sich dieser Konflikt zwischen der mittelslowakischen Provinzstadt Martin und Prag ab. Nach 1918 wurde er von Prag nach Bratislava als der neuen Hauptstadt verlegt. 25 Kamusella 2009, S. 547. 26 Vgl. Auer 2004, S. 137.

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Der konservative Martiner Kreis Als Zentrum der slowakischen Nationalbewegung hatte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Martin herauskristallisiert. Dort hatte die Slowakische Nationalpartei (SNS) als überkonfessionelle slowakische nationalistische Partei ihren Sitz und gab das Parteiorgan Národnie Noviny heraus. Die publizistische Plattform der traditionalistisch-konservativen Nationalisten zeichnete sich durch antiliberale Werte und christliche Anschauungen aus. Mit ihrem Klerikalismus, der alle Bereiche des Lebens von Gott durchdrungen wissen wollte, richtete sie sich vor allem gegen den Einfluss der tschechischen und tschechophilen Realisten auf das öffentliche Leben in der Slowakei. Besonders der führende Ideologe dieser Richtung, der Redakteur der Národnie Noviny Svetozar Hurban Vajanský (1847– 1916) sowie František Jehlička (1879–1939) vertraten dezidiert antitschechische Positionen. Jehlička, der in der Zwischenkriegszeit als slowakischer Emigrant mit ungarischer und polnischer Hilfe gegen den tschechoslowakischen Staat agierte, setzte sich für die Zusammenarbeit von katholischen und protestantischen Slowaken ein, um dem Magyarisierungsdruck auf die kirchlichen Organisationen einerseits und dem Einfluss der Masaryk nahe stehenden, angeblich atheistischen Gruppe der Hlasisten, zu widerstehen. Er schlug eine katholisch-lutheranische Union nicht auf religiöser, sondern auf nationaler Basis vor. Die geforderten Aktivitäten verstand er nicht als politische, vielmehr als „kulturelle Arbeit“²⁷, die die slowakische Nation vor dem Untergang oder dem Verschmelzen mit einer anderen bewahren sollte. Der Publizist und Romanautor Svetozár Hurban Vajanský wurde mit seinen nationalen Ideen zu einer historischen Leitfigur der jungen slowakischen Intelligenz in der Zwischenkriegszeit.²⁸ Im Nationalismus sah Vajanský für die Slowaken die einzige Chance, eine eigenständige Nation zu werden. Jeder Lebensbereich, sei es der Gottesdienst oder die Arbeit auf dem Feld, sollte seiner Ansicht nach vom Nationalismus durchdrungen sein. Die Nation ist in diesem Konzept die höchste Instanz, der sich alles, auch das Individuum unterzuordnen hat: „. . . Nationalität, Nationalismus führen die Nationen zum Licht, zur Kultur, zur Bildung, zu nützlicher, vernünftiger Tätigkeit, zum Verständnis aller Interessen, also auch materieller,

27 Potemra, Michal: Rozvoj spoločenského myslenia na Slovensku na začiatku 20. Storočia [Die Entwicklung des gesellschaftlichen Denkens in der Slowakei am Beginn des 20. Jahrhunderts], in: Historický casopis, 29, 3, 1981, S. 329–371; hier S. 339. 28 Vajanský war als Publizist der erste Slowake, der sich in einer Reihe von Artikeln systematisch mit der polnischen Kultur als Vorbild für die slowakische Kultur befasste. Darüber hinaus findet sich in seinen Romanen ein ausgeprägter Antisemitismus, der vermutlich auch die Entwicklung eines völkischen Nationalismus in der Zwischenkriegszeit beeinflusste.

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wirtschaftlicher, sie führen zum Leben, zu Wohlstand, zur harmonischen Entwicklung!“²⁹ Er brachte eine psychologische Dimension in seine Argumentation, die über das „objektive“ Kriterium der Sprache hinausging. Das Slowakische war demnach das seit langer Zeit vorhandene Unbewusste in der Seele der Nation, alles, wonach sie sich mit starker Kraft sehnte und worin jeder seinen Anteil finden könnte.³⁰ Diese Rhetorik erinnert an die organizistische Volkstumsidee bei Fichte, wonach die nationale Zugehörigkeit Schicksal und nicht wählbar ist.³¹ Bemerkenswert an Vajanskýs Ideen ist, dass er auch liberale Vorstellungen mit seinem konservativen Nationalismus verband. Diese waren allerdings den konkreten historischen Bedingungen, das heißt dem Status der Slowaken als einer machtpolitisch dominierten Bevölkerungsgruppe im Habsburger Vielvölkerstaat, geschuldet. Sein politisches Ziel war, die Stellung von Slowaken innerhalb Ungarns zu verbessern, und zwar vor allem durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts sowie der Föderalisierung des Staates. Den ungarischen staatsbürgerlichen Nationalismus mit der ungarischen Staatsidee lehnte Vajanský entschieden ab. Folgerichtig sah Vajanský die slowakische Nation auch durch den tschechischen Realismus³² und die kooperierenden Slowaken bedroht, da sie eine nationale Verbindung mit den Tschechen befürworteten. Er verteidigte die von den Hlasisten angezweifelte Eigenständigkeit der slowakischen Nation mit dem Argument, dass die einzelnen Nationen von Gott geschaffen seien³³ und somit von primordialer Natur, das heißt nicht etwa durch eine Verbindung untereinander manipulierbar seien.

Fortschrittsorientierte Prager Slowaken Gegen den Konservativismus des elitären Martiner Kreises trat gegen Ende des Jahrhunderts eine neue Generation von jungen Intellektuellen an, die vor allem in Prag studiert und sich in studentischen Vereinigungen organisiert hatte. Die Bemühungen, der nationalen Bewegung neue Impulse zu geben, manifestierten

29 Potemra 1981, S. 343 [. . . národnosť, nacionalizmus vedie národy k svetlu, ku kultúre, k vzdelaniu, k užitočnej, rozumnej činnosti, k porozumeniu všetkých záujmov, teda aj hmotných, hospodárskych, vedie k životu, k blahobytu, k harmonickému vývinu!] 30 Potemra 1981, S. 344. 31 Genauer im Kapitel zur Literatur in dieser Studie. 32 Als „Realismus“ wird das politische Programm Masaryks bezeichnet, das demokratische Werte, sozialen Fortschritt und ein wissenschaftliches Weltbild einschließt. 33 Potemra 1981, S. 349.

64 | 3 Nationale Ideen vor 1918 sich in der Monatsschrift Hlas (1898–1904), die von Vavro Šrobár, einem der wichtigsten slowakischen Politiker nach 1918, und Pavel Blaho gegründet wurde. Die Zeitschrift war eine Plattform für die junge slowakische Intelligenz ohne strikte religiöse und ideologische Grenzen. So publizierten in ihr Anhänger Masaryks, Tolstojs oder auch junge katholische Theologen. Sie verband der Widerstand gegen die Magyarisierung und die Befürwortung der tschechoslowakischen Idee.³⁴ Zum führenden Personal der Hlasisten gehörte neben den beiden Begründern auch noch Milan Hodža (1877–1944), der eine für einen Slowaken außergewöhnliche Karriere als tschechoslowakischer Ministerpräsident machte. Die Linie des masarykschen Realismus setzte sich programmatisch durch. Die zunehmende Kritik am Klerikalismus insbesondere von seiten Šrobárs führte zum Bruch mit den Katholiken und auch Tolstojanern, so dass die Bewegung nur noch relativ wenig Unterstützung fand. Šrobár, selbst Katholik und Arzt, betrachtete es als eine wichtige Aufgabe, Aberglauben und Rückständigkeit durch wissenschaftliche Aufklärung zu bekämpfen. Religion sollte sich von allem Ballast befreien und zu einer inneren Kraft werden, die den Menschen zur Vollkommenheit führe, damit er die höhere Weisheit erkenne.³⁵ Was die Hlasisten fundamental vom konservativen traditionalistischen Teil der Nationalisten unterschied, war ihre Ablehnung von Šturs nationalistischen Ideen – insbesondere die Idee der eigenständigen slowakischen Nation und Sprache – und besonders dessen Hegelianismus und Messianismus.³⁶ Beide würden die Nationalbewegung schwächen und zu Konservativismus führen, hieß es. Mit der Ablehnung dieser beiden philosophischen Lehren stimmten die Hlasisten mit einer weiteren Gruppierung, mit den Intellektuellen um die Zeitschrift Prúdy überein. Beide Gruppierungen sahen als ihr Programm den modernen, progressiven Realismus an im Gegensatz zum Romantizismus der konservativen Nationalbewegung. Die Hlasisten versuchten den alten Nationalismus mittels einer literarischen Revolution und der Propagierung wissenschaftlicher Erkenntnisse zu revidieren.³⁷ Trotz ihrer fortschrittsorientierten Ansichten hatten die Hlasisten jedoch ein ambivalentes Verhältnis zu Modernität in der Kunst. Das zeigte sich unter anderem an ihrer utilitaristischen Auffassung von der Rolle nationaler Literatur. Kunstwerke

34 Einen Überblick über die verschiedenen Gruppierungen gibt Bakoš, Vladimír: Question of the Nation in Slovak Thought. Several Chapters on the National-Political Thought in Modern Slovakia, Bratislava 1999. 35 Potemra 1981, S. 356 f. Der Beitrag ist aus der Perspektive marxistischer Historiografie geschrieben und prüft deshalb die nicht-marxistischen Gesellschaftskonzepte auf ihre Differenz zu den marxistischen. 36 Bakoš 1999, S. 25. 37 Bakoš 1999, S. 29.

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sollten ihrer Ansicht nach bestimmte Ideen, etwa politische oder soziale, illustrieren. Jedoch hatten die Hlasisten wenig Einfluss auf die Entstehung einer modernen slowakischen Literatur.³⁸ Im Versuch, dem traditionellen Provinzialismus in der Slowakei zu entkommen, orientierten sich Hlasisten und Prudisten nach Westeuropa. Sie bemühten sich um eine enge Verbindung mit der tschechischen Kultur und übernahmen Masaryks nationales und soziales Programm, von dem sie meinten, es passe vollständig auch auf die slowakischen Verhältnisse. Schließlich akzeptierten sie auch die Tschechoslowakische Idee, und hielten es somit für unnötig, dass die Slowaken eine politische Nation bildeten.³⁹

Hodžas liberaler Nationalismus Mit ihrem ökonomischen und sozialen Programm zielten die Hlasisten vor allem auf die Landbevölkerung und Bauern als die zahlenmäßig größte Gruppe ab. Zudem wollten sie Handwerker und Händler mobilisieren. In der Verbesserung der Lebensbedingungen sahen sie die Voraussetzung für deren politische Betätigung. Ein Teil der hlasistischen Bewegung verschob seinen Akzent auf eine „agrarische Demokratie“⁴⁰, wie dessen Vordenker, der Journalist und Politiker Milan Hodža (1878–1944), sie konzipierte. Aus dem Engagement für die Landbevölkerung ergab sich ein scheinbarer Widerspruch gegenüber den eigenen Modernisierungsabsichten, denn die traditionelle Lebensweise und der ländliche Gemeinschaftssinn sollten gleichwohl erhalten bleiben. Doch die Wege dazu bestanden in einem grundsätzlich demokratischen Zugang zur Lösung der sozialen Probleme.⁴¹ Nach Hodžas Ansicht reichte Nationalismus als ideelle Basis nationaler Politik nicht aus, da er nur eine Form darstellen würde, die mit Inhalten wie wirtschaftlichen und sozialen Forderungen zu füllen war. Die Nation betreffende Forderungen kamen bei Hodža nach wirtschaftlichen Forderungen an zweiter Stelle. Vajanskýs konservativen Nationalismus lehnte er ab, wie er auch den Nationalismus in Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts generell für einen Schritt zurück hielt.⁴² 38 Bakoš 1999, S. 39. 39 Bakoš 1999, S. 42 f. Bakoš bewertet die tschechoslowakische als die falsche Strategie der Hlasisten, um die slowakische Nationalbewegung zu modernisieren. 40 Bakoš 1999, S. 47. 41 Bakoš (1999, S. 48) betrachtet Hodžas Konzept von einer agrarischen Demokratie als im Innern widersprüchlich. Meines Erachtens ist die Reibung zwischen Tradition und Fortschritt durchaus ein inhärenter Bestandteil einer späten Modernität, wie ich insbesondere in den Überlegungen zur Literatur ausführe. 42 Potemra 1981, S. 357.

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Vielmehr entwickelte Hodža im Laufe der Zwischenkriegszeit seine Idee von einem liberalen Nationalismus, den er selber als „demokratischen Nationalismus“ bezeichnete. Dies ist bemerkenswert, auch wenn Hodža nur geringen Einfluss auf die Entwicklung des slowakischen Nationalismus in der Zwischenkriegszeit nehmen konnte. Sein Konzept sah ernsthaft die Möglichkeit vor, einen slowakischen Nationalismus zu verfolgen, in dem nicht die Frage der Sprache das Kernargument darstellte. Interessanterweise bezog sich Hodža nichtsdestoweniger auf Štúr: Dieser forderte the abolition of serfdom and the establishment of civil and national liberties without any distinction of race. . . Štúr was no radical. . . But he accepted many of the fundamental points of the contemporary Liberal programme and may, not unfairly, be regarded as the most genuine fighter for progress in the old Hungarian parliament before the March Revolution.⁴³

Bei der Rezeption von Štúr bezog sich Hodža auf dessen vorrevolutionäre Phase und entwickelte davon ausgehend sein eigenes Konzept eines „demokratischen Nationalismus“: When isolated, individuals are reduced to the incapacity to perform their moral duty to an over-national ideal unless they are an active part of that community which has been welded into an organic whole by affinities of natural conditions and purposes. That is the mission which nations have to fulfil. . . So, a democratic nationalist will do his best to develop his people’s particular potential and to use it for the common cause of the mankind.⁴⁴

Dieser Nationalismus von Hodža stellt einen Mittelweg zwischen einem chauvinistischen selbstbezogenen Nationalismus und einem Kosmopolitismus dar, wie er in der Zwischenkriegszeit ebenfalls breit diskutiert wurde. Das Wohl der einzelnen Nation lässt sich demnach nur in einem übernationalen Verbund erzielen. Er bringt aber auch die „moralische Pflicht“ zur Sprache. Moral als Attribut des slowakischen Nationalismus stellt er an anderer Stelle der politischen Nation gegenüber: „slowakischer Nationalismus als moralisches Prinzip, aber unter allen Umständen die einheitliche politische tschechoslowakische Nation“.⁴⁵ Im Kontext seiner liberalen nationalistischen Ideen erscheint Hodžas Doktorarbeit⁴⁶ von 1920 in einem anderen Licht. Sie beeinflusste sicher die offizielle, ablehnende Haltung zur Štúrschen Schriftkodifizierung im Sinne des Tschechoslo-

43 Hodža, Milan: Federation in Central Europe, London 1942. Zit. nach Auer 2004, S. 139. 44 Zit. nach Auer 2004, S. 147. 45 Zit. nach Chmel 2005, S. 26; Hodža, Milan: Články, reči, štúdie [Artikel, Reden, Studien]. Band VII, Bratislava 1934, S. X. 46 Hodža, Milan: Československý rozkol. Príspevky k dejinám slovenčiny. [Der tschechoslowakische Bruch. Beiträge zur Geschichte des Slowakischen], Martin 1920.

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wakismus. Er kritisiert darin die durch die eigene Schrift vollzogene „Abspaltung“ der Slowaken von den Tschechen als politisches und vorübergehendes Phänomen. Zudem musste er als Mitglied des Belvederkreises⁴⁷, der die Stellung Ungarns zugunsten des österreichischen föderalisierten Zentralstaates schwächen wollte, bereits vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs einen deutlichen Bruch mit Ungarn befürworten. Die Desavouierung der Sprachfrage lag in jedem Fall auf der Linie seiner liberalen, nicht primär ethnisch-kulturellen Argumentation.

Klerikale Nationalisten Eine ganz andere Entwicklung nahm die klerikale Seite. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand im slowakischen katholischen Klerus auf der Basis der päpstlichen Enzyklie „Rerum novarum“ eine sozial ausgerichtete populäre Bewegung. Anfänglich als Teil der gesamtungarischen Volkspartei separierte sich 1905 die slowakische Volkspartei auf der Grundlage des nationalen Prinzips unter der Führung Andrej Hlinkas (1864–1938), wobei sie bis 1913 Teil der Slowakischen Nationalpartei blieb. Mit seinem offenen Widerstand gegen die ungarischen Behörden und seiner klar pro-slowakischen Haltung, traten mit Priester Andrej Hlinka auch die Katholiken in die slowakische Politik ein. Hlinka führte den entstehenden katholischen Flügel der von Milan Hodža wiederbelebten, aber protestantisch dominierten Slowakischen Nationalpartei. Wegen seiner pro-slowakischen Agitation vor den Wahlen im Jahr 1906 wurde er von seinem kirchlichen Amt suspendiert, was indirekt ein Jahr später das so genannte Massaker von Černová auslöste, wo er nicht rechtzeitig zur Einweihung der Kirche erscheinen konnte und die Polizei 15 Menschen der aufgebrachten Menge erschoss. Dieses Ereignis gilt als ein Gründungsmoment des slowakischen Nationalismus.⁴⁸ Ein wichtiger Programmatiker dieser konservativ-klerikal orientierten Nationalisten in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und auch noch in den ersten Nachkriegsjahren war Hlinkas langjähriger Weggefährte und Mitstreiter Ferdinand Juriga (1874–1950). Der von der österreichischen Schule christlicher Sozialisten geprägte Klerikale veröffentlichte zahlreiche Artikel mit seinen gesellschaftspolitischen Ansichten in den Katolické noviny [Katholische Nachrichten]. Er war Abgeordneter im ungarischen Parlament (1906–1918), wo er 1918 erstmals auf slowakisch eine

47 Vgl. Kováč 2002, S. 106. 48 So Kamusella (2009, S. 556), präziser sollte man hier vom Gründungsmoment des slowakischen katholischen Nationalismus des 20. Jahrhundert sprechen, weil das Ereignis so stark mit der Person Hlinkas, dem Führer der Autonomiebewegung in der Zwischenkriegszeit, verbunden ist und vor allem für diesen Nationalismus großen Symbolwert hatte.

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prominente Rede hielt.⁴⁹ Sein Programm formulierte er auf der Grundlage des Christentums und verband es mit nationalen und sozialen Forderungen. Für ihn standen Nationalität und Katholizimus in einem Wechselverhältnis, nicht aber im Widerspruch zueinander. Er unterschied die beiden Begriffe lediglich in ihrem Bezug auf die Natur: Nationalität betrachtete er als kultivierte Natur und damit als einen kulturellen Begriff, Katholizismus hingegen als übernatürliche, spirituelle Natur. Juriga blieb auch als einer der „Altslowaken“ in der Zwischenkriegszeit stark vom kulturellen Nationalismus des 19. Jahrhunderts geprägt. Als gemäßigter Volksparteiler und Kritiker des Radikalisierungskurses gegen Ende der Zwanzigerjahre wurde er aus der Partei ausgeschlossen und verlegte seine Aktivitäten auf die Kulturorganisation Slovenská liga, die Minderheiten- und Grenzfragen durch kulturelle Homogenisierungsprojekte zu lösen versuchte. Insgesamt hatten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts verschiedene Lager der nationalen Bewegung ausdifferenziert, wobei das agrarisch-demokratische und das liberal-demokratische als fortschrittsorientierte dem traditionalistisch-konservativen gegenüberstanden.⁵⁰ Deutlich war auch die Einrichtung von nationalen, das heißt nicht-ungarischen, politischen Parteien und Institutionen. Die wesentlichen Trennlinien innerhalb der slowakischen politischen Elite hatten sich für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bereits herausgebildet, auch wenn in den verschiedenen Lagern Einigkeit über die Gründung eines tschechoslowakischen Staates herrschte. Zankapfel wurde nach dessen Inkrafttreten die Ausgestaltung, die von den jungen Intellektuellen verlangte, sich angesichts der fortgesetzten Rivalitäten zu positionieren. Das bedeutet retrospektiv, dass die Vorgeschichte Wahlmöglichkeiten für die Rezeption nationaler Ideen bereithielt, und nicht zwangsläufig in einen illiberalen slowakischen Nationalismus münden musste.

3.3 Der tschechische Blick Die Binnendifferenzierung der slowakischen Nationalbewegung erhielt nicht zuletzt ihre Impulse von der Auseinandersetzung mit der tschechischen Nationalbewegung und deren Repräsentanten. Die Tschechen waren eine wichtige Instanz, um den Slowaken Elemente der „Slowakizität“ als kultureller Identität zuzuschreiben bzw. als das distinkte Andere zu dienen. Die Haltung der Tschechen war dabei oft paternalistisch.

49 Vgl. das Literaturkapitel in dieser Studie. 50 Bakoš 1999, S. 52.

3.3 Der tschechische Blick |

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In Ottos tschechischer Enzyklopädie von 1905⁵¹ werden Slowaken noch als eine ethnische, territorial verstreute Gruppe aufgefasst. Als Slowaken zählten nicht nur die in Oberungarn lebenden, sondern auch die slowakisch sprechenden Bewohner Mährens. Diese Auffassung findet sich in den Enzyklopädien der Zwischenkriegszeit nicht mehr. Zu dem Zeitpunkt hatte sich die territorialbezogene nationale und politische Auffassung durchgesetzt. In der ethnografischen Beschreibung des Charakters der Slowaken finden sich stereotype Vorstellungen, gegen die sich slowakische nationalistische Intellektuelle in ihren Bestimmungen der „Slowakizität“ häufig wehrten. So werden die Slowaken als primitives Bergvolk beschrieben, als fromm, friedfertig und gutmütig: Slowaken sind ein körperlich gesundes Volk, stark und ausdauernd in der Arbeit, bescheiden in den körperlichen Forderungen. (. . . ) In den nördlichen Städten ist der Charakter des slowakischen Volkes weich und gutmütig, in den südlichen feurig und stürmisch. Der Slowake ist religiös, die Katholiken sind geradezu fromm. Sein Schicksal trägt er geduldig, beschwert sich über keine Arbeit und passt sich allen Gegebenheiten an. Andrerseits ist er trotzig, konservativ, Neuerungen unzugänglich, gegenüber Intelligenten verschlossen und ohne Vertrauen, leider gegenüber Juden offen und mitteilsam. Gegenüber den Herren ist er gehorsam und demütig (. . . ).⁵²

Im Weiteren wird seine Heimatverbundenheit und Vielsprachigkeit hervorgehoben. Die Darstellung der Slowaken ist undifferenziert und stellt psychologisierend auf volkstypische Charakterzüge ab. Die Existenz einer, wenn auch schmalen Elite, wird nicht erwähnt. Es wird das Bild einer rückständigen agrarischen Gesellschaft gezeichnet mit Bauern, die eine Dienermentalität besitzen. Es scheint auch die Vorstellung von einem Naturvolk durch. Doch gab es auch zeitgemäßere Sichtweisen auf die Slowaken als jene der das vermeintliche Allgemeinwissen repräsentierenden Enzyklopädiker. Der spätere Staatsgründer T. G. Masaryk bezeichnete sich selber als dem Ursprung nach mährischen Slowaken und als Tschechen der bewussten Entscheidung nach. Von Anbeginn seiner akademischen und politischen Karriere schenkte er dem Schicksal der Slowaken besondere Aufmerksamkeit. Die „Slowakische Frage“ verstand er als Teil der Tschechischen, und zwar nicht nur aus nationaler oder kultureller Sicht, sondern auch aus politischer. Er integrierte die slowakische Frage zwar in sein nationalpolitisches Konzept, jedoch um den Preis einer slowakischen nationalen Identität.⁵³ Seine Haltung zu slowakischen nationalen Bestrebungen in

51 Ottův Slovník naučný. Illustrovaná Encyklopaedie obecných vědomosti [Ottos wissenschaftliches Wörterbuch. Illustrierte Enzyklopädie des Allgemeinwissens], Bd. 23, Prag 1905, S. 406. 52 Ottův 1905, S. 407 f. 53 Bakoš 1999, S. 60 f.

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der Vergangenheit – die Phase der nationalen Erweckung mit Ľudovit Štúr an der Spitze – und Gegenwart, personifiziert in Martin Rázus und Andrej Hlinka, war eher pragmatischer Natur, wollte er die Slowaken doch für sein tschechoslowakisches Nationalisierungsprojekt gewinnen. Die Verbindung mit den Slowaken sollte die tschechische Nation zahlenmäßig und geopolitisch gegenüber den Deutschen stärken. Die Auffassung von einem einheitlichen Stammesursprung teilte er mit gerade populären Lehrmeinungen. So schrieb er 1889 in einem Brief an den Politiker Karel Kramář: Ich habe Ihnen Slowaken geschickt. Das Bestreben, sich von uns literarisch zu unterscheiden, führt sie jetzt – wörtlich wie politisch – zu einem Russismus. Das Slowakische ist eben nichts anderes als das Tschechische, und wer daraus etwas anderes machen will, wird organisch nichts fertigbringen, ergo – Russismus.⁵⁴

Eine wesentliche Leistung für die Anerkennung der slowakischen Kultur unter den Tschechen vollbrachte der Tscheche Jaroslav Vlček mit seiner ersten slowakischen Literaturgeschichte⁵⁵. Vlček warb bei Masaryk um Verständnis für das Anliegen einer eigenständigen slowakischen Sprache: „Die slowakische Sprache ist in der Slowakei wirklich notwendig.“⁵⁶ Überzeugen konnte er ihn allerdings nur teilweise. Nur wenige Wochen vor der Proklamation der Tschechoslowakischen Republik schrieb Masaryk an den amerikanischen Außenminister Robert Lansing: „Die slowakische Sprache ist ein archaischer Dialekt der tschechischen Sprache. (. . . ) der slowakische Dialekt wird gemäß dem Wunsch der Slowaken in den Schulen und öffentlichen Ämtern der Slowakei verwendet.“⁵⁷ Vlček hingegen ging von einer tschechoslowakischen Nation aus, deren beide, ungleiche Bestandteile sich vollkommen unterschiedlich entwickelt hätten.⁵⁸ Er lobt in seinem Werk die hochstehende literarische Schriftkultur, wobei er von einem – schriftlich verstandenen – „Literaturdialekt“ [literarné nárečí slovenské]⁵⁹ sprach, da die Literatur nicht die gesamten sprachlichen Äußerungen umfasste. Ihm ging es unter anderem darum, das Verhältnis des „slowakischen Literaturdialekts“ zur „tschechischen Schriftsprache“ zu bestimmen. Für die Wissenschaften empfahl er weiterhin die Verwendung des Tschechischen, solange das Slowakische in seiner Terminologie – bedingt durch die politisch-historischen Umstände –

54 Zit. nach Krajčovič 1994, S. 283. 55 Vlček, Jaroslav: Literatura na Slovensku. Její vznik, rozvoj, význam a úspěchy. [Literatur in der Slowakei. Ihre Entstehung, Entwicklung, Bedeutung und Erfolge], Prag 1881. 56 Zit. nach Krajčovič 1994, S. 283. 57 Zit. nach Krajčovič 1994, S. 283. 58 Vlček 1881, S. 11. 59 Vlček 1881, S. 23.

3.3 Der tschechische Blick | 71

zu wenig weit entwickelt sei. An diese Empfehlung hielten sich die nach 1918 an der Universität in Bratislava tätigen tschechischen Professoren hartnäckig und verursachten damit viel Unmut unter den Slowaken. Nach 1918 war Vlček als Kenner der slowakischen Kultur für die Matica slovenská tätig. Seine Auffassung von einer nicht ausreichend entwickelten slowakischen Sprache beeinflusste auch die Auseinandersetzungen um die Reform der slowakischen Orthographie.⁶⁰ Von der im vorausgegangenen Jahrhundert wieder auflebenden Zusammenarbeit zwischen Tschechen und Slowaken mit der Idee des Tschechoslowakismus übernahmen auch slowakische führende Intellektuelle tschechische Ideen über die slowakische Sprache und Kultur. Die Legitimität des Slowakischen als eigenständige Sprache wurde wieder ernsthaft diskutiert und mit dem Ruf nach einer tschechoslowakischen Sprache verbunden. Das Tschechische und die Bibličtina wurden demnach als ein und dieselbe Sprache vorgestellt, die durch die ŠtúrHattala-Kodifikation ins Slowakische und Tschechische aufgespalten wurden. Auf der akademischen Ebene legitimierte Hodža mit seiner – auf Slowakisch verfassten – Doktorarbeit diese „Wiederherstellung“ der tschechoslowakischen Sprache.⁶¹

Fazit Die Geschichte der slowakischen Schrift lässt sich nicht losgelöst von den Aktivitäten der politischen Akteure betrachten. Vielmehr sind die Bemühungen, eine einheitliche slowakische Schrift zu kodifizieren, gerade ein wesentliches Argument bei der Ausbreitung und Ausgestaltung der Kategorie des Nationalen. Bis 1918 hatte die Slowakei kein umgrenztes Territorium vorzuweisen, was die slowakische Sprache zum zentralen Gruppenbildungsargument der Nationalisten machte. Nachdem Mitte des 19. Jahrhunderts ein Schriftkompromiss für die verschiedenen slowakischen konfessionellen Lager gefunden worden war, verlagerten die national orientierten Intellektuellen ihre Aktivitäten auf die kulturelle Institutionalisierung. Der gegen slowakische Kultur- und Bildungsinstitutionen gerichtete Magyarisierungsdruck stärkte und festigte unbeabsichtigt die Kategorie des Nationalen. Beeinflusst wurde die Frage nach der Kategorie des Nationalen mit Sprache und Kultur als ihren bestimmenden Attributen auch durch die gesellschaftliche Modernisierung. Diese hatte zwar den böhmischen Teil Österreichs als industrialisiertesten Landesteil weitaus stärker betroffen als den oberungarischen. Nichtsdestoweniger wirkten auch neue Ideen, etwa der Liberalismus, auf die verschiedenen nationalistischen Aktivitäten ein. Das hatte zur Folge, dass die Nationsvorstellun60 Zur Rechtschreibreform ausführlich im Kapitel zur institutionellen Praxis in dieser Studie. 61 Kamusella 2009, S. 561.

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gen nun unterschiedlich attribuiert wurden. Es entstanden so die gegensätzlichen Lager von tschechischen Realisten und slowakischen Hlasisten auf der einen Seite sowie den slowakischen konservativen Kreisen, die durch die Klerikalen dominiert wurden. Insofern wurde die Kategorie des Nationalen mit weiteren Attributen wie demokratisch, sozial bzw. „von Gott geschaffen“ versehen und somit weiter ausdifferenziert oder abgewandelt. Wichtige Impulse für den Prozess der kulturellen Bestimmung der Kategorie „national“ bekamen die slowakischen von tschechischen und tschechoslowakischen Nationalisten. Eine wesentliche Rolle spielte dabei die Reflexion des Verhältnisses der tschechischen zur slowakischen (Schrift-)Sprache, die auch Staatsgründer Masaryk massgeblich beeinflusste.⁶² Wie der Diskurs des Nationalen unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen nach 1918 fortgeführt wurde, wird im folgenden Kapitel nachgezeichnet.

62 Diesen wichtigen Hinweis auf Vlčeks Einfluss auf Masaryk verdanke ich Robert Pynsent.

4 Tschechoslowakische Nationalisierung und slowakischer Nationalismus Die Gründung der Tschechoslowakischen Republik wurde während des Ersten Weltkriegs im wesentlichen außerhalb der Grenzen der Doppelmonarchie vorbereitet, und zwar unter Führung einzelner Persönlichkeiten wie des späteren Präsidenten Tomáš G. Masaryk, Edvard Beneš und des Slowaken Milan R. Štefaník. Die Verhandlungen fanden zum einen in Russland respektive der Sowjetunion statt, wo die tschecho-slowakischen Legionen ein Zentrum des nationalen Kampfes gegen die Monarchie darstellten.¹ Zum anderen waren die tschechischen und slowakischen Emigranten in den USA die Vertragspartner, als es um die Absicht ging, einen tschechoslowakischen Staat zu gründen. Masaryk unterzeichnete mit Emigranten in Pittsburgh das gleichnamige Abkommen am 30. Mai 1918 und rief die Selbständigkeit der Tschechoslowakei ebenfalls in den USA aus: am 18. Oktober 1918 in Washington. Das tschechoslowakische Gesetz über die Staatsgründung wurde erst zehn Tage später in Prag verabschiedet. Unter diesen Voraussetzungen verwundert es nicht, dass die Menschen den neuen Staat nicht überall begrüßten. Demokratisch legitimiert war er nicht, vielmehr das Ergebnis von individuellem Engagement und Verhandlungsgeschick gegenüber den alliierten Mächten sowie dem günstigen historischen Augenblick, der durch die Kapitulation Kaiser Karls entstanden war. In den Grenzgebieten Tschechiens, Mährens und Schlesiens musste die neue Staatlichkeit mit militärischen Mitteln gegen den Widerstand der deutschsprachigen Bevölkerung durchgesetzt werden. In der Slowakei war die Ausgangssituation etwas anders. Die Anhänger der „Deklaration von Martin“ vom 30. Oktober 1918, die den Slowakischen Nationalrat offiziell als Repräsentanten der Slowakei verkündete, schwärmten in die Slowakei aus und unterstützten die Gründung von 350 Nationalausschüssen, die teilweise über Waffen verfügten.² Den neuen slowakischen Agitatoren standen die etablierten, wesentlich zahlreicheren ungarischen Organe gegenüber, die von Budapest die Anweisung erhielten, Oberungarn um jeden Preis zu verteidigen. Unter diesen Bedingungen brachen unter der Bevölkerung gewaltvolle Unruhen aus. Die Menschen auf dem Lande und in den Kleinstädten rächten sich an lokalen Repräsentanten der Macht oder einfach an der Oberschicht, plünderten Geschäfte, Wirtshäuser oder rodeten herrschaftliche Wälder. Im November besetzten – überwiegend tschechische – Soldaten und Milizionäre von

1 Čaplovič, Dušan, Čičaj, Viliam, Kováč, Dušan et al.: Dejiny Slovenska, Bratislava 2000, S. 219 f. 2 Čaplovič 2000, S. 225.

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Mähren aus den westlichen Teil der Slowakei. Zusammen mit Freiwilligen, die sich ihnen anschlossen, brachten sie die Slowakei bald unter ihre Kontrolle und besetzten am 29. Dezember 1918 die ungarisch geprägte Stadt Košice im äußersten Osten der Slowakei. Für eine Stabilisierung der Situation sorgten auch zwei Divisionen von Legionären, die von Italien in die Slowakei verschoben wurden. In jenen Tagen wurde zudem das Ministerium mit Vollmacht für die Verwaltung der Slowakei unter Leitung Vavro Šrobárs in der nordslowakischen Stadt Žilina eingerichtet und am 1. Januar 1919 nach Pressburg verlegt. Als externes exekutives Prager Organ substituierte es quasi eine eigene slowakische Legislative. Neben dieser Besetzung oder Befreiung – je nach Perspektive – durch die tschechischen resp. tschechoslowakischen Kräfte erlebten die Menschen auch den Ansturm der ungarischen Roten Armee, nachdem Kommunisten am 21. März 1919 in Budapest die Macht übernommen hatten. Die ungarischen Truppen drangen fast bis an die polnische Grenze vor und riefen in der ostslowakischen Stadt Prešov eine slowakische Räterepublik aus. Die Kämpfe währten einige Wochen und über die Slowakei wurde das Standrecht verhängt. Der Staat begann sich in der Slowakei erst mit den Grenzziehungen während der Pariser Friedensverhandlungen zu konsolidieren.

4.1 Ambivalenter Tschechoslowakismus Das Jahr 1918 rückte mit der Gründung der tschechoslowakischen Republik die Erfüllung jener Forderungen in greifbare Nähe, die in der Revolution von 1848 eine kleine Gruppe von nationalen Aktivisten aufgestellt hatte. Die wesentlichen Forderungen waren die Anerkennung der slowakischen Nation, der offizielle Status der slowakischen Sprache und die legislative Autonomie. Gleichzeitig knüpften Ľudovit Štúr und seine Mitstreiter liberale Forderungen daran wie die nach Pressefreiheit, Vereins- und Versammlungsfreiheit sowie die demokratische Forderung nach universalem Wahlrecht. Die Bewohner des slowakischen Landesteils profitierten vom Zusammenschluss mit den böhmischen Ländern, insofern als die liberalen und demokratischen Forderungen erfüllt wurden; so konnte sich das politische und kulturelle Leben in der Slowakei entfalten. Als Preis zahlten die Slowaken allerdings die Aufgabe der Kernaspekte des nationalen Programms: nationale Anerkennung und Autonomie.³

3 Kováč, Dušan: Die tschechisch-slowakischen Beziehungen aus der Sicht der Historiker, in: Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder, 1991, 32, 1, S. 60–76.

4.1 Ambivalenter Tschechoslowakismus |

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Slowaken und Tschechen gingen den gemeinsamen Staat mit unterschiedlichen Motivationen an. Während für den tschechischen Teil die Staatsgründung eine Realisierung der alten böhmisch-staatsrechtlichen Idee bedeutete – mit Erweiterung um den slowakischen Teil –, betrachtete die slowakische Seite die Gründung als eine vertragliche Regelung zwischen zwei Subjekten, ohne Anknüpfung an ein altes staatsrechtliches Programm.⁴ Die Tschechen verstanden den neuen Staat als ihren eigenen, konnten sich problemlos mit ihm identifizieren und akzeptierten die tschechoslowakische Identität, unter der sie ohnehin die tschechische verstanden. Die Slowaken hingegen, die noch bis 1914 eine Autonomie im Rahmen Ungarns verwirklichen wollten, bestanden auf der Selbständigkeit der beiden Subjekte, was sich in ihrer Forderung nach der Schreibung von „tschecho-slowakisch“ mit einem Bindestrich ausdrückte. Ein Teil der slowakischen Repräsentanz indessen akzeptierte den tschechischen Zentralismus im Interesse eines starken Staates. Damit wurde der Kampf um die Autonomie, so James Felak, den nicht demokratisch orientierten Kräften in der Slowakei überlassen.⁵ Ein wesentliches Problem aus Sicht slowakischer Nationalisten stellte die verfassungsmäßig festgehaltene Idee der tschechoslowakischen Einheit und deren Konsequenzen dar. Eine Föderation⁶ kam für die Staatsgründer ebensowenig in Frage wie eine regionale Autonomie, auch wenn diese in verschiedenen Dokumenten für einen späteren Zeitpunkt versprochen wurde. Zum einen brauchten die Tschechen die Slowaken, um mit ihnen gemeinsam zahlenmäßig der deutschen Minderheit überlegen zu sein. Ebenso sollte die Gewährung einer Autonomie keinen Präzedenzfall für andere Minoritäten im Staat schaffen, etwa für die 1921 in der Slowakei gezählten 650 547 Ungarn⁷. Aus der festgelegten nationalen Einheit legitimierte sich die zentralisierte Verwaltungsstruktur. Nationales Parlament, Regierung und Behörden befanden sich in Prag. Anstelle einer eigenen Legislative wurde für die Slowakei lediglich ein Ministerium mit Vollmacht zur Verwaltung der Slowakei eingerichtet, das seinen Sitz in der Slowakei hatte. Somit war die Slowakei politisch untergeordnet, was sich nicht zuletzt in der Zuteilung der Haushaltsmittel niederschlug.

4 Kováč 1991, S. 62 ff. 5 Kováč 1991, S. 63 f. 6 Die etablierte Sichtweise, dass nur die Form einer Einheit, nicht aber einer Föderation für die Staatsform in Frage kam, war laut Carol Skalnik Leff das Ergebnis strategischer Überlegungen mit Blick auf die internationale Lage; vor allem sollten potenzielle deutsche und ungarische Interessen mit Hilfe einer zahlenmäßig überlegenen slawischen Titularnation abgewehrt werden. Leff, Carol Skalnik: National Conflict in Czechoslovakia. The Making and Remaking of a State, 1918–1987, Princeton 1988, S. 135 f. 7 Felak 1994, S. 19.

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Die Idee des Tschechoslowakismus basierte auf der Annahme einer fundamentalen Verwandschaft zwischen Tschechen und Slowaken. Doch die Führer des neuen Staates beharrten nicht auf einer primordialen Auffassung von der gemeinsamen Nation. Vielmehr bevorzugten sie die Idee der Staatsnation. Das subjektive Empfinden der Zugehörigkeit zu einer Nation hielten sie für bedeutender als die sogenannten objektiven Kriterien wie gemeinsame Sprache, Vergangenheit, Kultur, Bräuche oder Territorium.⁸ Indem die neue politische Führung nationale Identität als Frage des Bewusstseins betrachtete, widersprach sie selbst der umfangreichen zeitgenössischen historischen und ethnographischen Forschung.⁹ Doch ließ sich nach diesem Konzept das Konstrukt der tschechoslowakischen Nation wesentlich besser legitimieren als etwa mit Hilfe historischer oder sprachlicher Gemeinsamkeiten. Eindrücklich ist in diesem Zusammenhang, wie mit zeitlichem Abstand in den tschechischen Enzyklopädien definiert wurde, was eine Nation ausmache. 1901 findet sich in Ottos Enzyklopädie eine deutlich von Kollár und Herder geprägte Auffassung. Im weiteren Sinne, heißt es dort, gebe es eine slawische Nation als ein Ganzes, im engeren Sinne eine russische, polnische oder tschechische als Teile der großen slawischen Nation. Dementsprechend sei die Nationalität aus einer Zahl bestimmter Merkmale charakterisiert, wobei die Sprache das deutlichste ist. „Deshalb verteidigt jede bewusste Nation, die um ihre Existenz ringt und nicht entnationalisiert werden möchte, vor allem ihre Sprache.“¹⁰ Dieser Eintrag zum Begriff „Národ“ [Nation/Volk] umfasst gerade einmal ein Drittel einer Spalte. Im Ergänzungsband mit den Neuheiten aus dem Jahr 1936 ist der Eintrag zum selben Begriff¹¹ auf zweieinhalb Lexikonseiten angewachsen. Grundsätzlich werden nun „objektive“ Kriterien wie Territorium, Rasse, Sprache, Kultur, Geschichte, Staat und Religion von den „subjektiven“ unterschieden. Zu den subjektiven gehört das nationale Bewusstsein, zitiert wird dabei neben anderen Ernest Renan mit der Idee von der Nation als täglichem Plebiszit. Der Artikel favorisiert schließlich eine Verbindung von Ideen der kulturellen, politischen und sozialen Nation, die als die fortschrittlichste Version dargestellt wird und deutlich auf die tschechoslowakische Ideologie abzielt. Die soziale Idee bedeutet, dass allen Zweigen der Gesellschaft die größtmögliche soziale Gerechtigkeit zukommen solle. Weil eine nationale Heimat in diesem Sinne auch das Recht auf die gemeinsame Entscheidung über deren Gestaltung voraussetzt, was das wesentliche Merkmal der demokratischen Idee 8 Leff 1988, S. 133. 9 Leff 1988, S. 135. 10 Ottův Slovník naučný. Illustrovaná Encyklopaedie obecných vědomosti [Ottos wissenschaftliches Wörterbuch. Illustrierte Enzyklopädie des Allgemeinwissens], Bd. 17, Prag 1901, S. 1046. 11 Ottův Slovník naučný. Nové doby. Prag 1936, S. 433–436.

4.1 Ambivalenter Tschechoslowakismus |

77

ist, verbindet sich so die Idee der ‹sozialen Nation› mit der Idee der ‹politischen Nation› zu einer Einheit, damit sie die Voraussetzungen für eine vollständige Entwicklung der nationalen kulturellen Anstrengungen schaffen.¹²

Die Erste Repubik dient als Folie der Beschreibung. Hier wird ein liberales, staatsbürgerliches Nationskonzept beschrieben, dem als zweite Stufe die Schaffung einer nationalen Kultur folgt. Beziehungsweise ermöglicht erst die Staatsform ihren Mitgliedern die kulturelle Entfaltung. Die Zwischenkriegszeit ist zweifelsohne die Zeit, in der ein slowakisches Nationalbewusstsein nicht mehr nur von einer Elite getragen wurde, sondern sich auch unter Teilen der Bevölkerung verbreitete. Somit hat, wie Hans Lemberg zurecht feststellt, die Erste Tschechoslowakische Republik für die slowakische Nation einen entscheidenden Entwicklungsschub gebracht, auch wenn dies entgegen der Absicht der tschechoslowakischen Staatsführung geschah. Doch verlief dieses Geschehen nicht von selbst, wie Lemberg nahe legt, etwa durch die allgemeine Schulbildung in slowakischer Sprache, Hochschulbildung und Amtssprache.¹³ Vielmehr ist hier von einer Entwicklung auszugehen, die zu einem beträchtlichen Teil als Widerstand gegen die tschechische Dominanz in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens in der Slowakei ausgelöst wurde. Ein Ziel des Tschechoslowakismus war es, das Niveau der slowakischen Kultur anzuheben und durch das Verschmelzen mit der angeblich reicheren tschechischen Kultur eine nationale slowakische Kultur überhaupt erst zu schaffen. Die Ansicht, dass die soziale und kulturelle Entwicklung die Sicherheit des Staates fördern und eine nationale Integration schaffen würde, ist vor allem auf den Einfluss von Masaryks humanistisch geprägtem Denken zurückzuführen.¹⁴ Das vorrangige Instrument kultureller Entwicklung im Sinne des Tschechoslowakismus waren die Schulen, die neu gegründet oder aus der kirchlichen in die staatliche Hand überführt wurden. Lehrmittel und vor allem das Lehrpersonal stellten die Tschechen und bereiteten damit den Boden für gehässige Debatten und Sozialneid auf slowakischer Seite. Die etwas blauäugigen Prager Politiker indessen vertrauten noch bis in die Dreißigerjahre darauf, dass die tschechische „kulturelle Hilfe“ die Beziehungen zwischen Tschechen und Slowaken konsolidieren würde. Der Tschechoslowakismus würde sich immer mehr etablieren, meinten sie, je gebildeter die Slowaken würden und je mehr sich der kulturelle Graben schließen würde.¹⁵

12 Ottův 1936, S. 436. 13 Lemberg, Hans: Die tschechisch-slowakischen Beziehungen aus der Sicht der Historiker, in: Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder. 1991, 32, 1, S. 69–73. 14 Leff 1988, S. 138 f. 15 Leff 1988, S. 140.

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Doch genau das Gegenteil trat ein: Die im neuen System ausgebildeten Akademiker erwiesen sich als radikalere Nationalisten als die ältere Generation, die die ungarischen Verhältnisse noch aus eigener Anschauung kannte und deshalb eher zu Kompromissen gegenüber den Tschechen bereit war. Die tschechoslowakische Führung setzte vor allem auf die soziokulturelle Entwicklung, in der Annahme, auf diesem Weg lasse sich die tschechoslowakische Gesellschaft homogenisieren. Diese Modernisierungspolitik brachte jedoch eine besser gerüstete, intellektualisierte nationalistische Opposition hervor.¹⁶ Was lag da näher, als den kulturellen Tschechoslowakismus mit seinen eigenen Waffen, also auf dem Feld der Kultur, zu bekämpfen? Das Bildungssystem bot sich dafür nicht an, da es ein zentrales Instrument der Tschechoslowakisierung war, stattdessen konzentrierten die nationalistischen Akteure ihre Aktivitäten auf eine Vielzahl von Institutionen und Presseorganen. Prags Strategie, lediglich eine kulturelle Autonomie zu gewähren und deshalb in die kulturelle Entwicklung der Slowakei zu investieren, nicht aber in die wirtschaftliche oder politische Eigenständigkeit, schuf zwar begründete Unzufriedenheiten in der rückständigeren Slowakei, doch waren die Voraussetzungen für die Bildung einer slowakischen intellektuellen Elite äußerst günstig, da der Zentralstaat kulturelle Institutionen relativ stark förderte. Gleichzeitig war der Staat nicht in der Lage, diese Institutionen vollständig zu kontrollieren und im tschechoslowakischen Sinne zu führen. Insgesamt ging Masaryks Versuch, einen staatsbürgerlichen Nationalismus zu etablieren, der die zum Staat passende tschechoslowakische Nation hervorbringen sollte, nicht auf. Der ethno-linguistische Nationalismus¹⁷ war durch die Vergangenheit im Habsburger Reich fest verankert, was sich darin zeigte, dass er auch nach 1918 ein starkes Mobilisierungspotenzial bereithielt.

4.2 Ungleiche Startbedingungen Als eine Handvoll tschechischer und slowakischer Nationalisten, mit Unterstützung der in den USA organisierten Emigrantenorganisationen, einen gemeinsamen Staat der Tschechen und Slowaken gründeten, trafen zwei in ihren wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Voraussetzungen recht unterschiedlich entwickelte Entitäten zusammen. Die tschechische Nationalbewegung war im Laufe des 19. Jahrhunderts stark und selbstbewusst geworden, Böhmen war ein

16 Leff 1988, S. 148. 17 Vgl. die begriffliche Differenzierung im methodischen Teil dieser Arbeit.

4.2 Ungleiche Startbedingungen | 79

hochindustrialisiertes Gebiet Habsburgs, es gab eine breite Mittelschicht und Arbeiterklasse. Ein tschechisches Schulsystem hatte sich etabliert. Viele Tschechen hatten bereits im österreichischen Verwaltungsapparat gearbeitet sowie parlamentarische Erfahrungen gesammelt. Oberungarn hingegen war in all diesen Aspekten schwach entwickelt. Die Gesellschaft bestand zum großen Teil aus Bauern und kleinbürgerlichen Stadtbewohnern. Der Adel sowie Arbeiter und Bürgerliche wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts magyarisiert. Faktisch ausgeschlossen von der ungarischen Politik und Verwaltung hatten Slowaken keine Erfahrung in der Selbstverwaltung. Zum Zeitpunkt der Staatsgründung mit den Tschechen war die slowakische Gesellschaft noch weitgehend traditionell, religiös und rural. Auch ein slowakisches nationales Bewusstsein verbreitete sich weniger gut als in den böhmischen Ländern.¹⁸

Status und „Magyaronen“ Die Slowaken hatten aus der Zeit der Doppelmonarchie ein Problem mit dem sozialen Ansehen geerbt, das sich nicht so schnell beseitigen ließ, obgleich Ungarn und dem Namen nach magyarisierte Slowaken nach 1918 umgehend aus dem Staatsdienst entlassen wurden und viele der Angehörigen der städtischen Eliten sich nach Ungarn absetzten. Tatsächlich aber emigrierten generell aus den ungarischen Nachfolgestaaten nur relativ wenige ungarischsprachige Bewohner, aus der Tschechoslowakei gut 50 000 Personen, wobei diese im Wesentlichen der Mittel- und Oberschicht angehörten. Zuerst setzten sich jene ab, die am meisten vor Repressionen durch die neue Staatsmacht zu fürchten hatten, wie Großgrundbesitzer, hohe Militärs, Verwaltungsbeamte von Gerichten und Polizei. Diesen folgten aufgrund der Entmagyarisierung der öffentlichen Verwaltung Staatsangestellte und solche aus dem Bildungsbereich, was vor allem Angehörige der Mittelschicht betraf. Diese waren nicht auf der Flucht aus Angst um Leib und Leben, sondern aus wirtschaftlichen Gründen. Eine dritte Gruppe begab sich nach Ungarn als Folge der Bodenreform. Von der Auflösung der großen Ländereien, deren Besitzer als Ungarn betrachtet wurden, waren auch die Verwalter und sonstige Beschäftigte auf den Gütern betroffen. Jedoch die große Masse an Bauern, die den größten Teil der ungarischsprachigen Bevölkerung ausmachte, migrierte nicht in großem Ausmaß. In bescheidenem Umfang profitierten sie sogar von der Umverteilung des Landes.¹⁹ Von den ethnischen Ungarn ging somit für den tschechoslowakischen

18 Felak 1994, S. 16 f. 19 Brubaker 1996, S. 157 f. Die Zahl von 50 000 Ungarn ist dennoch eher tief, da 1921 im Vergleich zu 1910 rund 250 000 Personen weniger das Ungarische als Umgangs- bzw. Muttersprache ver-

80 | 4 Tschechoslowakische Nationalisierung und slowakischer Nationalismus

Staat und die sich neu bildenden Eliten keine ernsthafte Gefahr aus²⁰, da sie keine Konkurrenz im Ringen um institutionelle oder wirtschaftliche Positionen darstellten. Hingegen spielte die migrierte deklassierte Oberschicht eine Hauptrolle in den gegenrevolutionären Bewegungen der Jahre 1919 und 1920 und prägte zudem die ungarische Außenpolitik in der Zwischenkriegszeit durch ihren kompromisslosen Revisionismus. Der ungarische Revisionismus lieferte den Tschechen einen guten Vorwand, um gegenüber den Slowaken eine föderale Lösung der Staatsfrage zu verweigern. Eine Ansicht des renommierten Zentraleuropa-Historikers George Schöpflin bestätigt sich aufgrund der gesichteten Materialien allerdings nicht.²¹ Die slowakische Nationalideologie sei deutlich anti-ungarisch ausgerichtet gewesen.²² Das mag für die ganz frühe Nachkriegszeit gegolten haben, in der auch noch kriegerische Auseinandersetzungen stattfanden. Für die weiteren Phasen, in der sich die ČSR als Staat etablierte, lässt sich das nicht feststellen. Zwar wurde die Vergangenheit nachdrücklich als oppressiv für die Slowaken gedeutet – und dafür stand die ungarische Herrschaft als Sinnbild –, doch in der Zwischenkriegszeit erfüllten solche Geschichtsinterpretationen eher den aktuellen Zweck, gegen den eigenen Staat zu mobilisieren. Es gab es auch einen großen Teil Slowaken, die sich gerade in der Zeit um 1900 neu ethnisch ungarisch identifizierten, um so den Aufstieg in die bürgerlichen Eliten zu schaffen. Ein großer Teil dieser so genannten „Magyaronen“ reslowakisierte

wendeten. Vgl. Zemko, Milan, Bystrický, Valerián (Hg.): Slovensko v Československu (1918–1939), Bratislava 2004, S. 496, Tabelle 4. – In Einzelfällen veränderte jedoch die Neuverteilung des Landes deutlich die ethnische Dominanz eines Gebietes, etwa im Fall von Žitný ostrov, die vor der Landverteilung rein ungarisch besiedelt und nachher von tschechischen und slowakischen Kolonisten neu besiedelt wurde. Vgl. Petráš, René: Menšiny v meziválečném Československu. Právní postavení národnostních menšín v první Československé republice a jejich mezinárodněprávní ochrana [Minderheiten in der Zwischenkriegs-Tschechoslowakei. Die rechtliche Stellung der nationalen Minderheiten in der Ersten Tschechoslowakischen Republik und ihr völkerrechtlicher Schutz], Prag 2009, S. 274. 20 Auch Petráš betont, dass das Verhältnis zu den Ungarn in der Slowakei sich verglichen mit der deutschen Minderheit relativ konfliktfrei gestaltete. Statt wie früher höhere Bildungsinstitutionen in Budapest aufzusuchen, gingen viele slowakische Ungarn ab der Republikgründung nach Prag. Petráš 2009, S. 274 f. 21 Schöpflin, George: Hungary and its neighbours, Paris 1993, S. 4 f. 22 Dieser Ansicht steht auch entgegen, dass jede slowakische Partei in den frühen Nachkriegsjahren eine pro-ungarische Sektion unterhielt sowie, dass auch die Mehrheit der katholischen Intelligenz pro-ungarisch dachte und dem jungen tschechoslowakischen Staat kritisch gegenüberstand. Vgl. Hoensch, Jörg K.: Slovakia: „One God, One People, One Party!“ The Development, Aims, and Failure of Political Catholicism, in: ders., Richard J. Wolff (ed.), Catholics, the State, and the European Radical Right 1919–1945, New York 1987, S. 158–181; hier S. 162.

4.2 Ungleiche Startbedingungen |

81

sich rasch und erholte sich innerhalb weniger Jahre von den Folgen des Umsturzes im Jahr 1918. Die materielle Basis der städtischen Eliten wie Grundbesitz, Häuser, eingeführte Gewerbe, Werkstätten, Arzt- und Anwaltspraxen behielten oder steigerten ihren Wert sogar.²³ Der soziale Status der Slowaken als Unterschicht und des Slowakischen als Unterschichtssprache war schwer zu beseitigen, auch wenn für die äußerliche Slowakisierung der Städte, etwa durch die Umbenennung von Straßen, Beseitigung von Denkmälern aus der ungarischen Zeit, die Slowakisierung von Geschäftsauftritten, viel getan wurde. Die slowakischen Nationalisten führten Kampagnen gegen den Gebrauch des Ungarischen im öffentlichen Raum, der sich rasch re-etablierte. In den Kaffeehäusern lagen weiterhin deutschoder ungarischsprachige Zeitungen aus. Slowakische Zeitungen wurden spärlich abonniert. Auch der Absatz slowakischer Bücher war stets Anlass zur Klage. Da es bis 1918 praktisch keine höhere Bildung auf Slowakisch gab, sprachen auch die bekennenden Slowaken mitunter schlecht slowakisch. Dementsprechend war die Orthographie ein großes Problem, da es den Slowaken an schriftlicher Übung mangelte sowie zeitgemäße und einheitliche Rechtschreibnormen fehlten.

Weitere Minderheiten In der Slowakei bildeten die Ungarn die größte anerkannte nationale Minderheit, im tschechischen Landesteil die Deutschen. Hinzu kamen Polen und Ruthenen als weitere anerkannte nationale Minderheiten. Als Nationalitäten wurden aus politischen Gründen im Zensus von 1921 zudem Juden und Roma erfasst.²⁴ Der Gesetzgeber hatte es von vornherein unterlassen, „Nation“ oder „Nationalität“ allgemein zu definieren, was ein übliches Vorgehen gewesen wäre.²⁵ Dieser Mangel gibt einen Hinweis darauf, wie eng die statistische Erfassung von Minderheiten bzw. Nationalitäten in der Tschechoslowakei mit dem offiziellen Nationalisierungsprojekt verknüpft war. Ähnlich wie die ungarischsprachigen Bewohner der Slowakei slowakische Nationalisierungsprojekte nicht ernsthaft gefährdeten, stellte auch die deutsche Minderheit kein gesamtnationales Risiko dar. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges

23 Lipták, Ľubomír: Elitewechsel in der bürgerlichen Gesellschaft der Slowakei im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Elena Mannová (Hg.), Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft in der Slowakei 1900–1989, Bratislava 1997, S. 67–80; hier S. 78. 24 Gyurgyík, Lászlo: Changes in the Demographic, Settlement, and Social Structure of the Hungarian Minority in (Czecho-)Slovakia between 1918–1998, Budapest 1998. (= Occasional Papers 13), S. 4. 25 Petráš 2009, S. 287.

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wurden mit einem Mal drei Millionen Sudetendeutsche in der Tschechoslowakei zur Minderheit. Doch im Gegensatz zu den deutschen Gebieten, die an Polen gingen, war hier die Migration relativ gering, vor allem im vormals ungarischen Teil. Denn dort hatte sich der Status der Deutschen weniger drastisch geändert. Vorher herrschten Ungarn über die Deutschen, nun waren es Slowaken und Tschechen. Den Verwaltungsapparat hatte ungarisches Personal bestellt, und im Besitz großer Ländereien waren die Deutschen auch nicht.²⁶ Je weiter östlich, desto größer wurde in der Republik der Anteil der Bevölkerung, die sich zum jüdischen Glauben bekannte. Am niedrigsten war er in Böhmen mit 1,2 %, höher in der Slowakei mit 4,5 % und am höchsten mit 15,4 % in der Karpato-Ukraine. Das Bekenntnis zum Glauben und die nationale Zugehörigkeit deckten sich jedoch nicht. 1921 wurden 354 000 Jüdisch-Gläubige gezählt, von denen sich weniger als die Hälfte als Teil einer jüdischen Nation wahrnahm.²⁷ Die Einführung der jüdischen Nationalität folgte nicht dem Prinzip der Sprachgemeinschaft, sondern dem der Glaubensgemeinschaft. Jiddisch wurde wie bereits in Österreich-Ungarn nicht als Sprache anerkannt, höchstens für offizielle Zwecke unter Deutsch subsumiert.²⁸ Bemerkenswert an der staatlichen Bevölkerungspolitik ist, dass eine Glaubensgemeinschaft sich sehr wohl national assimilieren kann, jedoch nicht eine nationale Gemeinschaft. Die Anerkennung der Juden als nationale Gemeinschaft erwies sich im Nachhinein eher als ein ambivalenter Verdienst, doch reagierte der Staat, besonders unter Masaryks Engagement, auf eine starke jüdischnationale Bewegung in Böhmen und Mähren. Einerseits wollte Staatspräsident Masaryk als liberaler Demokrat nationale Rechte auch für Juden gelten lassen²⁹, andrerseits ist der pragmatische Aspekt der nationalen Anerkennung von Juden nicht zu übersehen. Denn für die nationale Statistik war es günstig, wenn sich Juden als Nationalität identifizierten, weil dann in den Böhmischen Ländern der Umfang der deutschen Minderheit zugunsten der jüdischen Nationalität abnahm und entsprechend in der Slowakei die Zahl der ungarischen und in kleinerem Ausmaß auch der deutschen Minderheit zugunsten der jüdischen Nationalität zurückging. Während der ungarischen Herrschaft verstanden sich die Menschen jüdischen Glaubens überwiegend als Teil der ungarischen Nation, was die slowakischen Nationalisten ihnen in der Zwischenkriegszeit zum Vorwurf machten. Es war für Juden wesentlich attraktiver gewesen, die offizielle Sprache des Staates zu erwerben,

26 Brubaker 1996, S. 161. 27 Petráš 2009, S. 276. 28 Kamusella 2009, S. 831. 29 Mendelsohn, Ezra: The Jews of East Central Europe between the world wars, Bloomington 1983, S. 147 ff.

4.2 Ungleiche Startbedingungen |

83

insbesondere als das Königreich seinen starken ethnisch-kulturellen Homogenisierungsdruck aufsetzte. Zur Unterstützung seines Nationalisierungsprojektes hatte der ungarische Staat zudem versucht, die Juden für sich zu gewinnen. Unter diesen Voraussetzungen wurden Juden in der Slowakei mit der ungarischen sozialen, kulturellen und politischen Dominanz verbunden. Nicht nur daraus erwuchs ein starker Antisemitismus unter den slowakischen nationalen Führern, sondern auch aus ihrer engen Verbindung zur katholischen Kirche. Abgesehen davon gab es auch einen deutlichen Kontrast zwischen dem schwach entwickelten slowakischen Bürgertum und einer existierenden jüdischen Mittelschicht, die besonders im lokalen Handel stark war.³⁰ Jüdische Ladenbesitzer, Händler und Gewerbetreibende waren – im Unterschied zum tschechischen Landesteil – eher als dominant in der lokalen Wirtschaft zu betrachten. Auch in den akademischen Berufen wie Anwalt und Arzt stellten Juden den überproportionalen Anteil; selbst in den späten 1930erJahren waren 40 Prozent der Ärzte in der Slowakei jüdisch. Das führte unter anderem dazu, dass Juden generell als Angehörige der Mittelschicht wahrgenommen wurden, auch wenn sie tatsächlich weitgehend der unteren Mittelschicht und dem Proletariat zuzurechnen waren.³¹ Obwohl in der Tschechoslowakei von staatlicher Seite aus eine viel größere Toleranz gegenüber Juden praktiziert wurde als etwa in Polen und Ungarn, hielt sich in der Bevölkerung ein populärer Antisemitismus. Im Zuge der Wirren am Kriegsende, der neuen Grenzziehungen und kriegerischen Auseinandersetzungen kam es 1918 und 1919 in der gesamten Tschechoslowakei zu pogromartigen Ausschreitungen. Besonders ernsthaft verliefen diese jedoch in der Slowakei, wo das kommunistische Regime von Béla Kun politische und soziale Unruhen verursachte. Eine Beschwerde der World Zionist Organisation über die antisemitischen Kampagnen in der Slowakei im Jahr 1919 beantwortete der bevollmächtigte Slowakeiminister Vavro Šrobár mit dem Verweis auf „all das ernsthafte Leid, das jüdische Landbesitzer und Gastwirte dem slowakischen Volk jahrzehntelang angetan“ hätten. Weiter erklärte er den Hintergrund zu den antisemitischen Kampagnen mit der Rolle, die Juden als Instrument der Magyarisierung gespielt und somit das slowakische Volk verraten hätten, insbesondere im vorangegangenen Krieg. Zudem hätten sie bolschewistische Truppen angeführt und sich somit nochmals feindlich gegenüber der Republik verhalten.³² Šrobár kolportierte mit seinen Äußerungen ungefiltert den slowakischen Antisemitismus, obgleich er selber Masaryk nahestand. Slowakische Separatisten hielten Juden in der Folge nicht nur ihr wirtschaftliches

30 Mendelsohn, 1983, S. 139 ff. 31 Mendelsohn 1983, S. 145. 32 Mendelsohn 1983, S. 150 f.

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Verhalten, Bolschewismus und pro-ungarische Haltungen vor, sondern auch die Loyalität zum tschechoslowakischen Staat. Gerade die loyale Haltung vieler Juden gegenüber der Republik verstärkte mit den erstarkenden Nationalismen der übrigen Minderheiten sowie der Slowaken in den 1930er-Jahren erheblich den Antisemitismus.³³ Auch die meisten slowakischen Nationalisten, deren Führer in der Regel Angehörige der katholischen Kirche waren, wendeten sich Ende der 1930erJahre in ihren Äußerungen ausdrücklich gegen Juden. In der HSĽS-Zeitung Slovák erschien eine Reihe von judenfeindlichen Beiträgen, in der auch der Vorschlag eines Jesuitenpaters zur Segregation der Juden und Eliminierung ihres politischen und wirtschaftlichen Einflusses in der Slowakei detailliert ausgeführt wurde.³⁴ Im Fall der im östlichen Teil der Slowakei lebenden Ruthenen war die Grenzziehung in sprachlicher und religiöser Hinsicht komplex, da sie sich in diesen Fragen nicht klar von den Slowaken unterschieden. Zur kulturellen Grenzziehung traten Dispute um die territoriale, da gemessen an der Dichte ruthenischsprachiger Bewohner die Grenze zwischen Slowakei und Karpato-Ukraine zu weit östlich gezogen worden war. So wurde eine große ruthenische Minderheit im Gebiet der ostslowakischen Stadt Prešov geschaffen, weshalb die Ruthenen die Ostslowakei denn auch als „Prešov-Ruthenien“ bezeichneten.³⁵ Neben den Minderheiten von Deutschen, Ungarn, Polen und Ruthenen gab es noch Roma, die aber nicht als eigenständige Ethnie mit eigener Sprache anerkannt wurden. Als Roma identifizierten sich nur 8728 Personen, obgleich die Zahl hätte wesentlich höher sein müssen. Da sie keine eigene Glaubensgemeinschaft bildeten, ließen sie sich indes solcherart nicht realistischer erfassen. Für das Jahr 1930 wird eine Zahl zwischen 156 000 und 300 000 angenommen.³⁶ In einem gewissen Spannungsverhältnis zum offiziellen Nationalisierungsprojekt stand die sprachliche Behördenpraxis. Die Zulassung von Minderheitensprachen, ungeachtet der offiziellen Amtssprachen Tschechisch und Slowakisch, wurde in der Verwaltung anfänglich pragmatisch geregelt. So wurde 1919 für die Post die Regelung erlassen, dass bis zu 20 % Deutschsprachige angestellt sein konnten. Auch andere Ämter verwendeten eine Zeitlang ausgiebig die deutsche Sprache, schlichtweg, weil ihre Angestellten das Tschechische noch nicht beherrschten.³⁷ Ähnlich hartnäckig hielt sich auch in der Slowakei das Ungarische als ehemalige Verwaltungssprache. Nichtsdestoweniger wurde die Verwendung von Minderhei-

33 Mendelsohn 1983, S. 163. 34 Mendelsohn 1983, S. 165. 35 Kamusella 2009, S. 826. 36 Laut Kamusella (2009, S. 831) wurden Roma unter Slowaken und Magyaren subsumiert, entgegen Gyurgyík (1998, S. 4), der eine Zahl für 1921 vorlegt. 37 Petráš 2009, S. 310.

4.3 Tschechische Konkurrenz |

85

tensprachen in Ämtern, Institutionen und Organisationen gesetzlich eng begrenzt, häufig mit der Quote von 20 Prozent. Die von Anfang an insgesamt kleinliche Gesetzgebung wurde mit den Sprachenanordnungen von 1926 nochmals verschärft, was den Unmut unter den Minderheiten schürte.³⁸ Ein ganz anderes Bild als die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung ergibt der Blick auf den wirtschaftlichen Sektor nach ethnischen Gesichtspunkten. Um 1930 waren 57,4 % der Menschen in der Slowakei mit tschechoslowakischer Nationalität in der Agrar- oder Forstwirtschaft beschäftigt. Noch mehr, fast zwei Drittel der Angehörigen der ungarischen Nationalität, arbeiteten in diesen Zweigen. Doch ist hier auch noch einmal zu differenzieren, denn von den Slowaken übten immerhin 9,3 % Vorarbeiter- und 14,5 % Angestelltenfunktionen aus im Gegensatz zu nur 2,7 % und 2,3 % der Ungarn. In Industrie und Handel waren von den Ungarn nur 16,9 % bzw. 6,3 % tätig, was unter dem slowakischen Durchschnitt lag. Hingegen arbeiteten über ein Drittel der deutschen Nationalität (34,4 %) in der Industrie und über die Hälfte der jüdischen Bevölkerung (54,9 %) in Finanz und Handel. Wie bereits weiter oben angesprochen, verließ die ungarischsprachige städtische Oberschicht in Folge der Republikgründung das Land, wohingegen die ländliche ungarischsprachige Bevölkerung blieb. Das entspricht der Verteilung auf die Beschäftigungssektoren. Die Deutschen und Juden hingegen – obwohl die Juden eine ausgesprochen kleine Gruppe bildeten – stellten weiterhin einen Teil der städtischen Eliten beziehungsweise der Industriebeschäftigten.³⁹ Juden und Deutsche boten sich somit aufgrund subjektiver Wahrnehmungen als Projektionsflächen für vermeintlich zu kurz kommende Slowaken an.

4.3 Tschechische Konkurrenz In der Verfassung von 1919 wurde die tschechoslowakische Sprache, eine Fiktion oder anders gesagt: Abstraktion, mit ihren beiden Zweigen, dem Tschechischen und Slowakischen, als Amtssprache festgeschrieben. Hier stellte sich das Problem, dass die jeweilige Sprache nicht auf ihre regionale Verwendung festgelegt wurde. Somit war es legitim, in der Slowakei das Tschechische offiziell zu gebrauchen. Daraus ergaben sich Konflikte, insbesondere als zahlreich Tschechen, vor allem Lehrpersonal für Schulen, aber auch für die Universität oder Künstler fürs Nationaltheater sowie Verwaltungsangestellte in die Slowakei kamen, um dort den

38 Petráš 2009, S. 322 f. 39 Gyurgyík 1998, S. 19 ff.

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tatsächlich bestehenden Mangel an gut ausgebildeten Arbeitskräften zu kompensieren. Nach 1918 hatte etwa ein Viertel der Bewohner ungarischer Nationalität, das heißt 250 000, das Land verlassen⁴⁰, wobei diese Bevölkerungsgruppe überproportional in Transport und Handel sowie zu drei Vierteln in akademischen Berufen und in der Verwaltung beschäftigt war.⁴¹ Beispielsweise waren 1918 90 % der Post- und Bahnangestellten ungarisches Personal.⁴² Um den realen Mangel an ausgebildeten Kräften in Verwaltung, Gerichtswesen, Armee, Post, Gesundheitswesen, Eisenbahn, Polizei und besonders in den Schulen zu kompensieren, schien die einzige rasche Lösung, möglichst zahlreich tschechische Fachkräfte in die Slowakei zu bringen. Vor 1918 lebten in der Slowakei 7468 Tschechen, 1921 stieg ihre Zahl auf 71 733 und 1930 auf 120 926 Personen an, das heißt auf 3,27 % der slowakischen Bevölkerung. Ende 1938 lebten 93 143 Tschechen dort, was 3,4 % der Einwohner in der Slowakei entsprach.⁴³ 1930 arbeiteten in der gesamten staatlichen Verwaltung in der Slowakei 23 556 tschechische Beamte, Angestellte und Arbeiter. Das Verhältnis von Tschechen zu Slowaken war jeweils: in Gerichtswesen und Verwaltung 9814 zu 9046, bei der Eisenbahn 5247 zu 18 157, bei der Post 1981 zu 4328, im Schulwesen 2399 zu 7122 und bei den Berufssoldaten 4115 zu 523. Zum 1. Oktober 1938 waren in den Grenzen des späteren slowakischen Staates 20 541 Tschechen in der staatlichen Verwaltung angestellt. Zusätzlich waren nach Schätzungen weitere 36 000 Tschechen im privaten Sektor, im Bankenwesen und in freien Berufen tätig. Das Verhältnis zwischen Tschechen und Slowaken variierte relativ stark nach dem Beschäftigungssektor. Doch ist in den höher qualifizierten Berufen ein verhältnismäßig größerer Anteil an Tschechen anzutreffen. Das zeigt sich auch in der politischen Verwaltung der Slowakei. 1924 waren in der politischen Verwaltung Slowaken mit 56,5 %, 1934 mit 61,6 % vertreten. Die Tschechen brachten es 1924 immerhin auf 29,5 % und 1934 30,5 %, was aber einen tatsächlichen Rückgang von 1648 auf 1583 bedeutete (Umlagerung für die neuen Provinzinstitutionen)⁴⁴ Die an der Gesamtbevölkerung gemessene kleine Gruppe von Tschechen besetzte also überproportional häufig höhere Verwaltungsstellen in der Slowakei.

40 Schwund zwischen 1910 und 1921 nach verwendeter Mutter- bzw. Umgangssprache nach Zemko/Bystricky 2004, S. 496, Tabelle 4. 41 Leff 1989, S. 14 f. 42 Bystrický, Valerián: Vysťahovanie českých štátnych zamestnancov zo Slovenska v rokoch 1938–1939. [Die Aussiedlung der tschechischen Staatsangestellten aus der Slowakei in den Jahren 1938–1939], in: Historický časopis, 45, 4, 1997, S. 596–611; hier S. 597 43 Bystrický 1997, S. 596. 44 Zemko/Bystrický 2004, S. 615.

4.3 Tschechische Konkurrenz |

87

Aus der großen Zuwanderung von tschechischem Personal ergaben sich aus slowakischer Sicht mehrere Probleme. Mit der Zeit entließen die Universitäten gut ausgebildete slowakische Absolventen, die keine Stellen fanden, da diese großenteils von Tschechen besetzt waren. Diese Konkurrenz und die Beschäftigungslosigkeit der jungen Akademiker verursachten großen Unmut in der Öffentlichkeit. Die Forderung nach der Rückkehr der Tschechen fand breite Unterstützung, was aber in der Umsetzung schwierig war, da sich die Zugewanderten oft bereits mit ihren Familien in der Slowakei niedergelassen hatten. Dass auch in den Dreißigerjahren noch tschechische Beamte in die Slowakei kamen, erhöhte die politischen Spannungen. Die zentralistischen politischen Parteien, insbesondere die Nationalen Sozialisten und die Sozialdemokraten nutzten ihre Macht aus, um ihre Anhänger auf Posten in der Slowakei unterzubringen. Dabei handelte es sich mitunter sogar um weniger qualifiziertes Personal, das die höheren Verwaltungsbeamten autoritär einsetzten. Somit war die Beschäftigung von tschechischem Personal oftmals auch von politischen Kriterien bestimmt.⁴⁵ Kulturell problematisch war zudem die säkulare Einstellung der tschechischen Lehrer, die in der stark katholisch geprägten Slowakei Feindseligkeiten hervorrief. Zum Vergleich: 10,24 % der Tschechen gaben 1930 an, keiner Religion anzugehören, im Gegensatz zu 0,51 % der Slowaken. Besonders die tschechische Nationalgeschichte mit der Hussitenbewegung als historischem Kern im Schulunterricht provozierte die slowakischen Katholiken. Hinzukam, dass die tschechischen Lehrkräfte keine Anstalten machten, Slowakisch als eigenständige Sprache zu akzeptieren, es zu lernen und im Unterricht zu verwenden. Die Situation veränderte sich erst in den Dreißigerjahren⁴⁶, als das Thema der separaten Sprachen stark politisiert wurde. Ganz anders als für die Tschechen in der Slowakei stellte sich die Situation der Slowaken in Böhmen und Mähren dar. Die Slowaken erreichten nie den ihnen proportional zustehenden Teil an politischer Repräsentanz im tschechoslowakischen Staat. In den Programmen mehrerer politischer Parteien war als ein Ziel die schrittweise Steigerung des Anteils der Slowaken in den staatlichen Institutionen festgehalten. Dennoch wurde dieser Anspruch nirgendwo verbindlich geregelt. In den Zwanzigerjahren besetzten Tschechen alle wichtigen Stellen der zentralen Verwaltung, von denen aus die hohen Beamten sich und ihren Protegés vorteilhafte Stellen verschafften. Bei der Besetzung von Stellen wurde dann keinerlei Rücksicht auf die verhältnismäßige Repräsentanz der Slowaken (oder Karpatenukrainer) genommen, beziehungsweise konkret auf die Slowaken, die zum Studium oder

45 Bystrický 1997, S. 598. 46 Vgl. Petráš, der aber keinen Grund für die Veränderung anführt. Petráš 2009, S. 275.

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zur Arbeit nach Prag kamen.⁴⁷ In den zentralen Organen arbeiteten 1934 nur 74 Slowaken, 1935 waren es 95 und 1936 125. In den höchsten Ämtern und Ministerien arbeiteten 1938 lediglich 1,6 % Slowaken. Die Zahlen stiegen selbst dann nicht, wenn Slowaken ein Ministerium innehatten, was während der Ersten Republik immerhin 63-mal der Fall war.⁴⁸ Bis zum Eintreten der Autonomie im Jahre 1938 blieb die Situation in beiden Landeshälften unverändert und sorgte unaufhörlich für politischen Zündstoff, den die Volkspartei für ihre populistische Mobilisierung nutzte und auch unmittelbar nach dem Autonomievertrag zu einem zentralen Thema bei den Verhandlungen mit Prag machte.

4.4 Politischer Katholizismus und Radikalisierung Der innerslowakische Graben Die jungen nationalistischen Kräfte fügten sich einerseits in das politischen System der Zwischenkriegszeit ein, anderseits versuchten sie das System auch durch die Gründung von radikalen Parteien, Bewegungen oder Zeitschriften zu verändern. Für die jungen Nationalisten waren vor allem die beiden in der Slowakei aktiven populistischen Parteien ČSĽS und SĽS/HSĽS sowie die traditionelle Nationalpartei SNS attraktiv. Grundsätzlich rivalisierten drei etablierte Führungsgruppen – die sich jedoch nicht einfach mit bestimmten Parteien deckten – mit jeweils eigenen Langzeitinteressen um die politische Macht in der Republik: die tschechischen Zentralisten, die slowakischen Zentralisten und die slowakischen Autonomisten. Der nationale Konflikt nährte sich nicht allein aus der Opposition von Slowaken und Tschechen, sondern wesentlich durch die Trennlinie innerhalb der Slowaken, von denen einige bereit waren, mit den Tschechen zu kooperieren, andere weniger oder gar nicht.⁴⁹ Die für die junge nationalistische Elite interessanten Parteien waren gerade nicht jene, die „fortschrittliche“ Ideen vertraten. Vielmehr orientierten sie sich an konservativen Werten. Dennoch sind die slowakischen Nationalisten nicht

47 Bystrický 1997, S. 599. Von 1919 bis 1937 studierten etwa 5300 slowakische Studenten an technischen Hochschulen in Böhmen und Mähren. Das lag vor allem daran, dass in der Slowakei bis 1937 keine technische Hochschule eingerichtet wurde. – Milo Urban schildert die Situation von arbeitssuchenden Slowaken in Prag in seinem Roman „Hmly na úsvite“ [Nebel in der Morgendämmerung]; siehe Kapitel 7 in dieser Arbeit. 48 Bystrický 1997, S. 599 f. 49 Leff 1988, S. 184.

4.4 Politischer Katholizismus und Radikalisierung |

89

nur als Repräsentanten einer traditionellen slowakischen Ideologie zu betrachten, sondern auch als Akteure in einem politischen Modernisierungsprozess. Innerhalb dieses Prozesses waren nicht nur die unterschiedlichen Inhalte politischer Programmatik entscheidend, sondern vielmehr auch die Politikstile. Da die politische Elite wegen ihrer unterschiedlichen Haltung zum Tschechoslowakismus dreigeteilt war, verlief auch der Prozess der politischen Modernisierung in der Tschechoslowakei fragmentiert. Die slowakischen Autonomisten als führende slowakische Nationalisten zeichneten sich nicht nur durch ihre ablehnende Haltung gegenüber dem Tschechoslowakismus aus, sondern auch durch eine spezifische soziale Zusammensetzung. Ein Vergleich der tschechoslowakischen Parlamentarier⁵⁰ ergibt folgendes Bild: 1920 und in der folgenden Dekade hatten die Tschechen den geringsten Bildungsstand mit einer großen Breite an Berufen, wie Journalisten oder Geschäftsleuten, kaufmännischen Angestellten und Arbeitern aus dem Industriesektor. Die Slowaken wiesen überproportional viele Mitglieder aus den freien Berufen wie Anwälte, Ärzte und Priester auf. In der Slowakei war die Politik immer noch eine Domäne der Intelligenzia, in Böhmen und Mähren schlug sich die Erfahrung mit politischer Partizipation aus der Habsburger Zeit hingegen in einem breiteren Zugang zur Politik nieder. Die Slowaken traten demnach mit einer vormodernen politischen Führung in ein modernes parlamentarisches System ein. Die Dominanz der Intelligenzia war der historischen Situation der Nationalbewegung im 19. Jahrhundert geschuldet und führte dazu, dass die Politik weitaus stärker personalisiert und auch der Graben zwischen slowakischen Politikern und Wählerschaft größer war. Auch unter den Slowaken selbst war noch einmal eine Differenzierung auszumachen. Während die slowakischen Zentralisten hauptsächlich aus dem agrarischen Bereich, der öffentlichen Verwaltung oder Parteibüros stammten, waren die Autonomisten zu fast einem Drittel Priester, was sich ebenso auf der regionalen Ebene spiegelte. Auswirkungen auf das politische Handeln zeitigten auch die überwiegend unterschiedliche konfessionelle Zugehörigkeit bzw. die traditionelle Haltung gegenüber den Tschechen unter den slowakischen Zentralisten und Autonomisten. Eine kleine eingeschworene Gruppe von slowakischen Protestanten dominierte in Politik und Verwaltung. Die Gründung der Republik bot dieser Gruppe eine Chance aufzusteigen, während sie in einer autonomen Slowakei wenig Chancen gegenüber einer katholischen Mehrheit gehabt hätte. Die Protestanten teilten mit den Tschechen aber nicht nur die Ideologie, sondern pflegten auch einen urbaneren Lebensstil. Auf der höchsten politischen Ebene wirkten allerdings nur drei Slowaken als Minister bzw. Premierminister sichtbar mit: Milan

50 Leff 1988, S. 187 ff.

90 | 4 Tschechoslowakische Nationalisierung und slowakischer Nationalismus

Hodža, Vavro Šrobár und Ivan Dérer. In den Ministerien waren Slowaken ansonsten untervertreten. Die innerslowakischen politischen Differenzen verkörperten die beiden Opponenten Vavro Šrobár und der charismatische Priester und führende Autonomist Andrej Hlinka. Beide stammten aus Černová, einer Kleinstadt im Distrikt Ružomberok und aus katholischen Familien. In Šrobárs Familie verwendete man noch Gebetsbücher in der dem Tschechischen nahen Bibličtina und war den Tschechen gegenüber offen. Der Schüler Šrobár wurde wegen panslawistischer Ideen aus dem ungarischen Gymnasium sowie von weiterführenden Bildungseinrichtungen ausgeschlossen. Er studierte deshalb an der Prager Karlsuniversität und machte dort Bekanntschaft mit der studentischen Masarykanhängerschaft. Ebenso wie die anderen Zentralisten war Šrobar antiklerikal eingestellt. Er hielt wenig von der traditionellen Haltung eingefleischter Nationalisten und misstraute besonders Hlinka und dessen betont religiösen Appellen. Hlinka hingegen hatte seine Ausbildung im ungarischen System der katholischen Seminare erhalten und nutzte seine kirchliche Position als politische Basis. Seine Verhaftung durch die ungarischen Behörden nach den Ereignissen um die Einweihung der Kirche in Černová im Jahr 1907 machte ihn zum nationalen Helden und Märtyrer. Er war berüchtigt für seine antitschechischen Tiraden, etwa in der Parteizeitung Slovák.⁵¹

Hlinka und die Volkspartei als nationalistische Repräsentanz Auf der Ebene der Parteien wurden die slowakischen Nationalisten in der Zwischenkriegszeit im wesentlichen von der katholischen Slowakischen Volkspartei SĽS (ab 1925 Hlinkova Slovenská Ľudová Strana) repräsentiert, ein kleiner Teil nur von der protestantischen slowakischen Nationalpartei (SNS). In den ersten Parlamentswahlen 1920 traten die slowakischen Nationalisten innerhalb der Tschechoslowakischen Volkspartei (ČSĽS) an und erhielten zusammen landesweit 17,5 %⁵² der Wählerstimmen. Doch die Slowaken zogen sich anschließend zurück und belebten die Slowakische Volkspartei, eine Vorkriegsgründung, neu. Die anderen der fünf beinahe kontinuierlich die Erste Republik regierenden Koalitionsparteien zielten nicht auf eine konfessionelle Klientel ab, sondern auf Klassen oder Wirtschaftskreise: die Agrarier auf kleinere und mittlere Landbesitzer⁵³, die Sozialdemokraten auf die Arbeiterschaft, die Nationalsozialisten auf die untere Mittelklasse sowie Arbei-

51 Leff 1988, S. 203 f. 52 Leff 1988, S. 57. 53 Mit der Zeit gewannen die Agrarier eine diffusere Anhängerschaft und waren dadurch flexibel genug, selbst während des Protektorats noch an der Macht zu bleiben. Vgl. Leff 1988, S. 54 f.

4.4 Politischer Katholizismus und Radikalisierung | 91

ter und die Nationaldemokraten auf Industrie- und Finanzkreise. Das Kabinett der fünf Regierungen in der Zwischenkriegszeit war stets tschechoslowakisch geprägt. Um das Gleichgewicht des politischen Systems zu erhalten, wehrten die Regierungen jedwede Radikalisierung, etwa durch die tschechischen Faschisten, die deutschen, ungarischen und die slowakischen Nationalisten, ab.⁵⁴ Das war möglich, weil genügend slowakische, deutsche und ungarischeWähler nicht primär ethnisch-kulturell wählten, sondern auch die tschechoslowakischen Regierungsparteien bzw. deren Äquivalente nach Nationalitäten wählten.⁵⁵ Die beschriebene Praxis wurde einmal wesentlich verändert, als die Koalitionsparteien die nationalistische HSĽS nach ihrem spektakulären Wahlerfolg von 1925 mit 34,3 % in der Slowakei und landesweit 6,9 % der Stimmen in die Regierung kooptierten. Die HSĽS entschloss sich, erst nachdem sie die Zusicherung über eine Verwaltungsautonomie in der Slowakei erhalten hatte, die Opposition aufzugeben. In der Praxis blieb der Spielraum aber begrenzt, da alle Entscheidungen weiterhin von Prag abgesegnet werden mussten. Nach zwei Jahren war die Landesverratsklage gegen Minister Vojtech Tuka der Anlass für die HSĽS ihre Ministerposten aufzugeben und die Regierung wieder zu verlassen. In den Kommunalwahlen erlitt die Partei aufgrund ihrer mangelnden Erfolge eine Wahlschlappe. Die Volkspartei hatte in der Slowakei zwar den größten Wähleranteil unter den Parteien und konnte diesen auch kontinuierlich steigern. Insgesamt wählten aber die meisten Slowaken zentralistische Parteien, so dass die Volkspartei landesweit höchstens 7 % Stimmenanteil erlangte und damit ihr Autonomie-Programm bis zum Münchner Abkommen nicht umsetzen konnte. Auf den propagandistischen Erfolg der Autonomisten um Hlinka bei der angeblich unreifen slowakischen Wählerschaft reagierten die Zentralisten mit großer Sorge. Argwöhnisch ließen sie öffentliche Versammlungen überwachen. Die Regierung verfolgte eine Politik der öffentlichen Beschränkung und berief sich dabei auf das umstrittene „Gesetz zum Schutz der Republik“.⁵⁶ Die Angst vor den slowakischen Autonomisten und ihren Anhängern beeinflusste unmittelbar den Politikstil des zentralistischen Lagers. Möglichst wenig Kompetenzen sollten der Basis übertragen werden. Im Gegensatz dazu sahen die Autonomisten ein Potenzial für die politische Mobilisierung in der Massenbeteiligung. Indem sie auf einen modernen massenbezogenen Politikstil setzten und gleichzeitig auf traditionellen Werten beharrten, gewannen sie ihre Wählerschaft für sich.⁵⁷ Dieser moderne Politikstil, der auf propagandistische Wirkung setzte, bedurfte jedoch einer neuen Gruppe von 54 55 56 57

Leff 1988, S. 63 f. Leff 1988, S. 74. Leff 1988, S. 208. Leff 1988, S. 210.

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intellektuellen Akteuren, die diesen neuartigen Politikbetrieb mit Publikationen aller Art beliefern und so für die nötige Publizität sorgen konnte.

Einfluss des politischen Katholizismus Die klerikale populistische Slowakische Volkspartei SĽS/HSĽS mit Andrej Hlinka an der Spitze kämpfte in der Slowakei am erfolgreichsten für ein selbstdefiniertes nationales Anliegen. Anfänglich war die Partei die Interessenvertreterin des slowakischen Katholizismus: Die kirchenpolitischen Verordnungen des jungen tschechoslowakischen Staates, darunter die Enteignung kirchlichen Grundbesitzes, die Militärdienstpflicht für katholische Geistliche, die Einschränkung des Religionsunterrichts in den Schulen oder die Verstaatlichung von Konfessionsschulen schürten das Misstrauen des Klerus und riefen dessen Opposition hervor.⁵⁸ Hlinka, der 1918 noch als Befürworter des Tschechoslowakismus auftrat, schwenkte auch aufgrund persönlicher Spannungen zwischen ihm und Šrobar sowie den Regierungsslowaken auf einen nationalistischen Kurs ein und forderte die Anerkennung der Slowaken als eigenständige Nation und die Gewährung einer uneingeschränkten „politischen Autonomie für das Land Slowakei“.⁵⁹ Dass Hlinkas Volkspartei die einflussreichste politische Partei in der Slowakei war, beruhte unter anderem darauf, dass die meisten katholischen Priester sie unterstützten und sie damit bis hinein in die einzelnen Gemeinden Multiplikatoren hatte. Priester stellten in der HSĽS von Anfang an die Führungsriege. Erst 1925 öffnete die Partei ihre vordersten Reihen auch für Laien, etwa Tuka, Sidor, Sivák und Soko; dessen ungeachtet nahmen im Slowakischen Staatsrat im November 1938 ein Viertel der 100 Sitze katholische Priester ein.⁶⁰ Die Kirchenvertreter waren angesehene lokale Autoritäten, engagierten sich ehrenamtlich für die Partei und verhalfen dieser zu einer Massenbasis. Bei den ersten Parlamentswahlen erhielten 8 Priester eines von insgesamt 23 Mandaten. Der Vatikan verfolgte die säkularen Tätigkeiten seiner Geistlichen genau und beschränkte für die folgenden Wahlen die Zahl der Mandate auf eben diese 8 aus den Wahlen von 1920. Hlinka versuchte aber stets, so viele Priester wie möglich für die Partei zu gewinnen. Der größte Teil der slowakischen Priester stand hinter der HSĽS, was erheblich zu den Wahlerfolgen der Partei beitrug. Doch im Osten des Landes, wo das Ungarische noch stark die Öffentlichkeit dominierte, wehrten

58 Hoensch, Jörg K.: Studia Slovaca. Studien zur Geschichte der Slowaken und der Slowakei, München 2000, S. 156. 59 Hoensch 2000, S. 158. 60 Hoensch 1987, S. 161.

4.4 Politischer Katholizismus und Radikalisierung | 93

sich die Priester gegen Hlinkas Verbindung von Glauben und nationalistischer Argumentation, das heißt gegen die Säkularisierung des Glaubens. Hlinka vertrete einen übertriebenen panslawistischen Chauvinismus, hieß es in einem Memorandum vom Januar 1928 an den Papst und den Košicer Diözesan-Bischof, das 140 von 186 Priestern im Osten unterzeichnet hatten. Hlinka würde den Frieden in der Diözese stören und sich aufführen, als wäre er selber der Vorsteher der Diözese.⁶¹ Ein großer Teil der Priester in der Ostslowakei orientierte sich auch nach zehn Jahren Tschechoslowakei eher ungarisch als slowakisch. Insgesamt profitierte die HSĽS jedoch von der positiven Haltung des Episkopats ihr gegenüber. Der erste slowakische Bischof der Nachkriegszeit, Karol Kmeťko, hielt ein Abgeordnetenmandat der HSĽS von 1918 bis 1922, und Bischof Ján Vojtaššák war ein langjähriger persönlicher Freund und Unterstützer Hlinkas.⁶² Der politische Katholizismus hatte den Weg einer Säkularisierung der Konfession und der Sakralisierung der Politik bereits beschritten, indem seine Vertreter Glaubensvorstellungen auf den nationalen politischen Kampf übertrugen.⁶³ Doch die jungen Nationalisten wollten noch weiter gehen, obgleich sie katholisch geprägt und sozialisiert waren. Besonders in Phasen der Radikalisierung wurden Versuche erkennbar, den Einfluss der katholischen Kirche zugunsten eines radikaleren, säkulareren Nationalismus zurückzudrängen.

Politisches Programm mit kulturellen Forderungen Für viele junge Intellektuelle, die zu Anhängern eines slowakischen Nationalismus ausgehend von slowakischer Literatur und Kulturzeitschriften wurden, war die Volkspartei attraktiv, denn es gehörten stets auch kulturelle Forderungen zu ihrem politischen Programm. Als drängendste gesellschaftliche Probleme galten die Dominanz tschechischer Beamter in der slowakischen Verwaltung sowie die ökonomische Misere, die bereits vor der Weltwirtschaftskrise auf der mangelnden Konkurrenzfähigkeit gegenüber der tschechischen Industrie beruhte. Eine Lösung schien den Slowaken nur durch die Selbstverwaltung möglich. Die Nationalisten argumentierten

61 Letz, Robert: Slovenská ľudová strana v dejinách 1904–1945 [Die Slowakische Volkspartei in der Geschichte 1905–1945], Martin 2006, S. 54. 62 Letz 2006, S. 55. 63 Chmel verwendet in diesem Zusammenhang die Begriffe „nationaler Konfessionalismus“ und „konfessioneller Nationalismus“. Vgl. Chmel, Rudolf : Zum nationalen Selbstverständnis der Slowaken im 20. Jahrhundert, in: Alfrun Kliems (Hg.), Slowakische Kultur und Literatur im Selbstund Fremdverständnis. Ludwig Richter zum 70. Geburtstag, Stuttgart 2005, S. 13–47; hier S. 32.

94 | 4 Tschechoslowakische Nationalisierung und slowakischer Nationalismus

legalistisch⁶⁴, das heißt sie stützten ihre Autonomieforderung auf drei zentrale Dokumente: das Pittsburgher Abkommen vom 30. Mai 1918, die Deklaration von Martin vom 30. Oktober 1918, und das Abkommen von Žilina aus dem Jahr 1938. In der erst zwei Tage nach der Staatsgründung verabschiedeten Deklaration von Martin („Deklaration der slowakischen Nation“) drückten sich die Mitglieder des sich konstituierenden Slowakischen Nationalrates sehr vage über die Zukunft ihrer Nation aus. Das Dokument wurde die Grundlage für die vorübergehende Einrichtung von 350 Nationalausschüssen in der Slowakei. Es wurde als Zustimmung zum Zentralismus oder als Manifest für slowakische Rechte interpretiert.⁶⁵ Das Pittsburgher Abkommen („Tschecho-Slowakischer Vertrag“), das Masaryk in den USA mit Exiltschechen und -slowaken unterzeichnet hatte, war expliziter als jedes heimische Dokument und stand im Zentrum der Kontroversen. Darin bekannten die Unterzeichnenden die Absicht, einen demokratischen TschechoSlowakischen Staat zu gründen, in dem die Slowakei einen autonomen Status haben sollte, das heißt eine eigene Verwaltung, Gerichtsbarkeit und ein eigenes Parlament bekommen hätte. Das Slowakische sollte die in Schulen, Ämtern und generell im öffentlichen Leben verwendete Sprache werden.⁶⁶ Das Abkommen von Žilina wurde in aller Eile nach dem Münchner Abkommen am 6. Oktober 1938 verfasst und garantierte den Slowaken erstmals eine weit gehende Autonomie. Unter Historikern herrscht die Meinung, dass die Tschechen nie beabsichtigt hatten, das Pittsburgher Abkommen als Richtlinie für die künftige Entwicklung zu nutzen. Es sei lediglich zustandegekommen, um sich des Rückhalts unter den Auslandsslowaken für die Staatsgründung zu versichern. Das Abkommen wurde überdies erst ein halbes Jahr nach der Unterzeichnung bekannt. Und zwar hatte Hlinka die entscheidenden Passagen daraus veröffentlicht, in denen der Slowakei eigene Gerichte, Verwaltung und Parlament versprochen wurden. Nach der Veröffentlichung war das Dokument zwanzig Jahre lang das Öl im Feuer des tschechoslowakischen Konflikts und Kernargument der slowakischen Nationalisten.⁶⁷ Dass auch kulturelle Forderungen eine erhebliche Rolle in den programmatischen Dokumenten der Volkspartei gespielt hatten, war darauf zurückzuführen, dass die Volkspartei sich zum Ziel gesetzt hatte, ein nationales Bewusstsein unter den Slowaken zu verbreiten. Ein Hindernis war dabei die Tendenz, die slowakische Sprache gegenüber der tschechischen abzuwerten oder gar mit ihr zu assimilieren.

64 Die legalistische Taktik sei ein Versuch gewesen, den mangelnden politischen Einfluss zu kompensieren. Leff 1988, S. 155. 65 Leff 1988, S. 150. 66 Vertrag abgebildet bei Kováč, Dušan, Lipták, Ľubomír u. a.: Dejiny Slovenska [Geschichte der Slowakei], Bratislava 2000, S. 222. 67 Leff 1988, S. 152.

4.4 Politischer Katholizismus und Radikalisierung | 95

Das Minderheitenschutzgesetz vom 2. 10.1919 legte ausdrücklich die tschechische als Staatssprache fest. Im Sprachengesetz vom 29. 2.1920 führte das Parlament korrigierend den Begriff der „tschechoslowakischen Sprache“ ein, worunter sowohl tschechische als auch slowakische Texte verstanden wurden.⁶⁸ Die Anerkennung des Slowakischen als eigenständige Sprache und ein slowakisches Schul- und Bildungssystem machte die Volkspartei in der Folge zum Politikum. Im Programm „Forderungen der slowakischen Nation“ von Trenčín 1932 schilderten die Verfasser am detailliertesten personelle und bildungspolitische Forderungen. Alle staatlichen Posten in der Slowakei sollten wenn möglich von Slowaken besetzt werden, nur temporär von Nichtslowaken. Von Entlassungen sollten ebenso erst Nichtslowaken betroffen sein. Zudem schlug die Partei vor, dass Bewerber für staatliche Posten einen Slowakischtest absolvieren sollten.⁶⁹ Diese Forderungen reichten zwar über die kulturelle Sphäre im engeren Sinne hinaus, doch lag ihnen eine ethnisch-kulturelle Argumentation zugrunde. Obwohl das Bildungssystem unter tschechoslowakischen Verhältnissen enorm ausgebaut wurde, blieben die Volksparteiler unzufrieden, da sie die Verbesserungen nicht mit der Vorkriegszeit, sondern mit den aktuellen Verhältnissen in Böhmen und Mähren verglichen. Dabei gab es gegen Ende des Ersten Weltkriegs gerade einmal 276 slowakischsprachige Grundschulen, hingegen 1926 bereits 2652. Hinzu kamen 39 Gymnasien, die während der Ersten Republik gegründet wurden, sowie die slowakische Universität.⁷⁰ In ihrem Programm von 1932 forderte die Volkspartei, im selben Verhältnis wie in Böhmen und Mähren Gymnasien und Handelsschulen einzurichten. Zudem sollten eine technische Hochschule gegründet werden sowie eine naturwissenschaftliche Fakultät an der Universität in Bratislava. Die Slowakisierung des gesamten Bildungssystem war die weitreichendste Forderung der HSĽS. Die gesamte Administration sowie der Unterricht sollten ausschließlich auf Slowakisch stattfinden. Insbesondere wendete sich die Kritik gegen die tschechoslowakische Ausrichtung der Philosophischen Fakultät an der Komenský-Universität. Ein Departement für slowakische Sprache, Literatur, Dialektologie und Ethnographie sollte eingerichtet und gleichzeitig die Abteilung für tschechoslowakische Sprache und Literatur abgeschafft werden.⁷¹ Schließlich wurden im als Trenčíner Deklaration bezeichneten Programm auch noch die Kulturinstitute behandelt. Die Partei verlangte steigende staatliche Subventionen für jene Institutionen, in denen ihre Mitglieder Schlüsselpositionen 68 Hoensch 2000, S. 173. 69 Felak 1994, S. 46. 70 Felak 1994, S. 47. 71 Felak 1994, S. 48.

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besetzten und die für die Parteipropaganda wertvolle Einrichtungen waren. Das betraf vor allem den katholischen Verein hl. Adalbert und nach der 1932 gescheiterten Rechtschreibreform auch die Matica slovenská. Zudem sollten slowakische Kunst und Literatur unterstützt werden sowie das Nationaltheater slowakisiert, das personell und im Repertoire tschechisch dominiert war.⁷²

Vojtech Tuka als Leitfigur der jungen Radikalen Andrej Hlinka bemühte sich von Anfang an darum, junge Intellektuelle für seine Partei zu gewinnen und zu fördern. Doch war er nicht der einzige, der Einfluss auf die Jungen auszuüben verstand: Vojtech Tuka, der 1921 von Hlinka zur Partei geholt worden war, hatte sich ebenfalls auf den Parteinachwuchs konzentriert. Für seine Initiativen, die stets auf eine Radikalisierung der Partei abzielten, war Tuka auf junge Mitstreiter angewiesen. In der altgedienten slowakischen Führungsgruppe innerhalb der Partei machte er sich wegen seines Stils und seiner raschen Parteikarriere Gegner, die ihre Kritik gern an seinem magyarischen Hintergrund festmachten. Tuka sammelte vor allem junge Studenten um sich, deren Ideal ein slowakischer Nationalstaat nach dem Vorbild des faschistischen Italiens war. Er gründete die Rodobrana (Vaterlandswehr) nach dem Vorbild der Fasci die Combattimento und der SA. Nach dem Verbot der Rodobrana bildete die Zeitschrift Nástup die Plattform für die jungen Radikalen, deren maßgebliche Vertreter die Brüder Ferdinand und Ján Ďurčanský als Herausgeber bzw. Redakteur waren und zu der auch Mach, Murgaš und Polakovič gehörten. Die Radikalen hielten auch nach Tukas Verurteilung wegen Landesverrates im Jahr 1929 an der Forderung der vollen Souveränität des slowakischen Staates fest im Gegensatz zur nationalen Autonomie, die der gemäßigte Parteiflügel anstrebte.⁷³ Repräsentativ für den slowakischen Abgeordnetenklub der HSĽS warf der Altslowake Ferdinand Juriga Tuka vor, er spreche nicht gut slowakisch und kenne die slowakische Geschichte und Kultur wenig. Die Abgeordneten sahen die Slowakizität der Partei bedroht und verlangten 1927 in einem Brief an Hlinka, dass Tuka für die nächsten Wahlen nicht kandidiere.⁷⁴ Die Situation beruhigte sich auch nicht während der Regierungsbeteiligung der HSĽS. Tuka verschärfte selber den Konflikt, indem er aus Unzufriedenheit mit der Politik der HSĽS versuchte, noch radikalere Lösungen zu finden. Etwa steckte er hinter der Gründung der Zeitung

72 Felak 1994, S. 49. 73 Hoensch 2000, S. 162 f. 74 Letz 2006, S. 47.

4.4 Politischer Katholizismus und Radikalisierung | 97

Autonomia. Diese Zeitung wurde 1927 bis 28 von einem ehemaligen Redakteur des Slovák geleitet, Anton Sznacký. Die Gruppe um diese Zeitung, darunter Alexander Mach und Karol Murgaš, wollte eine eigene Partei mit einem radikalen autonomistischen Programm gründen. Um eine Finanzierung bemühten sich die Initiatoren ausgerechnet beim ungarischen Konsulat. Die Gründung am 9. April 1928 in Žilina verhinderten Mitglieder der HSĽS sowie die Polizei. Anfang Januar 1929 legten die unzufriedenen Mitglieder des Abgeordnetenklubs Hlinka eine Resolution vor, in der sie forderten, dass die Autonomie auf gesetzlichem, demokratischen, nicht aber auf revolutionärem Weg erlangt werden solle. Außerdem wurde die von Tuka verbreitete vacuum-iuris-These abgelehnt, nach der es eine Klausel in der Martiner Deklaration von 1918 gegeben habe, die besagte, dass die Slowaken sich nach Ablauf von zehn Jahren für oder gegen einen Verbleib in einem gemeinsamen Staat mit den Tschechen entscheiden könnten. Nach einer ganzen Reihe von angriffigen Artikeln in Slovenské Ľudové noviny wurden die Verfasser Juriga und Tománek, zwei prominente Vertreter der HSĽS, Anfang 1929 von der Partei ausgeschlossen.⁷⁵ Ausgeschlossen wurden ferner im Prinzip all jene, die im Hochverratsprozess gegen Tuka aussagten, dazu gehörten neben Juriga und Tománek auch der Abgeordnete Róbert Kubiš. Nicht ausgeschlossen wurde allerdings der für die HSĽS amtierende Minister Gažík, der sich entgegen der offiziellen Linie der Partei gegen Tuka äußerte. Tuka, der insbesondere die jungen radikalen Parteimitglieder um sich scharrte, polarisierte somit nicht nur die Partei, sondern verursachte auch deren ernsthafte Krise. Der politisch motivierte Prozess im Herbst 1929 gegen Tuka schlug sich erheblich auf die moralische Verfassung der Partei nieder. Das Ziel des Prozesses war auf staatlicher Seite offensichtlich: die HSĽS in der Öffentlichkeit zu diskreditieren und mit der ungarischen irredentistischen Bewegung in Zusammenhang zu bringen. Zusammen mit Tuka waren Sznacký und Alexander Mach angeklagt wegen des Verrats militärischer Geheimnisse und der Vorbereitung eines Anschlags auf die Republik. Tuka wurde zu 15 Jahren Haft verurteilt, Sznacký zu 5 Jahren und Mach frei gesprochen.⁷⁶ Aus Protest gegen den Prozess beendete die HSĽS ihre

75 Letz 2006, S. 49. 76 Letz 2006, S. 48 – Tuka genoss großes Ansehen unter den jungen radikalen Parteigängern und Sympathisanten der HSĽS. Als Hlinka sich im November 1929 von Tuka distanzierte, um den Imageschaden für die Partei durch den Prozess möglichst klein zu halten, erhielt er umgehend ein Protestschreiben von der slowakischen akademischen Jugend. Federführend bei dieser Aktion war der Medizinstudent und Dichter František Šubík alias Andrej Žarnov. Die Studenten wollten ihre „große Wut“ im Namen der ländlichen Sympathisanten der Partei darüber ausdrücken, dass Hlinka Tuka zugunsten Prags fallen lasse. Vgl. Felak 1994, S. 64.

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Regierungsbeteiligung. Die Phase der Konsolidierung leitete auf dem Parteitag im Januar 1930 die Berufung Jozef Tisos als Stellvertreter Hlinkas ins Präsidium der Partei ein.⁷⁷ Die Krise in der Partei wurde vor allem durch den kulturellen Graben zwischen den immer noch vorwiegend ethnisch-kulturell argumentierenden „Altslowaken“ und den radikaleren, vorwiegend politisch-strategisch denkenden jüngeren Kräften verstärkt. Das zeigt, dass sich der Nationalismus der katholischen Autonomisten teilweise den aktuellen politischen Zielen anpasste und somit veränderte. Die traditionalistischen Nationalisten verloren an Raum in der Partei. Dieser Wandel wurde auch von der Kirche indirekt unterstützt. Das lässt sich beispielsweise an der Entscheidung der offiziellen Kirchenvertreter ablesen, die den Priestern Juriga und Tománek verboten, mit einer eigenen Partei für Abgeordnetenmandate zu kandidieren. Juriga wurde zudem wegen angeblicher Beleidigung Hlinkas seines Priesteramtes enthoben.⁷⁸

Radikalisierung und Provokation Infolge der Weltwirtschaftskrise wuchs die Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Auf die ohnehin strukturschwache Slowakei wirkte sich die Krise besonders hart aus. In dieser Situation verschärften sich die nationalen Gegensätze weiter und begünstigten das Klima für autoritäre Ideologien. Waren direkte Sympathiebekundungen für den Faschismus oder Nationalsozialismus in der Slowakei selbst nach dem Machtantritt Hitlers eher von marginaler Bedeutung, ließ sich indes eine größere Hinwendung zu den Zielen und Mitteln dieser Bewegungen ab Mitte Dreißigerjahre auch in der Slowakei erkennen. Die Volkspartei als stärkste ethnisch-nationale Partei in der Slowakei orientierte sich auf ihrem Parteitag vom September 1936 unmissverständlich in diese Richtung. Mit dem darauf verabschiedeten Manifest reagierten sie unter anderem auf die „fortschrittlich“ eingestellten Intellektuellen, die auf ihrem im selben Jahr abgehaltenen Schriftstellerkongress eine fortschrittsorientierte und antifaschistische Position bezogen hatten. Der Parteitag der HSĽS im Kurort Pieštany geriet mit seinen 10 000 bis 30 000 versammelten Menschen zur bis dahin größten Massenveranstaltung der Volkspartei.⁷⁹ Eine nicht unerhebliche Rolle spielten dabei die jungen radikalen Kräfte der Partei. Sie hatten mit Hlinkas Unterstützung den gemäßigten Flügel beim Verfassen des Manifests umgangen. Den Text legten die jungen Radikalen Alexander

77 Letz 2006, S. 48. 78 Letz 2006, S. 50. 79 Letz 2006, S. 57.

4.4 Politischer Katholizismus und Radikalisierung | 99

Mach, Karol Sidor und Ferdinand Ďurčanský vor. Sie forderten darin die Autonomie des slowakischen Landes innerhalb einer föderativ umgestalteten tschechoslowakischen Republik. Darüber hinaus reihten sie die slowakische Nation ein in die „antikommunistische Front an der Seite von Nationen, die von christlichen Prinzipien geleitet sind“.⁸⁰ Diese Position war unter anderem eine Reaktion auf den 1935 zwischen Prag und der Sowjetunion geschlossenen Freundschaftsvertrag, durch den Prag Verbündete gegen Deutschland zu gewinnen suchte. Ein Teil der anwesenden jungen radikalen Kräfte forderte eine Verbindung mit Polen.⁸¹ Explizit bekannte sich die Volkspartei zwar nicht zum Faschismus oder Nationalsozialismus. Doch aufgrund dieser Aussage ließen sie sich mit Italien, Deutschland oder anderen autoritären Regimen wie Spanien oder Polen assoziieren. Außerdem hatte Sidor einen propagandistischen Schachzug gewagt, indem er den Korrespondenten des Völkischen Beobachters aus Deutschland, Paul Ullman, einlud, den Kongress zu beobachten. Er traf sich auch persönlich mit ihm. Die Anwesenheit von Ullman sowie dem äußerst rechten französischen Parlamentarier France Jean Chiappe veranlasste die linke tschechoslowakische Presse, von einem Sieg der faschistischen Kräfte innerhalb der Volkspartei zu schreiben.⁸² Doch auch bei den gemäßigten Vertretern der Volkspartei, allen voran Jozef Tiso, ließ sich eine Radikalisierung der Positionen beobachten. Er sagte: „(. . . ) ich werde mich nicht der Demokratie beugen, wenn sie den Tod der Nation bedeuten könnte.“⁸³ Auf dem Kongress prägte Tiso auch das von Goebbels abgewandelte Motto „Eine Nation, eine Partei, ein Führer“.⁸⁴ Die radikalere Ausrichtung der Partei setzte sich nach dem Parteitag fort, etwa in öffentlichen Protestaktionen. Die slowakischen Nationalisten suchten gezielt und zumeist durch spektakuläre Aktionen den Weg an die Öffentlichkeit, da sie auf parlamentarischem Wege ihre zahlreichen Anliegen nicht durchbringen konnten. Zu den Provokationen mit indirekten Sympathiebekundungen für Italien oder Deutschland gesellte sich auch eine Art kultureller Außenpolitik, die die zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen der Republik und Polen unterlief.

80 Felak 1994, S. 166. 81 Kováč/Lipták 2000, S. 238. 82 Felak 1994, S. 165 f. 83 Zit. nach Letz 2006, S. 57. 84 Vgl. Letz 2006, S. 57.

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4.5 Vorbild Polen Die Beziehungen des tschechoslowakischen Staates zum polnischen blieben während der gesamten Zwischenkriegszeit getrübt. Im Januar 1919 trugen die beiden Staaten einen bewaffneten Konflikt um das Gebiet Teschen aus. Die tschechische Besetzung, die später durch die alliierten Kräfte bestätigt wurde, verstimmte Polen dauerhaft. Trotz Appellen an die „slawische Solidarität“ und wiederholten Bemühungen gelang es Prag nicht, Polen für die Kleine Entente zu gewinnen, was als größter Schwachpunkt in diesem Vertragswerk der Nachkriegsordnung betrachtet wird.⁸⁵ Ungeachtet der weiterhin von Polen beanspruchten Gebiete, die sowohl im Grenzgebiet zum tschechischen wie auch slowakischen Teil lagen, unterhielt die slowakische Volkspartei eigenständig Kontakte zu Polen. Begonnen hatte diese Beziehung bereits während der Verhandlungen zu den Versailler Verträgen, als Hlinka mit einem falschen polnischen Pass sowie finanzieller Unterstützung vom polnischen Staat 1919 nach Paris reiste. Eine gewisse Distanz ergab sich jedoch aufgrund des Streits um die Zipser und Oravaer Bergdörfer, die sowohl von der slowakischen als auch von der polnischen Seite beansprucht wurden. Infolge der anhaltenden Streitereien entschieden sich die betroffenen Bewohner jedoch pragmatisch für die slowakische nationale Zugehörigkeit, obgleich weiterhin die goralische ethnisch-kulturelle Identität von größerer Bedeutung war.⁸⁶ Die offizielle außenpolitische Linie der Volkspartei richtete sich ab den Zwanzigerjahren auf Polen aus, in Hlinkas Augen als taktische Strategie gegen Zentralismus und Tschechoslowakismus. Anders sahen dies Karol Sidor und Karol Murgaš, die beiden prominentesten Vertreter dieser Linie. Die Volkspartei versuchte ausländische Kontakte als Alternativen zu den alliierten Mächten im Ersten Weltkrieg herzustellen und konzentrierte sich dabei auf rechte Regime in Europa, und zwar Österreich, Italien und Polen. In den Beziehungen zu Polen bezogen sich die Verantwortlichen auf die Idee gemeinsamer slawischer Wurzeln und den katholischen Glauben. Der außenpolitische Sprecher der Volkspartei Štefan Onderčo schlug im April 1933 vor, Polen in die kleine Entente, die militärische Allianz der Tschechoslowakei mit Rumänien und Jugoslawien, aufzunehmen. Doch Beneš folgte Frankreichs Beispiel und suchte die Annäherung mit der Sowjetunion, was im gegenseitigen Beistandsvertrag von 1935 gipfelte. Dieser Vertrag entfachte den empörten Widerstand der Volkspartei bis zum Ende der Ersten Republik.⁸⁷

85 Borsody, Stephen: The New Central Europe, Boulder 1993, S. 17. 86 Kamusella 2009, S. 824. 87 Felak 1994, S. 53.

4.5 Vorbild Polen |

101

Die Idee eines polnisch-slowakischen Bündnisses wurzelte in Vorkriegskontakten von Vertretern des politischen Katholizismus. Das Konzept erlangte während des Krieges und des Waffenstillstandes eine gewisse politische Bedeutung unter den Slowaken. Die Repräsentanten der amerikanisch-slowakischen Emigration lehnten es letztlich jedoch ab, weil sie die zahlenmäßige Überlegenheit der Polen für einen zu großen Nachteil hielten. Nach Ende des Krieges, 1919, reiste eine Delegation der Slowakischen Nationalpartei nach Warschau, um im Geheimen mit Piłsudski die Möglichkeit einer polnisch-slowakischen Union zu besprechen. Piłsudski hatte jedoch kein Verständnis für die Idee der Selbstbestimmung der Slowaken. Ihn interessierte lediglich ein Bündnis mit Ungarn.⁸⁸ Ein weiterer Befürworter eines polnisch-slowakischen Bündnisses war der von der ungarischen irredentistischen Bewegung bezahlte Emigrant František Jehlička. Er reiste 1920 nach Polen, um für einen selbständigen slowakischen Staat mit der Orientierung nach Polen zu agitieren.⁸⁹ Allerdings distanzierte sich Andrej Hlinka im Namen der Slowakischen Volkspartei mehrfach von den Aktivitäten Jehličkas⁹⁰, auch wenn ihn Jehlička auf der missglückten Reise zu den Versailler Friedensverhandlungen als Berater begleitet hatte. Der polnisch-slowakische Diskurs belebte sich nach Piłsudskis Staatsstreich vom Mai 1926 wieder. Der slowakische Historiker Ladislav Déak vertritt die Ansicht, dass die polnische Politik ab diesem Zeitpunkt gezielt versuchte, die Tschechoslowakei zu schwächen und dafür die autonomistische Bewegung in der Slowakei instrumentalisierte.⁹¹ Nach der Strategie des so genannten „dritten Europas“ sollten die Slowakei und die Karpato-Ukraine nach dem Zerfall der Tschechoslowakei eine Brücke zwischen Polen und den Donaustaaten sowie dem Balkan bilden. Die polnische Strategie sah vor, die eigene Öffentlichkeit über die slowakischen Verhältnisse durch die Presse zu informieren, wobei sich die Inhalte ausschließlich aus autonomistischen Kreisen speisten. Der Tenor dieser Propaganda lautete, dass Polen und Slowaken miteinander verwandt seien und deshalb Sympathie für die unterdrückten Slowaken zu bekunden sei. Mit Rücksicht auf Ungarns Interesse an der Slowakei agierte die polnische Regierung möglichst unverfänglich und betraute scheinbar unpolitische Organisationen mit den Aktivitäten zur Slowakei, etwa das „Krakauer Zentrum“ mit dem Geschichtsprofessor Semkowicz an der Spitze. Dort

88 Krajčovič, Milan: Vývin národných hnutí v Európe 1850–1914 [Die Entwicklung nationaler Bewegungen in Europa 1850–1914], in: Historické štúdie 35, 1994, S. 109–134; hier S. 104 f. [1994:b]. 89 Krajčovič 1994:b, S. 114. 90 Krajčovič 1994:b, S. 115 f. 91 Deák, Ladislav: Die polnische Politik und die Slowakei in den dreißiger Jahren, in: Peter Heumos (Hg.), Polen und die böhmischen Länder im 19. und 20. Jahrhundert. Politik und Gesellschaft im Vergleich, München 1997, S. 161–188.

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wurden im Namen der „slawischen Wechselseitigkeit“ zahlreiche pro-slowakische Initiativen entwickelt, die aber letztlich politischen Zielen dienten. Parallel dazu versuchte der polnische Konsul in Bratislava den polenfreundlichen Flügel der Slowakischen Volkspartei zu stärken. Eine Gruppe von polnischen Akademikern gründete im Juni 1936 die ĽudovítŠtúr-Gesellschaft der Freunde der Slowaken. Angeblich war die Organisation privat, wurde indes vom polnischen Außenministerium finanziert. Der Dichter und Senator Feliks Gwiżdż leitete die Gesellschaft mit ihren Ablegern in Warschau, Krakau und Poznan. Das Ziel der Gesellschaft war, das kulturelle Bewusstsein über die Slowaken diesseits und jenseits der Grenze zu erweitern.⁹² Die Štúr-Gesellschaft und zahlreiche andere Klubs richteten Stipendien für autonomistische slowakische Studenten in Polen aus. Sie statteten überdies einige slowakische Gymnasien mit polnischen Bibliotheken aus, unterhielten Verbindungen zu slowakischen Akademikerklubs, arrangierten gegenseitige Besuche von polnischen und slowakischen Delegationen und publizierten Propaganda für die Volkspartei in Polen.⁹³ Auch auf dem HSĽS-Kongress im Jahr 1936 waren Polen anwesend. Sie diskutierten die Möglichkeit engerer polnisch-slowakischer Kontakte und drückten ihre volle Unterstützung für die Autonomiebestrebungen der Slowaken aus. Die Fäden der Beziehungen zwischen Polen und Slowaken liefen auf slowakischer Seite bei Karol Sidor zusammen. Er hatte die Kontakte zu den wichtigsten Personen auf polnischer Seite, Gwiżdż und Semkowicz, hergestellt.⁹⁴ 1937 wurden Sidor und Hlinka von der Štúr-Gesellschaft nach Polen eingeladen. Sie sollten der polnischen Öffentlichkeit noch bekannter gemacht werden und selber ihr Engagement für die polnischen Interessen steigern. Dazu sollte auch die Verleihung des Ordens Polonia Restituta erster Klasse an Hlinka beitragen, ein Orden, mit dem sonst Staatsoberhäupter ausgezeichnet wurden. Die Aktivitäten von polnischer Seite dienten dem Ziel, die tschechoslowakische Regierung unter Druck zu setzen,⁹⁵ vor allem in den Auseinandersetzungen um die nach den Pariser Friedensverträgen an die ČSR abgetretenen Gebiete. 1938 äußerte der polnische Außenminister Beck sogar zuspitzend, dass die Maßnahmen dazu gedient hätten, die Slowakei aus der Tschechoslowakei herauszulösen.⁹⁶ Für die Volkspartei waren die Kontakte zu Polen insofern interessant, weil sie etwa als Mitglieder einer distinkten slowakischen Nation, nicht aber des tschechoslowakischen Staates behandelt wurden. Die Autonomisten erhofften sich auch,

92 93 94 95 96

Felak 1994, S. 172. Felak 1994, S. 172. Ausführlicher zu Sidors Polenengagement im Kapitel zur rhetorischen Praxis in dieser Arbeit. Felak 1994, S. 172. Deák 1997, S. 168.

4.6 Neue Machtverhältnisse in der Autonomiephase |

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die Regierung unter Druck zu setzen, um sich für ihre Forderungen Gehör zu verschaffen. Dabei nahmen sie selbst die feindliche Agitation der Polen in Kauf, die versuchten, die nun tschechoslowakische Bevölkerung in den abgetretenen Gebieten mit Hilfe von Flugblattaktionen und Propaganda auf die polnische Seite zu ziehen. Eskortiert und legitimiert wurde das Polenengagement der Volkspartei durch die literarische, publizistische und übersetzerische Tätigkeit einer ganzen Reihe von nationalistischen Intellektuellen.⁹⁷

4.6 Neue Machtverhältnisse in der Autonomiephase Da Hlinkas Volkspartei ihre Position als dominierende politische Kraft in der Slowakei immer mehr ausbauen konnte, war sie in der Lage, unmittelbar nach dem Abschluss des Münchner Abkommens die Verhandlungen mit der geschwächten Zentralregierung über den Status der Slowakei allein zu führen. Die ČSR war durch Deutschland unter Druck geraten, ihre Nationalitätenpolitik neu auszurichten. Im Wahljahr 1935 erzielte Henleins Sudetendeutsche Partei einen Erdrutschsieg mit landesweit 15,2 % der Stimmen und wurde so zur größten Partei des Landes. Hinzu kam die massive Propaganda von Deutschland mit Ansprüchen auf die tschechischen Gebiete, die zu mehr als 50 Prozent von Deutschsprachigen bewohnt wurden. Zur Realität wurden diese Forderungen mit der Unterzeichnung des Münchner Abkommens am 29. September 1938 zwischen Hitler, Mussolini, Daladier und Chamberlain. Die sudetendeutschen Gebiete musste die Tschechoslowakei an Deutschland abtreten, weitere Gebiete gingen in den folgenden Wochen an Polen und Ungarn, so dass die ČSR einen Drittel Land und 34 Prozent ihrer Bevölkerung verlor. In dieser angespannten Situation bedrängten die Slowaken die geschwächte Zentralregierung mit ihren politischen Forderungen, so dass diese gezwungen war, Zugeständnisse zu machen, die weit über eine Territorialautonomie hinausgingen. Die Verhandlungen über die Autonomiefrage führte die tschechoslowakische Agrarierpartei unter dem Slowaken Hodža sowie weiteren Regierungsvertretern. Als Ergebnis wurde das Abkommen von Žilina am 6. Oktober 1938 unterzeichnet, und zwar von allen großen Parteien bis auf die kommunistische und die sozialdemokratische, die nicht zu den Verhandlungen eingeladen waren. Inhaltlich akzeptierten die Regierungsvertreter fast alle Vorschläge der HSĽS. Abgesehen von der höchsten Gerichtsbarkeit und der Außenpolitik sollten alle Regierungs-

97 Vgl. dazu die Kapitel zur rhetorischen und zur literarischen Praxis in dieser Studie.

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kompetenzen an die Slowakei übergehen. Tiso sollte die slowakische Regierung bestellen. Der fünfköpfigen Regierung gehörten von der HSĽS Ferdinand Ďurčanský und Tiso an sowie zwei weitere Mitglieder der Agrarierpartei und ein Mitglied der Slowakischen Nationalpartei. Da die HSĽS in der Slowakei keine ernsthafte Konkurrenz besaß, forderte sie unmittelbar nach Erlangung des Autonomiestatus die Vereinigung aller Parteien in der HSĽS. Als erste Partei wurde der slowakische Zweig der Tschechoslowakischen Volkspartei geschluckt. Die Agrarier bedungen sich noch einige Verhandlungszeit aus, es erging ihnen aber ebenso. Lediglich die Kommunisten und Sozialdemokraten wurden nicht vereint, sondern durch Verwaltungsmaßnahmen nach und nach handlungsunfähig gemacht. DieVolkspartei erhielt nun noch den Zusatz „Slowakische Partei der nationalen Einheit“ (HSĽS-SSNJ). Tiso erklärte, die slowakische Gesellschaft werde künftig nicht auf Parteien, sondern auf Ständen basieren.⁹⁸ In den päpstlichen Enzykliken, die die katholische Soziallehre begründeten⁹⁹, wurde eine in Berufsständen bzw. Körperschaften durchorganisierte Gesellschaft vorgeschlagen. Diese Vorstellung lag auch der Ideologie der Volkspartei zugrunde. De facto war so der Weg zum autoritären Regime noch vor der von Deutschland forcierten Staatsgründung beschritten. In dieser Umbruchssituation kamen auch wieder personale Fragen auf. Es entstand eine Konkurrenz zwischen Tiso, Sidor und Tuka. Tiso war als Hlinkas Stellvertreter Interimspräsident der Partei. Wegen der starken Position der Geistlichen in der Partei galt der Priester Tiso als Anwärter für den Parteivorsitz. Die jungen Radikalen in der Partei unterstützten allerdings Sidors Kandidatur für das Amt. Sidor versuchte die Stellung der Radikalen mit Hilfe der Hlinka-Garden und der Nationalausschüsse, die zur Kontrolle der Ämter eingerichtet wurden, zu behaupten. Beide, Tiso und Sidor, hatten nicht mit dem alten Konkurrenten Tuka gerechnet, der 1937 amnestiert nun nach Bratislava zurückkehrte und auf politische Funktionen aspirierte. Er wurde aber von Tiso an die Universität abgeschoben und zu deren Rektor ernannt. Tuka wiederum gab nicht auf, sondern orientierte sich nach Deutschland und wurde von Hitler im Februar 1939 als Repräsentant der HSĽS empfangen. Sidor setzte nun alles daran, den Radikalen und Journalisten Alexander Mach in wichtige Positionen zu hieven. Als Sidor stellvertretender Vorsitzender der Zen-

98 Letz 2006, S.64. 99 Die Enzykliken „Rerum novarum“ von 1891 und „Quadragesimo anno“ von 1931 sehen diese Gesellschaftsordnung vor. Den Hintergrund bildet die Auseinandersetzung mit dem Sozialismus von Kommunisten und Sozialdemokraten, die eine Spaltung der Gesellschaft in Klassen verursacht hätten. Mit den Berufsständen sollten die Gegensätze durch eine funktionale ständische Ordnung überwunden werden.

4.6 Neue Machtverhältnisse in der Autonomiephase |

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tralregierung in Prag wurde, ernannte er Mach zu seinem Stellvertreter. Mach auch noch mit der Funktion des Generalsekretärs der Partei zu betrauen, gelang ihm indes nicht. Sidor selbst zog sich angesichts der Ereignisse in der Märzkrise von 1939, als die Gründung des Staates bevorstand, immer mehr zurück. Unmittelbar nach der Staatsgründung am 14. März 1939 überließ er Mach seinen Posten als Führer der Hlinka-Garden. Zum Generalsekretär der HSĽS-SSNJ machte Tiso den erst 26-jährigen Historiker Jozef Kirschbaum¹⁰⁰, der bis dahin die AkademikerHlinka-Garde angeführt hatte.

Die Abschiebung der Tschechen Einem wichtigen Propaganda-Thema nahm sich die Volkspartei unmittelbar nach Erlangung der Autonomie an: der Lösung der „tschechischen Frage“. In weiten Teilen der slowakischen Öffentlichkeit versprach man sich vom Abschieben der Tschechen eine bessere Beschäftigungssituation und die Lösung ökonomischer Probleme. So sandte etwa der Verband der slowakischen akademischen Vereinigungen noch im Mai 1938, also vor Erlangung der Autonomie, ein Memorandum an den Ministerpräsidenten Milan Hodža. Darin drohte er der Regierung, dass die Stabilität der Slowakei und der Tschechoslowakischen Republik gefährdet sei, wenn nicht endlich die personalen Fragen in der Slowakei ausschließlich in slowakische Hände gelegt würden und Slowaken bei der Besetzung von Stellen in der Slowakei stets den Vorzug bekämen.¹⁰¹ Doch ging es nach den politischen Veränderungen um mehr als nur eine vermeintlich gerechtere Personalpolitik. Für das im Entstehen begriffene autoritäre Autonomieregime stellten all die höheren Beamten und Offiziere eine Bedrohung dar. Deshalb bemühte sich die Volkspartei gerade um die Abschiebung von Funktionären in Staat und Armee. So wollte sie die Macht im slowakischen Landesteil in ihre Hand bekommen. Unterstützt wurde die Volkspartei aber auch von den Agrariern und der Nationalpartei. Auch wenn die Radikalen in der HSĽS die Aussiedlung aller Tschechen forderten, fand eine Verschiebung in größerem Maßstab nicht vor Mitte 1939 statt. Bis zur Staatsgründung wurden diese Fragen mit der tschechoslowakischen Zentralregierung verhandelt, erst danach mit Deutschland. Die Tschechen gerieten in eine äußerst ungünstige Lage. In städtischen Zentren wurden sie trotz vertraglicher Remigrations- oder Bleiberegelungen wiederholt von Angehörigen der Hlinka-Garde terrorisiert. Zwischen dem Münchner Abkommen

100 Kirschbaum wurde nach dem Krieg ein renommierter Historiker der slowakischen rechten Emigration, der weiterhin einen primär kulturell attribuierten Nationalismus vertrat. 101 Bystrický 1997, S. 601.

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und der Staatsgründung wurden mindestens 9000 tschechische Staatsangestellte entlassen. Eine unbekannte Zahl Tschechen verließ die von Polen, Ungarn und Deutschland besetzten Gebiete. Zudem verließen Angehörige der freien Berufe aufgrund der antitschechischen Stimmung und Übergriffe von selber das Land. Bis zum 30. Juni 1939 fand die in der Autonomiephase begonnene Entwicklung ihren vorläufigen Abschluss. 17 763 Tschechen hatten bis zu diesem Zeitpunkt auf Geheiß der Regierung die Slowakei verlassen; zusammen mit den Familienangehörigen waren das etwa 50 000 Personen. Nach dem slowakisch-deutschen Vertrag vom 6. Dezember 1940 hätten die Tschechen bleiben können, da sie nun offiziell Angehörige des Deutschen Reiches waren. Von den einst 120 000 in der Slowakei lebenden Tschechen blieben bis Ende des Weltkrieges jedoch nur 30 000 in der Slowakei.¹⁰²

4.7 Im slowakischen Nationalsozialismus Für die Erklärung der slowakischen Autonomie nutzte Hlinkas Volkspartei die Gunst der Stunde, als sich die Tschechoslowakei nach dem Münchner Abkommen, ohne Unterstützung der Alliierten, in einer äußerst geschwächten Position befand. Die Gründung des Slowakischen Staates am 13. März 1939 hingegen kam unter Hitlers ultimativem Druck zustande. Die Umstände und Folgen enttäuschten viele der slowakischen Nationalisten. Die Slowakei musste tatenlos zusehen, wie 21,8 % ihres Territoriums und 26,4 % ihrer Bevölkerung an Polen und Ungarn fielen, darunter mit Košice die zweitgrößte Stadt des Landes und das wichtigste urbane Zentrum im Osten der Slowakei. Nicht von ungefähr kämpfte die unabhängige Slowakei als einziger Staat an Deutschlands Seite gegen Polen, denn sie war an der Wiedererlangung der verlorenen nördlichen Territorien interessiert.¹⁰³

Zwischen radikalem und konservativem Flügel Der neue Staat wurde rasch zum De-facto-Einparteienstaat umgebaut. Lediglich die deutsche und ungarische Minderheit durften eigene Parteien beibehalten. Die HSĽS-SSNJ nahm sich jedoch aller Entscheidungen, die Ämter und Personen betrafen, selber an. Das beschloss der Vorstand der Partei am 17. April 1939. Damit erhielt das Generalsekretariat die Vollmacht, Personen an staatliche und private Institutionen sowie an Ämter zu empfehlen. Das Generalsekretariat wurde so 102 Bystrický 1997, S. 610 f. 103 Kamusella 2009, S. 839.

4.7 Im slowakischen Nationalsozialismus |

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zu einem großen Personalvermittler von Mitgliedern und Sympathisanten der Volkspartei.¹⁰⁴ Bis zu den Verhandlungen zum Salzburger Vertrag vom 27. und 28. Juli 1940 spitzten sich die Auseinandersetzungen um die Parteiführung und die Regierungsämter zwischen konservativen und radikalen Kräften innerhalb der HSĽS zu. Bei den Auseinandersetzungen spielten weniger markante inhaltliche Differenzen als der revolutionäre Gestus der Radikalen eine Rolle, mit dem sie die Gesellschaft umgestalten wollten. Das Ringen um die Vorherrschaft zwischen den zwei Flügeln, die sich bereits deutlich in der Zwischenkriegszeit herausgebildet hatten, erreichte nun seinen Höhepunkt. Deutschland setzte dem abrupt ein Ende, indem es sein bevorzugtes Personal auf bestimmte Posten setzte. So musste Tisos Stellvertreter Ďurčanský als Innen- und Außenminister demissionieren. Dessen Ressorts übernahmen die Radikalen Tuka und Mach. Auch der Generalsekretär der HSĽS Jozef Kirschbaum, von Tuka als „jüdischer Barbar“ bezeichnet, wurde aus seinem Amt entlassen. Zudem wurde die akademische Hlinka-Garde, dessen Führer Kirschbaum gewesen war, aufgelöst. Tuka äußerte sich nach dem Salzburger Treffen euphorisch, dass nun die Zeit des slowakischen Nationalsozialismus nach deutschem Vorbild angebrochen sei.¹⁰⁵ Er sah den Zeitpunkt gekommen, die von ihm seit langem verfolgte ideologische Grundkonzeption in die Tat umzusetzen, die er mit Hilfe des Vorbildes des italienischen Faschismus und ab 1938 des Nationalsozialismus entwickelt hatte.¹⁰⁶ Die Radikalen um Tuka versuchten nach Salzburg, ihre Popularität in der Bevölkerung zu erhöhen. Das Medium dazu war die Zeitung Gardista, die der Schriftsteller Milo Urban redaktionell leitete. Er bereitete in der Zeitung den Boden für den neuen Zugang der Radikalen: Nach Salzburg erklang jedoch ein klares Wort. Erst nach diesem Wort begann bei uns eine Art Trennung der Geister, die in diesen Tagen – so scheint es – ihren Höhepunkt erreicht und die unsere innenpolitische Situation insofern vereinfacht hat, als wir deutlich zwei Gruppen

104 Letz 2006, S. 71. 105 Letz 2006, S. 78. Letz behauptet verharmlosend und die ideologischen Unterschiede nivellierend, dass sowohl Tiso als auch Tuka im Wesentlichen unter slowakischem Nationalsozialismus die Aktivierung der traditionellen christlichen, nationalen und sozialen Werte der Partei verstanden, wenn auch mit Hitlers Methoden. Hoensch hingegen zeigt die markanten Unterschiede zwischen diesen beiden wichtigsten Programmatikern der Volkspartei auf, insbesondere in der Haltung gegenüber Autonomie und Eigenstaatlichkeit sowie der Rolle des Katholizismus. Vgl. Hoensch 2000, S. 154–198. 106 Hoensch 2000, S. 186 ff.

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auseinanderhalten können: eine konservative, die mehr in die Vergangenheit schaut, und eine zweite, radikale, die die Zukunft der Nation vor Augen hat.¹⁰⁷

Urban bezieht sich hier indirekt auf einen Artikel von Andrej Žarnov, in dem dieser – ganz im gegensätzlichen Sinne – die Trennung der Geister nach Konfessionen in der Zwischenkriegszeit verurteilt hatte. Tiso reagierte schnell mit einer programmatischen Rede auf die Aufbruchstimmung unter den Radikalen. Am 15. Januar 1941 hielt er vor dem erweiterten Vorstand der Partei eine Rede, aus der unmissverständlich hervorging, dass er die Radikalen für eine Bedrohung der nationalen Einheit halte. Er kündigte an, dass „die Partei alles unternehmen werde, damit in unserem Leben sich ein geschlossener Kreis bilde, nicht nur ideologisch, sondern auch praktisch-politisch, aus dem kein Einzelner weder ideell noch praktisch ausbrechen könne“¹⁰⁸. Tiso drohte den Abweichlern und deutete gleichzeitig an, dass er sich das Heft nicht aus der Hand nehmen lassen würde. Sein Ziel war, „eine völkische Slowakei nach der Richtlinie des Nationalsozialismus“ zu schaffen, das heißt nach dem Vorbild des deutschen Nationalsozialismus. Im Zusammenhang mit Diskussionen über die Einführung des Führerprinzips, wurden die Kompetenzen des Präsidenten Tiso erheblich erweitert. Per Verfassungsgesetz vom 7. Oktober 1941 war er berechtigt, die Abgeordneten im Parlament einzusetzen oder abzuberufen. So fiel die Zahl der Abgeordneten mit nur vierzig Personen auf etwa die Hälfte. Das garantierte Tiso wiederum eine Mehrheit der gemäßigten Kräfte. Eine weitere Maßnahme, um die Stellung der HSĽS zu festigen, waren Schulungen für politische Funktionäre. Ab 1941 gab das Generalsekretariat die instruktive Zeitschrift Politische Schule heraus. Auf lokalem Niveau sollten Parteihäuser gebaut werden, die zugleich Kulturhäuser sein würden. Diese Initiative ging auf Tiso zurück. Im slowakischen Staat wurden nach diesem Plan 132 Kulturhäuser errichtet.¹⁰⁹

107 Urban, Milo: Čakáme program, in: Gardista, 3, 22.1.1941, Nr 17, S. 1, zit. nach Letz 2006, S. 82 f. [Po Salzburgu však odznelo aspoň jasné slovo. Len po tomto slove začalo sa u nás akési triedenie duchov, ktoré v týchto dňoch – ako sa zdá – vyvrchoľuje a ktoré našu vnútropolitickú situáciu zjednodušilo natoľko, že už jasné môžeme rozoznať dve skupiny: jednú konzervativnú, zahľadenú viac do minulosti a druhú radikalnú, majúcu pred očami budúcnosť národa.] 108 Letz 2006, S. 83 [(. . . ) podnikne všetko, aby sa v našom živote vytvoril uzavretý kruh nielen ideologický, ale i prakticko-politický, z ktorého žiaden jednotlivec ani ideove ani prakticky nemôže vybočiť.]. 109 Letz 2006, S. 87; Tiso, Jozef : Kultúrny dom do každej dediny [Ein Kulturhaus in jedes Dorf], in: Organizačné zvesti HSĽS, roč. 2, 1941, S. 1.

4.7 Im slowakischen Nationalsozialismus |

109

Ständische Gesellschaft und Propaganda Die seit Gründung des Staates geführte Diskussion über eine ständisch bzw. korporatistisch organisierte Gesellschaft nahm bald konkrete Formen an. 1940 wurde die Schaffung von sechs Interessensorganisationen auf ehrenamtlicher Basis beschlossen. Diese wurden durch ein neues Gesetz vom 6. Mai 1942 zu vier Interessensvereinigungen zusammengefasst, und zwar unter der Dachorganisation Slowakische Arbeitsgemeinschaft. Diese wiederum unterstand der HSĽS und hatte der Partei gegenüber eine unterstützende Funktion. Die Mitgliedschaft in den Vereinigungen war obligatorisch für alle Angehörigen der slowakischen Nation, die berufstätig waren oder eine Rente bezogen.¹¹⁰ Eine weitere Organisation wurde per Gesetz für die slowakischen Hochschulstudenten gegründet, um den Einfluss der HSĽS unter Akademikern sicherzustellen. Eine sozialfürsorgerische Funktion übernahm schließlich das ebenfalls gegründete Sozialamt der HSĽS. Es war besser mit finanziellen und technischen Mitteln ausgestattet als ehrenamtliche Organisationen. Die konkreten Aufgaben waren, die Familien zu unterstützen, etwa bei der vor- und nachgeburtlichen Fürsorge für Mütter oder Erziehung von Kindern bis sechs Jahren, Beratungsstellen für Erziehungsfragen zu unterhalten, Kinderkrippen einzurichten, günstige Wohnungen zu bauen oder sich um Hygienefragen zu kümmern. Als Leiter des Amtes setzte Tiso den Mediziner und Dichter František Šubík (Pseudonym: Andrej Žarnov) ein, der diese Funktion bis 1944 ausübte. Als sich Anfang 1943 die internen Auseinandersetzungen zwischen Radikalen und Gemäßigten gelegt hatten, verstärkte die Partei ihre propagandistischen und Bildungsaktivitäten, die den Staat als legitim und Eigenleistung der Slowaken darstellten. In der neuen Schriftenreihe „Volksbibliothek HSĽS“ erschienen eine Monographie über Hlinka, ein Buch über die Volksgesundheit und vom jungen Intellektuellen Konstantín Čulen das Buch „Der Kampf der Slowaken für die Freiheit“. Außerdem wurden Radiosendungen ausgestrahlt, die sich mit Parteiangelegenheiten befassten, zum Beispiel eine Wochenschau der HSĽS und Hlinkas Rundfunkschule. In großer Zahl wurden Propagandaplakate gedruckt.¹¹¹

Priester als Stützen des Regimes Ein häufig diskutiertes Problem war die Beteiligung von Priestern oder Pfarrern am politischen Leben. Im slowakischen Staat musste das Episkopat bald feststellen, dass die Regierung auf seine Memoranden und Appelle kaum einging. Darum

110 Letz 2006, S. 88. 111 Letz 2006, S. 95.

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stellte sich das Problem, dass katholische Priester in ihrer politischen Funktion den Interessen der Kirche zuwider handeln konnten. Doch selbst der katholische Bischof Ján Vojtaššák hatte als stellvertretender Vorsitzender der Staatsrates ein relativ bedeutendes politisches Amt inne. Die Zahl der Geistlichen im Parlament ging im Verlauf der fünf Jahre etwas zurück. Ende 1941 beispielsweise waren von 80 Abgeordneten zehn katholische Priester, 1 griechisch-katholischer Priester und ein evangelischer Pfarrer. In den Kreisorganisationen der HSĽS waren die Priester stärker vertreten. In 59 Organisationen amtierten 1942 25 Priester als Vorsitzende oder Stellvertreter. Dort waren sie aber vor allem auch als Kultur- und Sozialreferenten tätig.¹¹² Hier ist anzumerken, dass die Priester und Pfarrer, die hohe politische Funktionen im slowakischen Staat übernahmen, sich auch vor 1939 in der Regel schon einen Namen in der Öffentlichkeit gemacht hatten. Und zwar nicht mit ihrem geistlichen Beruf, sondern durch politische, schriftstellerische oder publizistische Tätigkeiten, zum Beispiel die späteren Abgeordneten Karol Körper als Redakteur der katholischen Kulturzeitschrift Kultúra und der evangelische Pfarrer Emil Boleslav Lukáč als Dichter und Publizist. Optimal für eine Karriere im slowakischen Staat, beziehungsweise unter dem Regime der Volkspartei, war es, einerseits einen engen Bezug zur katholischen Kirche oder Religion zu haben und zudem eine öffentlichkeitswirksame Tätigkeit auszuüben. Die HSĽS verzeichnete aber nicht nur Erfolge, auch wenn ihre Mitgliederzahl bald auf 300 000 anstieg. Vor allem in Gebieten mit mehrheitlich protestantischer Bevölkerung und im Osten, wo Ruthenen und Ukrainer lebten, stieß die Partei auf Ablehnung. In solchen Fällen wurden verschiedene Formen von Druck ausgeübt, etwa bei der Zuteilung von finanziellen Mitteln an die Gemeinden.¹¹³

Jüdische Segregation und Judengesetze Während Juden in der Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit eine günstige Situation antrafen, da es keine judenfeindliche staatliche Repression oder Gesetzgebung gab, änderte sich die Situation mit Erlangung der slowakischen Autonomie und der Staatsgründung dramatisch. Bis 1937 waren die judenfreundliche Einstellung von Masaryk und die liberal-demokratische Verfassung des Landes ein Garant für gleiche Rechte der jüdischen Bevölkerung. Der Umbau des Staates war ein Desaster für die Juden, deren Wohlergehen eng mit der Integrität des tschechoslowakischen Staates verknüpft gewesen war. Unterscheidet man jüdische 112 Letz 2006, S. 98. 113 Letz 2006, S. 99.

4.7 Im slowakischen Nationalsozialismus |

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Lebensweisen nach Kulturtypen, so war jener im tschechischen Teil modern, aufgeklärt, durch Akkulturation gekennzeichnet.¹¹⁴ Zunehmend in Richtung Osten herrschte die jüdische Orthodoxie vor. Doch im Verlauf der Zwischenkriegszeit gewann die säkulare Orientierung auch in der Slowakei an Boden. Das bedeutete, dass etwa im tschechischen Landesteil das Tschechische unter den Juden die dominierende Sprache war. Dieser Trend zur Annahme der Landessprachen setzte sich auch in östlicher Richtung fort, doch wurde diese Entwicklung durch den Ausbruch des Kriegs abgebrochen. Jene slowakischen Juden, die sich nach dem Münchner Abkommen im ungarischen Staat wiederfanden oder dorthin deportiert wurden, waren mit einem virulenten Antisemitismus konfrontiert, in einem Land, dass gerade begann, die jüdische Emanzipation rückgängig zu machen. Die in der Rest-Slowakei verbliebenen Juden waren einem ungehemmten Antisemitismus ausgeliefert. Waren der Proklamation der Autonomie 1938 bereits pogromartige antisemitische Ausschreitungen gefolgt, wurden unmittelbar nach der Staatsgründung im März 1939 judenfeindliche Gesetze erlassen.¹¹⁵ Darin wurden als Juden jene definiert, deren Religion die jüdische war und die nicht vor 1918 zum Christentum konvertiert waren. Nichtreligiöse Personen, die zumindest einen jüdischen Elternteil hatten, galten als Juden ebenso wie alle Personen, die mit Juden verheiratet waren. Ferner wurde die Tätigkeit von bestimmten Berufsgruppen eingeschränkt. Von den Anwälten durften maximal noch 4 % jüdisch sein, auf öffentlichen Notariaten durften jüdische Juristen überhaupt nicht mehr tätig sein. Jüdische Redakteure, von denen es ohnehin nur wenige gab, konnten nur noch für jüdische Zeitungen arbeiten. Dennoch waren die jüdischen Intellektuellen von den slowakischen Intellektuellen besonders gefürchtet. Jüdische Redakteure galten als Symbole für das Eindringen „fremder“ Ideen in die slowakische Kultur.¹¹⁶ Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurden noch strengere Kriterien für die Definition von Juden entwickelt und der Weg geebnet, sie systematisch aus dem Wirtschaftsleben auszuschließen, wiederum dem ungarischen Modell folgend. Offensichtlich hatte die tschechische Dominanz im tschechoslowakischen Staat den slowakischen Antisemitismus im Zaum gehalten. An dessen ungehindertem Ausbruch war jedoch nicht allein der nazideutsche Einfluss Schuld, sondern vielmehr the combination of extreme nationalism, authoritarianism, economic distress, and religious traditions and the identification of the Jews with economic domination, preponderance in

114 Mendelsohn 1983, S. 166. 115 Tönsmeyer 2003, S. 155 ff. 116 Mendelsohn 1983, S. 166 ff.

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the professions (particularly annoying to the new ‚native intelligentsia‘), revolution, and the hated national oppressor.¹¹⁷

Fazit Die junge nationalistische Elite entstand in einem Umfeld voller Spannungen, Konflikte und Polarisierungen. Generell entstand durch die große Unzufriedenheit mit den politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen im Land ein großes Mobilisierungspotenzial, was von den führenden nationalistischen Kräften genutzt wurde. Insbesondere für die Umsetzung eines modernen massenbezogenen, populistischen Politikstils bedurfte es zahlreicher Autoren und Referenten. Die Jungen profitierten zudem sowohl von den Lagerkämpfen zwischen Zentralisten und Autonomisten als auch von jenen zwischen gemäßigten und radikalen Kräften im nationalistischen Lager. In diesem Spannungsfeld konnten sie sich, indem sie sich an einflussreiche Leute anschlossen, durch eine größere Radikalität und damit auch einen Nationalismus absetzen, der sich durch andere Attribute auszeichnete, vor allem durch völkische und ethnisch-kulturelle Konnotationen. Dabei stellte die derart veränderte Kategorie des Nationalen weniger auf den tatsächlichen Einfluss bestimmter sprachlich-ethnisch definierter Gruppen ab, sondern vielmehr auf die im Alltag subjektiv wahrnehmbaren Effekte dieser angenommenen Gruppen. Nach der anfänglichen Entfernung der Tschechen aus dem öffentlichen Leben ab 1938 kam die Reihe an die jüdische Bevölkerung. Verdient konnten sich die jungen Nationalisten vor allem im legitimierenden Einsatz für das Nationalisierungsprojekt machen, etwa indem sie den provozierenden außenpolitischen Kontakten zu Polen eine kulturelle Basis lieferten. Die durch äußere Entwicklungen hervorgerufene Krise nach dem Münchner Abkommen führte zu einem raschen Umbau der politischen Elite. Davon profitierten die jungen Aspiranten auf Plätze in der nationalen Führungsriege. Auch im neuen Staat war die intellektuelle Tätigkeit gefragt, nun aber nicht in der Opposition, sondern für die offizielle Repräsentation. Die kulturelle Produktion entwickelte sich umgekehrt proportional zum Gebiets-, Bevölkerungs- und Bedeutungsverlust der Slowakei. Die angeheizten kulturellen Aktivitäten mussten die Verluste kompensieren sowie den Staat und mit ihm die neue Elite symbolisch legitimieren. Die sozialen Hintergründe, Bildungswege und Karriereverläufe der jungen Nationalisten als Voraussetzungen für eine entstehende nationalistische Elite sind Thema des folgenden Kapitels.

117 Mendelsohn 1983, S. 168.

5 Eine neue intellektuelle Elite 5.1 Soziale Hintergründe Wenn hier von einer „jungen slowakischen Intelligenz“ die Rede ist, dann bezieht sich das auf einen Teil der Generation, die in den Jahren um 1900 geboren ist. Insbesondere sind aber jene Absolventen von Gymnasien in den ersten Nachkriegsjahren gemeint, die sich unmittelbar nach 1918 für die Idee der slowakischen Nation begeisterten und Mittel und Wege suchten, den Prozess der Nationswerdung aktiv zu gestalten. In heutigen Untersuchungen zur Herausbildung politischer Orientierungen bei Jugendlichen ist festgestellt worden, dass diese in einem Dreieck zentraler Instanzen stattfindet, bestehend aus Familie, Schule und Peergroup. Für die Verfestigung kann eine bestimmte Szene mit ihren unterschiedlichen organisatorischen Ausprägungen verantwortlich sein, insbesondere wenn das persönliche Beziehungsnetzwerk zunehmend aus Kontakten zu Akteuren und Organisationen besteht und dabei über das engere Umfeld hinausgeht.¹ Die Begeisterung für die nationale Idee rührte in vielen Fällen von der Beschäftigung mit slowakischen Schriften des 19. Jahrhunderts her. Die jungen Gymnasiasten hatten Zugang zu literarischen Werken national orientierter Autoren und gründeten literarische Zirkel, in denen sie die slowakische Literatur, die nationalen Ideen und die slowakische Sprache studierten.² Allerdings geschah das vor allem außerhalb der offiziell ungarischsprachigen Schulen, und somit eher in den Peergroups. In der slowakischen Familiensprache hatte jene Generation, die vor und während des Ersten Weltkriegs die ungarischen Schulen besuchte, höchstens auf der Grundstufe Unterricht erhalten. In den weiterführenden Schulen war die Unterrichtssprache Ungarisch. Das bedeutete für jene, die aus ländlichen Gegenden in die nächstgelegenen Städte wechselten, dass sie eine ihnen gänzlich neue

1 Vgl. Becker, Reiner: Persönliche Beziehungsnetzwerke und ihre Bedeutung in der Verfestigung von rechtsextremistischen Orientierungen, in: Christian Stegbauer (Hg.), Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie. Ein neues Paradigma in den Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008, S. 467–478, bes. S. 467. 2 Sowohl Karol Sidor als auch Milo Urban, die sich auf dem Gymnasium in Ružomberok befreundet hatten, berichten von solchen Literaturzirkeln, in denen sie außerhalb der Schule die slowakische Sprache pflegten. Urban, Milo: Zelená krv [Grünes Blut], Bratislava 1970, S. 169. Sidor bekam von Hlinka slowakische Literatur ausgeliehen, ließ diese zirkulieren und gründete eine literarische Geheimgesellschaft. Vgl. Katuninec, Milan: Novinarská a politická činnosť Karola Sidora do roku 1935 [Die journalistische und politische Tätigkeit Karol Sidors bis zum Jahr 1935], Bratislava 1998, S. 20 ff.

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oder nur rudimentär beherrschte Sprache schnellstens erlernen mussten und eine gewisse Zeitlang anderen Schülern gegenüber benachteiligt waren. In Memoiren oder literarischen Texten dieser Generation werden denn auch die ungarischen Lehrer oft als Schreckensgestalten erinnert bzw. erfunden.³ Die retrospektiv geschilderte Erfahrung der Zurücksetzung wegen der slowakischen Muttersprache legitimierte bei vielen das nationalistische Engagement und ließ sich gut in die Geschichte der slowakischen Schicksalsgemeinschaft integrieren. Freilich wurden nicht alle Vertreter dieser Generation zu Nationalisten. Es gab beispielsweise auch Intellektuelle, die sich der kommunistischen Bewegung anschlossen und deren Ideologie zu ihrem künstlerischen Programm erhoben, etwa um die Literaturzeitschrift DAV [Die Masse]. Der prominenteste Vertreter dieser Richtung war der Journalist und Politiker Vladimir Clementis (1902–1952), der aber ungeachtet seiner kommunistischen Orientierung stark nationalistisch argumentierte. Für einen großen Teil der Kulturschaffenden in der Slowakei wurde nach 1918 neben künstlerischen Aspekten die nationale Frage zum zentralen Paradigma. Die Arbeit an der Nationalkultur fassten sie als ihren gesellschaftlichen Auftrag auf. Hier ist vor allem als stark integrierende Persönlichkeit der national orientierte Dichter und Publizist Ján Smrek (1898–1982) zu nennen. Er machte sich besonders um die Herausgabe der slowakischen Zeitschrift für Literatur und Kunst Elán in Prag verdient sowie als Lektor um die ebenfalls im Prager Mazáč-Verlag angesiedelte „Edition junger slowakischer Literatur“. Eine bewusst apolitische Haltung nahm indessen die kleine Gruppe der slowakischen Surrealisten ein, obgleich auch ihnen die slowakische Literaturtradition nicht gleichgültig war.

Ländliche Herkunft Dass bei der Mehrzahl der (tschechischen und) slowakischen Kulturschaffenden ein „plebejischer Ursprung“⁴ anzunehmen ist, wird kaum bestritten. Der tschechische Historiker Harna leitet aus dieser Klassenzugehörigkeit indes die überwiegend demokratische Haltung der Intellektuellen ab. Doch für die slowakische Seite lässt sich auch gerade das Gegenteil behaupten, nämlich dass jene in der Zwischenkriegszeit autoritativen Systemen und konservativen Werthaltungen zuneigten. Jene Slowaken, die um 1900 geboren wurden und die in der Zwischenkriegszeit zu nationalistischen Intellektuellen wurden, hatten in der Regel einen ländlichen

3 Milo Urban schildert, wie die ungarischen Lehrer am Gymnasium versucht hätten, auch mittels körperlicher Züchtigung, richtige Ungarn aus den slowakischsprachigen Schülern zu machen, was ihnen aber nicht gelungen sei. Urban 1970, S. 163 ff. 4 Harna 1991, S. 415, Anmerkung 5.

5.1 Soziale Hintergründe |

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oder einige auch einen kleinstädtischen Hintergrund. Das lag zum einen an der relativ geringen Zahl der in Städten lebenden Slowaken und am großen Anteil der Landbevölkerung an der Gesamtbevölkerung. Zum anderen war gerade die Zahl der slowakischen Intelligenz bis 1918 noch relativ niedrig. Lediglich 12,7 % der gesamten Intelligenz verstand sich als slowakisch. Eine Zählung aus dem Jahr 1945 behauptet für das Jahr 1918 die Existenz von 3910 national aktiven Slowaken (narodovci), von denen 3119 Personen, das heißt 79 %, protestantischer Konfession gewesen seien, hingegen nur 791 katholischen Glaubens.⁵ Andere Schätzungen gehen allerdings von bloß 750 bis 1000⁶ gebildeten nationalbewussten Slowaken aus bei einer Gesamtzahl von 44 000 Personen mit höherer Bildung, das heißt 3,8 %⁷ der Gesamtbevölkerung. Es stellt sich die Frage, weshalb sich eine ganze Reihe von jungen Slowaken der nationalen Bewegung in ihrer frühen Jugend anschloss. Auf den ersten Blick fallen die Parallelen im familiären Hintergrund auf, die als konstitutiv für erste politische Orientierungen gelten dürfen. Exemplarisch wird hier für die Untersuchung eine Gruppe von jungen Nationalisten zusammengestellt, die nach 1918 durch ihre publizistische, literarische beziehungsweise politische Tätigkeit in der Öffentlichkeit in Erscheinung traten. Sie bilden keine reale Gruppe, auch wenn manche über Schule, Studium oder Zeitungen verschiedentlich Berührungspunkte hatten oder gar Teilgruppen bildeten: Alexander Mach (1902–1980), Milo Urban (1904–1982), Karol Sidor (1901–1953), Jozef Cíger Hronský (1896–1960), Tido Gašpar (1893–1972), Anton Prídavok (1904–1945), Peter Prídavok (1902–1966), Konstantín Čulen (1904– 1964), Celestín Radványi (1911–1978), Augustin Način (1900–1977, Pseudonym: Borin), Karol Murgaš (1899–1972), Stanislav Mečiar (1910–1971), Ján Ďurčanský (1902–1980), Ferdinand Ďurčanský (1906–1974), Valentín Beniak (1894–1973), Rudolf Dilong (1905–1986), Štefan Gráf (1905–1989), Jozef Nižnánsky (1903–1976), Ján Hrušovský (1892–1975), Jozef Kirschbaum (1913–1993), Henrich Bartek (1907–1986) und Andrej Žarnov (1903–1982, bürgerlich: František Šubik).⁸ Die Berufe und Tätigkeiten der Väter stehen für den familiären und sozialen Hintergrund eines ländlichen oder kleinbürgerlichen Milieus. Die Väter dieser

5 Slavík, Michal: Slovenskí národovci do 30. Októbra 1918, Trenčín 1945, S. 330. Zit. nach Bakoš, Vladimír: Kapitoly z dejín slovenského myslenia, Bratislava 1995, S. 102. 6 Seton-Watson, R.W.: The New Slovakia, Prag 1924, S. 14. Zit. nach Bakoš 1995, S. 102. 7 Johnson, Owen: Slovakia 1918–1938. Education and the Making of a Nation, New York 1985, S. 35. Zit. nach Bakoš 1995, S. 103. 8 Die biographischen Fakten stammen sofern nicht anders angegeben aus folgenden Nachschlagewerken: Slovenský Biografický slovník 1–6, Martin 1987–1994; Slovník slovenských spisovateľov 20. Storočia, Martin 2001; Československý biografický slovník, Prag 1992; Biografický lexikón Slovenska. Bd. 1–4. Martin 2002–2010

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Männer waren Bauer, Landarbeiter, Förster, Maurermeister, Zimmermann, Hofverwalter, Bahnwärter, Postbeamter, Schlosser, Leinenweber oder Schuster. Lediglich die Ďurčanský-Brüder stammten aus einer landbesitzenden Familie. Die Genannten wuchsen in abgelegenen Weilern, Dörfern oder Kleinstädten auf und kamen aus einfachen Verhältnissen. Alle zweiundzwanzig Männer⁹ stammten aus katholischen Familien, die nicht der Intelligenz zuzurechnen sind, was bei dem sozialen Hintergrund auch der bis 1918 dominierenden Position der Protestanten in der Intelligenz entspricht. Für die höhere Schulbildung gingen sie in der Regel in die nächstgelegenen größeren Städte, in denen es Gymnasien und Internate – oft katholische Einrichtungen – gab. Ein wichtiges Merkmal dieser Generation ist auch, dass sie zumeist noch einige Jahre im ungarischen Schulsystem verbracht hatte. Retrospektiv wurde diese Erfahrung als Begründung für das nationalistische Engagement angeführt.¹⁰

Säkulare Studien Der nächste Schritt der Berufsausbildung oder des Universitätsstudiums führte dann in eine große Stadt wie Bratislava und Prag oder mit Stipendien nach Polen, ausnahmsweise nach Paris, Rom oder Leipzig. In Polen studierten zeitweise Radványi, Mečiar und Kirschbaum. Je urbaner der Aufenthaltsort wurde, desto stärker wurden die einzelnen mit einer mehrsprachigen, nicht-slowakischen Umgebung konfrontiert. Als Studiendisziplinen wählten die Mitglieder der aggregierten Gruppe Jura (F. und J. Ďurčanský, Kirschbaum), Medizin (Žarnov), Journalismus (Radványi), Lehrerausbildung (Hronský, A. Prídavok), Philologien (Mečiar, P. Prídavok, Bartek) und katholische Theologie (Dilong, P. Prídavok). Der größere Teil dieser Personen hatte jedoch entweder nicht studiert oder sein Studium – oft aus finanziellen Gründen oder wegen sich bietender Verdienstmöglichkeiten – nicht abgeschlossen: Milo Urban, Karol Sidor, Tido Gašpar, Valentín Beniak, Alexander Mach, Jozef Nižnánsky, Augustín Način Borin und Karol Murgaš. Eine Ausbildung in einer höheren Handelsschule hatte Ján Hrušovský absolviert, und Valentín Beniak ar-

9 Es gab praktisch keine Nationalistinnen, die ähnliche Karriereverläufe vorzuweisen hatten wie die genannten Männer. In den nationalistischen Netzwerken spielten Frauen keine Rolle. Frauen als fiktionalisierte Opfer auf dem Altar der Nation werden im letzten Kapitel dieser Untersuchung thematisiert. 10 Andrej Žarnov und Milo Urban beispielsweise berichten in autobiographischen Texten davon, dass sie wegen der slowakischen Muttersprache und der schlechten Ungarischkenntnisse benachteiligt wurden.

5.1 Soziale Hintergründe |

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beitete nach einem Praktikum als Notar. Štefan Gráf arbeitete als Geschäftsgehilfe und als Steuerbeamter. Im Gegensatz zur älteren Generation der nationalbewussten Slowaken, die sich politisch engagierten, schlug von den Jungen nur noch ausnahmsweise einer die geistliche Laufbahn ein – von der zu betrachtenden Gruppe ließ sich als einer von zwei Theologieabsolventen lediglich Rudolf Dilong zum Priester weihen. Daran zeigen sich auch die wesentlich besseren Voraussetzungen für soziale Mobilität, die der neue Staat bot. Wer in der Slowakei eine höhere Bildung anstrebte, musste sich nicht mehr wie bis 1918 entweder für die Ausbildung an einem Priesterseminar oder für ein Studium in Budapest entscheiden, sondern konnte eine säkulare Hochschulausbildung in der Tschechoslowakei wählen – sofern die materiellen Voraussetzungen dazu vorhanden waren. Nichtsdestoweniger engagierten sich die jungen Nationalisten in Kirchen- und Glaubensfragen, etwa in den Inhalten ihrer publizierten Texte oder indem sie Ämter in konfessionell gebundenen Jugendorganisationen übernahmen. Dieses neue Phänomen der säkularen höheren Bildung hatte konkrete Auswirkungen auf die politischen und intellektuellen Strömungen in der Slowakei. Inneralb der autonomistischen Bewegung verlief ein Graben nicht nur zwischen den Generationen, sondern auch zwischen geistlichen und weltlichen Kräften. Während sich unter den führenden gemäßigten Kräften in der Volkspartei zahlreiche Priester fanden, war die Bewegung der jungen Radikalen vorwiegend säkular ausgerichtet. Die Jungen verfolgten vor allem nationalistische Ziele, wobei sie die Religion stärker in den Hintergrund drängten. Sie waren demzufolge auch offener für die rechten Ideologien ihrer Zeit in Europa.¹¹ Betrachtet man die Karrieren der Gruppe der Nationalisten, fällt auf, dass auch jene, die eine vergleichsweise schlechte Ausbildung hatten, weil sie nicht studieren konnten oder das Studium abbrachen, Laufbahnen einschlugen, die ihnen rasch zu öffentlichem Ansehen verhalfen. Die Parteien, insbesondere die Presseorgane der verschiedenen Parteien, wurden wichtige Arbeitgeber für die karrierebewussten und ehrgeizigen jungen Nationalisten. Wer ein Talent fürs Schreiben hatte und die politische Linie der jeweiligen Partei vertrat, sei es der Agrarierpartei, der Nationalpartei oder einer der beiden Volksparteien in der Slowakei, hatte gute Aufstiegschancen.

11 Jelinek, Yeshayahu: Clergy and Fascism: The Hlinka Party in Slovakia and the Croatian Ustasha Movement, in: Stein Ugelvik Larsen, Bernt Hagtvet, Jan Petter Myklebust (Hg.), Who were the Fascists. Social Roots of European Fascism, Tromso 1980, S. 367–378; hier S. 367.

118 | 5 Eine neue intellektuelle Elite

5.2 Pioniere des slowakischen Journalismus Es war unter den nationalbewussten Studenten und Schülern üblich, sich frühzeitig politisch zu engagieren. Das konnte bereits in Lesezirkeln an den Gymnasien geschehen oder im katholischen Turnverband Orol, der der Volkspartei nahestand. Die Studenten organisierten sich gleich ab 1919 im „Sozialen Verband der slowakischen Studentenschaft“, der sich im Laufe des Jahres als „Zentrum der slowakischen katholischen Studentenschaft“ vom tschechoslowakischen Verband abspaltete. Federführend dabei war Karol Sidor, der als Informationsplattform die von ihm und Augustín Način gegründete Literaturzeitschrift Vatra [Lagerfeuer] nutzte. Der Verband entschied sich aber später, eine eigene Zeitung zu gründen, und zwar Rozvoj [Entwicklung]. Im „Zentrum“ engagierte sich auch Andrej Žarnov, der von Andrej Hlinka als Repräsentant ausgewählt wurde, diesen 1926 auf einer Propagandareise zu den Amerikaslowaken in die USA zu begleiten. Über die publizistischen und Verbandsaktivitäten machten die Jungen auf sich aufmerksam und wurden zu den neuen Parteizeitungen geholt. Denn es mangelte in der frühen Nachkriegszeit an slowakischen Journalisten für die vielen neuen Presseorgane. Weshalb hatten nun die jungen Intellektuellen gute Chancen, beruflich im Pressewesen unterzukommen? Laut einer Statistik aus dem Jahr 1912 gab es zu diesem Zeitpunkt lediglich 9 Journalisten, die sich als slowakisch verstanden.¹² Die Situation für die slowakische Presse war zu dieser Zeit aus politischen, sozialgeographischen und ethnographischen Gründen ungünstig. In den überwiegend slowakisch besiedelten Gemeinden lebten knapp 2,1 Mio. Menschen, wobei fast die Hälfte davon in Gemeinden mit weniger als 2000 Einwohnern. 65,7 % der Bewohner waren Bauern, nur 22,1 % arbeiteten im Handwerk oder im Handel. Zur slowakischen Nationalität zählten sich 296 im öffentlichen Dienst tätige Personen, 201 Anwälte und Notare, 651 Priester, 931 Lehrer, 245 Angehörige anderer freier Berufe und 7 Ingenieure. 50 % der Slowaken galten zu diesem Zeitpunkt als Analphabeten. Enstprechend den politischen Verhältnissen und der ungarischen Herrschaft erschienen 1918 in der Slowakei 124 ungarischsprachige Periodika, slowakische nur 23, acht davon in Budapest. Zwölf der slowakischen Periodika waren konfessionell gebunden, fünf ungarische Regierungsblätter, zwei Fachzeitschriften und lediglich vier waren slowakische politische Zeitungen: Robotnícke noviny [Arbeiterzeitung], Slovenské ľudové noviny [Slowakische Volkszeitung], Slovenský týždenník [Slowakische Wochenzeitung] und Národnie noviny [Nationalzeitung]. Von den ohnehin

12 Duhajová, Zuzana, Šefčák, Ľuboš: Dejiny novinarstva 1914–1948 [Geschichte des Journalismus 1914–1948], Bratislava 1993, S. 6.

5.2 Pioniere des slowakischen Journalismus |

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wenigen professionellen slowakischen Redaktoren leistete die Mehrzahl Kriegsdienst, die Zeitungen waren relativ teuer und die Zensur streng. Alle slowakischen Zeitungen bis auf Slovenský týždenník hatten 1907 ungefähr 7000 Abonnenten, 1918 waren es noch weniger. Die Abonnenten waren hauptsächlich Angehörige der schmalen slowakischen Intelligenz und der organisierten Arbeiterschaft. Auf dem Lande wurde noch weniger und vor allem kirchliche Presse gelesen. Lediglich Slovenský týždenník gelang es, bis in die bäuerlichen Schichten vorzudringen und so ausgesprochen hohe Auflagen von 10 000 bis 16 000 Exemplaren zu erlangen.¹³ Die Herausgabe von slowakischen Periodika konzentrierte sich 1918 auf die politischen und kulturellen slowakischen Zentren Budapest, Martin, Ružomberok sowie Skalica. Die Inhalte, das heißt innen- und außenpolitische Nachrichten, übernahmen die slowakischen Zeitungen anfänglich überwiegend aus anderen Presseerzeugnissen, eigene Berichte wurden vor allem über nationale und kulturelle Belange verfasst. Doch die Zahl der slowakischen Periodika stieg nach 1918 sprunghaft an. Viele neu gegründete Amtsblätter erschienen nach der Auflösung der nationalen Räte im Januar 1919 formal als unabhängige regionale Wochenzeitungen oder als Parteizeitungen weiter. Bis 1920 erschienen so regelmäßig 120 Titel. Gewerkschaftlich war die Mehrheit der tschechischen und slowakischen Journalisten im gesamtstaatlichen Verband organisiert. Eine rein slowakische Gewerkschaft wurde im Gegensatz zur ungarischen und einer deutschen in der Slowakei nicht gegründet. 1928 waren 186 von 333 in der Slowakei erscheinenden Periodika slowakisch, 1937 gab es bereits 250 slowakische. Insgesamt waren von 1919 bis 1938 1700 Titel erschienen, davon über 1000 slowakische. Die anderen 700 waren anderssprachige, überwiegend ungarischsprachige Presseerzeugnisse.¹⁴ Die Zahlen weisen nicht nur ein starkes Wachstum der slowakischen Periodika aus, sondern auch, dass die ungarische, deutsche, polnische und ruthenische Presse in der Slowakei ebenfalls weiter wuchs, wenn auch nicht so stark wie die slowakische. Eine angestrebte Slowakisierung der Gesellschaft im Sinne einer Homogenisierung zeichnete sich demnach im Pressebereich nicht ab. Die Presselandschaft war in ständiger Bewegung. Von den insgesamt 62 Tageszeitungen, die in den zwanzig Jahren der Tschechoslowakei erschienen, konnten sich nur 13 und davon nur 8 slowakische über längere Zeit halten. Das waren vor allem die Zeitungen der etablierten Parteien, etwa der Slovák, die Národnie Noviny, Robotnické noviny oder Slovenská politika. Mit der Zahl der Titel wuchs auch die Auflagenhöhe. Die höchste Auflage erreichte einmalig die Tageszeitung

13 Duhajová/Šefčák 1993, S. 7 f. 14 Duhajová/Šefčák 1993, S. 26 f.

120 | 5 Eine neue intellektuelle Elite der republikanischen Agrarier Slovenská politika mit 30 000 Exemplaren. Sonst kamen die offiziellen Tageszeitungen der bürgerlichen Parteien durchschnittlich auf 6000 bis 8000 Exemplare, das galt etwa für den agrarischen Slovenský denník und den Slovák der Volkspartei.¹⁵ Die Redaktionen waren mit nur wenigen Redaktoren besetzt, die ein großes Seitenpensum zu bewältigen hatten und von daher kaum auf bestimmte Themen spezialisiert waren. In- und ausländische Nachrichten übernahmen sie größtenteils von der staatlichen Presseagentur Československá tlačová kancelária (ČTK), nachdem diese am 29. Oktober 1918, unmittelbar nach der Staatsgründung, eingerichtet wurde.¹⁶ Das wichtigste finanzielle Standbein der Zeitungen waren die Abonnenten, Werbung gewann mit der Zeit auch an Gewicht. Die Mehrheit der Presseerzeugnisse waren Organe einer politischen Partei oder Organisation. Selbst wenn sie formal als unabhängig auftraten, standen sie doch unter einem bestimmten Einfluss. Das Ziel war denn auch, die Leserschaft für die politische Bewegung zu mobilisieren, die die Zeitung repräsentierte.¹⁷

Beschäftigungsmöglichkeiten in der politischen Presse Der größte Teil der jungen Nationalisten fand in der Zwischenkriegszeit entweder dauerhaft oder vorübergehend in den diversen Presseerzeugnissen der Hlinka-Partei oder ihr nahestehenden Organisationen eine Beschäftigung. Da anzunehmen ist, dass die jungen Intellektuellen bereits diffus-emotionale¹⁸ nationalistische Einstellungen hatten, trafen die Angebote der nationalistischen Parteien mit ihren Presseerzeugnissen und Organisationsstrukturen auf Interesse bei den Jungen. Zu nennen sind hier Alexander Mach, Karol Sidor, Milo Urban, Karol Murgaš, Ján und Ferdinand Ďurčanský, Peter Prídavok und Augustín Način. Ján Hrušovský machte als Absolvent einer Handelsschule Karriere bis zum Chefredaktor der Slovenská politika, der Zeitung von Hodžas Agrarierpartei. Diese Zeitung war die verbreitetste und mit bis zu 30 000 Exemplaren die auflagenstärkste Zeitung¹⁹ in der Slowakei Dank der Abenteuerromane, die Hrušovský darin in 15 Duhajová/Šefčák 1993, S. 27. 16 Die tschechoslowakische Presseagentur wurde aus dem ehemaligen Ableger des österreichischen Kaiserlichen und Königlichen Telegraphen Korrespondenzbureaus gebildet, was die sofortige Arbeit der tschechischen Agentur ermöglichte. Im Gegensatz dazu war der slowakischen Neugründung vom Januar 1919 nur eine kurze Lebensdauer beschieden, da sie bereits im Februar 1919 von der tschechischen Agentur übernommen wurde. Vgl. Duhajová/Šefčák 1993, S. 12. 17 Die Presselandschaft im slowakischen Staat wird im 5. Kapitel behandelt. 18 Vg. Becker 2008, S. 468. 19 Slovenský biografický slovník. S. 421 f.

5.2 Pioniere des slowakischen Journalismus |

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Fortsetzungen veröffentlichte. Über die Parteizeitung erlangte Hrušovský im Gegenzug als Autor von Unterhaltungsliteratur große Popularität. Nach einer kurzen Mitarbeit beim Slovák wechselte aus ideologischen Gründen auch Jozef Nižnánsky, ebenfalls ein Autor von historischen und Abenteuerromanen, zur Slovenská politika, wo er von 1924 bis 1939 als Redaktor tätig war. Die Nähe zu einer Regierungspartei, was allerdings nur für einzelne zutrifft, etwa Tido Gašpar und Ján Hrušovský, brachte auch attraktive Positionen in Prager Ministerien bzw. deren slowakischen Ablegern ein. So war Hrušovský 1924 Mitarbeiter der Presseabteilung im Außenministerium und Tido Gašpar Pressereferent im Ministerium mit Vollmacht für die Slowakei, später in der Provinzverwaltung. Akademische Karrieren schlugen lediglich zwei Personen ein: Andrej Žarnov als Pathologe und Ferdinand Ďurčanský als Jurist. Beide waren mehrere Jahre als Assistenten an der Universität in Bratislava angestellt, wurden nach der Promotion Dozenten und erhielten – allerdings erst im slowakischen Staat – den Ruf auf eine Professur. 1944 erhielt außerdem Stanislav Mečiar eine Professur. Einer wissenschaftlichen Beschäftigung ging auch Henrich Bartek an der Matica slovenská nach. Höhere Verwaltungsstellen sowie politische Funktionen hatten in der Slowakei bis 1938/39 vor allem Tschechen inne. In dieser Situation stießen die jungen Akademiker oder ambitionierten Nationalisten tatsächlich auf das Problem, dass es an adäquaten Stellen für sie mangelte. Während also der anfänglich reale Mangel an qualifizierten Arbeitskräften durch eingewanderte Tschechen kompensiert wurde, war dieses Vorgehen für die Parteien in der Slowakei keine gute Option. Bei der Besetzung von Parteiämtern war es aus wahltaktischen und aus Gründen der Glaubwürdigkeit nötig, sich auf Slowaken zu stützen. Tatsächlich entstand eine gewisse Konkurrenz um die jungen intellektuellen Slowaken zwischen einigen Parteien. Bei der Parteipresse hingegen stützte man sich weitgehend auf tschechische Journalisten, abgesehen vom Slovák, wie Sidor behauptete. In jeder anderen Redaktion einer slowakisch geschriebenen Zeitung seien mehrheitlich Tschechen vertreten gewesen, da man die neuen Stellen gleich nach der Wende mit den tschechischen Journalisten besetzt habe.²⁰ Insofern hing die Möglichkeit für die jungen slowakischen Intellektuellen, eine journalistische Laufbahn einzuschlagen, von bestimmten Presseorganen ab. Sprungbrett für die Karrieren eines Teils der jungen nationalistischen Intellektuellen waren trotz teilweise verschiedener beruflicher Hintergründe die Zeitungen und Zeitschriften. Da diese oftmals die Publikationsorgane von Parteien waren,

20 Karol Sidor: „Žurnalisticky o žurnalistike. Novinár“ [Journalistisch über den Journalismus. Der Journalist], in: Vatra, 4, 2–3, 1921/22, S. 223–228; hier S. 225.

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verknüpfte sich die intellektuelle Entwicklung dieser jungen Slowaken zwangsläufig eng mit den Parteiaktivitäten und -ideologien. Die Presseorgane ermöglichten ihnen, sich im journalistischen Handwerk zu üben, ein Auskommen zu finden, an Publizität zu gewinnen und ein Netz von Kontakten innerhalb der jungen slowakischen Elite zu knüpfen. Aus der Mitarbeit bei den Zeitungen differenzierten sich mit der Zeit zwei verschiedene intellektuelle Tätigkeiten heraus. Die einen tendierten stärker zu einer politischen Laufbahn, die anderen konzentrierten sich neben ihrer Hauptbeschäftigung auf die schriftstellerische Tätigkeit, die sich aber nie ganz von den politischen Voraussetzungen ablöste. Beide Spezialisierungen wirkten sich auch auf die redaktionellen und publizistischen Vorlieben aus.

Vatra und Rozvoj – erste Zeitschriften Am Anfang der publizistischen Karrieren der jungen Nationalisten stand selten gleich das offizielle Blatt einer bürgerlichen Partei, sondern vielmehr die Eigengründung. Die wichtigste Rolle bei der Bildung einer ersten Gruppe junger nationalistischer Intellektueller spielte die Literaturzeitschrift Vatra (1919–25). Karol Sidor gründete sie zusammen mit Augustín Način 1919 in Ružomberok, von wo aus auch Hlinka agierte. Zu den Mitarbeitern gehörte im ersten Jahrgang als Mentor der Gymnasiallehrer von Sidor, Volksparteipolitiker der älteren Generation und nationalistische Dichter Ján Grebáč-Orlov. Viele der Beitragenden waren zu diesem Zeitpunkt noch Gymnasiasten; Sidor war allerdings wegen seiner Parteinahme für den inhaftierten Hlinka nach dessen Reise zur Pariser Friedenskonferenz von allen tschechoslowakischen Gymnasien ausgeschlossen. Als Reaktion auf die Proteste der Mittelschüler wurden per Gesetz vom 20. April 1920 alle Schülervereinigungen an slowakischen Gymnasien mit Ausnahme von Bildungszirkeln unter der Aufsicht von Lehrern verboten. Finanziert wurde Vatra vor allem durch Spenden, Sammlungen von Schülern, Patrons wie Hlinka oder auch aus der slowakischen Emigration in den USA²¹. Zudem stellte die Volkspartei in ihrem Neubau in Bratislava der Redaktion einen Raum und Infrastruktur zur Verfügung. Bald nach dem Umzug von Ružomberok nach Bratislava 1922 wurde die Redaktion im katholischen Wohnheim Svoradov untergebracht. Ab 1922 war der neugegründete Freundeskreis „Družina Vatry“ Besitzer und Herausgeber der Zeitschrift.

21 17 000 Kronen erhielt die Zeitschrift im Dezember 1920 von der Vereinigung der slowakischen Katholiken in Amerika, in: Vatra 3, 10, Dezember 1920, S. 73

5.2 Pioniere des slowakischen Journalismus |

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Das Editorial²² der ersten Nummer ist ideell breit orientiert, die Zeitung profilierte sich erst im Verlauf ihres regelmäßigen Erscheinens stärker. Betont wird vor allem der Versuch, eine literarische Gruppe aus Studenten (Mittelschülern) um die Zeitschrift zu versammeln und letztlich den „nationalen und kulturellen Bedürfnissen“ zu dienen. Im Schlusssatz wird noch das Bekenntnis zum Staat geäußert: „Wir hoffen, dass so unsere Studenten-Kollegen wie auch unsere slowakische Öffentlichkeit uns als ‹Feuer› verstehen, als Spiegel unserer schönen, tschechoslowakischen Zukunft.“ Das Editorial ist politisch zwischen Nation und Staat ausgewogen – der Hinweis auf die Zukunft kommt aus einem tschechoslowakisch orientierten Fortschrittsdenken. In der Zeitschrift Vatra wurden vorrangig literarische Gehversuche publiziert. Sie entstand aus der Begeisterung für die slowakische Literatur des 19. Jahrhunderts und damit für die junge slowakische Nationalbewegung. Die Zeitschrift sollte vorderhand der nationalen Bildung des slowakischen Volkes durch slowakische Literatur, Geschichte und Kultur im allgemeinen dienen. So erschienen in den ersten Jahren regelmäßig Beiträge, die sich mit der Pflege und Verbreitung des Slowakischen als Hochsprache befassten. Darin wurden etwa die Verwendung des Slowakischen in anderen Zeitungen reflektiert bzw. Vorschläge für eine bessere Rechtschreibung gemacht. Einen weiteren wichtigen Teil machte die Berichterstattung über die Aktivitäten des Zentrums der slowakischen Studentenschaft aus, solange dieses noch über kein eigenes Publikationsmedium verfügte. Dafür stand vor allem Sidor mit seinem bürgerlichen Namen. Für literarische Texte verwendete er, wie auch die meisten übrigen Autoren, diverse Pseudonyme. Nach kurzer Zeit setzte sich unter Sidor in der Zeitschrift die antitschechische Linie durch, die vordergründig auf der katholischen Ausrichtung der Zeitschrift beruhte. Anfänglich wurden Administration und Redaktion überwiegend von Mittelschülern mit evangelischem Hintergrund bestritten. Doch als nach ideologischen Differenzen der Mitredaktor Vlado Šrobár, Sohn des mächtigsten politischen Gegners von Andrej Hlinka in der Slowakei, Vavro Šrobár, die Redaktion verließ, wurden nach der fünften Ausgabe die Protestanten durch Katholiken ersetzt. Šrobár stammte zwar auch aus einem katholischen Elternhaus, doch war dies pro-tschechoslowakisch und somit „fortschrittlich“ eingestellt. Eine „fortschrittliche“ Haltung wurde einer nicht-katholischen Haltung gleichgesetzt. Die katholische Wende der Zeitschrift hatte in den ideologischen Differenzen der zwei Zeitungsgründer und Freunde ihre Wurzeln und erfasste ab der fünften Ausgabe sämtliche Inhalte des Blattes.

22 Úvodom, in: Vatra, 1, 1, Februar 1919, S. 1 [Dúfame, že tak naši kolegovia-študenti, ako i naša slovenská verejnosť porozumejú nám a „Vatru“ prijmu, ako zrkadlo našej krajšej, spoločnej, československej budúcnosti.]

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Sidor und Način verfassten ab diesem Zeitpunkt gezielt auch literarische Texte mit katholischen Inhalten und Werten.²³ Unter Sidors Präsidentschaft spaltete sich das Zentrum der katholischen Studentenschaft vom tschechoslowakischen Studentenverband ab. Heftige Polemiken wurden überdies auch gegen das tschechoslowakische Konkurrenzblatt in der Slowakei Mladé Slovensko [Junge Slowakei] geführt. Diese waren ein Ausdruck der Kämpfe um das Alleinvertretungsrecht für die slowakische akademische Jugend sowie um die ideologische Orientierung der slowakischen Jugend. Dabei schärfte sich der Gegensatz als ein konfessioneller, denn Mladé Slovensko war nicht konfessionell gebunden im Gegensatz zur katholischen Studentenschaft, die jeden Kongress mit einer Messe begann und deren Patronat verschiedene Priester und Priester-Politiker übernommen hatten. Diese Auseinandersetzungen bildeten die Kämpfe zwischen den großen Parteien ab. Zum Eklat kam es, als Sidor im August 1919 von Vertretern des Mladé Slovensko auf einem Jugendkongress in der Slowakei als „Magyaron“ beschimpft wurde. Auch in tschechischen Jugendverbandsmedien wurde der slowakische Studentenverband unter den Verdacht gestellt, Magyaronen heranzuziehen, klerikal zu sein und gegen alles zu hetzen, was tschechisch ist.²⁴ Welche Rolle die (Kultur-)Zeitschriften und Zeitungen auf dem Weg zu einem politischen Engagement spielten, beschreibt Karol Sidor in einem Beitrag in Vatra 1919, der auf eine Diskussion innerhalb der Zeitschrift über das politische Engagement von Studenten reagierte: Der Student beobachtet, analysiert die Parteien und findet bei dieser oder jener etwas Schönes und Gutes. Am meisten davon findet er aber bei einer. Er beginnt mit ihr zu sympathisieren, abonniert ihre Zeitung, schreibt für sie, verbreitet sie unter Bekannten und bemüht sich, so viel wie möglich für die Partei zu vollbringen. Und damit habe ich auch schon die Frage beantwortet. Der Student verrichtet seine indirekte Bürgerpflicht, indem er einer bestimmten Partei hilft, von der er stark überzeugt ist, dass sie um das Wohl der Menschen und die Entfaltung des Staates besorgt ist.²⁵

23 K. Sidor: Vznik časopisu Vatra [Die Entstehung der Zeitschrift Vatra], in: Vatra, 4, 1, September 1921, S. 4–8. 24 K. Sidor: Hlas pokrokového časopisu o nás [Die Stimme einer fortschrittlichen Zeitschrift über uns], in: Vatra, 2, 7, 1920, S. 165. 25 Študent od Váhu (Karol Sidor): Stredoškolák a politika, in: Vatra, 1, 1919, 4, S. 70 f. [Študent pozoruje, zkúma strany, a nájde i u tej, i u tamtej niečo pekného a dobrého. Ale najviacej ho nájde u jednej. Začne s ňou sympatisovať, odoberá jej noviny, píše do nich, rozširuje ich medzi známymi a hľadí za stranu čo najviacej vykonať. A s týmto vlastne už som i na otázku odpovedal. Študent svoju nepriamu povinnosť občiansku vybaví tak, keď napomáha určitú stranu, o ktorej je silne presvedčený, že strana chce blaho ľudu a rozkvet štátu.]

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Sidor zieht demzufolge von Anfang an eine Verbindungslinie zwischen journalistischem und politischem Engagement. Die Zeitschrift Vatra wurde bis 1922 vom Sozialen Verband der slowakischen Studentenschaft herausgegeben, danach und bis zu ihrem Einstellen im Jahr 1925 vom Freundeskreis Vatra. 1923 wurde zudem als Organ des Zentrums der slowakischen katholischen Studentenschaft (Ustredie slovenského katolických študentov) Rozvoj gegründet. Sidor konnte sich nicht durchsetzen und Vatra zum Presseorgan des Zentralverbandes machen. Ab dem Jahr 1923 veränderte Vatra ihren Charakter etwas, wurde weniger politisch, dafür kultureller. Die Verbandsnachrichten und Polemiken fehlten, stattdessen wurde vermehrt der Charakter der slowakischen Nationalkultur reflektiert. Borin zeichnete bald allein als verantwortlicher Redaktor, obgleich auch Sidor noch als Redaktor geführt wurde. Sidor war bereits stärker im Slovák involviert. Selten wurde so deutlich Bezug auf den Staat genommen, wie in einem Referat des Vorsitzenden des Freundeskreises von Vatra, Martin Schelling, der über die „falsch verstandene, nicht-veredelte Demokratie“ und den verbreiteten Individualismus wettert.²⁶ Die politische Publizistik wurde von christlichnationalistischer Gelegenheitsdichtung abgelöst, regelmäßig von Način, aber auch von Jožo Nižnánsky. Als Besonderheit behielt die Zeitschrift jedoch ihre regelmäßige Veröffentlichung über slawische Literaturen, besonders die polnische, bei, und druckte Übersetzungen von Gedichten und Prosatexten ab, die die Mitarbeiter selber für Vatra besorgten. Die Vorstellung von einer slowakischen Kultur stützte sich auf die Eckpfeiler der reinen Slowakizität und des Slawentums. Seine Anerkennung und Adelung als literarischer Kreis sowie als Kulturzeitschrift erfuhr Vatra, als die meisten sich darin literarisch betätigenden Autoren in die „Anthologie der jungen slowakischen Literatur“²⁷ 1923 aufgenommen wurden. Dazu gehörten auch Karol Sidor, Jožo Nižnánsky, Borin, Milo Urban und Ján Hrušovský, zudem etabliertere Autoren wie Gejza Vamoš oder Tido Gašpar, die in Vatra publizierten. Rozvoj war im Gegensatz zur relativ kurzlebigen Vatra eine längere Existenz beschieden. Das lag daran, dass erstere Zeitung als Verbandsblatt eine solidere Basis bekam, da der Verband der katholischen Jugend von der katholischen Kirche wie auch der Volkspartei gefördert wurde. Vordergründig war Rozvoj ebenfalls eine literarisch orientierte Zeitschrift, die von und für Studenten und Mittelschüler gemacht wurde. Ihr Logo war anfänglich ein Phönix, der sich mit Dampf und Donner aus der Asche erhebt. Sie erschien monatlich von Februar 1923 bis Juni 1944 (mit Unterbrechung von Mai 1938 bis August 1940) in Bratislava mit Sitz im Studenten-

26 Martin Schelling: Slovo predsedu Družiny Vatry [Ein Wort des Vorsitzenden des Freundeskreises von Vatra], in: Vatra, 5, 2, 1923, S. 45 f.; hier S. 45. 27 Smrek, Ján (Hg.): Sborník mladej slovenskej literatúry, Bratislava 1924.

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wohnheim Svoradov. Ab 1940 gab der Verein Spolok kolegia sv. Svorad, eine Art Alumni-Organisation des katholischen Studentenwohnheims, Rozvoj heraus, und zwar unter der Redaktion von Ján Sedlák²⁸. Unter den Redaktoren waren einige markante Vertreter der jungen Nationalisten: Konstantin Čulen, Martin Sokol, Ján Ďurčanský und Jozef Kirschbaum. Literarische Beiträge lieferten zudem Celestin Radvanyi und Štefan Polakovič, der spätere Ideologe des slowakischen Staates. Als Korrespondent aus Frankreich betätigte sich Ferdinand Ďurčanský während seines dortigen Studienaufenthaltes. Rozvoj war auch die Zeitschrift, in der Andrej Žarnov als engagiertes Verbandsmitglied seine Gedichte zu publizieren begann sowie unter bürgerlichem Namen kämpferische Aufrufe an die Jugend. Rozvoj war ein Instrument des slowakischen Nationalismus, stand aber gleichzeitig lange Zeit fest auf dem Boden der tschechoslowakischen Republik. Zwei Texte aus dem Jubiläumsjahr 1928 illustrieren diese charakteristische Ambivalenz. In der ersten Nummer des Jahres wird im ersten Text das zehnjährige Jubiläum angekündigt. Doch ist in diesem Text mit keinem Wort die Rede von der Tschechoslowakei, es geht ausschließlich um das „slowakische Vaterland“, in dem nun „der Slowake Herr“ ist. Besonders trieb die jungen Intellektuellen, wie es sich auch in verschiedenen Wenderomanen zeigte, das Faktum um, dass die Slowaken sich 1918 nicht aus eigener Kraft befreien konnten. Die angeblich eigenständige Befreiung der Slowakei wird etwa als dem Vorbild der Französischen Revolution folgend beschrieben: „Mit Hilfe der großen französchen Nation erkämpften wir uns die Freiheit (. . . )“²⁹. Ferner heißt es: „Zehn Jahre, die der Slowake sein Vaterland hat, sein eigenes Vaterland.“ Mit dem Begriff „Vaterland“ ist die „Slowakei“ gemeint, nicht aber der tschechoslowakische Staat. Dieser wird mit keinem Wort erwähnt. Das Bekenntnis zum gemeinsamen Staat folgt indessen in derselben Nummer in einem Artikel, der die Vergangenheit im ungarischen Königreich thematisiert. Darin verurteilt der Autor den ungarischen Irredentismus und schließt die Möglichkeiten für die Slowaken, jemals wieder zu Ungarn zu gehören, kategorisch aus. Vielmehr bekennt er sich explizit zum tschechoslowakischen Staat: So also kümmern sich um uns jene, die uns seit ewigen Zeiten nicht wohl gesonnen sind, dass sie uns wohl aus dem ‹tschechischen Joch› befreien würden. Aber bei diesem Ansinnen

28 Ján Sedlák wurde im slowakischen Staat ein offizieller Kulturschaffender, wurde als Dramaturg am Nationaltheater eingesetzt, verfasste Synthesen über die slowakische Kultur sowie die erste Monographie über Andrej Žarnov noch zu dessen Lebzeiten. Siehe in den Kapiteln zur institutionellen und zur literarischen Praxis in dieser Arbeit. – Zum Wohnheim Svoradov siehe auch im 6. Kapitel dieser Studie. 29 Pred pamätným výročím, in: Rozvoj, 1, 1, S.1 [Za pomoci veľkého národa franzúzskeho vybojovali sme si slobodu. . . Desať rokov, čo Slovák má vlasť, má svoju slobodnú vlasť.]

5.2 Pioniere des slowakischen Journalismus |

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werden auch wir Slowaken ein Wort mitreden, die wir in Frieden mit den Nachbarn zusammenleben wollen, aber nur als treue Angehörige der Tschechoslowakischen Republik.³⁰

Nástup – radikale politische Publizistik Einige Autoren weiteten ihre Mitarbeit in der kulturell orientierten Verbandszeitschrift Rozvoj auch auf rein politische Publizistik aus. Das Medium dafür war die von den Ďurčanský-Brüdern 1933 gegründete, vierzehntägig erscheinende Zeitung für die katholische akademische Jugend Nástup [Antritt/Aufmarsch]. Hinter Nástup stand als Patron Vojtech Tuka. Wie auch der Slovák hatte diese radikal-autonomistische Zeitung massive Zensureingriffe hinzunehmen, und zwar beginnend mit den Pribina-Feierlichkeiten vom August 1933³¹. Die Zeitschrift Nástup wurde motiviert durch den Erfolg der Nationalsozialisten in Deutschland gegründet. Im Mai 1933 erschien die erste Ausgabe. Der Redaktionskreis beschreibt darin, wofür er sich einsetzen möchte. Deutlich geben die Autoren ihrer feindlichen Haltung gegenüber dem gemeinsamen Staat mit den Tschechen Ausdruck: Dort, wo wir zu Hause sein sollten, sind wir geduldete Gäste. Aus dem Staat der Tschechen und Slowaken wurde eine Gestalt, die unserer Nation – leider – fremd geworden ist. Ende Jahr werden es 15 Jahre sein, dass die ‹befreite› slowakische Nation alle Kräfte zusammenbringen muss, um das zu bewahren, was die geistige Wende von 1918 gebracht hatte, damit sie ihre nationale Individualität erhalten und pflegen kann.³²

Die Autoren betonen, dass sie die Zeit der Verteidigung beenden und stattdessen „für die Respektierung der Rechte der slowakischen Nation“ zum „Angriff“ übergehen möchten. Sie erklären, dass sie einen Umbau des Staates zur Föderation anstreben. „Nationalen und rassischen Minderheiten“ gestehen sie Rechte zu, „die sich aus jenen ableiten, die der slowakischen Nation zukommen“. Das heißt, sie wären dem Gesetz nach Bürger zweiter Klasse. Die tschechische Seite – „das destruktive Kapital“ – wird beschuldigt, die wirtschaftliche und soziale Misere mit ihrer antislowakischen Tendenz verursacht und der slowakischen Kultur geschadet zu haben. Mit ihrem auf der „christlichen Weltanschauung“ basierenden und auf eine Föderation abzielenden Programm will der Kreis um Nástup das „slowakische Problem“ beseitigen. 30 Pred desiatimi rokmi – a dnes. . . [Vor zehn Jahren – und heute. . . ], in: Rozvoj, 1, 1, S. 30 [Hľa, takto sa starajú o nás naši odveki neprajníci, aby nás vraj vyslobodili zpod „jarma českého“. No k týmto úmyslom budeme mať slovo i my Slováci, ktorí v pokoji chceme naživať so svojimi súsedmi, ale len ako verní príslušnici republiky Československej.]. 31 Genauer dazu unter weiter unten in diesem Kapitel. 32 Nástup. In: Nástup mladej slovenskej autonomistickej generácie 1, 1, Mai 1933, S. 1 f.

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Die Brüder Ďurčanský versammelten hier die radikalsten der jungen Nationalisten. Unter den Autoren fanden sich auch Redaktoren des Slováks. So berichtete Karol Sidor mehrfach über den katholischen Turnverband Slovenský Orol oder Karol Murgáš kritisch über die regionalistische Bewegung. Die Ďurčanskýs gewannen auch Redaktoren und Autoren vom Rozvoj für die Mitarbeit an Nástup, etwa Radvanyi und Kirschbaum, der in der Zeit der Autonomie bis zum Ende der Zeitung 1940 neben Ferdinand Ďurčanský zu einem der wichtigsten Autoren der Zeitung wurde. Den Nastupisten ging es vor allem um die Stellung der Slowaken in der Tschechoslowakei. Sie forderten mit Nachdruck, dass die Slowaken international stärker auftreten müssten. Die Führung der Volkspartei betrachtete darum die Zeitung anfänglich nicht als eines ihrer Organe, denn sie lehnte es ab, den Nationalismus über den katholischen Internationalismus zu stellen.³³ Erst 1934 änderte Hlinka öffentlich seine Meinung und sprach von den jungen Radikalen um Nástup und Sidor als jenen, denen die Zukunft gehöre.³⁴ Die Artikel in der Zeitung konzentrierten sich auf die politische Sphäre, die kulturelle spielte weit weniger eine Rolle, ausgewählte Ereignisse wurden allerdings kommentiert. Die Studenten verfolgten politisch die autonomistische Linie. In studentischen Belangen schlug sich das etwa auf die Verwendung des Slowakischen an der Universität und in der Öffentlichkeit nieder. Viel offene und polemische Kritik richtete sich gegen die zentralistischen Politiker, etwa Außenminister Beneš, sowie gegen die tschechoslowakische Einheit auf der Basis des Pittsburgher Vertrags und seiner fehlenden Umsetzung. Die zentralistische Politik wurde als tschechische Kolonialpolitik in der Slowakei betrachtet. Das Ziel einer kulturellen Homogenität und damit slowakisch-ethnischen Dominanz sowie damit verbunden ein unverhohlener Antisemitismus, Antikommunismus und Antiliberalismus sollten die akademische Jugend gegen das Establishment mobilisieren.³⁵ Der Ton ist oft polemisch, die Artikel sind Meinungsartikel, die gesellschaftliche Stereotype reproduzieren. „Die Juden und wir“ heißt der Frontartikel der Ausgabe vom 15. Juni 1933. Darin werden Juden wegen ihrer angeblich „jüdischen Ideologie“, nicht wegen ihrer Religion oder Rasse kritisiert. In diesem Artikel wird ihnen vorgeworfen, die ländliche Bevölkerung zu verderben. Sie hätten mit ihren Läden und Kneipen den Alkoholismus in der Slowakei verbreitet und die jungen Frauen mit ihren Waren zur Putzsucht verführt, so dass diese nun keine Trachten

33 Katuninec, Milan: Novinarská a politická činnosť Karola Sidora do roku 1935, Bratislava 1998, S. 140. 34 Katuninec 1998, S. 147. 35 Detaillierter zur inhaltlichen Orientierung des Nástup im Kapitel zur rhetorischen Praxis in dieser Arbeit.

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mehr tragen würden und keine Handarbeit mehr verrichten wollten. „Die Ansprüche erhöhen – das ist im Grunde das Geheimnis des Erfolges der Juden“, heißt es in diesem Zusammenhang. Weit schwerer wiegen die Vorwürfe, durch Kredite und unbezahlbare Wechsel slowakische Familien in den Ruin gestürzt zu haben. Ziel dieser generalisierenden Anschuldigungen war es, die slowakische Nation als durch Juden gefährdet zu zeichnen. Solche stereotypen Ansichten wurden auch, sofern Juden darzustellen waren, in den nationalistischen Romanen kolportiert.³⁶ „Gesundheit“ und „Reinheit“ als Deutungskonzepte liegen den Vorstellungen der radikalen Nationalisten zugrunde. Celestín Radványi als einer der Redaktoren stellt in seinem Leitartikel vom 15. Februar 1934³⁷ fest, dass es immer noch „Irrationalität“ und „Gefühlseinheiten“ im „slowakischen nationalen Organismus“ gebe. In diesem Zusammenhang muss man diese als Verunreinigungen deuten. Widersprüchlich ist in diesem Artikel die Argumentation, wenn es um die Beteiligung der Slowaken an der „Befreiung“ geht. Sie wird ausdrücklich mit Hilfe großer Zahlen an slowakischen Legionären im Widerstand betont. Gleichzeitig aber wird an die Slowaken als nicht „vollständig wiedergeborene, befreite Menschen“ appelliert.

Nachwuchsförderung durch den Slovák Durch ihre Mitarbeit bei Vatra, Rozvoj und etwas später Nástup hatten die talentiertesten und engagiertesten jungen Intellektuellen den Grundstein für ihre publizistisch-politische, schriftstellerisch-kulturvermittelnde oder publizistischliterarische Karriere gelegt. Einige Mitarbeiter schrieben gleichzeitig für Vatra und die Volksparteizeitung Slovák und wurden über kurz oder lang als Redaktoren angestellt. Andrej Hlinka versuchte schon bald nach der Neugründung der Slowakischen Volkspartei und der Gründung der Parteizeitung Slovák am 16. Januar 1919 junge Intellektuelle für die Partei zu gewinnen. Sie sollten für die zukunftsweisende Ausrichtung der Partei stehen. So holte er seinen Zögling Karol Sidor, der seinerzeit schon bei ihm ministriert und gerade die Zeitschrift Vatra gegründet hatte, als Mitarbeiter zum Slovák, ebenso wie den Mitgründer Augustín Način. Auch Milo Urban, der das Gymnasium nicht abgeschlossen, stattdessen aber seinen ersten Roman geschrieben hatte und in Fortsetzungen im Slovák veröffentlichte, wurde als Redaktor für das Parteiorgan engagiert. Er war, wie er in seinen Memoiren ausdrücklich vermerkt, auf dieses Einkommen für seinen Lebensunterhalt an36 Ausführlicher dazu im Literaturkapitel dieser Arbeit. 37 Ercé: Prišla nová éra [Eine neue Ära ist angebrochen], in: Nástup, 2, 4, 15. Februar 1934, S. 235.

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gewiesen. Die jungen Redaktoren lernten das journalistische Handwerk bei der Arbeit, wobei Andrej Hlinka sich stark in der redaktionellen Arbeit engagierte und die jungen Journalisten betreute. Hlinka setzte auch auf frei werdenden Positionen in der Parteiadministration nach Möglichkeit junge Leute ein. Er machte 1928 den erst 27-jährigen Martin Sokol zum neuen Generalsekretär, der sofort die innerparteiliche Verwaltung umfassend reformierte. Die Parteizeitung Slovák blieb die Domäne junger radikaler Parteimitglieder wie Karol Sidor, der 1931 Chefredaktor wurde, Július Stano, Karol Murgaš und Alexander Mach.³⁸ Sidor konnte nun seine dominante Stellung in der Parteipresse ausbauen und seine Linie gegen die zentralistischen Parteien und für die Autonomie kompromisslos und radikal durchsetzen.³⁹ Die Beschäftigung von jungen, unerfahrenen Journalisten war sicher nicht nur dem guten Willen der Parteiführung geschuldet. Vielmehr hatten der Slovák und die Druckerei als Institutionen einer oppositionellen Partei stets mit großen finanziellen Problemen zu kämpfen, was zur Folge hatte, dass die Bezahlung wesentlich schlechter war als etwa bei den Organen von Regierungsparteien. Peter Prídavok beispielsweise verließ aus finanziellen Gründen die Redaktion des Slováks.⁴⁰ Die gemäßigte und konservative Parteiführung stellte ebenfalls junge Leute an die Spitze der Bauernorganisation der Partei, der Gewerkschaftsbewegung und der Eisenbahnergewerkschaft. Fast alle der zahlreichen Periodika der Partei wurden von den Jungen hergestellt. Bis auf den gemäßigten Sokol vertraten die Angehörigen der jungen Generation radikale Positionen, was vor allem die Mittel des Kampfes gegen das zentralistische Regime betraf. Der Historiker James Felak kommt zum Schluss, dass die Volkspartei bis 1932 mehr für Parteikarrieren der jungen slowakischen Intelligenz getan hat als irgendeine andere politische Partei in der Slowakei.⁴¹ Relativierend im Bezug auf die Vertretung der Jungen in der Volkspartei ist festzuhalten, dass Präsidium und parlamentarische Repräsentation von der älteren Generation dominiert wurden, Presse und interne Verwaltung dagegen von der jüngeren. Diese Funktionsteilung führte auch zu Spannungen. So forderten die Jüngeren mit der Zeit, die Autonomiepolitik radikaler zu verfolgen. Sidor, der bereits vor der Gründung von Vatra in den Národnie Noviny publiziert hatte, schrieb ab der 20. Ausgabe des Slovák fast in jeder Nummer. Ab Mai 1920 war er Redaktionsmitglied der Zeitung. Auch Urban wurde – ohne jede publizistische Erfahrung und Mittelschulabschluss – Redaktor der Zeitung. Zusammen mit zwei weiteren Hochschulstudenten bildeten Sidor und Urban am Anfang die vierköpfige 38 Felak 1994, S. 64. 39 Katuninec 1998, S. 127. 40 Katuninec 1998, S. 127. 41 Felak 1994, S. 84.

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Redaktion.⁴² Andrej Hlinka lenkte die Zeitung und verfasste regelmäßig Beiträge, ebenso wie auch die Priester František Jehlička, Ján Vojtaššák und Ignác GrebáčOrlov. Nachdem Sidor das Studium an der Prager Universität aufgegeben hatte, übernahm er die Redaktion des Slovák.⁴³ Nach dem Umzug der Zeitung von Ružomberok nach Bratislava im Jahr 1922, wo sie unter dem neuen Chefredaktor Vojtech Tuka als Tageszeitung erschien, stießen noch Nižnánsky und Način für einige Zeit als Mitstreiter von Vatra zur Parteizeitung hinzu. Nižnánsky wandte sich jedoch bald von der Volkspartei ab und amtete von 1924 bis 1939 als Chefredaktor von Slovenská politika, der Parteizeitung von Hodžas tschechoslowakischer Agrarierpartei. Peter Prídavok kam erst 1926 zum Slovák, um dort bis 1931 als Redaktor zu arbeiten; er war zuvor als Redaktor in der Ostslowakei beschäftigt, vor allem bei Slovenský východ [Slowakischer Osten]. Prídavok gehörte zu den engsten Mitarbeitern von Sidor. Von 1926 bis 1929, bis die Organisation verboten wurde, war Prídavok verantwortlicher Redaktor der gleichnamigen Zeitschrift der proto-faschistischen Wehrorganisation „Rodobrana“ [Vaterlandswehr], die Tuka mit Zustimmung der Volkspartei 1923 ins Leben gerufen hatte. Nachdem Vojtech Tuka 1929 wegen Hochverrats ins Gefängnis kam, übernahmen erst Jozef Sivák, dann Sidor die Position des Chefredaktors beim Slovák. 1931 stieß auch noch Alexander Mach zu der mit ihm inzwischen neunköpfigen Redaktion des Slovák und schrieb hauptsächlich Glossen, Kommentare und Reportagen.⁴⁴ Aus diesem Kreis sollte auch die nur kurz bestehende, radikale Zeitung Autonomia hervorgehen. Sie wurde während der Regierungsbeteiligung der HSĽS 1927 bis 1928 von einer Gruppe parteiinterner Kritiker unter Leitung von Karol Murgaš herausgegeben. Die Volkspartei berücksichtigte die Gewohnheiten der ländlichen Leserschaft, indem der Slovák eigens für diese zur Wochenzeitung Slovák-týždenník (1919–1945) zusammengestellt und damit wesentlich billiger wurde. Die Partei maß gerade dieser Ausgabe eine große Bedeutung wegen ihrer Reichweite bei. Sie wurde in einer enorm hohen Auflage von über 20 000 Exemplaren vertrieben.⁴⁵ Eine weitere Marketingstrategie war, die Abendzeitung Slovenská pravda [Slowakische Wahrheit] herauszugeben (1936–1945). Ursprünglich erschien sie schon früher als Wochenzeitung in der Ostslowakei, um die Vereinigung der christlichen Kleinbauern zu propagieren. Ab 1936 kam sie als dünne, billige Tageszeitung unter Chefredaktor Alexander Mach heraus, verantwortlicher Redaktor war Karol Murgaš und der 42 43 44 45

Duhajová/Šefčák 1993, S. 35. Über Sidors journalistische Tätigkeit ausführlich bei Katuninec 1998. Duhajová/Šefčák 1993, S. 35. Duhajová/Šefčák 1993, S. 37.

132 | 5 Eine neue intellektuelle Elite dritte im Bunde wurde nun auch der redaktionelle Mitarbeiter von Nástup Celestín Radványi. Mach schrieb fast in jeder Ausgabe eine Kolumne, und auch der Bratislavaer Kanoniker und Redaktor der von der Gesellschaft des hl. Adalbert herausgegebenen Zeitschrift Kultúra, Karol Körper, war neben Jozef Kirschbaum ein regelmäßiger Beiträger. Die Slovenská pravda als Tageszeitung war das Kind von Alexander Mach, der sich zwei Jahre lang darum bemüht hatte, die Zeitung neu zu lancieren, und schließlich die Parteiführung von dieser Notwendigkeit überzeugen konnte.⁴⁶ Zuvor übte die Zeitung eine gewisse Alibifunktion aus, da sie als Ersatz diente, wenn der Slovák gerade mit einem Publikationsverbot belegt war, wie etwa nach den Pribina-Feiern. Unter Machs Ägide wurde die Zeitung nicht nur zur meistgelesenen, sondern auch zur meistzensierten Zeitung in der Slowakei. In ihr konnte Mach seine Position als Anführer der radikalen Autonomisten publizistisch umsetzen. Die Inhalte richteten sich vor allem gegen den Prager Zentralismus, Kommunismus, gegen territorialen Revisionismus sowie gegen die angebliche Ausbeutung des slowakischen Volkes durch fremde Großgrundbesitzer und Kapitalisten. Die Slovenská pravda zeichnete sich gegenüber dem Slovák durch einen noch aggressiveren Ton aus, weshalb sie von der Zensurbehörde häufig konfisziert wurde. Innenpolitisch agitierte sie gegen Tschechen, Tschechoslowaken, Kommunisten und Juden. Außenpolitisch orientierte sie sich an den europäischen Diktaturen.⁴⁷ Die Zeitung erlangte 1937 und 1938 tägliche Auflagen in der außerordentlichen Höhe von 75 000 respektive 100 000 Exemplaren.⁴⁸

5.3 Sprung auf die politische Bühne Vor allem Karol Sidor nutzte unter den Vatristen die publizistische Tätigkeit als frühes Sprungbrett in die Politik, wobei er sich auch weiterhin propagandistisch und gelegentlich literarisch betätigte. Ab 1927 war er etwa Abgeordneter des Bratislavaer Stadtparlaments und von 1935 bis 1939 Abgeordneter der Nationalversammlung. Gašpar fand aufgrund seiner publizistischen und schriftstellerischen Erfahrung 1922 eine Anstellung im Ministerium mit Vollmacht für die Slowakei und blieb auch in den Diensten der nachfolgenden Provinzverwaltung bis 1938 als Kommissar der Presseabteilung. Als rechte Hand des Ministers der tschechoslowakischen

46 Vnuk, František: Mať svoj štát znamená život. . . Politická biografia Alexandra Macha [Ein eigener Staat bedeutet Leben. . . Die politische Biografie Alexander Machs], Cleveland 1987, S. 146– 151. 47 Duhajová/Šefčák 1993, S. 38. 48 Vnuk 1987, S. 149. Die Angaben zu den Auflagenzahlen stehen in starkem Widerspruch bei Duhajová/Šefčák 1993.

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Volkspartei in der Slowakei schrieb er für diesen Reden und trat selber als gefragter Redner auf Podien zu allerlei Anlässen auf. Daneben publizierte er weiterhin regelmäßig in diversen Zeitungen und Zeitschriften. Keine politischen Ämter trotz politischer Publizistik übernahmen hingegen andere Vatristen wie Nižnánsky, Urban sowie die Prídavoks. Ein ähnlich initiativer junger Nationalist wie Sidor war Alexander Mach. Er kam allerdings nicht aus dem Kreis einer Kulturzeitschrift zur Publizistik und Volksparteipolitik. Wie Sidor organisierte er sich bereits als Student politisch. Im theologischen Seminar von Trnava zettelte er etwa eine Protestaktion gegen die magyaronischen Lehrer an. 1922 brach er die Ausbildung ab und entschied sich statt für die Priesterlaufbahn für eine politische Tätigkeit. Wie Sidor war er aktiv als Organisator der Sportorganisation Orol tätig. Er agitierte für die Gründung von lokalen Ablegern der Volkspartei und begann direkt im Slovák zu publizieren. Ab 1923 trat er regelmäßig als Redner bei öffentlichen Veranstaltungen der Volkspartei auf.⁴⁹ Während Sidor Hlinkas Zögling war, kann man Mach als jenen Tukas bezeichnen, der bereits zu dieser Zeit auf Mach aufmerksam wurde und ihn als Redaktor zum Slovák holen wollte. Ab 1924 arbeitete er auf dem Generalsekretariat der Partei in Bratislava und gleichzeitig für die Redaktion des Slováks. Doch Hlinka schickte ihn nach nur drei Monaten nach Trenčín, damit er – als gerade einmal 21-Jähriger – die dortige Gauorganisation der HSĽS aufbaute. Er übernahm auch Funktionen in anderen Unterorganisationen, so wurde er 1925 Sekretär der Christlichen Bauernvereinigung sowie Redaktor der Monatszeitschrift Roľník [Der Bauer, 1925–1938], die auf seine Initiative gegründet wurde. 1925 machte ihn die Partei zum Zentralsekretär, der für die Presse, Wahlpropaganda und politische Führung der Kreissekretariate zuständig war.⁵⁰ Von 1926 bis 1936 war Mach als Redaktor beim Slovák tätig, von 1938 bis 1939 als Chefredaktor. Wie Tido Gašpar war Mach ein gefragter Redner und zudem wichtiger Ideologe der Volkspartei bereits in der Zwischenkriegszeit. Sein Ziel war es, das städtische Kleinbürgertum und besonders die Intelligenz für die Politik der Volkspartei zu gewinnen. Unmittelbar mit Machs Aktivitäten ist die Wehrorganisation „Rodobrana“ [Vaterlandswehr] verbunden. Sie wurde nach dem Vorbild des italienischen Faschismus auf Initiative von Vojtech Tuka mit Zustimmung der Volkspartei 1926 gegründet. Die Rodobrana war eine paramilitärische Einheit, die offiziell auf den Veranstaltungen der Volkspartei dafür sorgen sollte, dass es zu keinen Störungen kam. Inoffiziell sollte die Organisation für einen allfälligen Staatsputsch zur Verfügung stehen.⁵¹ Für die Reorganisation der Bewegung stützte sich Tuka vor allem 49 Vnuk 1987, S. 27. 50 Vnuk 1987, S. 35. 51 Duhajová/Šefčák 1993, S. 38.

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auf Mach, der hauptsächlich die redaktionelle Arbeit in der gleichnamigen Zeitung leistete, obgleich Peter Prídavok der verantwortliche Redaktor war. Auch stammte die Mehrheit der ausgesprochen radikalen Artikel von Mach. Die Bewegung fand rasch zahlreiche Anhänger, so dass die Auflage der Zeitung Rodobrana schnell von 6000 Exemplaren am Anfang auf 30 000 anstieg. Wegen der radikalen Forderungen nach Autonomie und Kritik am tschechoslowakischen Staat wurde die Zeitung zu einer der am meisten zensierten Publikationen in der Slowakei.⁵² Mit der Inhaftierung Tukas und Machs im Jahr 1929 wurde die Zeitung verboten und die Organisation aufgelöst.

Motor der gesellschaftlichen Radikalisierung Die Weltwirtschaftskrise traf die Slowakei als wirtschaftlich schwächer entwickelten Landesteil noch härter als den tschechischen. Die sozialen Spannungen erhöhten sich, was seinen Ausdruck in verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens fand. In dieser Situation trat die junge nationalistische Elite erstmals als eine wahrnehmbare Gruppierung in Erscheinung. Unmittelbar nach dem Putsch wegen der Rechtschreibreform in der Matica slovenská vom Mai 1932 berief die Zeitschrift Politika, die der tschechoslowakischen Agrarpartei nahestand, einen parteiübergreifenden Kongress der jungen Slowaken auf den Juni 1932 in Trenčianské Teplice ein.⁵³ Junge slowakische Intellektuelle versuchten in dieser Situation, unabhängig von den etablierten politischen Eliten Lösungen zu finden. Mit dem Kongress wurde eine neue Generation politisch denkender Akademiker angesprochen, die bereits in der ČSR das Bildungssystem durchlaufen hatten. Sie waren alle radikaler als die älteren Angehörigen ihrer jeweiligen Parteien. Von der Volkspartei bzw. ihr nahestehenden jungen Intellektuellen nahmen Martin Sokol, Alexander Mach, die Ďurčanský-Brüder und Milo Urban daran teil. Es kamen auch altgediente Politiker wie Hodža oder Šrobár, die aber den Verlauf des Kongresses nicht beeinflussen konnten, da die Jungen das Zepter fest in der Hand hielten. Urban äußert sich später als Redaktor des Gardista 1942 euphorisch darüber, wie er den Kongress erlebt hatte: Und dort. . . als ob mit uns ein Wunder geschehen wäre! Plötzlich, nicht wissend wie . . . im heiligen Feuer des Suchens nach der Wahrheit, im durchdringenden Auftauchen in die bittere Gegenwart, fanden wir uns auf einer gemeinsamen Plattform wieder, auf der gemeinsamen

52 Vnuk 1987, S. 45 f. 53 Felak, James: The Congress of the Young Slovak Intelligentsia of June, 1932 – Its Context, Course, and Consequences, in: Nationalities Papers, Vol. XXI, No. 2 (Fall, 1993), S. 107–127.

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slowakischen Linie, wie wohl nie zuvor. Wir stellten fest, dass es zwischen uns in grundsätzlichen Fragen des kulturellen und politischen Lebens keine Unterschiede gab, dass wir im Grunde alle ein und dasselbe wollten: ein neues gerechtes, schöneres Leben für unsere slowakische Nation.⁵⁴

Für die jungen Intellektuellen verschiedener politischer Couleur war der Kongress eine Möglichkeit, unabhängig von den Parteilinien ihre politischen Ziele zu definieren. Sie unterschieden sich in den wesentlichen Punkten nicht voneinander. Urban drückt dies als das Erlebnis eines Zusammengehörigkeitsgefühls aus. Der gemeinsame Nenner war die slowakische Nation, die als durch die politische und wirtschaftliche Situation bedroht empfunden wurde. In ihren Referaten und Diskussionen sprachen sich alle trotz der unterschiedlichen politischen Positionen (Kommunisten, Agrarier, Autonomisten) gegen den herrschenden Tschechoslowakismus und Zentralismus aus. Besonders lehnten sie die Idee der nationalen Einheit mit den Tschechen ab.⁵⁵ In dieser Frage stellten sie die slowakisch-nationalen Belange sogar über ihre Parteiinteressen. Auf dem Kongress wurde indes nicht die Sprachenfrage diskutiert⁵⁶, wie es so kurz nach dem Putsch in der Matica slovenská zu erwarten gewesen wäre. Den Jungen ging es vielmehr darum, die bestehende Gesellschaftsordnung grundlegend zu verändern. Das konnte je nach politischem Hintergrund durch eine Föderalisierung oder Regionalisierung geschehen. Grundsätzlich aber hatten sich in der gesamten jungen Intelligenz im Wesentlichen autonomistische Ideen durchgesetzt. So gesehen war der Kongress vor allem ein Erfolg für die Autonomisten und bestätigte deren starke Stellung auch in der jungen slowakischen Intelligenz. Im Bezug auf die neue radikale Elite war dieser Kongress insofern von großer Bedeutung, als die tschechoslowakische Öffentlichkeit diese als solche erstmals wahrnehmen konnte und musste. Die jungen radikalen Kräfte versuchten sich auch durch ihr gemeinsames öffentliches Auftreten und mit neuen Ideen von den älteren Nationalisten zu emanzipieren. Ein ähnlich einschneidendes Ereignis von großer öffentlicher Ausstrahlung waren die Pribina-Feiern vom 13. bis 15. August 1933 in Nitra. Ursprünglich organisierte der Verein hl. Adalbert die Veranstaltung als religiös-kulturell-nationale Jubiläumsfeier zur ersten Kirchenweihe vor 1100 Jahren in Nitra. Doch die slowa-

54 Zit. nach Vnuk 1987, S. 97 [A tam. . . akoby sa bol stal s nami zázrak! Odrazu, ani nevediac ako. . . vo svätom zápale hľadania pravdy, v prenikavom ponorení sa do trpkej prítomnosti, ocitli sme sa na spoločnej platforme, na spoločnej slovenskej línii, ako vari nikdy predtým. Zistili sme, že v zásadných otázkach kultúrneho a politického života niet medzi nami rozdielov, že v podstate všetci chceme jedno a to isté: nový spravodlivý, krajší život svojho slovenského národa.]. 55 Harna/Kamenec 1988, S. 150 f. 56 Vnuk 1987, S. 98.

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kischen Zentralisten befürchteten eine nationale Demonstration, und versuchte die Regierung die Veranstaltung in eine Feier der ersten tschechoslowakischen Staatlichkeit zu verwandeln. Etwa 50 000 Menschen nahmen an der öffentlichen Manifestation vor der Stadt teil, darunter Katholiken und Autonomisten, die wenig Verständnis für die staatliche Deutung des Anlasses hatten. Sie skandierten Sprechchöre wie „Weg mit den Tschechen!“, „Es lebe Hlinka!“, „Wir wollen slowakische Professoren, Offiziere, Soldaten!“ oder „Weg mit der Pressezensur!“ Das Patronat über die Veranstaltung hatte Präsident Masaryk, und es sollte sichergestellt werden, dass die Feier nicht für eine nationalistische Demonstration instrumentalisiert würde. Weder Rázus noch Hlinka waren als Redner eingeladen. Doch Hlinka wurde von seinen Anhängern, Studenten und Mitgliedern des Orol, auf den Schultern aus dem Publikum auf die Bühne gehievt, wo er darauf bestand, dass die Feiern dem slowakischen Volk als erstem christlichen Volk in Mitteleuropa gehörten.⁵⁷ Zudem agitierte er bei aller Loyalität zum tschechoslowakischen Staat mit Bezug auf das Pittsburgher Abkommen einmal mehr für die Selbstverwaltung statt einer lediglich rechtlichen Gleichstellung.⁵⁸ Die Rede wurde von den jungen radikalen Nationalisten aus der Volkspartei verfasst, darunter Sidor, Mach und Ján Ďurčanský.⁵⁹ Ein wesentlicher Grund, weshalb die Autonomisten es geschafft hatten, so viele Menschen für die Teilnahme zu mobilisieren, lag in der anhaltenden Unzufriedenheit der Menschen und in der angespannten wirtschaftlichen und sozialen Lage wegen der Wirtschaftskrise – die Arbeitslosigkeit betraf fast 50 Prozent der Slowaken. Die Volkspartei hatte sich gar von den Feiern erhofft, die Regierung zum Rücktritt zu bewegen. Die staatlichen Organe ahndeten die staatsfeindliche Demonstration mit einer großangelegten Untersuchung. 114 Leute wurden einvernommen, davon 30 angeklagt und verurteilt. Mach wurde wegen staatsfeindlicher politischer Betätigung mittels 70 Zeitungsartikeln zu siebeneinhalb Monaten Haft verurteilt.⁶⁰ Der Minister fürs Schulwesen Ivan Dérer entließ einige Volksschul- und Gymnasiallehrer. Außerdem wurde den Presseorganen der HSĽS bzw. ihr nahe stehenden Zeitungen

57 Vnuk 1987, S. 118. 58 Bartlová, Alena: Situácia na Slovensku a štátoprávne úsilie politických strán v tridsiatych rokoch [Die Situation in der Slowakei und die staatsrechtlichen Bemühungen der politischen Parteien in den Dreißigerjahren], in: Valerián Bystrický (Hg.), Slovensko v politickom systéme Československa [Die Slowakei im politischen System der Tschechoslowakei], Bratislava 1992, S. 56–64; hier S. 61. Vgl. auch die von Hlinka verlesene Deklaration von Nitra, abgedruckt in Vnuk 1987, S. 122 f. 59 Vnuk, František: Andrej Hlinka. Tribún slovenského národa [Andrej Hlinka. Tribun des slowakischen Volkes], Bratislava 1998, S. 88. 60 Vnuk 1987, S. 113.

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das Erscheinen temporär untersagt. Das betraf im September 1933 für drei Monate die Tageszeitung Slovák und die Wochenzeitung Slovák-týždenník für ein halbes Jahr. Die Wochenzeitungen Slovenská pravda und Tatranský Slovák durften von Oktober 1933 bis März bzw. April 1934 nicht erscheinen. Zudem wurde das Akademikerblatt Nástup für ein halbes Jahr und die Satirezeitschrift Osa ganz und gar eingestellt. Die Druckerei der HSĽS wurde mit einer Geldstrafe von 390 000 Kronen belegt. Und ein hoher Vertreter der Regierung drängte Hlinka, den Chefredaktor des Slováks, Karol Sidor, zu entlassen.⁶¹ All diese Maßnahmen trafen die HSĽS empfindlich, da die Presse das wichtigste Medium für ihren politischen Kampf war. Indirekt verstärkten sie aber auch die Tendenzen zur Radikalisierung nicht nur innerhalb der Partei, sondern auch in der Öffentlichkeit. Während sich bereits in den Zwanzigerjahren ein Teil der HSĽS radikalisiert hatte, und zwar ausgelöst durch die Aktivitäten Tukas, etwa der Gründung der paramilitärischen „Rodobrana“, war der neuerliche Radikalisierungsschub um 1930 von einer anderen Qualität. Er drückte sich vor allem in einer größeren Generationsdynamik innerhalb der Partei aus.⁶² Die Brüder Ján und Ferdinand Ďurčanský gründeten 1933 die Zeitung Nástup, Sidor wurde 1935 Abgeordneter, und Alexander Mach machte sich als regierungskritischer Journalist in der Öffentlichkeit einen Namen. Die jungen Radikalen lehnten Kompromisse mit der Regierungskoalition in Fragen der slowakischen Autonomie ab, weshalb auch die Koalitionsverhandlungen 1935 scheiterten. Ab 1936 wurde auch die bereits seit längerem bestehende Volkspartei-Organisation der Universitätsstudenten aktiv, der Klub der Hochschulstudenten.⁶³ Das Patronat hatten neben anderen Tiso und Sidor, und Nástup berichtete regelmäßig über die Veranstaltungen des Klubs. Die Studenten organisierten Versammlungen, öffentliche Vorlesungen, Feierlichkeiten, Jubiläen der slowakischen Geschichte sowie politische Seminare, in denen Parteimitglieder die Studenten in Innen- und Außenpolitik unterwiesen. Im Herbst 1937 organisierte der Klub mehrere Protestaktionen. Eine stand unter dem Motto „In der Slowakei auf slowakisch!“ Dabei zogen die Studenten durch die Kaffeehäuser, öffentliche Orte und die Universität von Bratislava und brachten die in einer Auflage von 60 000 gedruckten Spruchbänder mit dem Motto auf anderssprachigen Zeitungen oder öffentlichen Plätzen an. Anlass war der 150. Jahrestag von Anton Bernoláks ersten Kodifizierung der slowakischen Schriftsprache. Eine andere Aktion war vor allem antisemitisch, denn sie richtete sich gegen die Vorführung des französischen Films „Le Golem“ in einem öffentlichen Kino in Bratislava. 61 Letz 2006, S. 43. 62 Letz 2006, S. 55. 63 Felak 1994, S. 169.

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5.4 Kulturorganisatoren Die ursprünglich 1863 gegründete und nach zehn Jahren von den ungarischen Behörden wieder geschlossene slowakische Kulturinstitution Matica slovenská wurde bald nach Kriegsende wieder aktiviert und mit ihr 1919 als Aushängeschild die Kulturzeitschrift Slovenské pohľady [Slowakische Ansichten]. Die Matica in der mittelslowakischen Stadt Martin repräsentierte den Kreis der gemäßigten nationalistischen Intellektuellen nach 1919. Die Intellektuellen in ihrem im Umfeld waren in der Regel nicht primär politisch organisiert, sondern standen in der kulturnationalistischen Tradition des 19. Jahrhunderts. Zu einem der führenden Repräsentanten und Schriftsteller wurde in der Zwischenkriegszeit der Schriftsteller Jozef Cíger Hronský. Vor dem Krieg gehörte es für einen Schriftsteller zum guten Ton, in Slovenské pohľady zu publizieren, wenn möglich zu debütieren. Nach 1919 hatte die Zeitschrift nicht mehr diesen Status, sie schlug mit dem evangelischen Pfarrer Štefan Krčméry als Chefredaktor einen gemäßigten Kurs ein und setzte vor allem auf Kontinutität in der Pflege des nationalen literarischen Lebens. Allerdings fanden sich in ihr ausgeprägt antisowjetische und antikommunistische Positionen.⁶⁴ Die junge Generation wollte viel radikaler auf die Veränderungen der Nachkriegszeit reagieren, gründete eigene Zeitschriften und beschritt auch ästhetisch neue Wege. So publizierten vor allem Schriftsteller der mittleren oder älteren Generation in Slovenské pohľady, wobei mit der Zeit auch jüngere versuchten, darin Fuß zu fassen, etwa Beniak, der einer der regelmäßigsten Beiträger wurde, zudem Hronský, Urban, Gašpar und Hrušovský. Erst mit dem Redaktionswechsel zu Andrej Mráz Ende 1932 fanden zunehmend modernere Stimmen Eingang in die Zeitschrift bzw. wurde das ästhetische Spektrum wesentlich breiter: Auch linke, rechte und katholische Autoren publizierten nun darin, darunter Žarnov, Gráf und Dilong. In den Dreißigerjahren, als die innenpolitische Situation immer angespannter wurde, griff Hronský als Verwalter der Matica slovenská gelegentlich in die Redaktionstätigkeit ein bzw. warnte etwa während der Autonomiephase den Redaktor Mráz davor, ein kritisches Gedicht des ausgesprochen demokratischen Autors Janko Jesenský zu publizieren.⁶⁵ Eine deutlich nationalistische Ausrichtung hatte im Gegensatz zu Slovenské pohľady innerhalb der Matica slovenská die Monatszeitschrift Slovensko, die ab 1934 von Stanislav Mečiar und später von Hronský redaktionell geführt wurde. Jozef Cíger Hronský (1896–1960) war als slowakischer Nationalist insofern von großer Bedeutung, als er wegen seiner hochstehenden slowakischen Prosa großes 64 Chmel, Rudolf : Dejiny v dejinách. K storočnici Slovenských pohľadov [Geschichte in der Geschichte. Hundert Jahre Slovenské pohľady], Bratislava 1981, S. 61 ff. 65 Chmel 1981, S. 84

5.4 Kulturorganisatoren |

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Ansehen genoss und zugleich als Funktionär die Ausrichtung der Matica slovenská über Jahre mitbestimmte. Er hatte eine Lehrerausbildung absolviert und arbeitete von 1916 bis 1933 in diesem Beruf. Über das Schreiben von literarischen Texten kam er 1933 zur Matica slovenská, wobei er schon seit 1927 Mitglied der LesebuchKommission war. Von 1933 bis 1940 war er Sekretär der Matica und von 1940 bis 1945 ihr Geschäftsführer. Er machte sich vor allem um die verlegerische Tätigkeit der Matica verdient. Er war weniger kämpferisch und auch politisch gemäßigter in seiner Haltung als die Nationalisten in Bratislava. Nicht umsonst wurden die Martiner von den Volksparteianhängern abschätzig auch als „Salon-Nationalisten“ bezeichnet. Ein weiterer späterer Exponent des slowakischen Staates ging aus der Matica slovenská hervor. Der polonophile Literaturkritiker Štefan Mečiar betreute ab Mitte der Dreißigerjahre Publikationen der Matica slovenská. Er befasste sich in mehreren eigenen Publikationen mit polnisch-slowakischen Literaturbeziehungen. In seinen literarischen Kritiken setzte er sich mit den nationalistischen Schriftstellern Rázus, Urban oder Beniak auseinander. Als Redaktor arbeitete er von 1934 bis 1937 für die kulturelle Monatszeitschrift Slovensko. Ab 1933 verfasste er regelmäßig Beiträge für Slovenské pohľady, vor allem als Kritiker, wobei er ein Anhänger der Katholischen Moderne war, er popularisierte die polnische Literatur und versuchte, konfessionelle und nationalistische Positionen zu etablieren. Mečiar spielte vor allem ab 1939 eine bedeutende Rolle im slowakischen Staat als kultureller Organisator und als Chefredaktor der Slovenské pohľady. Hronský und Mečiar sind womöglich als Nationalisten nicht repräsentativ für das Tagesgeschäft der Matica. Indessen wurde die Matica slovenská strategisch stärker in den Kampf der nationalistischen Opposition eingebunden, und zwar ab 1932, als es zu einer Art nationalistischem Putsch im Zusammenhang mit der Rechtschreibreform kam.⁶⁶ Als neue Mitglieder wurden danach in den Verwaltungsrat die Volksparteimitglieder Kovalík-Ustiansky, der Verwalter der Stiftung des hl. Adalbert, Pöstenyi, Hlinka, aber auch Ferdinand Ďurčanský, der gleichzeitig in der Rechtsabteilung tätig war, und Jozef Tiso gewählt. Unter den protestantischen Mitgliedern des Rates stach als Nationalist Martin Rázus hervor. Als Sprachwissenschaftler, der sich mit der Sprachgeschichte, insbesondere Phonetik, Wortbildung und auch Etymologie des Slowakischen beschäftigte, rückte mit der gescheiterten Rechtschreibreform auch Henrich Bartek in die vordere Reihe unter den Nationalisten. Er beendete seine frühere Tätigkeit für die von der Matica slovenská in der ganzen Slowakei organisierten Amateurtheater und widmete sich ganz der slowakischen Sprache. Er verfocht einen strikten sprachlichen

66 Siehe in dieser Arbeit das Kapitel zur institutionellen Praxis.

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Purismus, der stark zur politisierten Debatte um die slowakische Rechtschreibung beitrug. 1932 gründete er die Zeitschrift Slovenská reč und war von 1933 bis 1939 Referent der sprachwissenschaftlichen Abteilung der Matica slovenská.⁶⁷ Er trug auch regelmäßig zu den anderen einschlägigen nationalistischen Zeitungen und Zeitschriften bei, etwa Kultúra, Slovensko und Slovák. Als Kulturorganisator in der Ostslowakei machte sich Anton Prídavok einen Namen. Er war als Lehrer tätig sowie ab 1928 als Gebietssekretär der Slovenská liga, die sich vor allem der slowakischen Bildung und Vermittlung slowakischer Sprache in der Ostslowakei bzw. in Gebieten mit gemischtsprachiger Bevölkerung annahm. Ab 1932 arbeitete er allerdings vorwiegend als Sekretär im Košicer Rundfunk. Journalistisch betätigte er sich unter anderem in der Zeitschrift der Slovenská Liga, beim Rundfunk und auch als Mitbegründer und Autor von Nový Svet, für die auch sein Bruder Peter von 1935 bis 1938 als Prager Redaktor schrieb. Beide Prídavoks engagierten sich stark als Sammler und Herausgeber von slowakischer Volksliteratur, als Verfasser von Handbüchern für die slowakische Sprache und als Autoren von zeitbezogener Prosa oder Dramatik, wenn auch zweiten Ranges. Anton Prídavok versuchte in seinen programmatischen Romanen zu zeigen, welchen großen Anteil die Slowaken bei der Entstehung des gemeinsamen Staates hatten und welche Bedeutung ihnen als eigenständige Kulturnation weiterhin darin zukommt. Augustín Način Borin war ein früher Weggefährte Sidors. Er versuchte trotz mehrjähriger Erfahrung auch in politischer Publizistik, etwa 1922 bis 1924 beim Slovák und anschließend bis 1927 bei der Tageszeitung Slovenský národ, im Bereich des Kulturjournalismus zu bleiben. Er gründete 1932 die monatlich erscheinende Literaturzeitschrift Pero, an die er versuchte, Autoren unabhängig von ihrer politischen Orientierung zu binden. Er selber gehörte zum gemäßigten Flügel der Volkspartei. In seiner bis 1938 erscheinenden Zeitschrift ließ er Agrarier, Kommunisten und Autonomisten gesellschaftliche und kulturpolitische Fragen diskutieren, etwa die jüdische Frage, den slowakischen Journalismus oder die kommunistische Weltsicht.⁶⁸ Seine nationale Orientierung vertrat er auch als Pressebeauftragter der Gesellschaft des Slowakischen Nationalrats von 1927 bis 1939. Auch wenn sich die Wege der jungen Nationalisten ideologisch und beruflich differenzierten, so gab es doch immer wieder Berührungspunkte, etwa durch die Mitarbeit in kulturellen Organisationen oder Standesorganisationen wie dem Slowakischen Schriftsteller- oder dem Slowakischen Künstlerverband. Gašpar beispielsweise war Mitglied des Slowakischen Schriftstellerverbandes und zeitweise

67 Ausführlich dazu im folgenden Kapitel dieser Studie. 68 Duhajová/Šefčák 1993, S. 72.

5.5 Aufstieg in die Führungsriege |

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auch dessen Sekretär, als Mitglied der Literarischen Abteilung der Slovenská liga hielt er wiederum kulturgeschichtliche Vorträge. Sidor war Funktionär in beiden Verbänden sowie auch Mitglied im Freundeskreis des Nationaltheaters, wo Gašpar wiederum zwei Jahre als Dramaturg arbeitete und Hrušovský von 1926 bis 1931 die Theaterzeitung redaktionell betreute. Ebenso waren einige der jungen Nationalisten in den lokalen Zweigstellen der Matica slovenská tätig, so Gašpar als Leiter in Bratislava oder Anton Prídavok als Herausgeber einer Zeitschrift und eines Almanachs in Košice. Weitere Berührungspunkte bot die katholische Kultur- und Bildungsgesellschaft hl. Adalbert in Trnava. Dort waren Peter Prídavok in der literarisch-wissenschaftlichen Abteilung aktiv, Milo Urban vorübergehend als Aushilfe angestellt und Konstantín Čulen Leiter der Edition „Prameň“. Sidor als Gründer der Sportorganisation Orol in der Slowakei konnte auch Peter Prídavok zur Mitarbeit darin gewinnen. Auch als Bindeglieder zwischen Organisationen mit verwandtem Charakter dienten die jungen Nationalisten. So lief die häufige Zusammenarbeit zwischen der Matica slovenská und der Slovenská liga nicht zuletzt über deren Mitglieder Anton Prídavok und Konstantín Čulen, der bei der Matica Mitglied der Historischen Abteilung war und bei der Liga Mitglied der literarischen Abteilung.⁶⁹

5.5 Aufstieg in die Führungsriege Am 6. Oktober 1938 erlangte die Slowakei die politische Autonomie. Als am 22. November das Autonomiegesetz von der Nationalversammlung angenommen wurde, läuteten in der ganzen Slowakei die Glocken als Zeichen des Sieges des slowakischen nationalen Gedankens. Danach begann das neue Regime eine autoritäre Ordnung in der Slowakei einzuführen. Als erste Maßnahmen gehörten dazu die erzwungene Parteienvereinigung oder -auflösung, die Auflösung von sportlichen und gesellschaftlichen Organisationen, die Wahlmanipulation im Parlament mit der alleinigen Kandidatur der HSĽS am 18. Dezember 1938, das Verbot von Oppositionspresse, eine Zensur, die Einrichtung eines Propagandaamtes und eines Konzentrationslagers, Übergriffe auf der Straße von Hlinka-Gardisten und Angehörigen der Freiwilligen Schutzstaffel der Deutschen Partei, antijüdische Aktionen sowie

69 Letz, Robert: Miesto Slovenskej ligy na Slovensku v politickom vývoji Česko-Slovenska 1918– 1939 [Der Platz der Slowakischen Liga in der politischen Entwicklung der Tschecho-Slowakei 1918– 1939], in: Valerian Bystrický (ed.), Slovensko v politickom systéme Česko-Slovenska, Bratislava 1999, S. 121–128, hier S. 124; 1934 plante die Slovenská liga, eine umfassende Geschichte der Slowakei herauszugeben, und zwar in Zusammenarbeit mit der Matica slovenská. Čulen war als Bindeglied zwischen den beiden Organisationen in der für das Buchprojekt zuständigen Kommission. Letz 2000, S. 176.

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Vertreibungen von Tschechen.⁷⁰ Der radikale Flügel der HSĽS konnte dabei auf die deutsche Unterstützung bauen. Von Wien aus unterstützte ein propagandistischer Radiosender auf Slowakisch mit antitschechoslowakischer und antijüdischer Propaganda die Zerschlagung der Tschechoslowakei; Karol Murgaš gehörte dort zu den Akteuren. Im an Deutschland angeschlossenen Österreich gab es tausende Slowaken, aus denen die „Ausländischen Hlinka-Garden“ rekrutiert wurden. Die jungen Nationalisten, die wesentlich das rechte Spektrum der slowakischen Presselandschaft in der Zwischenkriegszeit mitgeprägt hatten, wurden in der Zeit der slowakischen Autonomie und des slowakischen Staates zu gefragten Funktionären des Regimes. Einige beteiligten sich aktiv am Versuch, die Gesellschaft ideologisch auf die Linie des Regimes der Volkspartei einzuspuren. Das wichtigste Instrument dafür war das noch in den Tagen der Autonomie, am 18. Oktober 1938, gegründete Propagandaamt. Es bezog ein paar Räume im neu errichteten, so genannten Nationalen Haus, welche ihm die Slovenská liga überließ. Seine Aufgabe war es, „die Presse, den Rundfunk, das Theater, den Film, die Wort- und Musikkunst im Geiste des slowakischen Staates und der HSĽS auszurichten“.⁷¹ Es wurde aber schon vor der Gründung des Propagandaamtes eine vorgängige Zensur eingeführt. Neu war, dass zensierte Passagen unbedingt ersetzt werden mussten, damit sie als solche nicht erkennbar waren. Zudem wurden in als unzuverlässig erachteten Medien Regierungskommissare zur Überwachung eingesetzt.⁷² Die „Tagesparolen“ wurden von als Beratern eingesetzten Mitarbeitern der deutschen Botschaft vorgegeben. Das Amt gab selber mehrere Periodika heraus. Es leiteten nacheinander Alexander Mach bis August 1940, dann bis April 1941 Karol Murgaš, der allerdings bald als Botschafter nach Zagreb abgeschoben⁷³ wurde und seinen Posten dem für fähiger gehaltenen Tido Gašpar überließ, der das Amt dann auch bis zum Ende des Staates, 1945, innehatte. Es ergaben sich aber auch hohe politische Ämter für einige der jungen Nationalisten. Mach wurde etwa Innenminister, F. Ďurčanský Außenminister, Karol Sidor trat nach kurzer Zeit als Präsident der Autonomieregierung wieder zurück. Weitere hohe Funktionen bekleideten einige in zentralen Ämtern wie dem Progagandaamt oder wie Žarnov im Gesundheitswesen. Führungsaufgaben gab es auch in Regierungsorganen sowie in der Partei- und Gardenverwaltung auszuüben. Doch auch die Kulturinstitutionen wurden nun vom Staat an die kürzere Leine genommen.

70 Kamenec, Ivan: Slovenský štát, Prag 1992. (a) 71 Duhajová/Šefčák 1993, S. 86. 72 Baka, Igor: Mechanizmus, ciele a metódy pôsobenia ľudackej propagandy v rokoch 1938–1939 [Mechanismen, Ziele und Methoden der Volkspartei-Propaganda in den Jahren 1938–1939], in: Historický časopis, 51, 2, 2003, S. 277–294; hier S. 278. 73 Vnuk 1987, S. 235.

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Eine zentrale Rolle bei der Ausgestaltung des klerikal-nationalsozialistischen Regimes spielte die Hlinka-Garde. Ein Teil der jungen Nationalisten übernahm darin leitende Funktionen: Jozef Kirschbaum gründete die Akademische HlinkaGarde, Karol Murgaš baute die Hlinka-Garde ab 1938 auf, Karol Sidor war 1938 ihr Hauptbefehlshaber, Celestín Radványi war ab 1939 Chef des Pressedienstes der Hauptkommandantur [Hl. veliteľstvo]. Sidor hatte durch den Aufstieg der Volkspartei selber eine steile politische Karriere gemacht. 1938 bis 1939 war er Chef aller Presseeinrichtungen der HSĽS sowie Minister der tschechoslowakischen Regierung in Prag, im März 1939 Vorsitzender der slowakischen Autonomieregierung und von März bis April 1939 Innenminister der slowakischen Regierung. Da er sich aber weigerte, auf Hitlers Anweisung den slowakischen Staat auszurufen, wurde er fallengelassen und auf den Botschafterposten im Vatikan abgeschoben, auf dem er bis 1945 blieb. Konstantin Čulen, der seine Meriten als langjähriger Redaktor und Chefredaktor von Rozvoj erworben hatte, wurde im Januar 1940 Pressechef des Regierungsvorsitzenden und stellvertretender Leiter des Propagandaamtes. Kurzzeitig weilte er 1939 noch als tschechoslowakischer Kulturattaché in Washington. Nach der Zerschlagung der Republik war er als Redaktor der Zeitschrift Slovenská obrana [Slowakische Verteidigung] der Slowakischen Liga in Amerika in Scranton tätig. Wie Gašpar, der noch in der Zwischenkriegszeit Distanz zur slowakischen nationalistischen Opposition gehalten hatte, arrangierte auch Hrušovský sich innerhalb kürzester Zeit mit dem neuen Regime. Die HSĽS übernahm das populäre Blatt der Agrarierpartei Slovenská politika, ersetzte aber deren Chefredaktor durch Hrušovsky, der schon zuvor als deren Redaktor beim Blatt war und in dieser Funktion von 1939 bis 1942 maßgeblich das Blatt in eine regimetreue Zeitung umgestaltete. Anschließend war er unter Chefredaktor Milo Urban Redaktor der nationalsozialistischen Zeitung Gardista und von 1943 bis 1945 Mitarbeiter des Propagandaamtes. Der Dichter und medizinische Pathologe Andrej Žarnov wurde der oberste Funktionär des slowakischen Gesundheitswesens, erhielt einen Ruf auf eine Professur für Anatomische Pathologie an der Slowakischen Universität und wurde zur Teilnahme an der internationalen Kommission delegiert, die die Massengräber mit polnischen Offizieren in Katyn untersuchte. Er veröffentlichte gleichzeitig Jubelgedichte auf den Staat und trat unter dem Eindruck von Katyn als antisowjetischer Redner in der Slowakei auf.⁷⁴ Eine hohe repräsentative Funktion übernahm er auch

74 Detailierter zu Žarnovs Laufbahn und Texten im Kapitel zur literarischen Praxis in dieser Studie.

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als Mitglied des Staatsrates.⁷⁵ Der Staatsrat hatte als auf dem Papier „höchstes staatliches Organ“ jedoch lediglich eine konsultative Funktion. In ihm diskutierten bis zu 26 Vertreter verschiedener Ministerien, Institutionen und Organisationen im Staat Strategien für aktuelle politische und gesellschaftliche Fragen. Aus dem kulturellen Bereich waren drei Personen im Staatsrat vertreten, neben Žarnov der Verwalter der Matica slovenská sowie jener der Gesellschaft des hl. Adalbert. Im Juli 1943 wurden die Kompetenzen und die Mitgliederzahl erheblich beschnitten, so dass er allmählich in die Bedeutungslosigkeit versank. Žarnov wurde nicht in den zweiten Staatsrat übernommen.

Propaganda durch Presse Das Kerngeschäft blieb für das Gros der jungen Nationalisten, die bereits in der Zwischenkriegszeit publizistisch tätig gewesen waren, die Presselandschaft, die nun fast hundertprozentig der politischen und ideologischen Kontrolle des Regimes unterstand. Die meisten Zeitungen und Zeitschriften – allein fünf Tageszeitungen – gab im slowakischen Staat die Volkspartei heraus. Die für die Verbreitung der nationalsozialistischen Ideologie wichtigsten Zeitungen waren der Slovák als Zeitung der Volkspartei sowie der Gardista als Medium der Hlinka-Garde, bzw. des radikalen Flügels der HSĽS. Mehrere Redaktoren des Slováks stiegen in hohe staatliche Ämter auf: Sidor, Mach und Murgaš. So gab es eine Rochade in der Redaktion. Augustin Načín, der Anfang der Zwanzigerjahre im Slovák gearbeitet hatte, kehrte 1940 zurück und blieb bis 1945 Redaktor. Urban hingegen, der im Slovák vor allem für die Kultur zuständig gewesen war, wurde als Chefredaktor des Gardista eingesetzt, redaktionell unterstützt auch von Henrich Bartek. Der Gardista erschien ab Januar 1939 als Tageszeitung kontinuierlich bis zum 5. April 1945. Die Auflagenhöhe betrug ähnlich wie die des Slováks 15–20 000 Exemplare. In einer kleineren Auflage erschien von 1942 bis 1945 vierzehntägig zusätzlich für die Gardisten die Zeitschrift Náš boj [Unser Kampf]. Als Boulevardzeitung gab die Volkspartei die Slovenská pravda heraus, die ursprünglich Alexander Mach geleitet hatte, 1938 aber zeitweise von Augustín Način weitergeführt wurde.⁷⁶ Als eigenständige Illustrierte erschien weiterhin mit einer beachtlichen Auflage von 25 000 Exemplaren die Zeitschrift Nový svet, die Jožo Nižnánsky von 1929 bis 1939

75 Kamenec, Ivan: Štátna rada v politickom systéme slovenského štátu v rokoch 1939–1945 [Der Staatsrat im politischen System des slowakischen Staates in den Jahren 1939–1945], in: Historický časopis, 44, 2, 1996, S. 221–242. 76 Duhajová/Šefčák 1993, S. 90 f.

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geleitet hatte; 1939 erwarb er die Wochenzeitung Slovenský týždeň und gab diese bis 1945 heraus. Eine wichtige Stütze des Regimes war die weitverzweigte katholische Presse. Ihr 1940 erneuertes Aushängeschild waren die Katolické noviny [Katholische Nachrichten], die dank der abgedruckten Predigten mit 100 000 Exemplaren die größte Auflage im Staat erreichten. Die Zeitung Nástup erlebte ab Ende 1938 bis zu ihrem Ende 1940 noch einmal einen Aufschwung. Nun wurden die Artikel auch namentlich gekennzeichnet, thematisch wurde sie breiter und Jozef Kirschbaum wurde neuer Redaktor. Er richtete eine Kulturrubrik ein, in der die neue Rolle der Kultur im slowakischen Staat diskutiert wurde. Ab Mitte 1939 startete eine breite Debatte über die Kultur. Es schrieben Exponenten der Autonomieregierung und auch des künftigen slowakischen Staates, z. B. Propagandachef Alexander Mach. Während die Zeitung bis 1938 lediglich unter den radikalen Intellektuellen verbreitet und daher von marginaler Bedeutung war, erhielt sie nun in der veränderten historischen Situation wesentlich mehr Gewicht. Und mit ihr auch die langjährigen Autoren und Redaktoren. Insofern diente auch Nástup als ein Sprungbrett in die Sphäre der Politik, verschaffte öffentliche Aufmerksamkeit und verhalf zu einem Netzwerk. Die Aktivitäten der Hlinka-Garden begleitete die Zeitung Gardista journalistisch, als deren Chefredaktor Milo Urban eingesetzt wurde. Das Blatt war ein politisches Verlautbarungsblatt, in dem Politiker, prominente Publizisten oder regionale Garden-Funktionäre schrieben. Es wurden zwar in der Tradition des Slovák auch Gedichte abgedruckt, doch waren diese zumeist als politische Gelegenheitsdichtung Lobeshymnen auf die Hlinka-Garde. Solche Gedichte kamen mitunter auch von prominenten Schriftstellern.

Die neuen Exegeten des Nationalsozialismus Tido Gašpar begann sich als Mitarbeiter der Autonomieregierung im Herbst 1938 in der Hlinka-Partei zu engagieren. Als Mitglied der Volkspartei saß er von 1939 bis 1944 als Abgeordneter im slowakischen Einparteien-Parlament und hielt sich von 1940 bis 41 als Chargé d’affaires des neuen Staates in Bern auf. Als Chef der Presseabteilung des Regierungsvorsitzenden und später des Propagandaamtes wurde er zu einem der wichtigsten Ideologen des Regimes. Publizistisch begrüßte er die Abtrennung und Pseudo-Eigenständigkeit der Slowakei euphorisch und gab seine Zeitungsartikel auch noch in Buchform heraus. Einer der wichtigsten Propagatoren des Nationalsozialismus wurde Alexander Mach. Nach den Salzburger Verhandlungen im August 1940, in denen Hitler versuchte, den Streit zwischen den konkurrierenden Machtgruppen in der

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Volkspartei zu schlichten, erhielt Mach einigen Aufwind. Er wollte seine pronationalsozialistische Linie durchsetzen, indem er Schulungszentren für Führer der Hlinka-Garden einrichtete und die höchstrangigen zu Schulungen nach Deutschland schickte. Zudem setzte er zusammen mit Tuka durch, dass deutsche Berater in wichtigen staatlichen Organen eingesetzt wurden. Als propagandistisches Medium für den Nationalsozialismus sollte ihm der Gardista dienen, den er von einem Wochenblatt zu einer Tageszeitung umgestaltete und in dessen Redaktion er seine Anhänger unterbrachte. Mach stand hinter dem „Jüdischen Kodex“, auf dessen Grundlage zehntausende Juden deportiert und umgebracht bzw. in slowakischen Lagern interniert wurden. Er verschärfte auch das Vorgehen gegen Tschechen, die in der Slowakei lebten, sowie gegen Kommunisten, von denen er allein im Juni 1941 1100 internieren ließ. Mit dem Ausbruch der slowakischen Partisanenkämpfe im Herbst 1944 war seine Macht im slowakischen Staat faktisch gebrochen, weil man ihm die Schuld gab, den Aufstand nicht verhindert zu haben. Tuka demissionierte zu seinen Gunsten als Ministerpräsident, doch Präsident Tiso setzte ihn in diese Funktion nicht mehr ein.

Linientreue Kulturfunktionäre Hronský blieb auch während des slowakischen Staates Funktionär der Matica slovenská. 1940 wurde er ihr Verwalter. Das neue Regime war seiner Tätigkeit wohlgesonnen, so konnte er die Matica zum führenden nationalkulturellen Institut ausbauen.⁷⁷ Er war während des Krieges zwar kein exponierter Regimeanhänger. Auch findet sich seine Unterschrift nicht unter dem berüchtigten vom Regime arrangierten Lomnicer Manifest.⁷⁸ Dennoch war er ein loyaler Anhänger des Regimes und des Staates. Im slowakischen Staat sah er die Erfüllung dessen, was Generationen von nationalen Aktivisten angestrebt hatten: die verfassungsmäßige Anerkennung der eigenständigen slowakischen Nation. Ideologisch stimmte er dem Regime insofern zu, als es den katholischen Glauben zu seinem Fundament erklärte.⁷⁹ Zum radikalen Verteidiger des slowakischen Staates wurde er gegen und nach Ende des Krieges, vor allem in seinem Roman „Svet na trasovisku“ [Die Welt in Trasovisko], den er 1947 bis 48 schrieb. Darin verurteilt er den slowakischen Aufstand vom September 1944 – er selbst wurde vorübergehend von den Aufständischen festgenommen –, da mit der deutschen Besetzung weiter

77 Bokníková, Andrea, Čúzy, Ladislav et. al.: Portréty slovenských spisovateľov [Portraits slowakischer Schriftsteller], Bratislava 2000, S. 16. 78 Kamenec 2000, S. 120. 79 Bokníková 2000, S. 26.

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Teile der Slowakei und der weitgehenden Entmachtung des Regimes praktisch das Ende der vermeintlichen slowakischen Eigenständigkeit gekommen war. In Hronskýs stark ideologisierter Darstellung sind die Schuldigen Tschechen, Russen und slowakische Lutheraner. Mečiar, der andere bedeutende Matica-Repräsentant, hatte sich in der Zwischenkriegszeit vor allem in der Matica-Zeitschrift Slovensko als Nationalist exponiert. Davon profitierte er bereits in der Zeit der slowakischen Autonomie. Er gestaltete nun als Sekretär der Matica slovenská und Chefredaktor der Slovenské pohľady (ab März 1939) die Zeitschrift durch die Auswahl von Themen und Autoren, bzw. durch den Ausschluss von „internationalem Kollektivismus, sozialem Realismus, Surrealismus“⁸⁰ zu einer anti-avantgardistischen⁸¹, regimenahen Publikation um. Zusammen mit dem nationalistischen Philosophen und Chefideologen des slowakischen Staates Štefan Poľakovič gab Mečiar den Ton in Slovenské pohľady an; Gašpar gesellte sich dazu. In der Zeitschrift der Hlinka-Garde Gardista publizierte Mečiar seine politischen Reflexionen. Der Literaturwissenschaftler Rudolf Chmel bezeichnet ihn „in der slowakischen Literatur als einen der militantesten Verkünder der Ideologie des slowakischen Nationalsozialismus“⁸². Mečiar diente dem Bedürfnis des slowakischen Staates nach einer symbolischen Legitimation und Repräsentation. Er informierte über die Suche und den Fund der Gebeine des romantischen Dichters Janko Král und ließ am 3. November 1940 in einem großen pathetischen Zeremoniell dessen angebliche Gebeine auf den national bedeutsamen Friedhof nach Martin verlegen. Zu dieser Zeit hatte sich die Diskussion um Král und seine Version des romantischen Nationalhelden Janošík intensiviert und es begann ein Kampf um die Deutungshoheit dieser mythologischen Figur.⁸³ Als Zeremonienmeister wurde Mečiar vom Militär und von Hlinka-Gardisten begleitet. So glich die Prozession einem Staatsakt. Der Akt war insofern auch von Bedeutung, als er der entbrannten Diskussion um die Ausrichtung der Kultur einen neo-romantischen Weg wies. Mečiar hatte generell eine eklektizistische Haltung gegenüber der Vergangenheit, als deren organische Fortentwicklung er den slowakischen Nationalsozialismus betrachtete. Ebenso wie Ferdinand Ďurčanský und Andrej Žarnov erhielt der 1935 promovierte Mečiar im slowakischen Staat, und zwar 1944, eine Universitätsprofessur.

80 Zit. nach Chmel 1981, S. 108 81 Chmel 1981, S. 112; ungeachtet des Vorsatzes wurden Gedichte von Surrealisten immer wieder abgedruckt. 82 Chmel 1981, S. 107. 83 Vgl. in diesem Zusammenhang die Kontroverse über Titanismus und Übermenschentum bei Batorová, Mária: Slovenská kultúra a literatúra v rokoch 1940–1942 [Slowakische Kultur und Literatur in den Jahren 1940–1942], in: Slovenská literatúra, 37, 1, 1990, S. 27–41.

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Da bestimmte slowakische Kulturorganisationen auf einmal eine viel größere Bedeutung bekamen, wurde auch neues Personal dafür gebraucht. Für Valentín Beniak brachte das Jahr 1939 die Wende. Er wurde nun zu einem Staatsschriftsteller. Bis 1939 hatte er als Notar in einer Kleinstadt nahe seinem Heimatort gearbeitet. Doch im März 1939 wurde er nach Bratislava gerufen und zum Generalsekretär in Alexander Machs Innenministerium gemacht.⁸⁴ Der Grund dafür lag weniger in seiner langjährigen Tätigkeit als Notar in der Provinz, als vielmehr in seiner Bekanntheit als national-orientierter Dichter. Er hatte bereits 1936 den ŠtefaníkLandespreis für eine Gedichtsammlung erhalten und im Jahr 1938 den ersten vom Prager Verlag Mazáč ausgerichteten Preis für die Gedichte in „Bukvica“, in denen er sich auf aktuelle Ereignisse wie den Anschluss Österreichs oder den Tod Andrej Hlinkas bezog. Noch im Jahr seiner Übersiedlung nach Bratislava übernahm er die repräsentative Funktion des Sekretärs und von 1940 bis 1945 des Präsidenten des Slowakischen Schriftstellerverbandes. In dieser Funktion löste er den demokratisch orientierten Schriftsteller Janko Jesenský ab. Beniak begrüßte den slowakischen Staat sowie das Regime, weil er darin eine Möglichkeit sah, das nationale Leben weiterzuentwickeln. Als Dichter sah er sich schicksalhaft mit der Nation verbunden.⁸⁵ Sein Gedichtband „Žofia“ (1941) wurde in einem Wettbewerb der Matica slovenská mit dem ersten Preis ausgezeichnet. Im selben Jahr wurde eine Monografie über den Dichter Beniak veröffentlicht. Zudem publizierte und referierte Beniak rege in Zeitungen respektive auf Veranstaltungen.

Abtrünnige Während sich die meisten der hier behandelten jungen Nationalisten mit dem Regime des slowakischen Staates arrangierten oder sogar besonders davon profitierten, scherten die beiden Prídavok-Brüder aus diesen Karriereverläufen aus. Peter Prídavok, der in der Zwischenkriegszeit zu den radikalsten Nationalisten um Tuka gehört hatte, emigrierte erst nach Paris, wo er Sekretär des von Hodža gegründeten Slowakischen Nationalrats wurde, und im April 1939 nach London, wo er als Angehöriger der völkischen Emigration zunächst inhaftiert wurde. Er versuchte als Teil des slowakischen ausländischen Widerstandes mit Beneš zusammenzuarbeiten, um eine tschecho-slowakische Nachkriegsordnung zu entwerfen. Doch Beneš weigerte sich, sich mit dem ehemaligen Volksparteimitglied Prídavok an einen Tisch zu setzen. Als Beneš 1943 das Bündnisabkommen mit der Sowjetu-

84 Kamenec 1992 (a), S. 102. 85 Šmatlak, Stanislav: Valentín Beniak – Dráma života a tvorby [Valentín Beniak – Drama des Lebens und Schaffens], in: Valentín Beniak. Poézia I, Bratislava 2000, S. 9–25.

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nion unterzeichnete, stieg Prídavok aus dem ausländischen Widerstand aus. Er propagierte aber als Vorsitzender und Vizepräsident des Klubs der mitteleuropäischen Föderation in London eine christlich und antisozialistisch ausgerichtete mitteleuropäische Föderation. Sein Bruder Anton Prídavok wirkte weniger bis in politische Kreise hinein. Dennoch war er Teil einer nationalistischen Praxis. In seiner Tätigkeit für die Slovenská liga und für das Radio Košice und Prešov versuchte er die Stellung der Slowaken innerhalb der Tschechoslowakei zu stärken und die Slowakisierung der Gesellschaft auf kulturellem Wege voranzubringen. Unter dem Eindruck der Wiener Arbitrage und der Gebietsabtretungen an Ungarn begann er 1938 in seinen literarischen und Radiotexten zunehmend die Idee der Heimat zu ideologisieren und sich aber auch gegen das Volksparteiregime zu wenden. Noch im April 1944 wurde er in die Zentralverwaltung der Slovenská liga kooptiert. Im Herbst desselben Jahres unterstützte er das Radio des slowakischen Aufstands mit Archivmaterialien und technischer Ausrüstung. Das Propagandaamt suspendierte ihn daraufhin von seiner Funktion als Leiter des Prešover Rundfunks. Auch die Slovenská liga verurteilte offiziell den Aufstand, weil er von Teilen der slowakischen Intelligenz ausgelöst worden sei, die zu wenig nationales Bewusstsein hätten.⁸⁶ Als Beteiligter am Aufstand wurde Prídavok von der Gestapo festgenommen und verhört. Er starb infolge der Strapazen nach einem dreimonatigen Krankenhausaufenthalt im Mai 1945.

Fazit Resümierend lässt sich festhalten, dass die jungen nationalistischen Intellektuellen in der frühen Zwischenkriegszeit noch keine elitäre Gruppe bildeten. Doch stammten sie aus ähnlichen sozialen Milieus, waren altersbedingt am Beginn ihrer Ausbildungen und sahen sich somit den Chancen und Möglichkeiten der neuen Gesellschaftsordnung gegenüber. Sie entwickelten einen Enthusiasmus für den Aufbau einer Kultur und Gesellschaft unter der leitenden Kategorie des Nationalen, ausgelöst durch die Beschäftigung mit slowakischer Literatur, aber auch durch den politischen Machtwechsel, der sich unmittelbar auf die Verhältnisse an den Mittelschulen niederschlug. Um für die Idee der slowakischen Nation eine Plattform zu finden und die eigenen Fähigkeiten und Ausdrucksmöglichkeiten auszuprobieren, bot sich Zeitungen und Zeitschriften an. Damit diese Produkte und auch die Aktivitäten der jungen Nationalisten von Dauer sein konnten, war

86 Letz 2000, S. 88.

150 | 5 Eine neue intellektuelle Elite

indes die Unterstützung von mächtigeren Strukturen und Akteuren, etwa Parteien, nötig. Auf diese Weise einer Teilöffentlichkeit bekannt geworden, wurden die jungen Intellektuellen für professionelle Tätigkeiten angeworben oder gingen beruflich eigene Wege, wobei sie aber der literarisch-publizistischen Tätigkeit treu blieben. In der Regel bestimmten die frühen studentischen Aktivitäten auch die weitere Laufbahn, während der sie ihre nationalistischen Positionen beibehielten oder verstärkten unter dem Einfluss des nationalistischen Netzwerkes. Dieses bildeten die jungen Nationalisten schon beizeiten, so dass aus ihnen immer wieder Mitarbeiter für Zeitungen, Kulturorganisationen oder politische Ämter rekrutiert werden konnten. Einen großen Einfluss auf die Formierung dieser intellektuellen Elite hatte die jeweilige Stellung der Partei oder Kirche in der Gesellschaft, der sie jeweils nahe standen oder angehörten. Im Nachgang der Weltwirtschaftskrise trat die junge nationalistische Elite erstmals in Erscheinung. Dabei trug sie ihrerseits zur Radikalisierung der Gesellschaft bei. Durch die politischen Ereignisse des Herbstes 1938 geriet die nationalistische Opposition in der Slowakei abrupt in eine neue Machtposition, denn sie wurde zur herrschenden Kraft im slowakischen Landesteil. Die äußeren Umstände forcierten die Bildung einer nationalistischen Elite weiter und statteten diese erstmals mit politischer Macht aus. Nun war es an den einzelnen Intellektuellen zu prüfen, auf welche Weise sie individuell in den Dienst des neuen Regimes treten bzw. es repräsentieren würden oder aber, ob sie sich überrumpelt von der womöglich gar nicht ersehnten staatlichen Eigenständigkeit vom neuen Staat abwandten. Durch ihr jahrelanges nationalistisches Engagement waren sie jedenfalls prädestiniert, Funktionäre des neuen Regimes zu werden. Das nationalistische Netzwerk, das im Zuge des vorangetriebenen Aufbaus der Kulturinstitutionen in der tschechoslowakischen Republik geknüpft wurde, wird im folgenden Kapitel in Dynamik und Aktivitäten beschrieben.

6 Die „Nation“ in der institutionellen Praxis In der Slowakei entstand in der Zwischenkriegszeit parallel zum tschechoslowakischen Staat eine Art slowakisch-nationale Gegenwelt. Deren ideelle Führung lag beim charismatischen Priester Andrej Hlinka und seiner parteilichen und kirchlichen Gefolgschaft. Diese Parallelwelt war durch die Wahlerfolge der nationalistischen Parteien nur teilweise legitimiert; zwar erhielt die Volkspartei absolut die meisten Stimmen, doch waren das nur etwa 30 % der in der Slowakei abgegebenen Voten. Offiziell standen den nationalistischen Parteien kaum Möglichkeiten zur Institutionalisierung offen. Da diese per se gegen das Staatsinteresse gerichtet gewesen wären, erfolgte die Verbreitung eines Pseudo-Minderheitsnationalismus mit Hilfe von personalen Netzwerken, und zwar über die kulturellen Institutionen. Die personalen Netzwerke konnten sich über die verschiedenen Medien, Parteien, kirchlichen und kulturellen Organisationen und Institutionen in der Slowakei ausbreiten. Ihren Ausgangspunkt hatten die Vernetzungsaktivitäten in der Regel in publizistischer Tätigkeit. Masaryks Pläne, das kulturelle Niveau der Slowaken durch eine Modernisierung im tschechoslowakischen Sinne anzuheben, ließen sich so nur gegen Widerstände umsetzen. Die neue Generation von Slowaken, die von der Provinz in die städtischen Bildungs- und Kulturzentren kamen, verfolgten einen radikaleren Nationalismus als die Altslowaken und machten vor allem die verfehlte Politik des Zentralstaates für die wirtschaftliche Misere in der Slowakei verantwortlich. Insofern hing ein nicht unerheblicher Teil der Intellektuellen in der Slowakei einem ganz anderen Kulturkonzept als dem offiziell proklamierten an. Danach sollte Kultur als Instrument der ethno-kulturellen Homogenisierung der Gesellschaft mittels gezielter Identitätsbildung dienen. So bewirkte die Zentralregierung mit erheblichen Fördermitteln und einer liberalen Pressegesetzgebung paradoxerweise sowohl den Aufschwung der slowakischen Kultur als auch zwangsläufig das Erstarken der nationalistischen Bewegung. Mit der Zeit entstand so eine Kulturlandschaft mit doppelt geführten Institutionen. Die gegensätzlichen Kulturkonzepte wurden auf diese Weise institutionalisiert. In der Regel waren aber die tschechoslowakischen Verbände und Organisationen in der Zwischenkriegszeit stärker, weil sie mehr Subventionen bekamen oder etwa künstlerische Aufträge über sie verteilt wurden. Für die Zeit des slowakischen Staates erwies sich diese Anlage von Parallelinstitutionen als vorteilhaft, weil die bereits bestehenden slowakischen Institutionen übernommen werden konnten. Zusätzlich zu den doppelten staatlichen Institutionen unterhielten politische oder religiöse Gruppierungen eigene kulturelle Institutionen und Publikationen.

152 | 6 Die „Nation“ in der institutionellen Praxis

Die politischen und religiösen Auseinandersetzungen wurden zu einem großen Teil in der kulturellen Sphäre ausgetragen, weil diese für die Bildung einer slowakischen Öffentlichkeit am besten geeignet war. Die Definitionshoheit darüber, was slowakische Kultur ist, war dementsprechend hart umkämpft. Das Feld der Kultur war ähnlich segmentiert wie die politische Landschaft. Als Beispiel für eine Reaktion auf den „sezessiven Trend“¹ kann die Gründung einer katholischen Zeitschrift mit dem Namen Kultúra [Kultur] durch den katholischen Verein hl. Adalbert im Jahr 1926 gelten. Damit behauptete die katholische Kultur- und Bildungsorganisation ihre Vorstellung von einer einheitlichen nationalen Kultur – unter katholischen Vorzeichen. Die kulturelle Praxis der kirchlichen Institutionen unterschied sich jedoch erheblich von jener des politischen Katholizismus. Der Nationalismus war in der Slowakei in der Zwischenkriegszeit katholisch dominiert – anders als im 19. Jahrhundert. Doch auch Nationalisten mit evangelischem Hintergrund zogen mit den Katholiken an einem Strang, wie sich vor allem an deren Leitfigur Martin Rázus zeigte, der sich für gemeinsame Strategien und Bündnisse mit den katholischen Nationalisten einsetzte, was er mit dem gemeinsamen nationalen Interesse legitimierte. Der zahlenmäßig kleinen Gruppe evangelischer Nationalisten blieb allerdings auch nicht viel anderes übrig. Begründet durch die Dominanz der HSĽS ist es naheliegend, von einem „katholischen“ Nationalismus zu sprechen, anstatt von einem „christlichen“, was besonders Rázus in seinen Zeitungsbeiträgen gefordert hatte. Die HSĽS führte eine stark katholisch symbolisierte Politik ein, wodurch sich ihre Erfolge zu einem Teil erklären lassen. Um sich in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen, stützte sie sich auf kulturelle Aktivitäten. Als kulturelle Instrumente dienten den nationalistischen Akteuren Kulturinstitute, Presseorgane, Manifeste, literarische Werke, Massenkundgebungen und auch kulturelle Kontakte zum Ausland. Dabei war oft der katholische Bezug ein zentrales Kriterium. Die nationalistischen Kreise deuteten mit ihrer Praxis die Rolle der Kultur in der Zwischenkriegszeit um und stellten sie im slowakischen Staat vollends in den Dienst der Einheitspartei. Die jeweiligen Aktionen, mit Hilfe einer katholisierten Kultur die Kategorie des Nationalen in der Gesellschaft zu etablieren, waren nicht immer von Erfolg gekrönt, sondern belegen mitunter indirekt, wo bestimmte Nationalisierungsvorstellungen auf Widerstände trafen und sich Alltagspraxis und nationalistische Vorstellungen nicht zur Deckung bringen ließen.

1 Harna/Kamenec 1988, S. 122.

6.1 Tschechoslowakische Kultur |

153

Das – keineswegs homogene² – Netzwerk der nationalistischen Akteure diente zum einen der Etablierung einer nationalen Gemeinschaft, zum anderen verhalf es aber auch einer relativ kleinen Elite zu ihrer Positionierung. Den kulturellen Organisationen, nationalistischen Parteien und Medien kommt in diesem Sinne eine wichtige Funktion zu, weil sie die Basis oder Anknüpfungspunkte für die Ausbreitung darstellten. Im Folgenden wird die diskursive Praxis, die zu einer bestimmten Attribuierung und Etablierung der Kategorie „national“ führen sollte, an den einflussreichen kulturellen Institutionen aufgezeigt. Dabei wird besonders auf die Beteiligung von maßgeblichen nationalistischen Akteuren verwiesen. Das Handeln der nationalistischen Akteure manifestierte sich in einer bestimmten institutionellen Praxis. Diese erlaubte ihnen, soziales Kapital zu akkumulieren, also Ansehen, soziale Stellung und persönliche Beziehungen zu einflussreichen Personen zu gewinnen und zu unterhalten. Somit entstand ein Netzwerk als eine moderne soziale Form im Gegensatz zu einer eng gefassten Gruppe. Gegenseitige Kenntnis und Anerkennung basieren im Netzwerk auf individuellen Beziehungen, nicht jedoch auf der Zugehörigkeit zu einer definierten Gruppe.³ Die Besonderheit dieser institutionellen Praxis bestand darin, dass sie ein kulturelles Feld, das als slowakisch zu spezifizieren ist, erzeugte und fortlaufend reproduzierte. Die nach und nach aufgebauten kulturellen Einrichtungen produzierten symbolische Bedeutungen und wirkten so nachhaltig auf die soziale Praxis in der Gesellschaft ein.

6.1 Tschechoslowakische Kultur Welches Bild die Slowaken von sich selber hatten, war stark von der tschechischen Bespiegelung geprägt. Tschechische Intellektuelle pflegten gegenüber Slowaken in der Regel eine paternalistische Haltung. Dazu gehörte oft auch die Idealisierung der im Osten weniger entwickelten Lebensumstände. Grundsätzlich wurde aus der Einschätzung der kulturellen Situation in der Slowakei eine Art praktischer kultureller Entwicklungshilfe abgeleitet, die von tschechischer Pionierarbeit umgesetzt werden sollte. Während die kulturelle Sphäre bis 1918 weitgehend die fehlenden politischen Rechte ersetzt hatte, avancierte sie nun zum zentralen Feld beim Aufbau der ge-

2 Besonders im Šariš-Gebiet in der Ostslowakei existierte ein slowakischer Nationalismus, der anders als der hier behandelte Mainstream-Nationalismus ungarn-freundlich ausgerichtet war. 3 Vgl. Albrecht, Steffen: Netzwerke als Kapital, in: Ebrecht/Hillebrandt 2002, S.199–224; hier S. 207.

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meinsamen Nation. In der offiziellen Staatsideologie sollten Bildungs- und Kultureinrichtungen als Vehikel zu Modernisierung, Demokratisierung und sozialem Ausgleich zwischen der slowakischen und tschechischen Landeshälfte dienen. In den Augen des Staatsgründers und Präsidenten Masaryk war eine kulturelle Erziehung das schmerzloseste Mittel, um das kulturelle Niveau der Slowaken anzuheben und dem der Tschechen anzugleichen. Als Soziologe erschien Masaryk dieser Weg auf lange Sicht gangbar. Einem französischen Journalisten gegenüber äußerte er sich 1921 diesbezüglich wie folgt: There is no Slovak nation. . . The Czechs and Slovaks are brothers. Only cultural level seperates them – the Czechs are more developed than the Slovaks, for the Magyares held them in systematic unawareness. We are founding Slovak schools. We must await the results; in one generation there will be no difference between the two branches of our national family.⁴

Masaryk bemühte sich persönlich um die Förderung der slowakischen Kultur im Hinblick auf ein Zusammenwachsen der beiden Kulturen, auch in konkreter Hinsicht, etwa für die Rechtschreibreform. Gleichzeitig wurden auf tschechischer Seite die kulturellen Unterschiede zementiert. Der einflussreichste Anhänger eines „verspäteten Slowakophilentums“⁵ war Karel Kálal, von dem auch maßgebliche Texte in zeitgenössischen Enzyklopädien stammen. Er beschrieb die Slowaken gern als archaische, dienstbeflissene und friedfertige Menschen. Kálal gestand ihnen keine nationale und kulturelle Eigenständigkeit zu, sondern befand die intellektuelle Führung durch die Tschechen für notwendig. Einflussreich war auch sein Vorgehen, jene Slowaken als „Magyaronen“ zu bezeichnen, die nicht ein einheitliches tschechoslowakisches Volk anerkennen wollten. Den slowakischen Intellektuellen warf er 1922 vor, im Herzen Magyaren zu sein.⁶ Damit hatte er zwar nicht ganz unrecht, waren doch viele von ihnen durch ungarische Schulen oder Universitäten gegangen und deshalb auch sprachlich und kulturell ungarisch sozialisiert. Bei Kálal war dieser Vorwurf indessen politisch konnotiert. Der stereotyp erhobene Vorwurf der „Unmündigkeit“ und „Unreife“ der Slowaken wurde selbst von tschechoslowakisch orientierten Slowaken, etwa dem einflussreichen Politiker Ivan Dérer, kolportiert. Der tschechische Blick auf die Slowakei war bis weit in die Zwanzigerjahre von romantischen Vorstellungen beeinflusst. Besonders beliebt war die slowakische Volkskunst. Die zentrale Verwaltung führte zum Beispiel künstlerische Erziehung

4 Zit. nach Leff, Carol Skalnik: The Czech and Slovak Republics. Nation versus State, Boulder 1997, S. 26. 5 Harna/Kamenec 1988, S. 148. – Im Verlag L. Mazáč erschien eine eigene Reihe unter der Bezeichnung „Karel Kálals slowakophile Schriften“. 6 Harna/Kamenec 1988, S. 148.

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in der Grundschule ein, und zwar mit Mitteln der traditionellen Volkskunst. Viele Tschechen sahen die Slowaken primär als Folkloreverein.⁷ Doch nicht nur Slowaken wehrten sich gegen den kulturellen Tschechoslowakismus, sondern auch einige tschechische Intellektuelle, zum Beispiel František Šalda. Der einflussreiche Vermittler von Bildern aus der Slowakei, der tschechische Ethnograf und Filmer Karel Plicka, verstärkte diese Tendenz, indem er auch im Ausland mit seinen Arbeiten über die Slowaken reüssierte. Er war von 1924 bis 1938 im Dienste der Matica slovenská tätig und drehte eine Reihe von ethnografischen Filmen, die zum Teil auf Festivals im Ausland (Florenz, Venedig) ausgezeichnet wurden. Seine Filme vermitteln ein idyllisches, folkloristisches Bild der Slowaken. Das Feld der slowakischen Kultur wurde zu einem nicht geringen Teil von Tschechen und ihren Vorstellungen von slowakischer Kultur besetzt. Der erste slowakische Spielfilm, Janošík, 1921, war die Verfilmung einer beliebten slowakischen Legende, eines slowakischen Robin Hoods. Gedreht wurde er jedoch mit tschechischen Schauspielern, weshalb die slowakischen Feuilletons auch reserviert reagierten. Der tschechische Regisseur Martin Frič drehte 15 Jahre später eine neue Version, diesmal mit einigen slowakischen Schauspielern. Die slowakischen Intellektuellen begegneten dem von den Tschechen gezeichneten Bild überwiegend mit Skepsis und Kritik. Die Dominanz tschechischer Vorstellungen und Bilder von der slowakischen Kultur forderte slowakische Künstler heraus, die sich ab 1918 zur Entwicklung einer nationalen Kultur verpflichtet fühlten. Immer wieder wurde die kulturelle Eigenständigkeit beschworen. Fortschrittsorientierte Autoren zeichneten urbane Porträts in ihren Werken und der Topos von der „taubenhaften“ Nation wurde verworfen. Einzelne private tschechische Akteuere ermöglichten allerdings eine weniger voreingenommene Rezeption und Entwicklung slowakischer Literatur und Kunst, so die Editionen der Prager Verlage Leopold Mazáč und Melantrich. Ersterer Verlag gab auf Anregung des slowakisch Schriftstellers und Kulturvermittlers Jan Smrek ab 1925 die Reihe Edition junger slowakischer Autoren heraus, in der Autoren der mittleren und jungen Generation Werke veröffentlichen konnten. Dabei war Smreks Auswahl nicht politisch beeinflusst, so dass er Autoren vom rechten bis zum linken Spektrum zum Zuge kommen ließ. Die Herausgeberschaft ging später an den Verband der slowakischen katholischen Studentenschaft über. Von 1930 bis 1939 erschienen so 61 slowakische zeitgenössische Werke. Zudem erschien im Verlag Mazáč die slowakische Zeitschrift Elán, die neben der Zeitschrift Slovenské Pohľady von der Matica Slovenska die wichtigste Kulturzeitschrift war. Die Zeitschrift Elán veranstaltete wiederholt im eigenen Ausstellungssaal in Prag Ausstellungen mit

7 Harna/Kamenec 1988, S. 108.

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slowakischer Gegenwartskunst. Im Verlag Melantrich erschienen vorrangig Werke der älteren slowakischen Literatur und Übersetzungen von Literatur aus aller Welt ins Slowakische. Daneben gab der Verlag die Zeitschrift des slowakischen Schriftstellerverbandes Slovenské smery heraus, allerdings auch die akademische Zeitschrift Bratislava, in der die Professoren der Komensky Universität publizierten, allen voran Albert Pražák, der immer wieder durch seine Auftritte gegen eine eigenständige slowakische Schrift und Kultur von sich reden machte. Insgesamt jedoch dominierte in der tschechoslowakischen kulturellen Praxis in der Slowakei die paternalistische Kulturauffassung, die nicht eine eigenständige, entwickelte slowakische Kultur zum Ziel hatte, sondern den Juniorpartner zu sich aufs tschechische Podest heben wollte – als Verbündeten gegen die Repräsentanten einer deutschen Kultur im eigenen Land.

„Bratislava“ – die unslowakische Hauptstadt Dass Pozsony/Pressburg/Prešporok die slowakische Hauptstadt würde, war nach 1918 nicht selbstverständlich. Die nationalistischen Akteure verwendeten eine großen Teil ihrer Energie auf die Slowakisierung der Hauptstadt als realen und imaginären Raum.⁸ Aus Budapest hieß es etwa noch im Jahr 1918, die Regierung werde auf jeden Fall an Pozsony als ungarischer Stadt festhalten. In historischer Perspektive wäre Turčiansky svätý Martin, in der Mittelslowakei gelegen und traditionelles Zentrum der slowakischen Nationalbewegung, für die Stellung als Hauptstadt prädestiniert gewesen. Gegen Martin sprach aber aus Sicht der Zentralregierung, dass von dort stets der größte Widerstand gegen die tschechoslowakische Staatsidee kam. Und für Pozsony/Pressburg/Prešporok sprach, dass die kosmopolitische Stadt mit ihren 80 000 Einwohnern eine große wirtschaftliche und teilweise kulturelle Bedeutung hatte. Letztlich wurde eine pragmatische Lösung der idealistischen vorgezogen. Für die Pragmatiker stand eher zur Diskussion, ob Pozsony/Pressburg/Prešporok oder Košice, das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum im Osten der Slowakei, für die Hauptstadtfunktion favorisiert wären.⁹ Pozsony/Pressburg/Prešporok setzte sich schließlich durch, nicht zuletzt aufgrund seiner guten Anbindung an andere europäische Zentren und weil Prag mehr Gewicht in der Debatte geltend machte. Wegen der revolutionären Situa-

8 Die schwierige nationale Vereinnahmung der Stadt Bratislava thematisierten auch Schriftsteller in ihren literarischen Werken, etwa Tido Gašpar, Štefan Gráf und Milo Urban. Vgl. das Kapitel zur literarischen Praxis in dieser Arbeit. 9 Tomčík, Miloš: Literatúra a rozvoj poprevratovej kultúry [Die Literatur und die Entwicklung der Nachkriegskultur], in: Slovenská literatúra, 18, 2, 1971, S. 113–134; hier S. 113 f.

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tion in Pozsony/Pressburg/Prešporok unmittelbar nach Kriegsende konnte die Stadt aber erst am 1. Januar 1919 in den neuen Staat integriert werden, und zwar mit Hilfe der Besetzung durch tschechoslowakisches Militär. Am 19. Januar wurde Pozsony/Pressburg/Prešporok zur Hauptstadt ernannt¹⁰, noch bevor sie ihren heutigen Namen erhielt. Im Januar 1919 wurde sie zu Ehren des US-Präsidenten Woodrow Wilsons „Wilsonovo Mesto“ (Wilson-Stadt) getauft, doch schon im Februar erhielt sie den zwar slawischen, doch nur hypothetisch ursprünglichen Namen „Bratislava“.¹¹ Nach diesem Beschluss siedelte die slowakische Regierung, das Ministerium mit Vollmacht über die Slowakei, relativ rasch von Žilina nach Bratislava über. Aus der Sicht von Minister Vavro Šrobár war es wichtig, die Regierungsorgane dorthin zu verlegen, weil von der Stadt der größte magyarische Widerstand gegen die ČSR ausging. Als nach und nach staatliche Kulturinstitutionen in Bratislava eingerichtet wurden, löste das heftige Polemiken auf seiten der nationalen Aktivisten in Martin aus. Die Einrichtung des Landeskundlichen Museums, die Gründung der ŠafarikGelehrtengesellschaft an der Universität sowie des Künstlerverbandes Umelecká beseda wurden etwa als feindliche Maßnahmen gegenüber den bestehenden slowakischen Einrichtungen in Martin – dem Slowakischen Nationalmuseum und der Matica slovenská – sowie gegenüber dem bereits bestehenden slowakischen Künstlerverband SSU gewertet. So bezeichnete Sidor im Slovák das Jahr 1926 als jenes, in welchem die Einrichtung der antislowakischen Kulturinstitutionen vollendet wurde, was sich seiner Ansicht nach im Pavillon der Umelecká beseda, dem tschechoslowakischen Künstlerverband, manifestierte.¹² Die Gegner gaben nicht so schnell auf. Insbesondere als die Volkspartei Koalitionspartner in der Regierung war, intensivierten ihre Abgeordneten die Versuche, die Hauptstadt zu verlegen. Das sollte als Bestandteil der Verwaltungsreform geschehen, nach der 1928 eine Provinzregierung eingerichtet wurde. Die Pläne wurden aber nicht realisiert. Im Jahr 1927 entfachte Štefan Krčméry als Befürworter des Martiner Hauptstadtsitzes mit einem Artikel im Slovák eine neuerliche, mehrere Zeitungen erfassende Diskussion darüber, weshalb Bratislava als slowakische Hauptstadt nicht geeignet sei. Die Slowakisierung Bratislavas sei eine Illusion, hieß es. Stärker würden sich auf den Charakter der Stadt Immobilienbesitz und Wirtschaftskraft in den Händen von Deutschen und Ungarn auswirken.¹³ Auch der überzeugte Tschechoslowake Al10 Kamenec 2000, S. 175. 11 Kamusella 2009, S. 559. 12 Karol Sidor: Do nového roku [Zum neuen Jahr], in: Slovák, 9, 1, 1.1.1927, S. 9. 13 Vgl. Slovák 35 und 37, 1927; Národnie noviny, 25, 56, 58 und 64, 1927.

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bert Prážak schaltete sich als tschechischer Professor an der Komenský-Universität in die Diskussion ein und erklärte Bratislava zur Hauptstadt mit „tschechoslowakischer Seele“.¹⁴ Martin Rázus hielt das Argument dagegen, dass die Slowakei eine Hauptstadt als kulturelles Zentrum bräuchte, und zwar als „Seele der Nation“, und das sei nun einmal Martin.¹⁵ Diese Diskussion fand vor dem Hintergrund der Einrichtung der Provinzverwaltung statt, die das administrative Gewicht der Stadt gegenüber dem Rest der Slowakei noch einmal erheblich erhöhte. Mit der Zeit etablierte sich jedoch die Hauptstadt Bratislava als politisches und administratives Zentrum in der slowakischen Landeshälfte. Die meisten Parteien verlegten ihren Sitz dorthin oder zumindest ihre Sekretariate und die Redaktion ihres Parteiorgans, wie etwa die Nationalpartei. Auch die Volkspartei gab ihren angestammten Sitz in Ružomberok, unweit von Martin, auf; Hlinka war von Bratislava als einzig möglichem Sitz der Provinzverwaltung überzeugt. Die Stadt florierte, sie war Sitz einiger bedeutender Handelshäuser sowie zahlreicher Banken und Sparkassen. Bis 1938 stieg die Einwohnerzahl auf 125 000 an. Besonders das kulturelle Leben profitierte von der Hauptstadtfunktion. Es gab Grund- und Mittelschulen, Bildungsvereine, eine Kunstschule, an der auch eine Schauspielausbildung eingerichtet wurde, um für slowakischen Theaternachwuchs zu sorgen. Zeitschriften und Zeitungen wurden gegründet. Das Nationaltheater etablierte sich zunehmend. Ein Stein des Anstoßes blieb für die Nationalisten die vielsprachige Kultur der Stadt und die äußerst heterogene Zusammensetzung der Stadtbevölkerung. Deutsch, Ungarisch und Tschechisch dominierten bis zum Ende der Zwischenkriegszeit das öffentliche Leben. Sidor schrieb 1930 in einer Rückschau, dass es geradezu ein Wunder gewesen sei, dass unter diesen Bedingungen in Bratislava der Slovák und die HSĽS nicht eingegangen seien. Die slowakische und tschechische Gesellschaft missachtete uns oder floh vor uns. Die magyarisch-deutsche hieß uns nicht willkommen. Unser Volk an den Peripherien Bratislavas ertrank im Dunst antislowakischer Organisationen und in geistiger Armut. Aus Ružomberok gingen nicht einmal 15 Exemplare des ‹Slováks› in die Hauptstadt.¹⁶

14 js: Československá Bratislava [Tschechoslowakisches Bratislava], in: Národnie noviny, 58, 32, 16.3.1927, S. 1. 15 Martin Rázus: Koncentrácia Slovenska [Konzentration der Slowakei], in: Národnie noviny, 58, 64, 1.6.1927, S. 1. 16 Karol Sidor: Ideme konečne do svojho [Wir kommen endlich zu uns], in: Slovák, 12, 272, 30.11.1930, S. 1 [Slovensko (á!) a česká spoločnosť nás fumigovala alebo utekala od nás. Maďarskonemecká nás neprijala. Náš ľud na periferách Bratislavy tonul v spároch protislovenských organizácií a v duševnej biede. Veď z ružomberského „Slováka“ do hlavného mesta nechodilo ani len 15 exemplárov.].

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Inzwischen habe sich aber die Situation dank des „autonomistischen Bataillons“ erheblich gebessert, der Slovák sei eine der meistgelesenen Zeitungen in den Bratislavaer Kaffeehäusern. Noch einmal thematisierte Sidor den kulturell heterogenen Charakter der slowakischen Hauptstadt vor den Gemeindewahlen im Juni 1938. Unter dem Titel „Wir wollen ein slowakisches Bratislava!“ beziffert er den leichten Rückgang der Wählerstimmen in den vorangegangenen Wahlen zum Gemeindeparlament. 1931 habe die Volkspartei gerade einmal 3 von 48 Sitzen erlangt. Er weist die Wähler darauf hin, dass auf der aktuellen Wahlliste bis auf jene der Volkspartei alle anderen Parteien mit national und religiös gemischtem Personal antreten: „Dort sind Tschechen, und Tschechoslowaken, sie haben dort Deutsche und Ungarn, zahlreich sind auch Juden. Wie kann ein Slowake in der Hauptstadt sein Heil erwarten von einer solch heterogenen Gesellschaft?“¹⁷ Sidor formuliert davon ausgehend das Ziel, die Stadt zu slowakisieren: Es ist nötig, die Hauptstadt in den slowakischen nationalen Organismus einzubinden, damit sie mit der ganzen Slowakei zusammenlebte, damit in ihren Adern ebensolches gesundes und heißes Blut strömte, wie es in unseren Städten und Gemeinden des Tieflands strömt.¹⁸

Sidor verwendet hier mit Blick auf die ethnische Reinigung, das heißt Homogenisierung der Slowakei, die organische Metapher des Blutes und eines gesunden bzw. kranken Körpers und legitimiert dadurch den Anspruch auf die Slowakizität der Hauptstadt. Bemerkenswert daran ist, dass hier die historisch-philologische Argumentation von einer biologischen abgelöst wurde. Ein entscheidender Unterschied zwischen diesen beiden Argumentationsweisen ist der, dass erstere spezifischer ist, da sie sich durch reale oder fiktive historische Ereignisse und Orte auf eine konkrete Nation bezieht, wohingegen die biologisch-organische Argumentation unspezifisch und einfacher verständlich ist. Handlungstheoretisch betrachtet, findet hier eine sprachliche Praxis statt, die aus der Ansammlung von Bewohnern einen einheitlichen Organismus, einen Körper, konstruiert und im Gegenzug dem Sprecher erlaubt, sich als Repräsentant dieser Gruppe von Menschen mit diesem zu indentifizieren, ja ihn sogar zu verkörpern.¹⁹

17 Karol Sidor: Chceme slovenskú Bratislavu! [Wir möchten ein slowakisches Bratislava!], in: Slovák, 20, 132, 10.6.1938, S. 1 [Sú tam Česi, i čechoslováci, máte tam Nemcov i Maďarov, hodne je i Židov. Ako môže Slovák v hlávnom meste očakávaťspásu od takej nejednoliatej spoločnosti?]. 18 [Treba hlavné mesto zapojiť do slovenského národného organizmu, aby ono žilo s celým Slovenskom, aby v jeho žilách prúdila takiste zdravá a horúca krv, aká prúdi po našich vidieckych mestách a obciach.] 19 In diesem Sinne äußert sich Bourdieu über die Effekte und Wirksamkeit von Sprache in Pierre Bourdieu: Die Verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zur Politik & Kultur 1, Hamburg 1997, 2. Aufl. S. 85.

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Die Universität als tschechische Bastion Die 1919 in Bratislava gegründete Universität war nicht ursprünglich aus tschechoslowakischer Initiative entstanden. Vielmehr ging sie noch auf die ungarischen Bemühungen zurück, eine dritte Universität neben jenen in Budapest und Klausenburg einzurichten. Die Gründung der Elisabeth-Universität in Poszony wurde per Gesetz 1912 beschlossen. Die juristische Fakultät nahm ihre Tätigkeit 1914/15 auf, die philosophische Fakultät im Sommersemester des Studienjahres 1917/18 und die – noch unvollständige – medizinische Fakultät zu Beginn des Studienjahres 1918/19. Die Universität war als rein magyarische Universität geplant, so war auch kein Lehrstuhl für slowakische Sprache und Literatur vorgesehen. Im Gegensatz dazu existierten von Anfang an welche für die deutsche und französische Sprache. Die philosophische Fakultät wurde im Frühjahr 1919 geschlossen. Die Reste der Elisabeth-Universität wurden in die Neugründung der Universität mit vier Fakultäten – darunter eine nicht realisierte naturwissenschaftliche – eingegliedert.²⁰ Bis zum Ende des Studienjahres 1920/21 konnte allerdings die ungarische juristische Fakultät an der Elisabeth-Universität ihre Studierenden nach den alten ungarischen Bestimmungen bis zum Studienabschluss führen, beziehungsweise mussten die Studierenden das letzte genehmigte Studienjahr in Košice absolvieren. Das hatte allerdings den Vorteil, dass es weiterhin Juristen gab, die sich mit dem ungarischen Recht auskannten, da es in einer Übergangszeit in bestimmten Bereichen noch weiterhin galt.²¹ Die mit dem Namen des tschechischen Pädagogen Jan Comenius neu gegründete Universität war als eine wichtige kulturelle Institution des tschechoslowakischen Staates schwer zu slowakisieren. Ähnlich wie im ersten Jahrzehnt der Republik die Matica slovenská stand sie weitgehend unter staatlicher Kontrolle und war damit ein Ort, an dem eine tschechoslowakische kulturformende und soziale Praxis stattfand. Da die ungarischsprachigen Lehrkräfte der Elisabeth-Universität nicht bereit waren, den von ihnen geforderten Treueeid auf den tschechoslowakischen Staat zu leisten, verließen sie Bratislava und nahmen Bücher und Lehrmaterialien mit, insbesondere der juristischen Fakultät. Sie wurden durch tschechische Lehrer mit tschechischem Lehrmaterial ersetzt. Die Regierung forderte die Prager Karls-

20 Varsik, Branislav: Das Universitätsstudium in der Slowakei vor der Gründung der KomenskýUniversität, in: Branislav Varsik, Július Bartl, Ondrej Dolan, 50 Jahre Komenský-Universität 1919– 1969, Bratislava 1969, S. 7–26. 21 Dolan, Ondrej: Gründung und Entwicklung der Komenský-Universität in der ersten Tschechoslowakischen Republik, in: Branislav Varsik, Július Bartl, Ondrej Dolan, 50 Jahre KomenskýUniversität 1919–1969, Bratislava 1969, S. 27–61; hier S. 36.

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Universität auf, Professoren, Dozenten und Verwaltungskräfte für Bratislava bereitszustellen. Was aber schwierig war, da auch das tschechische Personal knapp war. Denn die Brünner Universität, die Verwaltung des neuen Staates und die Parteien hatten die verfügbaren Fachkräfte bereits absorbiert. So nahmen nach der medizinischen Fakultät (1919) die juristische und die philosophische Fakultät ihre Arbeit erst im Herbst 1921 auf.²² Anfänglich fanden sich unter 22 Professoren nur drei slowakische, darunter der renommierte Literaturhistoriker Jozef Škultéty. Dieser verließ wegen des tschechoslowakischen Profils der Fakultät, das die tschechischen Literaturhistoriker Albert Pražák sowie der Historiker Václav Chaloupecký prägten, die Universität bald wieder. Ein weiterer Slowake war der Agrarier Milan Hodža, der wegen seiner politischen Aktivitäten nicht präsent war. Davon abgesehen war er ein Vertreter der pro-tschechoslowakischen Slowaken in Prag. Besonders Albert Pražák lieferte mit seiner historischen Argumentation, die sich vor allem auf die Zeit vor den slowakischen Kodifzierungen durch Bernolák und Štúr stützte, und damit die Verwandtschaft zwischen tschechischer und slowakischer Kultur betonte, Anlass zu zahlreichen Polemiken während seines zehnjährigen Wirkens von 1921 bis 1931 an der Universität. Die Situation entspannte sich, als der Semiotiker und Strukturalist Jan Mukařovský ihm im Amt folgte. Das wichtigste Publikationsorgan der Forscher an der philosophischen Fakultät war die Zeitschrift Bratislava (1927– 1937). Sie stand für eine tschechisierende Praxis im Feld der Wissenschaft, da ihre Autoren in der Regel Tschechen waren und die wissenschaftlichen Beiträge auf Tschechisch publizierten. Die Šafarík-Gelehrtengesellschaft als deren Herausgeberin war die unmittelbare Konkurrentin der wissenschaftlichen Abteilung bei der Matica slovenská. Obwohl die Gründung der Universität in der Slowakei begrüßt wurde und aus ihr viele kulturelle Akteure hervorgingen, lieferte die Einrichtung zahlreiche Angriffspunkte für die autonomistische Propaganda. Die Universität erhielt, einmal gegründet, ausgesprochen wenig staatliche Förderung, nur 20 bis 25 Prozent des Anteils der tschechischen Hochschulen; die Mittel für eine naturwissenschaftliche Fakultät wurden bis 1937 nicht gesprochen. Zudem bestimmten die tschechischen Professoren Unterrichtssprache und Lehrninhalte. 1938 waren 55 Professoren, das heißt 77,4 % Tschechen, nur 14 (17,7 %) waren Slowaken.²³ Die tschechischen Forscher versuchten, die Theorie von der kulturellen und politischen tschechoslowakischen Nation wissenschaftlich zu belegen und verfügten dabei rein zahlenmäßig über die Deutungshoheit.

22 Dolan 1969, S. 27–61. 23 Letz 2000, S. 163.

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An der ungelösten Sprachenfrage an der Universität entzündete sich der Widerstand der slowakischen Studenten. Die katholische akademische Jugend hatte ihre eigene Organisation und Zeitung, 1933 kam noch die politische, radikal autonomistische Zeitung Nástup hinzu. Die autonomistisch orientierten Akademiker organisierten verschiedene politische Aktionen in der Universität oder in Bratislava. Eine Reihe von solchen Aktionen fand im Herbst 1937 statt. Darin ging es unter dem Schlagwort „In der Slowakei auf Slowakisch“ um die Slowakizität an der Universität, namentlich um die Unterrichtssprache, das Lehrpersonal sowie die Lehr- und Vortragsinhalte, sofern sie sich gegen die slowakische kulturelle Eigenständigkeit richteten. Die nationalistischen Studenten reichten im Oktober ein Memorandum beim Dekan ein, der darauf nicht reagierte. Daraufhin organisierten die Studenten an zwei Tagen Demonstrationszüge durch Bratislavas Straßen, sangen zwei inoffizielle slowakische Hymnen und Jozef Kirschbaum hielt eine Rede.²⁴ Die gemischt-nationale Zusammensetzung der Studierenden hingegen führte nicht zu Protesten unter den nationalistischen Aktivisten an der Universität. Die Slowaken stellten etwa die Hälfte der Studierenden: 1921/22 45,1 %, 1930/31 54,5 %, 1937/38 56,7 %. Davon waren die meisten Slowaken jeweils an der Philosophischen Fakultät eingeschrieben, die wenigsten an der Medizinischen. Der Anteil der tschechischen Studierenden ging in diesen Jahren von 17,7 % auf 14 % zurück.²⁵ Als problematisch wurde aber von vielen Studierenden ausgerechnet der Ansturm polnischer Studierender auf das Medizinstudium betrachtet, nachdem vielen wegen eines eingeführten Numerus clausus das Studium in Polen verwehrt wurde.²⁶ Die Räumlichkeiten an der Universität waren seit jeher knapp und improvisiert. Viele der polnischen Studierenden versuchten zudem, nach dem Abschluss in der Tschechoslowakei zu bleiben und stellten eine zusätzliche Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt dar. Die Universitätsleitung reagierte auf diesen unerwünschten Ansturm der Polen mit einer 200-prozentigen Erhöhung der Studiengebühren für ausländische Studierende.²⁷ Ein Problem bezüglich der Sprache war, dass Vorlesungen laut erstem Universitätsgesetz von 1919 auf Tschechisch oder Slowakisch gehalten werden konnten. Da an der Universität hauptsächlich tschechische Pädagogen lehrten, bewirkte dies die Marginalisierung der slowakischen Sprache. Die Universität war eine ei-

24 Slovenské študentstvo demonštruje [Die slowakische Studentenschaft demonstriert], in: Nástup, 5, 21, 1.11.1937, S. 224. 25 Bystrický, Vysťahovanie 1997, S. 599. 26 Bis 1927 studierten Russen als größte ausländische Gruppe an der medizinischen Fakultät. 1931/32 waren 316, d. h. fast 45 % aller Medizinstudenten an der Komenský-Universität polnischer Herkunft. Vgl. Dolan 1969, S. 54. 27 Dolan 1969, S. 54.

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gentliche Bastion, die das Slowakische auf akademischem Grund als untauglich ablehnte.²⁸ Auf dem Boden der Universität wurde mit der Šafarík-Gelehrtengesellschaft die erste, gegen die Matica slovenská gerichtete, wissenschaftliche Institution gegründet. Das Publikationsmedium der Gesellschaft, in der die Professoren der Universität zusammengeschlossen waren, war die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift Bratislava, in der die Studien nur ausnahmsweise auf Slowakisch, in der Regel aber auf Tschechisch, publiziert wurden. Insofern konnte die Universität nicht als ein Zentrum der slowakischen Kultur bezeichnet werden. Als Antwort darauf reichten die Parlamentarier der HSĽS 1930, 1931 und 1932 Interpellationen im Parlament ein. Doch behielt der Senat seine Widerstände dagegen bei, die tschechischen Professoren darauf zu verpflichten, das Slowakische in der Lehre und Verwaltung zu verwenden.²⁹ Dass sich das Tschechische an der Universität so hartnäckig hielt, hatte auch damit zu tun, dass das Tschechische tatsächlich durch seine Tradition der tschechischen Universität über eine größere Terminologie verfügte, die im Slowakischen erst noch aufgebaut werden musste. Durch die Präsenz und große Zahl tschechischer Professoren sowie des Tschechischen als Haus- und Quasi-Wissenschaftssprache trug die Universität direkt zum tschechoslowakischen Nationsdiskurs bei. Dass sich die nationalistischen Studenten nicht als eine Körperschaft verstanden, die die Anliegen der Studierenden vertrat, zeigte sich vor allem daran, dass sie gleichermaßen in der Universität wie auch außerhalb Aktionen durchführten, zum Beispiel gegen die Aufführung von tschechischen und sowjetischen Autoren und Komponisten, etwa Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ oder Čapeks „Biele nemocnice“. Eine berüchtigte Aktion war außerdem die so genannte Golemiade. Vom 24. bis 27. April 1936 zogen die nationalistischen Studenten mit antisemitischen Parolen und Aktionen durch die Straßen. Sie versuchten die Vorführung des französischen Films „Le Golem“ von Julien Duvivier in einem Kino Bratislavas abzubrechen; in einem zweiten Kino hatten sie damit Erfolg. Unter großem Polizeiaufgebot kam es dabei zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, und zahlreiche Demonstranten blieben einen Tag in Polizeigewahrsam. Nach drei Tagen wurde der Film abgesetzt. Als Grund für die Aktion wurde unter anderem angegeben, der Film habe das christliche Empfinden gestört.³⁰ Die Demonstration habe sich gegen „die jüdisch-freimaurerische Tendenz dieses Filmes“ und „gegen die jüdische Ausbreitung in der Slowakei“ gerichtet.³¹ Im Bericht in der Zeitschrift Nástup verwendet der Autor eine biologische Metapher, die auf ein biologisches 28 Letz 2000, S. 163. 29 Letz 2000, S. 163. 30 Harna/Kamenec 1988, S. 182. 31 Demonštrovali sme. . . [Wir haben demonstriert. . . ], in: Nástup, 4, 9, 1.5.1936, S. 86 f.

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Verständnis der Kategorie „national“ hinweist. Die Rede ist vom „Aussaugen“ der Slowakei durch die Juden. Im Erinnerungsbuch „Svoradov“ führt der nach Kanada emigrierte Autor als Grund für die Proteste explizit nur auf, dass der Film die katholische Kirche und den Glauben verunglimpft habe.³² Ein zusätzliches Motiv dürfte zum einen in der Staats- und Tschechenfeindlichkeit zu suchen sein. Der tschechoslowakische Staat, besonders Masaryk selber, war für seine judenfreundliche Politik bekannt. Kapital wurde stereotyp mit Juden assoziiert, und der Kapitalismus als ein tschechischer Import. Zum anderen kommt hier ein konstitutives Element des slowakischen Nationalismus zum Tragen: die gesprochene Sprache im öffentlichen Raum. Die Klagen über das vielsprachige Bratislava bezogen sich nicht nur auf das Tschechische das eine aktuelle Präsenz nach 1918 erhalten hatte, sondern auch auf die deutsche Sprache und die ungarische, die weiterhin zumindest in Bratislava als Umgangssprache dienten, und gerade von den alteingesessenen deutsch- oder ungarischsprachigen Juden verwendet wurden. In den Tagen der Autonomie, im Herbst 1938, gingen die nationalistischen Studenten wieder auf die Straße und forderten die Umbenennung der Universität in Ľudovít-Štúr-Universität, die Entlassung antislowakisch eingestellter Professoren sowie eine neue Universitätsleitung.³³ Aufgrund der veränderten politischen Situation konnten sie demonstrieren, ohne Sanktionen befürchten zu müssen. Vielmehr wurden tatsächlich zahlreiche Professoren freigestellt, und die Universität wurde in „Slowakische Universität“ umbenannt. Die jungen Radikalen nutzten die sich bietenden Gelegenheiten, um sich als widerständige und tatkräftige Truppen des Autonomismus zu inszenieren. Die Universität bot mit ihrer tschechischen Praxis eine ideale Angriffsfläche dafür. Deutlich wurde, dass die Aktionen sich nicht allein gegen die Universität richteten, sondern gegen die Tschechoslowakisierungspraxis. Eine legale Basis erhielt diese Form der nationalistischen Praxis an der Universität in der Autonomiephase, als die Beteiligten sich in der akademischen Hlinka-Garde organisierten und in der Folge ein wichtiges Instrument im slowakischen Staat wurden.

6.2 Resistentes Nationaltheater Abgesehen von der Universität zeigte sich das Ringen um die Hoheit des Slowakischen im öffentlichen Raum nirgends so deutlich wie am Slowakischen Nationaltheater. Das lag nicht nur daran, dass Nationaltheater per se nationalkulturelle 32 Svoradovčan 1984, S. 254 f. 33 Bartl, Július: Die Universität in den Jahren 1938–1945, in: Branislav Varsik, Július Bartl, Ondrej Dolan, 50 Jahre Komenský-Universität 1919–1969, Bratislava 1969, S. 62–74; hier S. 62.

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Prestigeobjekte sind. Vor allem aber kam ihm solche Bedeutung zu, weil hier die slowakische Sprache live hörbar wurde. Im Prinzip gab das Theater dem zunehmend physisch vorgestellten „Volkskörper“ seine Stimme. So erklärt sich auch die Vehemenz, mit der einer der wichtigsten autonomistischen Exponenten, Karol Sidor, sich auf den Seiten der Volksparteizeitung Slovák für die Slowakisierung des Theaters stark machte. Parallel zur Sprachfrage entzündeten sich seit der Eröffnung am 1. März 1920 fortlaufend heftige Debatten über das künstlerische und finanzielle Management. Aus politischen Erwägungen wurde das Nationaltheater im neuen administrativen und ökonomischen Zentrum der Slowakei, Bratislava, eingerichtet, obgleich nach der nationalen Tradition sich auch Martin angeboten hätte. Für Bratislava sprach allerdings, dass dort bereits das Gebäude des städtischen Theaters stand, das sich als Aufführungsort bis dahin die ungarische und die deutsche Theatergesellschaft geteilt hatten. Die Aufsicht über das Slowakische Nationaltheater lag bei der Gründungsgesellschaft unter Vorsitz des Slowakeiministers Vávro Šrobár. Die Subventionen und Einnahmen waren zu gering, um den Theaterbetrieb zu konsolidieren. Hier ist jedoch anzumerken, dass im Jahr 1922 das Slowakische Nationaltheater mit 1 585 000 Kronen mehr Subventionen erhielt als das Prager Theater mit 1 200 000 Kronen.³⁴ Allerdings benötigte ein neues Theater auch eine stärkere Finanzierung als ein bestehendes Haus. Das Haus befand sich im Besitz der Stadt Bratislava, das Theater als Spielstätte unterstand zuerst dem Slowakeiministerium, dann dem Bildungsministerium. Zusätzlich zu dieser Aufsichtsbehörde gab es die Theatergenossenschaft und einen Intendanten, die für die künstlerische und ökonomische Leitung zuständig waren. Zu dieser Gemengelage kamen auch noch die diversen nationalen bzw. ethnokulturellen Interessen. Eine Besonderheit des Nationaltheaters in Bratislava war nämlich, dass sich die ansässigen nationalen Gruppen die Spielzeit untereinander teilten. Von August bis April dauerte die tschechoslowakische Saison, die Sommermonate teilten sich ein deutsch- und ein ungarischsprachiges Ensemble. Während dieser Zeit ging das tschechoslowakische Theater auf Tournee in der slowakischen Provinz. In seiner Amtszeit als Dramaturg machte Tido Gašpar Werbung für die Tournee mittels Rhetorik im Sinne eines kulturellen Evangeliums: „Slowakische Städte, öffnet eure Tore, es kommt, es kommt – ein Gast! Es kommt zu euch das Wort, das lebendige, klingende, sprechende Wort! Das Slowakische Nationaltheater bringt euch sein größtes Heiligtum. Gezwungen, sein Bratislavaer Zelt den Ungarn und Deutschen zu überlassen, flieht es zu euch. Euch nähern sich die

34 Ročenka Československé Republiku 1922 [Jahrbuch der Tschechoslowakischen Republik 1922], S. 150.

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unermüdlichen Kämpfer der Kultur und Interpreten des schönen Wortes, – unsere prächtigen Schauspieler.“³⁵ Anfänglich wurde die Bühne von der Theatergenossenschaft verwaltet, doch deren finanzielle Mittel und Einfluss schwanden bald. Als Lösung betrachtete das zuständige Ministerium, das Theater zu privatisieren und wie ein Unternehmen führen zu lassen. Als dem Theater mit 5 Millionen Kronen Defizit der Bankrott³⁶ drohte, wurde die Leitung 1923 dem tschechischen Unternehmer und Intendanten Oskar Nedbal überlassen. Das wirkte sich unmittelbar auf den Spielplan aus, denn ein großer Teil der Einnahmen musste durch die Eintrittskarten gedeckt werden. Der künstlerische Anspruch wurde in den Hintergrund gedrängt, und von einer nationalen Mission konnte schon gar nicht die Rede sein. Aufgrund der Kommerzialisierung und des mangelnden künstlerischen Anspruchs verließen einige der ohnehin wenigen slowakischen Künstler das Theater. Infolge der Wirtschaftskrise und des schlechteren Geschäftsganges des Theaters wurde vom zuständigen Ministerium 1932 ein neuer Leiter, der Unternehmer und Exponent der sozialdemokratischen Partei Antonín Drašar verpflichtet. Er behielt die Teilung in ein tschechisches und eine slowakisches Ensemble bei. Das 16-köpfige slowakische Ensemble wurde unter Leitung des slowakischen Schauspielers und Regisseurs Janko Borodáč gestellt. Das Ensemble teilte sich aber weiterhin die Bühne mit dem tschechischen Ensemble sowie mit dem Ballett und der Oper. Zudem gingen sie in den Sommermonaten auf zweimonatige Tourneen in die Provinz, wo die Bühnen bis anhin mit ungarischen Operetten³⁷ bespielt wurden oder das gut ausgebaute Amateurtheaternetz der Matica slovenská spielte. Die slowakische Sparte am Theater begann sich unter Borodáčs Leitung jedenfalls zu konsolidieren. Das Theater genoss tatsächlich wenig Autonomie, es war vielmehr ein Ort, an dem verschiedene nationale, kulturelle und wirtschaftliche Interessen aufeinandertrafen und unter einen Hut gebracht werden sollten. So versuchten die Ministerien, die Spielzeit der deutsch- und ungarischsprachigen Ensembles zu kürzen³⁸, was aber aufgrund des Minderheitenschutzes nicht ohne weiteres möglich war.

35 Tido J. Gašpar: Otvorte brány, ide hosť [Öffnet die Tore, es kommt ein Gast], in: Národnie noviny, 58, 52, 4.5.1927, S. 1 [Slovenské mestá, otvorte svoje brány, ide, ide – hosť! Ide k vám Slovo, živé, zunivé, hovorné Slovo! Slovenské Národné Divadlo, táto jeho popredná svätica, vám ho nesie. Nútená prepustiť svoj bratislavský stán Maďarom a Nemcom, k vám sa utieka. K vám sa blížia neúnavní bojovníci kultúry a interpretátori krásneho Slova,– statní naši herci.]. 36 Magdolenová 1986, S. 370. 37 Harna/Kamenec 1988, S. 131 f. 38 Sidor, Karol: Divadelné sezony v Bratislave [Theatersaisons in Bratislava], in: Slovák, 7, 65, 20.3.1926, S. 4.

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Gleichzeitig protestierten die slowakischen Nationalisten gegen die tschechische Dominanz im Ensemble, bei der Stückauswahl und in der Aufführungssprache. Und über die Subventionen konnte der Staat starken Einfluss auf die nationale Ausrichtung des Theaters nehmen. Gerade die Strategie der Privatisierung verhinderte, dass das Theater mehr gesamtnationales Gewicht bekam und stärker slowakisch ausgerichtet wurde. Im Gegensatz dazu wurde das Tschechische Nationaltheater in Prag verstaatlicht und somit marktunabhängig geführt.

Slowakizität Der Vatra-Gründer und Slovák-Redaktor Karol Sidor engagierte sich stark für die Slowakisierung des kulturellen Lebens in der Slowakei. Er versuchte, korrigierend in die tschechoslowakische Kulturpolitik einzugreifen: durch Aufrufe zu Protesten oder Spenden, durch Kritiken und Berichte über die Tätigkeit der kulturpolitischen Ämter. Er übernahm nach Möglichkeit auch selber kulturpolitische Funktionen. 1924 konnte er zwar die Funktion des Sekretärs der Slowakischen Künstlergesellschaft SSU übernehmen, in der Theatergesellschaft gelang es ihm jedoch nicht, Fuß zu fassen³⁹. So versuchte er, einen nationalistischen Diskurs über die Slowakizität des Slowakischen Nationaltheaters auf publizistische Weise zu führen. Welch große Bedeutung die Nationalisten den Vorgängen am Nationaltheater beimaßen, spiegelte sich in der häufigen Platzierung von Artikeln auf der Frontseite des Slovák. Dafür gab es allerdings auch einen praktischen Grund: Die Theaternachrichten waren unverfänglicher als politische Kommentare, weshalb sie anstelle zensierter Artikel erscheinen konnten. Am 3. Juni 1923 reagierte Karol Sidor im Artikel „Für unser Theater“ auf den Handwechsel des Theaters von der Theatergenossenschaft zum tschechischen Unternehmer Oskar Nedbal. Er betrachtete den Wechsel angesichts der staatlichen Subventionen als wirtschaftlich unplausibel. Sidors Empörung galt dem Umgang mit dem Theater, der keine Rücksicht auf dessen nationale Bedeutung nahm. Das Nationaltheater war für ihn eine „heilige und unantastbare Sache der gesamten Nation“⁴⁰ und „der Altar der Kirche der slowakischen Kunst“⁴¹. Ihm ging es dabei „um die Slowakizität und Nationalität, mit einem Wort um den energischen Ausdruck und die Betonung dessen, dass wir ein Theater haben, das wirklich slowakisch

39 Sidor, Karol: Veci umelecké [Künstlerische Angelegenheiten], in: Slovák, 8, 155, 15.7.1926, S. 1. 40 Slovák, 5, 122, 3.6.1923, S. 1. 41 Slovák, 6, 15, 18.1.1924, S. 2.

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und national ist!“⁴² Das Theater ist nach Sidors Ansicht in der nationalen Religion der heiligste Ort, denn auf dem Alter in der Kirche werden die nationsstiftenden Opfer ausgeführt. Die Realität sah jedoch anders aus. Das Theater ließ sich in der Zwischenkriegszeit nicht für die Sache der Nationalisten instrumentalisieren. Es war fest in tschechoslowakischer Hand. Sidor wusste, dass eine slowakische Theatertradition bis dahin fehlte, an die die Nationalisten hätten anknüpfen können. Eine funktionierende Symbol- und Bildtradition bot hingegen die katholische Kirche mit ihrer Ikonographie. Aus diesem Grunde knüpfte er, rhetorisch an die Religion an, um den Menschen die Bedeutung des Theaters für die Nation zu vermitteln. Die Aufführungen wurden von Anfang an bis zu zwei Dritteln in tschechischer Sprache und mangels slowakischer Künstler auch in tschechischer Besetzung dargeboten. Die erste Saison eröffnete eine tschechische Oper von Bedřich Smetana. Auch weiterhin wurde vor allem ein bereits zuvor einstudiertes Repertoire aus tschechischen Klassikern dem Publikum in Bratislava dargeboten. In der Saison 1920/21 beispielsweise wurden neben zwanzig tschechischen Stücken nur drei slowakische gespielt, und zwar „Hana“ von Martin Rázus, „Z otroctva vekov“ [Von jahrhundertelanger Sklaverei] von Minister Šrobár und von Socháň „Sedliacká nevesta“ [Die Bauernbraut].⁴³ Die Programmierung kann als Indikator für die Slowakizität der Stadt Bratislava angesehen werden. Es wurden wenige slowakische Stücke gespielt und nur wenige auf Slowakisch. Die dominierende Sprache im Sprechtheater und in der Oper war Tschechisch. Das Tschechische kam nicht zuletzt dem Publikum entgegen, das sich vor allem aus der neuen tschechischen Beamtenschicht zusammensetzte. Die slowakischen Aufführungen waren schlecht besucht. Das üblicherweise tschechische Publikum hatte offenbar kein Interesse an slowakischen Vorstellungen, und im potenziellen slowakischen Publikum hatte sich die bürgerliche Oberschichtsgewohnheit von Theaterbesuchen noch nicht verbreitet. Das Nationaltheater war außerdem der privilegierte Ort – neben dem sich verbreitenden Radio –, wo das Slowakische in der Öffentlichkeit zu Gehör hätte gebracht werden können. Ausgelöst durch den Artikel „Für unser Theater“ kam es

42 Slovák, 5, 122, 3.6.1923, S. 1 [Za naše divadlo] [. . . ide hlavne. . . o slovenskosť o národnosť, slovom, o energické výrazenie a zdôrazenie toho, že čo máme divadlo, je naozaj Slovenské a Národné!]. 43 Magdolenová, Anna: Slovenské divadelné umenie v podmienkach kultúrnej politiky československého štátu (1918–1938) [Das slowakische Theater unter den Bedingungen der Kulturpolitik des tschechoslowakischen Staates (1918–1938)], in: Historický časopis, 34, 3, 1986, S. 362–384; hier S. 367.

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zu einer Polemik⁴⁴ zwischen Sidor und der Tageszeitung der Agrarier, Slovenský Denník. Sidor verteidigt darin sein Konzept von konsequent slowakisch aufgeführten, slowakischen wie auch übersetzten Stücken. Er begründet dies mit dem Verweis, dass jede Nation das Recht auf ein Theater in der eigenen Sprache habe. Allerdings erklärt er nicht, worauf dieses Recht beruhe. Sidor wollte insbesondere erreichen, dass auch tschechische Stücke ins Slowakische übersetzt würden. Dabei argumentiert er mit einem Vergleich zwischen der tschecho-slowakischen und der polnisch-russischen Situation. Die Polen würden auch gut Russisch verstehen, dennoch würde auf ihren Bühnen auf Polnisch gespielt. Hier wandelt Sidor argumentativ die Idee der slawischen Wechselseitigkeit ab, wobei er eine besondere Nähe zwischen slowakischer und tschechischer Nation, wie sie argumentativ von den Tschechoslowaken betont wurde, bestreitet, indem er beide Nationen in eine Reihe mit anderen slawischen Nationen stellt. In Sidors Augen sollte das Nationaltheater mittels Bildung in slowakischer Sprache und Bühnenliteratur der slowakischen Nation dienen: „Würde man im Bratislavaer Theater auf Slowakisch spielen, weckte das sicher großes Interesse am Theater auch bei den kleinen slowakischen Leuten. Und gewiss erhielten auch die slowakischen Schriftsteller einen wohltuenden Impuls zum Schreiben guter slowakischer Stücke.“⁴⁵ Beide Hoffnungen erfüllten sich kaum. Die Besucherzahlen der wenigen slowakischen Aufführungen waren stets niedrig, und auch die Produktion slowakischer Stücke kam nur langsam in Gang. Sidor versuchte sich selber im Schreiben eines slowakischen Stücks⁴⁶, das allerdings eher Laientheater ansprach. Als im August 1924 das erste zeitgenössische slowakische Stück in jenem Jahr im Nationaltheater und zudem noch auf Slowakisch aufgeführt wurde, beklagte sich Sidor über das fast leere Theater. Das Parterre war praktisch ohne Zuschauer, einige fanden sich auf den oberen, billigeren Rängen.⁴⁷ Der Intendant Oskar Nedbal verfolgte in seiner Amtszeit eine unternehmerische und künstlerische Linie, in der er wenig auf die Entwicklung eines slowakischen Ensembles, Repertoires oder der slowakischen Bühnensprache gab. 1922 bis 1924 fanden gerade noch ein bis zwei slowakische Premieren pro Saison statt. Für ihn war es wichtig, dass er weiterhin das angestammte ungarische und deutsche

44 „Slowakisch auf die Bühne!“ [Slovenčinu na javisko!], in: Slovák 5, 135, 17.6.1923, S. 3. 45 „Slowakisch auf die Bühne!“, in: Slovák 5, 135, 17.6.1923, S. 3 [Slovenčinu na javisko!] [Keďby sa slovensky hralo v divadle bratislavskom, istotne by sa zobudil velký záujem i u drobného ľudu slovenského o divadlo. A istotne by dostali blahodarný impulz i spisovatelia slovenskí na napísanie slovenských dobrých hier.]. 46 Sidor, Karol: Kysuca. Divadelná hra v 3 dejstvách. 2 opr. vyd. [Kysuca. Theaterstück in drei Handlungen. 2. überarb. Aufl.], Ružomberok 1923. 47 Slováci, kde ste? [Slowaken, wo seid ihr?], in: Slovák, 6, 195a, 27.8.1924, S. 1.

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Publikum in Bratislava bediente sowie ein Repertoire pflegte, mit dem er auch auf Auslandstourneen gehen konnte. Er begann erst etwas einzulenken, als die Führung des Theaters Gegenstand der politischen Auseinandersetzungen zwischen den zentralistischen Parteien und der nationalistischen Opposition in der Slowakei wurde. Er stellte wieder slowakische Schauspieler ein, erweiterte das slowakische Repertoire etwas. Auch Tido Gašpar als erster slowakischer Dramaturg sorgte von 1925 bis 1927 für mehr Aufführungen slowakischer Stücke bzw. Übersetzungen. Sidor beobachtete und kommentierte Gašpars Tätigkeit sehr zurückhaltend, hielt er diesen doch für einen „Salon-Autonomisten“. Denn Gašpar war als Pressereferent im Slowakeiministerium, später der Provinzverwaltung, sicher kein oppositioneller Nationalist, zumal er auch noch für das Blatt der zentralistischen katholischen Volkspartei schrieb. Jedoch hielt Sidor Gašpar zugute, dass er sich literarisch noch nie für den Tschechoslowakismus exponiert hatte.⁴⁸ Bei aller Polemik, vor allem auf den Seiten des Slovák, blieb doch ein Grundproblem bestehen: Trotz ausgeschriebener Wettbewerbe mangelte es an aktuellen slowakischen Stücken von hoher Qualität. In diesem Sinne äußerte sich noch 1929 der erste slowakische Regisseur am Nationaltheater Janko Borodáč in einem Artikel in den Národnie noviny. Unter der ungarischen Herrschaft habe selbst das Theater in der Provinz floriert, da der ungarische Staat um den propagandistischen Nutzen des Theaters wusste. 1918 sei alles zum Erliegen gekommen und nun, so sinngemäß, fehlte die breite Basis, die nötige Literatur und hochstehende Schauspielkunst, auf der sich ein hochstehendes Theater von nationaler Bedeutung entwickeln könne. An der nationalen Überzeugung Borodáčs mangelte es zumindest nicht. Für die vordringlichste Aufgabe eines jeden Nationaltheaters hielt er, „in der Theaterform – szenisch – vor Augen und Ohren des Publikums die nationale Seele, nationale Charakterzüge und vor allem die nationale Schönheit zu verkörpern und darzustellen“.⁴⁹

Politische Dimension Der politischen Dimension des Nationaltheater-Diskurses war sich Sidor durchaus bewusst, auch wenn er sich für eine autonome Kunst aussprach. Unter der Überschrift „Nationale Politik und das ,Slow. Nationaltheater‘“⁵⁰ reflektiert er die

48 Karol Sidor: Naši spisovatelia III [Unsere Schriftsteller III.], in: Slovák, 8, 6, 9.1.1926, S. 5. 49 Janko Borodáč: Problém slovenského divadelníctva [Das Problem des slowakischen Theaters], in: Národnie noviny, 60, 1, 1.1.1929, S. 11 f. [. . . vo forme divadelnej – scenickej – ztelesniť a predstaviť pred zrak a sluch obecenstva národnú dušu, národné črty, ale hlavne národnú krású.]. 50 Slovák, 5, 141, 24.6.1923, S. 1 [Národná politika a „Slov. Národné Divadlo“]

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politischen Linien, an deren Schnittstelle sich das Slowakische Nationaltheater positionierte. Er setzt das Nationaltheater in Anführungszeichen, um dessen Slowakizität anzuzweifeln, und verwahrt sich gegen die Vermischung von Politik und Kultur. Eine gute nationale Politik müsse die Rahmenbedingungen für Wissenschaft, Literatur und Kunst schaffen, ohne diese aber für ihre eigenen Zwecke einzuspannen. Einzig und allein die Tschechoslowaken würden die Kultur instrumentalisieren. Im Gegensatz dazu arbeiteten die Autonomisten angeblich ohne ideologische Einflüsse: Jedoch unter den autonomistischen, auf dem Grund des Slowakisch-Nationalen stehenden Wissenschaftlern, Schriftstellern und Künstlern fände sich nicht einer, der etwas täte, was den kulturellen Bemühungen der Tschechoslowaken entspräche. Hier und dort eine kleine Novelle, ein dramatisches Werk mit offensichtlicher Tendenz, aber niemals nach einem verabredeten Programm. Wir haben an slowakischer Ehrlichkeit und Anständigkeit noch einen reichen Schatz in uns, und unser Herz, Verstand und unsere Seele erlauben uns nicht, Wissenschaft, Kunst und Literatur mit einer bestimmten politischen Färbung zu machen. Wir sind für ein ganzes Volk schöpferisch tätig, bis es wirklich bewusst slowakisch ist.⁵¹

Als Hindernis der Slowakisierung ortete Sidor bereits den Gründungskontext des Theaters, wurde die Theatergenossenschaft seinerzeit doch von Vertretern der republikanischen Agrarpartei und der Sozialdemokraten gegründet. Sidor wäre auch gern Mitglied geworden, doch hatte eine Mehrheit das verhindert, da sie nicht mit Sidor zusammenarbeiten wollte.⁵² Wegen mangelnder Finanzierung rief die Theatergesellschaft zum Spenden auf. Sidor mutmaßt, dass allein schon die Bennennung des Fonds nach dem reformierten tschechischen Schriftsteller Jirásek die Slowaken abschreckte und ihnen die Augen dafür öffnete, dass das Theater in tschechoslowakischen Diensten stehe. So sei nicht genug Geld zusammengekommen und das Theater an einen tschechischen Unternehmer veräußert worden. Sidor nutzt, um seine Kritik zu verstärken, eine pathologische Metaphorik⁵³, der die Annahme einer reinen, gesunden Slowakizität zugrunde liegt: Am Theater

51 Slovák, 5, 141, 24.6.1923, S. 1 [No jednako, z autonomistických, na podklade slovensko-národnom stojacích vedátorov, spisovatľov a umeľcov nenašiel sa ani jeden, ktorý by bol urobil niečo takého, čo by bolo vyvážilo kultúrne úsilie Čechoslovakov. Kde-tu novielka, dramatické dielo so zrejmou tendenciou, ale nikdy nie podľa ushovoreného programu. My tej slovenskej poctivosti a statočnosti máme hodnú ešte zásobu v sebe a srdce naše, duša naša i um nám nedovolia tvoriť vedu, umenie a literatúru v určitom politickom zafarbení. Tvoríme pre národ celý, pokiaľ je naozaj uvedomele slovenským.]. 52 Okolo Družstva S.N.D. [Über die Gesellschaft des Slowakischen Nationaltheaters], in: Slovák, 6, 260, 16.11.1924, S. 3. 53 So auch im Artikel „Reč je zase o divadle“ [Die Rede ist wieder vom Theater], Slovák, 6, 27, 1.2.1924, worin er als Pflicht der Autonomisten bezeichnet, „alles möglich zu unternehmen,

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könne man alle Krankheiten und Bazillen feststellen, die durch die angebliche Hilfe der Regierung entstanden waren. Der „Bazillus des kulturellen Tschechoslowakismus“ könne nur in einer Ära der Freiheit und einer amtlich unterstützten Entwicklung von allem was slowakisch ist, beseitigt werden. Das Gegengift für die politische Vergiftung der Kunst könne wiederum nur Politik sein. Und hier bringt Sidor seine Partei ins Spiel: Sie sei als Trägerin des politischen Slowakismus die einzige, die die ruhige und rasche Entwicklung der slowakischen Wissenschaften, Kunst und Literatur verteidigen und den durch die Tschechoslowaken geknüpften kulturellen gordischen Knoten auftrennen könne. Gegen den kulturellen Tschechoslowakismus muss sich ein unabhängiger kultureller Slowakismus stellen und da unterdessen die Kultur bei uns unglücklicherweise bereits mit der Politik vermischt ist, müssen wir gleichzeitig gegen den politischen Tschechoslowakismus unausweichlich den politischen Slowakismus stellen.⁵⁴

Sidor erklärt weiter, im Nationaltheater würde erst dann slowakisch gesprochen werden, wenn die Slowakei von Slowaken verwaltet würde, von einer ehrlichen slowakischen autonomen Regierung und wenn alle kulturellen nationalen Dinge ausschließlich von Slowaken abhängen würden. Anlässlich der tschechischsprachigen Aufführung eines Stücks über den tschechischen Nationalhelden Žižka organisierten die jungen Akademiker, darunter auch Sidor, eine Demonstration vor dem Theater. Bereits nach der ersten Aufführung hatte Sidor um die Absetzung des Stückes gebeten, worauf der künstlerische Direktor es lediglich verschoben hatte. Typisch für einen Populisten betont Sidor im Zeitungsbericht sein angeblich politikfernes und damit nicht interessenabhängiges Eingreifen. „In kulturellen gesamtnationalen Dingen kannten wir keine, kennen wir keine und werden wir keine volksparteiliche Politik kennen.“⁵⁵ Es sei vielmehr stets um das politisch uneinheitliche Volk gegangen sowie darum, dem slowakischen Nationaltheater auf die Beine zu helfen.

damit das tschechische Theater als ein widerliches Übel so bald wie möglich aus dem gesunden slowakischen Körper herausgeschnitten werde“. 54 Slovák 5, 141, 24.6.1923, S. 1 [Proti kultúrnemu čechoslovakizmu má sa postaviť neodvislý kultúrny slovakizmus a poneváč u nás kultúra je nešťastným spôsobom už smiešaná s politikou, súčasne oproti politickému čechoslovakizmu musíme nevyhnuteľne postaviť politický slovakizmus.]. 55 Sidor, Karol: O divadelnej demonštrácii [Über die Theaterdemonstration], in: Slovák, 6, 241, 23.11.1924, S. 3 [V kultúrnych všenárodných veciach neznali sme, neznáme a nebudeme snať nijakej ľudáckej politiky.].

6.2 Resistentes Nationaltheater |

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Die Kritik und Proteste der Nationalisten⁵⁶ ließen nicht nach, obgleich sich die Situation mit der Erhöhung des slowakischen Anteils am Theaterbetrieb etwas gebessert hatte. Stein des Anstoßes blieb, dass das tschechische Schauspiel, die Oper und das Ballett weiterhin bestanden. Bereits 1929 machte der HSĽS-Abgeordnete Jozef Sivák⁵⁷ das Prager Parlament auf die Missstände um das Nationaltheater aufmerksam und forderte dessen Verstaatlichung. Auch Kulturorganisationen wie die Matica slovenská und die Slovenská liga befassten sich ernsthaft mit den Problemen des SND. 1930 entschied die Liga, sich der finanziellen Sorgen des Theaters zugunsten einer verbesserten Programmierung anzunehmen. Sie kaufte teilweise Eintrittskarten auf und gab sie mit 20 % Rabatt an ihre Mitglieder weiter. Anfang 1933 organisierte sie eine Podiumsveranstaltung und ein Seminar, an denen hochrangige Vertreter der staatlichen Verwaltung teilnahmen. Diskutiert wurde dabei die Frage, ob das Slowakische Nationaltheater seine kulturelle und nationale Mission erfülle. Die Anwesenden forderten, dass das Operettenrepertoire eingeschränkt, das Programm slowakisiert werden müsse, und sie stellten fest, dass nur die Verstaatlichung des Theaters aus der tiefen Krise führen könne.⁵⁸ Die Liga richtete kurz darauf einen eigenen Ausschuss für Theaterfragen ein. Die Situation um das Theater eskalierte jedoch schließlich, als der Leiter des Hauses, Antonín Drašar, im April 1933 eine ungarische Operette programmierte und dazu noch eine ungarische Besetzung aufbot. Eine Gruppe autonomistischer Studenten im Publikum störte die Aufführung, so dass diese abgebrochen werden musste. Prag hatte an seiner Strategie, die Slowaken nicht als eine unabhängige Nation stark werden zu lassen, konsequent auch in der Behandlung des Slowakischen Nationaltheaters festgehalten. Aus der Geschichte des eigenen nationalen Kampfes wussten die Tschechen sehr wohl, welch große symbolische Kraft ein kultureller Leuchtturm wie ein Nationaltheater in der Nationalsprache für eine nach Unabhängigkeit strebende Nation hatte. Als perfides Instrument konnte die Zentralregierung einfach die Marktkräfte spielen lassen und sich der Verstaatlichung des Theaters verweigern, und das obwohl sie das Tschechische Nationaltheater 1930 verstaatlicht hatte. Im Falle der staatlichen Verwaltung hätte auch ein nationaler Auftrag formuliert und durchgesetzt werden müssen. Diese Strategie rächte sich insofern,

56 Auch die kommunistischen Intellektuellen um die Literaturzeitschrift DAV kritisierten die Zustände am SND. Mit der Forderung nach Verstaatlichung und der Verminderung des tschechischen Einflusses auf das slowakische Theater und die slowakische Kultur vertraten Kommunisten und Nationalisten in den Dreißigerjahren dieselben Positionen. Vgl. zur Haltung der Kommunisten Magdolenová 1986, S. 376. 57 Sivák übte im slowakischen Staat die Funktion des Bildungsministers aus. 58 Letz 2000, S. 186.

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als das Theater, einmal mehr auf dem vordergründig ethnisierten Sprachenkonflikt basierend, autonomistisches Mobilisierungspotenzial bereithielt. Ausgerechnet im Jahr 1932 begann dann das künstlerische Ensemble offiziell nach ethnisch-kulturellen Gesichtspunkten getrennt zu arbeiten. Für die Öffentlichkeit war dies gut wahrnehmbar eine Zäsur, analog zur nationalistischen Wende in der Matica slovenská anlässlich der Rechtschreibreform im selben Jahr. Auf der anderen Seite zeigten die Marktkräfte sehr deutlich und für die Nationalisten enttäuschend, dass es in der multiethnischen Hauptstadt Bratislava, wo Tschechen einen wesentlichen Teil der neuen Oberschicht bildeten, noch kaum Bedarf an einem rein slowakischen Theater gab. In der slowakischen Gesellschaft, die sich noch im Prozess der Verbürgerlichung befand, waren Theaterbesuche als Teil der Schichtidentität zu wenig etabliert. Es erstaunt also nicht, dass trotz aller Agitation der slowakischen Nationalisten das Nationaltheater vorerst nicht nationalisiert werden konnte. Den Ärger darüber teilten auch weitere Kreise der slowakischen Intellektuellen, was sie am Schriftstellerkongress 1936 zur Sprache brachten. Eine grundsätzliche Neuausrichtung brachte erst die Phase der politischen Autonomie im Jahr 1938. Der amtierende Leiter Drašár wurde durch einen Regierungsbeauftragten ersetzt und das Theater schließlich verstaatlicht. 1939 wurde das tschechische Ensemble aufgelöst. Ein Regierungskommissar wachte über die Slowakisierung des Theaters. So wurden mehrere tschechische Stücke auf den Index gesetzt. Zudem musste das Theater durch sein Repertoire den propagandistischen Bedürfnissen des Regimes nach repräsentativen Stücken an Feiertagen entsprechen.⁵⁹ Ján Sedlák wurde vom Bildungsminister als erster offizieller Dramaturg eingesetzt, der aufgrund seines Hintergrundes eine unverfängliche Programmierung garantierte. Mit dem rein slowakischen Ensemble stieg auch das Slowakische zur einzig zugelassenen Sprache am Theater auf.

6.3 Ausschlusspraktiken und Verteilkämpfe Zwei Künstlerverbände Im Zusammenhang mit dem 1926 realisierten Bau eines Hauses für die slowakischen Künstler in Bratislava kam es zu einem Streit zwischen den verschiedenen Organisationen, die sich als Repräsentanten der slowakischen Künstler verstanden. Der tschechoslowakischen Umelecká Beseda [Künstlerisches Gespräch] stand der 59 Baka 2003, S. 282 – Die einst von der Matica slovenská organisierten Amateurtheater gingen mit ihrem Besitz an die Hlinka-Garde über.

6.3 Ausschlusspraktiken und Verteilkämpfe |

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slowakisch-national orientierte Spolok slovenských umelcov [Verein der slowakischen Künstler] gegenüber, in enger Gefolgschaft des Kreises um Vatra. Der Verein der slowakischen Künstler (SSU) wurde als eine der ersten slowakischen KünstlerOrganisationen nach 1918 im September 1919 gegründet. Ihr Sitz befand sich ebenso wie jener der Matica slovenská in Martin. 1923 verlegte die Organisation ihren Sitz nach Bratislava, wo sich zwischenzeitlich die Umelecká Beseda gebildet hatte, die in direkter um die Mitglieder des Künstlerverbands konkurrierte. Zeitgleich mit der Verlegung des Sitzes wurde die Mitgliedschaft in beiden Verbänden verboten, wie bis dahin geduldet. Bei dieser Konkurrenz ging es auch um die Verteilung der knappen Mittel, besonders als der Bau zum des Künstlerhauses geplant wurde. Sidor nutzte seine Funktion beim Slovák, um für den slowakischen Verein zu politisieren. Die Umelecká Beseda bezeichnete er als „tschechische Mehrheit unter slowakischem Namen“⁶⁰. Doch der namhafte slowakische Architekt Dušan Jurkovič und weitere slowakische Künstler Mitglieder der Beseda waren deren Mitglieder, entsprechend titulierte Sidor Jurkovič als tschechisch sprechenden und denkenden Slowaken. Er hielt ihm vor, Aufträge an tschechische Künstler, etwa für das Denkmal des slowakischen Dichters Hviezdoslav, zu vergeben. Der Konflikt um das schließlich für die Umelecká beseda realisierte Künstlerhaus bildete sich entlang der slowakisch-tschechoslowakischen Bruchlinie. Sidor fordert paradoxerweise, dass die Politik aus der Frage um ein gemeinsames Haus für slowakische Künstler herausgehalten werden soll. Gleichzeitig diskutiert er, wer als slowakischer Künstler gelten darf: „Man muss endlich einmal anerkennen, dass es keinen Agrarier-, völkischen, katholischen oder evangelischen Künstler gibt, sondern nur einen slowakischen Künstler, dessen Pflicht es ist, nicht den Kontakt zwischen dem Volk und sich abreißen zu lassen, sondern ihn eifrig zu erhalten.“⁶¹ Den slowakischen Künstler stellt sich Sidor als ein mit dem nationalen Volk symbiotisches Wesen vor. Die Vergabe von Aufträgen für die kostenintensiven Skulpturen hatte existenzielle Bedeutung, denn ohne Auftrag war es nicht möglich, diese zu realisieren. Als ein Auftrag an einen tschechischen Bildhauer ging, ermahnte Sidor die slowakischen Künstler, sich in der slowakischen Standesorganisation zu engagieren, nicht aber in tschechoslowakischen. Er empfiehlt explizit den Spolok Slovenských Umelcov (SSU), da von dessen Mitgliedschaft Ungarn, Juden und Tschechen ausgeschlossen seien, dieser also eine rein slowakische Organisation sei. Im Zusammenhang mit dem Bau des Landeskundlichen Museums in Bratislava war der

60 K jubileu S.S.U. [Zum Jubiläum des SSU], in: Slovák, 6, 187, 17.8.1924, S. 1. 61 Slovák, 5, 259, 28.11.1923, S. 3 [Okolo domu pre slov. umelcov] [Treba už raz uznať, že niet argalášskeho, ľudáckeho, katolíckeho alebo evanjelického umelca ale že je len slovenský umelec, ktorého povinnosťou je nepretrhnúť kontakt medzi ľudom a sebou, ale žiarlive si ho zachovávať.].

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Sieger für einen Skulpturenwettbewerb ein Tscheche, nicht einmal einer, der in einer tschechoslowakischen Organisation in der Slowakei organisiert war, sondern „direkt aus Prag“, wie Sidor betont.⁶² Er sah auf dem Gebiet der Kultur noch großen Handlungsbedarf, da die Künstler die „Krone der Gesellschaft“ bildeten, und nun der Politik nachstehen würden. Für die slowakischen Künstler war es tatsächlich ein Nachteil, sich im slowakischen Künstlerverband zu organisieren, weil der zentralistische Einfluss über die Vergabe der gefragten Architektur- und Kunstaufträge entschied. Wie auch gegenüber den anderen tschechoslowakisch orientierten, staatlichen Kulturinstitutionen in Bratislava gelang es Sidor und seinen Mitstreitern nicht, die Machtverhältnisse grundlegend zu verändern. Die Leistung ihrer medialen Praxis bestand immerhin darin, das Bewusstsein für die Einflussnahme des Zentralstaats in der slowakischen Öffentlichkeit zu wecken. Im Ringen um Einfluss innerhalb des kulturellen Feldes behielt die staatliche, tschechoslowakisierende Praxis die Oberhand.

Symbolische Kulturpolitik Die Provinzregierung stellte ab 1928 die Nachfolgeinstitution des zentralistischen Slowakeiministeriums dar. Sie war kein Zugeständnis an die Forderungen der Slowaken nach einer eigenständigen Verwaltung. Vielmehr wurde die öffentliche Verwaltung im gesamten Land, einschließlich der Karpathenukraine, einheitlich strukturiert. Unterstellt waren die Provinzbehörden dem Innenministerium. Lediglich die Asymetrie des Slowakeiministeriums fiel nun weg. Die Kompetenzen der Provinzverwaltung waren begrenzt, doch nutzte sie ihre Möglichkeiten für eine symbolische Politik. Der tschechoslowakische Staat hatte jährlich Literaturpreise ausgerichtet. Es löste den Unmut der slowakischen Intellektuellen aus, dass die Staatspreise für Literatur überwiegend an tschechische Autoren, gelegentlich an deutschsprachige Autoren, bis auf eine Ausnahme aber nie an slowakische Autoren gingen. Als Reaktion darauf richtete die slowakische Provinzregierung erstmalig 1933 einen eigenen staatlichen Provinzpreis „Štefaníková krajinská cena“ für Literatur aus, benannt nach dem verunglückten tschechoslowakisch orientierten Milan R. Štefaník, und zwar in derselben Höhe dotiert wie der gesamtstaatliche Preis. Von den fünf vergebenen Preisen im ersten Jahr gingen drei an nationalistische Autoren: an Milo Urban, Jozef Cíger Hronský und Konstantín Čulen. Im Jahr 1934 war mit der Auswahl ein kleiner Skandal verbunden.⁶³ So sollten zwei

62 Za jednotu slovenských umelcov [Für die Einheit der slowakischen Künstler], in: Slovák, 7, 154 a, 14.7.1926, S. 1. 63 Krajinské literárne ceny [Provinzpreise für Literatur], in: Nástup 2, 10, 15.5.1934, S. 310 f.

6.3 Ausschlusspraktiken und Verteilkämpfe |

177

der fünf Preise an in der Slowakei lebende Tschechen vergeben werden. Einer davon an den slowakisch schreibenden Peter Jilemnický für seinen Roman „Pole neorané“. Die Jury, die ihr Urteil nach ästhetischen Kriterien zu fällen hatte, wurde vom Provinzausschuss der Provinzregierung bestellt. Der Provinzausschuss hatte aber das Recht, die Entscheidung der künstlerischen Jury zu kippen. Von diesem Recht machte sie Gebrauch und vergab den Preis an den „nationalen“ Autor und Redaktor der Národnie noviny Martin Rázus für dessen pädagogische Erzählung „Maroško“. Nach ästhetischen Kriterien war Jilemnickýs Buch zweifellos bedeutender. Jilemnický war jedoch ein kommunistischer Autor, was bei der Abstimmung im durch verschiedene politische Parteien vertretenen Provinzausschuss zur Ablehnung des Juryentscheids führte – drei Vertreter der Volkspartei, zwei von ungarischen Parteien, einer der Tschechoslowakischen Volkspartei sowie ein tschechischer Sozialdemokrat stimmten für Rázus. Die Stimmvergabe erfolgte sowohl nach politischen als auch ethnischen Kriterien. Mit der Macht der politischen Institution ausgestattet übten die nationalistischen Slowaken eine Praxis des Ausschlusses nach nationalistischen Kriterien aus und gaben dem kulturellen Feld somit eine bestimmte Struktur. Der Vorfall zeigt zum einen die zunehmende Institutionalisierung der slowakischen Literatur auf der staatlichen Ebene. Auf der anderen Seite demonstriert das Ereignis, wie sich allmählich ein separates Feld der Literatur mit eigenen Marktmechanismen – wie sie Literaturpreise darstellen – in der Slowakei zu etablieren begann. Die neu Möglichkeit durch eine staatliche Verwaltungsinstitution wie die Provinzregierung Einfluss auf das Feld der Kultur zu nehmen, nutzten die Nationalisten sogleich indirekt für die politische Machtausübung. Mit dem Štefaník-Preis wurde die Praxis der doppelten Kulturinstitutionen in der Tschechoslowakischen Republik gestärkt, was stets eine Schwächung der zentralistischen Nationalisierungspraxis bedeutete.

Spontane Solidarität und verdeckte Differenzen Neben der langfristigen Arbeit in Institutionen waren spontane Ereignisse geeignet, ein intensives Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen. Je spontaner die Ereignisse, desto weniger differenzierte sich die Teilnahme nach verschiedenen politischen oder ideologischen Hintergründen. Besonders der Beginn der Dreißigerjahre war durch kurzfristig einberaumte Ereignisse wie Kundgebungen, Streiks und Manifestationen geprägt. Missstände und soziale Not im Land wurden 1931 noch durch eine Dürre und Missernte besonders in den agrarischen Regionen der ČSR verstärkt. So streikten die Landarbeiter in verschiedenen Gegenden des Landes, und die Staatsgewalt ging hart gegen sie vor.

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Einen Anlass für die politische Radikalisierung in dieser Zeit lieferte die blutige Niederschlagung eines Streiks von Landarbeitern in Košuty 1931.⁶⁴ Mit den Streikenden solidarisierten sich 34 Kulturschaffende in einem Manifest, das von der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei organisiert wurde, worunter sich aber auch Schriftsteller rechter politischer Provenienz wie Milo Urban⁶⁵ befanden. Das Manifest richtete sich gegen das brutale Vorgehen der Staatsgewalt, bei dem mehrere Streikende erschossen wurden. Harna/Kamenec bezeichnen das Manifest als eines von engagierten Künstlern und meinen damit von sozial und politisch links eingestellten Künstlern. Doch wurde zum einen gerade dieses Manifest von autonomistischen Nationalisten gegen den Staat gewendet; zum anderen ist es nur einer von vielen Beweisen, dass das die soziale Thematik eben nicht von den Sozialisten gepachtet war, sondern stark auch von den Autonomisten und anderen Nationalisten beansprucht wurde. Solche spontanen Solidaritätsbekundungen waren weniger dazu geeignet, das kulturelle Feld durch eine bestimmte Praxis längerfristig zu strukturieren. Die Empörung gegen die Staatsgewalt ließ sich nachträglich propagandistisch für die Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls der Slowaken in Abgrenzung vom Zentralstaat nutzen. Ein einmaliges, aber doch geplantes und an eine Institution gebundenes Ereignis brachte ebenfalls Intellektuelle verschiedener ideologischer Orientierungen zusammen. Am 1. Juni 1936 führte der Slowakische Schriftstellerverband in Trenčianské Teplice seinen ersten Schriftstellerkongress durch. Der Verband hatte lediglich 52 Mitglieder, es nahmen jedoch 200 Kulturschaffende am Kongress teil. Der Kongress wurde in der tschechoslowakischen Historiographie der Nachkriegszeit gemeinhin als Ereignis dargestellt, an dem die slowakischen Schriftsteller gemeinsam gegen die drohende Gefahr des Faschismus auftraten und ihre Loyalität gegenüber dem tschechoslowakischen Staat bewiesen. Erwähnt wird der Faschismus im Manifest nicht, lediglich „der barbarische Feind“. Und die Loyalitätsbekundung zum tschechoslowakischen Staat wird gleich gewichtet wie jene zur slowakischen Nation. Ihr Engagement stellten die Schriftsteller letztlich in den Dienst des „Wachsens unserer Literatur und Kultur“. Als ihre „historische Mission“ betrachteten sie es, „die slowakische Nation in das globale kulturelle und gesellschaftliche Handeln einzugliedern“ und „auf die Seite des kulturellen Fortschritts der großen Nationen zu stellen.“⁶⁶ Der gemeinsame Nenner, so zeigte der Kongress, bestand unter den slowakischen Schriftstellern unabhängig von ihren politischen

64 Harna/Kamenec 1988, S. 157. 65 Den Streik in Košuty 1931 verarbeitet Urban literarisch in seinem Roman „V osídlach“. Siehe das Kapitel zur Literatur in dieser Studie. 66 Wortlaut des Manifests in: Chmel, Rudolf (Hg.): Kongress slovenských spisovatelľov 1936 [Der Kongress der slowakischen Schriftsteller 1936], Bratislava 1986, S. 111. In seinem verdienstvollen,

6.3 Ausschlusspraktiken und Verteilkämpfe |

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Neigungen in einer von der tschechischen Kultur abgegrenzten, eigenständigen slowakischen Nationalkultur, auch im Rahmen des tschechoslowakischen Staates. Das Kongress-Manifest wurde von den anwesenden Verbandsmitgliedern⁶⁷, 51 an der Zahl, unterzeichnet. Selbst der katholische Dichter Rudolf Dilong setzte seine Unterschrift darunter – der wie einige andere Anwesende später im slowakischen Staat arrivierte, spottete aber, er habe sich wie auf einem sozialistischen Kongress in Moskau gefühlt⁶⁸. Desgleichen sind die anderen namhaften nationalistischen Intellektuellen Valentín Beniak, Tido J. Gašpar, Milo Urban, Emil B. Lukáč, Ján Smrek, Ján Hrušovský, Štefan Gráf, Stanislav Mečiar und Henrich Bartek neben linken und tschechoslowakisch orientierten Autoren mit ihrer Signatur vertreten. Aufschlussreich ist das Zustandekommen des Kongresses, weil sich in dessen Vorfeld bereits die zu diesem Zeitpunkt etablierten weltanschaulichen Verwerfungen abbildeten. Als erster berichtete Michal Chorváth in der kommunistischen Literaturzeitschrift DAV über den Plan des Slowakischen Schriftstellerverbandes, einen Kongress auszurichten. Laut dem Redaktor von Elán, Ján Smrek, hatten aber auch er selbst sowie Jozef Cíger Hronský bereits über solch ein Schriftstellertreffen nachgedacht.⁶⁹ Dabei waren die Umstände von besonderer Bedeutung für die beabsichtigten Zwecke. Smrek nahm zu diesem Zeitpunkt an, der Verband würde die Veranstaltung in Bratislava, also in einer urbanen Umgebung ausrichten. Er und Hronský hatten hingegen etwas weniger Pompöses, vielmehr Beschauliches im Sinne. Hronský war laut Smrek auf einem Treffen von Schriftstellern angesichts der „Festung der Berge, fernab von der Stadt“ [pod hradbami hôr, ďaleko od mesta] auf die Idee gekommen, genau an jenem Ort einen Kongress zu veranstalten. Es sollte für einmal das „Geplapper der Welt“ verstummen, „damit man sich umso tiefer in die symbolische Stimme der heimatlichen Erde einhören und einfühlen könne“⁷⁰. Der Kongress sollte die Schriftsteller mit ihrer Arbeit auf traditionalistische und vor allem kommunitaristische Werte verpflichten: Und dieser Grundsatz war für uns: endlich die slowakischen Schriftsteller zusammenzubekommen, vor allem, damit sich alle persönlich kennenlernen und näherkommen würden, damit sie sich von Angesicht zu Angesicht ihrer Zusammengehörigkeit und ihrer gemeinsa-

aus Zeitungsartikeln zusammengestellten Reader lässt Chmel nur gemäßigte Kritik am tschechoslowakischen Staat und seiner Kultur zu. Das Referat des Nationalisten Stanislav Mečiar etwa fehlt gänzlich. 67 Jozef Cíger Hronský fehlte aufgrund einer Fundraising-Reise in die USA. 68 Harna/Kamenec 1988, S. 193. 69 Smrek, Ján: Kongres spisovateľov? [Ein Schriftstellerkongress?], in: Elán, 6, 1935/36 (Januar 1936), Nr. 5, S. 1. (zit. nach Smrek, Ján: Sme živý národ, 2. Bd., Bratislava 1999, S. 53–55). 70 [. . . aby dávalo možnosť nepočuť „vravu sveta“, ale tým hlbšie započúvať a vcítiť sa do symbolického hlasu rodnej zeme.]

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men Ziele bewusst würden, ungeachtet ihrer ideellen und künstlerischen Verschiedenheit, damit sie untereinander eine ‹entente cordiale›, ein Bündnis der Herzen, erneuerten oder bekräftigten, damit gerade dort, auf jenem neutralen Boden, auf reinem, heimatlichen Boden fern von den Städten, in der Natur, den Gipfeln so nah wie möglich und in ihrer befreienden Atmosphäre die Augen und die Seelen öffneten, um neue Geheimnisse und Inspirationen für ein gesundes künstlerisches Schaffen aufzunehmen.⁷¹

Die beabsichtigte Gemeinschaftsbildung, derart territorial und topographisch begründet, ist bei Smrek ein spätromantischer Reflex. Einen Arbeitskongress lehnte er explizit ab, an dem für die Öffentlichkeit wahrnehmbar womöglich kontroverse Debatten geführt würden, anstatt „die künstlerische Potenz zu mehren und den künstlerischen Instinkt auszurichten“. Die Umsetzung sollte nach der Rückkehr von Hronskýs Werbereise zu den Verbänden der Auslandsslowaken beginnen. Hronský wurde aber von den Organisatoren des Schrifstellerverbandes bei den Vorbereitungen nicht berücksichtigt, da er gerade mehrere Monate in den USA unterwegs war. Zudem wollten die organisierten Schriftsteller, deren Präsident der Verwaltungsbeamte und liberale Schriftsteller Janko Jesenský war, die Initiative nicht der Matica slovenská überlassen. Im Nástup wurden im Vorfeld die Messer gewetzt, weil das Präsidium des Slowakischen Schriftstellerverbandes auch kommunistische und tschechischsprachige Schriftsteller zum Kongress einlud. Das wurde als reine Willkür aufgefasst, da solche Autoren nicht der slowakischen Nation dienen könnten: „Wie kann solch ein Mensch die Funktion in der Nation erfüllen, zu der ein Schriftsteller berufen ist? Wie kann solch ein Mensch den Ausdruck der slowakischen Seele einfangen, wenn er sie nicht versteht?“⁷² Befürchtet wurde, dass alle möglichen Autoren und Kritiker vor jene „wirklich nationalen Schriftsteller“ gestellt würden: „Milo Urban, Tido Gašpar, J. Nižnánský, Smrek, Žarnov usw.“ Ein rein slowakischer Kongress wäre in den Augen des Nástup zu veranstalten gewesen. Tatsächlich war der Kongress eine ideologisch offene Veranstaltung. Auch tschechische Schriftsteller waren eingeladen, enthielten sich aber der Diskussionen. Die Intellektuellen

71 [A tou podstatou nám bolo: dostať slovenských spisovateľov konečne raz dovedna, predovšetkým, aby sa všetci osobne spoznali a osobne zblížili, aby si zoči-voči uvedomili svoju spolupatričnosť i spoločné ciele, napriek svojej ideovej a umeleckej diferencovanosti, aby medzi sebou obnovili alebo utvrdili „entente cordiale“, spojenectvo sŕdc, a aby práve tam, na tejto neutrálnej pôde, na pôde čistej, rodnej, ďaleko od miest, v prírode, čím bližšie k výškam a v ich oslobodzujúcej atmosfére otvorili oči i duše k prijímaniu nových tajomstiev a inšpirácií pre zdravú umeleckú tvorbu.] 72 Spisovatelia budú snemovať [Die Schriftsteller werden einen Kongress abhalten], in: Nástup, 4, 10, 15.5.1936, S. 101 f. [Ako takýto človek môže však plniť tú funkciu v národe, ktorú je povolaný spisovateľ? Ako podobný človek môže zachytiť prejav slovenskej duše, keď jej nerozumie?]

6.4 Vom geschriebenen zum gesprochenen Wort |

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des Nástup lehnten die Resolution der slowakischen Schriftsteller ab, da in ihr die slowakische Kultur und die Stellung des slowakischen Schriftstellers zu ihr sowie die nationalen Ansprüche an die Kultur angeblich nicht behandelt worden seien.⁷³ Vielmehr dürfte der wahre Grund ihrer Ablehnung im Bekenntnis zum Staat und dem am Schluss aufgenommenen Begriff „Fortschrittlichkeit“ gelegen haben. Berücksichtigt man die Differenzen im Vorfeld des Kongresses sowie die unterschiedlichen Auffassungen wichtiger Repräsentanten der Schriftstellerszene während des Kongresses, so scheint dessen Bedeutung weniger im politischen Bekenntnis zu liegen, als dass er die vorhandenen Gräben im intellektuellen Feld kurzzeitig durch den Minimalkonsens einer kulturell eigenständigen slowakischen Nation zudeckte. So wurden jene, die versuchten, eine antifaschistische Front im Sinne des Fortschritts und des Tschechoslowakismus zu bilden und jene, die eine Künstlergemeinschaft beschworen, die sich aufgrund der gemeinsamen Herkunft an traditionellen Werten orientierte und mit dem Fokus auf ästhetischen Fragen den politischen ausweichen zu können meinte, symbolträchtig in ein Boot geholt. Die Intellektuellen zeigten der Öffentlichkeit, dass sie eine einheitliche Praxis im Namen der Nation befürworteten. Als Beweis der Loyalität der slowakischen Schriftsteller gegenüber dem tschechoslowakischen Staat führt Harna eine Erklärung des slowakischen Schriftstellerverbandes vom 28. September 1938 an, die in der nationalistisch aufgeheizten Zeit unmittelbar vor dem Münchner Abkommen gegeben wurde. Als Unterzeichner finden sich neben anderen auch Andrej Žarnov und Tido Gašpar, die zu den wichtigsten autonomistischen Autoren gehörten. Das sagt meines Erachtens weniger über die grundsätzliche Loyalität dieser Schriftsteller aus, sondern mehr darüber, wie sehr sie die angespannte internationale politische Lage als bedrohlich, und zwar eben auch für die slowakische Nation, empfanden. Die kulturelle Praxis der Schriftsteller stand nicht zwingend in einem kausalen Verhältnis zu ihrer Loyalität gegenüber dem tschechoslowakischen Staat.

6.4 Vom geschriebenen zum gesprochenen Wort Umgangssprache versus Schrift Slowakische Schrift und Sprache dominierten den nationalistischen Diskurs in vielen Bereichen. Unmittelbar nach 1918 wurde die slowakische Sprache erstmals als ein Problem der Alltagskommunikation wahrgenommen. Da die Amtssprache 73 -i: Rezolúcia slovenských spisovateľov [Resolution der slowakischen Schriftsteller], in: Nástup, 4, 11, 30.6.1936, S. 114.

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Ungarisch gewesen und auch der Unterricht in den Mittelschulen auf Ungarisch erfolgt war, konnten viele junge Slowaken nicht sonderlich elaboriert slowakisch sprechen, geschweige denn schreiben. Sie verbesserten ihre Sprach- und Schriftkenntnisse etwa durch das Studium der slowakischen Literatur in Lektürezirkeln oder zirkulierende literarische Werke. Der massive Einfluss des Ungarischen auf die slowakische Sprache wurde neuerdings als Ärgernis wahrgenommen und bot Anlass zu zahlreichen Notizen und Artikeln. In der zweiten Ausgabe von Vatra heißt es in der kurzen Nachricht „Sprechen wir slowakisch!“: „Wir hören ungarische Gespräche unter den Studenten. Wir hören, dass unsere Studenten gern ungarische Ausdrücke in unser Slowakisch mischen. Kollegen, gewöhnen wir uns das ab. Heute ist die Sach- und Wissenschaftssprache Slowakisch.“⁷⁴ Weniger bemerkenswert als die Kritik am Ungarischen ist der Modus der Sprachwahrnehmung: das Hören. Die Sprache im öffentlichen Raum wurde ein neues Paradigma im slowakischen Nationalismus. Denn bis dahin war die slowakische (Schrift-)Sprache vor allem intellektuelles Medium der nationalen Selbstvergewisserung. Neben dem Ungarischen beim Erklingen des Slowakischen wurde zunehmend auch das Tschechische als Störfaktor ausgemacht. Cyrill, alias Peter Prídavok, stellt etwa 1920 in Vatra fest, dass es eine Unsicherheit bei der Betonung von Präpositionen gab.⁷⁵ Er führte die neuerdings verbreitete Ansicht, diese seien zu betonen, auf den Einfluss des Tschechischen, besonders auf den Unterricht durch tschechische Lehrer, in der Slowakei zurück. Als Referenz für die richtige Beurteilung empfahl er, sich an die Aussprache des einfachen Slowaken zu halten. Diese würde für die Reinheit des Slowakischen bürgen und die Übernahme von Bohemismen ins Slowakische eindämmen helfen. Es finden sich in der Zeitschrift Vatra anfänglich aber auch Positionen, die im Verlauf des zunehmend politisierten Sprachenkonflikts später als eindeutig tschechoslowakisch zu bezeichnen sind. In einer Notiz etwa werden neu erschienene Sprachhandbücher kritisiert, die alle auf den Arbeiten Samuel Czambels basierten, der angeblich das politische Ziel verfolgt habe, die slowakische Sprache von der tschechischen sowie von allen slawischen Sprachen zu entfernen, damit das Slowakische schließlich ein Mittel der Verbreitung der ungarischen Sprache würde.⁷⁶

74 Hovorme slovensky! [Sprechen wir slowakisch!], in: Vatra, 1, 2, März 1919, S. 31 [Čujeme maďarské rozhovory medzi študentmi. Čujeme, že naši študenti radi miešajú maďarské výrazy do našej slovenčiny. Kolegovia, odvykajme od tohto. Dnes naukosdelnou rečou je slovenská.]. 75 Cyrill: „O prízvučnosť jednoslabičných predložiek vo slovenčine“ [Über die Betonung der einsilbigen Präpositionen im Slowakischen], in: Vatra 3, 2, Oktober 1920, S. 43. 76 Slovenské mluvnice [Slowakische Sprachlehrbücher], in: Vatra, 1, 2, März 1919, S. 32.

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In anderen Texten wird die Leistung Czambels wiederum gewürdigt. Der bedeutende slowakische Nationalist des 19. Jahrhunderts, Vajanský, habe Czambels antitschechische Theorien vor dem historischen Hintergrund, dass die Tschechen selber unterdrückt waren und den Slowaken nicht wirklich helfen konnten, positiv aufgenommen, wie es in dem längeren Beitrag über das Verhältnis vom Slowakischen und Tschechischen heißt.⁷⁷ Das Zusammengehen der beiden neuen Landeshälften wird unter dem Aspekt sprachlicher Notwendigkeit betrachtet und als angemessene Reaktion auf die Ermüdung der slowakischen Sprache/Rede [reč]. Nichtsdestoweniger lehnt der Autor die Verbindung der beiden Sprachen zu einer einzigen als künstlichen Akt ab. Seine Argumente behalten ihre Geltung über die folgende Dekade hinaus: Die Sprache/Rede der politisch von den Tschechen getrennten Slowaken entwickelte sich nicht gleichzeitig und genauso wie die tschechische Sprache. Die Slowaken lebten historisch nicht so intensiv wie die Tschechen, so wie sich auch ihre Sprache/Rede entsprechend weniger entwickelte, und die Unterschiede zwischen dem Schrifttschechisch und der slowakischen Volkssprache/-rede führten Štúr zur literarischen Abspaltung. – Diese Unterschiede dauern bis heute an und man kann sie nicht von einem auf den anderen Tag beseitigen.⁷⁸

Der Autor unterscheidet in diesem Zitat konsequent die tschechische „Sprache“ [jazyk] von der slowakischen „Rede“ [reč]. Beide slowakischen Begriffe würden allerdings ins Deutsche als „Sprache“ übersetzt, doch enthält „reč“ die semantische, aber nicht übersetzbare Referenz auf die gesprochene Sprache. Die tschechische Schriftsprache wird somit einer slowakischen, nicht an eine Schrift gebundenen Volkssprache gegenübergestellt. Wenn die slowakische Sprache nun überall Einzug halte, heißt es weiter, „werde sich der slowakische Charakter, das Leben, unsere Slowakizität öffentlich in der wohlklingenden slowakischen Sprache abbilden.“ Die Unterscheidung zwischen „jazyk“ und „reč“ versieht das Slowakische zwar mit einem volkstümlichen Charakter. Darüber hinaus wird hier wiederum die akkustische Funktion der Sprache im öffentlichen Raum hervorgehoben. Mit der Unterscheidung von Schrift- und Volkssprache folgt der Autor im wesentlichen jenem Konzept, das der Tscheche Jaroslav Vlček folgenreich 1881 in der ersten slowakischen Literaturgeschichte entwickelt hatte. Aufgrund des terminologischen Entwicklungsstandes des Tschechischen empfahl Vlček, diese

77 Discipulus: Slovenčina a Čeština (Časová úvaha) [Slowakisch und Tschechisch. (Essay zur Zeit)], in: Vatra, 1, 3, April 1919, S. 33–36. 78 [Reč Slovákov politickým oddelením od Čechov nevyvinovala sa s českým jazykom súčastne a rovnako. Slováci nežili historicky tak intenzívne, ako Česi, tak aj ich reč sa natolko nevyvinula a rozdiele medzi spisovnou češtinou a rečou slovenského ľudu priviedli Štúra k literárnej odluke. – Tieto rozdiele trvaju aj teraz a nemožno ich zo dňa na deň odstrániť.]

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Sprache gemeinsam als Wissenschaftssprache zu nutzen, das Schriftslowakische hingegen auf die Literatur zu beschränken. In der Folge Vlčeks etablierte sich dann unter den Slowaken die Funktionsteilung zwischen den beiden Sprachen. Während das Tschechische der Wissenschaft und Abstraktion dienen sollte, bekam das Slowakische die Aufgabe zugewiesen, die ethnisch verstandene Gemeinschaft in Form einer Literatursprache zu stiften. Der Vatra-Autor folgt zwar im Grunde der Funktionsteilung von Vlček, leitet daraus im Unterschied zu jenem aber nicht ab, dass das Slowakische nicht als Wissenschaftssprache taugen könnte. Vielmehr nimmt er die alte Unterscheidung auf und führt sie auf einen neuen Schauplatz – die Sprache im öffentlichen Raum.

Kontroverse Deutungen der Schriftvergangenheit Ein Teil der Schriftdiskussion im nationalistischen Diskurs befasste sich mit der Deutung der jüngeren Vergangenheit und deren Implikationen für die Gegenwart. Das betraf die politische Dimension der Bernolákschen und Štúrschen Schriftkodifizierungen. Ein Stein des Anstoßes war für die autonomistisch orientierten Nationalisten Milan Hodžas Werk „Der tschechoslowakische Bruch“⁷⁹ von 1920. Diese Arbeit verfasste er während des Kriegs als Militärzensor in Wien. Nach Erscheinen erhielt er einen Doktortitel dafür und wurde ein Jahr später für eine Professur nominiert, ohne ein Studium abgeschlossen zu haben.⁸⁰ Mit seiner Interpretation der Štúrschen Schriftkodifizierung schloss Hodža an die kritische Rezeption Štúrs unter dessen tschechoslowakisch gesinnten Zeitgenossen an und lieferte damit ein Fundament für die ablehnende Haltung in der tschechoslowakischen Republik. Er deutete die durch die eigene Schrift vollzogene „Abspaltung“ der Slowaken von den Tschechen als politisches und vorübergehendes Phänomen, das allein im Widerstand gegenüber den Ungarn gewurzelt und keine eigenständige Bedeutung gehabt habe. Darüber hinaus legt er nahe, war dies noch eine Geste der Anbiederung an den ungarischen Staat, da man sich dazu bekannte, trotz angestrebter kultureller Autonomie ein treues Staatsvolk zu sein. Im selben Jahr publizierte Jozef Škultéty, Leiter der Matica slovenská und erster Professor für slowakische Sprache und Literatur an der Komenský-Universität, selber ein kulturgeschichtliches Werk als Entgegnung auf Hodžas „Rozkol“.⁸¹ Škul-

79 Hodža, Milan: Československý rozkol. Príspevky k dejinám slovenčiny. [Der tschechoslowakische Bruch. Beiträge zur Geschichte des Slowakischen]. Martin 1920. 80 Vnuk 1987, S. 94. 81 Škultéty, Jozef : Stodvadsaťpäť rokov zo slovenského života. 1790–1914. Odpoveď na knihu dr. Milana Hodžu, nazvanú „Československý rozkol“. [Hundertfünfundzwanzig Jahre aus dem

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tétys Gegenschrift wurde in Vatra⁸² euphorisch aufgenommen. Der Intrigant Hodža habe mit seinem Werk mit diebischer Hand in den heiligsten slowakischen Schatz gegriffen, indem er die Verselbstständigung der slowakischen Sprache als ein temporäres und politisches Phänomen bezeichnet habe. In Tat und Wahrheit sei das Tschechische den Slowaken stets fremd geblieben. Unter dem Banner des Schrifttschechischen hätte die slowakische Nation weitergeschlafen und dem ungarischen Bataillon wenig entgegenzusetzen gehabt. Auch hier klingt der häufig geäußerte Vorwurf an, die Tschechen hätten den Slowaken in der Phase der Magyarisierung zu wenig beigestanden. Im gleichen Sinne, wie Štúr von Anhängern des Tschechoslowakismus dargestellt wurde, rezipierten die fortschrittsorientierten Kreise auch das Werk Anton Bernoláks. 1930 verfasste der linke Historiker und Universitätsprofessor Daniel Rapant eine Studie, in der er Bernolák des „Magyaronentums“⁸³ bezichtigte. Bernoláks philologische Arbeiten wurden aus dem politischen Blickwinkel in der Zwischenkriegszeit zum Wegbereiter Štúrs mit dessen angeblichen Abspaltungstendenzen vom Tschechischen. Auf der symbolischen Ebene spielte Bernolák eine umso wichtigere Rolle. Anlässlich des 175. Jahrestages seiner Geburt wurde 1937 in Nové Zámky ein Denkmal zu seinen Ehren enthüllt. Karol Sidor bezeichnete ihn aus diesem Anlass als „slowakischen Genius“.⁸⁴ Die Bewertung der philologischen Aktivitäten der Vergangenheit war auf den verschiedenen Seiten Teil der jeweiligen symbolischen politischen Praxis.

Matica slovenská – nationalistische Forschungspraxis Ähnlich wie die slowakische Schriftgeschichte konnte auch eine sprachwissenschaftliche Forschung nicht ohne politische Implikationen erfolgen. Die Bedeutung der Sprache im slowakischen Nationalismus bildete sich in der Stellung der Matica slovenská als der wichtigsten philologischen Institution ab. Die 1919 wiedereröffnete Institution war als zweites bedeutendes Forschungszentrum neben der Universität gemäß ihren Statuten einer politisch neutralen Position verpflichtet. Das war jedoch schon aus personellen Gründen unmöglich. Offiziell stand sie unter dem Protektorat von Präsident Masaryk. ihrem Vorstand gehörten auf der einen

slowakischen Leben. 1790–1914. Eine Antwort auf das Buch Dr. Milan Hodžas, genannt „Der tschechoslowakische Bruch“.] Martin 1920. 82 Tyltyl: Kritika a referáty, in: Vatra, 3, 1, 1920/21, S. 18–20. 83 Rapant, Daniel: Maďarónstvo Bernolákovo [Bernoláks Magyarentum]. Bratislava 1930. 84 Sidor, Karol: Bernolákov apoštolský zápal [Bernoláks apostolischer Eifer], in: Slovák, 19, 208, 12.9.1937, S. 1.

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Seite die zentralistischen slowakischen Politiker Dérer, Ivanka und Šrobár an und auf der einen Seite die nationalistischen Politiker und Intellektuellen Martin Rázus, Andrej Hlinka und Ferdinand Juriga. Auch von der symbolischen Wirkung her war die Wiedereröffnung im August 1919 als politischer Akt anzusehen. Die Matica sollte die Entmagyarisierung vorantreiben und somit helfen, ein slowakisches Staatsvolk heranzubilden. Das spiegelte sich exemplarisch in der hochrangigen staatlichen Delegation zur Eröffnungsfeier am 5. August 1919, als zum ersten Mal Regierungsvertreter aus Prag an einem offiziellen Festanlass in der Slowakei teilnahmen.⁸⁵ Laut Harna/Kamenec übte diese Institution in der Slowakei den größten Einfluss auf die slowakische Öffentlichkeit aus, wobei das nicht allein an ihrer Mitgliederzahl als eher an ihrem Renommé gelegen hat, da die konfessionellen Organisationen eine noch größere Reichweite hatten. Nichtsdestoweniger war die politische Ausrichtung der Matica als kulturelles Flaggschiff der Slowaken von größtem Interesse für die politischen Lager im Lande. Jede größere Kulturaktion, wollte sie Erfolg haben, musste sich auf das Netz der Matica slovenská stützen. 1919, im ersten Jahr, eröffnete die Institution im slowakischen Landesteil 25 Zweigstellen und warb 1725 Mitglieder an, 1923 waren es bereits 77 Zweigstellen und 22 500 Mitglieder, gegen Ende der Republik baute sie ihr Netz auf 198 Büros aus und gewann 35 000 Mitglieder.⁸⁶ Die Matica slovenská versuchte, die gesamte kulturelle Praxis im slowakischen Landesteil mit ihren Aktivitäten und slowakischen Schriften zu dominieren. Doch entstanden einige weitere Organisationen nach 1919, mit denen sich die Matica slovenská die Aufmerksamkeit der slowakischen Öffentlichkeit teilen musste, etwa die Slowakische Liga als Gründung von Auslandsslowaken, der einflussreiche katholische Verein hl. Adalbert, der protestantische Sportverband Sokol und der katholische Sportverband Orol, zudem Arbeiterverbände, der Frauenverein Živena oder Berufsverbände. Während die Slovenská liga zu verschiedenen Anlässen mit der Matica kooperierte, agierte der Verein hl. Adalbert eher in Konkurrenz zu ihr. Letzterer warf der Matica in publizistischen Gefechten vor, zu wenig den katholischen Charakter der Slowakei zu berücksichtigen und zu stark tschechoslowakisch ausgerichtet zu sein. Der Vorwurf hatte eine gewisse Berechtigung, da die Matica im Gegensatz zum Verein hl. Adalbert am Tropf staatlicher Subventionen hing. Daran waren auch Personalfragen geknüpft. Eine der Führungspersonen der Matica war bis 1930 Jaroslav Vlček, ein enger Freund Masaryks. Vlček lenkte von Prag

85 Vgl. Winkler, Tomáš, Eliáš, Michal a kolektiv: Matica slovenská. Dejiny a prítomnosť, Martin 2003, S. 118. 86 Harna/Kamenec 1988, S. 90.

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aus das slowakische Schulwesen und die Kulturpolitik in der Slowakei. Er nahm auch in personellen Fragen Einfluss, zum Beispiel brachte er seinen ehemaligen Schüler František Heřmanský in der Matica als zweiten Sekretär unter, der aber nach einer Pressekampagne der Autonomisten wegen eines stark tschechisierten slowakischen Wörterbuchs 1926 zurücktreten musste.⁸⁷ Die Gründungen der Šafarik-Gelehrtengesellschaft an der Universität, die die Funktion einer Akademie übernahm, sowie des Landeskundlichen Museums in Bratislava musste die Matica slovenská mit ihrem Nationalmuseum in Martin jedoch als direkte Konkurrenz auffassen. Beides waren Einrichtungen mit dezidiert tschechoslowakischer Ausrichtung. Nach der Wende in der Matica anlässlich der Rechtschreibreform wechselten einige der tschechischen Mitarbeiter der Matica zur Gelehrtengesellschaft, wo drei linguistische Fachabteilungen eingerichtet wurden, darunter eine zur Rechtschreibung. Während in den Zwanzigerjahren in der Matica slovenská die Sammeltätigkeit dominierte, rückte in den Dreißigerjahren die Forschungstätigkeit in den Vordergrund. Das lag einerseits am Bedarf an wissenschaftlicher Reflexion, wurde andrerseits aber auch durch die neuen personellen Ressourcen möglich, die die jungen Hochschulabsolventen der Bratislavaer Universität bildeten. So wurde die Einrichtung eine wichtige Adresse für junge Akademiker, die nach ihrem Hochschulabschluss dort eine Anstellung fanden. Das gilt etwa für Mečiar, Mraz, Novák und Bartek. In der inhaltlichen Ausrichtung folgte die Matica slovenská in den Zwanzigerjahren noch den Vorgaben aus der Gründungszeit der 1870er-Jahre. Unter den seinerzeit politischen Bedingungen war die Zusammenarbeit der slawischen Maticen ein Ausdruck der nationalemanzipatorischen Idee von der slawischen Wechselseitigkeit. Dies ergab sich vor allem aus der Stellung der verschiedenen slawischen Völker innerhalb Österreich-Ungarns. Die Zusammenarbeit mit den anderen slawischen Maticen forderten auch die neuen Statuten von 1919. Bis 1930 versuchte die Leitung, diesen Kurs beizubehalten. Doch gestaltete sich das Umfeld dafür schwieriger und auch die historische Notwendigkeit dazu stand infrage. Die Beziehung des jungen Staates zum wichtigen slawischen Nachbarn im Norden war bereits ab 1920 wegen dem Streit um das Gebiet Teschen getrübt. Auch die kulturellen Beziehungen zu Russland standen wegen der dortigen politischen Entwicklungen unter keinem guten Stern. 1928 sagte etwa die Matica die geplanten Tage der russischen Kultur ab, und 1936 distanzierte sie sich von einer Ausstellung sowjetischer Bücher in Bratislava. Die Versuche, einen Kongress der slawischen

87 Vnuk 1987, S. 93–95.

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Maticen einzuberufen, der am Beginn einer gemeinsamen slawischen Sprache hätte stehen sollen, waren unrealistisch.⁸⁸ Antitschechische Töne waren von einzelnen Vertretern der Matica, etwa Sekretär Štefan Krčméry, bereits in den Zwanzigerjahren zu vernehmen. Sie wurden insbesondere durch die harsche Kritik des tschechischen Philologen Albert Pražaks, der selber Mitglied der Historischen Abteilung der Matica war, im Tschechoslowakischen Jahrbuch von 1924 provoziert. Er warf der Matica vor, sich zu wenig an das tschechoslowakische Prinzip zu halten und zu puristisch mit der slowakischen Sprache umzugehen.⁸⁹ Auch der Verwalter und die Graue Eminenz der Matica, Jozef Škultéty, hatte bereits mit seiner Replik auf Milan Hodžas Werk deutlich Stellung bezogen, trotz des von ihm selber ausdrücklich verordneten apolitischen Kurses. Sichtbar wurde die politische Orientierung der Matica slovenská dann um 1930 in der personellen Besetzung mit einer neuen Generation von Matica-Funktionären, zu denen Jozef Cíger Hronský an der Spitze und weitere Persönlichkeiten wie Stanislav Mečiar, Andrej Mraz und Henrich Bartek gehörten. Die Matica bekannte sich nun zu ihrer politischen Rolle, obgleich nicht in einem parteipolitischen Sinne. Vielmehr wurde die größere Bedeutung des Politischen im Alltag anerkannt, womit auch die konfliktreiche Position der Slowakei im Staat und als deren Folge die Polarisierung der Gesellschaft gemeint war. Der Sprachwissenschaftler Ľudovít Novák forderte entsprechend in seiner Schrift „Sprachwissenschaftliche Glossen zur tschechoslowakischen Frage“ von 1935, dass die Matica sich „um die theoretische, wissenschaftliche Ausarbeitung der ideellen Grundlagen der überparteilichen gesamtnationalen Bewegung, mit einem Wort um die theoretische Vertiefung eines vernünftigen und realen slowakischen Nationalismus“⁹⁰ kümmern solle. Novák plädiert nicht dafür, dass die Matica slovenská eine aktive Rolle im Nationalismus spielt. Er argumentiert als Wissenschaftler, der die Institution als Akteurin im wissenschaftlichen Feld, nicht aber im politischen Feld sieht. Die Matica slovenská war für die jungen nationalistischen Akademiker die attraktivste kulturelle Institution, an der sie ihre Fachkenntnisse zur Geltung bringen

88 Winkler/Eliáš 2003, S. 128. 89 Winkler/Eliáš 2003, S. S. 132. 90 Novák, Ľudovít: Jazykovedné glosy k československej otázke, Martin 1935, zit. nach Winkler/Eliáš 2003, S. 140 [. . . postarať sa o teoretické vedecké prepracovanie ideových základov nadstraníckeho celonárodného pohybu, slovom o teoretické prehĺbenie rozumného a reálneho slovenského nacionalizmu. . . ] – Novák war ein exponierter Wissenschaftler. Er verfasste die Statuten der Matica von 1933, in denen er vor allem eine große Autonomie der einzelnen Forschungsabteilungen gegenüber dem strategischen Organ, dem Matica-Vorstand, verankerte. Er war selber von 1933 bis 1938 aktives Mitglied der sprachwissenschaftlichen Abteilung.

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konnten. Bis zur Vollversammlung im Mai 1932 hatten Tschechen und Tschechoslowaken jedoch eine feste Stellung darin. Ihr Einfluss schwand aber danach allmählich, und die jungen Nationalisten wie auch die Volkspartei schafften es, zunehmend ihre Leute in wichtigen Positionen unterzubringen. Zum Vorstand gehörten etwa 1937 Hlinka, Sivák, der Bildungsminister im slowakischen Staat, neu hineingewählt wurden Ferdinand Ďurčanský und Jozef Tiso, beides zentrale Kader des slowakischen Regimes. Die nichtnationalistische Presse reagierte auf diese Tendenz mit kritischen und angreifenden Artikeln.⁹¹ Als Forschungs- und Publikationszentrum, das sich der Entwicklung einer slowakischen Nationalkultur verschrieben hatte, wurde die Matica slovenská zum Dreh- und Angelpunkt eines mit der Sprache argumentierenden politischen Nationalismus. Diese Rolle manifestierte sich im Umbruch anlässlich der abgelehnten Rechtschreibreform.

Der Martiner Usus Das größte Interesse an einem standardisierten Slowakisch hatten jene Berufsgruppen, die tagtäglich mit der Sprache arbeiteten. Ihre professionelle Legitimation hing somit unmittelbar von der geltenden Sprachnorm ab. Das betraf vor allem Journalisten, Schriftsteller, Sprachwissenschaftler und Übersetzer sowie auch alle nationalistischen Politiker, denen die slowakische Sprache ein wichtiges politisches Argument war. Zwei Strategien bestimmten im wesentlichen das Handeln der Verfechter einer eigenständigen slowakischen Sprache. Die einen versuchten, die gewohnheitsmässig etablierte slowakische Rechtschreibung in der Alltagspraxis, etwa in Beschriftungen im öffentlichen Raum, durchzusetzen. Die anderen versuchten, eine slowakische Schriftnorm zu erarbeiten, die allen Funktionsbereichen der Sprache Genüge tun und damit die Voraussetzungen für eine vollumfängliche Geltung erlangen würde. Welche große Rolle die slowakische Sprache in den nationalistischen Aktivitäten spielte, lässt sich allein schon an der Grösse der dreissig Mitarbeiter zählenden sprachwissenschaftlichen Abteilung der Matica slovenská ablesen. Diese sollten die slowakische Sprache erforschen und Wörterbücher und Grammatiken publizieren. Eine weitere Aufgabe bestand darin, eine neue Rechtschreibnorm zu entwickeln. Das von Štúr-Hattala kodifizierte und von Czambel aktualisierte Slowakisch war als so genannter Martiner Usus als normative Sprache, die in Wort und Schrift dem Dialekt der Martiner Gegend folgte, unter den nationalbewussten 91 Das geht aus dem das Wahlergebnis legitimierenden Artikel „Po valnom shromaždení Matice slovenskej“ [Nach der Vollversammlung der Matica slovenská] im Nástup vom 1.6.1937 hervor.

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Slowaken etabliert.⁹² Doch die Befürworter des Tschechischen unter den Slowaken, die Bibličtina schreibenden Lutheraner bekämpften bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs diesen Standard, während Ungarisch und Deutsch zusammen mit Latein das öffentliche Leben in Oberungarn bis 1918 dominierten. Slowakisch wurde erstmals 1918 zu einem offiziellen Standard, wenn auch offiziell nur als Variante des Tschechoslowakischen.⁹³ Nach 1918 kamen das Tschechische und Slowakische erstmals in einen intensiven Kontakt. Bis 1918 waren Deutsch und vor allem Ungarisch in der Slowakei die Sprachen von Technologie, Wirtschaft und Wissenschaft. Nach deren Wegfallen füllte das Tschechische mit seinen Lehnwörtern die Lücken im Slowakischen auf, was aber unter den slowakischen Intellektuellen stark umstritten war. Der offizielle Tschechoslowakismus verhinderte, dass in der Zwischenkriegszeit slowakisch-tschechische Wörterbücher entstanden. Bei der engen Verwandtschaft der beiden Sprachen waren differenzielle Wörterbücher, die lediglich allfällige Unterschiede verzeichneten, gängige Lehrmittel, um die Sprachen im Schriftlichen auseinanderzuhalten. Da das Slowakische de facto eine offizielle Sprache war, wurde aber doch die Fachterminologie auf Slowakisch weiterentwickelt, so in mehreren zwei- oder dreisprachigen Wörterbüchern, etwa dem ungarisch-slowakischen, slowakisch-ungarischen Medizinwörterbuch. Auch andere zweisprachige Wörterbücher halfen, das Slowakische stärker als eigenständige Sprache zu profilieren. Hinzu kamen Wiederauflagen von älteren slowakischen lexikografischen Werken, etwa Czambels bewusst vom Tschechischen distanziertes „Rukoväť spisovnej reči slovenskej“ [Handbuch der slowakischen Schriftsprache, erstmals 1902].⁹⁴ Der Leiter der Matica slovenská, Jozef Škultéty, hatte Czambels „Handbuch der slowakischen Sprache“ 1915 und 1919 überarbeitet und neu herausgegeben. Als Redaktor der Slovenské Pohľady hatte Škultéty in der Vorkriegszeit mit Hilfe von Czambel selbst und mit Vlček die Rubrik „Slowakische Sprache“ eingeführt. Darin analysierten die Autoren dialektale und schriftliche Texte und versuchten sich an einer Schriftnorm, womit sie den Martiner Usus begründeten.⁹⁵ Škultetys 92 1851 einigten sich die Anhänger der Kodifizierungen des Slowakischen von Anton Bernolák und Ľudovit Štúr auf einen einheitlichen Schriftstandard, der in Martin Hattalas Grammatik von 1852 (Krátka mluvnica slovenská) festgehalten wurde und seitdem die Grundlage des Standardslowakischen blieb, obwohl es offiziell bis 1918 nicht anerkannt war. Vgl. Sussex, Roland: Lingua Nostra: The Nineteenth-Century Slavonic Language Revivals, in: Roland Sussex, J. C. Eade, Culture and nationalism in nineteenth-century Eastern Europe, Columbus, Ohio 1985, S. 111–127; hier S. 116 f. 93 Vgl. Kamusella 2009, S. 135. 94 Kamusella 2009, S. 566. 95 Chmel 1981, S. 56.

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Bedeutung spiegelt sich auch in seiner Ernennung zum ersten Professor für Slowakische Sprache und Literatur an der Komenský-Universität, allerdings wurde er bereits 1920 ersetzt, weil er sich weigerte, seinen Forschungsgegenstand in Übereinstimmung mit der Verfassung in „Tschechoslowakische Sprache und Literatur“ umzubenennen. Danach waren ausschliesslich Tschechen Lehrstuhlinhaber.⁹⁶ Eine ernstzunehmende Hürde bei der Verbreitung des Martiner Usus war, dass unmittelbar nach Kriegsende keine slowakischen Sprachlehrbücher oder Textsammlungen für die Schule existierten. Der Lehrer Ján Damborský verfasste auf der Basis eines tschechischen Lehrbuchs und Czambels Kodifikation das slowakische Grammatik- und Orthographielehrbuch „Slovenská mluvnica so zvláštnym zreteľom na pravopis“ [Slowakische Grammatik mit besonderem Augenmerk auf die Rechtschreibung] (1919), das jedoch das Slowakische dem Tschechischen annäherte. Dieses Lehrbuch war von staatlicher Seite für den Schulunterricht empfohlen und erfuhr mehrere Auflagen in den Zwanzigerjahren. Der Martiner Usus wurde marginalisiert und als inkompatibel mit der tschechoslowakischen Verfassung von Prag abgelehnt.⁹⁷

Tschechoslowakische Rechtschreibreform Die Überarbeitung der slowakischen Rechtschreibregeln übertrug das Bildungsministerium 1920 der Tschechischen Akademie, mit der Maßgabe, die Arbeiten mit der Matica slovenská abzustimmen. In der Tschechischen Akademie wurden allerdings nur Einzelaspekte in Angriff genommen, wie die Ersetzung von einigen Partikeln oder die Schreibweise von „s“ statt „z“ vor Konsonanten am Wortbeginn. Diese Massnahmen orientierten sich an der Martiner Schreibweise und fanden bei den Verantwortlichen in der Matica slovenská Zustimmung.⁹⁸ Doch verfolgte die Tschechische Akademie ihren Auftrag nicht besonders nachdrücklich. Im Bewusstsein der gesamtnationalen Bedeutung investierte Masaryk selber aus einem persönlichen Fonds das nötige Geld in die Vollendung der Rechtschreibreform, unter der Bedingung allerdings, dass der tschechische Linguist Václav Vážný die Reform realisieren würde.⁹⁹ Bildungsminister Ivan Dérer, Slowake und Anwalt einer einheitlichen tschechoslowakischen Nation, gab schließlich den Auftrag dazu. Dass die Rechtschreibkommission von einem Tschechen geleitet werden

96 Kamusella 2009, S. 843. 97 Kamusella 2009, S. 844. 98 Jozef Škultéty: Pravidlá slovenského pravopisu [Die Regeln der slowakischen Rechtschreibung], in: Národnie noviny, 62, 120, 16.10.1931, S. 1. 99 Letz 2000, S. 161.

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sollte, deutete darauf hin, dass die gewohnheitsmäßige Schriftpraxis der Slowaken nicht einfach als Norm festzuhalten war, sondern dies in Übereinstimmung mit der tschechoslowakischen Staatsideologie geschehen sollte. 1931 veröffentlichten die Wissenschaftler der sprachwissenschaftlichen Abteilung der Matica slovenská unter der Leitung Václav Vážnys die überarbeiteten Rechtschreibregeln.¹⁰⁰ Diese Rechtschreibreform bedeutete eine Zäsur im Diskurs über die Verwendung und Korrektheit der slowakischen Sprache, der während der ganzen Zwischenkriegszeit von verschiedenen Interessengruppen geführt wurde. Jozef Škultéty, der den verstorbenen Jaroslav Vlček in der Kommission der Matica ersetzt hatte, verteidigte die überarbeiteten Regeln in den Národnie noviny gegen den Vorwurf, sie seien von den Tschechen diktiert worden. Er gestand zwar ein, dass es noch einige nichtslowakische Merkmale gäbe, die sich aber mit der Zeit von selber verlieren würden und nicht aktiv beseitigt werden müssten. Vielmehr, so Škultéty, sollte man die vorliegende Ausgabe verbreiten und jede Neuauflage verbessern.¹⁰¹ Diese gemässigte und sachorientierte Meinung vertrat ein altgedienter nationaler Aktivist, dem die politischen Ambitionen der jungen Generation fremd waren. Doch gab es auch die verbreitetere Meinung, die Neuerungen Vážnýs bzw. der Rechtschreibkommission würden auf eine lexikalische und orthographische Annäherung des Slowakischen an das Tschechische hinauslaufen. Tatsächlich war dem Projekt der tschechoslowakische Stempel aufgedrückt. Die Verfasser gaben in ihrer Arbeit an, dem Vorgehen bei den tschechischen Normen gefolgt zu sein: „Die Regeln der slowakischen Rechtschreibung geben wir in ähnlicher Bearbeitung, Umfang und Korrektur heraus wie die amtlichen Regeln der tschechischen Rechtschreibung“, heisst es im Vorwort. Die Kommission bekannte sich indirekt zu einem tschechoslowakischen Purismus, indem sie „überflüssige Fremdwörter, deutsche oder magyarische, denen man ausweichen muss, wenn wir gute einheimische Wörter haben“, markierte.¹⁰² Allerdings wollten die Verfasser dabei auch gängige, slowakisierte Übernahmen durch tschechische Wörter ersetzen. Zudem liessen sie tschechisch-slowakische Doppelformen zu – z. B. „barva/farba“ (tsch./sl.) [Farbe]¹⁰³ –, wobei sie den tschechischen den Vorzug gaben. Eine Rei-

100 Pravidlá slovenského pravopisu s abecedným pravopisným slovníkom [Regeln der slowakischen Rechtschreibung mit alphabetischem orthografischem Wörterbuch], Prag 1931. 101 Jozef Škultéty: Pravidlá slovenského pravopisu [Die Regeln der slowakischen Rechtschreibung], in: Národnie noviny, 62, 120, 16.10.1931, S. 1. 102 Beide Zitate aus Pravidlá 1931, S. 9. 103 Zwar konnten die Sprecher des Slowakischen die jeweiligen tschechischen Varianten gut identifizieren. Dennoch etablierten sie sich oft in der slowakischen Umgangssprache und fanden sogar den Weg in die slowakische Literatur.

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he von im Slowakischen gebräuchlichen, aber aus anderen Sprachen übernommenen Wörtern sollten dem tschechischen Gebrauch angepasst werden, etwa „veľblud“ (tsch.) statt „ťava“ (ungar.) [Kamel] oder „kartáč“ (tsch.) statt „kefa“ (ung.) [Bürste];¹⁰⁴ solche Ersetzungen waren willkürlich. Teilweise sollten Verben morphologisch den tschechischen Formen angepasst werden, auch wenn die neuen Formen im Slowakischen absolut ungebräuchlich waren. Schliesslich wurden die Schriftzeichen in einigen Wörtern nach ihrer Phonetik so verändert, dass sie sich wie das tschechische Pendant schrieben, das betraf oft das für das Tschechische charakteristische, aber im Slowakischen fremde „ř“. In der Tat lässt sich eine tschechoslowakische Kompromissbereitschaft im Ergebnis erkennen. Jedoch ist es sehr unwahrscheinlich, dass allein die – obgleich politisch motivierte – wissenschaftliche Überarbeitung der Rechtschreibregeln die slowakischen Nationalisten auf den Plan rief. Der Grund ist vielmehr in der Sprachpraxis im Alltag zu suchen, an der sich die Nationalisten störten und die ihnen ein willkommenes politisches Mobilisierungspotenzial bot. Die als benachteiligt empfundene Stellung des Slowakischen in der Öffentlickeit liess sich an der kompromittierten Rechtschreibnorm bestens darstellen. In diesem Licht sind auch die einschneidenden Ereignisse während der Generalversammlung der Matica slovenská anlässlich der Rechtschreibreform zu betrachten – kulturelle und politische Nationalisten zogen dabei an einem Strang.

Gegenentwürfe und Putsch Auf der Generalversammlung der Matica slovenská am 12. Mai 1932 protestierten die anwesenden Mitglieder gegen die im Vorjahr publizierten Rechtschreibregeln. Es kam zu einem regelrechten Putsch, der sich aus der Kulmination von Maßnahmen verschiedener Akteure – einer Reihe von Schriftstellern und Publizisten, der HSĽS und dem Verein hl. Adalbert (SSV) – ergab. Laut einem Polizeibericht hatte einige Tage zuvor das Präsidium der HSĽS beschlossen, den Vorstand der Matica und besonders die Sprachkommission zu stürzen, um so die Führung der Matica zu übernehmen, ihr einen autonomistischen Geist einzuhauchen und die Tschechoslowaken zu vertreiben.¹⁰⁵ Tatsächlich nahmen einige der führenden Volksparteimitglieder an der Generalversammlung teil, darunter Hlinka – der zugleich Vertreter des Vorstandes des Vereins hl. Adalbert (SSV) war – und sieben weitere Parlamentarier. Einer von ihnen verlas die

104 Vgl. Bartek, Henrich: Pravidlá slovenského pravopisu. [Die Regeln der slowakischen Rechtschreibung], in: Slovenské pohľady, 9, 1931 S. 579–584. 105 Felak 1994, S. 88.

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Botschaft des Vereins, worin die Revision der Rechtschreibregeln gefordert wurde. Als die Liste mit den nominierten Kandidaten für den Vorstand verlesen wurde, präsentierte ein Anwesender in Absprache mit den Volksparteimitgliedern eine alternative Liste mit Anhängern der Idee einer slowakischen sprachlichen Identität. Die Liste gewann mit 80 zu 46 Stimmen; 144 der zirka 12 000 Mitglieder der Matica Slovenska waren anwesend. Auslöser des Aufstands war der Gegenvorschlag des SSV, der ein reines Slowakisch mit slowakisch dialektalen Einflüssen forderte. Im November 1931 hatte die Literaturabteilung des SSV beschlossen, eine eigene Rechtschreibnorm zu erarbeiten, da sie mit der tschechoslowakisierten Version der Matica slovenská unzufrieden war. Oberstes Prinzip sollte die „Sauberkeit und Reinheit der slowakischen Sprache/Rede“ sein. Die lexikalischen Bestandteile sollten aus allen slowakischen Dialekten genommen werden, sofern sie das Zeichen reiner Slowakizität an sich trugen. Zudem sollte die Rechtschreibung sich immer mehr der gesprochenen Sprache annähern. Der unter der Leitung von Augustín Baník erarbeitete 77-seitige Vorschlag wurde auf der Generalversammlung als Manuskript vorgelegt¹⁰⁶ und nach der Abstimmung über den Protestbrief der Schriftsteller als Grundlage für die Überarbeitung empfohlen. 128 Schriftsteller, Journalisten und Publizisten – unter ihnen Valentín Beniak, Ján Smrek, Jozef Cíger Hronský, Tido Gašpar, Andrej Žarnov, Henrich Bartek und Milo Urban¹⁰⁷ – hatten im Vorfeld einen Brief unterzeichnet, den Cíger Hronský im Ausschuss der Matica einen Tag vor der Vollversammlung zur Beratung vorlegte. Darin verurteilten die Unterzeichnenden die neue Rechtschreibung und forderten den Rücktritt der zuständigen Kommission sowie die Erlaubnis, dass der Vorstand der Matica slovenská eine neue vierköpfige Kommission ernennen dürfe, die noch im selben Jahr eine verbesserte zweite Auflage herausgeben sollte. Auch Vertreter der Matica selber sympathisierten mit dem Protest.¹⁰⁸ Die Mehrheit (76:32) lehnte auf der Vollversammlung schließlich die Rechtschreibreform ab. Vierzehn von siebzehn Kommissionsmitgliedern traten zurück, und aus dem Vorstand der Matica wurden die tschechoslowakisch orientierten Mitglieder abgewählt. Neu bestellt wurde er unter anderem mit Autonomisten wie Martin Rázus (Parteivorsitzender SNS) und Jozef Sivák (HSĽS), aber auch der demokratisch orientierte Schriftsteller und Präsident des slowakischen Schriftstellerverbandes Ján Jesenský und die Schriftstellerin Ľudmila Podjavorinská traten hinzu. Damit war insgesamt der Einfluss von Anhängern des Tschechoslowakismus erheblich geschmälert.

106 Hanakovič, Štefan: Dejiny Spolku sv. Vojtecha [Geschichte des Vereins hl. Adalbert], Trnava 2005, S. 294 f. 107 Winkler/Eliáš 2003, S. 136. 108 Felak 1994, S. 87.

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Regierungsmitglieder warfen der Matica daraufhin Eigenmächtigkeit und Kompetenzüberschreitung vor, zudem sorgten sie dafür, die staatlichen Mittel auf ein Minimum zu reduzieren, für wichtige Editionsprojekte erhielt die Matica überhaupt keine finanzielle Unterstützung mehr.¹⁰⁹ Insgesamt richtete sich die Matica slovenská in der Folge stärker nationalistisch aus. Das zeigte sich etwa weniger in ihrem traditionellen Publikationsorgan Slovenské pohľady als vielmehr in der 1934 gegründeten illustrierten Zeitschrift Slovensko unter Federführung des Chefredaktors Stanislav Mečiar, der sich darin aktiv an der nationalen Diskussion beteiligte. Zudem wurden 1937 mit Jozef Tiso und Ferdinand Ďurčanský weitere prominente Verteter der HSĽS in den Vorstand der Matica gewählt.¹¹⁰ Am Streit um die Rechtschreibreform und deren Auswirkungen zeigt sich deutlich, wie stark in der Slowakei das kulturelle und das politische Feld miteinander verwoben waren und die Autonomie des kulturellen Feldes immer geringer wurde.

Verschiedene Schriftnormen Die gekippte Rechtschreibreform war ein kulturpolitischer Skandal, der sicher zum Teil auf den Plan der Volkspartei zurückzuführen war. Doch auch Slowaken, die nicht Anhänger der HSĽS waren, stimmten im Sinne der Autonomisten ab, um sich gegen die Tschechisierungspraxis zu wehren.¹¹¹ Das Ereignis zeigt, wie sich die Stimmung gegenüber dem Staat auf Seiten der Slowaken verschlechterte. Die Rechtschreibregeln wurden als politischer Angriff gegen die nationale slowakische Identität gewertet, auch wenn sie von Seiten der Sprachwissenschaftler, die ihrem sprachwissenschaftlichen Diskurs entsprechend die Regeln entworfen hatten, überwiegend legitimierbar waren. Nur ein kleiner Teil der slowakischen Intellektuellen stimmte der ersten Version der Regeln von 1931 zu. Und zwar handelte es sich dabei um die der Zeitschrift Prúdy nahestehenden Hlasisten sowie Vertreter der tschechischen Intelligenz, die in Schulen oder Ämtern arbeiteten. Die Polemiken gegen die Regeln wurden stark durch die Zeitungsbeiträge der Schriftsteller und Funktionäre Martin Rázus und Jozef Ciger Hronský sowie Andrej Hlinkas angeheizt. Rázus und Hronský wären als Schriftsteller unmittelbar von den gezielten Abweichungen vom Martiner Usus betroffen gewesen, da sie ihre Prosa in diesem Stil verfassten.¹¹²

109 Winkler/Eliáš 2003, S. 137 f. 110 Winkler/Eliáš 2003, S. 141. 111 Felak 1994, S. 88. 112 Krajčovič, Rudolf, Žigo, Pavol: Dejiny spisovnej slovenčiny [Geschichte der slowakischen Schriftsprache], Bratislava 2002, S. 220.

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Als unmittelbare Reaktion auf die umstrittene Rechtschreibreform gründete Anton Prídavok zusammen mit dem Sprachwissenschaftler Henrich Bartek – der auch Mitglied des Redaktionskreises von Nástup war – in Košice die Zeitschrift Slovenská reč [Slowakische Sprache/Rede] noch im selben Jahr; ein Jahr später wurde sie von der Matica als ihr sprachwissenschaftliches Organ übernommen¹¹³. Bezeichnenderweise trug sie nicht den Namen „Slowakische Sprache“ was dem aktuellen linguistischen Stand entsprochen hätte, sondern „Slowakische Sprache/Rede“. In dieser Terminologie spiegelte sich die politische Auseinandersetzung um die slowakische Sprache. Die Zeitschrift war Ausdruck einer gezielten nationalistischen Praxis im Feld von Kultur und Wissenschaft. Der spätere Chefredaktor Bartek hatte bereits vor Gründung der Zeitschrift publizistisch auf die Veröffentlichung der Rechtschreibregeln in verschiedenen Kulturzeitschriften wie Elán oder Slovenské pohľady reagiert.¹¹⁴ Darin hatte er vor allem die ständigen Bezüge zum Tschechischen kritisiert. Alles was die Eigenständigkeit und Einzigartigkeit des Slowakischen unterminierte, machte er als Schwächen aus. Als Grundlage einer notwendigen Überarbeitung betrachtete er die „lebendige Sprache“. Der mittelslowakische Dialekt, die gesprochene Sprache und die Werke von Bernolák, Štúr und Czambel hielt er für die geeigneten Referenzen für die slowakische Rechtschreibung. Die Zeitschrift Slovenská reč erschien zehn Mal jährlich. Sie war die erste Fachzeitschrift, die sich ausschliesslich mit Fragen der slowakischen Sprache befasste. Themen waren die Sprachpflege und wissenschaftliche Erarbeitung einer neuen slowakischen Orthographie. Dabei folgten die Autoren den Grundsätzen eines sprachlichen Purismus, das heisst vor allem tschechische, aber auch deutsche Einflüsse sollten ferngehalten werden. Erstaunlicherweise wollten sie indessen seit langem eingeführte Magyarismen und Latinismen beibehalten.¹¹⁵ Im ersten Jahrgang setzte sich die Redaktion als Ziel, „die Kenntnisse des guten schriftlichen Gebrauchs zu verbreiten, der ein Ergebnis der systematischen Arbeit der Matica slovenská ist“¹¹⁶. Chefredaktor Bartek ging es demnach darum, den Martiner Usus als Grundlage der slowakischen Orthographie beizubehalten, wobei er die Arbeiten von Samuel Czambel, Jaroslav Vlček, Jozef Škultéty sowie Štefan Krčméry, dem aktuellen Chefredakteur der Slovenské pohľady, im Sinn hatte.

113 So Bartek im Interview gegenüber dem Nástup, 8, 9, 1.5.1940, S. 132–134. 114 Krajčovič/Žigo 2002, S. 216. Bartek, Henrich: Pravidlá slovenského pravopisu. [Die Regeln der slowakischen Rechtschreibung], in: Slovenské pohľady, 9, 1931 S. 579–584. 115 Kamusella 2009, S. 845. 116 Bartek, Henrich: Ešte o správnosti jazykovej. Odpoveď na Vážneho úvahy nad Slovenskou rečou. [Noch einmal über die sprachliche Korrektheit. Eine Antwort auf Vážnys Essay über „Slovenská reč“], in: Slovenská reč, 2, 1933–34, S. 278–296; hier S. 278.

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In Slovenská reč wurden Debatten geführt, die sich oftmals gegen die Zeitschrift Bratislava der tschechoslowakisch orientierten Opponenten um den Literaturhistoriker Albert Pražák, einem Schüler und Protegé Vlčeks, richteten. Hierbei handelte es sich vordergündig um einen Streit zwischen der Matica slovenská und der Abteilung für tschechoslowakische Sprache und Kultur an der Universität in Bratislava um die Kompetenz zur Erforschung der slowakischen Sprache und Literatur. Letzlich ging es jedoch um die Deutungshoheit über und Einflussnahme auf die slowakische Kultur. Inhalte der Diskussionen in den ersten Jahrgängen waren etwa Entgegnungen auf die Vorwürfe an die slowakische Seite, einem sprachlichen Purismus zu huldigen oder die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Prager linguistischen Zirkels zu ignorieren. Ausführlich wurde auch die von Vážny geleitete Rechtschreibreform diskutiert. Als entscheidenden Unterschied zwischen dem Tschechischen und dem Slowakischen machte Chefredaktor Henrich Bartek die unterschiedliche historische Entwicklung der beiden Sprachen aus, die sich zwangsläufig in verschiedenen Schriftsprachen niederschlagen müsste. Das Tschechische sei wie das Französische eine Schriftsprache mit langer Tradition. Deshalb unterscheide sich die Schriftsprache mit ihren alten Wendungen auch sehr von der gesprochenen Sprache. Die slowakische Sprache weise diese Divergenz jedoch nicht auf. Im Gegenteil entspräche die erst neunzig Jahre alte Schriftsprache der gesprochenen Sprache. Es hätten sich in dieser Zeit keine Unterschiede zwischen der Schriftsprache und der von Gebildeten und vom Volk gesprochenen Sprache etablieren können.¹¹⁷ Als Konzept liegt dem Insistieren auf der gesprochenen Sprache die Vorstellung von der Stimme des slowakischen „Volkskörpers“ zugrunde. Zunehmend wuchs in der Gesellschaft das Bewusstsein, dass die Sprachfrage keine ursächlich linguistische Angelegenheit war, sondern eine gesellschaftspolitische Dimension hatte. 1935 wies der mit dem Prager Strukturalismus vertraute Linguist Ľudovít Novák in einem Vortrag darauf hin. Henrich Bartek äusserte in der anschliessenden Diskussion, dass die Zukunft des Slowakischen davon abhängen würde, wie sich die Tschechen dazu verhalten würden. Würden sie es nicht wertschätzen oder gar verachten, vergrößerten sich die Unterschiede nur, und der Philologe sei dann gezwungen, diese als Regeln festzuschreiben.¹¹⁸ Mit der Zeitschrift Slovenská reč wurde die Praxis von doppelten – tschechoslowakischen und slowakischen – Kulturinstituten und -zeitschriften weiter ausge-

117 Bartek, Henrich: O správnosti jazykovej [Über sprachliche Richtigkeit], in: Slovenská reč, 2, 1, 1933–34, S. 1–16, hier S. 1. 118 o. N.: Československá otázka z hľadiska jazykového [Die Tschechoslowakische Frage aus der sprachlichen Sicht], in: Rozvoj, 13, 1935, S. 186.

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baut. Der Graben zwischen dem alten nationalen Martiner Zentrum und dem immer stärker tschechoslowakisierten Bratislava wurde tiefer. Jene Tschechoslowakisten, die nach der Wende die Matica verlassen hatten, versuchten die Kompetenz für die Rechtschreibreform der Šafarík-Gelehrtengesellschaft zu übertragen, wo ebenfalls eine Rechtschreibkommission gegründet wurde. Zusammen mit der Philosophischen Fakultät bildete die Institution das Zentrum der tschechoslowakistischen Rechtschreibreformer. Der Weggang der tschechischen Wissenschaftler von der Matica slovenská im Mai 1932 brachte der slowakischen Forschung selber Nachteile. Vaclav Vážny etwa hatte bei der Matica eine Fünfergruppe von Dialektologen geleitet, die die slowakischen Dialekte dokumentierten. Diese Arbeit wurde abgebrochen und auch bei der Gelehrtengesellschaft nicht mehr im begonnenen Umfang zu Ende geführt. Zudem etablierte sich ein Dualismus des Schriftgebrauchs: Schulen und die staatliche Verwaltung sowie Institutionen, die tschechoslowakisch orientiert waren, wurden angehalten, Vážnys Reform zu folgen, während die Matica slovenská und der überwiegende Teil der slowakischen Presse den Usus der Matica übernahm, der sich aus traditionellen Formen der Schriftsprache sowie der Kritik an Vážnys Regelwerk ergab.¹¹⁹ Die kulturelle Sphäre in der Slowakei differenzierte sich somit immer deutlicher und auf verschiedenen Ebenen in pro-slowakische und pro-tschechslowakische Kulturschaffende aus – mit durchaus negativen Folgen für das kulturelle Leben. Trotz des Putsches in der Matica slovenská und des neuen dort herrschenden slowakisch-nationalistischen Geistes konnten die Regeln von 1931 nicht einfach überarbeitet werden. Es bestand unter den politischen Voraussetzungen auf offizieller Seite kein Interesse, die Stellung des Slowakischen in der Slowakei zu stärken. Den slowakischen Puristen wiederum fehlte die staatliche Unterstützung sowie aus linguistischer Sicht ein massgebliches unterstützendes Wörterbuch, welches hingegen die Vážný-Variante im Jahr 1931 durch das phraseologische Wörterbuch „Slovenský frazeologický slovník“ Peter Trvdýs, des führenden Lexikologen, erhalten hatte.¹²⁰ Sie hatten weder die Mittel, etwa ein zweisprachiges tschechischslowakisches Wörterbuch herauszugeben, noch wäre es möglich gewesen, die eng verwandten Sprachen überzeugend voneinander abzugrenzen. Von offizieller Seite wurde der Status des Slowakischen noch einmal herabgestuft, als in den gemischtsprachigen Gebieten ab 50 % anfang 1938 zweisprachige Beschriftungen im öffentlichen Raum angeordnet wurden. Ernsthaft verhandelten die

119 Winkler/Eliáš 2003, S. 219. – Im Jahr 1933 führte etwa die Redaktion von Rozvoj die Rubrik „Slowakisch“ ein, worin sie Teile von Artikeln aus der Slovenská reč abdruckte, die sich mit bestimmten „Fehlern“ befassten. 120 Kamusella 2009, S. 849.

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Prager Minister die ausschliessliche Verwendung des Slowakischen in amtlichen und schulischen Zusammenhängen in der Slowakei erst unmittelbar nach den slowakischen Lokalwahlen im Juni 1938.¹²¹ Doch aufgrund der drängenderen Probleme mit der deutschen Minderheit in der Republik wurde das Thema erneut vertagt. Unter diesen Voraussetzungen kam ein neuer Vorschlag zur slowakischen Rechtschreibnorm erst acht Jahre nach dem letzten von 1931 zustande. Als Referent der Matica legte Henrich Bartek diesen nur wenige Tage nach der Gründung des slowakischen Staates dem Volksparteikader und Bildungsminister Jozef Sivák vor.¹²² Der winkte den Vorschlag indessen nicht wie erwartet durch, sondern übergab ihn einer anfänglich namentlich nicht bekannten Kommission aus Historikern und Philologen an der Slowakischen Universität (ehemals Komenský-Universität) zur Prüfung. Zur besseren Legitimation wurden auch noch die Schriftsteller Milo Urban, Andrej Žarnov und Ján Smrek dazu eingeladen¹²³. Daraufhin legte Bartek seine Ämter nieder und wurde zum Opponenten der neuen Regeln „Pravidla slovenského pravopisu“, die Anton Augustín Baník 1940 herausgab. Weshalb Henrich Bartek, Anton Prídavok und ihre weiteren puristischen Anhänger¹²⁴ ihren Vorschlag letztlich nicht durchbringen konnten, ist nicht eindeutig und schon gar nicht allein auf der philologischen Ebene zu klären. Einiges deutet darauf hin, dass unmittelbar nach der Staatsgründung das Machtgefüge noch ungefestigt war und auch die Rechtschreibregeln in den Strudel der sich gerade herausbildenden Einflusszentren gerieten.¹²⁵ Das Slowakische wurde mit der Gründung des slowakischen Staates die einzige und offizielle Staatssprache. Die politische Unabhängigkeit vom tschechischen Landesteil hatte das Slowakische ohnehin gestärkt und die differenziellen Bemühungen waren aus politischer Sicht nicht mehr nötig. Einzig das wieder ominpräsente Deutsch konkurrierte das Slowakische in der Öffentlichkeit.

121 Letz 2000, S. 68 f. 122 Bartek, Henrich: Pravidla slovenského pravopisu – koncept [Die Regeln der slowakischen Rechtschreibung – Konzept], Martin 1940. 123 Bartek, in: Nástup, 8, 9, 1.5.1940, S. 132–134. 124 Krajčovič/Žigo begründen die Überprüfung mit Barteks forciertem Purismus, der kritikwürdig erschien. Gegensätzlich argumentiert Kamusella, der die puristische Linie gerade als Grundlage für die neuen Rechtschreibregeln von 1940 betrachtet. Vgl. Krajčovič/Žigo 2002, S. 222 f.; Kamusella 2009, S. 859. 125 Abgeschlossen wurde die Reform im Prinzip erst mit dem Erscheinen des sechsbändigen „Slovník slovenského jazyka“ [Wörterbuch der slowakischen Sprache], hg. von Štefan Peciar u. a., Bratislava 1959–1968. Die entsprechenden Wörterbücher bei den Tschechen und Polen erschienen bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bei den Ungarn in der zweiten Hälfte. Vgl. Kamusella 2009, S. 135.

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An der Matica slovenská bereiteten Linguisten in Zusammenarbeit mit Philologen der Universität und an der 1942 aus der ehemals Šafarík-Gelehrtengesellschaft gebildeten Akademie der Wissenschaften und Künste ein mehrbändiges slowakisches Wörterbuch vor. Der Abschluss wurde jedoch durch die Konkurrenz mit einem ähnlichen Projekt an der Akademie und der zwangsläufigen Aufteilung der staatlichen Mittel dafür vor 1945 verhindert.¹²⁶ Die Standardisierung und damit Vereinheitlichung einer slowakischen Schriftnorm wurde im neuen Staat als notwendig erachtet. Deshalb wurden trotz des Krieges und der knappen Ressourcen erhebliche Mittel für die linguistische Forschung aufgewendet.

Ideelle Bedeutung Die slowakische Rechtschreibung wurde nie mehr so stark an die tschechische angenähert, wie in der Folge von Vážnýs Rechtschreibreform von 1931. Gerade die slowakischen Intellektuellen, die als Typus im Zusammenhang mit dem slowakischen Nationalismus entstanden, hatten ein ureigenes Interesse an einer distinkten slowakischen Sprache. Die möglichst reine slowakische Sprache wurde zu einem wichtigen Katalysator im Streben nach Anerkennung und gesellschaftlicher Stellung. Da die slowakische Sprache in den städtischen Zentren noch wenig etabliert war, behielt die Sprachfrage ein grosses Potenzial für die politische Mobilisierung. Die slowakische Sprache musste noch für bestimmte Lebensbereiche, insbesondere die Wissenschaft, weiterentwickelt werden. Für den Wunsch nach sprachlicher Reinheit konnte am besten aus den ländlichen Dialekten geschöpft werden, was sich aber bei den städtischen Eliten kaum durchsetzen liess. Für eine anspruchsvollere Terminologie war der Rückgriff auf andere Sprachen sinnvoll, am naheliegendsten auf das als bedrohlich wahrgenommene Tschechische. Somit waren die Befürworter eines reinen und zugleich umfänglich in der Slowakei geltenden Slowakisch in einem Dilemma gefangen. Wie wenig pragmatisch, vielmehr ideologisch, die Puristen die Normierung des Slowakischen angingen, zeigt ein Artikel von einem der Prídavok-Brüder, Jožo M. Prídavok, im Nástup vom 1. Januar 1934. Unter dem Titel „Über das Slowakische“ beklagt sich der Verfasser darüber, wie schlecht selbst die Intellektuellen das Slowakische beherrschten und „überflüssigerweise und dem Geiste der Schriftsprache widerstrebend“ Germanismen, Bohemismen und Ungarismen benutzten. Er habe die Ursachen, dieser mangelnden Wertschätzung der slowakischen Intelligenz gegenüber der slowakischen Schriftsprache gesucht, dieser gesamtnationalen Schmerzunempfindlichkeit

126 Kamusella 2009, S. 860.

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(„Indolenz“) und schweren Krankheit, unter deren Wunden uns das allerheiligste Blut unserer kulturellen slowakischen Existenz wegfließt.¹²⁷

Die Konzeptualisierung der Sprache ist hier imaginär durch die Metapher vom einheitlichen „Volkskörper“, der gesund oder eben krank sein kann, bestimmt. Es zeigt sich, wie über die metaphorische Ebene der Sprachpurismus mit einem organisch-biologisch attribuierten Nationalismus korrespondiert. Der Verfasser verurteilt ferner den durch die Rechtschreibnorm verursachten „grossen Schaden“, den in der Slowakei die Rechtschreibregeln angerichtet hätten, „von denen wir erwarteten, sie würden unsere Sprache auf solche Grundlage stellen, auf der man nach Art anderer Schriftsprachen den reinen Schatz unseres Geistes aufbauen könnte, seiner Äusserung, die die erste Bedingung der nationalen Existenz ist.“ Der Intellektuelle hat demnach die Aufgabe, mit Hilfe der Sprache den nationalen Geist zu „äussern“. Wieder einmal ist hier von der Schrift die Rede wie von einer Stimme. Der Intellektuelle verkörpert die slowakische Nation und spricht für sie mit ihrer Stimme. Die angebliche Bereicherung der slowakischen durch die tschechische Sprache habe die Slowaken dessen beraubt, was ihnen erlaubte, sich als „zivilisierte selbstbestimmte Nation“ zu bezeichnen. In diesem Sinne fordert der Autor jeden „vaterlandstreuen“ Slowaken auf, sich gegen tschechoslowakisierende Kampagnen zu wehren. Der Text bricht an dieser Stelle ab, weil eine halbe Spalte von der Zensur gelöscht wurde, was auf einen als staatsfeindlich gewerteten Fortgang des Textes schliessen lässt. All die im Zusammenhang mit der slowakischen Sprache geübte Kritik – das Fehlen einer verbindlichen Norm, parallel verwendete Orthographien, individuelle Varianten und Abweichungen, Lehnwörter sowie die Sprachvarianten von Tschechen, die versuchten, sich das Slowakische anzueignen –, wurde von Sprachpuristen kaum wegen der Vielfalt als solcher geäussert. Der solchermassen heterogene Sprachgebrauch verhinderte, dass die Sprache als zentrales identifikatorisches Element der Kultur funktionierte. Oder mit anderen Worten: Das Sprechen der Nation mit einer Stimme war nicht möglich. Anzumerken ist ferner, dass der Nachdruck, mit dem die Reinheit des Slowakischen und die Berücksichtigung dialektaler Besonderheiten gefordert wurde, weniger eine Folge der realen sprachlichen Eigenständigkeit des Slowakischen, beziehungsweise der Verschiedenheit vom Tschechischen war. Die beiden Sprachen sind sich in der Tat sehr ähnlich, und doch hätten die vorgeschlagenen

127 S. 202 f. [Hľadal som pričiny tejto neúcty slovenskej inteligencie k spisovnej reči slovenskej, tejto celonárodnej indolencie a ťažkej choroby, pod ranami ktorej odtieka nám najsvätejšia krv nášho kultúrneho bytia slovenského.]

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Rechtschreibkorrekturen noch kein Tschechisch aus dem Slowakischen gemacht. Vielmehr spiegelt der Diskurs die konträren Nationskonzepte und wie diese bis in wissenschaftliche Disziplinen hineinwirkten. Die tschechischen Sprachwissenschaftler waren zu diesem Zeitpunkt zum einen bereits viel stärker durch den ahistorisch, systematisch argumentierenden Strukuralismus geprägt. Ihnen ging es dabei auch um eine Vereinfachung, um größere Logik und Systematik im Gebrauch der Schriftsprache. Die Slowaken argumentierten hingegen sprachhistorisch, das heißt, sie setzten der strukurorientierten Praxis eine ethnisch-kulturelle entgegen. Dass der Streit um die Rechtschreibreform selber nicht nur politisiert war, sondern auch bis hinein in die Politik Folgen zeitigte, beweist eine Notiz von Martin Rázus, in der er sich darüber äussert, dass die Zusammenarbeit seiner Partei, der Slowakischen Nationalpartei, mit der Volkspartei auch unter dem Eindruck des Putsches zustandekam: „Hinzu kam der 12. Mai 1932 (. . . ) Der politische Gedanke, der dahinter stand, war: in der Vereinigung der autonomistischen Front die Slowakei mitzureissen, die zentralistischen Fraktionen zu bezwingen, und die Regierung und ihre politischen Exponenten, Slowaken, zu drängen, das slowakische Problem zu lösen.“¹²⁸ Das Zitat beweist auch, dass der Putsch im Zusammenhang mit der Bildung eines autonomistischen Blocks von HSĽS und SNS im selben Jahr zu deuten ist. Die missglückte Rechtschreibreform ist als Ausdruck einer neuen symbolischen Praxis der autonomistischen Nationalisten zu werten. Sie waren weniger an der wissenschaftlichen Erforschung der slowakischen Sprache interessiert als daran, die slowakische Sprache in der Öffentlichkeit zur ausschließlichen Geltung zu bringen. Insofern haben wir es mit einer Art pragmatischen Wende der Rolle der Sprache im slowakischen Nationalismus zu tun. Das gilt bereits für die frühe Nachkriegszeit, manifestierte sich aber besonders deutlich am Putsch in der Matica slovenská. Eine wesentliche, bisher noch nicht angesprochene Frage ist die nach der nationalistischen Legitimation.¹²⁹ Durchgehend wurde in den nationalistischen Zeitschriften die Reinheit der slowakischen Sprache gefordert, sie war ein wesentli-

128 Zit. nach Letz 2006, S. 32 [Do toho prišlo 12. mája 1932 (. . . ) Politická myšlienka, ktorá stála za tým, bola: v zjednotení autonomistického frontu strhnúť Slovensko, poraziť centralistické frakcie a dotisnúť vládu i jej politických exponentov, Slovákov, vyriešiť slovenský problém.]. 129 Maxwell sieht ebenfalls religiöse Motive dem Sprachenengagement zugrunde liegen: „Hlinka’s true motives, and those of his most devoted followers, were primarily confessional: in all likelihood, they proclaimed Slovak linguistic distinctiveness not out of affection for speech they themselves spoke only imperfectly, but because the issue proved an effective weapon for attacking the secular government of Czechoslovakia.“; Maxwell 2009, S. 181. Er führt allerdings nicht aus, wie sich der Zusammenhang von linguistischer und religiöser Provokation gestaltete.

6.5 Praxis der Ethnisierung |

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ches Argument für den Putsch in der Matica slovenská und ohnehin für die Gruppe der Sprachpuristen. Die Reinheit betraf indes keine unterscheidende Funktion des Slowakischen. Es bestand ja nicht die Frage, ob Tschechisch oder Slowakisch gesprochen werden sollte. Selbst slowakische Tschechoslowakisten wären für die Verwendung der slowakischen Sprache in der Slowakei, und nicht der tschechischen gewesen. Vielmehr stand die Funktionalität der Sprache zur Diskussion. Dass das Konzept der Reinheit solch starke einigende und mobilisierende Wirkung hatte wie auf der Vollversammlung in der Matica slovenská im Mai 1932, lag auch daran, dass die Nationalisten es verstanden hatten, durch ihre Arbeit an einer nationalistischen Religion das religiöse Konzept der Reinigung als Teil ihres säkularen Glaubenssystems zu etablieren. Insofern setzten sie sich in den Augen der Öffentlichkeit glaubwürdig für das Wohl der Nation ein, wenn sie sich um die Reinigung von etwas, hier: der Sprache, bemühten.

6.5 Praxis der Ethnisierung Organisationen wie die Matica slovenská oder der Verein hl. Adalbert bemühten sich um die Verbreitung eines slowakischen Bewusstseins unter der Bevölkerung in der slowakischen Provinz, und ihre Ausschlusspraktiken richteten sich vor allem gegen alles Tschechische und Tschechoslowakische. Die Slovenská liga hingegen setzte mit ihrer Form einer kulturellen Praxis bei der ethnisch gemischten, alt eingegesessenen Bevölkerung in den Grenzregionen an, bzw. in den urbanen Zentren wie Bratislava und Košice. Insofern kann sie als Beispiel einer eigenständigen Kulturorganisation gelten, die eine gezielte Ethnisierungspraxis ausübte. Die Slowakische Liga wurde in der neuen Hauptstadt Bratislava gegründet, wo sie sich ein repräsentatives Gebäude mit Büroräumen, Wohnungen, Restaurant, Buchhandlung und Kino errichten liess. Im Gegensatz zur mittelslowakischen provinziellen Abgeschiedenheit der Matica slovenská liess sich die Slovenská liga inmitten ihrer gemischt ethnischen Zielgruppe nieder. Auch befasste sie sich bei ihren Slowakisierungsabsichten nicht nur mit kulturellen und bildungspolitischen Fragen, sondern nahm sich auch sozialer, konfessioneller und teilweise politischer Probleme an, sofern sie mit der Stellung der Slowaken gegenüber den nationalen Minderheiten zu tun hatten. Anders als die autonomistischen Nationalisten war die Slovenská liga eine treue Anhängerin des tschechoslowakischen Staates. Sie betrachtete diesen als einen Verbund von drei slawischen Nationen. Das Prinzip der „slawischen Wechselseitigkeit“ kompensierte dabei die Unstimmigkeiten mit den Tschechen auf der symbolisch-religiösen Ebene, da sie nicht nur ein christliches Selbstverständnis hatte, sondern sich auch auf die katholische Gemeindearbeit abstützte und diese

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förderte. Und die Staatsgründung deutete sie als den Zeitpunkt der Wiederauferstehung der slowakischen Nation analog zu Jesus’¹³⁰ Auferstehung aus dem Grab.¹³¹ Die Slovenská liga hatte als Ableger der amerikanischen Mutterorganisation einen historischen Hintergrund, von dem sie sich allmählich löste. Mit der Zeit konzentrierte sie ihre Arbeit zunehmend auf ethnisch gemischte Gebiete in der Slowakei und kooperierte dabei wesentlich stärker mit tschechischen und tschechoslowakischen Organisationen. Sie fuhr keineswegs einen konfrontativen Kurs gegenüber dem tschechoslowakischen Staat, was etwa bei der Matica slovenská vor allem 1932 und auch in den folgenden Jahren der Fall war. 1922 kam es wegen der Staatsloyalität sogar zum Bruch mit der amerikanischen Liga, weil diese die tschechoslowakische Regierung aufforderte, die Autonomieversprechen des Pittsburgher Vertrages in die Verfassung aufzunehmen. Die Slowakische Liga distanzierte sich aber von solchen Autonomieforderungen, zumal die meisten ihrer Funktionäre, die auch noch von Agrariern wie Vavro Šrobár unterstützt wurden, die Position der tschechoslowakischen Einheit vertraten. In den neuen Statuten von 1925 wurde die Zusammenarbeit mit der Mutterorganisation gar nicht mehr erwähnt.

Assimilation an die Pseudo-Minderheit Ein wichtiges Ziel der Organisation war es, die slowakische Sprache besonders in den gemischtsprachigen Gebieten als Amtssprache zu etablieren. Die Matica slovenská nahm sich zwar auch der Verbreitung der slowakischen Sprache an, aber sie war vorrangig für die wissenschaftliche Entwicklung und Einhaltung einer Schriftnorm zuständig. Die Slovenská liga baute Schulen und versuchte, die slowakische Sprache im Unterricht und im Gottesdienst in den gemischtsprachigen südlichen und östlichen Gebieten mit Hilfe staatlicher Unterstützung durchzusetzen und so die kulturellen Gepflogenheiten, die durch die Minderheiten der Deutschen und Ungarn etabliert waren, zu beseitigen. Denn diese betrachteten die Akteure der Liga als zentrales Problem für die slowakischsprachige Bevölkerung in diesen Gebieten. Eine Schieflage erhielt das Engagement dadurch, dass die Slowaken in der Tat keine anerkannte nationale Minderheit im Gegensatz zu

130 „Jesus“ wird in dieser Arbeit grammatisch und orthographisch konsequent nach dem Muster deutscher Namen behandelt. Der Verstoß gegen die Regeln der deutschen Rechtschreibung wird bewusst in Kauf genommen, um die Distanz zum theologischen Diskurs zu markieren. 131 Krasko: Ako môže každý pracovať na posilnení národného povedomia [Wie jeder an der Stärkung des nationalen Bewusstseins arbeiten kann], in: Slovenská liga, 5, 4, April 1928, S. 57 f.

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den anderen ethnischen Gruppen waren, sondern vielmehr Teil der Staatsnation. Insofern ging es eigentlich darum, die Ansprüche einer dominierenden Nation durchzusetzen. Für einige national-orientierte Intellektuelle war es aufgrund der staatsfreundlichen Haltung der Slovenská liga opportun, in dieser Organisation Mitglied zu sein und die eigene Karriere weiterzuentwickeln. Die Liga war auch sozial aktiv, um ihre Mitgliederbasis zu erweitern. Davon profitierten vor allem junge Intellektuelle. Ab 1931 wurden etwa Stipendien für mittellose Studenten ausgezahlt. Absolventen der Komenský-Universität wurden nach Möglichkeit angestellt, entweder als Funktionäre in der Zentrale wie der nationalistische Publizist Imrich Kružliak oder als Redaktoren in den verschiedenen Publikationen. 1934 gründete die Organisation sogar eine Vermittlungs- und Beratungsagentur für arbeitslose Angehörige der slowakischen Intelligenz, was die erste Einrichtung dieser Art auf tschechoslowakischem Boden war. Als ein gewichtiger Akteur im Verbreiten der slowakischen Sprache im öffentlichen Raum versuchte die Slovenská liga mit Hilfe ihrer 1925 gegründeten Literarischen Abteilung die Geltungshoheit – mit dem Argument der Reinheit – des Slowakischen durchzusetzen. Sie folgte dabei den Orthographievorschlägen in Czambels Handbuch. Ganz konkret zielten die Aktivitäten auf die Beschilderung des öffentlichen Raumes ab. Die Mitarbeiter der Liga entdeckten allein in Bratislava mehrere hundert Firmenschilder, die korrekturbedürftig waren, weil sie entweder deutsch oder ungarisch geschrieben waren oder fehlerhaft slowakisch. Die Aktion breitete sich über die regionalen Ableger der Slovenská liga rasch in der ganzen Slowakei aus.¹³² Zudem organisierte die Liga zusammen mit der Matica slovenská Kurse in slowakischer Sprache und Orthographie. Eine wichtige Rolle bei der Verbreitung eines reinen Slowakisch mass die Liga nicht nur den Schulen, sondern auch dem unterhaltenden Sektor des Kulturbetriebs bei. 1936 reichte sie, wiederum zusammen mit der Matica slovenská, beim Filmausschuss des Handelsministeriums eine Forderung ein, wonach alle ausländischen Filme in der Slowakei slowakisch untertitelt werden sollten. In diesem Bereich hatte bis dahin das Tschechische dominiert, weil die grossen Filmverleihe sich im tschechischen Landesteil befanden und diese die Filme tschechisch untertitelten. Ebenso sollten auch ungarische Untertitel nicht mehr zugelassen werden. Tatsächlich begannen die Filmverleihe allmählich auch auf Slowakisch zu untertiteln. Wie aussichtslos der Kampf für ein reines Slowakisch im Alltag war, belegt hingegen der Elán-Redaktor in Prag, Ján Smrek, in einem Radioreferat vom 7. August

132 Letz 2000, S. 160 f.

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1936. Unter dem Titel „Slowakische Intelligenzia, achte auf die Sprache!“¹³³ führt er zahlreiche Beispiele aus dem öffentlichen Leben in der Slowakei an, aus denen die Unsicherheit der Slowaken beim Schreiben und Sprechen des Slowakischen hervorgeht. Während in bestimmten Regionen peinlich genau auf die Korrektheit deutscher oder ungarischer Schriftzüge im öffentlichen Raum geachtet würde, herrsche im Slowakischen ein regelrechtes Chaos. Was Smrek als fehlerhaft betrachtet, sind allerdings alles Beispiele für eine fortschreitende Durchmischung der slowakischen und tschechischen gesprochenen Sprache. Die in einem tschechisch-slowakischen Mischmasch beschrifteten Auslagen der Läden in Bratislava etwa dürften die sprachliche Realität der städtischen Gesellschaft mit ihrer tschechischen Verwaltungsoberschicht repräsentiert haben. Smrek apelliert in seinem Referat an die slowakische Intelligenz, dass es ihre Bürgerpflicht sei, auf die Reinheit des Slowakischen zu achten, da nur diese die Kultur- und damit Lebensfähigkeit der Nation garantiere. Aus den zahlreichen Texten in den slowakischen Zeitschriften, die sich mit diesem Problem befassen, geht hervor, dass der sprachliche Purismus im Alltag nicht durchzusetzen war. Anton Prídavok, Publizist und Schriftsteller, war als Sekretär der Liga aktiv in der sprachlichen Quasi-Missionierung der Grenzregionen. Er bereiste die Gegenden und half als Vertreter der Zentrale, lokale Ausschüsse zu gründen, die sich „der Säuberung der Ostslowakei von magyaronischen Elementen“¹³⁴ annahmen. Mit Reinigung/Säuberung ist bei der Liga schwerpunktmässig die Slowakisierung des öffentlichen Raumes, das heisst die Beschriftung von Strassen, Firmen und öffentlichen Gebäuden gemeint; die Sorge reichte bis hin zur Pflege vernachlässigter Gräber von slowakischen Aktivisten auf sonst ungarisch beschrifteten Friedhöfen. Darüber hinaus ging es aber auch um die Slowakisierung der Bevölkerung, besonders um die Rückverwandlung ungarisierter, aber auch eingedeutschter slowakischer Familiennamen: „Das Magyaronentum ist bei uns eine Plage, die wir ausrotten müssen.“¹³⁵ Die vorbildliche slowakischsprachige Landbevölkerung sollte dabei die „Abtrünnigen“ in den Städten beeinflussen. Die Aktivitäten betrafen auch Gebiete, die von Deutschsprachigen bewohnt wurden:

133 Smrek, Ján: Slovenská inteligencia, pozor na reč! [Slowakische Intelligenzia, achte auf die Sprache!], in: Smrek 1999, S. 47–51. 134 (Referát tajomníka) [Referat des Sekretärs]: Čo vykonala Slovenská liga [Was die Slowakische Liga vollbracht hat], in: Slovenská liga, 5, 4, April 1928, S. 63. 135 Anton Prídavok: Slovenská Liga na východnom Slovensku [Die Slowakische Liga in der Ostslowakei], in: Slovenská liga, 5, 5, April 1928, S. 90 [Maďarónstvo je u nás pliaga, ktorú musíme vyničiť.].

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Diese Deutschen, obgleich sie mehr Rechte haben als je zuvor, werden von uns nicht wohlgesonnenen Elementen genährt und obwohl den Unsrigen von ihnen keine Entnationalisierung droht, muss man dennoch beobachten, dass sie sich gegen die slowakischen Mitbürger stellen, sie geringschätzen und wenn möglich, sie nicht zur Arbeit annehmen usw.¹³⁶

Gegen diese Missstände wollte die Liga durch soziale Massnahmen vorgehen. Bemerkenswert an diesem Zitat ist, dass Juden nicht eigens hervorgehoben werden, obgleich vermögende deutschsprachige Juden mit angesprochen wurden. Die Slovenská liga äusserte sich publizistisch indes nicht antisemitisch. Konfessionell war die Liga nicht auf eine der christlichen Religionen festgelegt. Sie versuchte auch in den südlichen, ungarisch dominierten Regionen den Gottesdienst auf Slowakisch durchzusetzen. Das war in der katholischen Kirche schwierig, da die Slowakei keine eigenständige Kirchenprovinz war. Auch wenn sie nach 1918 drei slowakische Bischöfe bekam, blieb sie doch dem ungarischen Esztergom unterstellt. Viele katholische Priester hielten den Gottesdienst weiterhin auf Ungarisch ab, denn sie waren nicht daran gebunden, die Staatssprache zu verwenden.¹³⁷ Die Slowaken in den Gemeinden waren somit gezwungen, den ungarischsprachigen Gottesdienst und Religionsunterricht zu besuchen. Die Liga ernannte zwei Referenten, einen katholischen Priester und einen evangelischen Pfarrer, die an Schulen, in denen die Slowaken die ethnische Minderheit bildeten, den Religionsunterricht auf Slowakisch organisieren sollten. Eine besondere Zielgruppe unter den konfessionellen Gruppen stellten die slowakischen Calvinisten in der Ostslowakei dar, die mit weniger als 20 000 Gläubigen die Minderheit unter den knapp 150 000 ungarischen Calvinisten bildeten. Ihrer nahm sich besonders der Schriftsteller Elo Šándor an, der zugleich zweiter Vorsitzender der Liga war.¹³⁸ Die kleinen Erfolge der Liga im Kampf um die slowakische Sprache bei der Ausübung der verschiedenen Religionen wurden allerdings mit der Übertragung der südlichen Gebiete an Ungarn nach der Wiener Arbitrage im Jahr 1938 größtenteils zunichte gemacht. Generell versuchte die Slovenská liga, Minderheiten und die jüdische Bevölkerung zu assimilieren. Die Zusammenarbeit mit dem Verband der slowakischen 136 Anton Prídavok: Slovenská Liga na východnom Slovensku [Die Slowakische Liga in der Ostslowakei], in: Slovenská liga, 5, 5, April 1928, S. 89 f. [Títo Nemci, hoci dnes majú viac práv, ako ich mali kedykoľvek, živení sú nám neprajnými živľami a hoci u nich našim nehrozí odnárodňovanie, jednako badať, že stavajú sa proti slovenským spoluobčanom, aj opovrhujú nimi, keď možno, neprijímaju ich do práce a pod.] 137 Dies ist auch ein deutlicher Hinweis auf den Nationalismus der katholischen Kirche, der nicht primär als ethnisch zu bezeichnen ist. Sprachliche Fragen spielten eine untergeordnete Rolle, auch wenn der politische Katholizismus die Erschaffung einer sprachbasierten Identität unterstützte. 138 Letz 2000, S. 167 f.

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Juden beispielsweise entwickelte sich deshalb gut, weil dieser die Forderung akzeptierte, die Juden sollten sich zur slowakischen Sprache und Nation bekennen.¹³⁹ Unmittelbar vor der im Dezember 1930 anstehenden Volkszählung rief die Liga die jüdische Bevölkerung auf, sich zur slowakischen Nationalität zu bekennen.¹⁴⁰ Mit dieser gemässigten Position, die zuliess, dass aus Juden „Slowaken“ werden könnten, unterschied sich die Slovenská liga von nationalistischen Exponenten der autonomistischen Bewegung, die solche Haltung schon bald nach 1918 nicht mehr äusserten. Deutlich wird zudem an der Beteiligung der Liga an der Volkszählung – Anton Prídavok war eine der beiden Vertrauenspersonen in der Südslowakei, die Personen für die Zählung engagierten¹⁴¹ – dass sie sich zwar vordergründig im kulturellen Feld engagierte, die Kultur jedoch für ihre bevölkerungspolitischen Ambitionen instrumentalisierte. Mit ihrer ethnischen Praxis, die eine kulturelle Assimilierung auch von Juden vorsah, praktizierte die Slovenská liga zumindest keinen rassistischen Nationalismus. Aufgrund der politisch unverfänglichen Ausrichtung der Slovenská liga waren die Mitglieder und Funktionäre von gemischtem politischem und konfessionellem Hintergrund. Es fanden sich auch einige der nationalistischen Intellektuellen darunter. Insbesondere nach der Gründung der literarischen Abteilung im Jahr 1925 war die Mitarbeit in der Liga für viele Publizisten und Schriftsteller attraktiv. Tido Gašpar war von Anfang an dabei, später stiessen auch noch Jozef Nižnánsky, Peter Prídavok und Konstantín Čulen dazu. Vorsitzender der literarischen Abteilung war der katholische, einflussreiche Intellektuelle und gleichzeitige Funktionär des Vereins hl. Adalbert Karol Körper.¹⁴² Das kämpferische Motto der Slovenská liga lautete „Za tú našu slovenčinu“ [Für dieses unser Slowakisch]. Ab 1927 sollte dies auch auf einer eigenen Flagge geschrieben sein. Durch ihre vornehmlich lokale Orientierung war sie darauf spezialisiert, die Bedeutung der ungarischen Kultur und Sprache in der Slowakei zu verringern. Doch auch die slowakischsprachige Bevölkerung in Ungarn definierte sie als ihren Zuständigkeitsbereich und versuchte, deren Position zu stärken. Der Ethno-Nationalismus der Liga und die damit verbundene Ignoranz der politischen Grenzen in dieser Frage heizten den Konflikt zwischen den beiden Staaten weiter an. 1927 steuerte die ungarische irredentistische Bewegung mit der Aktion des britischen Publizisten Lord Rothermer auf einen vorläufigen Höhepunkt zu, der mit Hilfe einer Volksabstimmung zur Revision der Verträge von Trianon führen sollte. Ein grosser Teil der Slowakei, Rumäniens und Jugoslawiens sollte nach 139 Letz 1999, S. 127. 140 Letz 2000, S. 49. 141 Letz 2000, S. 50. 142 Letz 2000, S. 41.

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diesen Plänen Ungarn zugeschlagen werden.¹⁴³ Die Slovenská liga organisierte mehrere Protestaktionen in der Südslowakei, wo die meisten ihrer lokalen Ableger tätig waren, sowie in Bratislava. In Bratislava wurden 26 817 Unterschriften gegen die irredentistische Aktion gesammelt und der Regierung in Prag geschickt. Die slowakischen Zeitungen veröffentlichten anschliessend Namen und Firmen von Bewohnern Bratislavas, die nicht unterzeichnet hatten. Eine weitere Welle von Demonstrationen erreichte mit 300 000 Beteiligten 1931 ihren Höhpunkt, als die Liga die Stärkung der Rechte der slowakischen Minderheit in Ungarn und die Teilnahme von Vertretern am Genfer Kongress der organisierten nationalen Minderheiten in Europa forderte. Durch die anti-irredentistischen Aktionen bekam sie eine grosse öffentliche Aufmerksamkeit und gewann deutlich an Einfluss.¹⁴⁴ Die Vorstellung von der Nation war bei der Slovenská liga christlich-völkisch geprägt. Der Einzelne bezog seine Bedeutung aus der Zugehörigkeit zum Ganzen. Er war Teil des nationalen Körpers, dem das nationale Bewusstsein als Seele innewohnte: Wie der Mensch aus Körper und Seele besteht, so auch die Nation und der Staat. Ihr Körper sind die Bürger. Aber was ist ihre Seele? Ihre Seele ist das nationale Bewusstsein. Wenn das aus der Nation entweicht, kommt die Nation um, weil es nichts gibt, das sie zusammenhalten würde. Auch der menschliche Körper zerfällt, wenn sich die Seele aus ihm entfernt. Auch die Nation zerfällt in die einzelnen Glieder, wie die Zellen eines toten Körpers zerfallen wegen der entschwindenden Seele.¹⁴⁵

Aus der Leib-Seele-Analogie zwischen Mensch und Nation wird die Notwendigkeit der Pflege und Gesunderhaltung abgeleitet: „Gerade deshalb müssen wir auch in der Nation den nationalen Geist, also diese Seele, in den einzelnen Mitgliedern der Nation pflegen. Sie muss gesund sein, stark, damit sie jeden Ansturm einer nationalen Krankheit, die den nationalen Organismus vernichten wollte, abwehren kann.“¹⁴⁶ Dem Anliegen der Slovenská liga, das slowakische Territorium sprachlich

143 Letz 2000, S. 45. 144 Letz 2000, S. 47. 145 Krasko: Ako môže každý pracovať na posilnení národného povedomia [Wie jeder an der Stärkung des nationalen Bewusstseins arbeiten kann], in: Slovenská liga, 5, 4, April 1928, S. 57–61 [Ako človek pozostáva z tela i z duše, tak i národ a štát. Telom ich sú telá občanov. Alo čo je ich dušou? Ich dušou je národné povedomie. Ak to vhynie z národa, národ zahynie, lebo niet ničoho, čo by ho spoludržalo. I telo ľudské sa rozpadne, ak duša sa vzdiali z neho. I národ sa rozpadne na jednotlivých členov, ako buňky tela mrtvého rozpadnú sa vzdialením duše.]. 146 Ebenda [Práve preto i v národe duch národný, teda tú dušu musíme pestovať v jednotlivých členoch národa. Tá musí byť zdravá, silná, aby vydržala každý nápor národnej choroby, ktorá by chcela zničiť národný organizmus.]

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zu homogenisieren, liegen eben diese imaginären Vorstellungen von organischer Integrität, Gesundheit und Reinheit zugrunde.

Opportunistischer Umschwung Die eingefrorenen Kontakte zur amerikanischen Slowakischen Liga tauten ab 1935 wieder auf. Von Dezember 1935 bis Juli 1936 weilte eine Delegation der Matica slovenská bei den Organisationen der Slowaken in den USA. Darunter befand sich neben Jozef Cíger Hronský auch Konstantín Čulen, der aktives Mitglied in der literarischen Abteilung der Slovenská liga war und auch dem radikalen Kreis um Nástup angehörte. Er informierte anschliessend die Führung der Slovenská liga über die ehemalige Mutterorganisation und warb für eine neuerliche Zusammenarbeit. Doch erst Karol Körper, der zugleich Funktionär im Verein hl. Adalbert und in der Slovenská liga war, führte 1937 als Mitglied einer Delegation wieder eine Annäherung herbei.¹⁴⁷ Entscheidend war dabei die Haltung zur Frage des Pittsburgher Abkommens gegenüber der tschechoslowakischen Zentralregierung. Im Juni 1938 reiste eine Delegation von Vertretern amerikanischer Slowaken, mit dem Vorsitzenden der Slowakischen Liga in Amerika an der Spitze, nach Bratislava. Die Initiative dazu hatte Karol Sidor mit Hlinkas Unterstützung ergriffen. Und zwar sollte die Delegation den originalen Pittsburgher Vertrag mitbringen, um das zwanzigste Jahr des Vertragsabschlusses mit einer öffentlichen Kundgebung zu feiern, damit die Forderungen des Pittsburgher Abkommens in die tschechoslowakische Verfassung eingearbeitet würden. Die Ankunft der amerikanischen Delegation erhielt eine provokative zwischenstaatliche Note. Sie wurde im Hafen von Danzig empfangen, und zwar von den polonophilen Autonomisten Karol Sidor und Karol Murgaš sowie dem tschechoslowakischen Botschafter Juraj Slávik – ebenfalls ein Slowake. Die Vertreter der Slowakischen Liga in Amerika wandten sich an die Autonomisten und slowakischen Kulturvertreter, nicht aber an die offizielle tschechoslowakische Regierungsdelegation¹⁴⁸, die sich nachträglich noch eingeschaltet hatte, um das internationale Terrain nicht den slowakischen Autonomisten zu überlassen. Die Versöhnung mit der amerikanischen Liga fiel in die Zeit der stärkeren politischen Aktivitäten der Slovenská liga – trotz expliziter politischer Zurückhaltung. Sie lehnte etwa öffentlich die Verhandlungen mit dem ungarischen Nachbarn ab, der die Prager Regierung im Februar 1938 aufforderte, zweisprachige slowakischungarische Aufschriften in allen Ämtern, Post- und Stationsgebäuden und Stras147 Letz 1999, S. 122; Letz 2000, S. 65. 148 Letz 2000, S. 70.

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senschildern in Gebieten mit mehr als 50 Prozent ungarisch-sprachigen Bewohnern anzubringen. Die Slovenská liga war der Öffentlichkeit in den Dreissigerjahren bereits ein Begriff, und die ungarische Minderheit zeigte wenig Verständnis für die letztlich gegen sie gerichteten Aktivitäten. Der Abgeordnete der ungarischen Christlich-Sozialen János Esterhazy bezeichnete denn auch die Mitarbeiter der Slovenská liga 1935 vor dem Prager Parlament als „Kultur-Gangster“.¹⁴⁹ Die Liga spürte bei ihrer Tätigkeit vor Ort den ungarischen Druck, die Grenzen zu revidieren, am stärksten. So begann sie bereits 1936 Kredite aufzunehmen, um die Wehrfähigkeit des Staates in den Grenzregionen zu erhöhen. Die Liga wandelte ihre kulturelle Praxis allmählich in eine politische um. So schwenkte sie im Herbst 1938 ohne weiteres auf die Linie der Autonomieregierung ein, ungeachtet ihrer bis dahin geltenden tschechoslowakischen Orientierung. Einzelne führende Funktionäre verliessen aus diesem Grund die Organisation. Nach dem Münchner Abkommen und der in der Wiener Arbitrage erzwungenen grossen Gebiets- und Bevölkerungsabtretung an Ungarn im Oktober bzw. November 1938 musste die Slovenská liga grosse institutionelle und personelle Verluste hinnehmen. Sie setzte sich aber sogleich für Verhandlungen mit dem ungarischen Staat über die Gewährung von Minimalrechten für die Viertelmillion Slowaken ein, die neu auf ungarischem Territorium lebten. Zugleich richtete die Liga einen Revisionsausschuss ein, dem neben Propagandachef Alexander Mach die Intellektuellen Tido Gašpar, Jozef Kirschbaum und Augustín Način zugeordnet wurden. Einer der ersten Schritte der Kommission war, ein Dokumentationszentrum über die Flüchtlinge aus den besetzten Gebieten einzurichten und diese dazu aufzurufen, schikanöse Behandlungen oder Misshandlungen durch ungarische Polizisten fotografisch festzuhalten. Das Archiv musste die Liga 1940 allerdings dem Aussenministerium übergeben.¹⁵⁰ Jozef Kirschbaum, der zugleich Generalsekretär der HSĽS war, stellte auf der Grundlage dieser und weiterer Zeugenaussagen das Buch „Krvácajúca hranica“ [Blutende Grenze] zusammen, das Tiso im Juli 1940 zu den Verhandlungen mit Hitler nach Salzburg mitnehmen sollte. Deutschland hatte aber kein Interesse an einer Grenzrevision und ordnete an, die gesamte, kleine Auflage des Buches zu vernichten. Die Mitglieder der Slovenská liga hatten als neue kulturelle Bedrohung für „den slowakischen Menschen“ unter den Bedingungen des slowakischen Staates die Deutschen ausgemacht. Fortan sollte die Slowakisierungsarbeit in Gebieten geleistet werden, wo Slowaken inmitten von Ruthenen und Deutschen lebten.¹⁵¹

149 Letz 2000, S. 62. 150 Letz 2000, S. 74. 151 Letz 2000, S. 77.

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Es wurden zu dieser Zeit 203 slowakisch-ruthenische, 67 deutsch-slowakische und 28 ungarisch-slowakische Gemeinden auf slowakischem Territorium gezählt. Die Liga war darum besorgt, dass keine Slowaken auf eine andere nationale Seite, etwa durch Mischehen und deren Kinder, gezogen würden.¹⁵² Somit hatte die Liga ihre assimilatorische in eine segregative Praxis umgewandelt. Auch sonst veränderte die Liga ihre Vorgehensweisen, indem sie Vorgaben des neuen Regimes umsetzte: Ihre Grundstücksabteilung nannte sie ab 1940 „Soziale und Arisierungsabteilung“ und sie beteiligte sich an Aufkäufen jüdischen Grundbesitzes.¹⁵³ An der Volkszählung im Jahr 1940 beteiligte sich die Liga dank ihrer lokalen Vernetzung massgeblich. Imrich Kružliak als Mitarbeiter wurde kurzerhand damit betraut, die Kulturabteilung des Generalsekretariats der HSĽS zu führen und in dieser Funktion auch die Volkszählung zu organisieren und durchzuführen. Nach massiver Propaganda fiel die Volkszählung wider anfänglichen Erwartens günstig für die Zahl der Slowaken aus. Da die Slovenská liga von kulturellen Homogenisierungsabsichten durchdrungen war, liess sie sich nahtlos in das neue Regime einpassen. Sie hatte zwar stets einen Tschechoslowakei-freundlichen Kurs gefahren, doch in der konkreten Umsetzung ihrer Ziele in der Slowakei wie auf einer nationalen Insel agiert. Als Organisation trug sie zur Ethnisierung der Slowakei bei, positionierte sich dabei aber nicht gegen den Zentralstaat und dessen tschechoslowakische Ideologie bzw. die fiktive Staatssprache. Paradoxerweise unterstützten die Akteure der Slovenská liga mit ihrem slowakischen Nationalismus das Tschechoslowakisierungsprojekt. Denn das wollte im positiven Sinne in den betreffenden Landeshälften eine tschechoslowakische Identität schaffen, was sich im Grunde gegen die nationalen Minderheiten richtete. Die Liga unterstützte gerade den minderheitenfeindlichen Aspekt des zentralstaatlichen Projekts. Ihre Bedrohungspole ortete die Liga in den als Minderheiten in der Slowakei lebenden Gruppen der deutsch-, ungarisch- und ruthenischsprachigen Tschechoslowaken. Dennoch ging sie auch mit den Organisationen der Minderheiten sowie jüdischen Organisationen nicht konfrontativ, sondern eher kooperativ um, allerdings aus einer Position der Stärke heraus. Ähnlich wie bei der Matica slovenská richteten sich die Aktivitäten unter dem Label der zu stärkenden Nationalkultur stets auf Identitätsstiftung und -sicherung. Die politische Dimension wurde unter dem Mantel der Kultur weitgehend verborgen. In ihrer ethno-kulturellen Ausrichtung kann der Nationalismus der Slovenská Liga als ethnische nationalistische

152 Das geht aus einer wohlwollenden Entgegnung von Jozef Tiso hervor. Vgl. Letz 2000, S. 78. 153 Letz 2000, S. 80.

6.6 Kulturelle Praxis des Katholizismus |

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Praxis in ihrer deutlichsten Ausprägung gelten. Freilich gab es durch die veränderte historische Situation Überschneidungen mit dem politischen Feld. Dennoch blieb dieser Nationalismus primär ethnisch-kulturell, und nicht politisch – wie bei den Autonomisten – attribuiert. Unter den Bedingungen des neuen Regimes wurde – weiterhin getragen von namhaften Intellektuellen – das Konzept der assimilatorischen Praxis grundlegend in eine segregative verwandelt.

6.6 Kulturelle Praxis des Katholizismus Der slowakische politische Katholizismus war in der Zwischenkriegszeit primär nationalistisch orientiert. Neben den Aktivitäten im politischen Feld, das heißt auf dem Gebiet der politischen Parteien und Publizistik, versuchten nationalistisch aktive Vertreter der Katholischen Kirche auch das kulturelle Feld zu beeinflussen. Das geschah in erheblichem Maß über Jugendaktivitäten, Zeitschriften und populäre Bildung. Die aus katholischen Elternhäusern stammenden, in religiösen Gemeindeschulen oder Seminarien erzogenen jungen Nationalisten brachten aber auch von sich aus einen starken Bezug zur Katholischen Kirche mit. So war der katholische Glaube von Beginn an ein zentrales Kriterium ihrer kulturellen Aktivitäten. Die Zeitschrift Vatra wendete sich noch im ersten Jahr ihres Erscheinens rigoros dem Katholizismus zu. Dabei ging es darum, einen bestimmten ästhetischen Stil durchzusetzen sowie katholische Themen und Werte explizit zu behandeln. Dahinter stand das Ansinnen, sich literarisch und politisch als Gruppe zu definieren und sich von anderen Gruppen, nämlich den republikanisch orientierten, abzusetzen. Der Katholizismus diente als ein differenzielles Merkmal für eine bestimmte Gruppe. Zugleich erlaubte diese Gruppenbildung, ein kulturelles Subfeld¹⁵⁴ mit eigenen ästhetischen Maßstäben, moralischen Werten, persönlichen Netzwerken und eigener Ökonomie zu schaffen. Karol Sidor beschreibt in seinem Programm der katholischen Studentenbewegung aus dem Jahr 1921 die eminent wichtige Rolle des Katholizismus in der Kultur.¹⁵⁵ Als beispielhaft für die kulturelle Bedeutung des Katholizismus führt er Frankreich und Deutschland¹⁵⁶ an. In der Slowakei sei der Katholizismus zu weit ins politische Feld vorgedrungen, dieser habe die Kultur vernachlässigt, was sich

154 Vgl. den Feldbegriff von Bourdieu im ersten Kapitel dieser Arbeit. 155 K. Sidor: Hnutie katol. študentstva slovenského [Die Bewegung der katholischen slowakischen Studentenschaft], in: Vatra, 5, 2–3, Oktober/November 1921, S. 48–52. 156 Die deutsche katholische Literatur sowie die französische katholische Literaturrenaissance wurden in der Slowakei der Zeit rezipiert. Vgl. Kapitel 8 dieser Studie.

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an der geringen Zahl an entsprechenden Presseerzeugnissen ablesen lasse. „Die Bewegung der katholischen slowakischen Studentenschaft möchte deshalb einen ehrenvollen Platz auf dem kulturell-religiösen Feld einnehmen, sie möchte eine kulturell-religiöse Bewegung sein“, heißt es im Programm. Diesem Ziel würden Vatra sowie die verschiedenen Organisationen der Bewegung dienen. Doch auch die Position im politischen Feld klärt Sidor: „In einer autonomistisch eingerichteten Slowakei sehen wir unsere Grundlage, sehen wir die Seiten, wo wir unsere geliebte Nation auf die Felder der reichen geistigen Glaubensbrüder führen wollen.“¹⁵⁷ Die kulturell-religiöse Jugend wollte sich laut Sidor demnach nicht direkt politisch engagieren, sympathisierte aber mit den Autonomisten. Die jungen Katholiken würden Schulter an Schulter mit der Volkspartei gehen, sich an diese anlehnen und auch Unterstützung von ihr erwarten, heißt es im Programm weiter. Die jungen katholischen Nationalisten verstanden sich zu diesem Zeitpunkt primär als eine kulturell-religiöse Bewegung. Die Kategorie des Nationalen wurde mit den gleichwertigen Attributen „katholisch“ und „kulturell“ versehen. In den Dreißigerjahren zeichnete sich innerhalb der religiösen Anhängerschaft eine Ausdifferenzierung zwischen Laien und Priestern ab. So kam es zu Spannungen zwischen der Matica slovenská und dem Verein hl. Adalbert wegen der angeblich mangelnden Betonung des Katholizismus in den Aktivitäten der Matica. Ähnliche Angriffe erlebten die katholischen Jugendzeitschriften.¹⁵⁸ Diese Offensiven von intellektuellen Angehörigen der katholischen Kirche müssen als Kampf um Einfluss gedeutet werden und als Reaktion auf die politische Radikalisierung und zunehmende Entfernung von den Institutionen der Katholischen Kirche. Für den politisch aktiven Kreis der jungen Intellektuellen wurde das politische Feld zunehmend wichtiger als die Interessen der Kirche. Politische und soziale Reformen nahmen sie angesichts der heftigen ökonomischen Krise und ihren massiven sozialen Auswirkungen als drängender wahr als spirituelle oder moralische Fragen.¹⁵⁹ Auch die Katholische Kirche geriet so unter Druck, Strategien zur Lösung der sozialen Probleme zu entwerfen.

157 Vatra, 5, 2–3, Oktober/November 1921, S. 50 [V autonomistickom zariadení Slovenska vidíme svoju oporu, vidíme stráň, po ktorej vyvedieme svoj milovaný národ na polia bohatých pašienkov duševných.]. 158 Dem widmet sich der Artikel „K hlasu o časopise Rozvoj“ [Zu einer Stimme über die Zeitschrift Rozvoj], in: Nástup, 4, 10, 15.5.1936, S. 98. 159 Laut Martin Conway waren es in den Dreißigerjahren gerade Universitätsstudenten und eine jüngere katholische Intelligenz, die in Europa die rechtsorientierten, „hybriden Bewegungen von spirituellem Radikalismus und politischem Protest“ anführten. Conway, Martin: Catholic Politics in Europe 1918–1945, New York 1997, S. 7.

6.6 Kulturelle Praxis des Katholizismus |

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Svoradov – katholischer Netzwerkknoten Am Collegium Svoradov in Bratislava, einer unter jungen Akademikern einflussreichen katholischen Einrichtung, zeichneten sich die widersprüchlichen und spannungsvollen Entwicklungen der katholischen Bewegungen besonders deutlich ab. Die katholische Kirche lavierte zwischen ihrem universalistischen Anspruch und ihren nationalen Wirkungsfeldern. Auf die Unzufriedenheit ihrer Angehörigen aus Mittel- und ländlichen Schichten mit dem parlamentarischen System reagierte sie durch eine stärkere Hinwendung zu autoritären Vorstellungen. So formierte sich in einer kirchlichen Institution, die aus einem Wohlfahrtsgedanken heraus gegründet wurde, zunehmend eine nationalistische intellektuelle Jugend. Das katholisch geführte Studentenwohnheim Collegium Svoradov war die erste Anlaufstelle für Mittelschulabsolventen und später auch -absolventinnen, die aus der Provinz und oft aus äusserst bescheidenen finanziellen Verhältnissen zum Studium nach Bratislava kamen. Unterkünfte für Studierende gab es nur sehr wenige, und ein staatliches Wohnheim wurde erst Anfang der Dreissigerjahre errichtet. Die katholische Kirche in Person des Geistlichen Eugen Filkorn nahm sich des Problems an. In mehreren Etappen organisierte er den Bau von fünf Wohntrakten und einer Kapelle inmitten der Stadt Bratislava. Das Collegium profitierte davon, dass der Schwesternorden der hl. Elisabeth sein Kinderheim unter dem neuen Staat nicht weiterführen konnte und die Schwestern teilweise nach Ungarn auswanderten. Die Nachfolger übernahmen die Räumlichkeiten und zum Teil die Vereinsstrukturen. Initiator Eugen Filkorn entwickelte die Idee des Studentenwohnheims nach einem Budapester Vorbild, allerdings sollte das Wohnheim in Bratislava wenig bemittelte Studierende beherbergen. Das Geld für den Umbau und die Renovierung des alten Gebäudes konnten die Kirchenvertreter in ihren slowakischen Kirchgemeinden sammeln und das Wohnheim schliesslich im Herbst 1922 eröffnen.¹⁶⁰ Nicht wenige der Hochschulstudenten hatten ein erstes Jahr in einem Priesterseminar hinter sich, wo die katholische Kirche für Studium und Unterhalt der Seminaristen aufkam. Mit dieser Erfahrung waren Seminarabbrecher wie Žarnov oder auch Ján Sedlak, der Verfasser einer Žarnov-Monographie, oder der Publizist und Dichter Ján E. Bor bei der katholischen Wohn- und Bildungseinrichtung Svoradov an der richtigen Adresse. Filkorn war eine wichtige Persönlichkeit in der Kirche und im öffentlichen Leben. Mit seinem Engagement förderte er die begabten jungen Akademiker. Das Svoradov gab eine gleichnamige Zeitschrift heraus

160 Svoradovčan: Svoradov, Cambridge, Canada, 1984 (Das Pseudonym gehört vermutlich Jožo Cieker, der ein aktiver Svoradovčan war und auch Vorsitzender des Zentralverbands der slowakischen katholischen Studentenschaft USKŠ).

216 | 6 Die „Nation“ in der institutionellen Praxis und bot auch den Studierenden die Möglichkeit, ihre Zeitschrift Rozvoj, die sie aus der Provinz nach Bratislava mitgebracht hatten, in seinen Räumlichkeiten herzustellen. Rozvoj wurde das zentrale Organ der Katholischen slowakischen Studentenschaft, die ebenfalls im Svoradov angesiedelt war. Anfänglich taten sich die Mitglieder der Studentenschaft schwer, einen katholischen Patron anzunehmen, akzeptierten diesen aber in Person des greisen Priesters Pavol Blaho.¹⁶¹ Ab 1940, als Rozvoj nach einer zweijährigen Unterbrechung wieder erschien, übernahm das Svoradov die Herausgeberschaft der Zeitschrift mit Ján Sedlák als Redaktor. In der Zeitschrift schrieben die Repräsentanten einer katholisch-nationalistischen Intelligenz. Sedlák veröffentlichte eine Reihe von Interviews mit Schriftstellern, die erst im neuen Staat voll als nationale Schriftsteller zur Geltung kamen. Dazu gehörten Smrek, Gráf, Hlbina, Lukáč, Janko Silan und Bor. Mit programmatischen Artikeln traten Konstantin Čulen und Jozef Kirschbaum hervor. Durchs Svoradov gingen aber auch weitere Intellektuelle wie Urban und Radvanyi. Das Svoradov vermittelte seinen Angehörigen, den „Svoradovčan“ genannten, ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. Es war eine kollektivistische Kaderschmiede, durchdrungen von einem patriarchalen Geist. In einem Vortrag befasste sich Filkorn mit dem Erwachen des väterlichen Bewusstseins und der Analogie von familiärer und nationaler Gemeinschaft. Er wird folgendermassen zitiert: Das Bild der gegenseitigen Abhängigkeit ist zuerst in der Seele eines jeden unklar, neblig, fast dämonisch. Oft verführt es junge Idealisten und sie ertrinken auf dem Irrweg. Das Bild muss sich in der Seele eines jeden klären. Für den Übergang vom träumerischen Idealismus zu bewusster Opfer- und Verantwortungsbereitschaft ist jedoch Zeit nötig, Selbstdisziplin, dazu muss man reifen. Wenn ich dazu nicht heranreife, wird mich die Gemeinschaft in ihrem Körper für einen Fremdkörper halten und wird versuchen, sich meiner zu entledigen.¹⁶²

Filkorn verlangt das bedingungslose Respektieren der gemeinschaftlichen Interessen. Das Nichtbefolgen kann gar zum Ausschluss aus der Gemeinschaft führen. Der Weg zur Erkenntnis wird als ein Irren im Trüben verstanden. Erst wenn der junge Mann seinen Individualismus aufgibt, kann er die Zusammengehörigkeit als etwas Klares, Reines und Wertvolles erkennen. Die in diesem Zitat skizzierten Grundzüge der nationalen Idee finden deutlich auch ihren Niederschlag etwa in den literarischen Werken Milo Urbans. Er beschreibt solche kathartischen Vorgän-

161 Svoradovčan 1984, S. 66. 162 Svoradovčan 1984, S. 67 f. [Obraz vzájomnej závislosti je najprv v duši každého nejasný, hmlistý, skoro démonický. Často zvádza mladých idealistov i na scestie utópií. Je potrebné, aby sa ten obraz v duši každého vyjasnil. K prechodu od snivého idealizmu k uvedomelej obetavosti a zodpovednosti je však treba času, sebavýchovy, k tomu treba doszrieť. Keď k tomu nedozrejem, spoločnosť ma bude považovať v svojom tele za cudzie teleso a bude sa usilovať zbaviť sa ma.]

6.6 Kulturelle Praxis des Katholizismus |

217

ge vor allem in seinen Romanen „Hmly na úsvite“ [Nebel im Morgengrauen] und „V osídlach“ [In Fesseln].¹⁶³ Die kirchliche Institution hielt für die jungen Akademiker das attraktive Angebot bereit, zu den internationalen Pax-Romana-Kongressen zu reisen. Die Reisen führten die Studierenden – separat von den tschechischen Delegationen – nach Grosssbritanien, Spanien, Rom oder München. Die jeweilige Reise zum Kongressort wurde genutzt, um unterwegs interessante Städte, Museen und Sehenswürdigkeiten, etwa berühmte Sakralbauten, zu besichtigen. Sogar ein Besuch des Vatikans mit Papstaudienz wurde ermöglicht. Insofern schuf die Kirche mit Hilfe ihres Wohnheims ein konkurrenzloses Bildungs- und Erlebnisangebot für junge aufstrebende Slowaken. Die katholische Kirche verstand es, auf diese Weise eine katholische Intelligenz heranzubilden und sich zu verpflichten. Eine Massnahme, die die Identität der slowakischen nationalbewussten Katholiken stärken konnte, war auch die Einladung der Slavia Catholica ans Svoradov. 1931 tagte hier diese eigenständige Organisation, die auf einem polnischen Kongress der Pax Romana von jungen slawischen Katholiken gegründet wurde, und stärker als die Pax Romana die nationalen Interessen betonte.¹⁶⁴ Der Slavia Catholica lag die Idee der Slawenapostel Cyrill und Method zugrunde und ihr Ziel war die kulturelle Zusammenarbeit sowie der Austausch von Studierenden, was indes am ehesten realisiert wurde: durch Studienaufenthalte in Krakau, Warschau, Ljubljana, Zagreb, Paris und Lille. Nach Bratislava kamen – sicher auch wegen der sprachlichen Nähe – polnische und slowenische Studierende. 1935 fand ein Teil des Pax-Romana-Kongresses in Bratislava statt, wobei das Svoradov die Unterkünfte für die männlichen Teilnehmer bereitstellte. Die ausgesprochen starken Sympathien der jungen slowakischen Katholiken für Polen rührten zu einem grossen Teil von den Kontakten, Stipendien und Reisen her, die die katholische Kirche ihnen ermöglichte. Die Wohnheimsleitung vertrat in erster Linie kirchliche Interessen und wollte in diesem Sinne auch auf die Studierenden einwirken. Aufgrund der Angebote aber, besonders der Verbands- und Publikationsmöglichkeiten, war das Collegium jedoch ein Ort, an dem autonomistische Ideen verbreitet wurden. So waren an der Eskalation der 1933 stattfindenden Pribina-Feiern massgeblich auch Studierende aus dem Svoradov beteiligt, denen daraufhin die staatlichen Stipendien entzogen wurden.¹⁶⁵ Auch an den antisemitischen Ausschreitungen gegen die Vorführung

163 Vgl. dazu das Kapitel zur literarischen Praxis in dieser Arbeit. 164 Svoradovčan 1984, S. 184 f. 165 Svoradovčan 1984, S. 225.

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des französischen Films „Golem“ 1936 hatten die Svoradovčaner ihren Anteil, zumindest wurden von Gegnern Fensterscheiben im Wohnheim eingeschlagen.¹⁶⁶ Für die ideologischen Gegner war „Svoradovčan“ ein politisches Schimpfwort. So etwa in einem Artikel des Kommunisten Gustav Husák, in dem er mit der angeblich faschistischen Gesinnung der autonomistischen Intellektuellen abrechnete.¹⁶⁷ Das katholische Wohnheim war insgesamt eine Erziehungs- und Bildungseinrichtung, die im Prinzip die Funktion übernahm, den aus nationalistischer Sicht fehlenden slowakischen Geist an der Komenský-Universität zu kompensieren und gleichzeitig den ideologischen Einfluss des Staates auf die jungen Slowakinnen und Slowaken abzuschwächen. Die Katholische Kirche etablierte damit eine antitschechoslowakische kulturelle Praxis in der Slowakei. Anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Universität gab Albert Prážak der Prager Presse ein Interview über die Erfolge dieser tschechoslowakischen Universität. Rázus, dessen zentrales Feindbild die Tschechen und die tschechoslowakische Ideologie darstellen, reagierte auf das Interview, indem er die vermeintlich wahren Verhältnisse an der Universität schilderte: „Der Geist der Komenský-Universität ist nicht slowakisch, die slowakische Hörerschaft gelangt hier nicht nur zur Tränke der Wissenschaft, sondern als Material in die Hände der Experimentierer mit der neuen nationalen Ideologie.“¹⁶⁸ Stattdessen sollte aber die universitäre Jugend „die Avantgarde eines gesunden nationalen Geistes sein“, so Rázus. Im slowakischen Staat erhielt das Svoradov plötzliches öffentliches Gewicht. Es übernahm nun auch repräsentative Funktionen für den Staat. Während es in der Zwischenkriegszeit bereits eine grosse Ehre bedeutete, wenn zu bestimmten Veranstaltungen gelegentlich Universitätsprofessoren oder sogar der Rektor der Universität erschienen, nahmen ab 1939 selbst hochrangige Repräsentanten des Staates an Ereignissen des Svoradov teil. Im Mai 1940 wurde eine Ausstellung mit Werken von drei jungen Malern, die im Svoradov wohnten, eröffnet. Die Ausstellung besuchten Jozef Tiso, der Präsident der Republik, sowie der Bildungsminister Sívak. Öffentlichkeitswirksam wurde auch, zusammen mit dem Verein hl. Adalbert, die Jahrestagung des Zentralverbandes der slowakischen katholischen Studierenden (ÚSKŠ) 1940 in Prešov begangen. Dazu seien Tausende Teilnehmer in festlichen Trachten aus der Umgebung gekommen, hiess es in Berichten.¹⁶⁹ 166 Svoradovčan 1984, S. 254 f. 167 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Husáks Artikel im DAV fand statt in: Paľba na ľavej fronte [Trommelfeuer an der linken Front], in: Nástup, 4, 12, 15.6.1936, S. 123 f. 168 Martin Rázus: Bratislavská univerzita I. [Die Bratislavaer Universität I.], in: Národnie noviny, 60, 82, 17.7.1929, S. 1 [Duch Komenského univerzity nie je slovenský, slovenské poslucháčstvo dostáva sa tu nielen k žriedlam vedy, ale i ako materiál do rúk experimentátorov s novou národnou ideologiou.]. 169 Svoradovčan 1984, S. 298–301.

6.6 Kulturelle Praxis des Katholizismus |

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Und am Zwanzigjahrjubiläum des ÚSKŠ nahmen im selben Jahr in Nitra ebenfalls Regierungsvertreter teil und der Erzbischof hielt eine Predigt. Im Rückblick werden die Svoradov-Verwaltung und Studierenden aber weiterhin als betont krichennah bzw. distanziert gegenüber dem deutschen Nationalsozialismus dargestellt.¹⁷⁰ Insgesamt ermöglichte das Svoradov als primär karitative katholische Einrichtung mit ihren institutionellen Gegebenheiten, dass die junge katholische Intelligenzia sich in politischer und kultureller Praxis üben konnte. Aus den Bewohnern und Ehemaligen des Svoradov rekrutierten sich so die Wortführer der nationalistischen Auseinandersetzungen, die im politischen und im kulturellen Feld ausgetragen wurden. Auch der radikale Kreis um Nástup entstand im Svoradov. Als katholische Herberge und Bildungseinrichtung stellte sie eine ideologische Konkurrenz zur Universität dar und etablierte eine nationalistische Gegenpraxis. Gleichzeitig legte die Institution durch die Förderung des slowakischen Nationalismus das Fundament für ihre größere Bedeutung im slowakischen Staat und schuf eine Verbindlichkeit für Funktionäre des slowakischen Regimes gegenüber der katholischen Kirche.

Verein hl. Adalbert – Rekatholisierung der säkularen „Nation“ Die an den Mitgliederzahlen gemessen mächtigste Konkurrentin der Matica slovenská auf dem Gebiet der Kultur war der katholische Verein hl. Adalbert, Spolok svätého Vojtecha (SSV). Er hatte seinen Sitz in der Stadt Trnava, die auf eine Vergangenheit als katholisches Bildungszentrum zurückblickte, zu dem einst ein Jesuitenkolleg und eine katholische Universität gehört hatten. In der Zwischenkriegszeit kam es gelegentlich zu publizistischen Polemiken zwischen dem Verein und der Matica slovenská, die deutlich machten, dass die Ziele der beiden Organisationen divergierten. Zwar wollten beide auf dem Wege „kultureller Arbeit“ zur Nationalisierung der Gesellschaft beitragen, doch war der SSV primär eine katholische Organisation, deren Priorität die Interessen der Kirche, nicht aber der Nation bildeten. Einen medialen Skandal verursachte der einflussreiche langjährige Leiter des SSV anfang 1936 durch einen streng geheimen Brief an die katholischen Priester der slowakischen Emigration in den USA. Darin wetterte er gegen die Matica slovenská und riet den Adressaten, die Tätigkeit der amerikanischen Matica nicht mehr zu unterstützen. Er bezichtigte die Matica slovenská, wegen ihrer angeblichen

170 Svoradovčan 1984, S. 310 ff.

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Bevorzugung gegenüber dem SSV in Steuer- und Subventionsfragen staatshörig zu sein. Grundsätzlich bemängelte er, dass die Matica ihr nationales Bildungsanliegen zu wenig mit dem Katholizismus verbinde: „Durch die übertriebene Favorisierung der allnationalen Bildung auf seiten der Matica slovenská trifft auch unsere Nation der Niedergang des bewussten Katholizismus.“¹⁷¹ Zudem verglich er die Matica polemisch „mit einem gewöhnlichen jüdischen Verlag“, um auszudrücken, dass ökonomische Interessen vor ethische gingen. Pőstényi drückt in seinem Angriff gegen junge Intellektuelle auch den Anspruch auf eine katholische nationale Kultur aus: Diesen Herren [jungen Intellektuellen] ist die katholische Kultur positiv in Büchern ausgedrückt und in Aktivitäten außerhalb der Kirche eine Spaltung der nationalen Einheit. Ihrer Meinung nach ist der Katholizismus Privatsache und gehört höchstens in die Kirche. Die katholische kulturelle positive, slowakisch nationale Richtung spürt schon heute vom eigenen Blut jenes Kreuz der religiösen Gleichgültigkeit.¹⁷²

In diesem Zitat zeigt sich das Dilemma der Kirche, ihre religiöse Mission mit Hilfe einer säkularen Kategorie wie der „Nation“ auszudehnen. In diesem Sinne war die katholische Kirche eher eine Trittbrettfahrerin der säkularen Nationalisten, das heisst bei jenen, die institutionell nicht an die Kirche gebundenen waren. Ebenso wie die Matica slovenská und die Slovenská liga versuchte der SSV, eine kulturelle Massenbewegung zu werden. Zahlreiche lokale Ableger mit Vortragsveranstaltungen, ein ausgedehntes publizistisches Programm, das heisst mit Zeitungen, Verlag, Buchläden sollten den Verein mit seinem katholischen und nationalen Anliegen möglichst breit in der Bevölkerung verankern. Zudem fanden regelmässig Grossveranstaltungen statt, auf denen Messen abgehalten wurden. Der Verein hatte den Vorteil, sich dabei auf den Klerus und deren Tätigkeit in den Gemeinden stützen zu können. Jährlich gewann er während der Zwischenkriegszeit so bis zu 10 000 neue Mitglieder. Ein wichtiges Ziel war, eine katholische Intelligenz aufzubauen, da ein grosser Teil der slowakischen Intellektuellen sich nach Kriegsende zu liberalen, demokratischen, das heisst vor allem den zentralistischen Parteien hingezogen fühlte.

171 Ktosi zaspal 12. máj v Matici slovenskej (Na margo zbytočnej aféry) [Jemand verschlief den 12. Mai in der Matica slovenská (Am Rande einer überflüssigen Affäre)], in: Nástup, 4, 6, 15.3.1936, S. 56 f. [Prehnaným favorizovaním všenárodnej osvety pri Matici slovenskej i náš národ stihne úpadok povedomého katolicizmu.] 172 [Týmto pánom je pozitívna katolícka kultúra prejavovaná v knihách a v činnosti mimo kostola trieštením jednoty národa. Podľa nich katolicizmus je súkromnou vecou a patrí nanajvýš do kostola. Katolícky kultúrny pozitívny smer slovenský národný pociťuje už dnes od vlastenj krvi tento kríž náboženskej ľahostajnosti.]

6.6 Kulturelle Praxis des Katholizismus |

221

Deshalb hatte das katholisch-kulturelle Engagagement des Vereins auch von Anfang an eine politische Dimension, obgleich diese von ihren Repräsentanten immer wieder geleugnet wurde, allen voran von Andrej Hlinka, dem langjährigen Präsidenten der Gesellschaft. Hlinka bestand darauf, Kultur und Politik strikt zu trennen, d. h. seine Parteiarbeit und die Publizistik im Slovák hatten angeblich nichts mit seinem grossen Engagement im SSV zu tun. Er stand auch in den Reihen des SSV immer wieder im Verdacht, seine politische Tätigkeit in den Verein hineinzutragen oder Vorteile daraus zu ziehen, etwa als es um den Verkauf seines Verlages Lev an den SSV ging. Auch die Querelen um den Tuka-Prozess 1929 zeitigten Folgen bis in die personelle Besetzung des Vorstandes des SSV. Die Parteimitglieder Juriga und Tománek wurden nicht nur aus der Partei ausgeschlossen, sondern Hlinka brachte auch den SSV-Vorstand dazu, die beiden von ihren dortigen Ämtern zu suspendieren, weil sie angeblich dem Verein schaden würden. Hlinkas Vorschlag, Karol Sidor als einen Ersatzkandidaten aufzunehmen, wurde indes abgelehnt.¹⁷³ Jedenfalls zeigte sich an der Praxis des Vereins, dass der politische mit dem kulturellen Katholizismus verwoben war. In seinen Zielsetzungen verquickte der Verein explizit sein religiöses mit dem national-kulturellen Anliegen. „Zur Ehre und Wertschätzung Gottes das Volk zu erneuern, dem katholischen Volk Kultur zu bringen“, hatte er sich vorgenommen.¹⁷⁴ Als das wichtigste Instrument dafür hielt Hlinka die katholische Presse. Er setzte sich dafür ein, dass die Kirche die verlegerische und publizistische Tätigkeit stark förderte. Die slowakischen Bischöfe gewährten finanzielle Mittel, damit die katholische Presse vereinigt würde. Zudem erhielt der SSV das Recht, katholische Lehrbücher herauszugeben, was dem Verein ein regelmässiges Einkommen sicherte. Die Zahl der Bücher und die Auflagenhöhe wuchsen von Jahr zu Jahr. Bald vergrößerte sich der Verein auch räumlich, indem er 1922 ein Gebäude in Trnava erwarb, das zum Sitz der geplanten katholischen Akademie werden sollte, die aber nicht vor der Gründung des slowakischen Staates realisiert werden konnte. Der Verein hielt der offensichtlichen Missbilligung durch den Zentralstaat stand. Er bekam von diesem keinerlei Subventionen, auch wurden die Lehrbücher nicht anerkannt. Der Staat versuchte vielmehr, die Gemeindeschulen von der Kirche in die staatliche Hand zu überführen. So behielt er sich das Monopol auf die Lehrmittel vor. Dennoch verlegte der SSV seine Schulbücher, war allerdings darauf angewiesen, dass seine Mitglieder und katholische Lehrkräfte die Bücher ungeachtet des staatlichen Verdikts im Unterricht verwendeten.

173 Hanakovič 2005, S. 243. 174 Hanakovič 2005, S. 227.

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Als eine im Grunde oppositionelle Volksbildungseinrichtung nahm sich der Verein auch der Sprachenfrage an. 1927 beschloss er, eine eigene Kommission zur Reinhaltung der slowakischen Sprache zu gründen, um den Einfluss der „tschechoslowakischen Sprache“ zu begrenzen.¹⁷⁵ Der Verein expandierte immer mehr. Innerhalb von zehn Jahren wuchs die Zahl der Mitglieder des SSV auf 65 000 im Jahr 1928 an. Damit war der SSV die größte Kulturorganisation auf slowakischem Boden. In jenem Jahr legte der Verein auch den Grundstein zum Bau eines neuen Gebäudes für die Druckerei, die feierlich als „Tempel der slowakischen katholischen Kultur“ bezeichnet wurde.¹⁷⁶ 1930, im 60. Jahr der Gründung, steigerte der Verein seine Ambitionen erheblich. Nun wollte er sich von der katholischen Bildungs- in eine gesamtnationale Kulturinstitution verwandeln. Zum einen beschlossen die Mitglieder, eine literarisch-wissenschaftliche Abteilung einzurichten sowie die Statuten entsprechend anzupassen. Nun sollte der SSV der einflussreichste Gestalter des slowakischen kulturellen Lebens und der Nation generell werden. Das konnte nichts anderes heissen, als dass der Verein versuchte, über die kulturelle Praxis mehr Einfluss auf den Inhalt des Nationalen zu nehmen. Und unter kultureller Praxis verstand sich eine katholisierende Praxis. Unter diesem Aspekt ist auch die Gründung und Tätigkeit der literarisch-wissenschaftlichen Abteilung zu bewerten. Die neue Abteilung gewann trotz anfänglicher Schwierigkeiten bald 1700 Mitglieder und widmete sich zuerst der Aufgabe, geeignete Bücher für die Mitglieder und für die Gemeindebibliotheken auszuwählen. Doch nahmen sich die Aktiven auch der slowakischen Rechtschreibung an und erarbeiteten zu Handen der Generalversammlung der Matica slovenská am 12. Mai 1932 eine revidierte Version der 1931 veröffentlichten Regeln. Wie stark der Verein seine Aktivitäten im kulturellen Bereich ausweitete, zeigt gerade das Beispiel der Rechtschreibnorm, die mit einer geistigen Erziehung im engeren katholischen Sinne wenig zu tun hatte. Der Verein etablierte in der Folge die wissenschaftliche Tätigkeit als ein Standbein und konzentrierte sich noch mehr auf die Förderung der katholischen Intelligenz. Sie schuf Entfaltungsmöglichkeiten für Schriftsteller durch literarische Zeitschriften, Wettbewerbe, Stipendien und Auslandsaufenthalte. Diese Aktivitäten mündeten schliesslich auch 1940 in die Gründung der Katholische Akademie sowie einen katholischen Schriftstellerverband. Die Gründung der Akademie strebten die höchsten Repräsentanten, etwa Hlinka, bereits seit den frühen Zwanzigerjahren an. Doch reichten weder die Finanzen, noch das intellektuelle Personal aus, um

175 Hanakovič 2005, S. 237. 176 Hanakovič 2005, S. 240.

6.6 Kulturelle Praxis des Katholizismus |

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solch eine Akademie zu betreiben. Somit blieb die literarisch-wissenschaftliche Abteilung eine Vorstufe der Akademie. Anfänglich gehörten der Abteilung nur 36 Schriftsteller an. Die Beitritte erfolgten zögerlich, weil die Abteilung im Ruf stand, die Matica konkurrieren zu wollen. Nach Ablauf eines Jahres stieg die Mitgliederzahl doch noch auf 1000 an, so dass die Gesellschaft beschloss, die Zeitschrift Kultúra erneut herauszugeben, die nur 1926 und 1927 erschienen war. Die Wirtschaftskrise schränkte jedoch die Tätigkeit der Abteilung stark ein. Die Mitglieder blieben ihre Beiträge schuldig. Auch klagte die Redaktion wiederholt, dass es zu wenig Mitglieder aus Bratislava gäbe und dass, obwohl zweihundert publizistisch tätige Mitglieder zur Gesellschaft gehörten, diese kaum Beiträge für die erneuerte Kulturzeitschrift einreichten.¹⁷⁷ Es publizierten relativ wenige anerkannte Literaten im SSV – ein Werk von Jozef Cíger Hronský erschien hier (Tomčíkovci, 1933) oder auch die „Anthologie junger slowakischer Dichtung“ (Rudolf Dilong, Hg., 1933). In einer Editionsreihe jedoch wurden Gedichtbände von jungen katholischen Autoren wie Silan und Hlbina veröffentlicht, die bald die Gruppe der „Katholischen Moderne“ bildeten. In den Augen vieler nationalistischer Intellektueller mangelte es hingegen dem Verein weiterhin an Attraktivität. Vor den Karren der katholischen Kirche wollten sie sich nicht spannen lassen. Das kulturelle Engagement des SSV war auch Teil der „Katholischen Aktion“, die den Katholizismus in säkularen gesellschaftlichen Bereichen stärken sollte. Für den langjährigen Präsidenten Hlinka war der Verein ideell zweispurig ausgerichtet, ohne dass er – als ein ausgewiesener politischer Katholik – einer Richtung den Vorzug gab: „Mein Programm ist der reine slowakische Katholizismus und Nationalismus.“¹⁷⁸ Auch wenn für die einzelnen Mitglieder die Gewichtung unterschiedlich gewesen sein mag, trafen sich doch alle in dem grundsätzlichen Anliegen, eine auf der Basis katholischer Werte einheitliche slowakische Nation zu gestalten. Ein Beispiel für die Bemühungen, Katholizität und Slowakizität konzeptionell und strategisch zu verbinden, stellt das Buch „Katolické Slovensko“ [Katholische Slowakei] dar. Aus Sicht des Vereins war es im Jahr der Pribinafeiern 1933 die wichtigste Publikation.¹⁷⁹ Darin sollte dargestellt werden die gegenwärtige Arbeit der Katholischen Aktion in der Slowakei mit dem Ziel, dass wir so zusammen unsere Werte kennen lernen, auf deren Grundlage wir uns entwickeln und der katholischen Welt zeigen, dass wir während 1100 Jahren seit der Gründung des ersten christlichen Heiligtums im altslawischen Nitra und in schweren Kämpfen um das katholische

177 Hanakovič 2005, S. 294. 178 Hlinka in einem Brief an Pöstényi, zit. nach Hanakovič 2005, S. 258. 179 Hanakovič 2005, S. 253.

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und slowakischnationale Leben dennoch als Nation unsere Position auf dem kulturellen Niveau der anderen Nationen gehalten haben.¹⁸⁰

Die Frage der Kulturfähigkeit der slowakischen Nation wird hier nicht mit einem bürgerlichen Kulturverständnis behandelt, sondern an die christliche Missionierung in Mitteleuropa als vermeintliche kulturelle Leistung der slowakischen Nation geknüpft. Doch auch in der alltäglichen Arbeit, besonders im Anwerben neuer Mitglieder, wurde der Zusammenhang zwischen Katholizität und slowakischer Nation herausgestrichen. Das Ziel war, jeden slowakischen Katholiken im SSV zu organisieren. Ähnlich wie in Frankreich das mächtige katholische Verlagshaus „Bonne Presse“ seinen gesellschaftlichen Einfluss ausübte, meinte auch der SSV, es liege in seiner Hand, ob die Slowakei für immer katholisch bleiben würde.¹⁸¹ Für den SSV bot die Kultur ein Feld, auf dem er beide – das katholische und das spezifisch nationale – Anliegen verbinden konnte, und zwar über die Räume der Kirche hinaus. In einem kritischen Brief über die Tätigkeit der lokalen Ableger der Matica slovenská an Hlinka schrieb der Verwalter des SSV, Ján Pöstényi, die katholische Presse- und Verlagsarbeit sei eine Fortsetzung der Kirche, der Predigt und des Katechismus im öffentlichen Leben und dass es der engen Zusammenarbeit bedürfe, damit die Priester ihre Rolle als Kulturvermittler im öffentlichen Leben ihrer Gemeinden wahrnehmen könnten.¹⁸² Auf dem Gebiet der Kultur liess sich das Konzept des sprachlich basierten, kulturell-politischen Nationalismus durch das Attribut „katholisch“ erweitern. Auf diese Weise konnte die katholische Kirche ihre durch die massiven Säkularisierungsmassnahmen im Rahmen der Nationalstaatsbildung bedrohte Position durch die starke Nationalisierung der Klerusaktivitäten festigen. Das führte letztlich zu der paradoxen Situation, dass die ausgesprochen säkulare Kategorie „Nation“ wieder religiös aufgeladen wurde. Mit der Zeit zeichnete sich ab, dass sich der Verein, der ab 1937 über 100 000 Mitglieder hatte, nicht als eine komplementäre katholische Kulturorganisation verstand, sondern vielmehr als ein Pendant, das alle wesentlichen kulturellen Organisationen, die bereits in der Slowakei bestanden, unter katholischen Vor-

180 zit. nach Hanakovič 2005, S. 253 [. . . poukažuc na sústavnú prácu katolíckej akcie na Slovensku tým cieľom, aby sme takto súborne poznajúc svoje hodnoty, na základe týchto sa vývíjali a ukázali svetu katolíckemu, že za 1100 rokov od založenia prvej kresťanskej svätyne v staroslávnej Nitre i pri ťažkých borbách o život katolícky a slovenskonárodný jednako sme si ako národ udržali svoju pozíciu na kultúrnej úrovni ostatných národov.]. 181 Hanakovič 2005, S. 254. 182 Hanakovič 2005, S. 258.

6.6 Kulturelle Praxis des Katholizismus |

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zeichen noch einmal etablierte. So entstand selbstredend eine Konkurrenz um die Intellektuellen, die in all diesen Einrichtungen tätig sein würden. Aus diesem Grund förderte der SSV auch eine eigene katholische Intelligenz, selbst in den Reihen des Klerus, wie die Autoren um die Zeitschriften Postup und Verbum als Kleriker oder Laientheologen belegen. Im slowakischen Staat hatte der Verein dank seiner katholischen Ausrichtung und personellen Nähe zum Regime die Möglichkeit, Intellektuelle zur Mitarbeit zu verpflichten und das kulturelle Leben stärker zu dominieren. Die Aktivitäten überschlugen sich, die Mitgliederzahlen wuchsen wie nie zuvor. Nun konnte der SSV ungehindert Schulbücher produzieren und damit gezielt versuchen, Nichtkatholiken zu beeinflussen. Die Buchproduktion belief sich auf eine Auflagenhöhe von einer halben Million Exemplare pro Jahr. Ausgehend von der Westslowakei wurden die Aktivitäten nun auch in der Ostslowakei mit dem Zentrum Prešov verstärkt, abgestützt auf eine ständige Vertretung und eine Buchhandlung. An den Generalversammlungen nahmen nun auch stets hohe Repräsentanten des Staates und aller Kulturorganisationen teil. Jene von 1940 etwa eröffnete Staatspräsident Jozef Tiso, und Bildungsminister Jozef Sivák hob in seiner Ansprache hervor, wie doch aus dem bescheidenen Verein eine mächtige Kulturorganisation geworden war. Es war nun auch die Zeit für die Gründung der seit vielen Jahren geplanten Katholischen Akademie gekommen. Die Fokusverschiebung auf die Förderung der katholischen Intelligenz und der gesamtnationalen Kultur insgesamt zeigt, wie in der Zwischenkriegszeit das Feld der Kultur zunehmend an Bedeutung gewann und unter dem Label „national“ von säkularen und religiösen Akteuren umstritten wurde. Die autonomistischen Kräfte wurden stärker und die kulturelle Eigenständigkeit der slowakischen Landeshälfte nahm zu. So bemühte sich auch der SSV, seine Einflusssphären in der Gesellschaft zu sichern. Der politische Katholizismus war dabei nur eine Seite der Medaille. Zur stärkeren Ausdifferenzierung der Gesellschaft in der Slowakei gehörte auf der anderen Seite auch die kulturelle Sphäre, die sich ebenfalls zunehmend differenzierte und ein Indikator für die gelungene Etablierung der Kategorie des Nationalen wurde. Der SSV als öffentlich tätige Institution der katholischen Kirche spezifizierte die Kategorie „national“ mit dem Attribut der „Kultur“ zusätzlich noch als „katholisch“. Das Collegium Svoradov und der Verein hl. Adalbert durchliefen ähnliche Entwicklungen, die im weitesten Sinne auf die Direktiven zurückzuführen sind, wie sie in den päpstlichen Enzykliken kommuniziert wurden. Die Katholische Kirche verstärkte in der Zwischenkriegszeit besonders ihr soziales Engagement, was auch die Katholische Aktion betraf – das Svoradov beherbergte zum Beispiel ein Büro der Katholischen Aktion. Laien sollten die Anliegen der katholischen Kirche in der Gesellschaft verbreiten. So engagierten sich beide Institutionen – das

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Svoradov und der SSV – auf dem kulturellen Feld, vor allem mit publizistischen und Bildungsaktivitäten, zunehmend auch in der Förderung von Wissenschaft und Literatur. Dafür stützten sie sich auf eine neue junge katholische Intelligenz ab, die heranzubilden sie als vordringlichen Auftrag angenommen hatten. Der gezielte Versuch beider Institutionen, den Diskurs des Nationalen in der Slowakei mitzubestimmen, trug ab der Autonomiephase Früchte, da sie nun in den offiziellen Staatsdiskurs eingebunden wurden. Mit ihrer sozialen und kulturellen Praxis versuchten sie gezielt, den Inhalt der Kategorie „national“ zu beeinflussen und deren säkulare Effekte umzukehren. Damit spurten sie Entwicklungen vor, die ab der Autonomiephase die Rekatholisierung der „Nation“ verstärkten.

6.7 Transformation der Kultur In der Phase der Autonomie ab Herbst 1938 änderten sich durch den politischen Wandel auch die Bedingungen für die kulturellen Akteure. Die Rolle der Kultur, das heißt die Struktur des kulturellen Feldes, musste mit Rücksicht auf die neuen Machtverhältnisse und Bedürfnisse abgestimmt werden. Im tschechoslowakischen Staat war umstritten, ob eine slowakische nationale Kultur die tschechoslowakische Idee repräsentieren konnte oder eine tschechoslowakische Nationalkultur erschaffen werden musste. Man entschied sich für einen Mittelweg, legte großen Wert auf den Ausbau des Bildungssystems und der kulturellen Sphäre in der Slowakei, allerdings unter tschechoslowakischen Vorzeichen. Unter dem neuen Regime in der Slowakei war die Rolle der Kultur neu zu definieren und die Übernahme der bestehenden Institutionen zu prüfen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich bei aller Diversität des kulturellen Feldes in der tschechoslowakischen Republik auch eine nationalistische und eine katholische Strömung etabliert. Diese kamen nun vorrangig zum Zug bei der Neustrukturierung des Feldes Während sich die Erste Republik mit der starken anti-tschechoslowakischen Strömung in der Kultur arrangierte, förderte der am 14. März 1939 gegründete slowakische Staat deutlich eine repräsentative, legitimierende Kultur direkt oder indirekt mittels Ausschlussmechanismen. An einer autonomen, heterogenen Entwicklung des kulturellen Feldes war dem Regime nicht gelegen. Gewisse unerwartete Schwierigkeiten deuteten sich in verschiedenen Artikeln über die finanzielle Unterstützung und den Unterhalt von kulturellen Institutionen wie der Matica slovenská an, aber auch der Universität, obgleich letztere namentlich und personell rasch slowakisiert wurde. Es wurde versucht, das Feld der Kultur funktional nach ihrer staatlichen Repräsentativität neu zu strukturieren. So sollten Teile der Hochkultur „sozialisiert“, das heisst massentauglich und damit der Propaganda angedient werden: „Die Kultur

6.7 Transformation der Kultur |

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bei uns zu sozialisieren, bedeutet, die Menschen zu informieren, zu überzeugen und zu begeistern für ein Ziel, sie in eine gemeinsame Richtung zu führen und sie mit jenem bekanntzumachen, zu dem sie sonst nur schwer gelangen könnten oder sehr spät.“¹⁸³ Es ist auch von der „Kollektivierung“ der Kunst die Rede. Der Autor des entsprechenden Nástup-Artikels macht verschiedene Vorschläge, wie Kultur und Wissenschaften popularisiert werden könnten, etwa durch Referate in neu einzurichtenden Kulturhäusern, die jeder lokalen Organisation der Volkspartei zur Verfügung stehen würden. Laut Verfassung wurde die christliche Kirche im slowakischen Staat an der Religionsausübung nicht gehindert. So versuchte die katholische Kirche, ihre Stellung in der Gesellschaft wieder zu stärken. Die deutlich vermehrt auftretenden Zeichen einer dominant katholischen Kultur, insbesondere in der Ikonographie verschiedener Kunstsparten, zeugen davon, aber auch etwa die Einrichtung einer theologischen Fakultät an der Universität. Gleichzeitig ist das stärkere Gewährenlassen der katholischen Kirche von Seiten des Regimes charakteristisch für eine Regierungspraxis, die versuchte die Trennlinien zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Sphären – hier: von Kultur, Kirche und Politik – zu verwischen, was für nicht-demokratische Regime kennzeichnend ist. Insofern waren die Katholisierung der Kultur sowie die Rekatholisierung der „Nation“ nicht Ausdruck einer Differenzierung des kulturellen Feldes in einem modernen Sinne, sondern gerade im Gegenteil Zeichen einer anti-liberalen Kommunitarisierung. Das neue Regime konnte für die Neuausrichtung der kulturellen Sphäre auf vorhandene Einrichtungen und Personen zurückgreifen. Stanislav Mečiar als regimenaher Publizist und Redaktor der Slovenské pohľady äusserte sich zur neuen Rolle der Kultur im Oktober 1939: Unsere führenden Kräfte haben klar gemacht, dass der Geist mehr zählt als das Materielle, (. . . ) die slowakische Regierung erkannte die Bedeutung der Kulturentwicklung mit der Äußerung an, dass wir Slowaken nur in der Kultur gegenüber den zahlreichen, um vieles größeren Nationen bestehen können (. . . ) Die slowakische Kultur darf nicht mehr nur der Fürsorge von Begeisterten und Idealisten überlassen sein, sie muss das Aufbauprogramm unter den ersten Punkten der Errichtung des slowakischen Staates sein.¹⁸⁴

183 M. J. Milov: O životnosť slovenskej kultúry [Über die Lebendigkeit der slowakischen Kultur], in: Nástup, 8, 17–18, 15.9.1940, S. 231 f. [Zosocializovať kultúru u nás znamená informovať, presviedčať a oduševnovať ľudí pre jeden cieľ, viesť ich spoločným smerom a oboznamovať ich s tým, k čomu by sa ťažko dostali, alebo veľmi neskoro.] 184 Starostlivosť o kultúru [Fürsorge für die Kultur], in: Slovenské pohľady, 55, 10, Oktober 1939, S. 581–584 (Autor wahrscheinlich Stanislav Mečiar); zit. nach Magdolenová, Anna: Slovenská kultúra v rokoch 1939–1945, in: Ján Bobák, Slovenská republika (1939–1945), Martin 2000, S.142– 154; hier S. 142 [Naši vedúci činitelia vyznali jasne, že ducha cenia nad hmotu, . . . slovenská vláda

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Die Indienstnahme der Kultur für den Staat expliziert auch der Chefideologe des Regimes Štefan Poľakovič in seiner Schrift „Die ideologischen Pfeiler des slowakischen Nationalsozialismus“¹⁸⁵: Ohne den Rechten anderer Nationen zu schaden (Der Slowake pflügt nur auf dem Eigenen, das Fremde wünscht er nicht) wollen wir nicht nur einen Sozialstaat errichten (. . . ), sondern auch einen Kulturstaat, und zwar aus den eigenen Mitteln, auf eigenem Boden, aus eigenen traditionellen Beständen.

Nach der Errichtung des klerikal-nationalsozialistischen Regimes in der Slowakei, mit dem eine starke Slowakisierungswelle einherging, zeichneten sich von staatlicher Seite Versuche ab, die Kultur stärker an katholischen Werten auszurichten. Auch veränderte sich mit einem mal die Position der nationalistischen Autoren, die zuvor Teil der ideellen Opposition waren und nun zum Establishment gehörten. Statt gegen fehlende Möglichkeiten nationaler Entfaltung anzuschreiben, richteten sie nun ihr Augenmerk auf die äußeren Bedrohungen. Es mussten aber auch neue identifikatorische Werte gefunden werden. Das Ziel, endlich selbständig zu werden und nach den eigenen Traditionen zu leben, war durch die (Schein-)Selbständigkeit des Staates erst einmal erreicht. Umso stärker drängten nun religiöse, katholische Werte in den Vordergrund. Maßgeblich wirkten dabei die einst der politischen Opposition nahestehenden und nun regimenahen Autoren mit, bzw. entfaltete sich die Gruppe der Autoren der Katholischen Moderne. Bei alledem ist aber nicht von einem vollständigen Bruch in der Entwicklung des kulturellen Lebens auszugehen, da nationale Werte in den verschiedensten künstlerischen Strömungen ab 1918 hochgehalten wurden. Diese Stränge konnten aufgenommen und verstärkt werden. Jene Autoren etwa, die am lautesten für die Nation eintraten, wurden durch hohe Funktionen und sichere Positionen in der Verwaltung des Staates belohnt. Bei den kulturellen Institutionen gab es einigen Nachholbedarf, da zahlreiche einen tschechoslowakischen Charakter hatten und deshalb nicht ohne weiteres fortgeführt werden konnten. Andere mussten überhaupt erst gegründet werden, da sie in der Ersten Republik nicht vollständig doppelspurig geführt worden waren, das heißt wichtige Institutionen bestanden zum Teil nur im tschechischen Landesteil, von wo aus sie gesamtstaatliche Funktionen zu erfüllen gehabt hatten.

uznala dôležitosť kultúrnej tvorby výrokom, že my Slováci len v kultúre môžeme obstáť pred ostatnými i početne niekoľkonásobnými národmi. . . Slovenská kultúra už nesmie byť odkázaná len na starostlivosť nadšencov a idealistov, ona musí byť programom budovateľským medzi prvými bodmi výstavby slovenského štátu. . . ] 185 Zit. nach Magdolenová 2000, S. 142 [Bez ujmy na na právach iných národov (Slovák len na svojom orie, cudzieho niežiada) ideme tvoriť nielen sociálny štát, . . . ale i štát kultúrny, a to zo svojich prostriedkov, na svojej pôde, z vlastných tradičných fondov.].

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So wurde etwa 1940 eine naturwissenschaftliche Fakultät an der Universität Bratislava eingerichtet, die schon seit der Republikgründung von Slowaken gefordert worden war. 1942 wurde die Akademie der Wissenschaften und Künste gegründet. Auch sie war ein Kind der historischen Veränderungen, denn sie basierte auf der tschechisch dominierten Šafarík-Gelehrtengesellschaft, die im März 1939 durch die Slowakische Gelehrtengesellschaft ersetzt wurde. Auch die neue Akademie erhielt eine katholische Note durch die theologisch-philosophische Sektion. Als weitere Kulturinstitutionen richtete der neue Staat 1939 das erste slowakische Filminstitut sowie den Slowakischen Rundfunk ein, 1941 die Slowakische Nationalbibliothek bei der Matica slovenská, 1942 das Archäologische Amt sowie das Staatliche Institut fürs Volkslied an der Philosophischen Fakultät, 1943 die Slowakische Nationalgalerie und die Sternwarte. Das Nationaltheater wurde rasch slowakisiert und erhielt einen Dramaturgen. Es gab zwar die Episode mit Gašpar als Dramaturg in den Zwanzigerjahren, doch die kam aus einem Bedürfnis des Theaters zustande. Im slowakischen Staat wurde Ján Sedlák persönlich von Bildungsminister Sivák eingesetzt.¹⁸⁶ Selbstredend war die Aufgabe dieses Dramaturgen, zu gewährleisten, dass ein dem Regime genehmes Programm realisiert würde. Sedlák war katholisch sozialisiert – unter anderem als Svoradovčan – und auch in seiner Tätigkeit als Literaturkritiker und -wissenschaftler stark von katholisch-kulturellen Netzwerken beeinflusst. So hatte er sich vor allem als wohlwollender Kritiker der neuen Generation von Dichtern der Katholischen Moderne und dem Kreis um die Zeitschrift Postup einen Namen gemacht und auch selber im Svoradov als Redaktor die Zeitschriften Rozvoj und Prameň gestaltet, wovon letztere ganz auf französische katholische Literatur ausgerichtet war. Er erhielt von Sivák zudem den Auftrag, eine Leistungsschau der slowakischen Kultur in Form des Buches „Slovenská kniha 1939–1941“ [Das slowakische Buch 1939–1941], 1942, zusammenzustellen. Unbestritten löste der neue Staat bei einem Teil der Intellektuellen, und zwar den christlich-national orientierten, Begeisterung aus. Und auch die Öffentlichkeit reagierte mit grossem Interesse auf die neue Selbständigkeit. Allerorten wurden Vorträge in Kulturhäusern organisiert, in denen etwa die Matica slovenská versuchte, die slowakische Gegenwartsliteratur zu popularisieren. Damit waren vor allem die katholisch-nationalen Autoren gemeint, die vom tschechoslowakischen System aus ideologischen Gründen in den Schulen zum Beispiel nicht propagiert

186 Sedlák betont in der Darstellung seiner Tätigkeit am Nationaltheater, dass er selber die Programmierung bestimmen konnte und dabei ideologisch stets unabhängig vorgegangen sei, reflektiert aber nicht kritisch die Umstände, unter denen es zur Einsetzung dieses ersten offiziellen slowakischen Dramaturgen kam. Sedlák, Ján: Moje polstoročie. Rozbehy cez úskalia [Mein Jahrhundert. Flüge über die Klippen], Bratislava 1994.

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wurden. Die Veranstaltungen trafen auf grosses Interesse, besonders auch unter Studenten und Mittelschülern, die sich wiederum rege an Diskussionen in Zeitschriften beteiligten.¹⁸⁷ Gemessen an den aussergewöhnlichen Verhältnissen im Krieg funktionierten der Verwaltungsapparat und das kulturelle Leben relativ normal weiter, obgleich innere und äussere Faktoren zur Krise des Volkspartei-Regimes führten. Eine starke Wirkung zeigte nämlich nicht nur die Kriegswende im Jahr 1943, sondern auch der Wegfall von Mussolinis Italien aus der faschistischen Achse. Laut Kamenec führte insbesondere Letzteres zu Defätismus und Alibismus bei der grossen Mehrheit der Angehörigen des Macht- und Verwaltungsapparates. Durch die oppositionellen Regungen wurde die Totalität „löchrig“.¹⁸⁸ Eine gewisse Individualität blieb in der kulturellen Sphäre auch insofern erhalten, als eine staatlich verordnete kulturelle Gleichschaltung sich nicht institutionalisieren liess. Der 1940 von Tuka beim Regierungsvorsitzenden eingerichtete Kulturrat etwa konnte keinen Einfluss gewinnen und hörte somit nach ein paar Monaten bereits wieder auf zu existieren.¹⁸⁹

Gardistische Populärkultur Der Hauptführer der Hlinka-Garde (HG), Alexander Mach, nahm die Neuausrichtung der Kultur in die Hand. Mit den zahlreichen lokalen Ablegern der Organisation besass er beste Möglichkeiten, die neuen inhaltlichen Vorgaben zu verbreiten. Etwa führten die lokalen Gruppen der Hlinka-Garde selber Theaterstücke auf und traten damit in Konkurrenz etwa zu kommerziellen Unterhaltungskünstlern. Im Fall des Ortes Radvani boykottierte die Bevölkerung die Vorstellung der Gardisten. Es wurden auch neue Kulturhäuser gebaut, die von Gardisten geführt und unterhalten wurden. Verbreitet waren zudem Vorlesungsreihen zu Themen des Nationalismus, des neuen Staates oder der HG selber, die etwa in Schulhäusern durchgeführt wurden.¹⁹⁰ Auch bestritt der verantwortliche Redaktor des Gardista, Karol Murgaš, allabendlich eine Nachrichtensendung im Slowakischen Rundfunk. Nach und nach wurden die Intellektuellen dazu bewegt, Mitglieder der HG zu wer-

187 Sedlák 1994 berichtet von einer Vortragsreihe, die er selber als Sekretär der Matica slovenská in Bratislava organisiert hatte, außerdem von seinen Schulbesuchen als Redakteur von Rozvoj. Vgl. Sedlák 1994, S. 90, 92 ff. 188 Kamenec, Ivan: Politický systém a režim Slovenského štátu v rokoch 1939–45 [Das politische Systeme und Regime des Slowakischen Staates in den Jahren 1939–45], in: ders, Hľadanie a blúdenie v dejinách, Bratislava 2000; hier S. 76 f. 189 Kamenec 1992, S. 102. 190 Dies geht aus diversen Berichten des Gardista im Jahr 1939 hervor.

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den. Sogar der hochbetagte Jozef Škultéty, Universitätsprofessor, Neugründer der Matica und graue Eminenz der slowakischen Kultur wurde noch zum Mitglied der Garde gemacht. Wichtige Persönlichkeiten des künstlerischen Lebens unterwarfen sich öffentlich dem Regime, etwa durch bekenntnisartige Artikel im Gardista¹⁹¹ Der Schauspielleiter des Slowakischen Nationaltheaters, Janko Borodač, befürwortet beispielsweise in einem ganzseitigen Artikel im Gardista eine „gegenseitige Hilfe“ zwischen dem Theater und der HG. Das Theaterwesen würde vom Einfluss dieser „größten und stabilsten Organisation“ profitieren und umgekehrt: Die Organisation HG braucht in ihrem Vorwärtsschreiten das Theater nicht nur gelegentlich, sondern auch im Ganzen. Nicht wegen des Vergnügens oder finanziellen Gewinns, wie es die Gruppen und Vereine taten, sondern wegen der Propagierung von Gedanken, für die Verbreitung und Hervorhebung der Kultur. Das Leben der HG – ist das Leben von uns allen: das Leben der Nation.¹⁹²

Borodač gibt hier deutlich zu verstehen, dass er bereit ist, mit der HG zu kooperieren und seine künstlerische Arbeit nach deren Massgaben fortzuführen. Er befürwortet sogar, dass die HG-Mitglieder in der Provinz selber Theater aufführen. Die HG übernahm auch weitgehend die Kontrolle über die öffentlichen Bibliotheken. Deren Inventar wurde überprüft und umfassend von tschechischen Büchern geräumt. Auch slowakische literarische Werke kamen auf den Index, insbesondere von linken Schriftstellern bzw. auch von Gejza Vámos, dem jüdischen Schriftsteller. Der oberste Führer der HG und Chef des Propagandaamtes Alexander Mach beeinflusste erfolgreich namhafte slowakische Kulturschaffende. Er bewegte sich schon in der Zwischenkriegszeit in Intellektuellenkreisen und hatte im slowakischen Staat genug Macht, konkrete Pläne umzusetzen. Ihm gelang es etwa, den vorab politisch kaum aktiven Schriftsteller Valentín Beniak zum Sekretär seines Innenministeriums zu machen.¹⁹³ Mach versuchte auch in handverlesenen Diskus-

191 Škultéty bezeichnet Mach, den Hauptführer der HG, als „besonders vom slowakischen Geist beseelt“. Univ. prof. dr. Jozef Škultéty, člen HG: Slovenský duch [Slowakischer Geist], in: Gardista, 1, 47, 1939, S. 5. 192 Janko Borodáč: HG a divadelný kumšt [Die HG und die Theaterkunst]. In: Gardista, 1, 45, S. 5 [Organizácia HG vo svojom pochode potrebuje divadelníctvo nielen príležitostne, ale i celkove. Nie pre zábavu, ani pre peňažnú zásobu, ako robievaly spolky a združenia, ale pre propagáciu myšlienok, pre rozširenie a povznesenie kultúry. Život HG – je životom nás všetkých: život národa.]. 193 Kamenec behauptet, das schriftstellerische Werk Urbans, Gašpars, Beniaks und Žarnovs habe zum Zeitpunkt ihrer Funktionärstätigkeit im slowakischen Staat in einem „inneren moralischen Widerspruch“ zu ihren politischen Aktivitäten gestanden. (Kamenec, Slovenský stát, 1992, S. 102 f.) Diese Behauptung wird aber nicht bewiesen und entspricht auch nicht den Erkenntnissen in der vorliegenden Arbeit.

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sionsrunden, dem System kritisch gegenüberstehende Intellektuelle ideologisch zu überzeugen. Eine unkonventionelle Massnahme war in diesem Zusammenhang, die temporäre Verschleppung einiger linker Intellektueller in die Ukraine, wo sie unter eigenem Augenschein von ihren sowjetisch-kommunistischen Sympathien geheilt werden sollten.¹⁹⁴

Demonstrative Loyalität Propagandachef Alexander Mach konnte aufgrund seiner Kontakte einige namhafte nationalistische Intellektuelle dafür gewinnen, sich mit einem öffentlich publizierten Manifest zum neuen Staat zu bekennen. Das abgekartete Treffen der Kulturschaffenden fand am 31. August 1940 im Gebirgskurort Tatranská Lomnica statt. Gašpar leitete die Tagung zur Ausrichtung der kulturellen und wissenschaftlichen Tätigkeit im neuen Staat. Milo Urban äusserte sich über die Haltung der Kulturschaffenden gegenüber der politischen Gegenwart, Stanislav Mečiar referierte über die Aufgabe und Bedeutung der Literatur. Weitere Vorträge galten der Ausrichtung der Bildenden Kunst, der Wissenschaften sowie des Schulwesens und der nationalen Erziehung. Die Anwesenden verfassten und unterzeichneten ein abschliessendes, als Lomnicer Manifest bezeichnetes Dokument. Zu den Unterzeichnenden gehörten neben Tido Gašpar und Stanislav Mečiar die Schriftsteller Milo Urban, Andrej Žarnov, Valentín Beniak, Vladimír Rolko, der Linguist Henrich Bartek sowie die übrigen Referenten. Das Abschlussdokument war mit „Echo der slowakischen Kulturschaffenden“¹⁹⁵ überschrieben. Darin bekannten sich die vierzehn Unterzeichnenden zu den Grundsätzen des neuen Regimes: Der slowakische Nationalsozialismus und seine Durchsetzung bei uns bedeutet eine organische Fortsetzung in der Entwicklung der slowakischen nationalen Kräfte im Geiste unserer Traditionen. Der Nationalsozialismus ist das System, das am besten zu den Bedürfnissen des slowakischen Lebens passt, weil es die völlige Lösung aller politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Probleme ermöglicht.¹⁹⁶

194 Kamenec 1992, S. 103. 195 [Ohlas slovenských kultúrnych pracovníkov], nach Kamenec 2000, S. 57 f. 196 Dr. J. E. Bor: Naši spisovatelia a národný socializmus [Unsere Schriftsteller und der Nationalsozialismus], in: Nástup, 8, 20, 20.10.1940, S. 262 [Slovenský národný socializmus a jeho uplatňovanie u nás znamená organické pokračovanie v rozvíjaní slovenských národných síl v duchu našich tradícií. Národný socializmus je sústava, ktorá najlepšie vyhovuje potrebám slovenského života, lebo umožňuje plné rozriešenie všetkých problémov politických, hospodárskych, sociálnych a kultúrnych.]

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Ferner unterstützen die Verfasser, den Nationalsozialismus in allen gesellschaftlichen Bereichen durchzusetzen: Die Vertreter des slowakischen kulturellen und geistigen Lebens fordern nachdrücklich, dass dieses System, das am besten die slowakische Staatlichkeit sichert, von den verantwortlichen Akteuren in allen Bereichen des nationalen Lebens wirksam, kompromisslos und ohne Aufschub verwirklicht wird. Besonders heben sie die Notwendigkeit hervor, dass das vor allem beim Aufbau der neuen wirtschaftlichen und sozialen Ordnung geschehe, aber sie betonen auch, dass die Geltung dieses Systems ebenso wirkungsvoll auf dem Feld von Kultur und Schule durchgesetzt werden muss.¹⁹⁷

Mit der verlangten Orientierung der slowakischen Kultur an der „nationalen Strömung“ sprachen sie sich für eine kulturelle Gleichschaltung aus, die historisch legitimiert werden sollte: Der Schriftkodifizierer Ľudovit Štúr wurde als „Hitler des 19. Jahrhunderts“ bezeichnet. An dieser Deklaration bemerkenswert, dass nicht ausdrücklich von einer christlichen Kultur oder einem christlichen Nationalsozialismus die Rede ist. Das kämpferische Klischee „christlich“ wurde vor allem gegen die Tschechen angewandt. Im gegebenen Zusammenhang war es hingegen selbstverständlich, denn die regimenahen Intellektuellen hatten alle einen katholischen Hintergrund. Zudem hatte die christliche Ausrichtung der Kultur für den Initianten Mach als Vertreter des radikalen Flügels der Volkspartei keine Priorität. Es ist davon auszugehen, dass die Unterzeichnenden hinter ihrem Bekenntnis zum Regime standen. Mach hatte gezielt seine Auswahl an politisch aktiven bzw. der Volkspartei nahestehenden Intellektuellen getroffen. In einem positiven Kommentar zum Manifest kritisierte Milo Urban die Intellektuellen, „die zwar den slowakischen Staat begrüssten, aber nicht die „Revolution weiterführen wollten, die Ideologie des Nationalsozialismus annehmen und sich vom alten Denken lösen wollten.“ Beniak wiederum betrachtete das Manifest als Ruf nach einer „Sozialisierung der kulturellen Werte“.¹⁹⁸ An der Form der Aktion übte der regimetreue Intellektuelle Konstantin Čulen Kritik, weil er das plakative Manifest für ein untaugliches Instrument hielt, um die slowakische Kultur neu auszurichten.

197 Clementis, Vladimír: Odkazy z Londýna, Bratislava 1947, S. 280 [Predstavitelia slovenského kultúrneho a duchovného života dôrazne žiadajú, aby tento systém, ktorý najlepšie zabezpečuje slovenskú štátnosť, bol zodpovednými činiteľmi vo všetkých oblastiach národného života dôsledne, nekompromisne a bezodkladne uskutočnený. Osobitne vyzdvihujú potrebu, aby sa to stalo predovšetkým pri budovaní nových hospodárskych a sociálnych poriadkov, ale zdôrazňujú, že uplatnenie tohto systému má sa dôsledne vykonať aj na poli kultúrnom a školskom.]. 198 Zitate nach Kamenec 2000, S. 58.

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Man muss davon ausgehen, dass eine ideologische Gleichschaltung von nationalistischen Kulturschaffenden im slowakischen Staat erst einmal nicht nötig war, da die Eigenstaatlichkeit eine breite Zustimmung fand und die Staatsideologie die Ideen des slowakischen Nationalismus der Zwischenkriegszeit aufnahm. Von Seiten der staatlichen Propaganda war die kulturelle Aktion in Tatranská Lomnica ein Versuch, einen das Regime legitimierenden Diskurs auf dem Feld der Kultur zu führen und dies mit Hilfe solcher Praxis in seiner Autonomie zu beschneiden. Für die künstlerische Tätigkeit hatte das Manifest keine unmittelbaren Konsequenzen, denn es berührte keine ästhetischen Fragen. Es stellte eine Machtdemonstration des Regimes dar, weil es zeigen konnte, dass renommierte und als unabhängig geltende Schriftsteller und Wissenschaftler auf der Seite des Staates standen.

Katholisierung der kulturellen Sphäre Das neue Selbstverständnis, der Staat einer katholisch geprägten Nation zu sein, war auf der symbolisch-repräsentativen Ebene überdeutlich. Die Nationalflagge mit dem Doppelkreuz auf drei Berggipfeln markierte dies. Nichtsdestoweniger bezeichnete sich der Staat aber offiziell als „christlich“, um auch die Anhänger der protestantischen Kirche einzubinden; so bildeten Protestanten zum Beispiel eine eigene Unterabteilung innerhalb der Hlinka-Garden. In der Präsentation der kulturellen Aktivitäten im Staat zeichnete sich ebenfalls eine zunehmende Katholisierung ab. Im Gardista etwa wurden fast nur noch katholische Autoren vorgestellt, deren Bücher in katholischen Verlagen zu entsprechenden Themen erschienen.¹⁹⁹ Dies ist insofern bedeutsam, da diese Wochenzeitung kein kirchliches Organ war, sondern der säkularen Wehrorganisation Hlinka-Garde gehörte.²⁰⁰

199 In der Kulturrubrik des Gardista, 1, 18, 1939, S. 10 beispielsweise werden vier Neuerscheinungen vorgestellt, davon drei aus dem Verlag des katholischen Vereins hl. Adalbert, wobei eines die Übersetzung eines polnischen Romans ist. Das vierte Werk ist eine Gedichtsammlung von Rudolf Dilong, dem katholischen Priester, Schriftsteller und regelmäßigen Beiträger des Gardista. 200 Hoensch und Wolff bemerken in vergleichender Perspektive, dass Kleriker gegenüber dem Denken rechter Radikaler auf bestimmten Gebieten Affinitäten hatten. Neben den Feindbildern des Kommunismus, der Ablehnung des Klassenkampfes, der Kritik an Kapitalismus und Sozialismus erkannten beide Seiten „die katholische Kirche als Hauptstütze der nationalen Kultur und Identität“ an. Insofern steht die Profilierung der Rolle der katholischen Kirche in Fragen der Kultur nicht im Widerspruch zu anderen Positionen der Radikalen. Wolff, Richard J., Hoensch, Jörg K. (ed.): Einleitung zu: Catholics, the State, and the European Radical Right, 1919–1945, New York 1987, S. ix–xiii; hier S. xii.

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Das neue Regime, das sich selber substanziell aus nationalistischen Intellektuellen zusammensetzte, versuchte, die Kulturschaffenden nicht nur in deren Äußerungen zu Loyalität zu verpflichten, sondern sie auch in staatsnahe Institutionen einzubinden. Dass die Kultur auf diese Weise insgesamt stärker katholisch ausgerichtet wurde, war zum erheblichen Teil auf die kulturellen Akteure, die dem Regime nahe standen oder es sogar selber repräsentierten, zurückzuführen.²⁰¹ Praktisch trug dazu unter anderem der von katholischen Intellektuellen getragene Verein hl. Adalbert bei, der den größten slowakischen Verlag führte. Zudem sorgten die Funktionäre des neuen Regimes dafür, dass der Religionsunterricht an den Volks- und Bürgerschulen zum Pflichtfach wurde. Der gestiegenen Bedeutung der Konfessionen trug auch die – privilegierte – Eingliederung der vormals eigenständigen evangelischen und katholischen Fakultäten in die Universität Rechnung. Die mit allen Insignien des neuen Staates feierlich inszenierte Einsetzung²⁰² des neuen Rektors der Universität, Vojtech Tuka, durch Staatspräsident Jozef Tiso am 14. Januar 1940 wurde symbolträchtig mit einer feierlichen Messe im Martinsdom eröffnet. Das Doppelkreuz als slowakisches Staatssymbol wurde produktiv in der Publizistik und in der Gelegenheitsdichtung verwendet. Der Dichter und Autor des Gardista Hadri-Drevenický beschreibt die neue nationale Situation als ein „Schreiten unter dem Regenbogen“, der vom Doppelkreuz gebildet wird.²⁰³ Auch Jozef Varga benutzt in einem Gedicht das Bild des vom Doppelkreuz aufgeschlagenen Regenbogens.²⁰⁴ Das Doppelkreuz wurde oft auch als für die beiden Referenzen Gott und Nation stehend umgedeutet. Für die Illustrationen in Zeitschriften und auf Buchdeckeln wurde zunehmend aus dem religiösen ikonographischen Fundus geschöpft. Eine deutliche Veränderung in dieser Hinsicht machte auch die Kulturzeitschrift der Matica slovenská, Slovenské pohľady, unter ihrem neuen Chefredaktor Stanislav Mečiar durch. Das wirkte oftmals aufgesetzt, wenn es sich nicht zwingend aus dem Inhalt ergab, so beispielsweise die Umschlaggestaltung von Štefan Gráfs Roman „Cesta za snom“

201 Anna Magdolenová äußert sich ebenfalls dahingehend, dass die kulturelle Entwicklung von den Kirchen beeinflusst wurde. Vgl. Magdolenová 2000, S. 146. 202 Hertel, Maroš: Celonárodná akcia s nádychom megalománie [Eine gesamtnationale Aktion mit einem Hauch von Megalomanie], in: Valerián Bystrický, Jaroslava Roguľová (ed.), Storočie propagandy. Slovensko v osídlach ideológií [Das Jahrhundert der Propaganda. Die Slowakei in den Fängen der Ideologien], Bratislava 2005, S. 115–120. 203 drav.: V žiare dvojitého križa [Im Schein des Doppelkreuzes]. In: Gardista, 1, 32, 1939, S. 10. 204 Jozef Varga: Gardistom [Den Gardisten], in: Gardista, 1, 43, 1939, S. 4. Der Gedichtband des dichtenden Piloten, aus dem das Gedicht stammt und der in der hohen Auflage von 2000 Exemplaren erschien, wird in derselben Ausgabe ausführlich lobend besprochen.

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[Weg zum Traum], auf der ein Sohn vor seiner Mutter und einem Kreuz kniet, wobei Mariendarstellungen zitiert werden.

Zwei konkurrierende Akademien Die katholische Kirche selber befand sich nun in einer erheblich besseren Position als in der parlamentarischen Demokratie. Sie setzte ihre Bemühungen, das intellektuelle und öffentliche Leben zu beeinflussen, mit größerem Erfolg fort. So konnte sie die seit langem angestrebte Slowakische katholische Akademie unter dem Dach des Vereins hl. Adalbert gründen. Der Vorstand des Vereins hatte sich bereits im Jahr 1920 mit der Idee einer Akademie befasst. 1921 präsentierten die beiden engagiertesten Vertreter dieser Idee, Andrej Hlinka als Vorsitzender und der Bischof Ján Vojtaššák, den Vorschlag zur Gründung auf der Generalversammlung des Vereins. Doch war die Zeit noch nicht reif für eine katholische Akademie, denn in der Phase der Neuorientierung nach 1918 war das nötige intellektuelle Personal für die Umsetzung nicht vorhanden. Der erste Schritt war 1926 die Gründung der Zeitschrift Kultúra.²⁰⁵ Doch die Zeitschrift bestand erst einmal nur ein Jahr lang, bevor sie dann nach 1930 erneut erscheinen konnte, als die literarisch-wissenschaftliche Abteilung gegründet wurde und einen neuen Zulauf an Interessenten brachte. Schliesslich sollte sie in die Akademie münden. Das verhinderten bis 1940 jedoch Streitigkeiten um die personelle Besetzung. Grundsätzlich fand der Verein aber auch wenig Zuspruch unter den jungen katholischen Intellektuellen. Die Bücher, die für die Mitglieder hergestellt wurden, richteten sich in der Regel an breites und einfaches Lesepublikum, womit sie für Intellektuelle zu wenig attraktiv waren. Das beschränkte intellektuelle Niveau wurde nicht nur von aussen kritisiert, sondern auch von Mitgliedern des Vereins selber und richtete sich auch gegen die Zeitschrift Kultúra²⁰⁶. Abhilfe sollte deshalb die stärker wissenschaftliche Ausrichtung von Teilen des Vereins schaffen. Anlässlich des siebzigjährigen Bestehens des Vereins wurde am 17. August 1940 die Akademie gegründet. Die treibenden Kräfte dahinter waren unter anderem der ehemalige Chefredaktor von Kultúra und jetzige Parlamentsabgeordnete Karol Körper, der Dichter und langjährige Abgeordnete der HSĽS Ján Kovalík-Ustianský sowie der Verwalter des Vereins Ján Pöstényi. Auf der Gründungsversammlung

205 Als Grundlage für meine Ausführungen über die Katholische Akademie dient der Aufsatz von Katuninec, Milan: Slovenská katolická akadémia pri Spolku svätého Vojtecha [Die Slowakische katholische Akademie der Gesellschaft des hl. Adalbert], in: Historický časopis 51, 4, 2003, S. 627– 646. 206 Hanakovič 2005, S. 308.

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wurde erklärt, dass die Akademie für Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler gegründet werde, deren Aufgabe es sein würde, „die slowakische katholische Tradition weiterzugeben und sowohl unsere intellektuelle Schicht wie auch die breitere slowakische katholische Gemeinschaft zu bilden.“ Und in den Statuten hiess es, die Aufgabe der Akademie sei es, „die Wissenschaft, Literatur und Kunst im katholischen Geiste zu pflegen“.²⁰⁷ Bereits 1930, als die literarisch-wissenschaftliche Abteilung als Vorgänger der Akademie gegründet wurde, sah sich der Verein mit Vorwürfen konfrontiert, die Matica slovenská konkurrieren zu wollen. Es gab eine Polemik zwischen Konstantin Čulen, der dem Verein vorwarf, katholische Bücher ohne nationalen Geist zu publizieren. Pöstényi erwiderte im Gegenangriff, die Matica würde antikatholische, unmoralische, freimaurerische und bolschewistische Literatur herausgeben. Pöstényis Brief an die organisierten Amerikaslowaken gefährdete sogar eine Mission der Matica, die gerade in die USA unterwegs war. Erst ein einlenkendes Telegramm von Hlinka glättete die Wogen, in dem er versöhnlich schrieb: „Adalbert ist unser Vater – die Matica unsere Mutter.“²⁰⁸ Dass es dem Verein aber nicht gelang, die konkurrierende Akademie vor 1940 zu etablieren, hat auch damit zu tun, dass die Intellektuellen sich weder gegen die Matica stellen, noch sich von der katholischen Kirche vereinnahmen lassen wollten.²⁰⁹ Umso deutlicher wurden eben diese Absichten des Vereins nach 1940. Die regimenahe Akademie, deren Gründung besonders Vojtech Tuka forciert hatte, konkurrierte die liberalere Matica durch ähnliche disziplinäre Sektionen. Laut Katuninec wurden Wissenschaftler der Matica auch der Katholischen Akademie zugewiesen, das heisst mehrere bedeutende Persönlichkeiten, die dort tätig waren, seien als ordentliche Mitglieder der Akademie aufgestellt worden.²¹⁰ Die Katholische Akademie sollte dem Staat als Propaganda-Instrument dienen. Das beweist unter anderem Tukas großes Interesse, den Vorsitz der Akademie zu übernehmen. Gleichzeitig bot der Verein mit seiner enormen Mitgliederzahl eine erhebliche Machtbasis für allfällige Auseinandersetzungen zwischen gemässig-

207 Katuninec 2003, S. 629. 208 Katuninec 2003, S. 629. 209 Ein Beispiel dafür ist Andrej Žarnov, der stets versuchte, sich konfessionell unabhängig als Intellektueller zu positionieren. 210 Katuninec legt zwar nahe, dass die Zuweisung der Personen aufgrund eines Parlamentsbeschlusses vom Juli 1942 möglich wurde, da das Parlament darin die Slowakische Akademie der Wissenschaften und Künste als höchste Kulturinstitution der Slowakischen Republik „zur Organisation und Entwicklung von Wissenschaften und Künsten“ bezeichnete. (Katuninec 2003, S. 630) Doch bezog sich dieser Parlamentsbeschluss auf die Gründung der Slowakischen Akademie der Wissenschaften, nicht aber auf die Katholische Akademie.

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tem und radikalem Flügel der regierenden Einheitspartei. Doch der vorbereitende Ausschuss war nicht gewillt, auf Tukas Strategie einzugehen. Auch sonst versuchten der Verein und der Ausschuss, einigermassen ihre Unabhängigkeit von der Politik zu wahren. Das gelang ihnen aber nicht immer, vor allem in personellen Fragen. Karol Sidor wäre als Gründungsmitglied der literarisch-wissenschaftlichen Abteilung für eine führende Position prädestiniert gewesen. Da er jedoch bei den Vertretern des Deutschen Reichs und Ferdinand Ďurčanský in Ungnade gefallen war, konnte er keine Funktion übernehmen. Ein Vertreter des radikalen Flügels um Tuka wiederum, der Priester und Dichter Ján Kovalík-Ustianský, wurde zweiter Vorsitzender der Akademie und tat sich als solcher in seinen öffentlichen Vorträgen durch radikal-nationalistische Themen hervor. Neben Tiso als Präsident und Kovalík als Vizepräsident fanden sich weitere bedeutende katholische Politiker oder Funktionäre unter den Mitgliedern, etwa Jozef Sivák und Eugen Filkorn im Wirtschaftsausschuss. Der größte Teil der ordentlichen Akademiemitglieder waren Hochschulprofessoren, Schriftsteller und Künstler, aber auch Politiker und hohe Staatsbeamte waren darunter. Leiter und Mitinitiator war Mikuláš Šprinc, der regelmässig auch Lyrikbände veröffentlichte.²¹¹ Die wichtigste Sektion war die theologische und philosophische. Ihr waren der Akademiepräsident Jozef Tiso (bis November 1943) und der Abgeordnete Karol Körper zugeteilt. In der historischen Sektion waren neben anderen Martin Mičura, der frühereVorsitzende der (katholischen) Tschechoslowakischen Volkspartei in der Slowakei und amtierende Vorsitzende des höchsten Gerichts, sowie Ministerpräsident Vojtech Tuka und der frühere Geschäftsführer der HSĽS und amtierende Parlamentsvorsitzende Martin Sokol. Den Vorsitz der Sektion für Sprachwissenschaften, Literatur und Literaturgeschichte übernahm Bildungsminister Jozef Sivák. Mitglieder der Sektion waren Henrich Bartek, der Dichter, Übersetzer, Gymnasiallehrer von Sidor und Urban und langjährige HSĽS-Funktionär Ignác Grebáč-Orlov, Ján Kovalík und Andrej Žarnov. Auf einer Liste von 1943 taucht neben dem Schriftsteller Valentín Beniak auch Karol Sidor auf. In der Sektion für Bildende Kunst, Musik und Kunstgeschichte waren die bekanntesten slowakischen Künstler vertreten, etwa Martin Benka, Ľudovít Fulla, Eugen Suchoň, Mikuláš Schneider-Trnavský und Alexander Moyzes. Auffallend an der Personalpolitik der Akademie ist zum einen, dass die führenden Intellektuellen mit katholischem Hintergrund an die Institution gebunden wurden. Zum anderen gab es eine starke Verquickung zwischen politischen und

211 z. B. „Ozveny v samotách“ [Echos in der Einsamkeit], 1940, und „Tak umieral básnik“ [So starb der Dichter], 1942. Šprinc blieb auch in der Emigration dichterisch dem Thema des slowakischen Nationalismus treu.

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akademischen Ämtern. Auf diese Weise konnte der staatliche Einfluss gesichert beziehungsweise die ideologische Ausrichtung gelenkt werden.²¹² Einschränkend ist festzuhalten, dass der Kriegsverlauf die Tätigkeit der Katholischen Akademie behinderte. Der Sitz der Akademie war zwar in Trnava, die wissenschaftliche Arbeit konzentrierte sich jedoch in Bratislava. Das dort gemietete Haus²¹³ war kaum vollständig hergerichtet, als wegen der Bombardements das Mobiliar, die Bibliothek und das Archiv nach Trnava transferiert werden mussten. Die wichtigsten Ergebnisse der Akademie waren Vorträge und 12 Publikationen aus vier Sektionen, im wesentlichen waren das wissenschaftliche Auseindandersetzungen mit Spiritualität, zwei Werke über katholische Dichter, die Technik der Predigt und aus der historischen Abteilung zum Prinzip der Nationalitäten. Das kulturelle Feld wurde nach der Staatsgründung nicht gänzlich neu strukturiert. Vielmehr wurden die ideologisch unterschiedenen Interessensphären in adaptierter Form reproduziert. Nachdem nun die Katholische Akademie gegründet worden war und sie mit der Matica slovenská um das intellektuelle Personal konkurrierte, kam noch eine weitere Neugründung hinzu. Im Juli 1942 wurde die Slowakische Akademie der Wissenschaften und Künste per Parlamentsbeschluss eingerichtet. Interessanterweise knüpfte diese Institution an die tschechoslowakisch orientierte Šafarík-Gelehrtengesellschaft an, einer akademieähnlichen Organisation der Wissenschaftler an der Komenský-Universität. Deren Aufgabe war in der Zwischenkriegszeit, eine slowakische intellektuelle Elite hervorzubringen, die dem Staat gegenüber loyal war.²¹⁴ Zehn Tage nach der Staatsgründung wurde die Gesellschaft aufgelöst, weil sie angeblich im Widerspruch zu den rechtlichen Verhältnissen stand. Ersetzt wurde die Organisation unter dem Dach der Slowakischen Universität von der Slowakischen Gelehrtengesellschaft im Juni 1939. Die 1942 gegründete Slowakische Akademie übernahm im wesentlichen das Führungspersonal dieser Gesellschaft. Der Vorsitzende der Gesellschaft war František Valentín, der Tuka im Amt als Rektor der Universität folgte. Valentín war nicht nur Chemiker, sondern hatte auch katholische Theologie studiert und sich in der ersten Hälfte der 20er-Jahre als Katechet betätigt. Generalsekretär wurde der Sprachwissenschaftler und Slawist Ľudovít Novák, Leiter der geisteswissenschaftlichen Abteilung mit Andrej Mráz als Sekretär war Alexander Spesz, der sich als Professor mit katho-

212 Die Akademie wurde aufgelöst, als der Verein hl. Adalbert 1946 vom Slowakischen Nationalrat unter Druck gesetzt wurde. 213 Laut Katuninec blieben die Bedingungen des Erwerbs oder der Miete des Gebäudes unklar. Es wurde arisiert, und der ehemalige jüdische Besitzer floh nach London. 214 Hudek, Adam: Vznik a vývoj Slovenskej akadémie vied a umení v rokoch 1942–1945 [Entstehung und Entwicklung der Slowakischen Akademie der Wissenschaften und Künste in den Jahren 1942–1945], in: Forum Historiae, 5, 1, 2011 S. 37–55, www.forumhistoriae.sk, 11.11.2011.

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lischer Soziologie befasste. Den Vorsitz der naturwissenschaftlichen Abteilung übernahm Andrej Žarnov. In der Besetzung lässt sich eine katholisch-nationale Ausrichtung erkennen.²¹⁵ Hudek bestätigt, dass „sich in der Zusammensetzung der Führung der SUS ein fortschreitender starker Einfluss des religiösen Glaubens auf die Formierung einer slowakischen intellektuellen Elite spiegelte“.²¹⁶ Alle wissenschaftlichen Institutionen hätten sich zwar zur Freiheit der Forschung bekannt, mussten aber nichtsdestoweniger offizielle kirchliche Standpunkte akzeptieren. Die Funktionsteilung innerhalb der slowakischen intellektuellen Elite war – begründet durch ihre niedrige Zahl – relativ gering. Diese kleine Gruppe war oftmals zugleich in den politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Feldern tätig und verquickte diese damit unauflöslich, was ihnen einen weitreichenden Einfluss sicherte. Zudem spielten persönliche Kontakte und Netzwerke, aber auch Animositäten, eine entscheidende Rolle. So wollten etwa die Matica-Mitarbeiter die Initiative zur Gründung der konkurrierenden Akademie durch den ehemaligen Matica-Forscher Novák vereiteln.²¹⁷ Desweiteren war auch Tuka einer der stärksten Opponenten der Gründung der Slowakischen Akademie in Bratislava. Das erklärt sich nicht nur aus seiner Unterstützung für die Matica und die Ablehnung der ehemals tschechoslowakischen Nachfolgeorganisation²¹⁸, sondern auch aus seinem Engagement für die Katholische Akademie. Der Chef des parlamentarischen Kulturausschusses, der katholische Intellektuelle Karol Körper, befürwortete die Gründung einer weiteren Akademie, ebenso die übrigen Redner wie der Bildungsminister Jozef Sivák und der Schriftsteller E. B. Lukáč. Die Diskussion, wie die neue Akademie sich gegenüber der Matica slovenská positionieren sollte und ob sie diese gefährden würde, zeigt, dass die Katholische Akademie nicht als vollwertige wissenschaftliche Institution von nationalem Rang eingestuft wurde, sondern eher als Bestandteil des Vereins hl. Adalbert und dessen Aktivitäten. Das bekräftigt auch die ausdrückliche Ablehnung einer Organisationsform als Verein oder Gesellschaft, stattdessen die Einrichtung als öffentlich-rechtliche Körperschaft mit festangestelltem Personal in der Position von Staatsbeamten.²¹⁹

215 Hudek konstatiert, dass lediglich Žarnov politisch aktiver Exponent des Regimes war. Vgl. Hudek 2011, S. 39. Den slowakischen Nationalismus hatten in der Vergangenheit aber auch Mráz und Novák unterstützt, und vom Vertreter des ohnehin nationalistisch ausgerichteten Katholizismus ist auch eine wohlwollende Haltung gegenüber dem Regime vorausszusetzen. 216 Hudek 2011, S. 39 f. 217 Hudek 2011, S. 42. 218 Hudek 2011, S. 42. 219 Hudek 2011, S. 44.

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In der Einteilung der wissenschaftlichen Abteilungen zeigte sich der omnipräsente katholische Einfluss. So gehörte der geisteswissenschaftlichen Abteilung neben der landeskundlichen und juristischen die theologisch-philosophische Sektion an. Zudem genoss die theologische Sub-Sektion eine vollständige Autonomie von der Leitung der Abteilung als besonderes Privileg gegenüber den anderen Disziplinen. Auch war in den – offiziell nie genehmigten – Statuten festgehalten, dass die Vizepräsidenten jeweils von der katholischen bzw. von der evangelischen Sub-Sektion gestellt werden. An der Konkurrenzsituation zwischen den Forschungseinrichtungen zeigt sich, wie stark die Etablierung von persönlichen Netzwerken abhängig war. Die Gründung der SAVU kann durchaus als ein Projekt von Novák bezeichnet werden. Ihm stellten sich schon Widerstände von Mitgliedern der Slowakischen Gelehrtengesellschaft entgegen, die formal nie aufgelöst wurde und informell als Kreis befreundeter Professoren weiterbestand. Auch der Versuch, über Personalfragen die Institutionen auszusöhnen und zur Kooperation zu bewegen, scheiterte, wie das Beispiel des Parlamentsabgeordneten und Matica-Historikers František Hrušovský zeigt. Er wurde als Vorsitzender der geisteswissenschaftlichen Abteilung eingesetzt, kümmerte sich jedoch keinen Deut um die Akademie, sondern arbeitete stattdessen weiterhin für die Matica. Neben zu wenig wissenschaftlichem Personal und interessensgebundenen Widerständen hatte die Akademie auch noch mit einem akuten finanziellen Mangel zu kämpfen. Insgesamt war ihre Tätigkeit dadurch eingeschränkt. Lediglich die geisteswissenschaftliche Abteilung entwickelte nennenswerte Aktivitäten. Neben den ersten beiden Bänden der seit längerem geplanten sechsbändigen „Slowakischen Landeskunde“ [buchstäblich: Heimatkunde] gab die Akademie vor allem Zeitschriften heraus, darunter eine in propagandistischer Absicht mit Beiträgen von Funktionären des Regimes wie Ďurčanský und Polakovič, aber auch von Mitarbeitern der Matica und des Vereins hl. Adalbert. Da die Zeitschriften sich vor allem an ausländische Akademien richteten, waren die enthaltenen Beiträge auf deutsch, französisch und englisch abgefasst.²²⁰ Das Regime unterstützte die Akademie anfänglich, um sein Ansehen durch kulturelle Leistungen zu erhöhen. Zur Kontrolle wurde der Regime-Ideologe und Matica-Forscher Štefan Polakovič eingesetzt, der in seiner Funktion als Mitarbeiter des Propagandaamtes auch für die Öffentlichkeitsarbeit der Akademie zuständig war. Das Interesse des Regimes flaute aber relativ bald wieder ab angesichts des Kriegsverlaufs und den damit verbundenen dringenderen Regierungsgeschäften.

220 Hudek 2011, S. 52 f.

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Die Matica slovenská gerät ins Abseits Die relativ starke Stellung der Matica slovenská in der slowakischen Provinz leitete sich in der Zwischenkriegszeit aus der oppositionellen Haltung einer rein slowakischen Kulturorganisation gegenüber dem kulturell heterogenen Bratislava als Sitz vieler tschechoslowakischer Institutionen ab. Diese Position veränderte sich drastisch unter den neuen Machtverhältnissen, auch wenn die Matica slovenská sich ausgesprochen positiv zum Regime stellte. Die Gründung des neuen Staates begrüsste der Verwalter der Matica slovenská, Jozef Cíger Hronský, entsprechend euphorisch, da das Slowakische nun seinen Siegeszug antreten konnte: Vom jetzigen Sieg an lassen wir niemals wieder die Schwächung des Slowakischen zu und wir werden im Königreich ihrer Majestät allen Besitz des slowakischen Volkes bis zu den letzten Folgen und Opfern schützen und wir lassen es niemals wieder zu, dass sich jemand auf diesem Boden über das Slowakische und über dessen Würde und Klarheit stellt.²²¹

Doch versuchte die Matica slovenská weiterhin, ihre Sonderstellung zu wahren und sich vorerst nicht parteipolitisch, das heisst von der HSĽS als neuer Einheitspartei, vereinnahmen zu lassen. Das war indes schwierig, da sie vorübergehend verstaatlicht wurde und im Dezember 1938 mit der ihr zugeordneten Zentralen Kulturkommission einen staatlichen Bildungsauftrag erhielt, den sie mit Hilfe ihrer lokalen Ableger ausführen sollte. Noch vor Beginn der neuen Staatlichkeit sollte die Matica einen Index von Büchern zusammenstellen, die aus ideologischen Gründen aus den öffentlichen Bibliotheken zu entfernen waren. Das betraf in der Regel Werke tschechoslowakisch orientierter Autoren, zum Beispiel von Beneš, Hodža, Šrobár und Dérer. Doch erwies sich die Institution nicht als willfährig genug. Einen Teil der Säuberung übernahmen die Hlinka-Garden, die jene Werke durch solche von Hlinka, Čulen, Sidor und auch Mussolinis „Die faschistische Lehre“ ersetzten.²²² So wurde die Matica bereits im Januar 1940 ihres staatlichen Auftrags wieder enthoben.²²³ Der Bücherindex wurde noch vor dem höchsten politischen Forum bestehend aus dem Regierungsvorsitzenden Vojtech Tuka, Propagandaminister Alexander Mach und Generalsekretär der HSĽS Jozef Kirschbaum verhandelt. Ihnen 221 Winkler/Eliáš 2003, S. 143 [Od terajšieho víťazstva nedopustíme nikdy oslabenie slovenčiny a že v kráľovskom jej majestáte budeme všetko imanie slovenského národa chrániť do posledných dôsledkov a obetí a nedopustíme už nikdy, aby sa na tejto zemi stavalo nad slovenčinu a nad jej dôstojnosť a jasnosť.]. 222 Mussolinis „Die faschistische Lehre“ erschien 1939 als erster Band der Editionsreihe Slowakische politische Bibliothek. Vgl. Baka, Igor: Mechanizmus, ciele a metódy pôsobenia ľudáckej propagandy v rokoch 1938–1939 [Mechanismen, Ziele und Methoden der Volkspartei-Propaganda in den Jahren 1938–1939], in: Historický časopis, 51, 2, 2003, S. 277–294; hier S. 280. 223 Winkler/Eliáš 2003, S. 145 f.

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gegenüber verteidigten vier Vertreter der Matica, darunter Hronský und Mečiar – selber der radikalste Nationalist unter den Matica-Funktionären – ihre Haltung.²²⁴ Das Regime versuchte, die Matica enger an sich zu binden. So ernannte Alexander Mach die Matica-Sekretäre Ján Marták und Stanislav Mečiar zu Kulturreferenten der Hauptkommandantur der Hlinka-Garde sowie den Verwalter Jozef Škultéty zu deren Ehrenmitglied. Ähnlich wie die spärlichen Subventionen oder auch die willkürliche Ablehnung des Orthographievorschlages von Bartek deutete der mehrfach im Nástup kritisierte Fall der Zentralen Kulturkommission daraufhin, dass der Einfluss und die Eigenständigkeit der Matica vom neuen Regime in Bratislava beschnitten werden sollten. Mit der Wende von 1938/1939 machte der Matica-Redaktor Stanislav Mečiar Karriere als Matica-Funktionär. Er übernahm ab der dritten Nummer 1939 die Redaktion der ältesten und renommiertesten Kulturzeitschrift der Slowakei, der Slovenské pohľady, und prägte zudem das Editionsprogramm. Selber gab er Werke der slowakischen Romantik heraus. Die Edition eines Werkes jedoch, Ľudovit Štúrs Spätwerk „Das Slawentum und die Welt der Zukunft“, verursachte Alexander Machs Eingreifen²²⁵: Als 1943 Moskau die Idee des Slawentums und die Rolle der orthodoxen Kirche stärken wollte, durfte das Slawentum der Slowaken nicht mehr zu identifikatorischen Zwecken hervorgehoben werden. Mit seinem Antritt als Chefredaktor²²⁶ baute Stanislav Mečiar die Zeitschrift zu einer Plattform der slowakischen Staatsideologie und des politischen Systems aus. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde Philosophie in der Matica nicht systematisch betrieben. Mečiar veranlasste 1940 die Einrichtung einer philosophischen Abteilung. Zusammen mit Štefan Polakovič, dem führenden Ideologen des Regimes, der unter anderem die Funktion eines Philosophieprofessor an der Universität ausfüllte, hatte er bereits begonnen, den Philosophischen Reader herauszugeben, der ganz im Dienste der slowakischen Staatlichkeit stand. Polakovič wurde zweiter Vorsitzender der Philosophischen Abteilung. Sein prominentes Werk „Zur Grundlage des Slowakischen Staates“ [K základom Slovenského štátu] erschien 1939 im Verlag der Matica. Sein nächstes Werk „Der slowakische Nationalsozialismus“ [Slovenský národný socializmus] wurde 1941 direkt von der HSĽS in Bratislava herausgegeben. In beiden Werken plädiert der katholisch geprägte Autor für eine eigenständige slowakische Version des Nationalsozialismus, lehnt die einfache Übernahme des deutschen Modells ab und fordert stattdessen einen „christlichen Totalitarismus“.

224 Winkler/Eliáš 2003, S. 170. 225 Valach, Július: Činnosť Matice slovenskej v rokoch 1939–1945, in: Bobák, Ján (Hg.): Slovenská republika (1939–1945), Martin 2000, S. 167–173; hier S. 169. 226 Sein Vorgänger Andrej Mráz wurde als Professor an die Slowakische Universität nach Bratislava berufen.

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In der Haltung zum slowakischen Staat polarisierten sich die führenden Köpfe der Matica. Die Gruppe um Polakovič und Mečiar setzte sich affirmativ mit dem slowakischen Nationalismus als Staatsideologie auseinander, während ein zweiter Kreis um den Soziologen Alexander Hirner scharf gegen den Nationalismus auftrat.²²⁷ Die Zweiteilung schlug sich auch in den Publikationen nieder. Die Bewürworter eines „gesunden Nationalismus“ konzentrierten sich um Mečiars Slovenské pohľady, die Gegner bald um die Philosophische Sammelschrift [Filozofický sborník]. Im wesentlichen konnte die Matica ihrer Tätigkeit als Herausgeberin von wissenschaftlichen und allgemeinbildenden Zeitschriften sowie Fachliteratur und literarischen Werken weiterhin nachgehen. Allerdings kam es zu einem personellen Aderlass, da zahlreiche Mitarbeiter an die Slowakische Universität wechselten, wo die entlassenden Tschechen begehrte Lehrstühle und Dozentenstellen freigaben. Die ehemaligen Matica-Mitarbeiter wurden in der Folge auch für die 1939 gegründete Slowakische Gelehrtengesellschaft bzw. ab 1942 Slowakische Akademie der Wissenschaften und Künste tätig und andere wiederum für die Slowakische katholische Akademie. Ein schwerwiegender Verlust war für die Matica der Abgang Ľudovít Nováks, weil damit die sprachwissenschaftliche Forschung praktisch aufhörte.²²⁸ Auf jeden Fall konzentrierte sich die wissenschaftliche Forschung fortan in Bratislava. Die ausserdem drohende Verschmelzung von lokalen Büros der Matica mit Einrichtungen der HSĽS konnte die Matica jedoch abwenden. Eine Krise erlebte sie zur Zeit des Partisanenaufstandes im September 1944. Die Aufständischen setzten die Leitung der Matica ab und inhaftierten den Verwalter Hronský vorübergehend. Nach der Niederschlagung wurde er wieder eingesetzt. Zum intellektuellen Kern der Matica gehörten in dieser Zeit Jozef Ciger Hronský, Stanislav Mečiar, Konstantin Čulen und Štefan Gráf, die später in der Emigration die Auslands-Matica gründeten als Ersatz für die 1950 aufgelöste Matica slovenská. Dort setzten sie ihre nationalistischen Aktivitäten – nun wieder in der Rolle von Opposition und Pseudo-Minderheit – fort. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die autonomistische Ausrichtung der Dreissigerjahre bestehen blieb und ab Erlangung der Autonomie auch ihre personellen Konsequenzen zeitigte. Aus der Sicht des Regimes war die Matica slovenská nicht zuletzt wegen ihres Netzwerkes von lokalen Ablegern, der grossen Mitgliederzahl und auch der kulturell-nationalistischen Ausrichtung der wissenschaftlichen und Bildungstätigkeiten als Instrument für die Umerziehung der Gesellschaft von Nutzen für das neue Regime. Insofern liess sie sich gut in die Vorhaben des Re-

227 Winkler/Eliáš 2003, S. 260. 228 Hudek 2011, S. 41.

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gimes eingliedern. Da sich die Institution mit ihren kulturellen Aktivitäten nun nicht mehr gegen die kulturelle tschechoslowakische Dominanz behaupten musste, verlor sie an eigenständigem Profil. Dazu trug auch noch die Abwanderung von Fachkräften nach Bratislava bei, das nun endgültig zum wissenschaftlichen Zentrum der slowakischen Gesellschaft wurde, den Trend aus der Ersten Republik paradoxerweise fortsetzend. Die Matica slovenská erlangte Bedeutung bei der theoretischen Bestimmung des Nationalismus, der nun durch das Attribut „nationalsozialistisch“ spezifiziert vollends in der Gesellschaft durchgesetzt werden sollte. Auch schlug sich der kulturelle Katholisierungsschub in ihren Publikationen nieder, auf der thematischen als auch illustratorischen Ebene.

Fazit Die Struktur des kulturellen Feldes in der Slowakei, ein Netz von kulturellen Institutionen, bildete sich in der Auseinandersetzung mit den tschechischen beziehungsweise tschechoslowakischen Einrichtungen heraus. Charakteristisch für die Zwischenkriegszeit war dabei die Verdopplung von Institutionen. Diese Struktur bot günstige Voraussetzungen zum Anknüpfen in der Autonomiephase und dann im slowakischen Staat. Eine Bedingung dafür war eine Kontinuität auf der personellen Ebene. Zwar erhöhte sich die Zahl der slowakischen Akademiker und Intellektuellen. Doch blieb der Kreis der nationalistischen intellektuellen Elite begrenzt. Die wichtigste Zäsur in der Entwicklung des Nationalismus und der Stellung der Intellektuellen dazu stellt die Erlangung der Autonomie dar. Das heisst bereits einige Monate vor der Staatsgründung wurden die Weichen für das autoritäre Regime mit Hilfe der nationalistischen Elite gestellt. Ab der Autonomiephase und mit der Abschiebung der Tschechen wurden viele Positionen in der kulturellen und wissenschaftlichen Sphäre frei, jedoch war die Zahl der slowakischen Intellektuellen, die zudem noch loyal zum Staat waren, wiederum zu klein, um die gewünschten Aktivitäten entfalten zu können. Vielmehr besetzten einzelne Personen Stellen in mehreren Institutionen, oder aber die angestrebte Zahl an Mitarbeitenden wurde nie erreicht. Bei der Einrichtung von Institutionen wie den Akademien oder auch im Theaterbereich waren persönliche Netzwerke und Vorlieben ein wichtiges Kriterium. Sie führten sogar zu neuen Trennlinien, die teilweise die alten zwischen fortschrittlicher und nationalistischer Orientierung gezogenen wieder aufnahmen. Eine wichtige personelle Ressource für das neue Regime stellten die jungen nationalistischen Intellektuellen dar, die nun Teil der politischen und kulturellen Elite im Staat wurden.

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Es ist aufgrund der dominierenden Themen sowie der personellen Kontinuität bzw. des personellen Austauschs zwischen den Institutionen von einem nationalen Netzwerk von persönlichen, themenbezogenen und beruflichen Kontakten auszugehen. Doch verfestigte und verdichtete sich dieses Netzwerk nicht kontinuierlich. Davon zeugen die während der gesamten Zwischenkriegszeit bestehenden Differenzen zwischen den verschiedenen nationalistischen Akteuren. So blieb eine gewisse Konkurrenz zwischen den verschiedenen Institutionen etwa der Matica slovenská und der Volkspartei mit ihren Organisationen bestehen. Auch über den Grad der Purifizierung der Schrift herrschte unter den Nationalisten Uneinigkeit, abgesehen von der ohnehin divergierenden sprachlichen Auffassung und ungarischen Orientierung der slowakischen Nationalisten in der Ostslowakei. In verschiedenen kulturellen Bereichen liess sich indes beobachten, wie die nationalistischen Intellektuellen versuchten, ihre säkular-religiösen Vorstellungen, etwa der Reinigung, zu etablieren und eine entsprechende Praxis in Gang zu setzen, so etwa bei der Rechtschreibreform oder auch im Nationaltheater. Die Uneinigkeit in nationalistischen Kreisen legte sich nicht mit der Gründung des „christlich-nationalsozialistischen“ Staates. Die Differenzen zwischen gemässigten und radikalen Nationalisten, respektive christlich-religiösen und säkularreligiösen, schlugen sich im Ringen um die kategorielle Deutungshoheit nieder, wie die Schwierigkeiten bei der Etablierung der Katholischen Akademie belegen. Als ein besonders schwieriges Gebiet zur Einflussnahme erwiesen sich in der Zwischenkriegszeit die Institutionen in Bratislava, was sich aufgrund personeller Kontinuitäten teilweise nach 1939 fortsetze. Wenn in den einschlägigen slowakischen Geschichtsdarstellungen stereotyp von hervorragenden Entfaltungsmöglichkeiten der slowakischen Kultur unter den Bedingungen des slowakischen Staates geschrieben wird, ist das zu relativieren. Abgesehen vom Kriegsgeschehen und der faktischen deutschen Bevormundung des slowakischen Regimes gab es auch noch die aus der Zwischenkriegszeit ererbten Gräben zwischen den Intellektuellen. Immer wieder lässt sich das an den Attributen der Kategorie des Nationalen festmachen. Die Matica slovenská neigte im Verlauf der Dreissigerjahre immer stärker zum politischen Verständnis der Nation als politisch autonomer Einheit. Die katholische Kirche in Gestalt des Vereins hl. Adalbert wandte sich stärker dem Attribut der Kultur zu und versuchte dementsprechend das gesamte kulturelle Feld – neu auch mit einer eigenen Akademie – zu beeinflussen und zu dominieren, wobei der slowakische Staat mit seinem christlichen Grundverständnis besonders hilfreich war. Die liberalste dieser Institutionen im akademischen Dreigestirn, die Slowakische Akademie, hing personell am Tropf der Universität, in der sich nun zahlreiche slowakische Wissenschaftler ihrer neuen Pfründe auf Kosten der entlassenenen Tschechen erfreuten.

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Einen grossen Gewinn – und zwar an prestigeträchtigen Positionen – konnte die intellektuelle Elite jedenfalls verbuchen. Das persönliche Ansehen, die hervorgehobene Stellung und Einflussmöglichkeiten mussten bei dieser grossen Zahl an Institutionen, die eine Reputation versprachen, angesichts des akuten personalen Mangels, um all diese Positionen zu besetzen und die wissenschaftlichen Vorhaben auch umzusetzen, ein entscheidender Faktor sein. Zur Etablierung der Kategorie des Nationalen ist festzuhalten, dass die Forderungen nach einer größeren politischen Eigenständigkeit sich mit der Autonomie und der folgenden Staatsgründung erfüllt hatten. Die Realität eines einheitlichen nationalen Kollektivs liess aber weiterhin auf sich warten. Dessenungeachtet wirkte sich der Kampf um nationale Deutungshoheit und gesellschaftliche Einflusssphären als legitimistische Praxis produktiv auf die kulturelle Sphäre und zum Vorteil von deren führenden Akteuren aus. Beeinflusst von ihrer Teilhabe an den institutionellen Netzwerken übten kulturelle Akteure ihre nationalistische Praxis in ihren publizistischen Beiträgen und künstlerischen Werken aus. Wichtige politische Themen wurden in der Presse behandelt und waren dabei konzeptionell von kulturellen Überlegungen und symbolischen Repräsentationen des Nationalen beeinflusst. Beispiele rhetorischer und literarischer Praxis werden in den beiden folgenden Kapiteln untersucht.

7 Nation als rhetorische Praxis Die nationalistischen Medien bildeten einen Kommunikationsraum mit der vorrangigen Absicht, nationalistische Ideen bei der Leserschaft zu etablieren. Dabei lässt sich trotz aller propagandistischen Plakativität das Bemühen erkennen, traditionelle Ideen wie die slawische Wechselseitigkeit weiterzuentwickeln und politische Ideologien, etwa den italienischen Faschismus, aus dem europäischen Umfeld aufzunehmen. Aus der rhetorischen Praxis der nationalistischen Intellektuellen kristallisieren sich die ideologischen Entwicklungslinien heraus, wobei die Auseinandersetzung mit Klerikalismus, staatlichen Symbolen sowie Vorstellungen von nationaler Homogenität wegweisend waren.

7.1 Adaptionen des Konzepts „Slawen“ Ende der „slawischen Wechselseitigkeit“ Das aus dem frühen 19. Jahrhundert stammende Konzept der „slawischen Wechselseitigkeit“¹ beanspruchten die verschiedenen nationalistischen Seiten für sich. Die tschechische bzw. tschechoslowakische Seite sah im gemeinsamen Staat eine konkrete Anwendung der Idee der slawischen Wechselseitigkeit. Die Tschechen und Slowaken hatten sich demnach als zwei kleine Nationen im Rahmen der großen slawischen Nation zusammengeschlossen. Die slowakischen Nationalisten hingegen adaptierten mit der Zeit das Konzept für ihre Zwecke. Die Idee von einer großen slawischen Gemeinschaft implizierte bei ihnen die Aufweichung der vermeintlich besonders engen Beziehung zu den Tschechen. Unter dem slawischen Dach standen die slawischen Völker gleichberechtigt nebeneinander. Das Konzept wurde auch auf andere denkbare Konstellationen angewendet. Einige maßgebliche Nationalisten bevorzugten die spezifizierte Idee der polnisch-slowakischen Wechselseitigkeit. Die Zeitschrift Vatra war das Publikationsorgan einer Gruppe von jungen Intellektuellen, die sich als ein literarischer Zirkel verstanden. Sie formulierten als solcher den gesellschaftlichen Auftrag „sich der Bildung der Nation zu opfern“.² Und zwar sollte diese darin bestehen, dem slowakischen Volk eine „eigene, originale, slowakische“ Literatur zu geben. Die junge Generation würde auf Wache stehen,

1 Vgl. Kapitel 3 dieser Studie. 2 Vojtech S.: Literárny krúžok Vatry [Der literarische Zirkel von Vatra], in: Vatra, 3, April/Mai 1921, S. 184.

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damit keine für die slowakische Literatur feindlichen Einflüsse in die Literatur eindringen könnten. Statt von anderen Nationen zu lernen habe sie sich daran gemacht, eine slowakische Literatur heranzuzüchten. Hier drückt der Autor einen Purismus aus, den er durch die jungen Schreibenden um Vatra bestätigt findet. Als deren Vorbilder nennt er die slowakischen Schriftsteller Hviezdoslav, Krasko und „weitere slowakische und slawische Modernisten“ sowie Vajanský, der gezeigt habe, dass die Wiedergeburt der slowakischen Literatur auf einem slowakischen und slawischen Grund basieren müsse, nicht aber auf antiker, französischer, englischer oder anderer Literatur. Den sprachlichen Purismus übertrugen die jungen Intellektuellen somit auch auf die slowakische Literatur. Eine Besonderheit von Vatra war, dass ihre Beiträger eine rein slowakische Kultur anstrebten, die sie immer auch als Teil des slawischen Kulturraums verstanden. Damit wollten sie die slowakische Eigenständigkeit der slowakischen Kultur betonen und indirekt die behauptete Abhängigkeit von der tschechischen Kultur widerlegen. In der Zeitschrift Vatra war Peter Prídavok für die Popularisierung der Idee eines Slawentums zuständig. Er richtete im zweiten Jahrgang, 1920, die Rubrik „Slawisches Eckchen“ [„slavianský“, altkirchenslawisch, statt slowakisch „slovanský“] ein, nachdem er zuvor bereits Prosastücke aus dem Polnischen übersetzt hatte. Der erste Beitrag innerhalb dieser Rubrik ist der „Slawischen Wechselseitigkeit“³ gewidmet. Das Ziel der Rubrik sei es, so der Autor, den Slowaken nicht nur Slowakisches, sondern auch „(Bluts-)Verwandtes“ [pokrevné], also das Slawische nahzubringen. Zudem solle die „allslawische“ Idee den Slowaken, die aus einem langen Schlaf erwacht seien, den Zugang zum Erbe Kyrill und Methods⁴ ermöglichen. Es handelte sich dabei um solche – in den Enzyklopädien vom Anfang des Jahrhunderts – als objektive Merkmale einer Nation bezeichneten Elemente, wie „Hinweise auf slawische nationale Elemente, Lieder, Sprichwörter, Rätsel, Sagen, Reime und Vergleiche“. Aus der Teilhabe an der slawischen volkstümlichen Überlieferung sollte demnach die eigene volkstümliche Tradition rekonstruiert werden. Es handelte sich hierbei um den Versuch, eine ethnisch-kulturelle Nation mit einer langen und kontinuierlichen Vergangenheit

3 Prídavok, Peter: O vzajomnosti slavianskej [Über die slawische Wechselseitigkeit], in: Vatra, 2, April 1920, S. 132–134. 4 Die aus Thessaloniki stammenden Slawenmissionare Kyrill und Method werden in der orthodoxen Kirche als Heilige und Slawenapostel verehrt. Für die slawischen Nationalmythologien sind sie bedeutsam, weil sie im 9. Jahrhundert im slawisch besiedelten mitteleuropäischen Raum christlich missionierten und vor allem Konstantin/Kyrill dabei eine slawische Schrift kodifizierte, eine Variante des Altkirchenslawischen, die in der slawisch-orthodoxen Liturgie verwendet wurde. Vgl. Holzer, Georg: Altkirchenslawisch. Eintrag in: Enzyklopädie des europäischen Ostens, Milos Okuka (Hg.), Bd. 10, Klagenfurt 2002, S. 187–201.

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zu bilden. Dessen ungeachtet wurde die slowakische Nation als Teil der slawischen Nation betrachtet, deren geistige Führung bei der russischen Nation liegen sollte. Prídavok zitiert den russischen Revolutionär Alexander Herzen. Dieser hegte eine Liebe zum einfachen Volk, unabhängig davon, ob jenes unbewusst, erniedrigt oder schlecht gewesen sei. Für ihn habe lediglich die kindliche Seele gezählt, das auf jedenfall darin zu findende Gute. Eine ebensolche bedingungslose Liebe zur eigenen Nation fordert Prídavok von jedem „guten Slowaken“. Aus diesem Beitrag von 1920 geht jedoch auch deutlich hervor, welch staatsfeindliches Potenzial in der Idee von der slawischen Wechselseitigkeit lag. Da der Beitrag primär auf die Ursprünge der slowakischen Nation abzielte, geriet die tschechoslowakische Nation als solche nicht in den Blick. Aus dieser Perspektive waren die Tschechen einfach eine neben den anderen slawischen Nationen: „Unsere Mutter ist die Slowakei, unsere Brüder sind die Russen, Polen, Tschechen, Serben, Kroaten, Sorben und andere.“ Die Slawen sollten eine Front gegen die Germanen und Magyaren als den gemeinsamen nationalen Feind bilden. In seiner Slawophilie bezieht sich Prídavok auf den tschechischen Aufklärer, Dichter und Philologen Josef Jungmann (1773–1847), der ebenfalls gefordert hatte, slawische Sprachen zu lernen. Die Beschäftigung mit den Sprachen, Bräuchen und dem Leben der anderen slawischen Nationen sollte vor allem das Slawentum stärken. Das Slowakische hätte sogar noch den Gewinn, fehlende oder verlorengegangene Wörter übernehmen zu können, heißt es. Im nachfolgenden Beitrag über die slawische Mythologie findet sich ein Klischee slowakischer Nationalmythologie, nach dem die „Wiege des Slawentums“⁵ laut Beweisen von Gelehrten in den Karpaten „unter unserer Tatra“ gestanden habe. Damit wird noch eine besondere, geradezu auserwählte, Stellung der slowakischen Nation unter den slawischen Völkern behauptet. Dieses rein kulturelle Verständnis gerät mit der Zeit in einen Konflikt mit den politischen Verhältnissen. In einem Artikel von 1930 anlässlich des Jahrestages der letzten Teilung Polens klassifiziert Sidor die slawischen Nationen nach ihrer Staatlichkeit. So unterteile sich die slawische Welt in die herrschenden und die beherrschten, und damit zweitklassigen, slawischen Nationen. Zur ersteren Klasse gehörten demnach die Russen, Polen, Serben und teilweise Bulgaren, zur zweiten Klasse die Ukrainer in Russland, die Weißrussen in Russland, die Slowaken und Ruthenen in der ČSR sowie die Kroaten und Slowenen in Jugoslawien.

5 Cyrill: Zo slavianskej mythologie (bájoslovia) [Aus der slawischen Mythologie (Mythologien)], in: Vatra, 2, 1920, S. 134.

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Gemeinsames Zeichen dieser Gruppe ist, dass die in ihr zusammengeschlossenen Nationen mit Misstrauen gestraft sind, unterschätzt und nicht zur Mitverantwortung für das Schicksal ihres Staates herangezogen werden. (. . . ) Bereits die Grundlage – bestehend aus Elementen des Imperialismus und der Vorherrschaft der stärkeren slawischen Nation – ist hier ein Fehler. (. . . ) Die herrschenden Nationen, und zwar die Tschechen und die Serben, halten krampfhaft daran fest, dass die Wechselseitigkeit auf der staatlichen Grundlage aufgebaut werde. Man muss sich wundern, dass auch einige Slowaken darauf eingegangen sind, obwohl sie genau fühlen, dass es bei der Pflege der slawischen Wechselseitigkeit um lebendige Organismen, um Nationen gehen muss, die auch die Dauer von Staaten überleben.⁶

Der Anwendung des Konzepts der slawischen Wechselseitigkeit bei Sidor liegt eine organische Metaphorik zugrunde. Die Nation als ein lebendiger Volkskörper verstanden wird dem als tot aufgefassten, konstruierten Gebilde eines Staates entgegengesetzt. Somit adaptiert Sidor die Idee der Wechselseitigkeit für einen biologisch attribuierten Nationalismus. Zugleich wurde so die Vorstellung von „Nation“ als Gegensatz zum Begriff des „Staates“ etabliert. Unter den aktuellen Entwicklungen der internationalen Lage geriet das Konzept des Slawentums immer mehr unter Legitimations- und Anpassungsdruck. Insbesondere wurde es durch den sowjetisch-tschechoslowakischen Beistandsvertrag von 1935 herausgefordert. Die Haltung der Nationalisten war diesem gegenüber eindeutig ablehnend. Das Konzept des Slawentums wollten sie auf keinen Fall auf die Sowjetunion anwenden, unter anderem weil der sowjetische Staat nicht den „Prinzipien der europäischen Zivilisation“ entsprochen habe. Die Repräsentanten der Sowjetunion seien mit Stalin, dem Georgier, und Litvinov, einem Juden, keine Russen. Eine kulturelle Zusammenarbeit sei von daher undenkbar. Im Nástup heißt es wörtlich: „Das sowjetische Regime dient den Interessen einer heterogenen internationalen Gesellschaft, die nichts gemein hat mit dem slawischen Gedanken. Deshalb müssen wir uns als Christen und auch als Slowaken gegen solche Annäherung stellen.“⁷ Der Ausdruck „Gesellschaft“ [spoločnosť] würde im

6 Karol Sidor: Slovanská vzájomnosť [Slawische Wechselseitigkeit], in: Slovák, 12, 100, 3.5.1930, S. 1 [Spoločným znakom tejto skupiny je, že národy v nej sdružené sú trestané nedôverou, sú podceňované a nie sú pripúšťané k spoluzodpovednosti za osud svojho štatu. (. . . ) Sám základ – zložený z prvkov imperializmu a nadvlády silnejšieho slovanského národa – je tu pomýlený. (. . . ) Panujúce národy, menovite Česi a Srbi, kŕčovite sa pridŕžajú toho, aby sa vzájomnosť budovala na podklade štátnom. Diviť sa treba, že i niektorí Slováci vošli do toho, hoci dobre cítia, že pri pestovaní slovanskej vzájomnosti musí isť o živí organizmy, o národy, ktoré prežívaju i trvanie štátov.] 7 ža.: S kým sa to sbližujeme [Wem wir uns eigentlich annähern], in: Nástup, 3, 12, 15.6.1935, S. 134–136. [Sovietský režim slúži záujmom rôznorodej medzinárodnej spoločnosti, ktorá nemá s myšlienkou slovanskou nič spoločného. Teda musíme sa postaviť proti tomuto sbližovaniu i ako kresťania, i ako Slováci.]

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Deutschen gängigerweise als „Gemeinschaft“ übersetzt. Im Slowakischen ist der verwendete Begriff aber in erster Linie als „Gesellschaft“ in einem konkreteren juristischen Sinne, aber auch im soziologischen Verständnis zu übersetzen. Es ist zwar grundsätzlich ebenso möglich, ihn als „Gemeinschaft“ zu übersetzen, doch würde in diesem Zusammenhang eher der Begriff „spoločenstvo“ [Gemeinschaft] verwendet, der den inneren Zusammenhang, die Gleichartigkeit betont und auch eine pathetische Bedeutung annehmen kann. Dem Begriff „spoločnosť“ [Gesellschaft] eignet demgegenüber die Bedeutung einer Aggregation von Entitäten. Der Autor des Artikels hat den Begriff „Gesellschaft“ bevorzugt, der in der Kombination mit „international“ als kommunistisch und jüdisch zu assoziieren ist. Diese Interpretation verstärkt noch die Verwendung des Attributs „rôznorodý“, das buchstäblich „ungleichartig“ heißt, und dessen Kern das Wort „rod“ als Bezeichnung für die Abstammung, das Geschlecht oder den Ursprung bildet. Das Slawentum wird somit im Gegensatz als eine „Gemeinschaft“ von gleichartigen Völkern impliziert. Das ideologische Erbe des 19. Jahrhunderts bestand für slowakische Nationalisten darin, dass eine wesentliche Bedeutungsebene des nationalen Attributs „slowakisch“ die Idee des „Slawischen“ ausmachte. Doch die praktische Aneignung des Konzepts war unter den aktuellen Bedingungen zum Scheitern verurteilt. Es blieb Rhetorik. Eine Ausnahme stellte die Anwendung in Form des polnischslowakischen Verhältnisses dar. Die philologische Idee aus der Zeit der nationalen Erweckung vom 18. und 19. Jahrhundert ließ sich bis zu einem gewissen Grad unter den aktuellen politischen, insbesondere zwischenstaatlichen, Verhältnissen in der Ersten Republik, auf die nationalistischen Vorhaben ummünzen. Generell diente die Beschäftigung mit den Kulturen anderer slawischer Nationen in der Anfangszeit der Republik dazu, der zu bildenden slowakischen Nation ein eigenes kulturelles Profil zu geben, indem sprach- und literaturhistorische Versatzstücke helfen sollten, eine slowakische Vergangenheit als Grundlage für die aktuelle Slowakizität zu (re-)konstruieren. Das Konzept der slawischen Wechselseitigkeit wurde indes im polnisch-slowakischen Fall so abgewandelt, dass es die Differenz und Eigenständigkeit gegenüber der tschechischen Kultur bzw. letztlich dem tschechoslowakischen Zentralstaat markierte.

Slawischer Unionismus Die Idee der slawischen Wechselseitigkeit war auch der katholischen Kirche ein dienliches Konzept. Denn wie sie selber universal und zugleich national organisiert war, überwölbte die Idee der Wechselseitigkeit wie ein gemeinschaftliches Dach verschiedene Nationen. Abgeleitet von der Idee der Pax Romana fanden

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ab 1929 Kongresse der slawischen katholischen Akademiker statt.⁸ Mit diesen Kongressen wurde eine Ländergruppe auf der Grundlage eines romantisch verstandenen Nationskonzeptes gebildet. Allerdings nahmen dessen ungeachtet fast ausschließlich römisch-katholische „Nationen“ teil; Ukrainer und Bulgaren fehlten. Es war demnach die katholische Kirche, die die Idee des Panslawismus auf einer religiösen Basis rezipierte und abwandelte. Offiziell hieß die Ideologie „Unionismus“, nach Christus‘ Worten „ut omnes unum sint“⁹, die zur Bildung einer christlichen slawischen Einheit führen sollte. Man kann nicht umhin, dies auch als eine Maßnahme zu bewerten, die der slawischen Idee unter russischer Führung eine Absage erteilt. Inhaltlich wurden Kyrill und Method als Slawenapostel zur grundlegenden Idee erklärt. Damit sollte auch die orthodoxe Kirche mit ins Boot geholt werden. Für die katholische Kirche in der Slowakei war eine starke nationale Stellung der Slowaken wichtig, weil sie so gegenüber dem starken Säkularisierungsdruck in der Tschechoslowakischen Republik besser Widerstand leisten konnte. Das „Akademische slawische Sekretariat“ war für die Organisation des jeweiligen slawischen katholischen Kongresses zuständig und wechselte entsprechend seinen Sitz. Im Jahr 1931 befand sich das Sekretariat in Bratislava im Wohnheim Svoradov, und es erhielt auch eine eigene Rubrik in der Zeitschrift Rozvoj. Innerhalb dieser Rubrik berichtete der Vorsitzende des Sekretariats aber nicht nur von den Vorbereitungen des Kongresses. Die Repräsentanten waren auch in größeren Zusammenhängen aktiv und wurden zu verschiedenen Veranstaltungen im Ausland als Redner eingeladen, etwa zu einem mehrtägigen Kongress in Lwow anlässlich des Jahrestages der „nationalen Wiedergeburt“ Polens. Der Vorsitzende des slawischen Sekretariats führt in seinem Bericht aus, was das Vorbildliche an der katholischen polnischen Jugend sei: „Die katholische akademische Jugend ist heute die bestorganisierte akademische Jugend, die schöne Erfolge erzielte auf dem Gebiet der Arbeit für den polnischen Katholizismus, für den polnischen Nationalismus und für den polnischen Staat, den sie heiß und ergeben liebt.“¹⁰ In diesem Zitat entwirft der Autor eine Dreifaltigkeit der Gründe, weshalb Polen von den slowakischen katholischen Nationalisten so verehrt wird. Die genannte Reihenfolge vom Katholizismus über den Nationalismus bis hin zum Staat verrät die Priorität des Kirchenvertreters.

8 Dr. J. F.: Ušľachtilý panslavizmus [Geadelter Panslawismus], in: Rozvoj, 10, 1931, S. 3–5. 9 o. N.: III. kongres v Bratislave [III. Kongress in Bratislava], in: Rozvoj,10, 1931, S. 118. 10 Dr. A. Vašek: Z katolíckeho akadem. hnutia v Poľsku [Über die katholische akadem. Bewegung in Polen], in: Rozvoj, 10, 1931, S. 140–142 [Katolícka akademická mládež poľská je dnes najlepšie organizovanou mládežou akademickou, ktorá dosiahla pekných úspechov na poli práce za poľský katolícizmus, za poľský nacionalizmus a za poľský štát, ktorý horúce a oddane miluje.].

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Katholizismus und Nationalismus sind Merkmale, die auch in der Slowakei in den katholisch-nationalistischen Kreisen etabliert waren, lediglich die Form des Staates fehlte. Polen repräsentierte sie wie die Manifestation einer slowakischen Utopie. Die slawischen Katholiken verfolgten in ihrer Zusammenarbeit weltliche und kirchliche Ziele. Der slawisch orientierte Katholizismus wollte ein Gegengewicht zu den „Bedrohungen“ durch den Kapitalismus und den Kommunismus bilden: Wir sind dazu beinah berufen allein schon durch die besondere gesellschaftliche Struktur unserer Nationen, die bewirken, dass materialistische Konzepte einen schwierigeren Zugang zu den überwiegend bäuerlichen Volksmassen haben, unabhängig davon, ob jene nach den Grundsätzen des revolutionären Kommunismus auftreten oder auch des egoistischen Kapitalismus. Der Spiritualismus des Slawen wünscht sich die Verbreitung geistiger Konzepte.¹¹

Der Autor des Beitrags sieht die Zielgruppe des katholischen Slawentums in den ländlichen Schichten, in denen die katholische Kirche auf Gemeindeebene stark verankert war. Insofern wirkten Urbanisierung und Industrialisierung den Interessen der katholischen Kirche diametral entgegen. Abgesehen von der säkularen Stoßrichtung hatte es das katholische Slawentum aber auch auf die Verbreitung der Kirchen abgesehen. Sein Ziel war es, „im Osten das große Werk einer Umkehr zur Einheit der Kirche“ zu vollbringen, was sich auf die Vereinigung mit der orthodoxen und der unitaristischen Kirche bezog. 1939 verlor die Idee des Slawentums abrupt seine Bedeutung. Es gab praktisch keine slawischen Verbündeten mehr in der Nähe. Russland war ohnehin schon als „bolschewistisch“ und „panslawistisch“ aus dem Konzept ausgeschieden. Für die Zeit ab 1939 stieg der Begriff „Panslawist“ zum Schimpfwort ab für ehemals oder vermeintlich immer noch tschechoslowakisch orientierte Personen.¹²

11 o. N.: Hlavné úkoly katolíckej slavianskej spolupráce [Hauptaufgaben der katholischen slawischen Zusammenarbeit], in: Rozvoj, 10, 1931, S. 189 [Sme k tomu akoby povolaní už zo samotnej spoločnej štruktúry našich národov, ktorá spôsobuje, že koncepcie materialistické majú ťažší prístup k prevážne roľníckym masám ľudovým, nezávisle na tom, či vystupujú ony v podstate prevratného komunizmu, či tiež egoistického kapitalizmu. Špiritualizmus Slaviana praje šireniu sa duchovných koncepcií.] 12 Als Ľudovít Novák von der Matica slovenská zur Nachfolgegesellschaft der ehemals tschechoslowakisch orientierten Šafarík-Gelehrtengesellschaft wechselte, weigerten sich Matica-Mitarbeiter mit diesem „Panslavisten“ überhaupt zu verhandeln. Vgl. Hudek 2011, S. 42.

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7.2 Polen: Von der Verwandtschaft zur politischen Nachbarschaft Kultureller Aktivismus und mediale Präsenz als Provokation Anfang der Zwanzigerjahre fanden polnisch-slowakische Veranstaltungen im Namen der „polnisch-slowakischen Wechselseitigkeit“ statt, die konzeptionell an die Idee der „slawischen Wechselseitigkeit“ anknüpften. Im April 1923 etwa wurde auf einem Kongress in Krakau zur „slowakischen Frage“ eine Resolution verabschiedet, in der gefordert wurde, enge kulturelle Beziehungen zu den Slowaken zu unterhalten und die polnische Öffentlichkeit über die slowakische Nation zu informieren. Als Maßnahmen wurden Vorträge angeführt, ein slowakisches Lektorat sollte an der Jagiellonen-Universität in Krakau eingerichtet und durch einen Slowaken besetzt werden. Gefordert wurde auch die Aufnahmebereitschaft der polnischen Hochschulen für slowakische Studenten. Die Aktivitäten zeigen, dass das Konzept der Wechselseitigkeit in der frühen Nachkriegszeit überwiegend kulturell konnotiert war. Die slowakischen Nationalisten knüpften an die Bedeutung der polnischen Literatur für die Entstehung der national-emanzipatorischen Ideen unter Slowaken Mitte des 19. Jahrhunderts an. Die zentrale Figur in den polnisch-slowakischen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit war auf slowakischer Seite Karol Sidor, dessen literarische Gehversuche und die Auseinandersetzung mit den gelehrten nationalen Aktivisten der Vergangenheit ihn zu diesem Engagement veranlassten. Zwar gab es abgesehen vom Kreis um Sidor relativ wenig Rückhalt unter den bedeutenderen Repräsentanten der Slowakischen Volkspartei¹³, doch fand das kulturelle Konzept der slawischen Wechselseitigkeit in abgewandelter Form über die Literatur seinen Eingang in das politische Feld. Als Publizist und zeitweise Chefredakteur des Parteiorgans Slovák plädierte Sidor in seinem ersten Artikel zu diesem Thema für eine slowakisch-polnische Zusammenarbeit.¹⁴ In seinem ersten Erzählungsband „Der Fluch der Ungeborenen“¹⁵ schwärmt er von den polnischen allegorischen Schönheiten der Landschaft. Auch die anderen jungen Redakteure des Slovák schrieben anfänglich über polnisch-

13 Vgl. Deák, Ladislav: Die polnische Politik und die Slowakei in den dreißiger Jahren, in: Peter Heumos (Hg.), Polen und die böhmischen Länder im 19. und 20. Jahrhundert. Politik und Gesellschaft im Vergleich, München 1997, S. 161–188. 14 Vgl. den Abschnitt zu Sidors Polenbezug in Katuninec, Milan: Novinárska a politická činnosť Karola Sidora do roku 1935 [Die journalistische und politische Tätigkeit Karol Sidors bis 1935], Bratislava 1998. 15 Sidor, Karol: Kliatba nenarodených [Fluch der Ungeborenen], Ružomberok 1922, S. 66 ff.

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slowakische Beziehungen. Die polnisch-slowakische Orientierung schwächte sich jedoch ab, als mit Pavol Macháček ein neuer Chefredakteur antrat. Dass Sidor das slowakisch-polnische Verhältnis zunehmend aus politischer Perspektive betrachtete, beweist unter anderem seine Bewunderung für Piłsudskis Staatsstreich von 1926 in Polen. Kurz danach unternahm er eine Polenreise, um sich über die neuen Verhältnisse vor Ort ein Bild zu machen. Er erhielt dafür ausgerechnet ein Stipendium vom Prager Außenministerium. Auf der ersten Seite seines Buches „Auf der Reise durch Polen“, das er im Sommer 1926 verfasste, prangt ein Portrait von Piłsudski. Er hegte Sympathien für Piłsudski, weil dieser die „nationale Zerrüttetheit“ seiner Meinung nach radikal beseitigt hatte. Aus Polen schickte er an den Slovák einen Artikel, in dem er die eingeschränkte parlamentarische Demokratie begrüßte.¹⁶ Kurz nach seiner Rückkehr bereitete Sidor in Absprache mit dem Geschichtsprofessor in Krakau Władysław Semkowicz und dem Dichter und Politiker Feliks Gwiżdż einen Aufenthalt polnischer Schriftsteller in der Slowakei und ein gemeinsames Treffen mit slowakischen Schriftstellern vor. Das für den August 1926 geplante Unternehmen wurde ein Reinfall. Die Slowaken brachten nur mit Müh und Not ein paar Leute zusammen, schließlich versammelten sich zwölf Intellektuelle, darunter Tido Gašpar, Vladimir Roy, Ján Kovalík und Štefan Krčméry.¹⁷ Doch die polnischen Kollegen wurden aus formalen Gründen letztlich nicht über die Grenze gelassen. Sidor hielt aber an seiner Strategie des kulturellen Austauschs fest. Weil Prag sich angeblich zu wenig um die slowakischen Künstler kümmerte, baute Sidor Kontakte zu polnischen Künstlern auf. So kamen im Mai 1927 eine Delegation mit Kulturschaffenden von der Warschauer Schauspielschule, polnischen Professoren und einem Chor nach Bratislava. Gleichzeitig wurde eine Delegation der Slowakischen Künstlergesellschaft in Krakau empfangen, um eine gemeinsame literarischmusikalische Akademie in Krakau und Warschau vorzubereiten, auf der die Slowaken als eigenständige Nation auftreten sollten.¹⁸ Sidor versuchte über die Künstler immer auch Kontakte zu polnischen Politikern herzustellen. Seine Aktivitäten wurden in Polen beachtet, so dass er 1928 vom polnischen Präsidenten mit dem hohen Orden Polonia restituta [Orden der polnischen Wiedergeburt] ausgezeichnet wurde.

16 Slovák, 8, 141, 26.6.1926, S. 4. 17 Karol Sidor: Čakali sme Poliakov v Kráľovanoch [Wir erwarteten die Polen in Kráľovany], in: Slovák, 8, 180, 13.8.1926, S. 2 f.; Slovák, 8, 181, 14.9.1926, S. 2 f. 18 (ý): Poľsko-slovenské priateľstvo. Slovenská výprava do Poľska [Polnisch-slowakische Freundschaft. Slowakische Exkursion nach Polen], in: Národnie noviny, 58, 56, 13.5.1927, S. 2

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Laut Katuninec¹⁹ stärkten die Kontakte zu Polen Sidors nationalistische Überzeugung. Er folgte Piłsudskis Ansicht, dass die demokratische Staatsform in der Krise sei und dass man die gewählte Repräsentation und die Bedeutung des Parlaments den Interessen der Nation unterordnen müsse. Ausgehend von der Idee der slawischen Wechselseitigkeit wurde Polen sein Leitbild für die nationalistische Praxis in der Slowakei. Die polnisch-slowakischen Aktivitäten multiplizierten sich allmählich. Die Slovenská liga etwa organisierte Vorlesungen zum Konzept der slawischen Wechselseitigkeit und lud zum Themenabend Polen unter anderem Karol Sidor als Referenten ein.²⁰ Auch in der Presse hallten solche Ereignisse nach. Die katholische Presse der akademischen Jugend, insbesondere Rozvoj als Organ des Zentralen Verbandes der slowakischen katholischen Jugend veröffentlichte regelmäßig Beiträge zu polnischen Themen. Immer wieder berichteten einzelne Studenten von ihren Aufenthalten in Polen, die sie im Rahmen von Austauschprogrammen des Verbands der slowakischen katholischen Jugend und mit Hilfe von Stipendien des Krakauer Zentrums absolvieren konnten. Die Berichte sind persönlich gehalten, geben aber ihrer Bewunderung etwa der Waffen- und Schlachtenkenntnisse unter polnischen Studierenden Ausdruck. Zudem wird die Religiosität und Kultiviertheit der Polen gelobt. Eindrücke von Stadtbesichtigungen laufen stets auf ein Lob der Leistungen des polnischen Volkes hinaus. Ferner wird das wohlwollende Interesse der Polen an den Slowaken gelobt: In einem Artikel heißt es, die Polen würden in den Slowaken reine Slawen sehen. Mehrmals rief die Zeitschrift auf, Brieffreundschaften zu knüpfen und bot die Vermittlung von polnischen Adressen an. Ein Bericht betraf den Kongress der katholischen Jugend 1928 in Warschau, zu dem auch eine slowakische Delegation reiste. Das einzige Foto zeigt die Slowaken zusammen mit polnischen Regierungsvertretern am Grab des unbekannten Soldaten in Warschau – eine Ehrerbietung gegenüber der polnischen Nation. Schließlich wurden gelegentlich polnische Romane besprochen.

Wende zum Autoritären Zwei Ereignisse setzten die polnisch-slowakische Wechselseitigkeit nach einer stilleren Phase neuerlich auf die politische Agenda. Zum einen starb Piłsudski am 12. Mai 1935, zum anderen schloss die Tschechoslowakei – in Frankreichs Gefolge – am 16. Mai 1935 einen Beistandsvertrag mit der Sowjetunion ab, was die slowakischen Nationalisten als Affront gegenüber dem benachbarten Polen werte19 Katuninec 1998, S. 88. 20 Letz 2000, S. 188 f.

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ten²¹. In der Zeitschrift Nástup erschienen daraufhin zahlreiche Artikel über Polen, insbesondere ein mehrteiliger Reisebericht, in dem die kulturellen Errungenschaften, die Liebe und Opferbereitschaft der Polen für ihre Nation und die Treue zum katholischen Glauben als vorbildlich für die Slowaken dargestellt werden. Auch im kulturellen Feld steigerten sich die Aktivitäten merklich. So erschien 1936 in der Editionsreihe „Bibliothek der Slovenské pohľady“, der Kulturzeitschrift der Matica Slovenska, ein ganzer Band mit Übersetzungen von Gedichten von Mickiewicz, Słowacki, Krasiński bis hin zu Tuwim und Słonimski.²² Die Übersetzungen stammten von Andrej Žarnov, der dem radikalen Kreis der Volkspartei nahestand. Als kulturelle Gemeinsamkeiten mit der polnischen Nation waren die Attribute „slawisch“ und „katholisch“ seit langem etabliert und stellten keine Provokation dar. Nun setzte sich zudem als drittes „autoritär“ durch. Da in den Augen der slowakischen Nationalisten die Kommunisten den ärgsten ideologischen Feind darstellten, konnten sie von diesen nicht die autoritären Konzepte übernehmen. Vielmehr mussten sie sich gerade wegen der Gemeinsamkeiten besonders stark abgrenzen. So wurde die enge Verbindung des slawischen mit dem katholischen Attribut betont, damit sie auf einer symbolischen Ebene als differenzielles Kriterium dienen konnten, etwa zugleich als abgrenzendes Attribut gegenüber den slawischen Tschechen wie auch den slawischen Russen. Im Nástup vom 1.4.1935 hieß es, die andauernden Streitigkeiten mit Polen hätten eher einen tschechisch-polnischen als einen tschechoslowakischen Charakter. Gerade die offizielle tschechoslowakische Berichterstattung von der Machtübernahme Piłsudskis im Jahr 1926 hätte die Nähe zwischen Slowaken und Polen deutlich gemacht. Allerdings ist die Passage, die den Beleg erbringen soll, von der Zensur gelöscht worden. Jedoch ist anzunehmen, dass es sich um eine tschechische Kritik am polnischen Katholizismus gehandelt haben muss, da es bereits vorher im Text heißt, die Tschechen wären zum einen als Hussiten den katholischen Polen gegenüber stets reserviert, zum anderen weil Piłsudski nicht viel vom Parlament hielt. In der Ablehnung demokratischer Insitutionen standen sich Polen und Slowaken demnach auch näher als Tschechen und Polen. Im weiteren wird als „markantester Beweis der polnisch-slowakischen Freundschaft“ angeführt, wie

21 Mit Russland und der Sowjetunion verband Polen eine lange Tradition der Feindschaft, basierend auf der Zeit der polnischen Teilungen bis 1918 und auf dem polnisch-sowjetischen Krieg von 1918 bis 1921. Die polnische Öffentlichkeit war in der Zwischenkriegszeit dem russischen Nachbarn gegenüber äußerst misstrauisch eingestellt, was auch der polnisch-sowjetische Nichtangriffspakt von 1932 nicht milderte. Polen schätzte den östlichen Nachbarn als noch gefährlicher ein als Deutschland und versuchte, diesen außenpolitisch möglichst von Europa zu isolieren. 22 Žarnov, Andrej: U poľských básnikov. Preklady. [Bei den polnischen Dichtern. Übersetzungen], Martin 1936. Ausführlich dazu im Kapitel 8 dieser Arbeit.

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eine polnische Delegation Hlinka zu einem Jubiläum in Ružomberok gratulierte und dabei Grußworte der „gesamten polnischen Jugend“ an die „slowakische Nation“ richtete. „Wir machen und möchten weiterhin eine slawische Politik machen“, habe der Redner Prälat Bilko gesagt, und: „Die Funken dieses slawischen Feuers bringen wir in das alltägliche Leben und lassen das Slawentum aufflammen.“ Der Autor distanziert sich von den tschechischen Antipathien gegenüber den Polen. Die Probleme „betreffen uns nur als Angehörige des Staates, sie betreffen uns jedoch nicht als slawische Nation, der niemand verbieten kann, freundschaftliche Kontakte zu anderen slawischen Nationen zu unterhalten, von solcher politischen Kraft und kulturellen Bedeutung, wie die Polen sind.“²³ Die Unterscheidung zwischen Pflichten von Angehörigen eines Staates und jenen einer Nation verdeutlicht die imaginäre Struktur der „Nation“. Im Subtext wird behauptet, die Nation unterliege nicht der Verfassung, sondern sei ein Raum, der aufgrund moralischer, außerrechtlicher Werte, wie sie freundschaftliche Beziehungen darstellen, eigenen Regeln unterliege. Erst, indem diese imaginäre Ebene ins Spiel kommt, ist die gleichzeitige Vorstellung von staatlichen Pflichten und nationalen Freiheiten möglich. Der Nástup reagierte auf das Abkommen zwischen der Tschechoslowakei und der Sowjetunion mit einem weiteren – bis zur Unlesbarkeit zensierten – Beitrag unter dem Titel „Polen – Slowaken: eine enge Beziehung“²⁴. Darin wird die große räumliche, kulturelle und historische Nähe zu Polen betont. Vom Text ließ die Zensur nur bestehen, was sich auf die kulturelle Sphäre bezog. So werden Mickiewicz und Slowacki (geschrieben auf Slowakisch: Slovacki) als wichtige Quellen für den slowakischen Dichter Hviezdoslav aufgeführt. Die Polen, heißt es, hätten die Slowaken vor allem durch ihre große Kultur und Literatur für sich gewonnen. Und die provokative Frage „Welche Literatur ist dem slowakischen Volk so nah wie die polnische?“, zielt einmal mehr auf die Distanzierung von der tschechischen Seite. In ihren Zeitschriften gedachten die jungen nationalistischen Intellektuellen ausführlich des verstorbenen polnischen Staatsmanns Piłsudski. Auch zu den folgenden Todestagen erschienen huldigende Berichte. Als wesentlicher Grund für die Bewunderung und Verehrung des polnischen Generals wurde immer wieder betont, dass er den Polen zu einer eigenständigen Nation verholfen habe: „Pilsudsky [sic] kehrte den historischen Fehler um, dass Slawen nur unter dem

23 Náš vzťah k Polsku [Unsere Beziehung zu Polen, in: Nástup, 3, 7, 1.4.1935, S. 74 f. [Iskry tejto slovanskej vatry donesieme do všedného zivota a rozplameníme Slovanstvo. (. . . ) . . . to sa nás týka iba ako príslušníkov štátu, netýka sa nás to však ako národa slovanského, ktorému nikto nemôže prekážať v priateľských vzájomných stykoch s iným národom slovanským, takej politickej sily a kultúrného významu, ako sú Poliaci.] 24 –ly: Poliaci – Slováci: úzky vzťah, in: Nástup, 3, 18, 15.9.1935, S. 190.

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Vasallenjoch lebensfähig seien.“²⁵ Er wird stets als ein großer Slawe, nicht nur als Pole, dargestellt. Das Verdikt von den „geschichtslosen Völkern“ hielt slowakische Intellektuelle immer wieder dazu an, den Gegenbeweis der „Lebensfähigkeit“ zu erbringen. Piłsudski wurde nach seinem Tod uneingeschränkt als Befreier der Polen gefeiert. Das Negative seiner autoritären Regierungsweise wurde von den Nationalisten durch die systematische Verunglimpfung der eigenen Demokratie kompensiert. Unter dieser Voraussetzung kommt ein Autor des Nástup zum Schluss: Piłsudski ist ein Demokrat. Das klingt zwar paradox, aber in Wirklichkeit verteidigte er die Demokratie und das ganze polnische Volk vor der Anarchie politischer Räuber, die unter dem Mantel von Parteipolitik, Demokratie und ähnlichen Losungen sammelten und sich auf Kosten des Ganzen bereicherten. Sie nutzten die politischen und demokratischen Freiheiten derart aus – sprach der Marschall –, dass die Demokratie zu einer verhassten Sache geworden war.²⁶

Für die radikalen Nationalisten stellte das polnische Piłsudski-Regime die einzige politische Alternative in der späten Zwischenkriegszeit dar. Das polnische autoritäre Regime bevorzugten sie gegenüber den europäischen Diktaturen des Faschismus, Nationalsozialismus und des sowjetischen Kommunismus. So heißt es etwa 1936 im Nástup: Hätte Pilsudský alle diese weitreichenden Verfassungsreformen durchgeführt in der Art anderer Diktatoren, wäre auch Polen auf den Weg einer autoritären Diktatur geraten: Faschismus, Hitlerismus oder Bolschwismus. Pilsudský wollte kein Diktator sein, war auch keiner und darin bestand seine Größe, er diente der Nation und kannte keinen höheren Begriff als die Nation.²⁷

25 NN.: Spomíname na Jozefa Pilsudského [Wir gedenken Jozef Piłsudskis], in: Nástup, 4, 6, 15.3.1936 [Pilsudský podvrátil historickú faloš, že Slaviani su schopní života len vo vazalskom porobe.] 26 Zomrel najväčší Poliak [Der größte Pole ist gestorben], in: Nástup 3, 11, 1.6.1935, S. 123 f. [Piłsudski je demokrat. Znie to síce paradoxne, ale v skutočnosti on bránil demokraciu a celý poľský ľud pred anarchiou politických lúpežníkov, ktorý pod rúškom straníckej politiky, demokracie a pod. hesiel hrabali a bohatli na úkor ceľku. Zneužívali politické a demokratické slobody takým spôsobom – hovoril maršálek, – žeby sa bola stala demokracia nenávidenou vecou.] 27 N.: Pilsudský a poľské problemy politické [Piłsudski und die polnischen politischen Probleme], in: Nástup, 4, 10, 15.5.1936, S. 95 f. [Keby Pilsudský previedol všetky tieto ďalekosiahle reformy ústavné po spôsobe iných diktátorov, bol by o poľský štát dostal sa na cesty autoritatívnych diktatúr: fašizmu, hitlerizmu, alebo bolševizmu. Pilsudský nechcel byť diktátorom, ním nebol a v tom je jého veľkosť, služil národu, neznal vyššieho pojmu nad národ.]

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Das eigenständige slawische Polen mit der intakten Stellung des Katholizismus und einem starken Führer, der die liberale Demokratie aushebelte, schien den jungen, katholischen Nationalisten das beste Vorbild zu sein. Sidor hielt an seiner polenorientierten politischen Strategie fest. Im Juni 1938, in der Krisenzeit vor dem Münchner Abkommen, gelang es ihm, vom polnischen Außenminister Jozef Beck empfangen zu werden. Das war ein an Prag gerichtetes Zeichen, denn es war außergewöhnlich, dass Sidor lediglich als tschechoslowakischer Parlamentarier und ohne sonstige, den Staat repräsentierende Funktion, wie ein Staatsvertreter angehört wurde. Sidor hatte den Besuch anlässlich der Ankunft einer Delegation von Amerikaslowaken in Danzig organisiert – einer einzigen Drohgebärde gegenüber dem Zentralstaat. Sie brachten das Originaldokument des Pittsburgher Abkommens vom 30. Mai 1918 mit, um es auf den von Sidor und Murgaš organisierten Feierlichkeiten in Bratislava und Hlinka in Ružomberok zu präsentieren. Die Ankunft der Slowaken nutzte Sidor für die slowakische Propaganda in Polen und traf sich auch mit dem slowakophilen Schrifsteller und Senator Gwiżdż, um weitere Aktivitäten zu vereinbaren.²⁸ Unmittelbar nach dem Münchner Abkommen richteten Tiso und Sidor eine Deklaration an die polnische Regierung, in der sie das Ziel der slowakischen Unabhängigkeit bei Gewährung der polnischen Garantie formulierten.²⁹ Allerdings begruben die von Polen erzwungenen slowakischen Gebietsabtretungen vom 1. November 1938³⁰ augenblicklich alle polonophilen Sympathien unter den Volksparteiangehörigen. Selbst der in Polen hoch angesehene Sidor konnte in dieser Situation die polnische Regierung nicht umstimmen. Das polonophile Lager um Sidor wendete sich entschieden gegen Polen, darunter auch Murgaš mit antipolnischen Artikeln im Slovák. Davon aufgeschreckt startete Polen noch einmal eine Charmeoffensive gegenüber den Slowaken mit mehreren Treffen zu Beginn des Jahres 1939. Auch hier war auf slowakischer Seite Sidor führend. Vereinbart wurde unter anderem neben der Wiedererwägung der Grenzfragen und wirtschaftlicher Zusammenarbeit die symbolisch effektvolle Einrichtung eines Polnischlehrstuhls an der Bratislavaer Universität und die Wiedereröffnung jenes an der Krakauer

28 Sidor rechtfertigt die Vorbereitungen der Polenreise als Reaktion auf die polemische Berichterstattung von Seiten der tschechoslowakisch orientierten Presse in einer vierteiligen Artikelserie. Karol Sidor: Pravda o našej ceste do Poľska [Die Wahrheit über unsere Reise nach Polen], in: Slovák, 20, 142–145, 23.–26.6.1938, S. 2. 29 Vgl. Štefániková, Antónia: Poľská otázka v slovenskej spoločnosti v rokoch 1938–1939 [Die slowakische Frage in der slowakischen Gesellschaft in den Jahren 1938–1939], in: Historické štúdie, 38, 1997, S. 59–80; hier S. 63. 30 Es handelte sich um ein relativ kleines, jedoch symbolisch bedeutendes Gebiet von 221 km2 mit 9914 Bewohnern. Vgl. Štefániková 1997, S. 65.

7.2 Polen: Von der Verwandtschaft zur politischen Nachbarschaft |

263

Universität. Doch die slowakisch-polnischen Beziehungen hatten keine Relevanz mehr angesichts der von Deutschland geforderten Gründung des slowakischen Staates und dem germanophilen Kreis in der Volkspartei um Tuka, Mach und Ďurčanský, der nun zum Zuge kam. Sidor als einer der prominentesten Repräsentanten der Volkspartei und als publizistische Stimme des Slovák hatte dafür gesorgt, dass das Thema der polnisch-slowakischen Beziehungen immer wieder neue Nahrung und öffentliche Aufmerksamkeit bekam. Deutlich wurde die Verdichtung dieser Aktivitäten nach 1935 sowie die Überführung des einst kulturellen Konzepts in das politische Feld. Dafür stand auch die Auseinandersetzung nicht mehr nur mit Persönlichkeiten aus der Literaturgeschichte, sondern mit dem zeitgenössischen Politiker Piłsudski in Form der politischen Biografie „Der Sohn des weißen Adlers“, wie sie Sidors Mitstreiter Karol Murgaš verfasste.

„Der Sohn des weißen Adlers“ Mit seiner essayistisch-journalistischen Form des Schreibens machte sich einer der radikalsten Nationalisten einen Namen. Karol Murgaš dokumentierte europäische Ereignisse und Bewegungen mit vorbildhaftem Charakter für die slowakischen Nationalisten. Neben dem italienischen Faschismus und dem Bürgerkrieg in Spanien richtete er seinen Blick nach Polen. Ein beispielhafter Polen-bezogener Text ist seine postume Piłsudski-Biografie Syn bieleho Orla„[Der Sohn des weißen Adlers], Bratislava 1937. Sie erschien im Verlag des Slovák, in der Reihe Knižnica „Slováka“ [Bibliothek des „Slováks“], die Karol Sidor redaktionell betreute. Karol Murgaš war wie Sidor als Journalist für den Slovák tätig und übernahm auch verschiedene Führungsfunktionen ab der Autonomiephase. 1938 gehörte er zu den Gründern der Hlinka-Garden; im slowakischen Staat übernahm er eine Zeitlang die Leitung des Propaganda-Amtes. Er gehörte in der Hlinka-Partei dem radikalen Flügel um Tuka an. Im selben Jahr und in derselben Editionsreihe wie die Piłsudski-Biografie erschien von Murgaš ein Band mit euphorischen Reisereportagen aus dem „Neuen Italien“. Murgaš erzählt im „Sohn des weißen Adlers“ die Helden-Vita eines nationalen Führers unpsychologisch, ohne jede Entwicklung. Alle Ereignisse und Stationen führen geradlinig zur Befreiung des polnischen Volkes. Piłsudskis Lebensweg wird von der „Tragödie der Nation der Polen“ her bestimmt und seine Erfolge mit seinem wehrhaften und unbeirrbaren Charakter erklärt. So ist bereits das Gut seiner Eltern „eine felsige Mauer des polnischen Vaterlandstums gegen alles, was fremd war oder hätte eindringen können“. (S. 3) berichtet. Piłsudskis wird als ein nachdenklicher Einzelgänger dargestellt, der ein feuriges, romantisches

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Herz habe. Während konspirierende polnische Studenten nicht über Chaos und anarchistische Ideen hinauskommen, wird sich Piłsudski, der Medizinstudent, bewusst, dass ein Pole nicht irgendeiner Idee anhängen soll, die nicht dem „großen Ziel der polnischen Befreiung diene“. (S. 18) Der „Arzt der polnischen Seele“, wie er genannt wird, hat nur Verachtung für die polnischen Intellektuellen übrig, die sich dem zaristischen Russland gegenüber opportunistisch verhalten, um in Amt und Würden zu gelangen. Er selber wird von der Universität ausgeschlossen. Nicht zu übersehen ist hier Murgašs Analogiebildung zwischen russisch-polnischem und tschecho-slowakischem Verhältnis. In der sibirischen Verbannung besteht der Held Piłsudski eine schwere Krankheit als eine weitere Prüfung auf dem Weg zur Erfüllung seiner Mission, der Befreiung Polens. Doch sei, so der Wortlaut, schon damals „im Buch der großen Schicksale geschrieben“ worden, dass nicht in Sibirien, sondern in der Stadt des erneuerten slawischen Polens, hoch über Krakau, „sich ein gigantisches Grab erheben werde, vor dem sich zum Gedenken an Marschall Piłsudski jedes echte slawische Herz verbeugen würde“. (S. 26) Weiter wird symbolträchtig beschrieben, wie Stanislav Wyspiansky und Piłsudski zusammentreffen. Es findet gleichsam eine Staffeten-Übergabe vom Dichter an den Politiker statt. Die dichterische Stimme der Nation gibt den intellektuellen Segen zu Piłsudskis kommender Tat, dem Aufbau einer revolutionären Armee. Das Tatra-Gebirge wird neben dem slawischen als weiteres die polnische mit der slowakischen Nation verbindendes Element in den Text eingebracht – die Tatra ist für beide Nationen ein quasi-heiliger Berg. Die dort lebenden Goralen mit ihrer Folklore werden gleichermaßen für die Polen und die Slowaken proklamiert. „Er [der Sommer, Verf.] gebar seine Wunder der Tatra gleichermaßen für die Polen unter dem Giewont wie auch für die Slowaken unter dem Krivaň.“³¹ Pathetisch schildert Murgaš die Vorbereitung des 6. Augusts 1914, als Piłsudski die polnischen Legionen gegen die Armee des Zaren führte. So wie er sich das vorgestellt habe, heißt es, schrieb sich der polnische Soldat in die Geschichte der historischen Nationen durch Heldentum und neues schweres Martyrium ein. (S. 76) Eine letzte und ausführlich beschriebene Etappe ist der polnisch-sowjetische Krieg und das Wunder an der Weichsel, das bei Warschau 1920 die Wende im Krieg gegen die Sowjetunion brachte. Das ist der Moment, an dem Piłsudski dem polnischen Martyrium ein Ende setzen und den sowjetischen Tyrannen bezwingen konnte. Lediglich im Lebenskalender am Ende des Buches geht der Autor auf den Staatsstreich vom 12. Mai 1926 ein. Piłsudski sei durch die Verhältnisse in Polen

31 S. 69 [Rodilo svoje tatranské divy rovnako pre Poliaka pod Giewontom, ako pre Slováka pod Kriváňom.]

7.3 Rezeption von Faschismus und Nationalsozialismus |

265

dazu gezwungen gewesen, heißt es lapidar. An dieser Stelle behandelt Murgaš auch noch die publizistische Tätigkeit Piłsudskis, der ab 1894 die Zeitung Robotnik³² herausgegeben, redaktionell betreut und auch selber gedruckt hatte. Den Makel, dass die Zeitung ein sozialistisches Organ war, bereinigt er, indem er behauptet, Piłsudski sei es stets und vor allem um die nationale Frage gegangen. Als eine gegen den Staat gerichtete Widerstandsaktivität war diese in den Augen eines Autonomisten positiv besetzt. Im Nachwort beschreibt der Autor seine Betroffenheit bei Piłsudskis Begräbnis in Krakau. „Aber in den Seelen vieler von uns Slawen, die wir unter den Arkaden des Denkmals des alten Ruhms Krakaus standen, wuchsen neben den schwarzen Lilien der gemeinsamen Trauer gleichzeitig üppige Blumen slawischen Selbstbewusstseins.“³³ (S.132) Im Zusammenhang mit dem slawischen Selbstbewusstsein stilisiert der Autor Piłsudski als „Slawe-Pole“, obwohl im Buch keinerlei besondere Bemühungen Piłsudskis um die „slawische Gemeinschaft“ erwähnt sind. Das Leben von Piłsudski wird durch die Biografie zu einem Leitbild eines Helden, der zugleich polnischer Nationalist und bewusster Slawe ist. Durch das angebliche Slawentum bekommt die Biografie vorbildhafte Geltung für die Slowaken, die dadurch ebenso doppelt identifiziert werden: als Slowaken und als Slawen. Das Argument der slawischen Wechselseitigkeit, der Katholizismus und das gemeinsame symbolbeladene Tatra-Gebirge erlaubten die Behauptung einer Verwandtschaft zwischen den beiden Nationen, die indessen ohne Rekurs auf die Vergangenheit konstruiert wurde. Vielmehr stand der aktuelle politische Bezug im Vordergrund, was durch die Widmung an Hlinka und die Wahl des Sujets eines Politikers gelang. Andrej Hlinka wurde so als das slowakische Pendant zum polnischen charismatischen Führer ins Bild gesetzt. Der Text diente auch dazu, die angeblichen Vorzüge einer autoritären Regierungsweise in der Slowakei zu verbreiten.

7.3 Rezeption von Faschismus und Nationalsozialismus Vojtech Tuka und Alexander Mach führten die radikalste Gruppe innerhalb von Hlinkas Volkspartei an. Sie versuchten mit Hilfe erst des faschistischen, später auch des nationalsozialistischen Vorbildes, die Politik der Partei zu radikalisieren

32 Die Zeitung „Der Arbeiter“ war das Parteiblatt der Sozialistischen polnischen Partei (PPS), die Piłsudski 1892 mit gründete und deren führender Kopf er in den Neunzigerjahren war. 33 [Ale v dušiach mnohých nás Slovanov, ktorí sme stáli pod arkádami pamiatky starej slávy Krakova vedľa čiernych ľalií spoločného žiaľu vyrastaly súčasne pompézne kvety slovanského sebavedomia.]

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und Wege zu finden, die politische Autonomie durchzusetzen. Allerdings blieb ihr Einfluss stets beschränkt, sie konnten ihre Linie vor 1938 in der Partei nicht auf eine breite Basis stellen, auch wenn die HSĽS auf dem Parteitag von 1936 sich in ihrer von Mach verfassten Resolution explizit zum Faschismus bekannte.

Gewaltbereite Rodobrana: Aneignung fremder Strategien Die Radikalisierung breiter Kreise in der Slowakei hatte bereits vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten stattgefunden und war somit nicht ausschließlich und direkt auf faschistische oder nationalsozialistische Vorbilder zurückzuführen. In den Zwanzigerjahren bildeten die radikaleren Kräfte in der Volkspartei und der weniger einflussreichen Nationalpartei (SNS) paramilitärische Einheiten explizit nach italienischem Vorbild. Die ersten entstanden Ende 1922 und zwar der SNS nahe stehend, in deren Parteiblatt Narodnie noviny auch die ersten Artikel zum Faschismus veröffentlicht wurden. Auch die katholische Jugend unter der Führung von Tuka, der Kontakte mit italienischen Faschisten unterhielt³⁴, bildete eine faschistische Organisation, und zwar 1923 die Einsatztruppe Rodobrana – mit einer gleichnamigen Zeitung. Tuka und Mach leiteten die Organisation ab 1924 gemeinsam, allerdings wurde sie noch im ersten Jahr verboten. Sie bestand personell dennoch relativ kontinuierlich weiter, mit einem anderen Namen oder sie fand Unterschlupf bei anderen katholischen Organisationen wie der Sportund Kulturorganisation Orol, bis sie 1926 wieder legalisiert wurde. Die Anhängerschaft speiste sich vor allem aus dem Kleinbürgertum, wobei die Idee von der katholischen akademischen Jugend verbreitet wurde. Bis zu ihrem endgültigen Verbot brachte die Rodobrana es immerhin auf 25 000 Mitglieder. Schließlich wurde von den Gründern der Hlinka-Garde im Jahre 1938 eine direkte Verbindung zur Rodobrana gezogen.³⁵

34 Tuka unterhielt zeitweise engen Kontakt zu Attila Tamaro, dem Verantwortlichen für die Sektion Donauraum der Fasci italiani all’estero [Italienische Faschisten im Ausland]. Tamaro befürwortete die autonomistischen Forderungen der Slowaken und ersuchte Mussolini um deren Unterstützung durch den italienischen Staat. 1927 bat Tuka Tamaro in einem Brief erfolglos um Unterstützung für einen Putsch. Vgl. Klabjan, Borut: Taliansko a Slovensko vo vojne.Vplyv talianskeho fašizmu na Slovensku pred Druhou svetovou vojnou a počas nej [Italien und die Slowakei im Krieg. Der Einfluss des italienischen Faschismus auf die Slowakei vor und während des Zweiten Weltkriegs], in: Historický časopis, 54, 3, 2006, S. 451–470; hier S. 454 f. 35 Kamenec, Ivan: Demokratický systém a extrémne politické prúdy na Slovensku v medzivojnom období, in: Valerián Bystrický (Hg.), Slovensko v politickom systéme Československa. [Die Slowakei im politischen System der Tschechoslowakei], Bratislava 1992, S. 113–120; hier S. 114 f.

7.3 Rezeption von Faschismus und Nationalsozialismus |

267

Was unter Faschismus in der Slowakei zu einem frühen Zeitpunkt verstanden wurde, veranschaulichen die neu gegründeten Wehrorganisationen. Vojtech Tuka sah in der von ihm gegründeten Rodobrana „eine demokratische Chance, den Staat zu erneuern“.³⁶ Es handelte sich bei diesem Verständnis jedoch nicht um eine umfassende Parteiideologie, sondern vielmehr um die Legitimierung einer Kampfgruppe, die bestimmte Interessen einer oppositionellen Gruppe in der Öffentlichkeit durchsetzen sollte. Bezeichnend dafür ist auch der Gründungsmythos, der sich auf der Frontseite der ersten Ausgabe befindet.³⁷ Die slowakische Sage³⁸ von Soldaten/Rittern, die in einem Schloss am Berg Sitno in der Mittelslowakei gefangenen seien, lieferte das Narrativ. Diese verwunschenen Ritter samt Pferden warteten auf den Moment ihrer Erlösung, wenn sie befreit würden. Das Bild von den Rittern wird auf die Mitglieder der Rodobrana übertragen, die analog auf die Stunde warten, zu der sie für die Nation in den Einsatz treten können. Sie werden geweckt durch die „Schreie des slowakischen Volkes“. Die neuen Ritter – die Rodobranci – seien gerufen, um „das slowakische Volk von den Parasiten, der Geißel der Menschheit, dem schrecklichen Kommunismus, zu befreien.“ Sie sollen eine „weiße, saubere – freie Slowakei“ bewirken. Mit dem christlichen Vokabular von Jesus’ Auferstehung, „Resurrexit“, wird die Sage noch religiös verbrämt. Die zentralen imaginären Topoi des slowakischen Nationalismus, „Auferstehung“ und „Reinigung“, organisieren diese Erzählung.³⁹ Das Gleichnis zwischen Rodobrana und Rittern verweist allerdings auch auf die Nähe zum ungarischen Vorbild. In Ungarn wurde bereits 1921 die vormilitärische Jugendorganisation „Levente egyesületek“ gegründet. Die Levente-Bewegung benutzte das ungarische Staatswappen mit Doppelkreuz auf drei Hügeln. Ebenso verwendete die Rodobrana das slowakische nationale Kossuth-Wappen, allerdings – im Unterschied zum zeitgenössischen ungarischen – ohne Stephanskrone.⁴⁰ Die schwarzen Hemden der Rodobrana und die Abdrucke von Mussolinis Texten verwiesen indes wiederum auf das italienische Vorbild. Es handelte sich bei der Rodobrana keinesfalls um eine Organisation, die an den demokratischen Institutionen teilnehmen wollte, wie etwa die Partei, von 36 Fascismus regenerans, in: Slovák, 11.5.1926, 29.5.1926 (zit. nach Kamenec 2000, S. 94) 37 J. C.: Sitnianski rytieri – Slov. Rodbranci! [Die Ritter vom Sitno – Slow. Rodobranci!], in: Rodobrana, 1, 1, S. 1, 25.7.1926. 38 Zakliate vojsko pod Sitnom [Das verwunschene Heer unter dem Sitno], in: Samuel Czambel, Slovenské ľudové rozpravky [Slowakische Volksmärchen], Bratislava 1959, S. 254 f. 39 Dazu ausführlich im Kapitel zur Literatur in dieser Studie. 40 Vgl. zur Geltung der ungarischen Wappen: Horn, András: Die Wandlungen des ungarischen Staatswappens: politische und ideologische Hintergründe. Ergänzung zu Band 12 der Schriften zur Symbolforschung „Symbole im Dienste der Darstellung von Identität“, Bern 2000, S. 1–12, veröffentlicht unter www.symbolforschung.ch, 22.11.2011.

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deren Angehörigen sie ins Leben gerufen wurde. Ganz im Gegenteil war die Organisation dazu gedacht, die demokratischen Institutionen zu umgehen und deren Gewaltmonopol zu untergraben. Sie trat als reine Einsatztruppe bei Veranstaltungen der HSĽS in Erscheinung. Aus ihrem Programm geht hervor, dass die Rodobrana als nationalistische Bewegung die slowakische Autonomie mit gewaltsamen Mitteln, das heißt mit Hilfe des Faschismus durchsetzen sollte⁴¹. Die Mitglieder der Rodobrana nahmen sich eine „säubernde Tätigkeit mit starker Hand und festem Willen“ vor: „4. Faschismus: Grundsatz des Faschismus ist, die Nation und den Staat auf einer gesunden nationalen Basis und auf religiösem Grund zu erhalten. Nur ein gesunder Nationalismus und eine feste religiöse Moral können die Nation vor einem Umsturz bewahren und den Staat vor der Anarchie. 5. Mittel: Diesen faschistischen Gedanken möchte in der Slowakei die Rodobrana verwirklichen. (. . . ) Der Faschismus, diktiert von den Umständen und Bedürfnissen, gibt die günstigsten Mittel jenen in die Hände, die das Ungesetzliche abwehren wollen.“⁴² Als „Ungesetzliches“ werden hier die verunglimpften Institutionen der parlamentarischen Demokratie verstanden, die repressiv gegen die Autonomisten vorgingen. Als Redakteur der Zeitung Rodobrana zeichnete Peter Prídavok, der sich auch als Herausgeber von slowakischen Märchen und Lesebüchern für den Schulunterricht und als Publizist einen Namen machte. Die Herausgeber und Redakteuren waren sichtlich bemüht, die Rodobrana als eine Organisation nach italienischem Vorbild darzustellen. Sie wollten offenbar dem Vorwurf, die Ungarn zu kopieren oder zu unterstützen, vorbeugen. Das gelang ihnen nicht vollends, denn in der Parlamentssitzung über das Verbot der Organisation warf der slowakische Abgeordnete Ivan Dérer Tuka vor, mit seinem soeben erschienenen und teilweise konfiszierten „Rodobraner Katechismus“ die ungarische Levente-Organisation kopiert zu haben.⁴³ Das italienische Vorbild war durch seine geografische Entfernung gewissermaßen unverfänglich und konnte den Slowaken dazu dienen, die Fähigkeit zu beweisen, eigenständig eine Kampftruppe auf die Beine zu stellen. In Rodobrana wurden Auszüge von Mussolinis Tagebüchern und auch lobende Berichte über

41 Program slovenskej Rodobrany [Das Programm der slowakischen Rodobrana], in: Rodobrana, 1, 1. 25.7.1926, S. 1. 42 [4. Fašizmus: Podstata fašizmu je zachovať národ a štat na zdravých nacionalných zásadach a na naboženskom podklade. Len zdravý nacionalizmus, pevná naboženská morálka vie zachovať národ pred rozvrátom, štat pred anarchiou. 5. Prostriedky: Tuto fašisticku myšlienku chce na Slovensku uskutočniť Rodobrana. (. . . ) Fašizmus, diktovaný okolnostami a potrebami, bude davať tie najvhodnejšie prostriedky do ruk tych, ktori budú nezakonitemu prevádzať.] 43 Rodobrana pred parlamentom [Rodobrana vor dem Parlament], in: Rodobrana, 3, 6–7, Juli– August 1928, S. 1

7.3 Rezeption von Faschismus und Nationalsozialismus |

269

seine Taten in Italien veröffentlicht. In einem Beitrag der ersten Ausgabe vom 25. Juli 1926⁴⁴ werden die Verhältnisse in Italien vor Mussolini mit den aktuellen in der Tschechoslowakei verglichen. Mussolini habe mit der jüdischen Freimaurerei Schluss gemacht, heißt es, und die politische Landschaft von links nach rechts gerückt. Freimaurerei ist ein Vorwurf, der sich unmittelbar auf Masaryk und die Prager classe politique, aber auch auf die ethnisch-heterogene Bratislavaer Oberschicht bezieht. Außerdem habe Mussolini, heißt es, die Stellung der katholischen Religion in der Öffentlichkeit gestärkt. Im Gegensatz dazu gerate der Katholizismus durch den neuen Staat immer mehr unter Druck. Mussolinis Diktatur wird positiv dargestellt und mit dem negativ konnotierten sowjetischen Regime kontrastiert. Denn Lenin habe seine Feinde umgebracht, anstatt sie wie Mussolini für sich zu gewinnen. Insgesamt herrscht ein populistischer, polemischer bis hetzender Ton in der Zeitung. Sie ist grundsätzlich antitschechisch, antisemitisch, antikommunistisch und antidemokratisch ausgerichtet. Gewalt wird als Mittel für die Durchsetzung der eigenen Interessen grundsätzlich befürwortet. Als einer der wichtigsten Autoren gestaltete der junge Journalist Alexander Mach die provokative, radikalnationalistische Praxis des Mediums mit. Auch der Dichter Andrej Žarnov wurde für die Mitarbeit in Rodobrana gewonnen. Er veröffentlichte zwei Gedichte, „Slowakisches Lied“ und „Rodobranecká“⁴⁵ in der Zeitung. Im „Slowakischen Lied“ nennt er die verschiedenen Elemente der Slowakizität – die Donau, Tatra, Vah, das väterliche Erbe, das Land, die Sprache – und ordnet diesen auch die Wehrhaftigkeit der Slowaken zu: „Er stellt sich stets stolz in die Reihe/ unter seinem slowakischen Bataillon“⁴⁶ und weiche nicht zurück. Im Gedicht „Rodobranecká“, das er eigens für die Rodobrana schrieb, ruft Žarnov auf, dem schwarzen Bataillon im Sinne Štúrs und eines vermeintlichen Rechts der Nation beizutreten. Beide Gedichte schlagen somit eine Brücke vom italienischen faschistischen Vorbild zurück zu den vermeintlichen Charaktereigenschaften der Slowaken bzw. zur Geschichte der slowakischen Sprache und nationalen Erweckung. Das gelingt ihnen mittels der poetischen Möglichkeiten, die die Verbindung von verschiedenen nicht unmittelbar zusammenhängenden Elementen erlaubt. Da die Slowaken in ihrer Geschichte auf keine eigenständige Armee zurückblicken konnten, unterstützte Žarnov mit seinen Gedichten die Strategie, die neue Kampftruppe als etwas eigenes Slowakisches auszuweisen.

44 Dr. H: Benito Mussolini, in: Rodobrana, 1, 1, 26.7.1926, S. 3. 45 Rodobrana, 1, 4, 15.8.1926, S. 2, 4. 46 [On vždy v šik si hrdo stane/ pod slovenský prápor svoj.]

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Nationalistische Front oder tschecho-slowakischer Faschismus? Abgesehen von den genuin slowakischen Wehrorganisationen versuchten auch die Tschechoslowakischen Faschisten, in der Slowakei Fuß zu fassen – allerdings als politische Partei.⁴⁷ 1925 hatten sie dort lediglich 500 Mitglieder. Ihr Desinteresse an der slowakischen Frage und ihr kühles Verhältnis zu Italien riefen anfänglich Ablehnung hervor. Mit der Zeit stieg zwar die Mitgliederzahl der slowakischen faschistischen Bewegung an, die als tschechischer Import ihre Anhängerschaft vor allem aus tschechischen Angestellten aus dem Bratislavaer Gebiet rekrutierte. Dennoch wurden aber 1933 alle Hilfseinheiten der nun zusammengeschlossenen tschechischen Narodna obec fašisti [Nationale Gemeinschaft der Faschisten, NOF] in der Slowakei geschlossen. Die NOF behielt aber weiterhin einen lokalen Ableger in der Slowakei. In Tschechien hatte sie unter der dortigen deutschen Minderheit keinen Erfolg und richtete deshalb ihr Augenmerk auf die ungarische Minderheit in der Slowakei, wo die Partei auch tatsächlich zulegen konnte. Im Allgemeinen konkurrierten die NOF und die HSĽS miteinander, obgleich ihre Programme immer ähnlicher wurden. Auch unter der Intelligenz konnte die NOF in der Slowakei nicht punkten, da die rechten Intellektuellen ohnehin unter dem Einfluss der HSĽS standen und dort auch das radikale Spektrum abgedeckt wurde. Nach einem relativen Wahlerfolg von 2 Prozent in der Slowakei bei den Parlamentswahlen von 1935 verlor sie an Bedeutung in der Slowakei. Die Hlinka-Partei hingegen öffnete sich ab 1936 für die Zusammenarbeit mit Faschisten. Doch gab es auch früher schon eine Episode zwischen den slowakischen Radikalen und den Faschisten, als Mach zwischen 1926 und 1928 mit den Tschechen über die Vorbereitung eines faschistischen Putsches in der Republik verhandelte. Der einzige slowakische Schriftsteller, der sich vor 1939 dem Faschismus gegenüber öffentlich wohlwollend äußerte, war Martin Rázus, Vorsitzender und Aushängeschild der nach 1918 überwiegend protestantischen SNS. Am 1. Mai 1926 etwa veröffentlichte er in den Narodnie noviny den Leitartikel mit dem Titel „Fašizmus u nás“ [Faschismus bei uns]. Darin stellt er das an die Slowaken gerichtete Programm der tschechoslowakischen Faschisten vor. Rázus äußert Sympathie für die Faschisten angesichts von Standespolitik, Günstlingswirtschaft und Korruption im Land. Grundsätzlich stellt er sich als Befürworter einer demokratischen Verfassung dar. Er erklärt den Erfolg der tschechischen Faschisten mit der großen Unzufriedenheit mit der elitären Herrschaft der Regierungsparteien und ihrer Günstlinge, einer „Demokratie ohne Demokraten“. Zwischen Kommunisten und Faschisten stellt er die Ähnlichkeit fest, dass beide die soziale Unzufriedenheit der Menschen bearbeiten

47 Kamenec 1992, S. 116 ff.

7.3 Rezeption von Faschismus und Nationalsozialismus |

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und Diktaturen anstreben. Bei den tschechischen Faschisten, die 1926 auch einen slowakischen Ableger gründeten, vermisst er die Vertiefung der slowakischen Frage. Er bemängelt, dass die Faschisten ihr Verhältnis zum slowakischen Nationalismus nicht genügend erklären, das heißt nicht nur in kultureller und sprachlicher Hinsicht, sondern er fordert auch wirtschaftliche Maßnahmen zur Beseitigung der sozialen und wirtschaftlichen Misere in der Slowakei. Grundsätzlich aber, falls er vor die Wahl gestellt würde, entschiede er sich für die Faschisten, da sie auch aus der Idee des Nationalismus hervorgegangen seien. „Der tschechische Faschismus ist eine nationalistische Opposition gegen das andauernde pseudodemokratische glücklose Regime. Das ist uns eine große Genugtuung und Grund für die Hoffnung auf die Zukunft.“⁴⁸ Rázus wohlwollende Auseinandersetzung im Parteiblatt hatte seine Ursache vor allem in seinem ausgeprägten Nationalismus. Darauf deuten auch weitere Beiträge im selben Jahrgang hin. Rázus wie auch weitere Autoren begrüßten eher das oppositionelle Auftreten gegen das Prager politische Zentrum als den Faschismus als solchen. Die Rezeption des tschechischen Faschismus hängt unter den slowakischen Nationalisten von der tschechischen Haltung zur slowakischen Frage ab. Die tschechischen Faschisten thematisierten diese anfänglich kaum. Die Reaktionen waren deshalb auf slowakischer Seite recht verhalten. Auch in der Frage der autoritären Führerschaft, die bei den slowakischen Nationalisten enorm wichtig ist, wird bei den Tschechen, im Gegensatz zu Italien und Polen, ein erheblicher Mangel festgestellt: „Das krampfhafte Suchen nach Autorität sehen wir neuerdings in der neuen politischen Bewegung in der Republik: im Faschismus. Dort ist das zugleich ein Imperativ, denn der Faschismus hat die Diktatur im Programm. Aber dort schauen wir uns umsonst danach um, wo die Faschisten ihre ‹Persönlichkeit› haben.“⁴⁹ Nach Rázus‘ Leitartikel vom 1. Mai zum Faschismus wurden Rázus und seine Parteigänger von tschechoslowakischer Seite heftig angegriffen und als Faschisten bezeichnet. Dagegen verwahrte sich aber die Redaktion ausdrücklich, sie seien den Faschisten nicht auf den Leim gegangen, heißt es in einer Replik vom 30. Mai 1926.⁵⁰ Mit einem Artikel am 11. Juni 1926 wird die Debatte über die Möglichkeit eines tschechoslowakischen Faschismus beendet. Er wird für nicht realisierbar gehalten, 48 Martin Rázus: Fašizmus u nás [Der Faschismus bei uns], in: Národnie noviny, 57, 98, 1.5.1926, S. 1 f. [Český fašizmus je nacionalistickou opozíciou proti doterajšiemu pseudodemokratickému neblahému režimu. To nám je veľkým zadosťučinením i základom nádeje pre budúcnosť.] 49 js: Hľadanie auktorít [Suche nach Autoritäten], in: Národnie noviny, 57, 125, 6.6.1926, S. 1 [Kŕčovité hľadanie auktority vidíme najnovšie v novom politickom pohybe v republike: vo fašizme. Tu je to zrovna imperatívom, lebo fašizmus má diktátorstvo v programe. A tu darmo sa obzeráme, kde majú fašisti svoju „osobnosť“.] 50 o. N.: Fašizmus, in: Národnie noviny, 57, 120, 30.5.1926, S. 2.

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solange die tschechischen Faschisten mit ihrem Nationalismus gegen den slowakischen Nationalismus agieren würden. Das heißt, den tschechischen Faschisten wird vorgeworfen, grundsätzlich auch tschechoslowakisch orientiert zu sein und die Vorherrschaft auch über die slowakischen Faschisten anzustreben: „Auf solche Weise hat der tschecho-slowakische Faschismus übermäßige Hindernisse und Schwierigkeiten vor sich. Und wenn wir das so betrachten, scheint es fast, dass Faschismus in unserer Republik nicht möglich ist.“⁵¹ Der Autor befürchtet geradezu, dass die tschechischen Faschisten, einmal an die Macht gekommen, sich gegen die autonomistische Bewegung in der Slowakei stellen würden. Eher hilflos muteten von daher Versuche tschechischer Faschisten an, einen tschecho-slowakischen Faschismus mit Hilfe des Konzepts der slawischen Wechselseitigkeit zu etablieren.⁵² Mit diesem Artikel wurde ein Schlusspunkt unter diese erste Faschismus-Debatte gesetzt. Für die intellektuellen Autonomisten in der Provinzstadt Martin bildete er keine Option zur Durchsetzung der slowakischen Interessen. Allerdings berichteten die Národnie noviny noch einmal ausführlich über die NOF, als diese im Juni 1927 eine Parteiversammlung in Martin abhielt, die einen ausgeprägt symbolischen Charakter hatte. Sie wurde in Martin selber durchgeführt, und zum Rahmenprogramm gehörte eine Kranzniederlegung bei den Größen der nationalen Geschichte Vajanský, Kuzmaný und Mudroň. Auch ein Repräsentant der Slowakischen Nationalpartei sowie einer der Rodobrana begrüßten die etwa 100 versammelten Anhänger. Die Faschisten selber sprachen sich für die slowakische Autonomie aus und betonten ihre Ansicht, dass es einen tschechoslowakischen Staat, aber zwei Nationen geben würde. In einem Artikel aus diesem Anlass begrüßt Rázus die tschechischen Faschisten als Brüder im nationalistischen Kampf.⁵³ In diesen medialen Diskussionen ging es aus der Distanz betrachtet weniger um die Entscheidung für oder gegen den Faschismus. Vielmehr brachte die öffenliche Debatte das Prager Establishment einmal mehr ins Schwitzen. Denn die Slowaken, insbesondere Rázus als Parlamentarier, wussten genau, wie verhasst die Faschisten den tschechischen Politikern waren. Das Kokettieren mit den Faschisten war somit als willkommene Möglichkeit einer politischen Provokation zu verstehen, die in erster Linie Teil der nationalistischen medialen Praxis war.

51 o. N.: Ťažkosti fašizmu [Die Schwierigkeiten des Faschismus], in: Národnie noviny, 57, 129, 11.6.1926, S. 1. 52 So Otakar Lebloch, Chefredakteur der mährischen faschistischen Zeitung „Moravská orlica“, im Artikel „Slovanstvo a fašizmus“ [Das Slawentum und der Faschismus] in Rodobrana vom 1. August 1926, S. 2. 53 Martin Rázus: Dozrievajú časy [Die Zeit reift], in: Národnie noviny, 58, 76, 3.7.1927, S. 1. Weitere Artikel zu diesem Kongress erschienen am 29.6.1927.

7.3 Rezeption von Faschismus und Nationalsozialismus |

273

Skepsis im Nástup Auch die katholische akademische Jugend setzte sich mit dem Faschismus auseinander. Bald nach dem so erfolgreichen Kongress der jungen Slowaken von 1932 gründete die autonomistische Jugend die Zeitschrift Nástup [Der Aufmarsch]⁵⁴. Nástup repräsentierte die radikalste Variante des slowakischen Nationalismus.⁵⁵ Es bestand eine personelle Kontinuität zwischen der 1929 offziell aufgelösten Organisation Rodobrana, dem Kreis um Nástup und der 1938 gegründeten Hlinka-Garde. Hinter der Zeitschrift Nástup standen Ján und Ferdinand Durčanský. Letzterer war der Führer des radikalen Flügels der HSLS und später kurzzeitig Außenminister des slowakischen Staats. Zur Redaktion gehörten auch der Radikale Karol Murgaš, Redakteur des Slováks, sowie Alexander Mach. Die Zeitschrift wurde während ihres Erscheinens stark zensiert, 1934 durfte sie ein halbes Jahr lang nicht erscheinen. Sie richtete sich vor allem an die akademische katholische Jugend. Entsprechend waren auch die Missstände mit der slowakischen Sprache und Professoren an der Universität ein wiederkehrendes Thema. Die Beiträger des Nástup sprachen sich für bessere Beziehungen mit den rechten diktatorischen Regimen in Mitteleuropa aus. Sie äußerten sich auch regelmäßig antisemitisch: Ihrer Ansicht nach konnten Juden keine Slowaken sein.⁵⁶ Im Gründungsartikel in der ersten Nummer 1933 nennen sie eine demokratische Föderation des Landes als Ziel. Die Idee der Föderation war in der ČSR ein Tabu, weil sie die Staatsform von Grund auf in Frage stellte. Gleich der zweite, zweiteilige Artikel in der ersten Nummer bringt eine ausführliche Auseinandersetzung mit Hitler und dem Nationalsozialismus. Der sprechende Titel lautet „Hitlers nationale Bewegung und die slowakische Aktualität“. Der Autor (spectator) betrachtet den Faschismus als einen neuen Nationalismus. Er stellt weiter fest: „Wir kämpfen im Grunde für dieselben Ziele wie der deutsche Nationalsozialismus: für eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Erneuerung, nur unsere Verhältnisse sind andere.“⁵⁷ Verurteilt werden aus christlicher Sicht jedoch Rassismus und Gewalt. Dem Nationalsozialismus fehle die internationale christliche Linie. Er sei deshalb als ein Feind zu betrachten. Die slowakische Nation müsse sich vor marxistischen Bereicherern ebenso hüten wie vor dem attraktiven 54 Der Name geht vermutlich auf Žarnovs zum geflügelten Wort avancierten Gedichttitel „Nástup otravených“ [Der Aufmarsch der Vergifteten] zurück. Das Gedicht wurde 1929 verboten und erst nach einer parlamentarischen Immunisierung 1930 zur Veröffentlichung zugelassen. Es wurde auch als „Marseillaise des Autonomismus“ bezeichnet, vgl. Kultúra 4, 1932, S. 54–63 55 Felak 1994, S. 125 f. 56 Felak 1994, S. 126. 57 Spectator: Hitlerovo národné hnutie a slovenské aktuality II, in: Nástup, 1, 2, 11.5.1933, S. 16 [Bojujeme v podstate za tie isté méty, ako nemecký národný socializmus: za obrodu politickú, hospodársku a kultúrnu, ale naše pomery sú iné.]

274 | 7 Nation als rhetorische Praxis

und unaufhaltsamen Faschismus. Die einzige demokratische Alternative sei ein christlicher Sozialismus, endet der Artikel. – Rezipierte Rázus den Faschismus, wenn auch zurückhaltend, wurde er im Nastup 1933 vor allem aus einer religiösen Haltung heraus kritisch abgelehnt, obgleich der Artikel aus der Feder der radikalsten jungen Autonomisten stammte.⁵⁸ Die Autoren des Nástup behielten ihre skeptische Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus aus religiösen Gründen bei. Sie nahmen zwar die autoritären Systeme insgesamt positiv auf, da sie die liberalen Demokratien ablösten, „um die Völker vor noch größeren Katastrophen zu bewahren“, wie es in einem Artikel von 1935 heißt. „So begrüßten die Italiener mit Begeisterung Mussolini, die Polen sahen in Piłsudski eine Persönlichkeit, die als einzige im Stande war, sie aus der dauernden politischen Krise herauszuführen, die Deutschen sahen in Hitler den Retter, die Österreicher hielten Dolfus für den Ausweg aus der Sackgasse, in die das sozialistische Wien sie geführt hatte usw.“⁵⁹ Viele scheinbare Lösungen hätten aber noch Schwächen, so dass die Nationen wahrscheinlich gezwungen sein würden, sich umzuorientieren. „So z. B. besteht kein Zweifel, dass HitlerDeutschland gezwungen sein wird, die Absolutheit der Werte, die das Christentum darstellt, anzuerkennen und sich vor ihnen zu verbeugen, besonders, wenn es sich davon überzeugt, dass diese Lehre die sicherste Garantie für die Entwicklung und Größe der deutschen Nation ist.“⁶⁰ Den direkten Faschismusvorwurf aus dem linken politischen Lager wies der Nástup eindeutig von sich. Dass Mussolini und Hitler keine Muster für die Nástupisten sein könnten, begründeten sie damit, dass der slowakische Autonomismus bereits existierte, bevor Mussolini und Hitler aufstiegen. Sie betonen die Einzigartigkeit des slowakischen Autonomismus: „Einem unvoreingenommenen Beobachter muss klar sein, der slowakischen autonomistischen Strömung, die ihre ursprünglichen Wurzeln in der guten Štúrschen und Bernolákschen Tradition hat, einen faschistischen Einfluss oder irgendeinen Zusammenhang mit der faschistischen Ideologie zu unterstellen, ist ein künstlicher und gewaltsamer Versuch, der unter

58 Hier macht sich vermutlich der Einfluss des katholischen Wohnheims Svoradov auf die jungen Akademiker bemerkbar. Vgl. Kapitel 6 zur institutionellen Praxis in dieser Arbeit. 59 F. B.: Je Europa pred búrkou? [Ist Europa vor einem Gewitter?], in: Nástup, 3, 17, 1.9.1935, S. 178 f. [Tak Taliani s nadšením uvítali Musoliniho, Poliaci v Pilsudskom videli osobnosť, ktorá je jedine v stave ich vyviesť z neustálej politickej krízy, Nemci v Hitlerovi hľadali spásu, Rakúšania Dolfusa považovali za východisko zo slepej uličky, kam ich tiahla socialistická Viedeň atď.] 60 [Tak na pr. niet pochybností, že Hitlerovo Nemecko bude nútené uznať a skloniť sa pred absolútnosťou hodnôt, ktoré predstavuje kresťanstvo, najmä, keď sa presvedčí o tom, že učenie toto je najbezpečnejšou zárukou vývoja a veľkosti národa nemeckého.]

7.3 Rezeption von Faschismus und Nationalsozialismus |

275

klugen Leuten einen vorbestimmten Weg zum Untergang hat.“⁶¹ Den Sozialismus und den Kapitalismus lehnen sie kategorisch ab, den Faschismus als angebliches Modell für die eigene Ideologie. „Nicht Sozialismus, und auch nicht Faschismus! Eine christliche Gesellschaftsordnung!“⁶² Diese Auffassung der Nástupisten stand allerdings im Gegensatz zu den faschismusfreundlichen Kulturkatholiken, repräsentiert etwa durch die katholische Kulturzeitschrift Kultúra, die vom Verein hl. Adalbert herausgegeben wurde. Der Chefredakteur Karol Körper war bemerkenswerter Weise Mitglied sowohl der Rodobrana als auch später der Nachfolgeorganisation der Hlinka-Garde.⁶³ In Kultúra erschienen eine Reihe positiver Artikel zum Faschismus. Die wenigen kritischen Beiträge, etwa von Ignác Gašparec im Jahr 1938, bezogen sich auf die Haltung zum Christentum. Er argumentierte zum Beispiel, dass Faschismus und Nationalsozialismus der größte Gegensatz zum christlichen Gedanken der Gleichheit aller vor Gott seien. Beide Bewegungen würden sich friedliebend geben, aber hinter der Fassade ihre eigenen Ziele verfolgen.⁶⁴ Als die Slowakei allerdings unter deutschen und slowakischen nationalsozialistischen Einfluss geriet, enthielt sich die Zeitschrift Kultúra jeder weiteren Kritik am Nationalsozialismus.

Willkommener „Totalismus“ Im Laufe des Jahres 1937 fanden im Nástup wieder vermehrt, und zwar wohlwollender als in den Jahren zuvor, Auseinandersetzungen mit Diktaturen oder auch mit dem italienischen Korporatismus statt. Die jungen Nationalisten traten zunehmend provokant in der Öffentlichkeit auf, indem sie spontan verschiedene Aktionen und Demonstrationen zur Proklamierung des Slowakischen anzettelten. Im Jahr 1937 als der Druck von Seiten Deutschlands auf die Tschechoslowakei immer stärker wurde und die tschechoslowakische Politik und Presse sich deutlich von den nationalsozialistischen und faschistischen Regimen distanzierten, lancierten die slowakischen Autonomisten eine Propaganda-Offensive zugunsten eben jener Regime. Sidor hielt etwa eine Parlamentsrede, in der er die Anwesenden

61 –a–n–: Paľba na ľavej fronte [Trommelfeuer an der linken Front], in: Nástup, 4, 12, 15.6.1936, S. 123 f. [Nepredpojatému pozorovateľovi musí byť jasné, že imputovať slovenskému autonomistickému smeru, ktorý má svoje pôvodné korene v dobrej tradícii štúrovskej a bernolákovskej, vplyv fašistické a akúkoľvek súvislosť s fašistickou ideologiou je snaha umelá a násilna, ktorá medzi umnými ľuďmi má predurčenú cestu k hynutiu.] 62 [Nie socializmus, ani fašizmus! Kresťanské usporiadanie spoločnosti!] 63 Kamenec 2000, S. 94. 64 Katuninec 2003, S. 631, Anm. 15.

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davon überzeugen wollte, dass nicht Deutschland der wahre Feind des Landes sei, sondern die Kommunisten und die kommunistische Internationale, und dass die Außenpolitik entsprechend neu ausgerichtet werden müsse.⁶⁵ In das Mittel der politischen Rede baute er allerdings auch ein wesentliches Element kultureller Rhetorik ein, indem er das Theaterstück „Biele nemoce“ von Karel Čapek als Spiegel des nationalen Lebens der Tschechen in der Gegenwart bezeichnete, da sie am allermeisten die antikommunistischen Tendenzen in der Welt fürchteten. Auch die Publikation des Reportagenbuches über Italien von Karol Murgaš gehört zu der Kampagne, mit der die tschechoslowakische Außenpolitik beeinflusst werden sollte. Der Reisebericht „Das neue Italien“⁶⁶ reiht die wirtschaftlichen und sozialen Leistungen unter Mussolinis Herrschaft auf. Sie werden als Wunder in der Nachkriegsentwicklung dargestellt. Bemerkenswert ist, dass Murgaš die bewunderten Leistungen mit jenen Polens vergleicht: „Ich glaube, nicht zu übertreiben, wenn ich behaupte, dass das Nachkriegseuropa zwei Wunder hat, erschaffen durch den menschlichen Verstand, Ausdauer und Opferbereitschaft. Das erste ist Danzig, der polnische Hafen an der Ostsee. (. . . ) Das zweite Wunder ist Agro-Pontino, wo innerhalb von fünf Jahren 150 000 Hektar Sumpfland in den fruchtbarsten Boden Italiens verwandelt, drei neue Städte und 13 Dörfer mit 3000 Ackerbaubetrieben oder Farmen errichtet wurden.“⁶⁷ Die Leistungen führt Murgaš immer wieder auf die heldenhaften Taten Mussolinis für sein Volk zurück. Auch dieses Werk steht für die politische Öffnung der Radikalen gegenüber autoritären und totalitären Praktiken. Die Reaktionen unmittelbar nach dem Münchner Abkommen erscheinen damit als konsequent. Am 15. November 1938 erschien der Artikel „Wir wollen den Totalismus!“⁶⁸. Darin wird der „Totalismus“ als das „gesündeste System staatlicher Organisation“ bezeichnet. „Wir werden unseren Staat nach den Prinzipien gesunder Staatsregime organisieren, die sich am meisten bewähren, die wir unter dem Begriff fassen: totalitäres Regime.“⁶⁹ Diese Forderung wurde noch während

65 Karol Sidor: Je naším nepriateľom len Nemecko? [Ist unser Feind nur Deutschland?], in: Slovák, 19, 57, 11.3.1937, S. 1. 66 Murgaš, Karol: Nové Taliansko [Das neue Italien], Bratislava 1937. 67 Auszug abgedruckt als „Littoria – Sabaudi – Pontinia. Nové mestá – Noví ľudia“, in: Slovák, 19, 144, 27.6.1937 [Myslím, že nepreháňam, keď tvrdím, že povojnová Europa má dva zázraky, stvorené ľudským umom, vytrvalosťou a obetavosťou. Prvým z nich je Gdyňa, poľský prístav na Baltyku. (. . . ) Druhým zázrakom je Agro-Pontino, kde za päť rokov premenili 150.000 hektarov močarisk na najúrodnejšiu pôdu Talianska, postavili tam tri nové mestá a 13 dedín s 3000 poderami a či farmami.] 68 K.: Chceme totalizmus! [Wir wollen den Totalismus!], in: Nástup, 6, 7, 15.11.1938, S. 62. 69 [My budeme organizovať náš štát dľa princípov zdravých štátných režimov, ktoré sa najlepšie uplatňuju, ktoré shrňujeme pod názvov: totalitný režim.]

7.4 Distanzierung vom Klerikalismus |

277

des Bestehens der föderalisierten Tschecho-Slowakei verfasst. Zumindest die jungen nationalistischen Akademiker um den Nástup fanden so einen eigenen Weg zu totalitären Ideen, die sich ohne weiteres in die ideologischen Entwicklungen einfügten.

7.4 Distanzierung vom Klerikalismus Da die Nationalisten in der Slowakei mit der katholischen Kirche ideell oder institutionell verbunden waren, lassen sich Nationalismus und Katholizismus nicht strikt voneinander getrennt betrachten. Allerdings wurden in der Praxis die jeweiligen charakteristischen Attribute unterschiedlich gewichtet. Alle Nationalisten betrachteten die slowakische Nation als katholisch bzw. christlich. Eine Trennlinie verursachte jedoch der institutionelle Hintergrund der aktiven Nationalisten: Entweder gehörten sie einer katholischen Organisation oder einer Partei bzw. parteinahen Institution an. Diese Unterscheidung färbte auch auf die literarische oder publizistische Produktion der jungen Intellektuellen ab. Eine gewisse Spaltung des politischen Klerus zeichnete sich jedoch bald nach der Wende von 1918 ab. Die Möglichkeit für die slowakischen Nationalisten mit einer eigenen Partei gleichwertig am politischen Leben der parlamentarischen Demokratie teilzunehmen, brachte dem slowakischen Nationalismus einen Modernisierungsschub. Der politische Nationalismus unterschied sich vom überwiegend kulturellen Nationalismus bis 1918 wesentlich durch seinen höheren Institutionalisierungsgrad und die damit verbundene Möglichkeit, Massen zu mobilisieren. Ein Zeichen, um sich vom alten Nationalismus abzugrenzen, setzte Hlinka dementsprechend bereits, als er nicht an eine der nationalen bestehenden Zeitungen, etwa die Národnie noviny oder was noch naheliegender gewesen wäre, die Katolické noviny anknüpfte, sondern mit dem Slovák eine Zeitung gründete, die sich gerade nicht auf den ersten Blick als eine klerikale, dafür aber nationale, volksnahe Plattform präsentierte. Gegenüber den altgedienten katholischen Nationalisten – besonders Juriga und Tomanek – bedeutete dies eine symbolische Entthronung. Zwar war die katholische Prägung der slowakischen Gesellschaft unter den verschiedenen Nationalisten unumstritten. Wie groß die Rolle der katholischen Kirche in der slowakischen Nation sein sollte, verursachte hingegen Differenzen. Die Kirche selber zeigte mehr Interesse, den Katholizismus im Feld der Kultur zu stärken, ihn hingegen in der Politik einzuschränken. Wiederholt kam es in den 30er-Jahren dazu, dass Vertreter der katholischen Kirche in diesem Sinne auf die – renitenten – jungen Nationalisten Einfluss nehmen wollten. Eine Reaktion darauf lautete: „Das [die Einflussnahme der Kirche, Anm. der Verf.] zeigt sich besonders in der organisierten Jugend, wo kirchliche Ämter engstirnig verhindern, dass in diese

278 | 7 Nation als rhetorische Praxis

der Nationalismus hineingetragen wird, damit die ganze Erziehung sich streng an die religiöse Erziehung halte“, schreibt ein Autor im Nástup.⁷⁰ In seiner Erwiderung auf die Angriffe in der katholischen Presse bekennt er sich zu einem politischen Katholizismus bzw. zu politischer Aktivität, die mit katholischen Anliegen vereint werden sollte. Die bisherigen Erfahrungen bezeugten genügend, dass in der Slowakei die Religion nicht von der gesamtnationalen Politik, die von einer Partei repräsentiert wird, abgetrennt werden kann. Der Katholizismus in der Slowakei ist zu sehr mit vielem verbunden dank einer politischen Partei und es scheint uns verfrüht, dass er alleine vorwärtsschreiten könnte, ohne dass er die politische Hilfe bräuchte.⁷¹

Der Katholizismus sei zu stark mit der nationalen Tradition verhängt, so dass man nationales und katholisches Interesse zumindest vorläufig nicht voneinander trennen könnte. In dieser Beziehung würde die Slowakei Polen gleichen. Politik wird im Nástup als katholisch und nationalistisch verstanden. Deshalb heißt es in dem Artikel weiter, die einzige unpolitische katholische Angelegenheit sei das „Mičuráctvo“. Mičura war der Führer der ebenfalls katholischen, aber tschechoslowakischen Volkspartei in der Slowakei. Mičuras Partei – mit ihrem prominenten Parteigänger Gašpar⁷² – war ein beliebtes Angriffsziel der Nástupisten. In einer Polemik, ausgelöst durch die Kritik des Leiters des Vereins hl. Adalbert, darüber wie sehr die Matica slovenská katholische Werte verbreiten solle, positionierte sich Sidor eindeutig auf Seiten der Matica als nationaler Kulturorganisation: Wir aber gingen nach Martin [Rechtschreibreform, 1932, Anm. d. Verf.], die Matica aus den Händen Nichtberufener zu befreien und sie der ganzen Nation zurückzugeben. Das taten wir als nationale Aktivisten [národovci] und nicht als Katholiken. Der Nationalismus braucht die Matica, aber der Katholizismus braucht sie nicht.⁷³

70 –š–: Politika a náboženstvo [Politik und Religion], in: Nástup, 4, 15–16, 15.8.1936, S. 172 f. [Javí sa to najmä v organizovaní mládeže, kde cirkevné úrady úzkostlivo bránia, aby do tejto nebol vnášaný nacionalizmus, aby všetka výchova sa držala prísne náboženskej výchovy.] 71 [Doterajšie skúsenosti presvedčily dostatočne, že na Slovensku nie je možno oddeliť náboženstvo od celonárodnej politiky, predstavovanej jedinou stranou. Katolicizmus na Slovensku je príliš zaviazaný mnohým vďakom strane politickej a zdá sa nám ešte predčasným, aby vedel kráčať samostatne tak, žeby v ničom nepotreboval politickej pomoci.] 72 Tido Gašpar verfasste im Dienst der Tschechoslowakischen Volkspartei Reden für Mičura. 73 Karol Sidor: Delegácia Matice slovenskej [Delegation der Matica slovenská], in: Slovák, 18, 9, 12.1.1936, S. 1 [A my sme šli do Martina vyslobodiť Maticu slovenskú z rúk nepovolaných a vrátiť ju c e l é m u národu. Vykonali sme to a uskutočnili ako národovci a nie ako katolíci. Nacionalizmus potrebuje Maticu a nepotrebuje ju katolicizmus.]

7.5 Kampf um Symbole |

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Das war eine deutliche Aussage von Sidor, weil er der katholischen Kirche damit zu verstehen gab, ihre unberufenen Hände von der Matica zu lassen. Die Grenzen des Klerikalismus für den Nationalismus wurden in den verschiedenen Medien reflektiert. So äußerte sich auch Martin Rázus – als Protestant – in den Národnie noviny über die Rolle des Klerikalismus im Nationalismus: Das Interesse des Klerikalismus ist sicher in erster Linie, die Kirche gegenüber Veränderungen von Seiten der politischen Macht zu verteidigen. (. . . ) Der Klerikalismus macht keine Revolten aus rein nationalistischen Gründen, sondern weiß sich veränderten Verhältnissen stets anzupassen und wird so zum großen, wertvollen Instrument für den Nationalismus der entsprechenden Nation.⁷⁴

Rázus drückt hier seine ambivalente Haltung gegenüber dem Klerikalismus der politischen Katholiken aus. Er befürwortet deren Aktivitäten, weil sie den slowakischen Nationalismus unterstützen, auf der anderen Seite bezweifelt er deren Nutzen, weil sie letztlich durch die Eigeninteressen der katholischen Kirche geleitet würden. Freilich schreibt Rázus auch vor dem Hintergrund der evangelischen Kirche, die sich gegenüber der dominanten katholischen Kirche behaupten muss, aber die Zusammenarbeit gerade über den gemeinsamen Nationalismus suchte.

7.5 Kampf um Symbole Neben verdecktem Antitschechoslowakismus gab es einen offenen, den die Zensurbehörden durch ihre Eingriffe zu unterbinden suchten. In der Zeitschrift Nástup wurde explizit ein politischer Nationalismus mit oft antitschechischer Thematik vertreten. Dessen Ziel war gerade nicht, eine kulturfähige Nation zu erschaffen, sondern die Nation als „politischen Organismus“. Insofern mussten diese Akteure sich auch nicht mit kulturellen Konzepten aus dem 19. Jahrhundert auseinandersetzen, sondern konnten ihren politischen Gegner direkt benennen und angreifen. Das betraf in der Publizistik besonders die symbolische Ebene von gesamtstaatlichen Repräsentationen. In einem Artikel negiert der Autor mit dem Pseudonym Dlhopoľský⁷⁵ ein zentrales Symbol, und zwar den 28. Oktober als Tag der Republikgründung. Der 28. Ok-

74 Martin Rázus: Povaha a význam klerikalizmu [Charakter und Bedeutung des Klerikalismus], in: Národnie noviny, 58, 24, 25.2.1927, S. 1 [Záujmom klerikalizmu je iste v prvom rade brániť cirkev proti rozvratu so (sic) strany politickej moci. (. . . ) Klerikalizmus nerobí revolty z čisto nacionálnych dôvodov, ale v zmenených pomeroch vie sa vždy prispôsobiť a stáva sa veľkým, cenným prostriedkom pre nacionalizmus patričného národa.] 75 Pseudonym eines zu jenem Zeitpunkt bereits verstorbenen Publizisten.

280 | 7 Nation als rhetorische Praxis

tober wird als tschechischer Feiertag bezeichnet, wohingegen der 30. Oktober die entsprechende Bedeutung für die Slowaken habe, so der Grundton. Der Text trägt in riesigen Lettern den Titel „Unser 30. Oktober“.⁷⁶ Der 30. Oktober 1918 ist das Datum der Deklaration von Martin, an dem eine Gruppe von slowakischen Politikern sich im Namen der Slowaken zu einem gemeinsamen Staat mit den Tschechen bekannte. Der Autor schreibt, an diesem Tag habe das slowakische Volk seinen einheitlichen Willen zur Freiheit geäußert, zur Souveränität. Die Separierung der Symbole nach der jeweiligen Nation wird konsequent fortgeführt: „Der 30. Oktober bedeutete für uns die Auferstehung des Pribina-Staates, ganz so wie für das tschechische Volk der 28. Oktober die Auferstehung des alten tschechischen Staates.“ Die Beschäftigung mit der Staatsgründung ist wesentlich für das slowakische Selbstverständnis. Der Juniorpartner der Tschechen zu sein, hatte fast eine traumatische Qualität für die slowakischen Nationalisten. In den folgenden Jahren wurde deshalb die Entstehung des Staates immer wieder interpretierend behandelt. Im Nástup vom 1. November 1935 heißt es dazu: Das slowakische Volk nutzte mit der Hilfe Gottes, dem Verdienst seiner nationalen Ritter und der Anspannung der eigenen Kräfte die historische Wende, und in den kritischen Zeiten des Weltkrieges trug es durch seine Beteiligung an den Legionen, an ausländischen diplomatischen Aktionen und durch seine finanziellen Opfer zu jenem Tag bei. . . (. . . ) Uns Slowaken hat also niemand Fremdes befreit. Deshalb sind wir niemandem zu Liebe, Dankbarkeit oder schließlich sklavischer Untergebenheit verpflichtet. . . ⁷⁷

Die Argumente im Kampf gegen den Tschechoslowakismus auf politischer und auch auf wirtschaftlicher Ebene wurden einem kulturellen Fundus entnommen. Die wirtschaftliche Nationalisierung im Sinne des Zentralstaats wollten die Autonomisten um jeden Preis verhindern und legitimierten dies mit historischen und kulturellen Ansprüchen. Das veranschaulicht eine Parlamentsrede Karol Sidors zum Thema der Verstaatlichung der Donauschifffahrt. Sidor beschwört darin die Burgruine Devín an der Donaumündung der Morava unweit von Bratislava sowie die Donau selber als Orte des kollektiven Gedächtnisses der Slowaken: Die Donau und Devín werden bald Zeugen sein einer neuen Stammes-nationalen Vereinigung der Slowaken, und das auf der Plattform der Autonomie der Slowakischen Provinz. (Beifall

76 Dlhopolský: Náš 30. Október, in: Nástup, 3, 21, 1.11.1935, S. 225 f. 77 Nástup, 3, 21, 1.11.1935, S. 225 f. [Slovenský národ za pomocej Božej, zásluhou svojich národných bohatierov a vypätým vlastných síl využil dejinný obrat a v kritických časoch svetovej vojny svojou účasťou v legiách, v zahraničnej akcii diplomatickej a svojimi obeťami peňažnými prispel ku dňu. . . (. . . ) Nás Slovakov teda nik cudzí neoslobodzoval. Preto nie sme mu zaviazaní nejakou láskou, vďačnosťou, alebo dokonca otrockou oddanosťou. . . ]

7.5 Kampf um Symbole |

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der Abgeordneten der Volkspartei) In dieser Slowakischen Provinz werden die Verwaltung der slowakischen Angelegenheiten und damit auch der Donau die Slowaken in ihren Händen halten, und sie werden am besten wissen, wie die Bedeutung dieser mitteleuropäischen Wasserverbindung zu verstehen ist. Natürlich, meine Partei kann und wird nicht für den vorgelegten Gesetzesvorschlag stimmen!⁷⁸

Aus den vorangehenden Ausführungen wird klar, worum es Sidor eigentlich ging. Slowaken hätten es selbst mit einer Hochseeausbildung nur schwer, jemals eine Anstellung bei der tschechisch dominierten Donauschifffahrt zu bekommen. Als es zu großen Unregelmäßigkeiten im Geschäftsgang kam, griff die Regierung 1929 ein und setzte einen slowakischen Generaldirektor ein. Doch Sidor reklamiert, ein einziger Slowake würde noch nicht genügen. Der Gesetzesvorschlag sei nun lediglich „ein weiterer Versuch, die Slowaken durch das zentralistische Regime zu beherrschen“. Dem slowakischen Anspruch auf die Donauschifffahrt wird das kulturelle Anrecht auf den Fluss als slowakischem Erinnerungsort argumentativ zugrunde gelegt. In seiner Einleitung konstruiert Sidor den historischen Hintergrund für seine politische Argumentation: Die alten Historiker und von den jüngeren unser slowakischer Historiker Anton Aug. Baník halten Devín für ein sehr wichtiges Zentrum der slawischen und slowakischen politischen Konzentration. (. . . ) Das ganze neuzeitliche slowakisch-nationale Leben hat seinen Ursprung in Devín, im Gebiet der Donau, auf ihrem siegreichen Weg durch die ganze Slowakei.⁷⁹

Zusätzlich führt Sidor noch die Geschichte der Schriftkodifikation ins Feld, deren Urheber – wie Bernolák, Hollý oder Štúr – ihre Wirkungsstätten zeitweise in Bratislava, d. h. an der Donau, gehabt hätten. Sidor liefert damit ein Beispiel, wie etwa Forschungsergebnisse tendenziöser Historiker in der politischen Argumentation genutzt wurden und zur öffentlichen Geltung kamen. Gleichzeitig wird

78 Karol Sidor: Slovensko je ústredným iszolátorom protichodných prúdov východu i západu [Die Slowakei ist der zentrale Isolator zwischen gegenläufigen Strömungen aus dem Osten und dem Westen], in: Slovák, 20, 96, 28.4.1938, S. 1; Slovák, 20, 97, 29.4.1938, S. 2 [Dunaj a Devín čoskoro budú musieť byť svedkami nového kmeňovonárodného sjednocovania sa Slovákov a to na platforme autonomie Slovenskej krajiny. (Potlesk poslancov ľudovej strany.) V tejto Slovenskej krajine správu slovenských vecí a teda aj Dunaja budú mať v svojich rukách Slováci a oni najlepšie budú vedieť p o c h o p i ť význam tejto stredoeuropskej vodnej spojky. Prirodzene, moja strana za predložený návrh zákona hlasovať nemôže a nebude!] 79 Slovák, 20, 97, 28.4.1938, S. 1 [Starí historici a z novších náš slovenský historik Anton Aug. Baník pokladajú Devín za veľmi dôležité stredisko slovánskeho a slovenského politického sustredenia. (. . . ) Celý novodobý slovensko-národný život vychádza od Devína, z oblasti Dunaja, na svoju víťaznú cestu celým Slovenskom.]

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deutlich, wie kulturelle Konzepte den politischen Diskurs und die politische Rhetorik strukturierten und wie Homogenisierungsvorstellungen in die verschiedenen Lebensbereiche vordrangen.

7.6 Juden: Feinde im Innern Während der Antitschechoslowakismus der Profilierung gegenüber einem – mehrheitlich – außen lokalisierbaren Feind diente, hatte der Antisemitismus die Funktion, eine innere Bedrohung der slowakischen Nation zu konstruieren. Juden waren aus dieser Perspektive insofern noch gefährlicher als die Tschechen, da sie gerade über kein definierbares Territorium verfügten, sondern sich überall und mitten unter den Slowaken aufhielten. Gerade diese weder territorial noch sprachlich abgrenzbare, angenommene Gruppenzugehörigkeit machte sie geeignet als Projektionsraum für Verschwörungstheorien. In seinem Artikel im zehnten Jahr nach der Republikgründung markiert der evangelische Pfarrer Ján Slávik in den Národnie noviny deutlich die Distanz zwischen slowakischer und jüdischer Bevölkerung. Er verfasste seinen Text wie einen offenen Brief, adressiert „An die Mitbürger jüdischen Glaubens“.⁸⁰ Darin ruft er den Juden in der Slowakei in Erinnerung, dass die Slowaken sie in der Wendezeit vertrieben hätten, weil sie sich mit den Feinden der Slowaken – den roten ungarischen Truppen – verbunden und die Slowaken ausgebeutet hätten. Zudem hätten sie versucht, die slowakischen Intellektuellen umzubringen. Das würden die Slowaken ihnen niemals verzeihen und vergessen. Weiter wirft Slávik den Adressaten vor, auf der Straße unverholen ungarisch zu sprechen, ungarische Zeitungen zu lesen und damit dafür verantwortlich zu sein, dass mehr ungarische Zeitungen als slowakische gelesen würden. Zudem würden sie so den ungarischen Irredentismus unterstützen. Der Autor zählt die gängigen klischierten Vorwürfe gegenüber Juden auf, wie den Bolschewismus zu unterstützen, sich die Slowakei mit finanziellen Mitteln anzueignen und gleichgültig gegenüber den nationalen Anliegen der Slowaken zu sein, so wie sie einst die Ungarn unterstützt hätten. Schließlich appelliert er an ihr Gewissen, sich doch als Slowaken zu bekennen, wenn sie schon auf Kosten der Slowaken lebten und sich bereicherten – das Bild von Parasiten wird unterlegt. Andernfalls würde sich wieder der Hass gegen sie richten. Die Aufforderung, sich als Slowaken zu bekennen, widerspricht anderen Stellen in Zeitungen und in der Literatur, wonach Juden keine Slowaken werden

80 Dr. Ján Slávik: Ku spoluobčanom židovského náboženstva [Zu den Mitbürgern jüdischen Glaubens], in: Národnie noviny, 59, 58, 16.5.1928

7.6 Juden: Feinde im Innern |

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können.⁸¹ Dieser in einem drohenden Ton verfasste Text löst das Paradox zwischen Fremdsein und Assimilation nicht auf. Zum einen konstruiert er die Juden als eine grundsätzlich von den Slowaken verschiedene Gruppe, die der Republik vor allem zu Dank verpflichtet sei – wie Gäste, die eben fremd bleiben. Zum anderen verlangt er kulturelle, das heißt sprachliche Anpassung, um den Slowaken zu ihrer Nation zu verhelfen. Der ganze rhetorische Aufwand wird betrieben, um zu demonstrieren, wie die Juden der Hemmschuh für die slowakische Nation sind. Dieser Tenor zieht sich durch weitere Artikel in den folgenden Jahren. Der Berichterstatter namens „vk“ aus dem ruthenischen Užhorod schreibt etwa über den „jüdisch-magyarischen“ Charakter der slowakischen Städte und das Versagen des „tschechischen und slowakischen Elements“ bei der kulturellen Umgestaltung in der östlichen Region: „(. . . ) die slowakische Expansion gegenüber den nicht-unsrigen Städten müssen wir auf eine festere Grundlage stellen, programmatisch arbeiten, damit wir die Herren nicht nur in den armen Dorfhütten sind, sondern auch die allmächtigen Herrscher über die heute noch von der fremden Rasse okkupierten städtischen Zentren.“⁸² Dieser Antisemitismus speist sich aus einem Nationalismus, der sich kulturell gibt, aber durch ein biologisches Attribut motiviert ist. Die grundsätzliche Andersartigkeit von Juden sieht ein Autor des Nástup in den „antiassimilatorischen Eigenschaften“ begründet. Ein Jude würde immer Angehöriger der jüdischen Nation bleiben, egal welche Sprache er spreche, die Macht nationaler Zugehörigkeit sei bei ihm so groß wie bei keiner anderen Nation. Juden bilden nach dieser Ansicht eine Nation, die sich wesentlich von allen anderen Nationen unterscheidet und somit einen eigenen Typus darstellt. Im Artikel „Einge Worte über Juden“⁸³ werden die gängigen antisemitischen Klischees aufgeführt. Eine Besonderheit stellt die Verbindung mit dem Freimaurertum dar. Diese Verbindung mit dem Freimaurertum erlaubte den Nationalisten, ihre politischen Feinde, die Zentralisten in Prag, ebenfalls antisemitisch zu verun-

81 Eine Ausnahme bildet der Roman „Odlomená haluz“ [Abgebrochener Zweig; Prag 1934] des slowakischen jüdischen Schriftstellers Gejza Vámoš, der gerade die Konvertierung von Juden zum Katholizismus thematisiert. Dabei nimmt er keine Position zugunsten der einen oder anderen Seite ein. Jüdische Bräuche werden als veraltet und unsinnig dargestellt. Die Lebenswelt der katholischen Gemeinschaft mit ihrer Doppelmoral bietet den Konvertiten jedoch auch keine wirkliche Alternative. 82 vk: Viac slovenskosti našim mestám [Mehr Slowakizität in unseren Städten]. In: Národnie noviny, 60, 52, 1.5.1929, S. 1 [(. . . ) musíme doterajšiu slovenskú expanzivitu oproti nenašským mestám ostaviť na pevnejšie základy, pracovať programovite, aby sme boli pánmi nielen v chudobných dedinských chatách, ale všemohúcimi vládcami dnes ešte cudzou rasou okupovaných mestských stredísk.] 83 Niekoľko slov o Židov [Einige Worte über Juden], in: Nástup, 3, 23, 1.12.1935, S. 253

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glimpfen und in das Argumentationsmuster der antislowakischen Verschwörung einzubeziehen. Die Freimaurerlogen hatten in jener Zeit eine umfangreiche Mitgliedschaft vor allem aus dem liberalen Bürgertum; bekannt war etwa, dass auch Masaryk dazuzählte. Im Text heißt es: „Auch die internationale Politik, die Genfer Institution, ist von jüdischen oder von unter deren Einfluss stehenden Freimaurern dirigiert. An den anti-italienischen Sanktionen haben die Juden auch Anteil, mit Hilfe großer und einflussreicher Freimauerlogen.“⁸⁴ Was gerade auch unter den jungen Intellektuellen, die bei den Zeitungen, in der Slowakei arbeiteten, zum Thema wurde, war der angeblich umfassende Einfluss von Juden auf die Presse. Als negative Beispiele dafür wurden im entsprechenden Text allerdings lediglich Besitzer großer Medienunternehmen in anderen europäischen Ländern und der Sowjetunion aufgeführt. Für die nationalistischen Intellektuellen stellten jüdische Journalisten vermeintlich eine unmittelbare Bedrohung dar, bildeten doch die Zeitungen und Zeitschriften einen zentralen Bereich, wo die aufstrebenden Akademiker Anstellungen oder Honorare bekommen bzw. öffentliches Ansehen gewinnen konnten. Antisemitische Texte veröffentlichte im Nástup immer wieder Redakteur Célestin Radványi. Im Kern stand bei ihm stets der Vorwurf der Geldgier und Geschäftemacherei auf Kosten der benachteiligten Slowaken. In seinem Artikel „Das Rätsel des jüdischen Erfolges“ versucht er, den Ursachen des vermeintlich größeren materiellen Erfolgs der Juden auf den Grund zu gehen. Er findet sie in deren rassisch bedingter Andersartigkeit, die für den jüdischen Charakterzug der rücksichtslosen und asozialen Geld- und Habgier verantwortlich gemacht wird. Er mahnt, dass Juden nicht als Träger von Kultur gefeiert werden dürften. Radványi erzählt eine pseudohistorische Geschichte von der Verdrängung des christlichen durch den jüdischen Kaufmann: Anders stellte sich der Jude gegen den christlichen Händler. Er als Fremder kam in eine vollkommen neue, fremde Welt als ein Überflüssiger, nach dem sich niemand sehnte und den niemand erwartete. Er als Ankömmling war mit den Eingeborenen nicht durch Blut verbunden, nicht durch gemeinsame Geschichte, befestigte Wege der nationalen Zusammengehörigkeit, nicht durch religiöse und soziale Ansichten.⁸⁵

84 [Tiež i medzinárodná politika, ženevská inštitúcia, je židovskými, alebo pod ich vplyvom stojacimi slobodomurármi dirigovaná. Na protitalianských sankciách Židia majú tiež podiel, prostredníctvom veľkých a vplyvných slobodmurárskych loží.] 85 Cé: Záhada židovského úspechu [Das Rätsel des jüdischen Erfolgs], in: Nástup, 5, 3, 1.2.1937, S. 28 f. [Ináč sa postavil žid proti týmto kresťanským obchodníkom. On ako cudzinec prišiel do celkom nového, cudzieho sveta ako prebytočný, po ktorom nikto netúžil a nikto ho nečakal. On ako príšelec s domorodcami nebol krvou viazaný, spoločnými dejinami, pevnými pútami národnej spolupatričnosti, náboženskými a sociálnymi názormi spojený.]

7.6 Juden: Feinde im Innern |

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Diese Fremdheit und absolute Andersartigkeit habe ihn gegenüber der angetroffenen Bevölkerung gleichgültig gemacht, was ihm als Händler einen Vorteil verschaffte und womit er seine übermäßige Geldgier stillen konnte. Dieser explizit rassistische Antisemitismus beruht auf dem Wandel in der Attribuierung der Kategorie des Nationalen. Das Attribut der Kultur wurde durch die Rasse ergänzt und somit das Verständnis von „Nation“ biologistisch ausgeweitet. Juden stellen in dieser Betrachtungsweise einen Fremdkörper unter den „kulturvollen“ europäischen Nationen dar, die unter dem Begriff „christlich“ unausgesprochen der anderen „semitischen“ Welt gegenübergestellt sind.⁸⁶ Überraschenderweise wurde ein weiterer antisemitischer Artikel stark zensiert, was bei den Texten über Juden sonst nicht üblich war. Den Zensurbehörden fielen in der Regel abschätzige Bemerkungen zur Demokratie und den Vertretern des Staates zum Opfer. Der Artikel vom 15. Februar 1937 wollte die erste, kompilatorische Übersetzung von Hitlers „Mein Kampf“ ins Tschechische aus dem selben Jahr vorstellen, und zwar dessen thematische Behandlung von Juden. Es ist davon auszugehen, dass die sonst massiv gegen staatskritische Äußerungen von Nationalisten vorgehende Zensurbehörde damit vor allem auf die von Hitler ausgehende Bedrohung für die Tschechoslowakei reagierte. Ebenfalls im Jahr 1937 trug Karol Sidor im Prager Parlament den Vorschlag vor, die Juden der Slowakei außerhalb des Landes zu kolonisieren. Damit sollten vor allem die Beschäftigungsprobleme in der Slowakei gelöst werden, das heißt Stellen für den akademischen Nachwuchs freigemacht werden.⁸⁷ Aus diesem Einblick in die antisemitische Rhetorik wird deutlich, dass die Lokalisierung des inneren nationalen Feindes bis hin zur Konsequenz seiner territorialen Entfernung, ein Element der nationalistischen Säuberungsvorstellungen war, an deren Schluss eine reine, homogene Gesellschaft aus Slowaken stehen sollte. Diese Ansichten waren in den nationalistischen Kreisen bereits vor der Gründung des slowakischen Staates etabliert und wurden von ihnen in die Öffentlichkeit getragen.

86 Diese Deutung beruht auf der von Holz festgestellten Ambivalenz der Judenkonstruktionen als ein- und ausgeschlossener Dritter, wonach der Jude zwar die Voraussetzung einer binär vorgestellten Welt von Nationen ist, gleichzeitig aber nicht zu einer nationalen Identifizierung fähig ist und somit einer andersartigen, dritten Kategorie angehörte. Dazu auch in den Kapiteln 2 und 8 dieser Arbeit; vgl. Holz, Klaus: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001, S. 543. 87 Medzihorský, Št.: Schvaľujeme [Wir sind dafür], in: Nástup, 5, 8, 15.4.1937, S. 86.

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7.7 Eine gesäuberte Kultur Im Feld der Kultur wurde bis zum Ende der Republik fortwährend den Tschechen für alle Probleme die Schuld zugewiesen. In einem längeren Artikel des Nástup wurden tschechische Lehrkräfte dafür verantwortlich gemacht, dass die slowakischen Schüler und Studenten zu wenig nationalbewusst seien. Dabei waren 1937 Tschechen längst nicht mehr dominant im Schuldienst.⁸⁸ Der Vorwurf lautete, die Tschechen würden versuchen, „erst Tschechoslowaken, später Tschechen aus den slowakischen Schülern zu machen“.⁸⁹ Die so genannte „tschechische Frage“ behielt ihre Sprengkraft und ihr Mobilisierungspotenzial bei. Von größerer Bedeutung als die zahlenmäßige Beseitigung der tschechischen Lehrer ist dabei das ideologische Konzept der reinen slowakischen Kultur bzw. die implizite Aufforderung zur Reinigung und Reinhaltung, die diesem Artikel zugrundeliegt. Analog ist ein weiterer Artikel in derselben Ausgabe über den im Slowakischen Nationaltheater vorherrschenden tschechischen Geist zu verstehen. Bereits mit dem Erlangen des autonomen Status setzte eine Diskussion über die Ausrichtung der Kultur ein. Dabei ging es vor allem darum, nun eine wirklich eigene Kultur zu schaffen. Die alten Verhältnisse wurden verurteilt: Wir lebten über viele Jahre in einem schrecklichen ideellen Chaos, das uns das lebendige Quellwasser trüben sollte und das uns in solchem Wirrwarr vor allem anekeln, vergiften und uns so vom fleißigen Sammeln der Werte abhalten wollte, die wir verpflichtet sind als Menschen, Christen und Slowaken zu erbringen.⁹⁰

Die neue Situation ermögliche den Weg zur Erlösung. Auf dem Gebiet der Kultur müsse man nun zu sich selbst und zum eigenen zurückkehren: „Unsere Tradition von allen unorganischen Elementen und Beimischungen reinigen und sie in solchem Licht und Streben zeigen, in welchem sie Generationen vor uns geschaffen haben.“⁹¹ Die Studierenden müssten nun nicht mehr länger politisieren und könnten sich stattdessen ganz ihren Studien widmen. Die erlangte Autonomie wird als

88 1930 gab es ca. 2400 Tschechen im Schuldienst gegenüber rund 7100 Slowaken. Vgl. Kapitel 4 dieser Studie. 89 J. S.: Vzťah študenta k národu a jeho kultúre [Die Beziehung des Studenten zur Nation und ihrer Kultur], in: Nástup, 5, 9, 1.5.1937, S. 94–96. 90 O svojskú kultúru [Über die eigene Kultur], in: Nástup, 6, 7, 15.11.1938 (vordere Umschlaginnenseite) [Žili sme po viac rokov v strašnom ideovom chaose, ktorý nám mal zakaľovať pramene vody živej a ktorý nás chcel v takomto virvare predovšetkým znechutiť, otráviť a tak odviesť od usilivného sbierania hodnôt, ktoré sme povinní prinášať ako ľudia, kresťania i Slováci.] 91 [Očistiť našu tradíciu od všetkých neživotných prvkov a primiešaním a ukázať ju v takom svetle a úsilí, v akých ju budovaly generácie pred nami.]

7.7 Eine gesäuberte Kultur |

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eine Etappe auf dem Weg zur eigenständigen Nation verstanden, der man nun einen großen Schritt näher gekommen sei. Für die Intellektuellen hatten sich die Voraussetzungen verbessert, Kultur und Nation zu verschmelzen. Die Arbeit der Intellektuellen bestand nun in der Reinigung der Kultur – verstanden als Organismus – von Spuren etwaiger Wechselwirkungen. Diese Reinigung richtete sich in jenem historischen Moment naheliegenderweise erst einmal gegen alles Tschechische bzw. Tschechoslowakische. Zur Formierung des Regimes des slowakischen Staates gehörte bald einmal auch, dass die Ideologen, etwa Štefan Polakovič, sich zu ästhetischen und inhaltlichen Fragen des Kulturschaffens äußerten. Vojtech Tuka hatte bereits in der Zwischenkriegszeit gelegentlich zu Fragen der Kultur Stellung genommen. Zum Beispiel schlug er den jungen Schriftstellern vor, im Stil des Monumentalismus⁹² über die slowakische Vergangenheit mit ihren Burgen und über die Landschaft zu schreiben. Doch sein Vorschlag fand, außer bei Martin Rázus, kein Echo. Er war viel zu weit weg von den tatsächlichen Interessen und ästhetischen Fragen, die die Schreibenden in der Zwischenkriegszeit bewegten. Am ehesten ließen sich einige der Ideen, die Tuka formulierte, noch in der historischen Abenteuerliteratur umgesetzt finden. Ab 1938 gewann die Rede vom „neuen Menschen“ an publizistischer Attraktivität. Die Idee vom „neuen Menschen“ basierte auf christlich-religiösen Erneuerungsvorstellungen, wie sie sich im Neuen Testament finden. Dort heißt es in Paulus‘ Brief an die Epheser: „Legt den alten Menschen ab, der in Verblendung und Begierde zugrunde geht, ändert euer früheres Leben und erneuert euren Geist und Sinn! Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.“ (Eph 4,22–24) Polakovič stellte sich einen neuen Slowaken vor, der Sinn für kollektive Ehre, Pflicht und Verantwortung hätte, der nach christlichen Grundsätzen leben würde und eine strenge Disziplin einhielte.⁹³ Die Kultur sollte nicht mehr ihre eigenen Themen finden und die Gegenwart auf ihre Weise kommentieren, sondern sich darauf ausrichten, die Kategorie des Nationalen mit ihren wichtigsten Attributen „slowakisch“ und „christlich“ den Menschen einzupflanzen, so dass diese wiederum aus innerer Überzeugung handeln würden. In diesem Sinne äußerte sich in der Folge auch der Literatur-Kritiker Šmalov im Gardista: „Es ist nötig, dass unsere slowakische Kultur die Menschen erzieht, dass sie den Menschen dient, und nicht irgendwelchen amtlichen Statistiken, die für

92 Dr. Vojtech Tuka: Monumentalizmus, in: Vatra, 4, 8–10, 1922, S. 170 f. 93 Kamenec, Ivan: Politický systém a režim slovenského štátu v rokoch 1939–1945 [Das politische System und Regime des slowakischen Staates in den Jahren 1939–1945], in: ders., Hľadanie a blúdenie v dejinách, Bratislava 2000, S. 63–73; hier S. 71.

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die ausländische Propaganda bestimmt sind!“⁹⁴ Kultur soll demnach nicht im Sinne einer bürgerlichen Produktion von Kunstwerken verstanden werden, sondern eine nach innen gerichtete erzieherische Funktion übernehmen, deren Ziel die Schaffung des „idealen Slowaken“ ist, der „Charakter hat“ und „Christ“ ist. Die Säuberung der kulturellen Sphäre betraf auch das jüdische Personal, etwa am Nationaltheater. Der Nástup fordert am 1.1.1939⁹⁵ die Entfernung eines jüdischen Sängers, der angeblich schlecht spiele und singe. Zudem wurde einmal mehr verlangt, Aufführungen nur noch in slowakischer Sprache vorzubereiten. Das Konzept der Reinigung bzw. Säuberung tauchte ganz und gar nicht unvermittelt in der neuen politischen Situation auf. Nationalistische Vordenker rezipierten mit der „Reinigung“ eine christliche Idee und wandten sie auf die Gestaltung der Nation an. Ein Vertreter dieser Idee war Jožo Cieker, der über den Charakter des slowakischen Nationalismus zur Zeit Štúrs promoviert hatte und als Slowakisch-Dozent an der Universität in Dijon arbeitete. Cieker war ein engagierter Svoradovčan⁹⁶ und Funktionär im Zentralverband der slowakischen katholischen Jugend. Er verfasste Beiträge für verschiedene Zeitschriften; für Rozvoj berichtete er etwa aus Frankreich. Eine „neue Slowakei“ brauchte seiner Ansicht nach eine neue Generation. Er kritisierte die Zustände in der slowakischen Politik, wo Opferbereitschaft und Selbstlosigkeit fehlten: „. . . in der Politik müssen ideale, opferbereite und von christlichen Ideen durchdrungene Führer sein. Die Führer müssen die reinsten Charaktere haben“, hofft er und „dass in der Slowakei baldmöglichst eine Säuberung durchgeführt werde, die Leute auswechselt, die aus persönlichen Gründen die Politik verschmutzt haben.“⁹⁷ Die Reinigung soll die angestrebte Nation zum Ziel haben. Begleitet wird seine Vorstellung von der „reinen Nation“ metaphorisch vom ländlichen Bild. Cieker stammte selber aus einem „stillen Dörfchen“ und nahm den typischen Bildungsweg über die nächstgelegene Kleinstadt bis nach Bratislava. Seiner Meinung nach wartete noch viel Arbeit auf die slowakischen katholischen Studenten: „(. . . ) mehr als eine Furche müssen sie auf dem väterlichen Feld der Nation umpflügen“. Dies ist ein Beleg mehr dafür, wie der biografische

94 Jožo K. Šmalov: Pár slov o kultúre v národe a v HG [Einige Worte über die Kultur in der Nation und in der HG], in: Gardista, 1, 47, 1939, S. 18 [Len treba, aby naša slovenská kultúra vychovávala ľudí, aby ľuďom slúžila, a nie všelijakým úradným sčítaniam, ktoré sú určené pre zahraničnú propagandu!] 95 SND, in: Nástup, 7, 1, 1.1.1939 (vordere Umschlaginnenseite). 96 Dazu genauer im Kapitel 6 dieser Studie. 97 o. N.: Nádej nového Slovenska [Hoffnung auf eine neue Slowakei], in: Rozvoj, 10, 1938, S. 179 [(. . . ) v politike musia byť ideálni, obetaví a kresťanskými ideami presiaknutí vodcovia. Vodcovia musia byť najčistejšie charaktery (. . . ) že sa čoskoro prevedie na Slovensku očistenie, ktoré vymení ľudí, ktorí z osobných dôvodov špinili politiku.]

7.7 Eine gesäuberte Kultur |

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Hintergrund und die persönlichen Erfahrungen die nationalistischen Aktivitäten im Erwachsenenalter konzeptionell beeinflussten. In der Phase der slowakischen Autonomie ab Herbst 1938 schrieben die Autoren des Nástup bereits von einem „autonomen slowakischen Staat“. Für jene Nationalisten bedeutete die neue staatliche Verfassung, dass sie nun freie Hand für die Slowakisierung der Slowakei bekamen. So schreibt der spätere Innenminister Ferdinand Ďurčanský: „Jetzt geht es um die Umgestaltung des slowakischen Lebens in der Slowakei. Den Kampf für das Recht haben wir geschafft, es wartet auf uns die Arbeit für die Nation.“⁹⁸ Konkret geht es ihm um die Beseitigung der liberalen Elemente, wie sie für die Zwischenkriegszeit charakteristisch waren: In kultureller Hinsicht konnte das neue Leben überhaupt nicht passen, weil die Kultur in den Dienst der politischen Ideologie der nationalen Einheit gestellt war. Gerade damit verfehlte der kulturelle Auftrag sein Ziel, besonders, weil diese Kultur alle Kennzeichen des moralischen und geistigen Liberalismus trug und damit in völligem Widerspruch zu der slowakischen Seele und zu den slowakischen Bedürfnissen stand.⁹⁹

Die Kultur solle vollkommen in den Dienst der Nation gestellt werden, heißt es ferner im Artikel „Kulturelle Orientierung der neuen Slowakei“¹⁰⁰. Der Autor Jozef Ambruš, Stellvertreter des Chefs des Propagandaamtes, möchte die „Gesamtheit der kulturellen Potenziale im Wiedergeburtsprozess der slowakischen Nation vereinen“. Er lehnt aber das Kriterium „nationalistisch“ für die Kunst ab, und bevorzugt demgegenüber das (platonische) Begriffsdreieck „Wahrheit, Gutes, Schönes“. Er ortete einen „experimentellen Destruktivismus“, der die „Adern des gesunden Lebens zerschneiden“ würde. Hingegen befürwortete er die Popularisierung von Kultur, die dann auch nicht höchsten künstlerischen Ansprüchen genügen müsste. Ambruš äußert sich auch noch zur neuen „heimatkundlichen“ Ausrichtung der Wissenschaften, damit die Quellen, aus denen sich die slowakische Kultur gebildet habe, gefunden würden. Dazu müssten alle „falschen“, „fremden Formen“ ausländischer Wissenschaften vermieden werden.

98 Ferdinand Ďurčanský: Na prahu novej epochy [An der Schwelle einer neuen Epoche], in: Nástup, 7, 1, 1.1.1939, S.1 f. [Teraz pôjde o pretvorenie slovenského života na Slovensku. Prekonali sme boj za práva, čaká nás práca za národ.] 99 [V ohľade kultúrnom nový život vyhovovať nijak nemohol, lebo kultúra bola postavená do služieb politickej ideologie národnej jednoty. Tým práve poslanie kultúrne obišlo svoj cieľ najmä preto že kultúra táto mala všetky známky mravného a duševného liberalizmu a tak bola v úplnom rozpore dušou a potrebami slovenskými.] 100 Jozef Ambruš: Kultúrne smernice nového Slovenska [Die kulturelle Ausrichtung der neuen Slowakei], in: Nástup, 7, 1, 1.1.1939, S. 10 f.

290 | 7 Nation als rhetorische Praxis

Das Konzept von „Kultur“ wurde noch stärker mit einem biologischen Nationalismus verknüpft, dem die Vorstellung von der Nation als Organismus zugrunde lag. Jozef Kutnik Šmalov beantwortet in seinem Artikel im Nástup vom 15. Mai 1939 die Frage „Wie muss die slowakische Kultur beschaffen sein?“ Die Kultur ist nach seiner Auffassung nicht mehr vor allem eine Angelegenheit von Büchern, die vor allem geistigen Bedürfnissen dienten. Vielmehr müsste die Kultur ins Leben eingreifen „von der Wiege bis zur Universität“. Das Ideal sei eine „lebendige, gesunde Kultur“, die „nicht nur eine Kultur des Verstandes, sondern vor allem eine Kultur des Lebens, Herzens und der Sitten sei. Die slowakische Kultur muss männliche Charaktere formen.“¹⁰¹ Das Feld der Kultur verliert in dieser Vorstellung vollkommen seine Unabhängigkeit, und wird stattdessen als Instrument aufgefasst für die Umsetzung der organisch attribuierten Kategorie des Nationalen. Diese neue Konzeptualisierung des Begriffs von Kultur hatte zur Folge, dass die Felder von Kultur und Politik, die im liberalen demokratischen Staat weitgehend getrennt waren, fortan vermischt wurden. Die Autonomie des kulturellen Feldes wurde aufgehoben, was die jungen nationalistischen Intellektuellen legitimierte, sich in beiden Sphären zu bewegen. Konkret bedeutete das, dass bei dieser Kulturauffassung politischem Funktionärstum ethisch nichts im Wege stand. Doch standen den neuen Theorien praktische Hindernisse im Wege, etwa der Individualismus von Intellektuellen, der verhinderte, dass diese sich ohne weiteres in die Funktionen und Strukturen des neuen Systems einbinden ließen. Das brachte ein Autor im Nástup zum Ausdruck, indem er forderte, die Intellektuellen, wenn nötig, umzuerziehen, damit sie dann auf dem Lande die neue Ordnung der Landbevölkerung beibringen könnten.¹⁰² Auf die Frage, welche Rolle der Nationalismus als solcher nach Gründung des Nationalstaates spielen solle, lautete die Antwort, er müsse nun der Formung des neuen, „slowakischen Menschen“¹⁰³ dienen. Das heißt, ihm wurde eine kulturellnormative Aufgabe zugewiesen. Das bis dahin stets hypothetisch vorausgesetzte nationale Kollektiv sollte nun realisiert werden. Die Menschen waren nach dieser Auffassung nicht aggregierte Individuen, sondern erhielten ihre Bestimmung aus den Vorgaben des nationalen Kollektivs. Sie hätten keine eigenständige Existenz, sondern erlangten diese erst im zusammengesetzten Volkskörper.

101 Jožo K. Šmalov: Aká musí byť slovenská kultúra? [Wie muss die slowakische Kultur beschaffen sein?], in: Nástup, 7, 10, 15.5.1939, S. 126 f. [Nielen kultúra rozumu, ale nadovšetko kultúra života, srdca, mravov. Slovenská kultúra musí tvoriť mužné charaktery.] 102 Jozef Paučo: Nové cesty inteligencie [Neue Wege der Intelligentsia], in: Nástup, 7, 23, 1.12.1939, S. 280. 103 Dr. Jozef Ambruš: Slovenský nacionalizmus včera a dnes [Der slowakische Nationalismus gestern und heute], in: Nástup, 8, 13, 15.1. 1940, S. 13 f.

7.7 Eine gesäuberte Kultur |

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Fazit Der kursorische Blick auf die rhetorische Praxis im Dienste der „Nation“ zeigt, dass es in der Zwischenkriegszeit und im neuen slowakischen Staat eine gewisse Konjunktur von Themen gab. Das historische Thema der slawischen Wechselseitigkeit wurde von den radikal-nationalistischen wie auch kirchlich-nationalistischen Kreisen adaptiert und nach den jeweiligen Interessen abgewandelt. Ein politisch provokatives Thema stellten kulturelle Kontakte zu Polen dar. Eine affirmative Rezeption von Faschismus und Nationalsozialismus blieb bis zum Münchner Abkommen eher die Ausnahme und war zudem im Kontext der anti-tschechoslowakischen Rhetorik zu deuten. Als die radikalen Kreise der Nationalisten ihre Position stärken konnten, wiesen sie zunehmend die kirchlichen Institutionen verbal in ihre Schranken, womit sie die Gräben zwischen den diversen nationalistischen Interessengruppen vertieften. Auf der symbolisch-repräsentativen Ebene setzte sich mittels der antitschechischen und antijüdischen Thematik das von der christlichen Sphäre übernommene Hochwertkonzept der „Reinigung“ im nationalistischen Diskurs als „Säuberung“ durch. Dieses Konzept wurde auch zur Grundlage für die neue Semantisierung der Vorstellung von „Kultur“ im slowakischen Staat. Ihre Aufgabe wurde nun, einen „neuen Menschen“ zu erziehen, der die Substanz eines gesunden nationalen Organismus bilden würde. Das Thema der Säuberung/Reinigung wurde ebenfalls häufig, mehr oder minder subtil, im nationalistischen Erneuerungsdiskurs in der Literatur bearbeitet. Im folgenden Kapitel wird gezeigt, wie sich im Verlauf der kulturellen Praxis unter nationalistischen Vorzeichen der Wandel von christlich-religiösen Reinigungsvorstellungen zu politisch-nationalistischen Säuberungsabsichten vollzog.

8 Literarische Praxis 8.1 Die „Nation“ erschreiben Die Intellektuellen, die ihre Laufbahn unter den Bedingungen des neuen tschechoslowakischen Staates begannen, reflektierten in journalistischen und literarischen Texten die im Umbruch befindlichen Verhältnisse. In jener als krisenhaft wahrgenommenen Zeit versprach gerade die Leitidee „Nation“ Zusammenhalt und die Möglichkeit der Selbstbehauptung. Die Vorstellung von der slowakischen Nation erlangte zunehmend die Deutungs- und Ordnungshoheit in vielen gesellschaftlichen Bereichen und machte dabei eine historisch gewachsene, mehrsprachige und -religiöse Kultur zum Problem. Eine ethnisch homogene Nation hingegen verhieß ihren Anhängern die Bewältigung vieler gesellschaftlicher Herausforderungen. Das Ideal einer solidarischen nationalen Gemeinschaft war berückend. Doch vieles stand der Realisierung im Wege. So ließ sich eine einheitliche slowakische Hochsprache nicht durchsetzen, die neue tschechische Verwaltungsoberschicht schränkte den Spielraum aufstrebender Slowaken ein, im öffentlichen Leben hielten sich hartnäckig die Kulturen einer alten ungarisch- und deutschsprachigen Elite, Armut und Arbeitslosigkeit belasteten breite Bevölkerungskreise, und auch machtpolitische und wirtschaftliche Interessen von einzelnen oder Gruppen verhinderten, dass die Menschen einen gewissen Wohlstand erlangten. Die zahlreichen Missstände, die ökonomisch und politisch asymmetrische Stellung der Slowaken verhalfen den Nationalisten, mit ihrer Losung „Herren in ihrem eigenen Lande“ zu werden, zum Erfolg. In der Praxis des Schreibens versuchten die Intellektuellen dem Ideal von einer slowakischen Nation täglich ein Stück näherzukommen. Dabei propagierten sie nicht nur Moralvorstellungen und Werthaltungen, sondern offenbarten im imaginären Raum der literarischen Texte auch kulturelle Prägungen – ihren Habitus –, die als zentrale Motivation und Steuerung ihres Handelns zu betrachten sind. Die Begeisterung für die slowakische Nation beschränkte sich unter den slowakischen Intellektuellen auf einzelne Kreise. Daran änderten auch die neuen Publikationsmöglichkeiten sowie der Kulturbetrieb nach der Republikgründung wenig, der im Vergleich zur ungarischen Herrschaftszeit die slowakische Kunst und Kultur begünstigte. Viele, doch durchaus nicht alle Künstler und Intellektuellen, waren bereit, sich auch in ihren Werken mit der „nationalen Identität“ auseinander zu setzen. Hinzu kam die ideologische Spaltung im Lande, die sich auf die Ausrichtung der kulturellen Institutionen niederschlug. Als ein Grundproblem der slowakischen Kultur betrachtete etwa Ján Smrek als namhafter und gemäßigt nationalistischer Schriftsteller und Publizist die man-

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gelnde Begeisterung für die nationale Sache. Er gründete selber eine renommierte Zeitschrift für slowakische Kunst und Literatur. Die Besonderheit daran war, dass sie ausgerechnet in Prag erschien, im Verlag Leopold Mazáčs. Damit stand die Zeitschrift nicht nur finanziell auf sicheren Beinen. Von Prag aus war es auch möglich, im Herzen der Macht für die slowakische Kultur zu lobbyieren, denn dort war die slowakische Kultur auf Verständnis und Wohlwollen angewiesen, doch traf sie zu Beginn der Dreißigerjahre noch immer auf erhebliche Ignoranz. Der Name der Zeitschrift, Elán, war programmatisch. Er bezog sich auf den philosophischen Begriff des „élan vital“ von Bergson und sollte in dessen Sinne die slowakischen Kulturschaffenden aufrufen, sich aktiv an der Entwicklung der Nationalkultur zu beteiligen. Darin ortete Smrek auch 1931 noch ein großes Defizit. Anders als in den großen Nationen wie Frankreich herrsche in der Tschechoslowakei noch ein großer kultureller Hunger, schrieb Smrek im Oktober 1931 in der zweiten Ausgabe von Elán. Doch die Kultur stünde noch nicht auf sicheren Füßen: „Bei uns muss das ganze nationale Bewusstsein sehr über die kulturelle Prosperität wachen, und falls dieses von Zeit zu Zeit einschlummere, muss darüber der nationale Instinkt wachen. Deshalb bitte etwas mehr Begeisterung!“¹ Smrek geht wie selbstverständlich davon aus, dass die Kultur national ausgerichtet werden und als solche repräsentative Funktionen haben müsse. Auskunft über nationalistische Vorstellungen und Gesellschaftsentwürfe gibt die Lektüre von Texten einiger ausgewählter Autoren aus der in dieser Studie vorgestellten Gruppe von Nationalisten. Mit dem Begriff „Lektüre“ sind hier in einem dekonstruktivistischen Sinne Lesarten und Interpretationen gemeint, die gerade nicht nach der Intention der Autoren fragen, sondern nach den Bedeutungsschichten, die den Texten eher unwillkürlich eingeschrieben sind. Eine Hypothese dieser Studie ist, dass der biografische Hintergrund, besonders der gemeinsame Erfahrungshintergrund, etwa vom Aufwachsen in der ländlichen Gemeinde, Zurücksetzungserfahrungen aufgrund der Sprache, Gemeinschaftserlebnisse durch kirchliche Institutionen wie Wohnheime oder Schulen, Lesezirkel, Zeitungsgründungen sowie die Aufnahme in die patriarchalen Strukturen der autonomistischen Partei wesentlich zum Aufkeimen des nationalistischen Engagements der jungen Akteure beitrug. Die ähnlich verlaufene intellektuelle Sozialisation wird als wesentliche Voraussetzung der Bildung einer nationalistischen Elite angenommen. Auf der Grundlage der individuellen, und doch geteilten Erfahrungen finden sich in den literarischen Werken gleichartige Gemeinschaftsentwürfe oder exemplarische Geschichten von Aufstiegsambitionen und deren Verwirklichung unter den gesellschaftlichen Bedingungen. 1 Smrek, Ján: Slovo o nadšení [Ein Wort zur Begeisterung], in: Elán, 1, 1930/31 (Oktober 1931), 2, S. 2. Zit. nach Smrek 1/1999, S. 84.

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Die slowakischen Romane, die ihre Leserschaft durch ein großes Identifikationspotenzial gewinnen wollten, waren in der Regel literarisch auf einem relativ hohen Niveau gestaltet, und nicht einfach plakative Propaganda. Sie sind komplex, weil in ihnen diverse inner- und außerliterarische Momente zusammentreffen: historische nationale Ideen, wie sie durch literarische Fiktion, aber auch wissenschaftliche und politische Prosa tradiert wurden, der biographische Erfahrungshintergrund, die künstlerische Wahrnehmung und Ausdrucksfähigkeit, die zeitgeschichtlichen Ereignisse sowie die in die Zukunft gerichteten Erwartungen an die Nation. Zusätzlich waren die Werke in der zur Hochsprache aufgestiegenen slowakischen Volkssprache als indirekte Positionierung im Rechtschreibstreit zugleich selber Teil der nationalistischen Praxis. Eine Annahme der vorliegenden Untersuchung ist, dass die Schriftsteller unter den nationalistischen Intellektuellen der im Europa zwischen den Weltkriegen weit verbreiteten modernistischen Strömung zugerechnet werden können beziehungsweise von deren ästhetischen Neuerungen profitierten. Deshalb wird der spannungsreiche Zusammenhang zwischen nationalistischen und modernistischen Bewegungen thematisiert.

8.2 Ökonomische und ideelle Ressourcen Schwacher slowakischer Buchmarkt Die politischen Verhältnisse auf dem ehemals oberungarischen Gebiet der Slowakei hatten vor 1918 dazu geführt, dass es in den Buchhandlungen und städtischen Bibliotheken am allerwenigsten slowakische Bücher zu kaufen oder auszuleihen gab. Infolge der Magyarisierungsabsichten ab den 1860er-Jahren führten Schulen und Bibliotheken sowie der Buchhandel vor allem ungarische Bücher, die unter der slowakischen Intelligenz auf die größte Nachfrage trafen. Hinzu kam in den traditionellen deutschsprachigen Zentren wie Pressburg oder der Zips ein deutschsprachiges Sortiment. Die kleine Schicht slowakischer Intellektueller las auch tschechische Bücher, deren Verbreitung der ungarische Staat aber zu unterbinden suchte, da jedwede tschechisch-slowakische Zusammenarbeit als antipatriotisch betrachtet wurde. Katholische Kreise rezipierten zudem polnische Bücher.² Anfang der 1920er-Jahre vereinbarten tschechische und slowakische Kulturfunktionäre und Buchhändler, dass die deutsch- und ungarischsprachige Fachliteratur im gesamten Lande durch die tschechische ersetzt werden sollte. Auf dem 2 Šimeček, Zdeněk: Geschichte des Buchhandels in Tschechien und in der Slowakei, Wiesbaden 2002, S. 136 f.

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Gebiet der literarischen Produktion war die Konkurrenz hingegen zu stark, die Slowaken konnten die Nachfrage nach slowakischen Büchern selber befriedigen. Tschechische Verleger, die versuchten, slowakische Übersetzungen von älterer tschechischer Literatur in der Slowakei zu verbreiten, hatten damit nur in Einzelfällen oder mit Theaterliteratur Erfolg, weil die kulturellen Voraussetzungen offenbar zu verschieden waren.³ Der Buchmarkt in der slowakischen und der tschechischen Landeshälfte entwickelte sich analog zur gesamten Wirtschaftslage asymmetrisch. Die Zahl der Leserinnen und Leser und deren Kaufkraft waren im tschechischen Landesteil weitaus größer als im slowakischen. Die Publikation von slowakischer Gegenwartsprosa mit den üblichen Auflagen von 2000 bis 3000 Stück, einige erreichten 3000 bis 5000 Exemplare, rechnete sich nicht. Die verlegerische Tätigkeit war insofern oft Teil eines bestimmten Bildungsauftrags oder -anliegens. Die großen Literaturverlage gehörten zu Kulturinstitutionen wie dem Verein hl. Adalbert oder der Matica slovenská, auch die Slovenská liga gab Anthologien und literarische Werke heraus. Literarische Werke mussten denn auch auf der Linie der jeweiligen Institution hinter dem Verlag liegen, um dort erscheinen zu können. Zudem unterhielten politische Parteien, wie Hlinkas Volkspartei, eigene Verlage, in denen sie politische Schriften und auch literarische Werke herausgaben. Die tschechoslowakischen Parteien hielten den antitschechischen Kampagnen der Volkspartei in der Slowakei vor allem eigene, dort veröffentlichte Periodika entgegen. Wichtige Einrichtungen für slowakische Gegenwartsliteratur befanden sich außerdem in Prag. Dort konnten Werke der Gegenwartsliteratur erscheinen, die in der konservativeren Gesellschaft der Slowakei keinen Verleger gefunden hätten. Verdienstvoll war in dieser Hinsicht der Prager Verleger Leopold Mazáč, in dessen Verlag neben der slowakischen Kulturzeitschrift Elán auch die ebenfalls von Ján Smrek redigierte Reihe „Edition junger slowakischer Autoren“ erschien, nachdem sie vom Zentralverband der slowakischen katholischen Studentenschaft lanciert und herausgegeben worden war. Darin erschienen die wesentlichen Romane und Lyrikbände national orientierter Schriftsteller. Generell hatte aber die belletristische Literatur nur einen geringen Anteil an der gesamten Buchpublikation, 1922 und 1933 machte sie nur 14 % bzw. 24,1 % aus. Das lag anfänglich vor allem an Papiermangel, schlechter Technik und später an der Weltwirtschaftskrise.⁴

3 Šimeček 2002, S. 142. Weder der beliebte tschechische Humorist Jaroslav Hašek noch die tschechoslowakische Legionärsliteratur interessierten die Slowaken besonders. Ausnahmen bildeten Darstellungen der ländlichen Gesellschaft von Božena Němcova oder des katholischen Priesters J. Š. Baar. 4 Šimeček 2002, S. 156.

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Die Buchproduktion in der Slowakei gibt über die Nachfrage nach slowakischer Literatur Auskunft. Mitte der Dreißigerjahre war die Buchproduktion in slowakischer Sprache immer noch vergleichsweise gering. Zum Teil wurden sogar slowakische Originale zur Publikation ins Tschechische übersetzt und so in der Slowakei verlegt, weil der tschechische Buchmarkt wesentlich größer war. Wie schwierig die Verlagssituation war, zeigt etwa das Beispiel des Romans „Der Mann mit der Prothese“ von Ján Hrušovský, der zuerst in tschechischer Übersetzung erschien, weil sich kein slowakischer Verlag dafür fand.⁵ 1932 erschienen insgesamt 7933 Bücher in der Tschechoslowakischen Republik, davon 5672 tschechische gegenüber nur 878 slowakischen. Deutsche Bücher waren es 1013 an der Zahl, ungarische 186.⁶ Die relativ hohe Zahl der deutschsprachigen Bücher spiegelt den günstigeren Buchmarkt in Böhmen und Mähren, wohingegen die relativ niedrige Anzahl ungarischsprachiger Bücher mit der niedrigen Zahl an slowakischen Büchern korrespondiert. Im Vergleich mit den Zahlen von 1924 zeigt sich, dass vor allem die deutsche Minderheit ihren Anteil an der gesamtstaatlichen Buchproduktion erhöhen konnte. 1924 standen lediglich 423 deutschsprachige Bücher den 4023 „tschechoslowakischen“ gegenüber.⁷ Besonders der Bestand der städtischen Bibliothek von Bratislava wirft ein Licht auf die ethnische Zusammensetzung der Leserschaft bzw. die kulturell dominante Sprachgruppe in der Stadt: Der deutschsprachige Bestand überwog noch im Jahr 1936, obwohl die deutschsprachige Bevölkerung weniger als 27 % ausmachte. Wer die finanzielle Möglichkeit hatte, konnte als ein kulturpolitisches Instrument auch Wettbewerbe ausschreiben. Selbst die Zeitung der Volkspartei, Slovák, nutzte diese Möglichkeit der Einflussnahme. 1926 schrieb sie einen dreiteiligen Wettbewerb aus: für einen Roman, der in der Wende- oder Nachwendezeit spielte, für einen historischen Roman aus der slowakischen Geschichte und für eine feuilletonistische Arbeit.⁸ Verantwortlich für den Wettbewerb war Redakteur Jozef Sivák, der Vorsitzende der Slowakischen Künstlergesellschaft und spätere Bildungsminister im slowakischen Staat. Im slowakischen Staat waren die Bedingungen für den Buchmarkt und die freie Buchproduktion noch wesentlich ungünstiger. Mit dem Wegfall der tschechischen 5 Sidor, Karol: Literatúra na kraji priepasti [Literatur am Rande des Abgrunds], in: Slovák, 7, 43, 22.2.1925, S. 3. – Hrušovský, Ján: Muž s protézou. Prípad poručíka Seeborna [Der Mann mit der Prothese. Der Fall des Leutnant Seeborn], Bratislava 1925. 6 Kulturní adresár ČSR. Biografický slovník žíjících kulturních pracovníků a pracovnic. Sest. Ant. Dolenský. [Kulturelles Adressbuch ČSR. Biografisches Wörterbuch der lebenden Kulturschaffenden. Zusammengestellt von Anton Dolenský.], Prag 1936, S. 6 f. 7 Ročenka Československé Republiku. Ročník VI [Jahrbuch der Tschechoslowakischen Republik. Jahrgang VI], 1927, S. 116. 8 Literárny súbeh [Literarischer Wettbewerb], in: Slovák, 8, 4, 6.1.1926, S. 3.

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Seite ging das gesamte Sortiment an tschechischer Fachliteratur und Belletristik verloren. Kirchenautorität und Staatsverlag beschränkten die Tätigkeit freier Verlage. Die politische und ideologische Literatur war in der Hand der Volkspartei. Aus den öffentlichen Bibliotheken wurden etwa 7000 Bücher, zumeist tschechische, aussortiert. Zudem konzentrierte der neue Staat sichtbar das wirtschaftliche, kulturelle und politische Leben in Bratislava, was sich nachteilig auf den Rest des Landes auswirkte. Unter den publizierten literarischen Werken verzeichneten allein die Unterhaltungsliteratur sowie die theologische und religiöse Literatur in den Kriegsjahren einen Zuwachs.⁹ Insgesamt konnte der relativ schwache slowakische Buchmarkt den Ambitionen nationalistischer Schriftsteller kaum gerecht werden.

Katholische und völkische Quellen Die Rezeption von literarischen und intellektuellen Ideen aus dem europäischen Raum verlief eher zufällig und willkürlich, wenn auch durch Affinitäten bestimmt. Nach 1918 entwickelte sich die vormals wenig differenzierte slowakischsprachige Literatur¹⁰ in diverse Richtungen. Die Lyrik war von einem Post- oder Neosymbolismus bestimmt, selbst unter Dichtern verschiedener weltanschaulicher Orientierungen. Nationale Themen bearbeiteten Autoren in diversen literarischen Strömungen. Zum einen gab es jene, die der Tradition von Hviezdoslavs Parnassismus folgten und an der Vorstellung des nationalen Barden festhielten, etwa Martin Rázus und Štefan Krčméry. Eng mit diesen verbunden waren die „Ruralisten“, etwa Vladimír Rolko und Anton Prídavok sowie in ihrem anfänglichen Schaffen Andrej Plavka, Rudolf Dilong, Valentín Beniak und Andrej Žarnov. Doch auch der Hauptstrang der Symbolisten differenzierte sich mit der Zeit weiter. Zudem gab es einen avantgardistischeren Flügel, der vom tschechischen Poetismus beeinflusst war, den nicht nur einige kommunistische Autoren bildeten, sondern auch Vertreter der konservativen Strömung der katholischen Moderne wie Rudolf Dilong und Valentín Beniak. Der Katholizismus machte sich in der Kultur ab den Dreißigerjahren bemerkbar. Dafür steht beispielsweise die katholische Kulturzeitschrift Kultúra. Neben literarischen Texten von katholischen Autoren wurden darin auch Artikel mit Über-

9 Šimeček 2002, S. 174–178. 10 Marčok, Viliam: O nový pohľad na vývin slovenskej literatúry v rokoch 1918–1938 [Über eine neue Sicht auf die Entwicklung der slowakischen Literatur in den Jahren 1918–1938], in: Jozef Hvišč, Viliam Marčok, Mária Batorová, Vladimír Petrik, Biele miesta v slovenskej literatúre [Weiße Flecken in der slowakischen Literatur], Bratislava 1991, S. 11–24; hier S. 19.

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legungen zu aktuellen gesellschaftlichen und politischen Themen abgedruckt. Etwa über die Bedeutung des Faschismus für die Slowakei oder Erwägungen über die zeitgenössischen Diktaturen in Europa. Auch die Gründung von weiteren katholisch orientierten Zeitschriften fällt in den Beginn der Dreißigerjahre. Im Zusammenhang mit diesen entstand die literarische Strömung „Katholische Moderne“. Sie gruppierte sich vor allem um die beiden Zeitschriften Postup und Prameň. Allerdings gingen weniger aus dem Kreis der engsten Mitarbeiter von Postup die namhaften Autoren hervor als vielmehr aus jenem der gelegentlich Beitragenden, etwa Rudolf Dilong, Pavel Gašparovič Hlbina, Ján Haranta, Janko Silan, Ferdinand Gabaj und Ľubomír Ondrejov. Die Zeitschrift Prameň, die mit der zehnten Ausgabe im zweiten Jahr einging, wurde im Wohnheim Svoradov¹¹ herausgegeben, zeitweise von Ján Sedlák. Die katholischen Autoren von Prameň setzten sich in ihrer publizistischen und übersetzerischen Tätigkeit vor allem mit französischen katholischen Autoren auseinander wie François Mauriac (La vie de Jesus), Bertrand, Jean Cocteau, Ernest Psichari und dem Franziskaner Francis Jammes, der unter den Dichtern der Katholischen Moderne Kultstatus genoss.¹² Die Beschäftigung mit diesen Autoren schlug sich in den jeweils eigenen Werken nieder. Eine parallele Entwicklung machte der frühere Redaktionskollege von Karol Sidor in Vatra, Augustin Način (Pseudonym: Borin), durch. Er gab eine eigene Literaturzeitschrift namens Pero [die Feder/der Füller] heraus und versuchte, einen Kreis von Autoren an die Zeitschrift zu binden. Er war ebenfalls katholisch ausgerichtet, nicht konservativ, sondern in einem moralisch-ethischen Sinne. Način organisierte gelegentlich zweiwöchige Arbeitstreffen von Sympathisanten seiner Zeitschrift. Diese Treffen waren eine Gelegenheit, mit allem was Rang und Namen unter katholisch-national denkenden Intellektuellen hatte, zusammenzutreffen. Referenten waren unter anderem Urban, Beniak, Žarnov, Gašpar, aber auch der angesehene kommunistische Dichter Ladislav Novomeský. Auf einem der Treffen prägte Tido Gašpar seinen für die nationalistischen Intellektuellen wichtigen und viel zitierten Ausspruch „Dajme sa dokopy!“ [Tun wir uns zusammen!]. Hinter diesem Motto verbirgt sich die quasi-religiöse Vorstellung einer „slowakischen geistigen Ganzheit“, nach der die Menschen im Ideal der Nation zusammenkommen, wie sich das Volk in der Kirche versammelt, um der gemeinsamen göttlichen Idee willen. Gašpar nennt dieses Ideal in einem Artikel in Pero auch „slowakischen geistigen Solidarismus“¹³. Hiermit ist ein kommunitaristisches Ideal gemeint, das

11 Vgl. dazu Kapitel 6 dieser Studie. 12 Sedlák, Ján: Moje polstoročie. Rozbehy cez úskalia [Mein Jahrhundert. Flüge über die Klippen], Bratislava 1994, S. 76. 13 Zit. nach Sedlák 1994, S. 51.

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in einem intellektuellen Horizont die gemeinschaftlichen Interessen über die individuellen stellt. Die ideelle Qualität der Nationsvorstellung hatte nicht nur historische Wurzeln im deutschen Idealismus, sondern wies auch Parallelen zu zeitgenössischen völkischen Ideen auf.¹⁴ Gleichwohl ist die Qualität der entsprechenden slowakischen Literatur nicht vergleichbar mit der konventionellen, stark stereotypisierten völkischen Literatur in Deutschland bis 1918. Ähnlich wie die völkischen Autoren aus den Randgebieten¹⁵ Deutschlands – sie kamen aus Schlesien oder dem Elsass und betonten besonders die Variante des Deutschen ihrer jeweiligen Region – empfanden sich auch Slowaken aufgrund der asymmetrischen Stellung im Staat als eine Art Randregion. Charakteristisch war für beide ein starker Selbstbehauptungswille sowie die Wahrnehmung, durch eine andere Kultur einer Bedrohung ausgesetzt zu sein. Aus dieser Position entwickelte sich ein Pseudo-Minderheitsnationalismus¹⁶, der an völkische Ideen anknüpfen konnte. George L. Mosse¹⁷ konstatiert die normative Prägung der völkischen Bewegung in Deutschland durch den völkischen Denker Wilhelm Heinrich Riehl. Dieser vertrat eine integrierte Auffassung davon, wie Mensch und Gesellschaft zu Natur, Geschichte und Landschaft standen. So behandelte er in seinen Werken, wie die organische Natur des Volkes erreicht werden könne, nämlich, wenn Volk und heimatliche Landschaft miteinander verschmelzen würden. Die Kategorie des Volkes ist bei ihm dominant durch das Thema der Verwurzelung attribuiert. Kaufleute und Industrielle hingegen besaßen seiner Ansicht nach keine enge Verbindung zur Natur. Zu den Entwurzelten gehörten nach Riehls Ansicht auch das Proletariat, besonders die Wanderarbeiter, und allen voran der Jude. Diese Sichtweisen finden sich in den untersuchten slowakischen Zeitromanen in unterschiedlicher Gewichtung wieder. Während bei Riehl jedoch die Bauernschaft als Quelle der völkischen Erneuerung an die Pforten der Macht klopft, sind es im tschechoslowakischen Kontext ethnisch identifizierbare Slowaken, die durchaus Städter sein können, sich aber zumindest ihrer ländlichen Herkunft und Verwurzelung bewusst sind. Es ist davon auszugehen, dass Riehls Werke bekannt waren,

14 Andrej Žarnov beispielsweise rezipierte völkische Literatur. In einer Umfrage des Slováks empfiehlt er ein Buch des katholischen Autors Paul Keller zur Lektüre, der ein Vertreter der deutschen Heimatkunstbewegung war. 15 Dohnke, Kay: Völkische Literatur und Heimatliteratur 1870–1918, in: Uwe Puschner, Walter Schmitz, Justus H. Ulbricht (Hg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, Paris 1996, S. 651–684; hier S. 664. 16 Zu diesem Begriff im Kapitel 2 dieser Studie. 17 Mosse, George L.: Die völkische Revolution: über die geistigen Wurzeln des Nationalsozialismus, Frankfurt 1991 (The Crisis of German Ideologie, 1964), S. 27 f.

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und ihren Weg in die slowakische Gesellschaft über deutschsprachige Gelehrte fanden.¹⁸ Ein weiterer Autor, dessen Gedankenwelt sich deutlich in den slowakischen nationalistischen Romanen abbildet, ist Berthold Auerbach. Seine Werke gingen in zahlreichen Auflagen in den Bestand der Universitätsbibliothek Bratislava ein. Zwischen 1850 und 1870 gibt es allein 34 Einträge im Katalog. Auerbach machte in seinen Romanen die Bauern zu Volkshelden, betonte ihre Einfachheit, ihren Sinn für Tradition und Nähe zur Natur: „(. . . ) nur sie allein hatten teil an der Natur und der historischen Landschaft des Volkes; nur sie konnten mit dem Lebensgeist in Einklang stehen.“¹⁹ Sowohl die Darstellung des Bauern Adam bei Milo Urban wie auch die jeweils zentralen Figuren des Dorfpfarrers entsprechen in ihrer ideologischen Konzeption der von Auerbach. Selbst der Roman „Der Büttnerbauer“ (1895) von Wilhelm von Polenz, der für Hitler wichtig war, findet sich im Bestand der Bratislavaer Bibliothek, und zwar erst in einer Ausgabe von 1922. Darin wird ein Jude mit der modernen Industriegesellschaft gleichgesetzt, die den Bauern entwurzelt, seines Bodens beraubt und ihn schließlich in den Tod treibt.²⁰ Das Grundmuster findet sich auch im antisemitischen Roman „Zápas“ von Gráf. Als zentrale Kriterien²¹ für die thematische und ideologische Eingrenzung der deutschen völkischen Literatur lassen sich die Verklärung ländlich-einfacher Lebensformen ausmachen, wobei sie stärker weltanschaulich ausgerichtet ist als etwa die Heimatliteratur. Völkische Ideologeme bedingen idealtypische Identitäten. Sie betonen stärker vorgeblich natürliche, ethnische („rassische“), sprachliche und religiös-kulturelle Elemente als soziale, historische oder regionale Momente. Provinzielle Schauplätze werden auf urbane ausgedehnt, auf denen das ideologische Weltkonzept seine Geltung ebenfalls beweisen soll. Der Bodenbezug wird symbolisch überhöht, und die nationalistische Perspektive dominiert. In der slowakischen nationalistischen Literatur finden sich die meisten dieser völkischen Merkmale. Das ländliche Thema wurde bearbeitet, um eine auf den Boden abstellende Slowakizität des Volkes zu behaupten und daraus den Anspruch auf Abgrenzung gegenüber dem bedrohlichen „Anderen“ abzuleiten,

18 Aufschluss über die Verfügbarkeit von Riehls Werken gibt der Zettelkatalog der Universitätsbibliothek Bratislava. Seine theoretischen Schriften zum Thema Volk wurden ab den 1860er-Jahren angeschafft, z. B. „Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozial-Politik“ (3 Bde., Stuttgart 1862, 1866, 1867) „Vom deutschen Land und Volke. Eine Auswahl“ (Jena 1922), „Die Volkskunde als Wissenschaft. Ein Vortrag“ (Tübingen 1935) 19 Mosse 1991, S. 34. 20 Mosse 1991, S. 36 f. 21 Dohnke 1996, S. 652 f.

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das in verschiedenen Motiven, etwa in den Tschechen, Tschechoslowaken, der Stadt, den Juden, Kommunisten oder Kapitalisten, Gestalt annahm. Zudem ist den Texten eine widerständige Haltung grundsätzlich eigen, die sich gegen den staatlichen Machtapparat richtet. Neben den Parallelen zur völkischen Strömung in der deutschen Literatur gab es auch weiterhin eine enge Verwandtschaft mit der ungarischen Literatur, zumal die rural-katholische Tradition in der Literatur unter anderem im gemeinsamen Kulturraum wurzelte und diese Literatur in der Zwischenkriegszeit in Ungarn ebenfalls eine Blüte erlebte. Die ungarische Kultur als ehemalige Kultur der Oberschicht zeigte auf dem Territorium der Slowakei weiterhin ihre Wirkung. Die Intellektuellen bekannten sich zu bedeutenden ungarischen Dichtern wie Endre Ady und Sándor Petöfi, die rezipiert und übersetzt wurden. Allerdings blieb die Rezeption verständlicherweise aus politischen Gründen stets im Rahmen, lautete doch der Vorwurf von tschechischer Seite gegenüber nationalistischen und besonders autonomistischen Kräften stets, dem ungarischen Irredentismus Wasserträger zu sein. Elemente der ungarischen Kultur waren in die slowakische Gesellschaft integriert, oft nicht einmal bewusst. Sie eigneten sich nicht zu einer nationalen Mobilisierung, zumal die ungarischsprachige Minderheit keinen Machtanspruch im Zentralstaat erheben konnte und daher eher gemeinsame Interessen mit den slowakischen Nationalisten verfolgte. Deutlich wahrnehmbar waren hingegen französische und polnische Einflüsse in der slowakischen nationalistischen Literatur.

Religiös-ästhetische Rezeption französischer Literatur Eine Generation, bevor die neue Generation slowakischer Nationalisten geboren wurde, nämlich in den 1880er-Jahren, kämpfte in Frankreich eine Reihe Intellektueller für die Rekatholisierung des öffentlichen Lebens. Diese katholische Sammlungsbewegung gegen die gesellschaftlichen Modernisierungstendenzen wurde in den Zwanzigerjahren unter dem Begriff „Renouveau catholique“ medial debattiert.²² Unterstützt wurde sie von der katholischen Kirche, weil diese ihre Macht über die öffentliche Meinung zurückgewinnen wollte. In diesem Anliegen traf sich die Kirche mit jungen katholischen Akademikern, die ihrerseits eine Intellektuellenkarriere anstrebten.²³

22 Einfalt, Michael: Nation, Gott und Modernität. Grenzen literarischer Autonomie in Frankreich 1919–1929, Tübingen 2001, S. 190. 23 Serry, Hervé: Die Regeln des Glaubens. Formen und Logiken des Engagements katholischer Intellektueller in Frankreich (1880–1935), in: Ingrid Gilcher-Holtey, Zwischen den Fronten. Positionskämpfe europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert, Berlin 2006, S. 63–85.

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In Frankreich wollten die katholischen Intellektuellen mit Hilfe der katholischen Ästhetik das Land vom Erbe der Französischen Revolution, von Positivismus, Laizismus und Demokratie befreien und zurückerobern. Ein prominenter Vertreter dieser Bewegung war der Schriftsteller Paul Claudel. Er konvertierte 1886 zum Katholizismus und verfasste zahlreiche Schriften zu katholischen Themen. Die Bibliothek der Komenský-Universität betrieb eine aktive Ankaufspolitik in den Zwanziger- und Dreißigerjahren.²⁴ Vor allem erwarb sie Claudels katholische Schriften, etwa 1922 „L’annonce faite a Marie“ (1919) und 1929 „Art Poétique. Connaissance du Temps. Traité de la co-naissance du monde et de soi-même. Développement de l’eglise. Feuilles de saints“ (1925). Übersetzungen ins Slowakische gibt es aus dieser Zeit nur wenige, da die Werke zumeist bereits ins Tschechische übersetzt worden waren und in dieser Fassung dann auch erworben wurden. Eine slowakische Übersetzung erschien in der Zeit des slowakischen Staates, und zwar „Die Verkündigung an Maria“²⁵ 1940 bei der Matica slovenská. Auch in den slowakischen Zeitschriften der Zwischenkriegszeit wurden Gedichte von Claudel abgedruckt beziehungsweise erschienen Essays.²⁶ Insofern ist davon auszugehen, dass Claudel von katholischen Intellektuellen in der Slowakei nicht nur vereinzelt rezipiert wurde. Die katholischen Erneuerer in Frankreich verstanden sich ihren Werten nach als über der Nation stehend. Die Schaffung einer Nation war ja nicht ihr Ziel, vielmehr die Veränderung gesellschaftlicher Werte, wie es Gaëtan Bernoville, einer der geistigen Führer der Bewegung, nach dem Ersten Weltkrieg formulierte: Es ist auch nicht utopisch, davon auszugehen, dass der Zeitpunkt sehr nahe ist, zu dem eine Elite von Schriftstellern eine Regierung geistigen Wesens, also hoher Qualität, bilden wird, die, weit über der offiziellen Regierung der Nation stehend, diese allein durch den von intellektueller Überlegenheit und volkstümlichen Strömungen ausgeübten Druck dazu zwingen wird, ihre Richtlinien zu übernehmen und sich von ihrer Seele durchdringen zu lassen.²⁷

Die Aufgabe der Schriftsteller sei es, die französische Größe zu stärken und die verkannten geistigen Kräfte zu rühmen.

24 Das lässt sich aus den Karteikarten im Generalkatalog der Universitätsbibliothek in Bratislava rekonstruieren. 25 Claudel, Paul: Zvestovanie. L’annonce faite a Marie. Prel. Slavkovian, dosl. Izidor Štefík, Knižnica Slovenské pohľady 63, Martin 1940. 26 Eine weitere Konjunktur slowakischer Übersetzungen erlebten Claudels Schriften erst wieder zur Zeit des Prager Frühlings, als der slowakische Nationalismus erneut auflebte. 27 Zit. nach Serry 2006, S. 65.

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Gewisse Parallelen zwischen dieser katholischen Kulturbewegung in Frankreich und den zeitlich verschobenen Entwicklungen in der Slowakei sind erkennbar. Auch in der Slowakei unternahm die katholische Kirche große Anstrengungen, um das Schwinden ihrer Macht in der säkularen Gesellschaft zu bremsen. Sie investierte in Verlage, Zeitschriften, Zeitungen sowie in die Volksbildung und förderte junge Geistliche mit literarischen Ambitionen. Aus diesem Kreis bildete sich allmählich die neue literarische Gruppe „Katholische Moderne“. Diese Entwicklung vollzog sich erst ab den Dreißigerjahren. Zu Beginn der Zwanzigerjahre kamen diese Anstrengungen eher aus dem Lager der politischen Katholiken, das heißt aus dem Kreis um Hlinka. Jedoch erscheint die Spiritualität der katholischen Kirche vor allem für den wesentlich kleineren Kreis der katholischen Autoren maßgeblich zu sein. Das Gros der nationalistischen Autoren setzte sich mit weltlichen Themen auseinander, die religiöse Prägung drückte sich eher unwillkürlich aus oder wurde in ihrer Bedeutung skeptisch hinterfragt, etwa von Milo Urban. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass eine offene Diskussion des einflussreichen Philosophen Jaques Maritain in den untersuchten Schriften der eher weltlich orientierten jungen slowakischen Nationalisten ausblieb. Maritain vermochte für seine Interpretation der Werke Thomas von Aquins Anhänger in ganz Europa zu finden, darunter auch T. S. Eliot.²⁸ In seiner neothomistischen Konzeption verband er die Idee des göttlichen Ursprungs der Welt und der Ewigkeit mit der Moderne und ihren neuen ästhetischen Ausdrucksformen. Die Modernisierung des Katholizismus war ihm ein Anliegen, nicht aber die Politik. In Polen etwa wurde Maritain aufgrund seines offenen Katholizismus von einem Großteil junger Nationalradikaler abgelehnt.²⁹ Eine gewisse geistige Verwandtschaft machte Frankreich und die aktuelle katholische Erneuerungsbewegung, die sich auch an den Universitäten etablierte, auf jeden Fall attraktiv für junge slowakische Intellektuelle. Manche konnten dort einen Studienaufenthalt absolvieren, lernten zeitgenössische Autoren kennen oder auch jene, die für die „katholische Erneuerung“ von Bedeutung waren. In den slowakischen Zeitschriften, die katholischen Institutionen nahestanden, wurden regelmäßig die katholische Literatur in Frankreich und auch Übersetzungen³⁰ besprochen. Anlässlich des hundertsten Gründungstages des katholischen

28 Heynickx, Rajesh, De Maeyer, Jan (eds.): The Maritain Factor. Taking Religion into Interwar Modernism, Leuven 2010, S. 16 f. 29 Vonlanthen, Isabelle: Dichten für das Vaterland. National engagierte Lyrik und Publizistik in Polen 1926–1939, Zürich 2012, S. 186. 30 Im Verlag des Vereins hl. Adalbert erschienen 1931 von Pierre l’Eremite der Roman „Ako som zabila svoje dieťa“ [Wie ich mein Kind erschlug, dt. 1926: Die Mörderin ihres Kindes] und 1933 „Žena so zatvorenými očami“ [Die Frau mit den geschlossenen Augen].

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Verlagshauses Bonne Presse in Frankreich erstattete Rozvoj Bericht. Darin wird erwähnt, dass die Mehrheit der französischen Intelligenz die katholische Bewegung unterstütze. Charakteristisch für diese französische Literatur sei die soziale Idee, sie wolle das Problem der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krise mit Hilfe der christlichen Ideologie lösen.³¹ In einem Beitrag in Rozvoj von 1934 schreibt der Autor vom „Triumph des Katholizismus in einem so fortschrittlichen Land wie Frankreich“³². Von Frankreich aus bahne sich der literarische Katholizismus seinen Weg in verschiedene Länder, und auch die Autoren der katholischen Moderne in der Slowakei seien Schüler der Franzosen. Einem Diktum Claudels, wonach die Dichtung eine innere Welt organisch und nicht vom Verstand her begreifbar erschaffen solle, entspreche, so der Autor, von den Slowaken jedoch nur Hlbina. Er habe seinen Stil an Verlaine, Rimbaud, Jammes, Claudel, Valéry und Brémond geschult. Hlbina wird hier stilistisch als Modernist beschrieben, als ein Autor von großer Individualität und Innerlichkeit. Die katholischen und nationalistischen Autoren nahmen mit dem Studium polnischer Literatur die Tradition der nationalen Aktivisten des 19. Jahrhunderts auf. Die Orientierung auf die französische Literatur hatte hingegen jene auf die deutsche abgelöst. Die slowakischen evangelischen Intellektuellen hatten im 19. Jahrhundert noch an deutschen Universitäten die deutschen Idealisten studiert und ihren Nationalismus davon ausgehend entwickelt. Für die katholischen Intellektuellen war die „katholische Erneuerung“ in Frankreich das adäquatere Modell. Von analogen Entwicklungen kann man dennoch nicht sprechen, da die Ausgangsbedingungen zu verschieden waren. In Frankreich suchten die Nationalisten die Verbindung mit dem Katholizismus, um eine programmatische Opposition gegenüber der liberalen Republik zu bilden. In der Slowakei lag die Führung des slowakischen Nationalismus nach 1918 von Anfang an bei den Katholiken in Abgrenzung von den mehrheitlich tschechoslowakisch orientierten protestantischen Aktivisten. Die junge Generation der slowakischen Nationalisten versuchte sich vor diesem Hintergrund tendenziell von der katholischen Kirche zu distanzieren. In der Slowakei etablierte sich somit keine mit der „Renouveau catholique“ vergleichbare starke Bewegung, die eine gesellschaftliche Erneuerung mittels religiöser Spiritualität anstrebte. Dafür war der katholische Klerus als vor allem ländliche Organisation für die jungen, eine konservative Modernität anstrebenden Intellektuellen zu wenig attraktiv und inspirierend. Zudem war die Loslösung vom Katholizismus mit ei-

31 o. N.: O katolíckom hnutí vo Francii [Über die katholische Bewegung in Frankreich], in: Rozvoj, 10, 1931, S. 65 f. 32 o. N.: Katolícka moderna a jej reprezentanti u nás [Die katholische Moderne und ihre Repräsentanten bei uns], in: Rozvoj, 13, 1, September 1934, S. 14.

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nem angestrebten Generationswechsel bei den nationalistischen Führungskräften verknüpft. Slowakische Autoren hatten eine Affinität zur literarischen Bearbeitung religiöser Themen und schulten sich darüber hinaus an der stilistischen Modernität der französischen Autoren. Demgegenüber zielte die Rezeption polnischer Literatur deutlich auf polnische Nationskonzepte ab.

Politisch-nationale Rezeption polnischer Literatur Der Bezug zur polnischen Literatur basierte ebenfalls auf dem Katholizismus, jedoch nicht ausschließlich. Das Interesse an polnischer Kultur konnte in der Zwischenkriegszeit angesichts der polnisch-tschechoslowakischen Spannungen³³ nicht neutral sein. Im Kontext von Karol Sidors Polen-Engagement bekommt auch die literarische Polonophilie eine Bedeutung, die über die vorgeblich rein kulturellen Absichten hinausgeht. Die Institutionalisierung der slowakischen Polonistik begann 1924 an der Philosophischen Fakultät der Komenský-Universität mit dem ersten Sprachlektor und 1925 begann der Slawist Frank Wollmann Vorlesungen über polnische Literatur zu halten. Doch waren diese Aktivitäten noch relativ bescheiden und kaum öffentlich wirksam. Begleitet wurde diese Entwicklung in der kulturellen Sphäre vor allem von den nationalistischen Kulturaktivisten. Publizistisch berichteten die katholischen Kulturzeitschriften über den polnischen Nachbarn, insbesondere Karol Sidor und Ignac Grebáč-Orlov als Journalisten, wobei Letzterer mit den „Bauern“ des Nobelpreisträgers Władysław Reymont 1926 als erster einen großen polnischen Roman ins Slowakische übersetzte. Aus der polnischen Literatur wurde überwiegend Prosa mit dörflicher Thematik rezipiert. Der Verein hl. Adalbert brachte 1933 etwa eine Übersetzung des Romans „Dewajtis“ von Marya Rodziewiczowna heraus, an dem die Kritik die „Darstellung eines vollkommenen Slawen festen Glaubens mit der Kraft des väterlichen Erbes ausgestattet“ würdigte.³⁴ Milo Urban schrieb in seinen Memoiren, wie die polnische Literatur ihn vor allem dazu anregte, die Eigenheiten der slowakischen Kultur herauszuarbeiten, um so die slowakische Literatur aus dem Schatten der entwickelteren Literaturen heraustreten zu lassen. Dabei legitimiert er sein Vorgehen durch die große kulturelle Nähe. Die Erzählungen von Kazimierz Przerwa-Tetmajer hätte er, so der Autor, auch ohne slowakische Übersetzung verstanden, in den Adern der Polen wie auch der Slowaken fließe Räuberblut und sie hätten den Volkshelden Janošik gemeinsam. 33 Siehe Kapitel 4 in dieser Studie. 34 Ľubo J. Ambruš: Marya Rodziewiczowna: Dewajtis, in: Rozvoj, 13, 1, September 1934, S. 15.

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Die Rezeption polnischer Literatur stellt Urban in seinen für 1971 vorgesehenen, aber erst 1992 erschienen Memoiren als rein kulturellen Akt dar: „Tetmajer zeigte mir beispielhaft, was sich alles aus der gewöhnlichen Folklore herausdreschen lässt, wie der Regionalismus und seine Besonderheiten die nationale Literatur beleben können, wenn jemand sie mit Mass und Gefühl nutzt.“³⁵ Ein besonderer Glücksfall für die slowakischen Nationalisten war, dass der Dichter Andrej Žarnov sein Talent und Sendungsbewusstsein in ihren Dienst stellte. Seinen Bemühungen war unter anderem zu verdanken, dass polnische Lyrik als Anthologie einer breiteren Leserschaft zugänglich wurde. Er wählte sie zwar tendenziös aus, aber gleichzeitig mit einer gewissen dichterischen Subtilität. Die Anthologie „U poľských básnikov“ [Bei den polnischen Dichtern]³⁶ war die erste Buchausgabe polnischer Gedichte in der Slowakei. Verschiedene Zeitschriften hatten jedoch bereits zuvor einzelne polnische Gedichte abgedruckt. Žarnov hatte für die Anthologie die als führend geltenden Vertreter der polnischen Nationaldichtung ausgewählt, von romantischen bis zeitgenössischen Dichtern und Dichterinnen. Ihm ging es nicht um eine repräsentative Schau der polnischen Dichtung, sondern um eine Auswahl an Gedichten, die der slowakischen katholischen Dichtung nahestanden.³⁷ Von den polnischen Romantikern wählte Žarnov Mickiewicz, Krasinski und Slowacki aus. Als erstes Gedicht ist der Sammlung die „Óda na mladosť“ [Ode an die Jugend] von Mickiewicz vorangestellt. Dieses Gedicht war für die entstehende slowakische Romantik in den 1830er-Jahren der wichtigste Text. In der Folge verfassten nach seinem Muster mehrere slowakische Dichter programmatische Texte. Auch in Žarnovs kämpferischen Gedicht „Nástup otravených“ bildet es den Subtext. Die „Ode an die Jugend“ enthält ein Motiv, dass für Žarnovs eigenes Nationskonzept zentral ist: das Motiv des Todes. Der Dienst an der Nation wird als etwas Besonderes dargestellt, weil es die Jugend und den Tod einander nahe bringe. Die „Erlösung“ und damit die Lösung der nationalen Frage wird durch das jugendliche Opfer ermöglicht und auch eingefordert: „Glücklich ist auch der, der gerade im Laufe fiele, wenn sein Körper im Schlamm des Blutes für andere die Stufe zum

35 Urban, Milo: Kade-tade po Halinde. Neveselé spomienky na veselé roky [Wohin-dahin nach Halinda. Ernsthafte Erinnerungen an fröhliche Jahre], Bratislava 1992. S. 38 f. [Tetmajer mi názorne ukázal, čo všetko sa dá vytĺcť z obyčajného folklóru, ako regionalizmus a jeho zvláštnosti môžu oživiť národnú literatúru, ak ho človek s mierou a citom využíva.] 36 Žarnov, Andrej: U poľských básnikov. Preklady. [Bei den polnischen Dichtern. Übersetzungen], Martin 1936. 37 Hvišč 1996, S. 144.

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Ruhm würde.“³⁸ Die Aufgabe der Jugend ist es, sich – mit Gottes Hilfe – aus dem irdischen „Leichenschlamm“ zu erheben und „aus dem Chaos der Welt einen neuen Geist zu gebären“, der Freiheit und Erlösung bringt. Mickiewicz beschreibt hier die Forderung nach nationaler Emanzipation auf einer religiösen Folie, wie sie auch für Žarnov grundlegend ist. „Sen“ [Traum/Schlaf] und „Preč z mojich očí!“ [Mir aus den Augen!] sind zwei weitere in die Anthologie eingefügte Gedichte Mickiewiczs. Die christliche Bildlichkeit erhebt den Inhalt dabei über den Einzelfall. Im Gedicht „Sen“ wird eine Auferstehungsvision nach einem Jahrhunderte währenden Schlaf geschildert. Das tote Ich wird eines Tages das Grab verlassen und das weibliche Du wird ihm dabei helfen, „aus dem Himmel aufzuerstehen“. Žarnovs Auswahl zeigt, dass die häufig verwendete Metapher vom tausendjährigen Schlaf in der slowakischen Nationalbewegung mit Mickiewicz korrespondierte. Dem Schema der Auswahl von Mickiewicz-Gedichten folgt Žarnov auch bei Słowacki. Das Gedicht „Môj testament“ [Mein Testament] etwa entspricht in seinem bekenntnishaften Charakter gegenüber der Nation der „Ode an die Jugend“ bei Mickiewicz. Motivisch kreisen die Gedichte um die Themen Schlaf/Tod, Begehren und um die Nation. Das Vermächtnis eines Sterbenden ist, die Hinterbliebenen aufzufordern, sich weiter für die Nation einzusetzen und sich später an den heldenhaften Verstorbenen zu erinnern, daran „dass ich meine jungen Jahre fürs Vaterland gegeben habe; dass solange das Schiff kämpfte, ich auf dem Mast stand, als es jedoch versank – ich mit ihm unterging“³⁹. Słowacki fordert hiermit implizit eine Gedächtnispolitik für die Nation. Der Heldentod für die Nation ist Programm: „Doch ich beschwöre euch – die Lebenden sollen nicht die Hoffnung verlieren und das Licht der Aufklärung soll vor der Nation aufscheinen, und wenn nötig, sollen die Toten in einer Reihe fallen wie das Gestein, das Gott zu Festungen aufgehäuft hat.“⁴⁰ Im weiteren ist die Auswahl der Gedichte durch die christliche Motivik bestimmt. Thematisch aus dem Rahmen fällt das Gedicht „Za rodnú viesku“ [An den heimatlichen Flecken] der Positivistin Marya Konopnicka⁴¹. Mit Konopnicka führt Žarnov das rurale Thema ein. Das Gedicht drückt einen starken inneren Bezug zur ländlichen Heimat aus. Obgleich Žarnov selber ein urbanes Leben führte, be-

38 Žarnov 1936, S. 8 [Šťastný i ten, kto v behu padol práve, ak jeho telo v krvi kale pre iných bude schodom k sláve.] 39 Žarnov 1936, S. 15 [. . . že moje mladé letá dal som za otčinu; že loď kým zápasila, stál som na stožiari, keď tonula však – s ňou som pošiel pod hladinu.] 40 Žarnov 1936, S. 15 [Lež zaklínam – nech živí nádej nestrácaju a svetlo osvety nech pred národom blýska, a keď je treba, mŕtvi radom popadajú, sťa vrhané to skalie Bohom na hradiská.] 41 Vgl. Hvišč 1996, S. 145.

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trachtete er Dorf und ländliches Leben als Kraftquell und Regenerationsort für die Nation. Im Großen und Ganzen ließ sich Žarnov bei der Auswahl der Gedichte von Themen und Motiven leiten, aber auch von ästhetischen Neuerungen in den Gedichten, von denen er sich Anregungen für die slowakische Lyrik versprach. Das heißt, auch wenn er die thematischen Schwerpunkte national und religiös konservativ setzte⁴², schloss das nicht sein Interesse an modernen Impulsen aus. Auf der polnischen Seite fand Žarnovs Anthologie offizielle Beachtung. So verlieh ihm die polnische Literaturakademie in Warschau als Ehrung für die Verbreitung der polnischen Literatur den Silbernen Lorbeer. Darüber wurde in der slowakischen wie auch tschechischen Presse breit berichtet. Im selben Jahr wie Žarnovs Anthologie gab die Matica slovenská Stanislav Mečiars, des nationalistischen Literaturkritikers und späteren Chefredakteurs der Matica-Zeitschrift Slovenské Pohľady, „Poezia a život“⁴³ [Poesie und Leben] heraus, einen Essayband über polnische Literaten. Einige der von Mečiar porträtierten modernen Autoren überschneiden sich mit denen in Žarnovs Anthologie. Das Jahr 1936 war nicht zufällig das Jahr des Erscheinens zweier so wichtiger Werke in Bezug auf die slowakisch-polnischen Kulturbeziehungen. Es war das zehnte Jahr nach Piłsudskis Putsch in Polen und ein Jahr nach seinem Tod. Auch dass die Matica slovenská die beiden Werke herausgab, deutet auf die Absicht hin, die slowakische kulturelle Autonomie zu stärken.⁴⁴ Gerade Mečiar gehörte in dieser Organisation zu den Vorkämpfern für die Reinheit der slowakischen Sprache.⁴⁵ Es ist auch kein Zufall, dass gerade die Schriftsteller und Kritiker, die Hlinkas Volkspartei nahe standen, in der Zwischenkriegszeit polnische Literatur übersetzten. Neben Stanislav Mečiar waren das der Redakteur des Slovák und Abgeordnete Ignac Grebáč-Orlov, der Dichter und Abgeordnete Ján Kovalik-Ústiansky sowie Ján Hrušovský als Romancier und Mitglied der Tschechoslowakischen Volkspartei. Der Bezug auf die polnische Kultur unterhöhlte das Konzept von der tschecho-slowakischen Wechselseitigkeit, indem durch die Stärkung bilateraler Be-

42 In den darauffolgenden Jahren übersetzte Žarnov für die Bühne Theaterstücke von Jarosław Iwaszkiewicz und Zygmunt Krasiński. Bei der Auswahl spielte die christlich-nationale Thematik stets eine übergeordnete Rolle. 1979, drei Jahre vor seinem Tod, gab Žarnov seinen letzten Band mit übersetzten Gedichten heraus, dessen Autor kein geringerer war als Andrzej Jawieńa alias Papst Johannes Paul II. 43 Mečiar, Stanislav: Poézia a život. Eseje o poľskej literatúre [Dichtung und Leben. Essays über die polnische Literatur], Martin 1936. 44 Hvišč sieht die zeitgleich erschienenen Bücher von Žarnov und Mečiar ebenfalls im Kontext der autonomistischen Bewegung stehend, die sich zielgerichtet von der tschechoslowakischen Kulturorientierung habe absetzen wollen. Hvišč 1996, S. 144. 45 Hvišč 1996, S. 144.

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ziehungen die Nähe zur polnischen Kultur betont wurde. Er sollte die kulturelle Eigenständigkeit der Slowaken erhöhen und den tschechischen Einfluss auf die slowakische Kultur eindämmen. Die slowakische Literatur wurde aufgewertet, weil ihre Ähnlichkeit mit der bedeutenderen polnischen aufgezeigt wurde. Slowakische Intellektuelle konnten an Ansehen gewinnen, wenn sie einerseits, wie Žarnov es tat, an die polnisch-katholische Literaturtradition anknüpften, andererseits die ideelle Differenz zur Ideologie des eigenen Staates vergrößerten.

Modernismus und nationalistische Literatur⁴⁶ Unter literarischer „Moderne“ werden im deutschen Sprachraum vor allem die Strömungen Expressionismus, Surrealismus, Symbolismus und Dekadenz verstanden, womit überwiegend formale Kriterien die Klassifizierung bestimmen. Dieses Verständnis ist enger gefasst als jenes des im anglo-amerikanischen Sprachraum verbreiteten, wenn auch jüngeren Begriffs „Modernismus“. Dieses Konzept berücksichtigt auch Kriterien nach bestimmten Wertvorstellungen wie liberal oder konservativ. So kann mit „modernistisch“ in der britischen Literatur eine Strömung bezeichnet werden, die auch noch äußerst konservative bis rechte Positionen umfasst. Das widerspricht dem Alltagsverständnis von „Moderne“, nach dem das Kriterium Fortschrittlichkeit damit verbunden wird. Die kulturellen Entwicklungen im Deutschland der Zwischenkriegszeit lassen sich weniger gut mit den slowakischen Verhältnissen vergleichen als etwa die britischen. In Deutschland zerfiel die Kunst- beziehungsweise Literaturszene in disparate Einheiten. Es gab die modernen, fortschrittlich orientierten Strömungen, die konservative Revolution, die auch eine gewisse Modernität für sich in Anspruch nehmen konnte, und die extrem konservativen wie die breite Heimatkunstbewegung und die quantitativ bedeutende völkische Literatur. Wie in Großbritannien waren die Übergänge zwischen progressiver und konservativer Literatur in der slowakischen Literatur eher fließend. Modernisten taten sich inhaltlich sowohl modernisierungskritisch als auch -befürwortend hervor. Die Modernisierungskritiker thematisierten die Urbanisierung und Industrialisierung, um die Anonymität des urbanen Lebens und die Separierung vom Lebenszyklus auf dem Lande aufzuzeigen. Mit einer antiliberalen Haltung bekämpften sie Individualismus, Vernunft und Fortschritt. Sie versuchten, das Establishment zu schockieren und liebäugelten dabei oft mit politischen, teilweise extremen, auch konträren Ideologien. Sie reflektierten gesellschaftli46 Ausführlicher zum Modernismus-Begriff in den theoretischen Überlegungen im Kapitel 2 dieser Studie.

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che Veränderungen wie das neue Ausmaß an Wohlfahrtsinstitutionen. Aber auch die sich verändernden Genderrollen, eine freizügigere Haltung zu Sexualität und Enttabuisierung⁴⁷ etwa von Homosexualität und Körperlichkeit (Menstruation, Verdauung) gehören zu Merkmalen modernistischer Literatur. Neue Helden und Heldinnen bevölkerten die literarischen Werke: einfache Leute, junge Erwachsene, leidende Soldaten. Gemeinschaftlicher Geist wurde der rationalisierten Gesellschaft entgegengehalten. So stellten britische Modernisten vor dem Hintergrund nationalistischer Vorstellungen das Empire als Großreich in Frage. Eine Aufwertung hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Dimension erfuhr das Kunstwerk. Ihm maß ein Teil der Modernisten eine prophetische Bedeutung bei: Es sollte die Nation durch die Phase des von der Modernisierung hervorgerufenen Konflikts führen. Dieser Anspruch auf moralische Führerschaft wurde oftmals durch die Verwendung von Mythen – wie im nachfolgenden Kapitel ausgeführt – in Szene gesetzt. Ein wesentliches Merkmal, das üblicherweise mit der Vorstellung von moderner Literatur verbunden wird, ist aber die Tendenz zum formalen Experiment. So wurden die literarischen Gattungen innerhalb eines Werkes gekreuzt, zum Beispiel in Poemen mit Prosapassagen, oder die Verse wurden nicht mehr gereimt, die Romanhandlung multiperspektivisch gebrochen. Das formale Experiment steht in der modernistischen Literatur unmittelbar im Zusammenhang mit der Haltung zu Phänomenen der Modernisierung. Doch noch mehr als dieses stellten die zahlreichen Kennzeichen wertkonservativer Haltungen gegenüber den modernen gesellschaftlichen Entwicklungen Anschlussmöglichkeiten für nationalistisch orientierte Literaten dar. Ihr Vorhaben, die Kategorie „national“ in der Gesellschaft zu etablieren, stand in kausalem Zusammenhang mit dem Prozess der Modernisierung. Dem „Modernismus“ wohnte eine ambivalente politische Anschlussfähigkeit inne, wie Pericles Lewis formuliert: The political paradox of modernism was that literary experiment sometimes participated in the turn to authoritarian nationalism of a d’Annunzio, but just as often led to the cosmopolitan revaluation of national identity implicit in the multilingual punning of Finnegans Wake.⁴⁸

Lewis attestiert dem Nationalismus eine große Anziehungskraft auf die Modernisten, weil der Liberalismus für diese in wesentlichen Punkten versagt hatte. Die

47 Karol Sidors Titel gebende Erzählung des Bandes „Kliatba nenárodených“ [Der Fluch der Ungeborenen], Ružomberok 1922, ist in diesem Zusammenhang als konservative, aber doch öffentliche Reaktion auf Abtreibungen zu verstehen. In seiner Erzählung schwimmen abgetriebene Föten von überall her ins Meer, wo sie zu einer manifesten Anklage der geraubten Lebenschance werden. 48 Lewis 2000, S. 215.

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Hinwendung zu nationaler Solidarität und sozialer Gleichheit – beides sämtliche Staatsbürger einschließend – ließ zu wenig Spielraum für Verschiedenheiten. Die Verheißung von Privatheit und Autoritarismus im Gegensatz zu einer demokratischen Öffentlichkeit erschien den Modernisten besonders stark, wo die liberalen Institutionen scheinbar zu wenig Brüderlichkeit und freundschaftliche Beziehungen innerhalb der Nationen und untereinander etabliert hatten. Die slowakischen Autoren, die sich thematisch mit der Nation befassten, gehören weitgehend der modernen Literatur an. Der slowakische Literaturwissenschaftler Michal Habaj⁴⁹ führt den Begriff der „zweiten Moderne“ ein, der dem engeren, deutschen Moderne-Begriff entspricht. Für ihn ist das Anknüpfen an formale Experimente der Jahrhundertwende als erster Moderne dafür maßgeblich. Zwar behandelt er nach diesem Konzept auch nationalistisch auftretende Autoren, etwa Gašpar und Hrušovský, jedoch ohne deren nationalistische Dimension über das rein Motivische bzw. Topische hinaus zu erfassen. Bei der nationalistischen Literatur handelte es sich um eine Spielart von Moderne, die provoziert durch den historischen Kontext deutlich antiliberalistisch geprägt war.⁵⁰ Gar nicht überraschend knüpfte diese Schriftstellergeneration, die teilweise um die kurzlebige slowakische Literaturzeitschrift Svojeť in Prag entstanden war, explizit nicht an die Tradition slowakischer Literatur an, sondern suchte sich ihre Vorbilder und Inspirationen in der europäischen Moderne, etwa bei d’Annunzio, Maeterlinck, Hamsun, Wilde oder Eliot. Nicht von ungefähr finden sich darunter renommierte Autoren, die in der Zwischenkriegszeit mit autoritären, rechtspopulistischen Parteien sympathisierten und kommunitaristische Werte bei aller formalen Modernität dominant vertraten. Statt zum Beispiel von einer „zweiten Moderne“ auszugehen, wäre die Spezifizierung als „Hochmoderne“ in Anlehnung an das anglo-amerikanisch „Highmodernism“ dienlich. Kennzeichnend für den Hochmodernismus sind laut Pericles Lewis der publikumsnahe Stil, der Mythen- und Traditionsbezug sowie die Verbindung der experimentellen Form mit epischer Ambition.⁵¹ Vor diesem Hintergrund stehen literarische Modernität und nationalisierende Absichten in der Literatur in einem Spannungsverhältnis. Es wirft Fragen danach auf, wie moderne Elemente mit konservativen Vorstellungen versöhnt werden, ob die nationalistische Literatur die Modernität der slowakischen Literatur zu jenem Zeitpunkt sogar förderte und schließlich welche spezifische Rolle den Mythen bei der Verbindung von Nationalismus und Modernität zukam. Die Frage nach dem

49 Habaj, Michal: Druhá moderna [Die zweite Moderne], Bratislava 2005. 50 Detaillierter dazu in der Theoriediskussion im zweiten Kapitel dieser Arbeit. 51 Lewis, Pericles: The Cambridge Introduction to Modernism, Cambridge 2007.

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Verhältnis nationalistischer Literatur zur Modernität kann auch die relativ starke Beachtung der nationalistischen Autoren bei ihren Zeitgenossen erklären.

Mythenadaption Mythen spielten ideengeschichtlich eine große Rolle zu Beginn des 20. Jahrhunderts. „Mythos“ wurde zum ideologisch-politischen Kampfbegriff, da er sich durch seine strukturellen Besonderheiten für eine bestimmte rechtspopulistische Politik eignete: Der politische Mythos lebt davon, dass er nicht nur Irrationalitäten versammelt, sondern den Begriff selbst unbestimmt lässt und Inhalte der chauvinistisch gewendeten romantischen Nationalmythologien mit einem politischen Voluntarismus verbindet.⁵²

Der politische Voluntarismus äußerte sich dabei im Versuch, utopische Ideen selbst unter dem rücksichtslosen Einsatz von Machtmitteln umzusetzen. Georges Sorel als Wegbereiter dieses Denkens bestimmte den – rational unzugänglichen, aber anschaulichen⁵³ – Mythos von seiner unmittelbaren Wirkung auf den Glauben und die Opferbereitschaft her. Mussolini, der von Sorels Schriften beeinflusst war, betonte in ähnlicher Weise den performativen Aspekt und die handlungsleitende Funktion des Mythos: „Er ist dadurch Wirklichkeit, dass er Ansporn ist, Hoffnung, Glaube und Mut.“⁵⁴ Im Deutschland der Zwischenkriegszeit verbreitete Carl Schmitt in Anlehnung an Sorel und mit Bezug auf Mussolini die Idee des politischen Mythos. Diese seit dem 20. Jahrhundert neue Bedeutungsebene des Mythos-Begriffs erfordert, dass Mythen stärker auf ihre Funktion, auf den Kontext und die Absicht ihrer Verwendung untersucht werden. Mythen nutzten auch modernistische Schriftsteller vielfach als Modelle, auf denen sie ihre Hauptwerke aufbauen konnten. Der amerikanische Wahlbrite T. S. Eliot prägte in einem Essay über James Joyces „Ulysses“ den Begriff „mythical method“. Nach Eliot war diese „simply a way of controlling, of ordering, of giving a shape and a significance to the immense panorama of futility and anarchy which is contemporary history“.⁵⁵ Nach der mythischen Vorlage erschufen die Modernisten

52 Müller, Ernst: mythisch, Mythos, Mythologie. In: Karlheinz Barck (Hg.), Handbuch ästhetischer Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 4, Stuttgart 2002, S. 309–341; hier S. 336. 53 Vgl. Eintrag „Mythos, Mythologie“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 6., hrsg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Darmstadt 1984, S. 309. 54 Müller 2002, S. 337. 55 Zit. nach Lewis 2007, S. 146.

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zumeist ein kritisches Bild von der Gegenwart, oftmals auf die Situation ihres Landes bezogen. Das galt für Joyces „Ulysses“ für T. S. Eliots „The Waste Land“ und vor allem auch für Ezra Pounds „The Cantos“, in denen dieser die Ablehnung gegenüber den USA und der Demokratie ausdrückte und das vor allem auch in seiner Sympathie für den Faschismus stark von der historischen Situation beeinflusst war. Die Nähe zu autoritären Ideen zeigte sich an T. S. Eliots Hinwendung zum Mythos. Eliot übernahm die Rolle eines Künstler-Politikers und versuchte als solcher mit seiner „mythischen Methode“ einen „Kontrapunkt zum vulgären Chaos des 20. Jahrhunderts zu setzen“.⁵⁶ Mythen waren seiner Ansicht nach in der Lage, eine Ordnung in die Vergeblichkeit und Anarchie der zeitgenössischen Geschichte zu bringen. Ein Kennzeichen dieser Beispiele modernistischer Literatur ist, dass mythologisches und historisches Narrativ in ein Spannungsverhältnis treten. Vergangenheit und Gegenwart werden dabei permanent, und zwar über das subjektive Erleben, parallelisiert. Auf den handlungsorientierten, performativen Aspekt dieses Merkmals modernistischer Literatur wies 1941 der Literaturwissenschaftler Kenneth Burke hin. Demnach sei jedes Narrativ ein „socially symbolic act“, der die Widersprüche der Geschichte in einer imaginierten Form löst: „Critical and imaginative works are answers to questions posed by the situation in which they arose. They are not merely answers, they are strategic answers, stylized answers.“⁵⁷ Gerade die strategische Absicht, dass heißt der wirkungsästhetische Aspekt, spielt in jenen Texten eine herausragende Rolle, die eng an einen politischen Kontext gebunden sind, direkt oder indirekt auf ihn Bezug nehmen. Die strategische Absicht korrespondiert auch mit den politischen Auffassungen Sorels, Mussolinis oder Schmitts vom Mythos. Mit dem Begriff der strategischen Absicht ist die spezifische Funktion von Mythen angesprochen, Vorgänge der Welt nicht nur rückwirkend zu erklären, sondern auch handlungsleitende Zielvorstellungen anzubieten, etwa die Utopie einer erneuerten Gesellschaft. Gleichzeitig können Mythen als pathetisches Stilmittel effektvoll eingesetzt werden und die Erhabenheit eines rational nicht fassbaren, überwältigenden Ereignisses erzeugen. Es zeigt sich etwa in den untersuchten Werken, dass mythologische Elemente besonders dann zum Einsatz kommen, wenn eine höhere Erkenntnis die Vorstellung von der Nation betreffend ausgedrückt werden soll. Motive für ihre Texte bezogen slowakische Nationalisten häufig von der christlichen Mythologie. Das trifft sowohl auf politisch-programmatische Texte zu

56 Coupe, Laurence: Myth, London 1997, S. 38. Eliot formulierte dies aufgrund seiner Lektüre von Joyces „Ulysses“ und projizierte seine eigenen Vorstellungen vom Mythos in dessen Text. Vgl. Hendy, Andrew Von: The Modern Construction of Myth, Bloomington Indianapolis 2002, S. 146. 57 Zit. nach Coupe 1997, S. 177 f.

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als auch auf sonstige publizistische und literarische Veröffentlichungen. In solchen Texten ist die Erzählstruktur entweder dem christlich mythologischen Narrativ nachgebildet oder Elemente daraus werden verwendet und umgeschrieben.

Auferstehungsmythen Einige Modernisten nutzten den Christus-Mythos, um die Rolle des Schriftstellers zu reflektieren. Joyce und d’Annunzio etwa bezogen sich auf die Symbolik von Auferstehung und Inkarnation, um die Rolle des Erzählers als Verkörperung des nationalen Willens zu beschreiben. Besonders dramatisch stellte d’Annunzio den eigenen, im Krieg verletzten Körper als Ort der Wiedergeburt der italienischen Nation dar.⁵⁸ Die Christologie, das heißt die literarische Adaption der Jesus-Geschichte, bot sich für nationalistische Autoren an, weil Jesus zum einen das Martyrium verkörperte, welches sich als Ist-Zustand praktisch bei jeder sich neu formierenden oder unter Fremdherrschaft befindlichen Nation feststellen ließ. Zum anderen liegt in der Auferstehung die Möglichkeit, das Martyrium in einem neuen Zustand zu überwinden, was sich als Handlungsanleitung ebenfalls für eine nationale, auf eine künftige Gesellschaftsform gerichtete Mobilisierung übertragen ließ. Nationalistische Bearbeitungen des Auferstehungsmotivs beziehen sich in der Regel auf biblische Texte. Die bekanntesten sind Jesus’ Auferstehung und die analoge Auferstehung der Toten am Tag des Jüngsten Gerichts. Doch gibt es auch andere Stellen, etwa die Vision von Ezechiel im Alten Testament, in der eine Auferstehung von Toten geschildert wird. In der Abfolge der Konflikte und Krisen innerhalb des christlichen Erlösungsnarrativs folgt die Auferstehung auf die Kreuzigung, dem erlösenden Opfer Jesus’.⁵⁹ Jesus’ Auferstehung wird heute zumeist so interpretiert, dass Leben und Liebe stärker sind als der Tod, dass jedes Scheitern oder Leiden eine Bedeutung hat und wieder Leben schafft. Jesus’ Schicksal gibt so ein Beispiel perfekter Menschlichkeit.⁶⁰ Die Geschichte von Jesus’ Auferstehung geht dem Tag des Jüngsten Gerichts erzählerisch voraus. An jenem Tag erstehen die Toten auf, bringen ihre Klagen vor dem Gericht zu Gehör, und der auferstandene Jesus Christus entscheidet als Richter, wer ins kommende Himmelsreich einziehen darf und wer in die Hölle muss.

58 Lewis, Pericles: Modernism, Nationalism, and the Novel, Cambridge 2000, S. 178. 59 Ein Vorschlag zur narrativen Struktur nach Stationen bei Blackwell, Trevor, Seabrock, Jeremy: The Politics of Hope, Boston 1988, S. 111. 60 Dabezies, André: Jesus Christ in Literature, in: Pierre Brunel (ed.), Companion to Literary Myths, Heroes and Archetypes, London 1996, S. 637–645; hier S. 644.

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Der Erlösungsmythos als ganzer erzählt von einem gewaltsamen Bruch zwischen der gegenwärtigen Ordnung und einer neuen Existenz. Aus einer Katastrophe entsteht eine neue Welt. Die Johannesoffenbarung, welche die Erlösungsvision in der Apokalypse schildert, wurde in einer Zeit aufgeschrieben, als Jesus’ Anhänger von Rom verfolgt wurden. Sie hatte deshalb eine rhetorische Funktion, und zwar die eines Aufrufs zum Durchhalten, indem sie das Versprechen der Erlösung gab.⁶¹ Der Auferstehungsmythos ist konstitutiv auch für die Denkrichtung des politischen Messianismus. Eine zentrale Funktion übernimmt darin die Utopie, die auf einen Idealzustand vorausweist, in dem die gegenwärtigen schlechten Verhältnisse überwunden sein werden. Ein politischer Messias soll die Massen auf diesem Weg führen, wobei der Mythos der Nation mobilisiert wird, um eine revolutionäre Zukunftsvision zu schaffen.⁶² Die Tradition des hegelianischen Messianismus aus der slowakischen Romantik wurde in der Zwischenkriegszeit wieder aufgenommen und dabei vor allem mit dem Namen Ľudovít Štúrs (1815–56) verbunden. Doch muss hier auch der Mitbegründer des polnischen politischen Messianismus, der Schriftsteller Adam Mickiewicz (1798–1855), mit seiner weitaus größeren Ausstrahlung erwähnt werden.⁶³ Kaum jemand hat so prominent wie er die Erzählung von Christus’ Auferstehung mit der Auferstehung eines Volkes analogisiert. In den „Büchern der polnischen Nation und des polnischen Pilgertums“ heißt es etwa: „Und so wie mit dem auferstandenen Christus alle blutigen Opfer auf der Erde aufhören, so enden mit der auferstandenen Nation die Kriege im Christentum.“⁶⁴ Als katholischer Autor wurde Mickiewicz von den slowakischen nationalistischen Autoren bewundert, was sich in Übersetzungen niederschlug. Unter den englischsprachigen Schriftstellern beteiligte sich am Auferstehungsdiskurs besonders D. H. Lawrence in seiner Auseinandersetzung mit Italien. Die

61 Coupe 1997, S. 75–77. 62 Seitschek, Hans Otto: Politischer Messianismus. Totalitarismuskritik und philosophische Geschichtsschreibung im Anschluss an Jacob Leib Talmon, Zürich 2005, hier S. 77 f. 63 Peter Káša stellt in seinen vergleichenden Untersuchungen zwischen polnischer und slowakischer Literatur des 19. Jahrhunderts bei Štúr einen bestimmten Typ des „politischen Messianismus“ oder einer „visionären Utopie“ fest, unterscheidet diese indessen vom angeblich „religiösen Messianismus“ Mickiewiczs, da es Štúr nicht um den „triumphierenden Christus“, sondern um ein neues „institutionalisiertes Slawentum“ gegangen sei. Káša, Peter: Medzi estetikou a ideológiou. Literárnohistorické a komparatistické štúdie [Zwischen Ästhetik und Ideologie. Literaturgeschichtliche und komparatistische Studien], Prešov 2001, S. 45. 64 Zit. nach Káša 2001, S. 57. Káša vergleicht programmatische Texte Mickiewiczs mit jenen von Autoren der slowakischen Nationalbewegung. P. J. Šafárik etwa und Mickiewicz seien sich zwar nie begegnet, hätten aber dreißig Jahre lang die Texte voneinander rezipiert, was sich in beider Werke niedergeschlagen habe.

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seiner Meinung nach tief in älteren paganen Traditionen verwurzelten Italiener hielt er für ein perfektes Modell des „Blut-Bewusstseins“ (blood-consciousness)⁶⁵. Die Italiener würden einem unbewussten Antrieb folgen und aus einem instinktiven Zusammen- und Zugehörigkeitsempfinden heraus handeln. Deshalb glaubte Lawrence, in Italien den idealen spirituellen Ort für die Auferstehungsidee gefunden zu haben. Sein Interesse galt indes nicht einer geistigen Wiedergeburt, sondern einer leibliche Erneuerung. In diesem Sinne ästhetisierte er den religiösen Mythos. Zu Beginn der Zwanzigerjahre verarbeitete er das Auferstehungsmotiv besonders in Texten über den Anspruch einzelner Personen auf Führerschaft. Es ist davon auszugehen, dass slowakische Intellektuelle, insbesondere die nationalistischen Autoren, diese Entwicklung der späten europäischen Moderne verfolgten. Sie konnten sich im philologischen Studium, während Studienaufenthalten, durch selber angefertigte Übersetzungen, durch auszugsweise Abdrucke in Zeitschriften oder auch mittels Ausleihe in Bibliotheken, etwa der Universitätsbibliothek in Bratislava, mit modernistischen Autoren bekannt machen.

8.3 Martyrium, Auferstehung und Reinigung Ein öffentlichkeitswirksamer Beitrag, der die Idee der Auferstehung im slowakisch nationalistischen Diskurs der Nachkriegszeit lancierte, war die Rede Ferdiš Jurigas⁶⁶ vor dem ungarischen Parlament am 19. Oktober 1918. Der Redner war

65 Franks, Jill: Revisionist Resurrection Mythologies. A Study of D. H. Lawrence’s Italian Works, Paris 1994, bes. S. 53. 66 Juriga gehört zu jenen historischen Figuren, die nach dem Ende des kommunistischen Regimes in die slowakische nationale Geschichte reintegriert wurden, angefangen mit dem Tagungsband „Ferdiš Juriga. Zborník referátov zo seminára Život a dielo Ferdiša Jurigu“ [Ferdiš Juriga. Sammelband der Referate aus dem Seminar Leben und Werk Ferdiš Jurigas], Bratislava 1992. Ferdiš Juriga (1874–1950) war ein katholischer Priester, der sich früh für die Verbreitung der slowakischen Sprache einsetzte. Er war ein aktiver Politiker an der Seite Andrej Hlinkas, stand aber in dessen Schatten. Wegen anhaltender Kontroversen mit Vojtech Tuka und Andrej Hlinka wurde er 1929 aus der Hlinka-Partei ausgeschlossen und zog sich aus der Politik zurück. Danach widmete er sich vollständig der Bildungstätigkeit der Slovenská Liga, deren stellvertretender Vorsitzender er von 1922 bis 1939 war. Er war als Redakteur publizistisch außerordentlich produktiv, veröffentlichte mehr als 800 Zeitungsartikel, vor allem in der Wochenzeitung Katolické noviny/Slovenské ľudové noviny, wo er regelmäßig leitartikelte; er schrieb aber auch für den Slovák. Vgl. Letz, Róbert: Juriga, Ferdinand, in: Lexikón katolíckych kňažských osobností Slovenska, [Lexikon katholischer Würdenträger] Bratislava 2000.

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unter seinen Zeitgenossen eine umstrittene Persönlichkeit sowohl als katholischer Priester als auch als autonomistischer Politiker. Dennoch ist er in die slowakischen Geschichtsbücher als derjenige eingegangen, der als slowakischer Abgeordneter im ungarischen Parlament die Auferstehung [vzkriesenie] der slowakischen Nation verkündet hat. Mit seiner Rede – der ersten auf Slowakisch im ungarischen Parlament – am Ende des Ersten Weltkrieges proklamierte Ferdiš Juriga das Thema der Auferstehung für die autonomistische Bewegung. Er hatte diese Idee zuvor schon in seiner 1906 in Budapest publizierten Schrift „Blahozvesť“ [Frohe Botschaft] und danach wieder in seinen Memoiren von 1934 „Blahozvesť kriesenia slovenského národa a Slovenskej krajiny“ [Frohe Botschaft der Auferstehung der slowakischen Nation und der Slowakei] ausgeführt. Im slowakischen Staat wurde die Rede 1943 in Form einer eigenständigen Jubiläumsschrift unter dem Titel „Ohlas vzkriesenia slovenského národa dňa 19. Októbra 1918 zvestoval Dr. Ferdiš Juriga“ [Verkündung der Auferstehung der slowakischen Nation am 19. Oktober 1918 durch Ferdiš Juriga] publiziert. Die Rede wurde in gedruckter Form⁶⁷ in einer Einheit präsentiert, die ihrer teilweisen Spontaneität und von Zwischenrufen der ungarischen Parlamentarier unterbrochenen Darbietung nicht entsprach. Juriga fordert in seiner Rede das Selbstbestimmungsrecht für die slowakische Nation, und zwar als Mitglied des Slowakischen Nationalrates, den es zu diesem Zeitpunkt offiziell noch nicht gab. Er erklärt, der Weltkrieg habe einen schweren Stein von der Seele der slowakischen Nation gewälzt (wir können hier spezifizieren: einen Grabstein), der ihre Auferstehung seit der Schlacht bei Bratislava im Jahr 907 verhindert habe, als durch Mojmírs Tod⁶⁸ das Selbstbestimmungsrecht und auch das historische Staatsrecht sowie das besondere religiöse Selbstbestimmungsrecht im Gefolge der Heiligen Cyril und Method ins Grab gelegt wurden. Seit der Schlacht bei Bratislava habe das slowakische Aschenbrödel (statt Dornröschen, Anm. d. Verf.) wie eine verwunschene Prinzessin ohnmächtig geschlafen, mit Hoffnung auf die Geschichte: „Bratislava, Bratislava, Hier wird unser Ruhm erstrahlen; Wenn die slowakischen Gräber sich öffnen, erschaffen sie uns ein neues Leben.“⁶⁹

67 Juriga, Ferdiš: Deň vzkriesenia!, in: Slovenské ľudové noviny, 9, 25. Oktober 1918, S. 1. 68 Mojmír II. gilt als letzter slawischer Herrscher des Großmährischen Reiches, das sich im 9. Jahrhundert in Zentraleuropa befunden haben soll. Er starb im Jahr 906, im darauffolgenden Jahr fand vor Brezalauspurc (Bratislava) an der Donau eine Schlacht zwischen bayrischen und ugrischen Truppen statt. Diese Schlacht wird als Beweis dafür genommen, dass das Großmährische Reich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr existierte. Vgl. Čaplovič, Dušan, Čičaj,Viliam u. a.: Dejiny Slovenska. [Geschichte der Slowakei], Bratislava 2000, S. 92 f. 69 [Bratislava, Bratislava, Tu zasvitne naša sláva; Keď slovenské hroby sa otvoria, Nový život nám utvoria.]

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Juriga baut seine Rede auf mythologischen und folkloristischen Argumenten auf. Seine Belege für das Schicksal der slowakischen Nation in der Vergangenheit sind Verse aus slowakischen Gedichten des 19. Jahrhunderts. Er bedient sich in seiner weiteren Argumentation aus einem Fundus von literarischen Traditionen, nationalen Erweckungskonzepten, Volkskultur und einem Geschichtsmythos. Über den Ort Bratislava konstruiert er eine historische Kontinuität vom Ende des vorgeblich slowakischen Großmährischen Reiches (Mojmír 907) bis in die Gegenwart. Eingebettet sind die argumentativen Versatzstücke in das christliche Narrativ, das ihnen eine kohärente Bedeutung von der Gegenwart aus verleiht, und zwar durch den Moment der Auferstehung der Toten als Bild für das slowakische Volk, das nun sein Selbstbestimmungsrecht einfordert, um erlöst zu werden und in das nationale Himmelreichs einzutreten. Mit Hilfe des Auferstehungsmotivs formuliert er seine politischen Ideen. Als katholischer Priester deutet er selber eine christliche Idee zu nationalistischen Zwecken um und legitimiert somit ihre politische Instrumentalisierung. Ihre Vorstellungen über die zukünftige Gestalt der slowakischen Nation äußerten die Ideologen der Volkspartei mitunter in den Zeitschriften der jungen Nationalisten. 1921 etwa steuerte Vojtech Tuka einen Artikel zu Vatra über das „Slowakische Erwachen“⁷⁰ bei. Er war zwar nicht der erste, der die Formierung des politischen Subjekts Slowakei in den Metaphernkomplex des Erwachens kleidete. Doch als ideologisches Konzept formulierte er es als einer der radikalsten Nationalisten erstmals in dieser Deutlichkeit. Die Leistung dieses Konzepts besteht vor allem darin, dass es auf spezifische Weise nationale mit katholischen Ideenbeständen verbindet. Die Idee des Erwachens aus einem tausendjährigen Schlaf bildet den Kern des Metaphernkomplexes bei Tuka: Die Slowakei solle nach langem Winterschlaf aufstehen, der Frühling sei angebrochen. Er bezieht sich auf ein 700 Jahre altes Dokument, das für die slowakische Kontinuität der Generationen bürgen soll. Doch auch die klischierten „1000 Jahre“ seit dem vermeintlichen Großmährischen Reich werden erwähnt, als eine Zeit, in der die slowakische Nation wie eine Pflanze vom Schnee bedeckt gewesen sei. Nun sei die Sonne der Freiheit aufgegangen und die rechte Zeit für die zerbrechliche Pflanze angebrochen, um auszutreiben. Tuka behält das Pathos bei, um von der historischen Mission der Slowakei zu schreiben, die nur im Einklang mit Gott zu erfüllen sei, als christliches Bataillon. Charakteristisch für diesen Text wie auch stets für die Abwandlungen der Motivik ist, dass das Erwachen den Beginn eines Prozesses bedeutet und die Auferstehung den Prozess als solchen, der auf ein Ereignis oder einen Zustand in

70 Dr. Vojtech Tuka: Slovenské prebudenie, in: Vatra, 4, 1, September 1921, S. 2–4.

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der Zukunft vorausweist. So läuft Tukas Text auf einen Aufruf zum Kampf hinaus, in dem auch mit Opfern zu rechnen sei. Diese Ideologie rüstet sich demnach zu einem langen und zähen Kampf und gibt sich gerade nicht mit dem Status quo zufrieden, sondern möchte in der Gegenwart durch Erwachen und Auferstehung eine Zäsur setzen, auf welche die „Freiheit“ folgen soll. Die zum zentralen Motivkomplex gehörende Vorstellung von der Erneuerung wirft die Frage auf, auf welche vorgängige Existenz überhaupt Bezug zu nehmen ist. Die jungen slowakischen Nationalisten beantworteten dies mit dem katholischen Glauben. Als großes Ziel der Jugendbewegung wurde auf dem zweiten Jugendkongress formuliert, „für eine neue christliche slowakische Slowakei zu arbeiten“. Offiziell sollten die Wiedergeburt der Nation im Geiste Christus und die Hebung des moralischen, kulturellen und wirtschaftlichen Niveaus erreicht werden.⁷¹ Eine „slowakische Slowakei“ hieß im Klartext, eine Slowakei, in der Slowaken im Besitz der Macht sind. Den Konzepten von Erwachen, Auferstehung, Erneuerung und Freiheit liegt der umfassende Mythos von der unterdrückten Nation zugrunde. Aus diesem werden alle weiteren Mythen abgeleitet. Mit Hilfe der Mythologeme wurde fortlaufend an dem einen großen Mythos von der in der Vergangenheit und in der Gegenwart noch immer unterdrückten slowakischen Nation gearbeitet. Da es in der ferneren Vergangenheit weder eine Slowakei noch eine slowakische Nation gegeben hatte, waren gerade die Schriftsteller für den slowakischen Nationalismus so bedeutend, weil sie aus dem Mythos eine Handlungsressource für die Gegenwart ableiteten. Der Primärmythos des unterdrückten Volkes bzw. des nationalen Martyriums war der Generator für die Folgemythen vom Erwachen und Auferstehen als Formen der Überwindung des Todes. Die Autoren arbeiteten somit am kollektiven Gedächtnis, in das sich die individuellen Erfahrungen der Mitglieder der Sprachgemeinschaft einfügen ließen.

Auftrag der Toten bei Tido Gašpar Tido J. Gašpar reflektiert in seiner Erzählung „Deputácia mrtvých“⁷² [Die Abordnung der Toten] aus dem gleichnamigen Erzählungsband von 1922 die Stellung der Slowaken in der tschechoslowakischen Republik. Der Text erschien relativ bald nach der Staatsgründung und war deutlich programmatisch eingefärbt. Gašpar gestaltet darin die Idee von einer unzerstörbaren Kraft, der Seele eines Volkes, als

71 Sjazd katol. Mládeže [Kongress der kathol. Jugend], in: Vatra, 3, 1, September 1920, S. 21 72 Gašpar, Tido: Deputácia mrtvých a iné kresby [Die Abordnung der Toten und andere Skizzen], Martin 1922.

8.3 Martyrium, Auferstehung und Reinigung |

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Leitmotiv. Diese Vorstellung hatte gut hundert Jahre zuvor Friedrich Ludwig Jahn als „Volkstum“ bezeichnet: Den Charakter beugt die Not nicht zum Brechen nieder, neukräftig ersteht er aus Leiden, wie die hinschmachtende Blume vom Himmelstau gebadet. Was im gewöhnlichen Lebensgewühl der edle Charakter vollendeter Menschen; das im Völkergebiete das Volkstum.⁷³

In Jahns Konzept, das sich bei Gašpar wiederfinden lässt, kann ein Volk nicht nur auferstehen, sondern aus einer Zeit des Leidens gestärkt hervorgehen. Gašpar konstruiert analog die Geschichte des slowakischen Volkes als die kontinuierliche Geschichte einer Leidensgemeinschaft. In der Erzählung wird mit Hilfe des mythischen 1000-jährigen Schlafes – als Zeit der Versklavung des Volkes – die Existenz und das Erwachen von Urkräften aus einem einen Traum des Ausruhens [sen odpočinku] beschrieben. Die Hauptfigur ist Beamter des neu gegründeten Staates und sichtet Akten, womit auf eine nationale Geschichte in Form von Niederschriften hingewiesen wird. In einer nächtlichen Vision erscheint ihm eine Abordnung von Toten aus dem 18. Jahrhundert: „Wir kamen, um dein Herz zu erwecken. . . Der lebendige Schlag eines erweckten Herzens kann Tausende schlafender Herzen erwecken.“⁷⁴ In der Stimme des „unbekannten Rhapsoden“ vernimmt der Protagonist „etwas wie von einem geheimen Versprechen des großen vorausgesagten Wunders der Öffnung der Gräber“.⁷⁵ Damit wiederholt Gašpar beinah wörtlich eine Formulierung aus Jurigas Auferstehungsrede. Die tödlichen Wunden der Vorfahren spürt die Figur am eigenen Leib, was auf die Vorstellung von Instinkt und auch Lawrences „Blood-conscious“ hindeutet. In der Vision wird die Hauptfigur Zeuge der Auferstehung der slowakischen Väter aus dem Grabe und erhält das Mandat, ihre spirituelle Kontinuität in der Gegenwart zu gewährleisten. Hervorzuheben ist an Gašpars Text, dass er die Wiedergeburt der Nation erst in die Zeit nach der Wende von 1918 setzt. Die Zeit der protestantisch dominierten „nationalen Erweckung“, das 19. Jahrhundert, wird ausgeklammert. Indem er die Vergangenheit der Slowaken ins 18. Jahrhundert verlegt, betont der Dichter die katholische Tradition der nationalen Erweckung.

73 Jahn, Friedrich Ludwig: Deutsches Volkstum, Berlin 1991, 37. Das Buch wurde zuerst 1810 veröffentlicht; kurz nach seinem Erscheinen übersetzte Josef Jungmann Passagen daraus ins Tschechische. 74 S. 13 [Tvoje srdce sme prišli prebudiť. . . Živý tlkot jedného prebudeného srdca môže byť budičkom tisícich spiacich sŕdc!] 75 S. 15 [. . . v jeho hlase chvelo sa niečo, ako tajne zaručenie veľkého predpovedaného zázraku o otváraní hrobov.]

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In seinen Memoiren verweist Gašpar auf den programmatischen Charakter dieses Textes: Ich war ein Gefangener der Vergangenheit. In meinem geistigen Erbe ererbte ich wirklich starke Verpflichtungen. Die lebendige Kontinuität verband mich mit der Welt der Väter. Unsere Vergangenheit war für mich voller Vermächtnisse. (. . . ) Und was ist mit meiner Abordnung der Toten? Das war ebenfalls die Zuteilung eines wichtigen Teils des Vermächtnisses der Vorfahren. Primitiv zwar, aber im Grunde schrie es direkt hinaus, dass es hier einmal sehr schlecht war und dass es jetzt besser werden musste!⁷⁶

Im Hinblick auf eine nationalistische Praxis vermittelt Gašpars appellativer Text, dass eine Differenz besteht zwischen der Herauslösung aus dem alten Staatsverband der Monarchie und der darauffolgenden neuen Staatsgründung auf der einen Seite und der nationalen Freiheit auf der anderen Seite. Er führt auf eine anschauliche Weise vor, wie die als misslungen interpretierte nationale Befreiung fortgesetzt werden müsse. Dieses differenzielle Konzept wurde zum wichtigen legitimatorischen Ausgangspunkt slowakischen nationalistischen Handelns nach 1918.

Verkörperungen des nationalen Willens Der evangelische Pfarrer, Politiker und Schriftsteller Martin Rázus basierte sein christlich-nationales Programm auf dem christlichen Mythos der Auferstehung. In einem publizistischen Beitrag zu Ostern schreibt er: Christus der Herr ist auferstanden von den Toten! Der Gekreuzigte! Der, in dem die vollkommene Wahrheit und das Leben erschienen!! Wie oft schon wurde die Wahrheit gekreuzigt? Wie oft löschte das Leben aus? Dennoch dämmerte der heilige Morgen des Ostersonntags! So war es mit der göttlichen Wahrheit! So war es auch mit unserer slowakischen Wahrheit!! Und die Wahrheit Gottes erschien in Christus und die slowakische Wahrheit erscheint in uns!⁷⁷

76 Gašpar, Tido J.: Pamäti/I. [Erinnerungen], Bratislava 1998, S. 203. [Bol som zajatcom minulosti. Vo svojom duchovnom dedičstve zdedil som naozaj silné záväzky. Pojila ma živá kontinuita so svetom otcov. Naša minulosť bola mi plná odkazov. (. . . ) A čo moja Deputácia mŕtvych? To bolo tiež zdelenie vážnej časti z odkazu predkov. Primitívne sice, ale v podstate priamo kričalo o tom, že tu kedysi bolo veľmi zle a že teraz tu musí byť lepšie!] 77 Martin Rázus: Na Vzkriesenie [Zur Auferstehung], in: Národie noviny, 57, 76, 4.4.1926, S. 1 [Kristus Pán vstal z mrtvých! Ten ukrižovaný! Ten, v ňom sa objavila dokonalá pravda i život!! Koľko ráz bola už pravda križovaná? Koľko ráz vyhasol ten život? Jednako svitlo posvätné ráno Velikej nedele! Tak to bolo s Božou pravdou! Tak i s našou pravdou slovenskou!! A pravda Božia zjavila sa v Kristu a slovenská pravda javí sa v nás!]

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Ohne weiteres parallelisiert Rázus die christliche Auferstehung mit der nationalen Auferstehung, die allerdings noch in der Zukunft liegt. Diese Parallelisierung ist möglich, weil die Nation als Mensch vorgestellt wird ebenso wie Christus. Die Personifizierung der Nation ist eine wesentliche Voraussetzung für den Charakter eines organisch-biologischen Nationalismus und ein geeignetes Mittel für weitere Fiktionalisierungen. Rázus baut im selben Text die Metaphorik aus: Mir scheint – ich sehe ein Grab und darauf einen Stein gewälzt! Ist unsere slowakische Gesellschaft würdig des Ostersonntags? Hat sie eine Seele, die den Schmerz der Ärmsten spürt? Hat sie eine großzügige Hand für das, was nötig ist? Weiß sie sich zu entflammen für das gemeinsame nationale Ideal – selbstlos? Begreift sie, dass öffentliches Handeln kein schmutziges Kartenspiel ist, wo alles erlaubt ist, sondern die heilige Pflicht, den Stein vom Grab zu wälzen?⁷⁸

Hier wird die Verbindung von christlicher und nationaler Mythologie expliziert. Wenn man sich die Beachtung, die Rázus als Intellektueller genoss, vergegenwärtigt, ist auch von einer gewissen Ausstrahlung auf die Öffentlichkeit auszugehen. Zwei Jahre später verwendet Rázus neu den Begriff des „nationalen Organismus“⁷⁹, der implizit auch der früheren Parallelisierung von Jesus und der Nation zugrunde lag. Ein lebendiger Organismus wie die Nation ist durch den Tod bedroht, im Fall der Slowaken seien das „nationale Unwissenheit“ [neujasenosť] und „konfessionelle Voreingenommenheit“ [predpojatosť]. Bislang seien die Slowaken noch nicht von den Toten auferstanden und müssten deshalb noch einen langen Weg von Golgata bis zur „richtigen Auferstehung“ gehen. In einem kurz vorher erschienen Text über die „Philosophische Grundlage des slowakischen Nationalismus“ schreibt Rázus, dass es die Aufgabe des Nationalismus wäre, „den Schmerz der ärmsten Schichten zu lindern“. „Hier ist die noch immer nicht gelöste Aufgabe für den slowakischen Nationalismus, deren Grundlage der lebendige Puls des Organismus ist, der nicht sterben möchte, und der Schmerz, der aus dem Elend kommt.“⁸⁰ Ebenfalls ein Körper ist bei Andrej Žarnov programmatischer Schauplatz. In einem zentralen Gedicht seiner Sammlung „Stráž pri Morave“ [Die Wacht an der

78 [Zdá sa mi – vidím hrob a na ňom kameň zavalený! Je naše slovenské spoločenstvo hodné Velikej nedele? Má dušu, čo precíti bôľ najbiednejších? Má ruku štedrú, na čo treba? Vie zahorieť za spoločný ideál národný – bezzištne? Chápe, že verejné pôsobenie nie je špinavá hra v karty, kde je všetko dovolené, ale svätá povinnosť odvaliť kameň s hrobu?] 79 Martin Rázus: Od Golgaty po vzkriesenie [Von Golgatha zur Auferstehung], in: Národnie noviny, 59, 42, 7.4.1928, S. 1. 80 Martin Rázus: Filozofický základ slovenského nacionalizmu, in: Národnie noviny, 59, 31, 11.3.1928. [Tu je ešte vždy nevyriešená úloha pre slovenský nacionalizmus, jeho základom je životný pud organizmu, ktorý nechce umrieť, a bôľ, príštiaci sa z krívd.]

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March; 1925] lässt er einen Leichnam die Auferstehung der Nation ankündigen. Die Leiche, bereits von Würmern zerfressen, erwacht in der Wahrnehmung des lyrischen Ichs für einen Moment zum Leben. Das Ich identifiziert sie als den toten Vater, der die Nation verkörpert. Žarnov geht nicht soweit wie d’Annunzio, die Spuren der nationalen Geschichte als in den eigenen Körper eingeschrieben darzustellen, die dann vom Schriftsteller den Rückzug in sich selbst und eine völlig Unterwerfung unter den Instinkt verlangen. Bei Žarnov ist das lyrische Ich eher Beobachter und Übersetzer der Zeichen. Der Schriftsteller als „Barde“, wie sich das Ich bei Žarnov bezeichnet, hat die Mission, die Spuren der Geschichte zu entziffern und den sich daraus ergebenden Auftrag zu verkünden.

Andrej Žarnovs pathologische Wiedergänger Andrej Žarnov⁸¹, alias Ferdinand Šubik, war nicht nur Pathologe von Beruf. Einen pathologischen Ansatz hatte er auch beim Schreiben. Er beschäftigte sich thematisch obsessiv mit dem Tod und entwickelte daraus seine nationalen Konzepte. Gleichzeitig stilisierte er sich als Barde, der in der buchstäblichen Bedeutung des griechischen Begriffs „Pathologie“ den „Logos“, das heißt die Worte, für das „Pathos“, also das Leid und den Schmerz, fand. Die slowakische Nation war der bevorzugte Gegenstand seines Pathos.⁸² Die literarische Qualität seiner Gedichte ist sehr unterschiedlich. Besonders die kämpferische, politische Dichtung aus seiner Anfangszeit, „Stráž pri Morave“ [Die Wacht an der March]⁸³ von 1925, ist in ästhetischer Hinsicht unbeholfen. Dafür machte sie Žarnov aber mit einem Paukenschlag bekannt. Mit dieser Publikation positionierte er sich als nationalistischer Intellektueller. Žarnovs Publikationen sind zumeist Sammlungen von Gedichten, die oftmals als Reaktion auf tagespolitische Ereignisse entstanden und zuerst einzeln in Zeitschriften oder Zeitungen erschienen. Žarnov veröffentlichte von 1925 bis 1941 fünf Lyrikbände: „Stráz pri Morave“ [Die Wacht an der March], 1925, „Brázda cez úhory“ [Furche durchs Brachland], 1929, „Hlas krvi“ [Die Stimme des Blutes], 1932, „Štít“ 81 Das Pseudonym Žarnov bedeutet „Mühlstein“. 82 Žarnov war als katholisch-nationalistischer Autor in der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik tabuisiert. So finden sich etwa in den eingängigen Nachschlagewerken aus dieser Zeit keine Einträge über ihn. In den Neunzigerjahren begannen sich slowakische Literaturwissenschaftler wieder für ihn zu interessieren. Er wird von diesen als Autor der Zwischenkriegszeit und des slowakischen Staates sowie als Autor der Emigration behandelt, da er 1952 aus der sozialistischen Republik in die USA floh, wo er sich als Arzt in Poughkeepsie, New York, niederließ und bis zu seinem Tod im Jahr 1982 lebte. 83 Žarnov, Andrej: Stráž pri Morave. Básne [Die Wacht an der March. Gedichte], Bratislava 1925.

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[Panzer/Schild], 1940, „Mŕtvy“ [Er ist tot/Der Tote], 1941. Außerdem stellte er eine Sammlung zusammen, die bereits veröffentlichte, aber zum Teil zensierte Gedichte enthielt. Das Buch von 1940 unter demselben Titel wie 1925 ist eine Neuauflage von „Stráž pri Morave“, das stark zensiert erschien. In der Ausgabe von 1940 sind die vollständigen Gedichte enthalten sowie das Gedicht „Nástup otrávených“ [Aufmarsch der Vergifteten] und die Sammlung „Brázda cez úhory“. Zusätzlich zu diesen Buchausgaben erschienen zahlreiche einzelne Gedichte in verschiedenen slowakischen Zeitschriften und Zeitungen, bzw. in der in Prag herausgegebenen Zeitschrift Elán. Gelegentlich äußerte sich Žarnov auch zu kulturellen Fragen in Zeitungsartikeln. Regelmäßig veröffentlichte er zudem in Fachzeitschriften über medizinische Fragen. Relativ viel Raum nehmen zudem seine literarischen Übersetzungen ein, insbesondere aus dem Polnischen. Der Gedichtband „Stráž pri Morave“ erschien im Verlag der Parteizeitung Slovák, womit für die Zeitgenossen ersichtlich war, dass der Autor dem Kreis um Hlinkas Volkspartei zugeordnet werden musste. In der Einleitung bezeichnet der Herausgeber Karol Sidor den 22-Jährigen als „autonomistischen Dichter“. Die Lyrik knüpfte explizit, inhaltlich und durch den Kontext der Veröffentlichung an die politischen Ziele der Volkspartei an. Als nützlich erwies sich paradoxerweise der massive Eingriff der Zensur. Einzelne Zeilen und Strophen, bis hin zu ganzen Gedichten wurden getilgt. An jeder entsprechenden Stelle erschien der Schriftzug „Cenzurované“ [Zensiert]. Das macht den Autor glaubwürdig in den Augen der Kritiker der neuen tschechoslowakischen Staatlichkeit. Dass die Zensurbehörde sich zum Eingreifen gezwungen sah, hängt mit dem Zeitpunkt der Publikation zusammen. Fast die Hälfte der Gedichte, die in der Buchausgabe stark zensiert wurden, waren bereits im März und April 1925 im Slovák erschienen.⁸⁴ Der Gedichtband ging in den letzten Maitagen in den Druck, um rechtzeitig vor den anstehenden Parlamentswahlen zu erscheinen und verteilt zu werden. Inhaltlich war die Gedichtsammlung hauptsächlich als Kritik gegen die Tschechen in der Slowakei und teilweise gegen die slowakischen Tschechoslowaken gerichtet. Die Tschechen werden darin zu Kolonisatoren stilisiert und die Tschechoslowaken zu Verrätern. Die Leserinnen und Leser werden dazu aufgerufen, sich

84 Bratovi za oceán, 3.4.1925, S. 10; Ceterum autem censeo, 19.4.25, S. 3; Čo sa paprčíte? 29.3.1925, S. 5; Jeruzalem, 19.3.1925, S. 3; Len tak ďalej! 24.3.1925, S. 5; Maďarón, 31.3.1925, S. 4; Memento, 19.4.1925, S. 6; Milenke, 6.3.1925, S. 5; Mojej krvi, 7.5.1925; S. 4; „My nie sme národ!“, 18.3.1925, S. 6; Na cmiteri, 20.3.1925, S. 5; Neznámy národ, 5.3.1925, S. 3; Otec mi umiera, 12.3.1925, S. 5; Prísaha, 21.4.1925, S. 4; Ste prepustený! 16.4.1925, S. 3; Stráž nad Moravou, 11.3.1925, S. 5; Veľký Rozsievač, 1925, S. 3; Zo zajtrajška rušám, 8.4.1925, S. 4; Angaben in: Pašteka, Július et al.: Andrej Žarnov. Výberová personálna bibliografia. Úvahy o diele [Andrej Žarnov. Ausgewählte Personalbibliografie. Essays über das Werk], Bratislava 2000, S. 94–96.

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im Namen der slowakischen Nation gegen die Angehörigen der fremden, nämlich tschechischen Nation zu wehren. Es sind denn auch jene Passagen, in denen das Wort „cudzí“ [fremd] auftaucht, die von der Zensur gestrichen wurden. Der pamphletartige Text ist einer katholischen Ästhetik verpflichtet. Das lässt sich mit der geistigen und bildungsmäßigen Herkunft Žarnovs erklären, der auf Wunsch seiner Eltern ein Jahr das Priesterseminar in Trnava besuchte, sich dann aber zu einem Medizinstudium in Bratislava entschloss. Mit Hilfe christlicher Narrative und Motivik legitimiert Žarnov seine politischen Forderungen. Beispiele aus „Stráž pri Morave“ verdeutlichen dies. Im Vorwort schreibt Karol Sidor, dass diese Gedichtsammlung eine lebendige „Wacht an der March“ darstellt, an der durch die Wende von 1918 eine Grenze zu Mähren und Tschechien geschaffen worden sei. Dies ist eine irreführende Behauptung, da die geopolitische Grenze zwischen Österreich und Ungarn 1918 abgeschafft wurde. Doch entspricht diese Behauptung ganz dem propagandistischen Topos der autonomistischen Bewegung, wonach die tatsächlich asymmetrische Stellung der Slowaken in wirtschaftlicher, sozialer und machtpolitischer Hinsicht oftmals als eine kulturelle Grenze zwischen aggressiven tschechischen Kapitalisten und einfachen slowakischen Bauern dargestellt wurde.⁸⁵ Im Titelgedicht „Die Wacht an der March“⁸⁶ werden die Tschechen unzweideutig als Feinde dargestellt. Der sprechende Kerberos, „Sohn eines niederen Geschlechts und verwunschenen Vaterlandes“, befiehlt dem mythischen Fährmann Charon, sein Boot zu zertrümmern und nicht mehr seinem „lächerlichen Gott“ – gemeint ist der Tschechoslowakismus – zu dienen. Die Verbindung über die March, die als Todesfluss Styx konnotiert ist, soll abgebrochen werden. Der „scheußliche Kerberos“ bewacht das slowakische Vaterland und soll verhindern, dass „Pirat, Söldner oder ein Lügenwort“ von der anderen Seite herüberkommen, wie es in der vollständigen Version von 1940 weiter heißt. Wenn die Nation bis aufs Blut geschlagen werde, dann mache er sich zur Moldau auf und brülle, bis die stolze Burg fällt und die barbarische Nation – gemeint sind die Tschechen – umkomme.⁸⁷ Für die Umsetzung dieser Kriegserklärung bedient sich Žarnov einer Unterweltbildlichkeit, die den unerlösten Status der Slowaken ausdrücken soll. Mit den wiederholten Klagen über eine ungerechte Behandlung, etwa die Bedrohung der Existenz der Sprache, wird die nationale Gemeinschaft zur Leidensgemeinschaft erklärt. Motive des Todes sowie untote Figuren sind auch zentral in den folgenden Gedichten, wenn der Autor die Idee der „Auferstehung von Toten“ leitmotivisch entwickelt. 85 Karikaturen in der autonomistischen Satirezeitschrift Osa zeugen davon. 86 Žarnov, Stráž 1925, S. 5 f. 87 Žarnov, Stráž 1940, S. 11 f.

8.3 Martyrium, Auferstehung und Reinigung |

327

Im Gedicht „Na cmiteri“⁸⁸ [Auf dem Friedhof] wird das lyrische Ich von einer Art Ohnmacht erfasst und nimmt dabei seine Hände als in das Herz des Toten vergraben wahr und wie der Leichnam sich einen Moment lang bewegt. Es benennt ihn: „Môj otec – Národ!“⁸⁹ [Mein Vater – die Nation!]. In dieser Szene beschreibt Žarnov die Hoffnung, dass die Nation in Gestalt des toten Vaters aufersteht – eines nationalen Ahns. In einem anderen Gedicht der Sammlung möchte die nationale Vaterfigur Ľudovít Štúr, als nächtlicher Wiedergänger und „Großer Sämann“⁹⁰, seine Ideen der Erweckung verbreiten. Die Kreuzigungsgeschichte wird im Gedicht „Na Golgote“⁹¹ [Auf Golgata] umgearbeitet. Jesus’ Opfer wird darin mit dem bereitwilligen Opfer für die Nation gleichgesetzt: „. . . jedem war die Nation gleich teuer, für ihre Rettung wollte jeder von uns ans Kreuz gehen und schmachvoll sterben – jeder.“⁹² Das Volk wartet darauf, dass es Gott vom „Golgata der Wahrheit“ in die „Umarmung der Freiheit unter der Tatra“ führt; das quasi-heilige Tatra-Gebirge steht symbolisch für einen natürlichen Anspruch der Slowaken auf ihr Territorium. In „Zmrtvýchvstanie“⁹³, die „Totenauferstehung“ sehen die Angehörigen des kollektiven „Wir“ das Wunder der Auferstehung: Die Knochen befreien sich – die Körper von der Würmer Fraß, das große Gebet wird von den Lippen fließen, die heilige Hymne auf dem stillen Feld erklingen, zur Verwunderung, zum Entsetzen der ganzen Welt stehen jene zum Leben auf, die tot waren.⁹⁴

Eine ganze Schar erhebt sich – analog zu Jesus – aus dem Grabe und zieht in „ein neues Land“ aus. Hier wird offensichtlich die Vision Ezechiels adaptiert, die Fichte in den „Reden an die deutsche Nation“ bearbeitete. Bei Žarnov heißt es in der Ausgabe von 1940 in der Fortsetzung des Gedichts, die Nation habe vergeblich tausend Jahre auf dem Friedhof gefault, nun würden die Fäuste das Joch der Tyrannei zerschlagen und die Nation die Totenauferstehung feiern. Der Kampf gegen die Feinde wird in diesem Gedicht mit Hilfe der christlichen Heilsgeschichte gedeutet und nobilitiert.

88 Žarnov, Stráž 1925, S. 6 f. 89 Im Slowakischen ist das Wort „národ“ [Nation] grammatisch männlichen Geschlechts, was überhaupt erst die Gleichsetzung von „Nation“ und „Vater“ im sprachlogischen Sinne erlaubt. 90 Žarnov, Stráž 1925, S. 30 f. 91 Žarnov, Stráž 1925, S. 41. 92 [. . . každému jednako drahý bol národ, za spasu jeho chcel na kríž isť z nás a zomrieť potupne každučký – každý.] 93 Žarnov, Stráž 1925, S. 42; Žarnov, Stráž 1940, S. 61 f. 94 [Kosti sa uvoľnia – telá z červov paše, Modlitba veľka bude splývať s retu, hymn svätý zavzneje na tichom poli, na obdiv, na úžas celému svetu povstanú k životu, čo mrtví boli.]

328 | 8 Literarische Praxis

Mit seiner poetischen Praxis wollte Žarnov seine Leser mobilisieren, sich gegen die vermeintlichen Feinde der slowakischen Nation jenseits der March zu stellen und zu helfen, den Staat von 1918 neu auszurichten oder ihn in seinen Entwicklungen zu korrigieren. Entsprechend propagiert er, das Land zu verlassen und nach einem neuen zu suchen. Žarnov realisiert in seinem literarischen Text überwiegend mythologische Narrative, seien es griechische, römische oder biblische, und zwar in einem politischen Sinne. Die Verwendung mythologischer Elemente erlaubt, das Bild der Auferstehung nationalistisch umzudeuten und die säkulare Idee der „Nation“ religiös aufzuladen. Die Konstruktion von Feindbildern ist Teil von Žarnovs nationalistischer Praxis. Eine der historischen Situation geschuldete Besonderheit ist, dass es nicht nur einen äußeren, sondern auch inneren Feind gibt. Der äußere Feind zeichnet sich durch seine Fremdheit und damit andere „Rasse“ und Nation aus. Der innere Feind sind die slowakischen Tschechoslowaken. Sie werden mit Hilfe eines antisemitischen Stereotyps – als Empfänger der Judasgroschen – als Verräter bezeichnet. Charakteristisch für diese Sammlung ist das Befreiungspathos – der Aufruf zum Kampf gegen die inneren und äußeren Feinde. Die Kritik am Feind wird mit einer Sozialkritik verbunden, in der sich das Empfinden der Modernisierungskrise ausdrückt. In diesem Sinne kann man von einer Modernisierung des nationalen Paradigmas gegenüber dem 19. Jahrhundert sprechen, die allerdings mit der sozialen Neuausrichtung der katholischen Kirche zu jener Zeit einhergeht. Der Autor entfaltet ein abstraktes Nationskonzept mit Hilfe einer katholischen Ästhetik., in dessen Zentrum – ähnlich wie beim französischen Schriftsteller Maurice Barrès⁹⁵ – die Erde und die Toten stehen. Das heißt Narrative, Bilder und Motive variieren die christliche Auferstehungsgeschichte und beziehen sich so auf Ostern als dem wichtigsten wiederkehrenden Fest im katholischen Kirchenjahr. Der Friedhof stellt den Referenzort der Nation dar. Dort liegen die (stets männlichen) Toten in der heimatlichen Erde und verpflichten ihre Nachkommen auf den Einsatz für die nationale Sache. Als Wiedergänger, Untote oder Scheintote sind die Toten in der Gegenwart der lebende Beweis für die historische Existenz der Nation. Der „pathologische“ Ansatz ist bei Žarnov demnach von national-programmatischer Natur. Der Gedichtband wurde gezielt mit einer öffentlichen Ausrichtung hergestellt. Er nahm mit seinem Erscheinen kurz vor den Parlamentswahlen im Herbst 1925 den Charakter eines Wahlkampfpamphlets an. Die Volkspartei wollte es in der ganzen Slowakei verteilen. Durch die massive Zensur half die öffentliche Verwaltung,

95 Der Boden der Toten, „la terre des morts“, bezeichnet bei Maurice Barrès die Nation, die aus einer undifferenzierten Einheit von Natur und Geschichte besteht. Vgl. Bielefeld, Ulrich: Maurice Barrès, französischer Nationalist, Literat, Publizist, Theoretiker, in: ders., Nation und Gesellschaft: Selbstthematisierungen in Deutschland und Frankreich, Hamburg 2003, S. 171 ff.

8.3 Martyrium, Auferstehung und Reinigung |

329

dieses populistische Pamphlet zum Zeugnis des slowakischen Martyriums unter dem Joch der Tschechen zu stilisieren. Mit Hilfe des ersten Gedichtbandes erlangte Žarnov große Bekanntheit und erwarb sich einen Status als Intellektueller, der sich aufgrund seiner herausgehobenen Stellung nun als Person des öffentlichen Lebens in Fragen von Politik und Gesellschaft einmischte, ohne dabei mit dem Machtzentrum verbunden zu sein, vielmehr sah er sich in einer oppositionellen Position. Nach der Veröffentlichung von „Stráž pri Morave“ entwickelte er einige Aktivitäten innerhalb der autonomistischen Bewegung. 1926 etwa begleitete er Hlinka als Repräsentant des Zentralverbandes der katholischen slowakischen Studentenschaft auf eine USA-Reise. Eine Tendenz zu radikalen Positionen zeigte sich in der Unterstützung der 1926 gegründeten, kurzlebigen protofaschistischen Rodobrana[Heimatwehr]-Bewegung. In der vierten Nummer der gleichnamigen Zeitung veröffentlichte er ein Gedicht zur Gründung der Bewegung, „Rodobranecka“, sowie das Gedicht „Slovenská pieseň“⁹⁶ [Slowakisches Lied], das er nochmals in die Gedichtsammlung „Štít“ (1940) aufnahm. Im Jahr 1934 erhielt Žarnov den Provinzpreis zu Ehren Štefániks, der seit 1933 ausgerichtet wurde, um auch Slowaken in den Genuss von Staatspreisen kommen zu lassen. Die Verleihung an Žarnov ist auch ein Zeichen dafür, dass er inzwischen nicht mehr nur in der autonomistischen Nische schrieb, sondern seine Werke allmählich massentauglich wurden bzw. die Öffentlichkeit sich radikalisierte. Wenige Jahre zuvor wurden Žarnovs Gedichtbände noch von den nicht-nationalistischen Kritikern heftig kritisiert. Žarnovs biologistische Bildwelt bildete zunehmend ein Reservoir für den sich allmählich biologistisch orientierenden radikalen Nationalismus. Den Provinzpreis erhielt Žarnov für die Gedichtsammlung „Hlas krvi“ [Die Stimme des Blutes]. In der Zeitschrift der autonomistischen Jugend Nástup wurde das mit zwei größeren Artikeln gefeiert. Darin werden unter anderem die herausragenden Eigenschaften von Žarnov als Dichter aufgeführt: „Ein Dichter, der der Öffentlichkeit ein Stück Papier gibt mit ein paar Reimen darauf, und nicht der Nation gegenübertritt wie nach einem Bad im eigenen Blut oder im Blut der Nation, ist nach unserer Meinung kein Dichter.“⁹⁷ Hier bezieht sich der Autor auf die Blut-Metaphorik in Žarnovs Gedichten. Im folgenden Lob von Žarnovs Mut wird dies jedoch deutlich zur biologischen Attribuierung der Kategorie des Nationalen:

96 Rodobranecká, in: Rodobrana, 1, 1926, 4, S. 4; Slovenská pieseň. In: Rodobrana, 1, 1926, 4, S. 2. 97 Nemo: Žarnov dostal Štefánikovu cenu [Žarnov erhielt den Štefánik-Preis]. In: Nástup, 2, 10, 15.5.1934, S. 306 f. [Básnik, ktorý podávajúc verejnosti zdrap papieru a v ňom pár rýmov, nejaví sa národu akoby po kúpeli vo vlastnej a v krvi národa, podľa našej mienky básnik nie je.]

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Nicht Mut in dem Sinne, dass er nicht die Zensur und Kritik fürchtet, sondern darin, dass er sich bewusst ist, dass sein dichterischer Instinkt, wie er sich mit glühenden Worten der Dichtung bis in die geheimsten Winkel des nationalen Organismus vortastet, richtig ist.⁹⁸

Die Blutmetaphorik und die Idee von einem nationalen Volkskörper als Organismus werden hier zusammengeführt.

8.4 Umbruchsversionen Eine ganze Reihe von Autoren setzte sich in Romanen und Erzählungen wie Hrušovský mit den Ereignissen von 1918/19 auseinander. Die Texte erschienen gehäuft zum Zehnjahrjubiläum der Republik. Der erfolgreichste Roman mit dieser Thematik war Milo Urbans „Živý bič“ [Die lebendige Peitsche; 1927]. Er erschien ähnlich wie Anton Prídavoks „Svitanie na východe“ [Morgendämmerung im Osten; 1928] bald zehn Jahre nach der Staatsgründung und wurde in 23 Sprachen übersetzt. Etwas später, 1930, erschien auch Hrušovskýs „Peter Pavel na prahu nového sveta“ [Peter Paul an der Schwelle zur neuen Welt]. Gut zehn Jahre nach der Wende setzte somit die literarische Rückschau und Deutung der Ereignisse von 1918 und 1919 ein. Die Romane enthalten durchweg auch eine politische Argumentation, in der jeweils die Rolle der Slowaken bei der Befreiung und Staatsgründung verhandelt wird. Tatsächlich waren an den Kämpfen gegen die ungarischen Truppen bis Mitte 1919 hauptsächlich, aber nicht nur, tschechische und rumänische Soldaten beteiligt, mit operationeller Unterstützung von französischen und italienischen Offizieren. Und auch im diplomatischen und militärischen Ringen um die Tschechoslowakei blieben die Slowaken länger loyal gegenüber Österreich-Ungarn und verhielten sich passiv. So entstand das hartnäckige tschechische Stereotyp, dass die Slowaken ihren Platz in der Tschechoslowakei „gratis“ bekommen hätten.⁹⁹

Milo Urbans neuer Adam Der Roman „Živý bič“¹⁰⁰ [Die lebendige Peitsche] von Milo Urban aus dem Jahr 1927 war äußerst erfolgreich. Zuerst erschien er in Prag, dann in der Slowakei in

98 [Nie odvaha v tom smysle, že sa nebojí cenzúry a kritiky, ale v tom, že si je vedomý, že je básnický inštinkt, ako sa on prepleta žhavými slovami poemy cez najskrytejšie záhyby národného organizmu, je správny. ] 99 Kamusella 2009, S. 817. 100 Urban, Milo: Živý bič. Román [Die lebende Peitsche. Roman], Prag 1929, 2. Aufl.

8.4 Umbruchsversionen |

331

mehreren Auflagen und wurde bald in 23 Sprachen übersetzt. Die Romanhandlung folgt dem Schema der christlichen Geschichte. Der Krieg reißt ein abgelegenes slowakisches Dorf aus seinem paradiesischen Zustand. Wie im christlichen Narrativ folgen die Jahre des Irrens durch die Wildnis – Not, Zwietracht und Tod. Es werden Opfer gebracht, was der Kreuzigung entspricht; einen hingerichteten Soldaten beschreibt Urban als einen Schlafenden, der in die Sonne blickt und bezieht sich damit auf den Topos der leidenden, schlafenden Nation: „Und ähnelte dann einem Schlafenden, der erwachte und starr in die stumme Sonne, klar wie ein weißer Teller, blickte.“¹⁰¹ Am 27. Oktober 1918, einen Tag vor der Staatsgründung also, revoltiert die Dorfgemeinschaft gegen die Besatzungseinheit und vertreibt diese. Der Autor beschreibt diesen Aufstand mit Hilfe von Lynchjustiz und Plünderung ambivalent, dem Aufbegehren der Dorfbevölkerung fehlt noch das richtige – nationale – Bewusstsein. Urban hält jedoch die Aussicht auf Erlösung bereit. Die Hauptfigur Adam als erster Mensch nach der Bibel, verwandelt sich im Roman als erste Figur in den „neuen Menschen“¹⁰². Er verkündet die zu erwartende Freiheit und folgt darin der Jahnschen Idee des Leidens, aus dem Stärke hervorgeht: Hier wurde im Blute ein neues Zeitalter geboren, voller kühner Worte und mutiger Reden, voller Begegnungen des Menschen mit dem Menschen, hier erhob sich aus dem Blute der neue Mensch, die Hände gespannt, kühne, starke Hände menschliche Hände, die so schnell keine Fesseln mehr binden und die so schnell nicht mehr zittern. In blutigen Gegensätzen zerrissen Gesetze, wurden gesellschaftliche Formen löchrig, fielen Throne, glichen sich Klassenunterschiede an und Masken wurden heruntergerissen von den Gesichtern der unnahbaren Autoritäten dieser Welt. Der neue Mensch wollte weder einen mittelalterlichen Panzer noch ein Rätsel: Er wollte weder Gaukler noch Pharisäer sein, sondern das was er ist, ein kühnes, rebellisches, wildes Geschöpf, ein Mensch ohne schmückende Attribute. Solch eine Veränderung machte auch Adam Hlavaj durch.¹⁰³

101 S. 166 [I podobal sa vtedy spiacemu, ktorý sa prebudil a uprene zahľadel sa do slnca nemého, jasného ako biely tanier.] 102 Das Konzept des „neuen Menschen“ erlebte nach dem Ersten Weltkrieg weithin eine Konjunktur. Der tschechoslowakische Präsident T. G. Masaryk etwa verlangte einen „neuen Adam“: „Die (. . . ) neue demokratische Republik erfordert neue Menschen, einen neuen Adam (. . . ).“ Zit. nach Haslinger, Peter: Zeit- und Alteritätsbezüge in Staatsgründungsdiskursen. Das Beispiel der Ersten Tschechoslowakischen Republik, in: Hans-Joachim Gehrke (Hg.), Geschichtsbilder und Gründungsmythen, Würzburg 2001, S. 325–348; hier S. 337. 103 S. 188 [Tu, v krvi sa rodil nový vek, plný smelých slov a odvážného hovoru, plný stretania sa človeka s človekom, tu z krvi vstával nový človek, našedší ruky, smelé, silné ľudské ruky, ktoré už tak ľahko okovy nesomknú a ktoré sa už tak ľahko nezatrasú. V krvavých protikladoch trhaly sa zákony, spoločenské formy sa deravely, padaly tróny, triedne rozdiely sa vyrovnávaly a masky boly strhávané s tvárí nedotknuteľných autorít tohto sveta. Nový človek nechcel stredoveký pancier ani záhady: nechcel byť kaukliarom ani farizejom, als tým, čím je, smelým, odbojným, dravým tvorom, človek bez ozdobných epitet. Takou premenou prešiel i Adam Hlavaj.]

332 | 8 Literarische Praxis

Aus dem Krieg geht bei Urban der „neue Mensch“ hervor. Der Krieg hat somit eine reinigende Funktion, die ihm das „Bewusstsein des in Blut, Schweiß und Tränen Geborenen“ (190) gibt. Am Schluss des Romans steht die Utopie der Freiheit. Über Adam heißt es, er „lachte auf mit dem Lachen eines Menschen, der nach langem Leiden aufgestanden ist, um das zu erreichen, was ihm schon seit Zeitaltern gehörte: die Freiheit“ (389). Das eigentliche Ziel der nationalen Auferstehung liegt weiterhin in der Zukunft. Milo Urban arbeitete als Mitglied der autonomistischen Bewegung viele Jahre als Redakteur für den Slovák, die Zeitung von Hlinkas Volkspartei. Vor diesem Hintergrund ist sein Buch über das neun Jahre zurückliegende Kriegsende nicht einfach als Antikriegsroman, sondern auch als Interpretation der historischen Ereignisse im Sinne des slowakischen Nationalismus zu werten. Der Roman trägt einen appellativen Charakter, insbesondere mit der utopischen Dimension am Schluss sowie der Idee des „neuen Menschen“. Die Auferstehung aus den Leiden des Krieges und den damit verbundenen Bewusstseinswandel vollzieht die Hauptfigur vorbildhaft für alle Slowaken. Der Roman stellt das Kriegsende in der Slowakei als Ergebnis eines nationalen Befreiungsaktes dar, bei dem Tschechen als Befreier keine Rolle spielen. Die Darstellung der historischen Ereignisse folgt den Vorgaben des mythologischen Narrativs, das heißt der Ausrichtung auf die Geburt des „neuen Menschen“ und den Anbruch der „neuen Welt“. In seinem nur drei Jahre später erschienen Roman „Hmly na usvite“¹⁰⁴ [Nebel in der Morgendämmerung] konturiert Urban seine Auferstehungsvision deutlich antitschechisch. Der slowakische Protagonist wird auf einer Baustelle für ein Warenhaus in Prag verschüttet. Kriegsmetaphorik und reliöse Konzepte überlagern sich in der zentralen Episode. Es werden Soldaten für die Aufräumarbeiten eingesetzt und die gesamte Aktion wird von einem Offizier geleitet. Effektvoll schildert Urban, wie sechs schwarz gekleidete Witwen bzw. Ehefrauen pietätsvoll die Führung des Menschenstroms übernehmen, darunter die Verlobte der verschütteten Hauptfigur mit dem sprechenden Namen Krista Dominová – die Braut des Herrn. Die Frauen sind entsprechend der angelegten Bildlichkeit Kriegswitwen, die um Soldaten trauern. Die Toten sind quasi das Opfer für ein neues Vaterland, weil das jetzige durch den Kapitalismus korrumpiert ist, wie Urban nahelegt. Den Verschütteten selber überkommen zwischen Ohnmachtsanfällen Bilder von der Front und von der Befreiung. Er sieht darin das Volk Dankeslieder singen und ihre „Freude der

104 Urban, Milo: Hmly na úsvite [Nebel in der Morgendämmerung], Prag 1930. Der Roman erschien in einem Prager Verlag, wurde aber in der hohen Auflage von 6400 Exemplaren in Bratislava gedruckt.

8.4 Umbruchsversionen |

333

befreiten Nationen“ in die Welt hinausrufen. (S. 564) Er nimmt sich dabei selber als rituelles Opfer wahr, das in einer Kirche auf dem Altar liegend vom Priester getötet werden soll. Er fragt sich, „für welche schreckliche Gottheit“ er geopfert werden soll. (S. 565) In einer Vision erscheint ihm Jesus, der ihn „aus ewigem Schlaf zu neuem Leben erweckt“. (S. 568) Der vermeintliche Jesus zeigt ihm den Irrweg der kommunistischen Ideologie auf und spendet ihm Trost: „Es durchdringt ihn irgendwie eigenartig das süße Vergnügen eines neuen, gerade geborenen Menschen.“¹⁰⁵ Auf die Frage, ob er unter den Trümmern bleiben müsse, antwortet Jesus: „Du stehst auf und wirst eine neue Welt erschaffen.“¹⁰⁶ Aus der Katastrophe ersteht ein neuer Mensch auf: Sedmík spürte, wie er von Stunde zu Stunde kräftiger wurde, wie sein ausgetrockneter Körper von neuem Saft überschüttet wurde, wie er sich mächtig bewegte und in die Zukunft spannte. Er hatte sich aus dem Käfig befreit. Die Muskeln zitterten froh unter der Haut, im Hirn entstanden neue, frische Bilder und die Augen wie im Lebenswasser gebadet, blickten froh auf die Dinge.¹⁰⁷

Der einstürzende Hochhausrohbau ist in Urbans Darstellung ein Sinnbild für den unmenschlichen Kapitalismus in der tschechischen Großstadt und zugleich für das Scheitern des tschechoslowakischen nationalen Projekts. Urban wiederholt die Voraussetzungen der Staatsgründung und lässt die Beteiligten eine andere Entscheidung treffen: Die Hauptfiguren kehren in die Slowakei zurück, wo sie zwar unter bescheidenen Bedingungen, aber mit viel Überzeugung einen Neubeginn aus eigener Kraft wagen. Urbans Figuren erkennen, wo sie hingehören und leben sollten, und zwar in der „mächtigen Gemeinschaft, in der Brüderlichkeit der Lebenden und Gleichen“ (S. 583). Gleichheit wird hier als zentraler Wert und Deutungsmuster präsentiert. Die Idee der Auferstehung und der (Wieder-)Geburt des „neuen Menschen“ stehen im Dienste von Urbans Ideologie. Eine besondere Rolle spielt das Sakrale. Es bildet einen symbolischen Raum für die Übergangsriten des Individuums: vom Warenhaus als Tempel des Kapitals, über eine christologische Vision, die schließlich hin zur Erkenntnis der nationalen – nicht religiösen – Zugehörigkeit führt.

105 S. 570 [Preniká ho akási divne sladká rozkoš nového, rodiaceho sa človeka.] 106 S. 571 [Ty vstaneš a pôjdeš tvoriť nový svet.] 107 S. 583 f. [Sedmík cítil, ako s hodiny na hodinu okrieva, ako sa mocne dvíha a zapína do budúcnosti. Vysvobodil sa z klepca. Svaly sa radostne chvely pod kožou, v modzgu ukladaly sa nové, čerstvé obrazy a oči, akoby vykúpané v živej vode, radostne hľadely na veci.]

334 | 8 Literarische Praxis

Anton Prídavoks opportunistische Helden Zum Zehnjahrjubiläum der Tschechoslowakischen Republik gab die Slovenská liga „symbolisch zehn Bücher aus der Geschichte des Leidens unserer Nation“ heraus.¹⁰⁸ Die Bücher hatten einen populär-historischen Charakter und befassten sich mit dem nationalen Leben der Slowaken unter dem Druck der Ungarn sowie mit den Umbruchsjahren 1918 und 1919, darunter das literarisch-dokumentarische Werk Anton Prídavoks, „Svitanie na východe“ [Morgendämmerung im Osten]¹⁰⁹, das heute allerdings kaum noch bekannt ist. In seinem Roman „Svitanie na východe“ behandelt Anton Prídavok den Beitrag der Slowaken zur Staatsgründung. Der im Vergleich zu Urbans „Živý bič“ formal weitaus weniger geschlossene Roman handelt vom Kriegsende in der ostslowakischen Stadt Prešov. Prídavok selber hatte ab 1918 in Prešov studiert und im lokalen Ableger des Slowakischen Nationalrates (SNR) mitgewirkt. In seinem Text mischen sich literarische und historiografische Elemente, die Ereignisse werden teilweise als Erinnerungen in der kollektiven Wir-Form geschildert. Prídavok beschreibt das Vordringen der tschechoslowakischen Armee nach Osten, wobei es ihm darum geht, den Vorgang der militärischen Besetzung als Befreiung darzustellen und zu zeigen, dass Slowaken dabei maßgeblich mitwirkten. Dem Autor ist daran gelegen, die historische Wahrheit zu schildern, wie er in seinem Nachwort betont: Ich halte es für wichtig anzuführen, dass die Handlung dieser Skizze aus dem wirklichen Leben genommen ist. Prešov hat die letzten Tage des Krieges und die erste Zeit der Freiheit genau so erlebt, genau so nahm die Stadt das schicksalhafte Urteil über das ÖsterreichUngarische Reich auf und begann dann ihr neues Leben. (S. 174)

Grundsätzlich bezieht sich der Roman ebenso wie die zuvor behandelten Romane auf die Zeit der so genannten Wende, doch verzichtet er darauf, die Konzepte von Auferstehung oder Regeneration zu bearbeiten. Elemente christlicher Ikonografie haben höchstens eine ornamentale Funktion. Seine Interpretation der Ereignisse steht ganz im Zeichen der ethnisierenden Praxis der Slovenská liga. Wie Urban entwirft auch Prídavok eine Erlöserfigur. Im Krieg läuft der junge Intellektuelle zur tschechoslowakischen Legion in der italienischen Armee über. Er möchte an der Befreiung mitwirken: „Wir kehren zurück und befreien die Nation.“ Schließlich meldet er sich als Freiwilliger für die tschechoslowakische Armee und bringt so als Slowake die Freiheit nach Prešov. Im zivilen Leben wird er Kreissekretär und beteiligt sich somit am „sorgfältigen Aufbau des Staates“.¹¹⁰ 108 Letz 2000, S. 172. 109 Prídavok, Anton: Svitanie na východe [Morgendämmerung im Osten], Trnava 1928. 110 S. 30 [Vrátime sa a osvobodíme národ.]

8.4 Umbruchsversionen |

335

Trotz seiner Versicherung, alles so zu schildern wie es wirklich gewesen ist, hält sich Prídavok einigen interpretativen Spielraum offen. Der historische Slowakische Nationalrat (SNR) spielte eine bescheidene Rolle in der Umbruchszeit, wurde nach nur dreimonatigem Bestehen im Januar 1919 wieder aufgelöst und vom zentralstaatlichen Ministerium für die Slowakei unter Minister Vavro Šrobár abgelöst. Im Roman wird die Rolle des SNR aber als zentral geschildert. Er habe in der Ostslowakei „den Boden für die Bildung des Tschechoslowakischen Staates“ vorbereitet. (S. 124) Laut Vavro Šrobárs aufgezeichneten Erinnerungen sei es gerade in der Ostslowakei besonders ruhig gewesen und habe es praktisch keine Revolten und Plünderungen gegeben, da es dort an slowakischen Intellektuellen gemangelt habe; auch spricht er stets nur von der „tschechischen Armee“¹¹¹. Im Roman hingegen entsteht der Eindruck, dass die tschechoslowakische Einheit in Prešov voller Slowaken ist. Das Kriegsende wird auch bei Prídavok dargestellt, als ob es lediglich aus der Kraft der Slowaken und Tschechen herbeigeführt worden sei. Es heißt dazu: „Die Armee hat ihre große Mission erfüllt. Sie sicherte der Nation die Freiheit, weil sie sie von den Sklavenhaltern befreite.“¹¹² Im Roman wird ein pro-tschechoslowakischer Standpunkt vertreten. Die ungarische Nation wird als der slowakischen fremd gegenübergestellt. Entsprechend wird gezeigt, wie die Repräsentanten des ungarischen Staates beim Versuch ihre Herrschaft zu erhalten scheitern. „Magyaronen“ werden sich ihres verschütteten Slowakentums bewusst – wer slowakisch sprechen kann, ist ein Slowake. Der slawische Gedanke, gedeutet als brüderliche Verwandtschaft mit den Tschechen, legitimiert den Herrschaftswechsel: „Die Liebe zu den Tschechen breitete sich aus (. . . ) Das Volk erwartete ungeduldig die anbrechenden Tage, schon mit der Morgendämmerung richtete es seinen Blick auf etwas, als ob es in den nebligen Tagen das Aufleuchten und den Schimmer der Zukunft entdeckte.“¹¹³ Die Auferstehungsidee spielt wie erwähnt bei Prídavok keine Rolle. Einzelne Motive aus der christlichen Mythologie nimmt der Autor dennoch auf: Die Befreiung findet zu Weihnachten statt, die Menschen erwarten die Ankunft der Armee wie das Christkind. Das Chaos hat ein Ende, eine neue Ordnung ist etabliert. Die Ankunft des „Helden“ Havran erinnert an die messianische Idee. Die titelgebende Lichtmetapher, der Sonnenaufgang, ist dem Erlösungsmythos geschuldet. Prídavoks Roman ist zwar betont slowakisch, beschreibt aber dennoch das Kriegsende als Beleg für das gemeinsame tschechoslowakische Handeln. Der Au111 Šrobár, Vavro: Osvobodené Slovensko. Pamäti z rokov 1918–1920 [Befreite Slowakei. Erinnerungen an die Jahre 1918–1920], Praha 1928, S. 241 f. 112 S. 167 [Vojsko vykonalo svoje veľké poslanie. Zaistilo národu svobodu, lebo ho zbavilo otročiteľov.] 113 S. 131 [Láska k Čechom sa šírila. (. . . ) L’ud netrpezlive očakával nastávajúce dni, už so svitom s zhaľadel kamsi, akoby v hmlistých dňoch vyzeral záblesky a kmity budúcnosti.]

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tor schreibt im Sinne einer gemeinsamen tschechoslowakischen Nationalkultur, die dem realen Staat als Grundlage fehlte. In Prídavoks Roman bringen der Slowakische Nationalrat und die tschechoslowakische Armee die Freiheit, was in der Staatsgründung gipfelt. Es wird keine nationalistische Utopie entworfen, weshalb kein mythologisches Narrativ verwendet wird. Der Text stellt weniger eine nationalistische Handlungsanleitung dar als ein historiografisches Korrektiv zu den gängigen Deutungen des Herrschaftswechsels und der Staatsgründung. Als solches ist Prídavoks Roman gleichwohl Teil einer nationalistischen Praxis, deren Hintergrund die Ethnisierungsaktivitäten der Slovenská liga in der Ostslowakei bilden, die mit dem offiziellen Tschechoslowakismus durchaus harmonisierten.

Tido Gašpars konservativer Opportunismus Aus anderen Motiven als Prídavok gibt sich Tido Gašpar zumindest bis 1938 als staatsloyaler Autor. In seinen seiner parabelartigen Erzählung „Slzy Záhorského“¹¹⁴ [Die Tränen Záhorskýs, 1929], die sich mit der Wende von 1918 befasst, thematisiert er die Schwierigkeiten, sich gegenüber Staat oder Nation zu positionieren. Die Hauptfigur lebt in der provinziellen Abgeschiedenheit der Niederung westlich des bei Bratislava beginnenden Karpatenbogens. Er ist ein standhafter Slowake inmitten einer feindlichen ungarischen Umgebung: Auch wenn das noch ein Provinzmensch ist, unbeugsam, slowakisch, romantisch-veralteter Panslawe und verbissener, hartnäckiger Protestant, der lässt sich nicht ohne Proteste so einfach übers Ohr hauen und der protestiert donnernd, bis ihm der Tod die Lippen verschließt – der einschläfernde Tod.

Záhorský erkennt die Chance der neuen Freiheit, „dass wir wir selbst sein können ohne Verstellung“. Eine Gefahr sieht er allerdings im „erschreckenden Zentralismus“. (S. 244) Záhorskýs Söhne verkörpern die drei großen nationalistischen Optionen der Slowaken, allerdings gegen die Intentionen des Vaters, der aus ihnen sein größtes Geschenk an die Nation machen wollte. (S. 242) Unter den historischen Bedingungen entwickelten sich die drei in verschiedene Richtungen. Sein ältester Sohn hatte auf der Universität in Pest eine ungarische Identität herausgebildet und erschien dem Vater nun „als vom alten slowakischen Stamm abgehackt“. Der jüngste Sohn war vermeintlich im Krieg gefallen. Den mittleren der drei Söhne hatte Záhorský nach der schlechten Erfahrung mit dem ältesten Sohn zum Studium nach Prag 114 Gašpar, Tido: Červený koráb, Bratislava 2005, S. 241–255. Basierend auf der Ausgabe Gašpar, Tido: Pri kráľovej studni, Prag-Bratislava 1929.

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geschickt. Der war inzwischen Regierungsbeamter und sollte des Vaters Ideale in Bratislava vertreten. Doch er wurde ein „Abkömmling seiner Zeit“, „ein Sohn des Westens“. (S. 251) Nach seiner Überzeugung gefragt antwortet der Sohn dem Vater: Die Nation stöhnt in den Krämpfen der Wiedergeburt. Wir müssen wieder mit dem Baumstumpf zusammenwachsen, von dem uns Štúr abgehackt hat. Mir ist klar, dass das nicht ohne Schmerzen geht, doch es muss sein. Wir waren nie und sind nicht fähig zu einer eigenständigen gesunden Entwicklung. Und vegetieren? Während meiner Jahre des Suchens und Forschens habe ich mich auch auf dem ‹Weg nach Emmaus› gefunden und stieß auf diese auferstandene Wahrheit, die unsere Vorfahren begraben hatten. An die glaube ich, Vater!¹¹⁵

Der Sohn zitiert ein zentrales Argument der Tschechoslowakisten, und zwar, dass die Slowaken noch nicht reif seien, die politische Verantwortung für ihre Nation zu übernehmen. Das stand gerade im Widerspruch zum Vater, der an die Eigenständigkeit der slowakischen Nation im Sinne Štúrs glaubte. Die Einflüsse der Ungarn wie auch der Tschechen schaden in der Erzählung der slowakischen Nationalisierung. Auf der Handlungsebene wird die nationale Kontinuität problematisiert und mit Hilfe mythischer Narrative gelöst. Ein Element der Lösung stellt die Religion dar, so hilft die Bibel dem Vater das Handeln der Söhne zu verstehen (S. 253). Daraufhin geht er in die Berge zum Sterben, „mit tödlichen Dornen im Körper“, wie er empfindet. Doch nach dem biblischen Irren durch die Wildnis gibt es noch eine Wende zum Guten, die der Hauptfigur die Erlösung bringt, und zwar in Gestalt des vermeintlich gefallenen, doch nun heimkehrenden Sohnes. Als mythisches Element überwindet dieser die historische Topographie. Er kehrt nicht von einem bestimmbaren Ort zurück, sondern sei in der Weltgeschichte herumgeirrt und habe sich in wunderbaren Ländern bewegt, sei Landesherr und Messias gewesen und habe alles im Überfluss gehabt. (S. 255) Seine Rückkehr aus einer Märchenwelt trägt Züge der christlichen Auferstehung, da er bereits für tot gehalten wurde und nun quasi aus der Ewigkeit in die konkrete Zeit zurückkehrt. Bedeutsam ist auch seine Teilnahme am Krieg. Als Erneuerer der Nation trägt er die Spuren des gewaltsamen Entstehungsprozesses, den Nationen in der Auffassung der Zeit durchmachten. Die Nation wird so auch als Ergebnis eigener Emanzipationsanstrengungen erinnerbar und nicht als Nebenprodukt etwa eines untergegangenen Imperiums.

115 Gašpar 2005, S. 251 [Národ stone v kŕčoch preporodu. Musíme znova zrásť s tým pňom, od ktorého nás Štúr odštiepil. Rozumiem, že to nejde bez bolesti, ale musí to byť. Neboli sme a ani nie sme schopní zdravého samostatného vývoja. A živoriť? Počas mojich rokov hľadania a bádania tiež som sa ocitol na ‹ceste do Emausu› a stretol s touto vzkriesenou pravdou, ktorú naši starí otcovia pochovali. Verím v ňu, otec!].

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In der Begegnung des Vaters mit dem heimkehrenden Sohn wird das gemeinsame Blut beschworen, das die beiden „wie Magnete zueinanderzog“. (S. 255) Damit wird die Wesensverwandtschaft und vor allem die geteilte nationale Überzeugung im Körperlichen verankert. Das Blut ist somit das Argument für eine natürlich bestimmte Loyalität. Der verlorengeglaubte Sohn in Pilgerkleidung wird mit christlichen Attributen ausgestattet. In einem Monolog verkündet er sein nationalistisches Credo: Der Boden war immer unser Wesen und jeder Zoll von ihm ist uns teuer. Politik und Besserwisserei, das waren meist Irrwege, in denen wir uns selber verloren haben. Der Boden ist unser und in ihm sind wir nicht-herauszureißende Eichen. Solange uns nicht irgendein Sturm entwurzelt, keine List der Welt. . . Nur damit das Volk sich selber kennt, das Eigene bewahrt, seine Seele, zumindest so, wie man den Boden zu pflegen weiß, dann wird auch keine Durchtriebenheit mehr des Slowaken Slowakizität und Kraft aushöhlen.¹¹⁶

Bemerkenswerterweise ist der Vater als nationalbewusster Bauer Protestant und nicht Katholik, wie nach Gašpars eigenem religiösem Bekenntnis naheliegend gewesen wäre. Gašpar möchte demnach den slowakischen Nationalismus nicht den Katholiken und erst recht nicht den katholischen Anhängern der Volkspartei überlassen. Er schreibt an verschiedenen Stellen, dass er es mit den Martiner Nationalisten hielt, vor allem mit Rázus, der eben Protestant war. Gašpar löst das Problem der Loyalitäten konservativ durch rurale Werte. Diesem Konzept einer nationalen Kontinuität liegt ein agrarisch geprägtes Gesellschaftsverständnis zugrunde. Die beiden abtrünnigen Söhne werden quasi enterbt. Gašpar findet keinen Weg, die reale gesellschaftliche Differenzierung in sein nationales Konzept zu integrieren. Das ist umso erstaunlicher, als er selber den opportunistischen Weg des slowakischen Nationalisten im tschechoslowakischen Rahmen beschritten hatte.

Ján Hrušovskýs republikanischer Jesus Ján Hrušovský bewegte sich in der Zwischenkriegszeit im selben politischen Umfeld wie Gašpar, was seine Deutung des Wendejahres beeinflusste. 1930 erschien in Prag sein Roman „Peter Pavel na prahu nového sveta“ [Peter Paul an der Schwelle

116 Gašpar 2005, S. 255 [Zem bola vždy našou podstatou a každá jej piaď je nám verná. Politika, rozumkárstvo, to nám bolo zväšča vždy bludišťom, kde sme sa strácali od svojho. Zem je náša a v nej sme my nevykmásateľné duby. Posiaľ nás z nej nevyknísala nijaká búrka, ani lesť sveta. . . Len aby ľud poznal seba, svojho sa držal, svojej duše, aspoň tak, ako sa vie zeme držať a vtedy nijaká prefíkanosť nevyškopí viac Slovákovi jeho slovenskosť a silu.]

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zur neuen Welt]. Ján Hrušovský war einer der meistgelesenen Autoren der Zwischenkriegszeit, vor allem auch wegen seiner in den Parteiorganen erscheinenden historischen Fortsetzungsromane.¹¹⁷ Die zeitgenössische Kritik schätzte diesen Roman durchweg als ästhetisch minderwertig im Vergleich mit vorhergehenden Arbeiten ein.¹¹⁸ In „Peter Paul an der Schwelle zu einer neuen Welt“ nähert Hrušovský Hauptfigur und Erzähler autobiographisch an und lässt sie zur Verkörperung des kollektiven Willens werden. Das geschieht über die christliche Symbolik. Die Hauptfigur leidet unter Visionen wie die von Millionen auferstehender Toter, die ihn anklagen: „Mörder!“ [Vra – ho – via!].¹¹⁹ Der Protagonist nimmt wie Jesus die ganze Schuld auf sich: „Ja, als ob er als der einzige von all diesen Millionen das Kreuz der Schande, Erniedrigung und Missgunst auf seinen Schultern tragen würde.“¹²⁰ Die Idee von Beichte und Absolution werden mit mystischen bzw. kosmischen Vorstellungen verknüpft, wie sie für die völkische Ideologie eine wichtige Ressource darstellten.¹²¹ Ein kosmisch, transzendentales Erlebnis wird geschildert: In einer ruhigen Nacht „musste der Moment kommen, in dem sich der Mensch zu entmaterialisieren beginnt, seine Seele bekommt ein weiches Gefieder, erhebt sich in die Höhe über die reale Welt und hat das teils lustvolle, teils unheimliche Gefühl eines unaussprechlich sanften Verschmelzens mit dem Weltganzen.“¹²² Bei Kriegsende hält die Hauptfigur wie Jesus eine Bergpredigt. Der slowakische Offizier spricht zum versammelten Bataillon von einem Hügel herab. Zu seinen Füssen sitzen die anderen Offiziere, gleich den Jüngern in der Bergpredigt. Die biblische Bergpredigt ist antithetisch aufgebaut, Jesus bezieht sich auf Gebote des Alten Testaments und gibt seine eigenen Forderungen als Antithesen wieder, die

117 Während des Abdrucks des historischen Abenteuerromans „Jánošík“ über den mythischen Volkshelden stieg die Auflage der Zeitung Slovenská politika sprunghaft von 2000 auf 40 000 Stück. Vgl. Bábik, Ján: Život a dielo Jána Hrušovského, in: Ján Hrušovský, Vyber I, Bratislava 2004, S. 9–12. 118 In der Literaturgeschichtsschreibung nach 1945 wurde der Roman als tendenziös nationalistisch bezeichnet, was die eigentliche Kritik verdeckt, dass der Roman ein äußerst negatives Bild von einem Kommunisten zeichnet, dem Gegenspieler der Hautpfigur. Der Roman wurde seit der Zwischenkriegszeit erstmals wieder 2004 aufgelegt. 119 Hrušovský, Ján: Pater Pavel na prahu nového sveta, Bd. 1, in: Ján Hrušovský. Výber I, Bratislava 2004, S. 229. 120 Hrušovský 2004, S. 232 [Áno, akoby on samojediný zo všetkých týchto miliónov niesol na svojich ramenách kríž hanby, potupy a zlorečnosti.] 121 Vgl. zu Mystik und Theosophie im völkischen Glauben Mosse 1991, bes. S. 49 ff. 122 S. 230 [. . . musel prísť moment, keď sa človek začína akoby odhmotňovať, jeho duša dostane mäkké perute, vznesie sa do výšky nad reálny svet a má poloslastný, polomrazivý pocit akéhosi nevýslovne jemného splynutia s celým všehomírom.]

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stets beginnen mit „Ich aber sage euch. . . “. Analog gibt der Offizier auf dem Hügel erst die Forderungen seiner Vorgesetzten wieder. Der Erzähler äußert die Frage, die unter den Zuhörern aufkommt: „Was ist das für eine neue Stimme?“ (S. 159) Hier wird angezeigt, dass eine Verwandlung stattgefunden hat. Die Hauptfigur wird zum neuen Jesus. Die Rede bekommt einen prophetischen Charakter, der über die Erklärung der historischen Situation hinausweist. Er teilt den Zuhörern mit, dass es die Monarchie nicht mehr gibt, stattdessen viele „Volksrepubliken“. Damit wäre dem historischen Augenblick eigentlich Genüge getan. Doch nun spricht der „neue Jesus“ von vagen, an die Apokalypse gemahnenden Ereignissen, von Prüfungen, welche die Menschen zu bestehen hätten, bevor das Reich der Freude kommt: Denn in eure klar gewordenen Herzen zieht auch etwas Übles und Giftiges ein, das eure Seele vergiftet und eure Augen trübt. Schon lange bereitet sich in euch der Boden für diesen bitteren Samen vor. – Und aus diesem Samen bricht plötzlich die Frucht des Hasses, der Rachsucht und der Blutrunst hervor. Die richtig verkommene Frucht. Die tausendfach verwunschene Frucht. Die Frucht des Antichristen.¹²³

Vor dem Eintreten der Neuen Welt wird eine spirituelle Reinigung gefordert. Die Absolution wird erteilt, wenn die Heimkehrenden die freien Volksrepubliken aufbauen helfen und sie mit ihrem Geist beleben. „Erst dann seht ihr, wie kostbar und süß euch das Vaterland sein wird.“¹²⁴ Dramaturgisch folgt Hrušovský am Schluss der Rede der Apokalypse mit der Verkündung des zu erwartenden Himmelreichs. Die Adaption der christlichen Vorlage in die kollektiv-bezogene Mythologie erfolgt über den Entwurf eines neuen Jesus’, der die Erlösung im Diesseits in Form des „Vaterlands“ prophezeit. Bewusst vermeidet Hrušovský das Wort „Nation“. Er beschreibt den Wechsel von der Monarchie zur Republik. Der Pseudo-Jesus ist ein Republikaner und kein Nationalist im engeren. Hrušovský vollbringt hier das Kunststück, die republikanische Idee der Willensnation, welche die tschechoslowakische Nation nun einmal höchstens verkörpern konnte, auf dem Fundament des christlichen Mythos zu entwickeln. Dass die Hauptfigur den Willen zum Vaterland verkörpert, wird durch Hrušovskýs persönlichen Hintergrund verständlicher. Der Roman ist autobiografisch an-

123 Hrušovský, Ján: Peter Pavel na prahu nového sveta [Peter Paul an der Schwelle zur neuen Welt]. Bd. 2., Prag 1936 [1930], S. 163 [Lebo do vašich rozjasnených sŕdc vtiahne i niečo drsného a jedovatého, čo vaše duše otrávi a vaše oči zakalí. Už dávno sa pripravuje vo vás pôda pre toto horčičné semä. – A z tohoto semena vyhúkne náhle plod nenávisti, pomstychtivosti a krvilačnosti. Pravý plod dehenny. Plod ticíckráť (sic) prekliaty. Plod antikrista.] 124 Hrušovský 1936, S. 164 [Až potom uvidíte, akou vám bude drahou, sladkou vlasťou.].

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gelegt, da Hrušovský Erlebnisse aus dem Krieg darin verarbeitet.¹²⁵ Geprägt wird dessen ideologische Ausrichtung aber auch durch Hrušovskýs Nähe zur tschechoslowakischen Agrarierpartei, für deren Zeitungen er als Redakteur arbeitete und somit auch deren Positionen vertrat. Die Anhänger dieser Partei pflegten einen gemäßigten, liberalen Nationalismus, den sie – wie ihr prominenter Politiker Milan Hodža – mit der tschechoslowakischen Staatlichkeit für vereinbar hielten. Insofern erzählt Hrušovskýs Roman die erfolgreiche Geschichte einer Befreiung und von der Möglichkeit, als Slowake eine echte Loyalität zur Republik aufzubauen. In der psychologisch-realistisch geschilderten Romanhandlung erzeugen die Vision von den toten Soldaten sowie die Bergpredigt-Adaption deutliche Brüche. Erstere ist zwar eine literarisch gestaltete Ohnmachtsvision und fügt sich so noch einigermaßen in den Gang der Handlung ein. Doch enthält auch sie bereits eine propagandistische Botschaft, die den Rahmen der Figurenpsyche übersteigt. Insofern hat der Autor an dieser Stelle einen eigenständigen Text collagenhaft eingefügt, was durchaus als modernes Stilmittel zu werten ist. Noch deutlicher wird der Bruch im Narrativ durch die gut erkennbare Verwendung der Bergpredigt als mythische Folie für die Handlung, wobei die biblische und die Romangeschichte überblendet werden und gleichzeitig lesbar bleiben.

Uninationale Regeneration bei Štefan Gráf Ebenfalls einen Wenderoman, allerdings aus einem größeren zeitlichen Abstand und deshalb vor einem anderen historischen Hintergrund verfasste Štefan Gráf. Die Handlung des 1938 erschienen Romans „Zmätok“ [Chaos] ist in die Jahre 1918 bis 1921 zurückverlegt, wobei das Schwergewicht auf dem Wendewinter von 1918/1919 liegt. Schauplatz der Handlung ist wie auch bereits im Roman „Zápas“ das nahe der österreichischen Grenze gelegene fiktive Dorf Medzniky [Gräben, Hindernisse]. Allerdings nimmt die Topographie deutlich Bezug auf Gráfs Geburtsort Gajarý, der selber ein Grenzort war, mit einer Brücke über die Morava/March. Unweit des Dorfes ist auch die Kleinstadt Malacký gelegen, in der Gráf von 1919 bis 1926 tätig war; von einer nahe gelegenen Stadt, in der ein Markt abgehalten wurde und sich eine Kaserne befand, ist im Roman die Rede. Am Dorf Medzniky und seinen Bewohnern wird gezeigt, wie sich die Folgen des Krieges auswirken und und welche Wirren und Zumutungen es bedeutete, die

125 Hrušovský meldete sich 1913 als einjähriger Freiwilliger zur österreichisch-ungarischen Armee. Im Jahr darauf wurde er an die Ostfront abkommandiert. Nach einer Verletzung und der Rekonvaleszens diente er als Offizier bis zum Kriegsende an der italienischen Front, was er unter anderem im besprochenen Roman behandelte. Vgl. Bábik 2004, S. 10.

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ausgerufene Republik zu etablieren. Ähnlich wie Urban in „Zivy bič“ fängt Gráf die Ereignisse mit einem Blick für die Zeitgeschichte ein. Im Versuch, die neue staatliche Ordnung in einem slowakischen Dorf Realität werden zu lassen, treffen konfliktreich verschiedene Freiheitsvorstellungen aufeinander. Konkret werden sie durch die wechselnde Besatzung des Dorfes von polizeilichen, militärischen oder paramilitärischen Truppen gestutzt. Aufblitzende Momente freiheitlicher Entwicklungen werden durch neue Machtansprüche, die die jeweiligen Exekutivkräfte repräsentieren, unterminiert. Die Truppen aus Freiwilligen, Kriegsheimkehrern und Legionären konnten historisch aus Tschechen und auch Slowaken zusammengesetzt sein. Im Roman jedoch stehen sie als Tschechen stets den Slowaken gegenüber. Sie sind durch ihre tschechische Sprache markiert. Die Begegnungen verlaufen in der Regel konfrontativ, konfliktreich und zum Teil mit großer Brutalität. Das wichtigste Instrument, um Ansprüche durchzusetzen, ist in Gráfs Darstellung der Wendezeit das Gewehr. Gráf erzählt, dass den Slowaken die neue Ordnung aufoktroyiert wurde und sie nicht selber ihr nationales Schicksal bestimmen konnten. Zugleich wird auch der zeitgenössische Vorwurf, die Slowaken hätten sich an der Befreiung in der Übergangszeit nicht beteiligt, sondern seien passiv gewesen, ad absurdum geführt, da die Befreiung in Gráfs Darstellung eher eine Besetzung ist. Auch kulturell öffnet sich ein Abgrund zwischen den Slowaken und den Tschechen. Eine Truppe von Wachsoldaten hisst bei ihrer Ankunft eine schwarze Fahne mit einem roten Kelch gleich neben der Republikfahne. Die tschechische Symbolik wie die hussitische Religion und die Institution des Sokols greifen in die althergebrachte Struktur der Dorfgemeinschaft ein. Gerade die Sokolbewegung gilt als eine der stärksten tschechisch nationalistischen Bewegungen, die zudem bis vor dem Ersten Weltkrieg eine neo-slawische Bewegung war, in der die Tschechen eine kulturelle Überlegenheit gegenüber den andern slawischen Nationalitäten, vor allem der Habsburger Monarchie, inszenierten.¹²⁶ Ein wichtiges Thema im Dorf sind kurz nach dem Krieg die Eheschließungen. Wegen des Männermangels lassen sich die jungen Frauen mit den tschechischen Wachsoldaten ein, die lediglich die Naivität der Slowakinnen ausnutzen, nicht aber ans Heiraten denken. Beispielhaft geht Gráf auf eine Beziehung näher ein. Die Schwester des Pfarrers stammt aus einem intellektuellen städtischen Millieu. Ihre Beziehung zu einem tschechischen Leutnant ist potenziell möglich, doch sie scheitert an der mangelnden Authentizität der städtischen Protagonistin und

126 Vgl. Nolte, Claire E.: All for One! One for All! The Federation of Slavic Sokols and the Failure of Neo-Slavism, in: Pieter M. Judson, Marsha L. Rozenblit (eds.), Constructing Nationalities in East Central Europe, Oxford 2005, S. 126–140.

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weil der Leutnant im Kampf tödlich verletzt wird. In dieser Episode werden die nationale und die Stadt-Land-Thematik miteinander verschränkt. Dass es zu keinen Eheschließungen zwischen tschechischen Männern und slowakischen Frauen kommt, vermittelt auch eine Analogie zur Ehe auf Republikebene, die aus der Sicht des Autors zum Zeitpunkt des Entstehens des Romans längst als gescheitert gilt. Die Eheschließungen auf slowakischer Seite sind ein Fluchtpunkt des Romans. Sie halten für die Dorfgemeinschaft das Potenzial bereit, sich zu erneuern und fortzubestehen. Mit diesem Ausgang hält sich Gráf zwar an die Vorlage der „Illusions perdu“ von Victor Hugo, bei dem die Ehen ein Ort des Rückzugs und der individuellen Freiheit sind, die die liberale Gesellschaftsverfassung nicht ermöglicht. Bei Gráf hingegen ist das Private ein Ort des Widerstands und der Erneuerungsmöglichkeit für die Gemeinschaft im Gegensatz zur feindlichen und fremden Gesellschaft. Während die Auferstehungsmetaphorik in den behandelten Romanen für die Übergangszeit der nicht vollendeten Befreiung steht, basiert Gráf seinen Roman auf einer Erneuerungsidee. Die Idee der biologischen Erneuerung durch eine uninationale Ehe als Regenerationsquelle der nationalen Gemeinschaft ist ein wesentlich konkreteres Konzept, das allerdings erst mit einem größeren zeitlichen Abstand gegen Ende der Ersten Republik entwickelt wurde.

8.5 Biologistische und völkische Konzepte Der Vollzug eines Opfers ist der religiöse Akt schlechthin. Geopfert werden üblicherweise Dinge, die einen besonderen Wert darstellen, vor allem solche, die das Leben selbst verkörpern oder es symbolisieren: Nahrung, Tiere, Menschen.¹²⁷ Eine wesentliche Funktion des christlich-religiösen Opfers ist die Selbstaufgabe und die Anerkennung der Gemeinschaft, deren kollektive Kräfte von Gott repräsentiert werden.¹²⁸ In komplexen, hoch entwickelten Gesellschaften bildeten sich normalerweise Klassen von Kultzuständigen heraus, deren Zugehörigkeit ererbt war oder antrainiert werden musste. In der katholischen Kirche ist es ausschließlich den männlichen Priestern erlaubt, die heiligen Sakramente/Opferungen, etwa die Eucharistie, zu vollziehen. Diese Exklusivität beim rituellen Opfer erzeugt in einer soziologischen Perspektive die Kontinuität der Priesterkaste. Vor diesem Hintergrund gewinnt das Frauenopfer in den Texten nationalistischer Autoren eine besondere Bedeutung.

127 Sacrifice, in: The Encyclopedia of Religion, ed. Mircea Eliade, Vol. 12, London 1987, S. 544–557. 128 Encyclopedia 1987, S. 551.

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Das Opfer ist Voraussetzung für ein religiöses Martyrium, zu dem es eine Gemeinschaft nachträglich erklärt. Dabei wird das menschliche Opfer analog zum ursprünglich tierischen mit einer heiligen Kraft aufgeladen. Als Märtyrer wird das Opfer mit einer positiven Bedeutung ausgestattet, indem es zum Helden einer bestimmten Gruppe wird, oft einer Minderheit, die der Tyrannei einer Mehrheit ausgesetzt ist. Der ursprünglichen Wortbedeutung aus dem Griechischen entsprechend ‚bezeugt‘ der Märtyrer durch eine bestimmte Tat seinen Glauben. Das exemplarische Martyrium im Christentum ist der Leidensweg und die Kreuzigung Christus’ auf Golgotha. Das Martyrium hat die Funktion, die Menschen zu stärken, ihr Leid zu tragen und sich gegen den Feind zu wehren. Es spiegelt somit stets den letztlich politischen Konflikt zwischen zwei Gesellschaften oder zwischen einer Minderheit und einer Mehrheit innerhalb einer Gesellschaft.¹²⁹ Neben dem Opfer und dem Martyrium kehrt das religiöse Konzept der Reinigung leitmotivisch in nationalistischen Texten wieder. Auch hier leitet sich der ästhetische Gebrauch aus der religiösen Bedeutung ab. Einer etablierten anthropologischen Sichtweise zufolge ist die religiöse „Reinigung“ ein Konzept des Dazwischen: „[. . . ]whatever falls between the social categories developed by human religious systems to comprehend and impute a sense of order and reality is considered to be impure.“¹³⁰ Die Vorstellung von Verunreinigung impliziert die Forderung nach einer Reinigung. Im religiösen Sinne bezieht sich diese Reinigung normalerweise auf das Dreieck zwischen Individuum, Kosmos und sozialer Ordnung. Reinheitsnormen transportieren Vorstellungen von einer Gemeinschaft und leiten die Individuen zu entsprechendem Handeln an: Pollution/purity norms serve clear sociological and psychological purposes, reinforcing the boundaries of the community, ensuring the survival of the group, reinforcing principles of health, and assisting individuals to cope ritually with life crises. Still, the relationship of people to the supernatural remains the focal point of purification rites throughout the world.¹³¹

Neben der sozial stabilisierenden Funktion und Anleitung zum Umgang mit krisenhaften Situationen hat im religiösen Kontext die Reinigung auch die Aufgabe, die reale Ordnung zu überschreiten und eine Beziehung zum Spirituellen, Göttlichen herzustellen. Diese Funktionalität wird aus dem religiösen Kontext in die nationalistische Literatur und Ideenwelt übertragen: In jenen Vorstellungen verlangt

129 Klausner, Samuel Z.: Martyrdom, in: The Encyclopedia of Religion, ed. Mircea Eliade, Vol. 9, London 1987, S. 230–238. 130 Preston, J. J.: Purification, in: The Encyclopedia of Politics and Religion, ed. Mircea Eliade, Vol. 12, London 1987, S. 91–100; hier S. 92. 131 Preston 1987, S. 99.

8.5 Biologistische und völkische Konzepte |

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eine Verunreinigung als Sinnbild für eine krisenhafte, zu verändernde soziale Ordnung nach einer Reinigung, das heißt nach der Beseitigung der Ursachen für die Verschmutzung. Weniger explizit ist hingegen die transzendente Referenz, deren Platz in diesen Texten die Idee der Nation als moralische, gemeinschaftsstiftende Institution einnimmt. Das Konzept der Reinigung gewann ab Ende der Zwanziger-, Anfang der Dreißigerjahre zunehmend an Publizität. Martin Rázus ist hier hervorzuheben, der relativ früh die Metapher von der Nation als Organismus in seiner Rhetorik verwendete. Er betrachtete als wesentliche Aufgabe der Nationalisten, den vermeintlich kranken nationalen Organismus zu heilen. So stellte er den Parlamentswahlkampf der Slowakischen Nationalpartei im Jahr 1929 unter das Motto einer medizinischen Metapher: „In den Kampf gegen – den Krebs!“¹³² Alles, was zur Spaltung und Uneinheitlichkeit der slowakischen Nation führte, Standesdenken, Konfession oder Habgier, würde den nationalen Organismus schädigen: „Der Organismus unserer Nation ist krank: Bakterien, in seinen Körper eingeimpft, von Fremden und Eigenen, fanden einen guten Boden.“¹³³ Rázus verwendete diese Spielart eines metaphorischen Biologismus nicht in einem ethnisch-rassistischen Sinne, sondern vor allem ideologisch gegen den Tschechoslowakismus, den er sowohl von Tschechen als auch von Slowaken vertreten wusste. Die Konzepte „Opfer“ und „Reinigung“ schlugen sich in bestimmten literarischen Themengebieten nieder. Eine wichtige Vorstellung im literarischen Nationalismus ist jene von der ländlichen Slowakei. Ein Stadt-Land-Gegensatz wurde mit bestimmten Implikationen herausgearbeitet. Anfänglich dominierten naiv-idyllische Repräsentationen und programmatische Vorstellungen von einer ländlich geprägten Slowakei. In diesem Zusammenhang standen auch Neu- oder Erstauflagen von älteren literarischen Texten, etwa vom Ende des 19. Jahrhunderts. So veröffentlichte der Volksparteifunktionär und Dichter der älteren Generation Ján Kovalík-Ustianský 1926 seine traditionalistischen „Mythen der Tatra“¹³⁴, die er zwischen 1891 und 1893 geschrieben hatte, und widmete sie Andrej Hlinka, „dem Führer der slowakischen Nation“. Von der zeitgenössischen Literaturkritik wurden sie zwar als konventionell und zu wenig innovativ kritisiert, doch hatten sie in der nationalistischen Literatur ihren Platz. Eine gleichermaßen romantische Auffassung von der slowakischen Literatur propagierte auch der spätere Literaturkritiker T. Cisár noch 1920 in der Zeitschrift

132 Martin Rázus: Do boja proti – rakovine! In: Národnie noviny, 60, 125, 25.10.1929, S. 1. 133 [Organizmus nášho národa je chorý: bakterie, naočkované do jeho tela, cudzími i vlastnými, našly (sic) dobrú pôdu.] 134 Kovalik-Ústiansky, Ján: Báj Tatier. Lyricko-epická báseň. Sobrané Diela II [Mythen der Tatra. Lyrisch-episches Gedicht. Gesammelte Werke II], Trnava 1926.

346 | 8 Literarische Praxis Vatra.¹³⁵ Er forderte eine slowakische Dichtung, die die Schönheit der Landschaften, Ruinen, Denkmäler, Trachten und der Folklore beschreibt. Die slowakischen Literaten sollten die prächtige Tatra beschreiben, die das „unbefleckte Volk“ wie eine treue Mutter wiegte, und die Volksbräuche festhalten, die „das unmoralische Stadtleben noch nicht verdorben hat“. Das für den Katholizismus zentrale Konzept der unbefleckten Empfängnis erweist sich als bildspendend für die Idee eines reinen slowakischen Volks, worunter hier die Einhaltung von Moralvorstellungen, die auf dem Land herrschten, verstanden wird. Das Dorf wurde als Gegengewicht zur Stadt präsentiert, um die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse anzuprangern. Mit der zunehmenden Radikalisierung, die auch im Kontext des europäischen Umfelds stand, hielten Elemente Einzug in die Darstellung des ländlichen Lebens, die vergleichbar mit völkischen Ideen sind. Die Dorfgemeinschaft wurde als Ursprung des Volkes verstanden. Sie wurde zum Reservoir der nationalen Erneuerung, zum Ausgangsort einer „geistigen Revolution“, die auf die Veränderung der sozialen Situation in den Städten abzielte. Die Schriftsteller der nationalistischen Literatur befragten das Dorf vor allem in seiner Funktion für die Stadt und stellten es somit auch zumeist im Zusammenhang mit ihr dar. Aus dieser Perspektive ist der für die betreffende Dichtung gebräuchliche Begriff der „ruralen“ Dichtung ungenau. Vielmehr zeichnete sich eine Art völkisch-nationalistischer Wende ab, wofür besonders Andrej Žarnovs Werk steht. Realistische Darstellungen der ländlichen Gesellschaft waren fester Bestandteil der slowakischen literarischen Tradition. An diese anknüpfend gestalteten nationalistische Autoren das Dorf als realistischen Schauplatz slowakischen Lebens. Die aktuellen und akuten sozialen Probleme deuteten sie als Folge der Modernisierung und der politischen Verhältnisse. Die Städte bildeten im Gegensatz dazu den Raum, in dem eine slowakische Gesellschaft an ihrer Entfaltung gehindert wurde, weil dort andere soziale oder ethnische Gruppen dominierten. Wie stark die biografische Sozialisierung den literarischen Nationalismus prägte, zeigt das Beispiel von Urbans Roman „V osídlach“ [In Fesseln]¹³⁶. Darin spitzen sich die Konflikte derart zu, dass sie nicht mehr im konfliktbeladenen sozialen Raum – der Stadt – lösbar sind, sondern externalisiert werden. Der Fluchtpunkt der Nation wird dabei ganz konkret der ländliche Raum, und zwar nicht einfach als Gegensatz zur Stadt, sondern als symbolischer Herkunftsort. Es lässt sich hier

135 T. Cisár: „Poezia a Slovensko“ [Die Dichtung und die Slowakei], in: Vatra, 3, 2, Oktober 1920, S. 30 f. 136 Urban, Milo: V osídlach [In Fesseln], Martin 1940.

8.5 Biologistische und völkische Konzepte |

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von einem selektiven Sinngebungsprozess sprechen, der eine „symbolische Sinnprovinz“¹³⁷ erzeugt. Die „Stadt“ mussten sich die Slowaken in zweifacher Hinsicht in der Zwischenkriegszeit aneignen. Zum einen als sozialen Ort, in dem sie von der untersten sozialen Schicht aufstiegen und einen Verbürgerlichungsprozess anstrebten. Zum anderen auch in ästhetischer Hinsicht, denn die Kultur war im ersten Jahrzehnt des Bestehens der Tschechoslowakei noch stark traditionalistisch geprägt.¹³⁸ Die Zeit der wirtschaftlichen Depression beschleunigte jedoch die thematische Verschiebung. Štefan Gráf etwa, der als Vertreter eines späten Expressionismus gilt, machte die Stadt in seinen Romanen und Erzählungen immer wieder zum Schauplatz sozialer Missstände. Er veröffentlichte seine literarischen Werke in Buchform allerdings erst Ende der Dreißigerjahre. Milo Urban, der viel früher als Autor in Erscheinung trat, brachte die Stadt entsprechend spät in seine Romane ein. In „Živý bič“ von 1927 spielt sie noch keine Rolle. In „Hmly na úsvite“ von 1929 ist Prag die Verkörperung der den ländlichen Slowaken feindlich gegenüberstehenden Stadt. Erst im dritten Teil seiner Zwischenkriegstrilogie, in „V osídlach“, wird eine slowakische Stadt zum zentralen Schauplatz, während die Ereignisse auf dem Lande nachgeordnet sind. Tido Gašpar spricht in seinen Memoiren von der „Slowakisierung des Nachtlebens“ und zielt damit in erster Linie auf die kulturelle Slowakisierung des Stadtlebens ab und eine slowakische Hoheit über den kulturellen Raum. Dies hatte seine Ursache in der tatsächlich sozial niedrigeren Stellung der Slowaken. Allerdings bestand die Slowakisierung nach seinen Beispielen darin, ländliche Gepflogenheiten in der Stadt zu etablieren. Gašpar und die Intellektuellen in seinem Umfeld versuchten, aus dem Nachtleben, den Bars und Cafés deutsche und ungarische Schlager zu verdrängen, indem sie diese mit slowakischen Volksliedern zu übertönen versuchten.¹³⁹ Als Künstler versucht Gašpar dies mit einem ästhetischen Mittel zu erreichen, wie es aus anderen europäischen Metropolen, etwa Berlin

137 Vgl. Hillebrandt 2009, S. 387. 138 Magdolenová, Anna: Výtvarné umenie na Slovensku v medzivojovom období (1918–1939) [Die Bildende Kunst in der Slowakei in der Zwischenkriegszeit (1918–1939)], in: Historický časopis 33, 3. 1985, S. 397–422; hier S. 407. 139 Die Historikerin Elena Mannová stellt im Zusammenhang mit der Slowakisierung der Städte eine Ruralisierung fest, d. h. es fand ihres Erachtens nach kein nachweisbarer Verbürgerlichungsprozess der Slowaken statt, die nach 1918 vom Land in die Städte strömten. Mannová, Elena: Podmienky vývoja meštianskych vrstiev na Slovensku v 20. storočí. In: Dies., Meštianstvo a občianska spoločnosť na Slovensku 1900–1989, Bratislava 1998, S. 9–15 (deutsch: Mannová, Elena (Hg.): Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft in der Slowakei 1900–1989, Bratislava 1997). Vgl. auch Petrík, Vladimír: Mesto a vidiek v slovenskej medzivojnovej literatúre a v poézii Jána Smreka

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oder Paris, aus dieser Zeit bekannt ist: der Flanerie. Er stilisierte sich als Dandy, Bohemien und Flaneur. Aus der Sicht eines slowakischen Nationalisten bot sich dafür ein slowakischer Konservativismus und Traditionalismus an, der sich aus der ländlichen Utopie und dem Beharren auf dem Eigenen speiste. Insofern schuf Gašpar eine spezifisch slowakische Variante von Dandytum und Flanerie. In den standardmäßig zitierten Sätzen von Gašpar und auch Hrušovský über die „Slowakisierung“ oder „Nationalisierung“ des Bratislavaer Nachtlebens in der Zwischenkriegszeit lässt sich gegen alle Erwartung kein antitschechischer Reflex ausmachen. Ebensowenig findet sich darauf ein Hinweis in der literaturwissenschaftlichen Arbeit zur „Zweiten Moderne“ von Michal Habaj, der im Gegenteil die einstigen Zustände idealisiert: Als ‚Kreuzungspunkt‘ verschiedener Kulturen (der ungarischen, deutschen, jüdischen, slowakischen) ermöglichte Bratislava den jungen Schriftstellern, sich frei in verschiedenen Codes zu bewegen (im Pester, Wiener, jüdischen, slowakischen, europäisch-großstädtischen, volkstümlich-folkloristischen u. a.) und gleichzeitig Topoi verschiedener kultureller Provenienz zu entwickeln (Kaffeehaus – Weinstuben, Jazz und Tango – Zigeunermusik und Cardás – slowakische Volkslieder und den Odzemok¹⁴⁰ und ähnliches).¹⁴¹

Habaj reproduziert, was die beiden Schriftsteller in ihren viel später geschriebenen Memoiren verklärten bzw. eliminierten: dass nämlich Tschechen als neue Beamtenoberschicht sowie deutsch- und ungarischsprachige Juden mit ihrer gewachsenen Kultur den slowakischen Homogenisierungsabsichten im Weg standen. In einigen Romanen wird die Stadt entsprechend wie eine Festung dargestellt, die den Slowaken den Zugang verwehrt, so dass die Protagonisten ins Dorf zurückkehren. Bei Urbans Stadtschilderung in „Hmly na úsvite“ versinnbildlicht der Hochhausbau die menschenfeindliche, kapitalistische Stadt, und zwar im Gegensatz zur ärmlichen, aber moralisch intakten slowakischen Dorfgemeinschaft.

[Stadt und Land in der slowakischen Zwischenkriegsliteratur und in der Dichtung von Ján Smrek], in: Slovenská literatúra, 46, 2, 1999, S. 81–85; hier S. 81. 140 Slowakischer Tanz. 141 Habaj 2005, S. 25 [Ako „trasovisko“ rôznych kultúr (maďarskej, nemeckej, židovskej, slovenskej) Bratislava umožňovala mladým spisovateľom voľne sa pohybovať vo viacerých kódoch (v peštianskom, viedenskom, židovskom, slovenskom, európsko-veľkomestskom, ľudovo-folklórnom a i.) a zároveň rozvíjať toposy rôznej kultúrnej proveniencie (kaviarne – viechy, jazz a tango – cigánska hudba a čardáš – slovenské ľudové piesne a odzemok a pod.).]

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Andrej Žarnovs ländliche Therapie Während Žarnov in seinem ersten Gedichtband „Stráž pri Morave“ vor allem einen Exklusionsdiskurs führte, der sich gegen die Tschechen richtete, sind seine folgenden Gedichtbände vornehmlich inklusiv ausgerichtet, das heißt er wendet sich darin den Möglichkeiten einer slowakischen Erneuerung zu. Im zweiten Werk „Brázda cez úhory“ [Furche durchs Brachland]¹⁴², das 1929 im Eigenverlag erschien, entwarf Žarnov eine integrative Poetik des Ländlichen für seine nationalistischen Anliegen. Auf dem Land finde er, wie er sagte, die „ewigen Werte des Lebens“¹⁴³. Thematisch bestimmend war in diesem Werk sein konservativ-traditionalistischer Standpunkt. Mit Aleida Assmann könnte man diese Hinwendung zum Ländlichen auch als nationalistische Entfremdungstherapie¹⁴⁴ bezeichnen, in der sich die Nation kurieren könnte. Doch beschränkt sich Žarnov nicht auf den Entwurf einer trostspendenden Gegenwelt. Vielmehr ist die Entfremdungstherapie Teil seines Konzepts von einem gesellschaftlichen Umsturz, deren Ressource der ländliche Raum bildet. So thematisiert der Autor die ländliche Gesellschaft nicht als Idyll, sondern stets als Ausgangspunkt und Ressource eines Kampfes. So heißt es in „Furche durchs Brachland“: „Gib mir, Gott, keinen idyllischen Moder hinter dem stählernen Pflug – gib Feuer in die Seele (. . . ).“¹⁴⁵ In dieser Gedichtsammlung drückt Žarnov vor allem das Gefühl von Stagnation aus, was mit der politischen Situation korrespondiert. Die Durchsetzung ihrer Ziele wurde für die slowakischen Nationalisten schwieriger; die Regierungsbeteiligung der Volkspartei 1927 bis 1929 brachte nicht die erhofften Verbesserungen, im Gegenteil war die Partei nach nur zwei Jahren unter Protest aus der Koalition ausgetreten. Zudem schwächten sie interne personale Auseinandersetzungen und drastische Maßnahmen der Zentralregierung, vor allem der Hochverratsprozess gegen Tuka¹⁴⁶. Vor diesem Hintergrund versuchte Žarnov die Slowaken zum Widerstand zu motivieren: „Ersetze die Peitsche durch einen Blitz, gib mir den Befehl des Donners, den Schrei, lass des Pfluges scharfe Bahnen ein Gespann aus verschiedenen

142 Žarnov, Andrej: Brázda cez úhory [Die Furche durch den Acker], in: ders., Stráž pri Morave, Básne, Martin 1940, S. 81–150. 143 Pišut, M.: Rozhovor s Andrejom Žarnovom, in: Elán, 10, 8, 1940, S. 3–4. 144 Assmann, Aleida: Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Nationale Diskurse zwischen Ethnisierung und Universalisierung, in: Ulrich Bielefeld, Gisela Engel (Hg.), Bilder der Nation. Kulturelle und politische Konstruktionen des Nationalen am Beginn der europäischen Moderne, Hamburg 1998, S. 379–400, hier S. 388. 145 Žarnov/Brázda 1940, S. 85 [Nedaj mi, Bože, idylickej plesne za oceľovým pluhom – daj ohňa v dušu (. . . )]. 146 Siehe auch das Kapitel 4 dieser Arbeit.

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Kräften ermöglichen: Lutheraner und Katholik. . . “¹⁴⁷ Žarnov stellt mit Hilfe landwirtschaftlicher Metaphorik die nationale Idee über die beiden Konfessionen als höchstes ideelles Prinzip. Die Konzepte Auferstehung und Reinigung verbindet der Autor im Poem „Am Scheideweg“¹⁴⁸: (. . . ) und ich weiß, dass auch die tote Erde und auch das Skelett im Grabe sich bewegen. (. . . ) Aber dennoch wird alles anders, die Liebe von Morgen wird anders und auch der Glauben ein anderer, und die Hoffnung eine andere, und in Schönheit verwandelt sich der Schmutz.¹⁴⁹

Die Landarbeit birgt das Potenzial der Reinheit, wobei sie hier als ästhetische Kategorie aufgefasst wird. Eine Dichtotomie zwischen Stadt und Land entwirft der Autor auf der Basis seiner völkischen Attribute Gesundheit, Sauberkeit, Ganzheitlichkeit im Poem „Auf anderen Feldern“¹⁵⁰. Žarnov setzt hier antithetisch dem als lebendig konnotierten Ackerboden die tote städtische Architektur entgegen: So eine bist du, solch eine Stadt, das liebliche Haupt und der Stolz unserer Städte: die Seele schwimmt dir in schmutzigem Hass und die Brust seufzt, hustet wie eine alte Orgel. Ich hasse dich und verachte deinen Ruhm, deine Zellen werden dir das Grab schaufeln und dir Mauern über den Kopf wälzen.

Nach dieser Tirade reist das Ich „wie ein verletzter Vogel“ – zur Genesung – zurück ins Dorf. Die Stadt wird als kranker, schmutziger Organismus dargestellt, in dem die Individuen sich Verletzungen zuziehen. Auf dem Land, wo die Sonne durch Felder und Berge geboren werde, seien die Menschen noch „ganz“: gute Naturwesen, „Brüder der Moose und der Linden“. Seine völkische Homogenitätsvorstellung drückt Žarnov in seiner Beschreibung des idealen slowakischen Kollektivs auf dem Lande aus: Hier gibt es nur eine Kirche und einen Gott – Hier gibt es keinen Gott der Deutschen, keinen der Magyaren und keinen Gott tausender Rassen, von denen jede nur Abscheu erregt, hier ist keine trübe Brühe aus Götterdämmerungen, hier gibt es nur einen Gott – der Menschen!

147 „Na úhoroch“ [Auf den Brachen], in: Žarnov/Brázda 1940, S. 85 f. [Zameň bič bleskom, daj mi hromu povel, krik, nechže pluha ostré drahy zmôže záprah rôznoťahy: luterán a katolík. . . ] 148 „Na rázcestí“, in: Žarnov/Brázda 1940, S. 106–119. 149 Žarnov/Brázda 1940, S. 118 [(. . . ) a ja viem, že i mŕtva zem a že i kostra v hrobe pohýbe sa. (. . . ) No však všetko bude iné, láska zajtrajška iná, i viera iná, i nádej iná, a v krásu sa zmení špina.] 150 Žarnov/Brázda 1940, S. 120–148.

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Dies ist eine Schlüsselstelle der Sammlung, die den Eindruck erweckt, Žarnov schwebte eine Religion vor, die alle Partikularitäten überwinden sollte. Diese Stelle wird denn auch in der Forschungsliteratur als Ausdruck von Žarnovs christlichhumanistischem Denken interpretiert: „Žarnovs Appell für eine neuerliche Einheit zwischen Katholiken und evangelisch Gläubigen, und sogar für eine christliche Solidarität zwischen Slowaken, Tschechen, Ungarn und Deutschen finden wir schon in Brázda cez úhory.“¹⁵¹ Gegen das Verständnis von einer Einheit zwischen Katholiken und evangelisch Konfessionellen ist nichts einzuwenden, denn die autonomistische Bewegung arbeitete zeitweise mit den evangelischen Nationalisten zusammen. Von einer christlichen Solidarität zwischen den verschiedenen Ethnien kann hier indes keinesfalls die Rede sein, da Žarnov gerade den Ort mit dem singulären Gott jenem der vielen Götter der Ethnien als Alternative gegenüberstellt. Von den vielen Göttern schreibt er mit größter Verachtung, wobei er die jüdische Religion nicht einmal nennt, sondern nur als Abscheu erregend impliziert und dann auch noch die atheistischen Kommunisten als Götterdämmerung verbrämt. Žarnov denkt hier in einer totalitären Ausschließlichkeit an eine rein slowakische Nation, die bestenfalls neben den slowakischen Katholiken noch Platz für slowakische Anhänger des evangelischen Glaubens hat.¹⁵² In vielen slowakischen Dörfern herrschten zu jener Zeit noch die von Žarnov als ideal empfundenen rein slowakischen Verhältnisse im Gegensatz zu den kulturell durchmischten Städten. Ein weiteres Argument gegen Pašteka findet sich anschließend, wo Žarnov das erhoffte Kollektiv beschreibt: „Hier sind alle eins (. . . ) Eine ist die Sprache, eins auch die Schwielen, eins auch die Ziele (. . . ).“ Wenn Žarnov hier die Einheitlichkeit der Sprache erwähnt, muss man das auf die vielsprachige slowakische Öffentlichkeit beziehen, beziehungsweise auf die Unterrepräsentiertheit des Slowakischen. Für seine völkischen Absichten bietet der Autor eine drastische Lösung an in Form einer einer Sintflut, die die Städte überschwemmt, ausgelöst durch ein prometheisches Feuer: „He, gleich einer Fackel, einem zündenden Apostel, käme das neue Leben, das slowakische Leben unter den Strohdächern hervor, das tote Feld

151 Vgl. Pašteka, Július: Andrej Žarnov, básnik slovenského národného aktivizmu [Andrej Žarnov, Dichter des slowakischen nationalen Aktivismus], in: ders. et al., Andrej Žarnov. Výberová personálna bibliografia. Úvahy o diele [Andrej Žarnov. Ausgewählte Personalbibliografie. Essays über das Werk], Bratislava 2000, S. 25. 152 Die Einheitsutopie bei Žarnov deckt sich auffallend mit einer Äußerung von Karol Sidor vom 11.11.1938, in einem Gespräch sagte er gegenüber der Zeitschrift Venkov, er habe schon 1921 im Slovák geschrieben: „Wir Jungen möchten in der Slowakei einen Gott, eine Nation, eine Kirche, eine Partei, und dahin werden wir auch kommen.“ (zit. nach Bystrický, Valerián: Vysťahovanie českých štátnych zamestnancov zo Slovenska v rokoch 1938–1939, in: Historický časopis, 45, 4, 1997, Anmerkung 25).

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aufzuwecken!“¹⁵³ Die Berge würden dann die Straßen der schimmligen Städte überschwemmen, heißt es weiter. Wieder wird hier das Bild einer Reinigung verwendet: in der christlichen Bildlichkeit die Beseitigung der Sünden und der Neuanfang. Die Städte – in der Ebene – sind in einem schmutzigen, fauligen Zustand, und die Berge kämen wie eine Flut, um den Schmutz wegzuwaschen. Žarnovs Idee einer „geistigen Revolution“ bedeutete demnach, die urbane Gesellschaft durch die Lebensweise und das Denken der ländlichen Menschen zu kurieren, was letztlich eine antizivilisatorische Geste darstellte. Auch der Entwurf eines „neuen Menschen“ gehört zu Žarnovs völkischer Heilslehre. Seine Utopie zeichnet einen paradiesischen Zustand, ein nationales Himmelreich auf Erden, wo es den „neuen Glauben an die Weite der Felder“ gibt, wo Tausende gleichgesinnter Menschen auferstanden seien und es keine Herren und Knechte mehr gebe. In dieser Sozialutopie unterscheidet sich Žarnov wenig von kommunistischen Vorstellungen vom neuen Menschen und einer sozial gerechten Welt.

Charismatische Heilung und mythische Erdkraft bei Milo Urban Eine charismatische Inkarnation als Repräsentanz des Volkswillens und Erlösungshoffnung entwirft Milo Urban in der Figur des Priesters Ondrej Černovský¹⁵⁴ alias Andrej Hlinka im Roman „Hmly na úsvite“ [Nebel im Morgengrauen]¹⁵⁵. Die Beschreibung dieser Figur soll eine Alternative zu den bestehenden politischen Institutionen, wie Parteien und Vereinen, aufzeigen, da sie nach Urbans Darstellung dem unmittelbaren Bezug zwischen dem charismatischen Führer und der Erfahrung, Teil eines Volkes zu sein und ebenso unmittelbar Gott gegenüberzustehen, im Wege stehen. Die Figur des Priesters zeichnet sich gegenüber ihren Anhängern ein Charisma aus, das alle zu einer unhinterfragten Hingabe verpflichtet und eine natürliche Autorität ausübt. Urban adaptiert dabei die religiöse Vorstellung, nach der sich im Charisma die besondere Gottesgabe, Offenbarungen zu empfangen, manifestiert. Die Romanfigur, ist selber ein katholischer Priester ist, besitzt diese Fähigkeit jedoch unabhängig von seiner Priesterweihe, denn auch seine Anhänger sind Priester. Er hebt sich von diesen durch ein zusätzliches spirituelles Moment ab,

153 Žarnov/Brázda 1940, S. 131 [Hej, tak byť fakľou, tak byť žhavým apoštolom, ten nový život, slovenský život zpod striešok slamených vzbúšil by mŕtvym poľom!]. 154 Černová, Hlinkas Geburtsort, wurde 1907 im Zusammenhang mit Hlinkas Person und aufgrund gewalttätiger Handlungen der Polizei bei der Kircheinweihung selber zum slowakischen Erinnerungsort. 155 Urban, Milo: Hmly na úsvite. Román [Nebel in der Morgendämmerung. Roman], Prag 1930.

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mit dem er es schafft, eine ganze politische Bewegung zu integrieren. Die charismatische Art der Herrschaft und Machtausübung wird im Roman mit institutioneller, mittelbarer Herrschaft kontrastiert. Für die charismatische Herrschaft ist indes die physische Präsenz unabdingbar, die Urban durch eine expressive Beschreibung betont: Ondrej Černovský eignete sich alle typischen Merkmale seiner Väter an. Sie explodierten in seinem feurigen Mund, im unnachgiebigen, keinen Kompromiss oder Autoritäten über sich kennenden Charakter. Sie quollen hervor im Leben des ostentativen Widerstands, der sich scheinbar dieser ewigen Untergebenheit endlich entledigen wollte, dieser schrecklichen Sklaverei des Geschlechts, die ganzen Jahrhunderte des Anderen-Interessen-Dienens. Er warf sich mit seiner ganzen aufgewühlten Seele, feurigem bis abnormalem Temperament in den politischen Kampf für die Freiheit seines versklavten Geschlechts.¹⁵⁶

Explizit vergleicht Urban den charismatischen Protagonisten mit biblischen Figuren: Aber wohl gerade deshalb war Ondrej Černovský etwas mehr. Als ob in seinen Adern Moses erwachte oder einige dieser ruhmreichen Führer, die das jüdische Volk aus dem verfluchten Ägypten in das gelobte Land führten. Es charakterisierte ihn schon jene biblische Reinheit der Taten und der daraus hervorgehende absolut mangelnde Sinn für die materielle Seite der Dinge.¹⁵⁷

Der Charismatiker ist demnach fähig, eine Offenbarung zu empfangen, was seinen quasi natürlichen Anspruch auf Führerschaft erklärt und legitimiert. Wie Jesus scharte er Jünger um sich: „Er sah um sich herum eine bereitwillige Garde von Anhängern, Begeisterung, Entflammtheit und mehr war ihm nicht nötig. Er war überzeugt, dass er mit diesen Freiwilligen, die ihm Treue im Leben und im Tod schworen, Berge überwinden könnte.“¹⁵⁸ Seine Art zu politisieren wird als gesunde – „er brauchte Blut, Muskeln, Tätigkeit, den ohrenbetäubenden Lärm einer von Leidenschaften aufgepeitschten Masse“ – dem „normalen politischen Leben mit

156 S. 143 [vtesnal všetky typické znaky svojich otcov. Vybuchly v ohnivých jeho ústach, v neústupnej povahe neznajúcej kompromisu, vrchnosti nad sebou. Vytryskli v živote ostentatívneho záporu, ktorý akoby si bol konečne spríkril tú večnú poddajnosť, to strašné otroctvo plemena, celé storočia slúžiaceho záujmom iných. Vrhol sa celou svojou zjatrenou dušou, zohneným, až abnormálnym temperamentom do politického boja za svobodu svojho zotročeného rodu.] 157 S. 144 [Ale azda práve preto Ondrej Černovský bol čosi viac. V jeho žilách akoby sa bol prebudil Mojžiš alebo niektorý z tých slávnych vodcov, ktorí viedli židovský národ z prekliateho Egypta do zasľubenej zeme. Charakterizovala ho už istá biblická čistota skutkov a z nej vyvierajúci absolútny nedostatok smyslu pre materiálnu stránku vecí.] 158 S. 145 [Videl okolo seba ochotnú gardu dvoranov, oduševnenie, zápal i nebolo mu viac treba. Bol presvedčený, že s tými dobrovoľníkmi, prisahajúcimi vernosť na život a na smrť, prerazi vrchy.]

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seinen tuberkulösen Programmen“ gegenübergestellt. (S. 146) Insofern besteht seine Aufgabe in der Heilung des nationalen Körpers von den Krankheiten der liberalen Demokratie, in der Beseitigung der Krankheitserreger. Die charismatische Figur des Černovský verkörpert selber ein neues Heilsversprechen: „Černovský, Ondrej Černovský ist unser Glauben und unsere Hoffnung. Und – Sie glaubten aufs Neue.“¹⁵⁹ Basierend auf den Herrschaftsdifferenzierungen von Max Weber etablierte sich ein soziologischer Charismabegriff: In der charismatischen Herrschaft spitzt sich die Kompetenz zu symbolisierender Politikrepräsentation insofern zu, als dass der Charismatiker von seiner Gefolgschaft zur Inkarnation der im Umlauf befindlichen politisch-kulturellen Leitvorstellungen erhoben wird.¹⁶⁰

Dem soziologischen Begriff nach ist der charismatische Führer in seiner säkularisierten Funktion fähig, eine nationale Erneuerung im Sinne der quasi heiligen Idee zu bewirken. Urban situiert seinen Charismatiker zwar im religiösen Kontext, deutet ihn aber auch säkular als Figur des Politischen. Die Figur erhält die Aufgabe, dem nationalen Körper in einer krankmachenden Umgebung zur Gesundung zu verhelfen. Die Idee einer personalen politischen Repräsentanz – Voraussetzung für eine autoritäre Führerschaft – wird aus der christlichen Vorstellung einer mit besonderen spirituellen Fähigkeiten ausgestatteten Person abgeleitet. Urban findet hier auf eigenem Weg, und zwar über seine Konfession, zum Entwurf eines nationalistischen Führers, parallel zu den Entwicklungen des Personenkults um Hitler. In Milo Urbans Prosa nimmt die Auseinandersetzung mit dem Klerikalismus und dem katholischen Glauben eine prominente Stellung ein. In einer weiteren Darstellung eines Priesters entwickelt Urban eine pantheistische Vorstellung, wie sie zum Repertoire völkischen Denkens¹⁶¹ gehört. 1924 veröffentlichte Urban in der Zeitschrift Vatra die Erzählung „Svedomie“¹⁶² [Gewissen]. In seinen Memoiren beschreibt Urban, wie der Dichter, Priester und Abgeordnete der Volkspartei Kovalík-Ustianský nach der Veröffentlichung dieser Erzählung in Vatra Urban der Blasphemie und Verunglimpfung der slowakischen Priester bezichtigte.¹⁶³

159 S. 147 [Černovský, Ondrej Černovský je naša viera i naša nádej. A – Verilo sa znova.] 160 Pyta 2008, S. 100. 161 Ausführlich zu pantheistischem und mystischem Denken in der Romantik und Neoromantik bei Mosse 1991, Kapitel 1 und 2. 162 Urban, Milo: Svedomie. Výber zost. Pavol Hudík [Das Gewissen. Auswahl zusammengest. Pavol Hudík], Bratislava 2003. 163 Urban 1992, S. 129–131.

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In der Erzählung beschreibt Urban, wie ein Priester zu einer subjektiven Gotteserfahrung gelangt. Auslöser für seine Verwandlung ist die Erkenntnis der mythischen Kraft der Erde, des Göttlichen in ihr. Der biblische Text und sein darauf beruhender Glauben hatten bewirkt, dass er seiner Gemeinde, dem Volk, fremd geblieben war. Die pantheistische Gotteserfahrung ist bei Urban die Voraussetzung für den Zusammenhalt der Gemeinschaft. Der Priester erkennt seine prioritäre Identität als Zugehöriger zur Gemeinschaft, womit er den Katholizismus ernsthaft in Frage stellt. Gleichzeitig übt Urban Intellektuellenkritik, denn die Liebe zu den Gleichen wird als moralisches Konzept höher bewertet als die intellektuelle Tätigkeit des Theologen. Urban gehörte ideell der Gruppe der radikalen Nationalisten an, welche die nationale Frage gegenüber der kirchlichen priorisierte. Seine Verwendung christlicher Ikonographie in der Literatur ist kein Bekenntnis zum katholischen Glauben, sondern Verhikel der neuen säkularen Religion „Nationalismus“. Urbans spirituell-instinktivem Verständnis der Kategorie des Nationalen waren biologistische Vorstellungen leicht anschließbar.

Štefan Gráfs antisemitische Säuberung Mit seinem Roman „Zápas“ [Der Kampf/Das Ringen]¹⁶⁴ traf Štefan Gráf den Nerv der Zeit. Für das 1937 verfasste Werk wurde er 1938 beim Prager Mazáč-Wettbewerb für den besten slowakischen Roman ausgezeichnet. Publiziert wurde der Roman jedoch erst 1939 unter Stanislav Mečiar bei der Matica slovenská. Der Roman ist dem Genre der Desillusionierungsromane nachgestaltet und folgt damit bedeutenden Vorlagen aus der europäischen Literatur, etwa Miltons „Paradise Lost“ und Balzacs Roman „Illusions perdues“. Gráf beschreibt in seinem Roman den kurzen Aufstieg und den langen Abstieg seines Romanhelden, der an den gesellschaftlichen Verhältnissen scheitert. Dabei wird die Folie der Desillusionierung über den zugrundeliegenden Mythos vom geknechteten Volk und der daraus abgeleiteten emanzipatorischen Absicht gelegt. Das große, dem Roman zugrunde liegende Thema ist die Reinigung/Säuberung. Auf dieser Grundlage entwickelte Gráf seine Vorstellungen von der Nation. Das slowakische Dienstmädchen als eine der beiden Hauptfiguren ist vor allem mit Putzen beschäftigt. Ihr Allerweltsname Hana macht sie zu einer Repräsentantin des einfachen slowakischen Volkes – slowakisch im Gegensatz zur jüdischen Oberschicht, da sie bei einem alten jüdischen Ehepaar dient. Als slowakische Unterschichtsangehörige erfährt sie das nationale Martyrium am eigenen Leib. Hanas Worte „– Es schmerzt.“ „Schmerz“ bezieht sich auf die christliche Ikonographie, 164 Gráf, Štefan: Zápas [Das Ringen], Martin 1939.

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auf das Leiden Jesus’ für die Menschheit. Dass der Schmerz über die individuelle Erfahrung hinaus bedeutsam wird, belegt das Spiel mit dem Homonym „život“, das sowohl den „Bauch/Unterleib“ als auch das „Leben“ als Abstraktum bezeichnen kann. Ihre jüdischen Arbeitgeber tragen einen deutschen Namen in deutscher Schreibweise und stehen als nicht-slowakische Angehörige der städtischen Oberschicht für eine egoistische, auf den eigenen ökonomischen Nutzen bedachte, rationale Gesellschaft. Die Protagonistin muss die Fäkalien des alten Juden wegputzen, was nicht nur der Höhepunkt ihrer persönlicher Demütigung ist, sondern auch im übertragenen Sinne jener der Nation. So legitimiert der Autor literarisch sein Anliegen der nationalen Reinigung/Säuberung. Die Beschreibung der charakterlichen Differenzen zwischen den Juden und der slowakischen Hausangestellten wird nationalisiert. Der alte Jude bereitet sich auf das Sterben vor, was als Vorbereitung zur Reise ins „Gelobte Land“ bezeichnet wird. Die Reise ist eine Metapher fürs Sterben, darüber hinaus wird damit die vorgeblich kulturelle Heimatlosigkeit von Juden angesprochen. Während die weibliche Hauptfigur einer realen Nation angehört, gibt es die jüdische Nation nur als Mythos. Ironisierend führt der Autor einen Metadiskurs über die jüdische Religion. Es heißt, der Jude verfalle er in einen „alttestamentarischen Zustand des Geistes“ (S. 12), tauche in die Zeiten seiner Vorfahren zurück, wie sie im Alten Testament beschrieben werden. „Was für ein erhebendes Gefühl in die Vergangenheit des Volkes [národ] einzutauchen!“ (S. 12) Der Jude wird als Angehöriger eines Volkes mit einer rein mythischen Vergangenheit im Gegensatz zum slowakischen Volk dargestellt. Die fehlende völkische Verwurzelung expliziert die Schwester des alten Juden: „Sie ist eine Frau, soll sie mit mir die Last des Ahasvertums tragen.“¹⁶⁵ Durch den Hinweis auf die biblische Gestalt Ahasvers wird der Gegensatz zwischen Slowaken und Juden im Begriffspaar „mythisch“ und „historisch“ gefasst. Das jüdische ist das vertriebene, ewig sich auf dem Weg ins gelobte Land befindende Volk im Gegensatz zum slowakischen, das den Anspruch auf ein nationales Territorium gerade durch seine Sesshaftigkeit geltend macht. Während Gráf die jüdische Religion auf der Metaebene behandelt, verwendet er christliche Vorstellungen, um Aussagen zur Nation zu machen. So wird das slowakische Dienstmädchen zum spirituellen Medium, aus dem die Stimme des geknechteten Volkes spricht: Hana weiß nicht, was mit ihr heute geschieht; als würde sie ein Strahl des Aufruhrs erleuchten, als würde in sie die Botschaft der ewig gleichberechtigten Menschheit eindringen: Richte

165 S. 40 [Je ženská a nech znáša so mnou trápie môjho ahasverstva!]

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dich noch mehr auf. Sie ist ganz schwarz und vielleicht hätte man über ihre SchornsteinfegerMaske gelacht; aber ihre Augen strahlten ein Licht aus, das die Herrin bei ihr noch nie gesehen hat. Hana weiß davon nichts; sie ist sich nicht bewusst, dass sie um ihre menschliche Würde ringt, die systematisch niedergetrampelt wird von den sklavenhalterischen und herrischen Gebräuchen ihrer ‚Brotgeber‘ . . . . Sie wundert sich selber über die Worte, die ihr aus dem Mund mit apostolischer Entschlossenheit fließen. . . ¹⁶⁶

Die Figur erlebt eine Offenbarung quasi-religiöser Natur. Verhandelt wird im Roman auch die Rolle der Kirche. Diese scheint der einzige Zufluchtsort für die Protagonistin zu sein: „still, friedlich und leer“¹⁶⁷. Sie wird vom Erzähler als Bollwerk gegen die Moderne beschrieben: „Wir [die Mauern der Kirche, die Verf.] haben glücklich alle Stürme überstanden; wir halten auch dem Tempo des zwanzigsten Jahrhunderts stand! Nichts wird sich an uns ändern; wir lassen nicht von unserer finsteren Strenge ab. [. . . ] Wir sind hart, unerbittlich, ewig und unveränderlich!“ (S. 62) Die Kirche hat als Platzhalterin für alles Slowakische in der Stadt lediglich eine symbolische Funktion, eine Erlösung aus der Misere bieten Kirche und Religion in Gráfs Darstellung nicht. Das Sakrale, so legt der Autor nahe, ist woanders zu suchen. Völkische Vorstellungen spiegeln sich bei Gráf in der Verteilung der Sprachkompetenzen auf das Romanpersonal. Dass Juden keine Slowaken sein können, zeigt sich in der Handlung um die zweite, männliche Hauptfigur, dessen Widerpart ein jüdischer Bankunternehmer ist. In Gráfs Stadt konzentrieren die Kapitalisten die Macht, und sie unterscheiden sich durch ihre nationale Zugehörigkeit von den Slowaken, die in „ihrer“ Stadt Fremde mit einem niedrigeren Status sind. Das jüdischen Bankdirektors fehlende nationale Verwurzelung zeigt sich unter anderem an seiner Sprachverwendung. Er spricht ein perfektes Hochdeutsch im Geschäft und im Umgang mit seinen Angestellten. Das Deutsche steht für die Rationalität und den Charakter des Juden. Nach dieser Logik ist die Sprache unmittelbarer Ausdruck des Charakters eines Volkes. Die Juden im Roman sind mit einer Ausnahme dadurch markiert, dass sie fehlerhaft slowakisch sprechen. Mit dieser aus dem Sprachpurismus abgeleiteten Idee wird die Vorstellung impliziert, dass Juden keine Slowaken sein können.

166 S. 41 [Hana nevie, čo sa to s ňou dnes deje; ako by ju osvietil lúč vzbury, sťa by do nej vstúpilo posolstvo večne rovnoprávneho ľudstva: narovnáva sa ešte viac. Je celá čierna a možno, oddalo by sa zasmiať jej kominárskej maske; ale oči jej vyžarujú svetlo, aké u nej dosiaľ pani nevidela. Hana o tom nevie; neuvedomuje si, že zápasí o svoju ľudskú dôstojnosť, sústavne deptanú otrokárskymi a panovačnými zvykmi svojich „chlebodarcov“. Sama sa čuduje slovám, ktoré jej splývajú s perí s apoštolskou rozhodnosťou. . . ] 167 Die leere Kirche ist auch ein zeitgenössisches Symptom der Säkularisierung.

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Das Konzept von Reinheit und Schmutz wird im Roman wesentlich durch die Metapher „Parasit“ umgesetzt. Der jüdische Bankier triumphiert etwa über die dumme, plumpe Welt mit ihrer Gerechtigkeit, die solch ein löchriges Sieb ist, dass sie einen schweren, mit fremdem Geld vollgestopften Parasiten, durchschlüpfen lässt, anstatt ihm den Kopf in der Presse zu stampfen und den letzten Tropfen seiner Sünden herauszupressen.¹⁶⁸

Die „moderne Justiz“ ist im Roman unfähig, mit solchen „Parasiten“ umzugehen. Der Vorschlag lautet, all das aus dem Parasiten herauszupressen, mit dem er sich bei seinen Wirten vollgesaugt hat, das heißt ihn umzubringen. (S. 234) Gráf reflektiert die biologistische Metapher der Parasiten in der Stadt auch an einem jüdischen Händler, der ebenfalls eine Slowakin als Dienstmagd beschäftigt. „Parasitismus“ (S. 157) bezieht er dabei auf die Tätigkeit des Handelns mit Waren, wobei die Werte von anderen geschaffen würden. Durchtriebenheit und ein Talent zum Überreden würden dabei zum Erfolg führen. Dieser zweite „Parasit“ lebt in einem heruntergekommenen, dunklen und schmutzigen Haus. Eine solche Umgebung begünstigt Parasiten, die sich vom Volkskörper ernähren und diesen schwächen, weshalb die Krankheitserreger und Schädlinge zu beseitigen wären. An einem weiteren, dem einzigen sympathisch dargestellten Juden wird gezeigt, dass unüberwindbare kulturelle Unterschiede durch die Geburt mitgegeben werden: „. . . das Talent für Geld und Geschäftssinn erhalten wir Juden durch die Geburt, so wie ihr die Erbsünde. . . “.¹⁶⁹ „. . . sag, wo können wir Juden uns zur Geltung bringen? Mit unserer zunehmend internationalen, jüdischen Weltsicht! In welche Nation könnten wir uns so eingliedern, dass wir kein Fremdkörper wären?“¹⁷⁰ Der junge jüdische Intellektuelle kämpft gegen seine Voraussetzungen vergeblich an: Ich hoffe durchzuhalten; weil, wie du weißt, die Tradition und das Blut wie eine stählerne Rute sind: man kann sie zu einem Bogen biegen, doch verlieren sie ihre rückwärtsgerichtete Biegsamkeit nicht, und irgendwann werfen sie mich vielleicht unerwartet zurück.¹⁷¹

168 S. 234 [nad týmto hlúpym, ťarbavým svetom i jeho spravodlivosťou, ktorá má také riedke sito, že prepustí ťažkého, cudzími peniazmi vypchatého parazita, miesto toho, aby mu sovrela hlavu do lisu a vytlačila z neho i poslednú kvapku jeho hriechu. . . ] 169 S. 46 [. . . že peňažnický talent a obchodného ducha prinášame si my Židia pri narodení, ako vy dedičný hriech. . . ] 170 S. 47 [. . . povedz: kde sa môžeme my Židia uplatniť? S naším pomaly internacionálnym, židovským svetonáhľadom! Do ktorého národa by sme sa mohli včleniť tak, aby sme neboli cudzím telesom?] 171 S. 48 [Dúfam, že vydržím; lebo, vieš, tradicia a krv sú ako oceľový prút: možno ich ohnúť až po oblúk, nestratia svoju spiatočnú pružnosť, a raz ma, možno, hodia nečakane nazpäť.]

8.5 Biologistische und völkische Konzepte |

359

„Tradition und Blut“ benennen hier den der Figurengestaltung zugrunde liegenden – antisemitisch ausgerichteten – kulturellen und biologischen Determinismus. In Gráfs Romanen zeigt sich deutlich, was Max Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts festgestellt hatte: Kunst und Religion treten in ein Konkurrenzverhältnis, zwischen innerweltlicher (subjektiver) und religöser Erlösung.¹⁷² Der völkische Nationalismus von Gráf ist besonders eng mit einem ästhetischen Diskurs verwoben. So äußert sich die außergewöhnliche Wahrnehmungsfähigkeit der männlichen Hauptfigur darin, dass er Gedichte schreibt und somit einen Künstlertypus verkörpert. Er kann die Gegenwart künstlerisch transzendieren, etwa beim Anblick der alten Mauern in der Stadt die Vergessenen der Geschichte vergegenwärtigen: Unter dem gewölbten, schmucklosen Tor atmete er den daran haftenden kalten Hauch vergangener Grauen; die Grauen jener unwirklichen und gefilterten zeitlichen Ferne, so dass Julo Lust bekam, irgendwo in die verlassenen Kasmatten längst vergessener Soldaten und gequälter Gefangener hineinzukriechen und über die Relativität und Kürze menschlicher Trauer und Schmerzen zu meditieren.¹⁷³

Die lange herrschaftslose Vergangenheit wird als bis in die Gegenwart andauernd erfahren, kann aber nur vom Künstler-Schrifsteller dechiffriert und vermittelt werden. So werden slowakische Ansprüche auf die Vorherrschaft in der Stadt legitimiert. In diese Argumentation gehört auch, dass die Figur sich selber als Soldat imaginiert und es sie immer wieder zum Grabmal für gefallene Soldaten zieht. Der Protagonist ist der wahre Held, der den Willen der Nation äußern kann und dies als seine Mission erkennt als neuer Prometheus: „Er fühlte das auch in den Nächten, in denen er nicht schlafen konnte, es hockten auf ihm Apathie und Skepsis wie ein Paar schwarzer Vögel, die an der Seele pickten wie an der Leber des mythologischen Riesen.“¹⁷⁴ Das Volk wird als Organismus verstanden, der erkranken kann. Der körperliche Zustand der Hauptfigur repräsentiert den Zustand des Volkes. Im Roman stehen der Figur und dem slowakischen Volk zu viele Hindernisse im Weg, zu viele Krankheiten verhindern die Unversehrtheit des Körpers. Die Institutionen

172 Müller, Ernst: Religion/Religiosität, in: Karlheinz Barck (Hg.), Handbuch ästhetischer Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 5, Stuttgart 2003, S. 259 f. 173 S. 54 [Pod klenutou, neozdobenou bránou dýchol na nich chladný závan dávnych hrôz; hrôz takých neskutočných a filtrovaných časovou vzdialenosťou, že Julo mal chuť vliezť niekam do opustených kazemát dávno zabudnutých vojakov a utrápených väzňov a meditovať o relatívnosti a krátkosti ľudských smútkov a bolestí.] 174 S. 148 [Cítil to a na noci, v ktorých nemohol zaspať, sadaly mu apatia a skepsa ako dvojica čiernych vtákov, kľujúcich dušu ako pečeňu mytologického obra.]

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des Staates tragen zur Krankheit des slowakischen Volkskörpers bei. Nachdem die Hauptfigur schließlich von Angehörigen der ruthenischen Ethnie verprügelt wird, verblutet sie allmählich und stirbt. Insofern ist der Roman auch eine nationalistische Anklageschrift. Der Künstler wird unter solchen Verhältnissen zum gesellschaftlichen Symptomträger, der den Weg zur Gesundung weisen kann. Impotenz als Ohnmachtsindikator zieht sich als latentes Thema durch den gesamten Roman. Gráf entwickelt aus dieser Vorstellung das Thema einer unreinen Sexualität. Den Geschlechtsverkehr zwischen verschiedenen „Rassen“ bestraft der Autor mit einer nachhaltigen Unfruchtbarkeit der weiblichen Hauptfigur. Zwischen ihr und einem Angehörigen der jüdischen Arbeitgeberin kommt es zu einer sexuelle Begegnung: „Der Unterschied in der Rasse, der Religion und Nationalität ist lächerlich gering, er erzeugt sogar eine anziehende Exotik; das Feuer erzeugen die verräterischen Augen.“¹⁷⁵ Hier expliziert Gráf seinen rassistischen Antisemitismus. Bei Gráf sind besonders sexuelle Beziehungen eine Quelle von Verschmutzung und Unreinheit. Quasi die Todesstrafe verhängt der Autor über die weibliche Figur Ela/Eva, die sich vom Geld eines Kapitalisten verführen lässt. Nach einer verpfuschten Abtreibung stirbt sie an einer Blutvergiftung, einer Verunreinigung. Nicht Impotenz, sondern der Verzicht auf Potenz betrifft die Hauptfigur. Für ihn hat der Autor ein priesterliches Zölibat vorgesehen, weil er eine nationale Mission zu erfüllen hat. Für Angelina/Engel, mit der der Protagonist erste sexuelle Erfahrungen machte, wählt der Autor den Selbstmord als Todesart. Während die Liebe zwischen ihm und Ela eine leidenschaftliche war, wird nun in der Beziehung zwischen den beiden Hauptfiguren eine andere Art von Liebe eingeführt. Die leidenschaftliche Liebe muss scheitern, da sie einem egoistischen, rein selbstbezogenen Zweck dient. Die platonische Liebe, wie zwischen einem Lehrer und seiner Schülerin, ist von einem größeren, gesellschaftlichen Nutzen. Der Protagonist spürt einen göttlichen Funken in der weiblichen Hauptfigur und will diesen durch Gedichte entfachen. Der missionarische Eifer bewegt ihn dazu, sie zu heiraten, was einer Erlösungsutopie gleichkommt: „Einem Fremden zu dienen: Welch ein Leiden und eine Tragik sind darin! Für die Freiheit ist der Mensch geboren; und es gibt Menschen, für die das ganze Leben lang kein Licht der Freiheit aufleuchtet.“¹⁷⁶ Die Slowakin als Stellvertreterin des slowakischen Volkes wird aus der aus der Sklaverei der jüdischen Arbeitgeber befreit.

175 S. 119 [Rozdiel rasy, náboženstva, národnosti je smiešne nepatrný, ba začne tvoriť príťažlivé exotikum; ohnisko tvoria zradné oči.] 176 S. 169 [Slúžiť cudziemu: aká v tom trpkosť a tragika! Pre slobodu sa zrodil človek; a sú ľudia, ktorých za celý život neosvieti záblesk slobody.]

8.5 Biologistische und völkische Konzepte |

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Die Gesundung der kranken Gesellschaft ist Gráfs Anliegen. Beides könnte nur von der dörflichen Gemeinschaft ausgehen, weil der Kitt der Nation der Boden ist. Über den Vater der männlichen Hauptfigur heißt es, ohne das [Land, Anm. d. Verf.] wäre er kein richtiger Dorfangehöriger und hinge in der Luft; der Eintrag ins Grundbuch ist das kleine Äderchen der großen gemeinschaftlichen Schlagader, durch die das schwarze Blut der Erde strömt und alle Bewohner des Dorfes versorgt und verbindet¹⁷⁷.

Ähnlich wie bei Žarnov wird der Boden metaphorisiert. Das Blut des Bodens soll den nationalen Organismus mit Lebenssaft versorgen. Diese Anmerkung zum Vater ist aber auch insofern bedeutsam, weil sie die kulturelle Differenz zu den Juden untermauert: Der Vater übt als Kaufmann einen typisch jüdischen Beruf aus, doch der Grundbesitz unterscheidet ihn grundlegend von einem jüdischen Händler. Der Bezug zur christlichen Mythologie wird durch die finale Kopfverletzung der Hauptfigur deutlich. Die schwere, unaufhörlich blutende Wunde deutet auf Jesus mit der Dornenkrone hin. Der Protagonist wird zum Märtyrer stilisiert, der ein Blutzeuge seines Glaubens ist; bei Gráf geht es freilich um den Glauben an die Nation. Indem er sein Bluttopfer bringt, wird die Erlösungs- und Auferstehungshoffnung belebt – auf die Veränderung der nationalen Verhältnisse. Insgesamt liegt der nationalen Thematik im Roman weitgehend das Konzept der „Rasse“ zugrunde. Das nationale Selbstverständnis wird dabei wesentlich über die Abgrenzung von Juden konturiert.¹⁷⁸ Die verschiedenen in der Stadt lebenden „Rassen“ sind die alteingesessenen Deutschen, die Juden und die Slowaken. Hinzu kommen die Kapitalisten, egal welcher Nationalität. Die tschechische Thematik hingegen fehlt, die doch historisch eine wichtige Rolle spielte. Der Autor übt keinerlei Tschechenkritik, was wohl mit Rücksicht auf den tschechoslowakischen Buchmarkt und Kulturbetrieb sowie den tschechischen Verlag geschehen ist. In diesem Roman konzentrierte sich Gráf ganz auf die antisemitische Thematik, mit der er sowohl bei den Tschechen als auch den Slowaken reüssierte. Eine wichtige Frage betrifft die Entscheidung des Autors für ein antisemitisches Nationskonzept. Wie oben erwähnt, mögen pragmatische Überlegungen den Autor bewogen haben, auf die Gegenüberstellung tschechische versus slowakische Nation zu verzichten. Zwingender ist jedoch die Interpretation, dass die moralische Nationsvorstellung überzeugender durch ein antisemitisches als durch

177 S. 65 [bez toho by nebol ozajstným dedinčanom a visiel by v povetrí; vložka pozemkovej knihy je malá žilka veľkej spoločnej tepny, ktorou prúdi čierna krv zeme a napája a spája všetkých obyvateľov dediny] 178 Vgl. Holz, Klaus: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001, S. 16.

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ein antitschechisches Konzept darstellbar war. Das antisemitische Konzept erlaubt die Unterscheidung von verschiedenen „Kulturen“, der europäischen, abendländischen versus der semitischen Kultur. Gráf geht es hier vor allem darum, das slowakische Volk als eine hochstehende und zudem moralisch überlegene Kultur darzustellen, was in Form eines Gegensatzes zur tschechischen, ebenfalls christlichen Kultur schlechterdings nicht möglich gewesen wäre. Die völkischen Ideen erlangen im Roman Gestalt durch Elemente des christlichen Narrativs und werden durch den Kontrast mit antisemitischen Vorstellungen noch verstärkt. Während in den Romanen von Urban etwa die Voraussetzung für eine nationale Befreiung durch eine spirituelle Reinigung und Erkenntnis erreicht werden kann, konkretisiert Gráf das Konzept der Reinigung als physisches Putzen, als Beseitigung von Dreck und Parasiten. Bei Gráf wird somit die „Reinigung“ zur „Säuberung“. Holz weist darauf hin, dass die politisch-soziale Semantik des nationalen Antisemitismus über die kulturelle Dimension der Gesellschaft hinausweise und falls eine Lösungsperspektive gesucht würde, deren Ziel immer die „Entfernung der Juden“ aus der Wir-Gruppe, letztlich der Welt wäre.¹⁷⁹

Andrej Žarnov: Vollzug des Blutopfers Vom christlichen Opferritual leitet Andrej Žarnov die Idee des Kollektivs her. Das lyrische Ich ist im Vollzug der Priester und Schöpfer des nationalen Kollektivs. Im Gedicht „Noch einmal zurückkehren“ heißt es: Und einmal wird alles abgerechnet. . . / in der tauben Nacht als trauriger Gast/ reiße das Herz aus für Jahrhunderte angewachsen an die heimatliche Brust und gehe in die trockene Wüste,/ dann reiße ich mir das Herz auch aus der Brust/ und setze es glühend in die Seele aller Menschen ein.¹⁸⁰

Das blutige Opfer besteht im Herausreissen des Herzens und dem Einpflanzen des Glaubens in die anderen Menschen – der Voraussetzung für einen kollektiven Organismus. Während in seinem ersten Gedichtband „Stráž pri Morave“ [Die Wacht an der March] von 1925 noch der zeithistorische Aspekt des Antitschechismus zentral war, ging es ihm in den späteren Sammlungen vornehmlich um die integrative Bestimmung des slowakischen nationalen Charakters als christlich-rural und

179 Holz 2001, S. 549. 180 Andrej Žarnov: Ešte raz vrátiť sa, in: Rozvoj, 8, 1929, S. 127 [A všetko raz/ spočítané bude. . . / za noci hluchej smutný hosť/ vytrhnem srdce na veky/ prirástle k rodnej hrude/ a pôjdem na suchú púšť,/ potom si srdce vytrhnem i z hrudi a zasadím ho žeravé/ do duše všetkých ľudí.].

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als Kampfgemeinschaft. Die Sammlung „Hlas krvi“¹⁸¹ [Die Stimme des Blutes] erschien als erster Band der Reihe „Edícia Prameň“¹⁸² [Edition Quelle] unter Leitung von Konstantin Čulen. Čulen war ein aktiver Nationalist, und als solcher vor allem publizistisch tätig, etwa im katholischen Akademikerkampfblatt Nástup [Aufmarsch]. Herausgegeben wurde der Gedichtband vom Verband der slowakischen katholischen Studentenschaft, in dem Žarnov selber ein aktives Mitglied war. Der Verband gab ebenfalls die renommierte Reihe junger slowakischer Literatur im Prager Mazáč-Verlag heraus. Als Verlag hatte „Hlas krvi“ aber Fr. Urbánek a spol. in Trnava aufgenommen, der einzige ausgewiesen katholische Verlag, in dem Žarnov in der Zwischenkriegszeit publizierte. Der Band erschien mit 1500 regulären und 150 bibliophilen Exemplaren in einer für einen prominenten Autor in der Slowakei üblichen Auflage. Der Gedichtzyklus „Die Stimme des Blutes“ ist nach dem christlichen Narrativ in sechs Teile gegliedert. Der erste Teil „O Ľudoch bez mena“ [Über Menschen ohne Namen] spielt auf das Paradies an, in dem die Nation noch nicht in die Geschichte eingetreten war. In „Červený prach“¹⁸³ [Roter Staub] steht das Ich auf einem Feld und wird durch blutigen Staub auf den Lippen an die Vorfahren erinnert. Das Blut im rot gefärbten Boden ist hier das Gedächtnissmedium.¹⁸⁴ „Staub“ referiert auch auf biblische Auferstehungsgeschichten, etwa auf die apokalyptische Wiedergeburt der Toten, bei Jesaja als Schatten bezeichnet: „Jubelt, ihr Bewohner des Staubes: Ja, Tau der Lichter ist dein Tau! Und die Erde wird die Schatten gebären.“¹⁸⁵ Eine andere Stelle bei Daniel berichtet von einer Auferstehungserwartung, mit der die Hoffnung auf postmortale Gerechtigkeit verbunden ist: „Und viele, die im Land des

181 Žarnov, Andrej: Hlas krvi [Die Stimme des Blutes], Trnava 1932. 182 Aus Žarnovs Artikel „Zbytočné triedenie duchov“ (Pero, April 1933, S. 5) geht hervor, dass Žarnovs Protest zum Titel der Publikationsreihe „Edition Quelle“ geführt hat. Er hatte sich wegen des Verweises auf den katholischen Hintergrund geweigert, unter dem „unmöglichen“ Titel „Edition des Zentralverbands der katholischen Studentenschaft“, der diese Reihe herausgab, zu publizieren. 183 Žarnov 1932, S. 11 f. 184 Tatsächlich war es in archaischen Ackerbau- und Viehzüchtergesellschaften verbreitet, als Opferritual den Boden mit Blut zu besprengen, um so mit spiritueller Hilfe dessen Fruchtbarkeit zu erhöhen. Vgl. Encyclopedia 1996, S. 546 185 Jesaja 26, 19, zit. nach Liess, Kathrin: Auferstehung. Altes Testament. In: www. bibelwissenschaft.de/bibellexikon, Dezember 2005. Die revidierte Luther-Übersetzung von 1984 übersetzt „Erde“, statt „Staub“: „Aber deine Toten werden leben, deine Leichname werden auferstehen. Wachet auf und rühmet, die ihr liegt unter der Erde! Denn ein Tau der Lichter ist dein Tau, und die Erde wird die Toten herausgeben.“

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Staubes schlafen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schmach, zu ewigem Abscheu.“¹⁸⁶ Das Blut macht die Nation unsterblich so wie die Eucharistie das Andenken an Jesus: „Was im Blute zum Wachsen kam, das fällt, stirbt aber nicht.“¹⁸⁷ Das Blut sorgt für die Kontinutität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es bewahrt zum Beispiel die Spuren körperlicher Leiden der „Menschen ohne Namen“ auf: „Das Leben schlug ihnen ins Gesicht, blutige Rücken hatten sie, blutige Knie (. . . )“¹⁸⁸ Spezifisch bei Žarnov ist, dass er die christliche Blut-Metaphorik mit Bildern von der Erde und den Toten darin verschränkt, um so ein Nationsgedächtnis zu konstruieren. Im Gedicht „Živý prúd“ [Lebendiger Strom] wird die Ankunft eines kämpferischen Erlösers angekündigt. Dieser verlangt ein blutiges Opfer, denn er bringt Waffen zum Befreiungskampf: „. . . und ich werde euch lieben, bis aufs Blut lieben, mit feurigen Augen. (. . . ) wir werden den neuen Tag aus harten Erzen des Urals gießen.“¹⁸⁹ Mit der blutgetränkten Erde führt Žarnov den Heiligen Kampf am „neuen Tag“ als Motiv ein. Den vergangenen Krieg bezeichnet er als „Dni krvou krsten铹⁹⁰ [Durch Blut getaufte Tage]. Im Gedicht mit diesem Titel irrt ein blutiger Christus über Berg und Tal und „hat ein schwarzes Grab im Gesicht“. Jesus’ blutiges Opfer führte hier noch nicht zur Erneuerung/Reinigung der Gesellschaft. „Schmutz“ als Topos der nationalistischen Literatur wird im Gedicht „Nahnilé dni“ [Angefaulte Tage] bearbeitet. Regimenter von Vergifteten¹⁹¹ warten vergeblich auf eine reinigende Aktion. Die Reinigung soll vom Land ausgehen und richtet sich gegen die Stadt. Im Gedicht „Kvas“ [Gären] heißt es, das Blut werde vom Land her durch die Adern der Furchen fließt, um die städtische Festung mit neuem Leben zu versorgen.

186 Daniel 12, 2, zit. nach Liess 2005. Auch die Übersetzungen bieten einen Spielraum zwischen „Staub“ und „Erde“. So übersetzt die revidierte Luther-Übersetzung von 1984 „Erde“, statt „Staub“: „Und viele, die unter der Erde schlafen liegen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die andern zu ewiger Schmach und Schande.“ 187 Žarnov 1932, S. 12 [Čo prišlo v krvi rásť, padne, lež nezmiera.]. 188 Žarnov 1932, S. 13 [Život ich šľahal do tvári, krvavé chrbty mali, krvavé kolená. . . ]. 189 Žarnov 1932, S. 17 [. . . a budem vás milovať, do krvi milovať ohnivýma očima. (. . . ) budeme slievať nový deň z uralských tvrdých rúd.]. 190 Žarnov 1932, S. 35 f. 191 Der Ausdruck „Vergiftete“ war für die Leser leicht erkennbar als Zitat aus dem Gedicht „Aufmarsch der Vergifteten“ von 1929, um das es einige Aufregung in der Öffentlichkeit gegeben hatte. Nachdem es zenisiert worden war, konnte es erst nach einer Interpellation der Abgeordneten der Hlinka-Partei am 3. Juni 1930 im Slovák erscheinen. Žarnov hat es der vollständigen Ausgabe von Stráž pri Morave von 1940 beigefügt. (Editorische Anmerkungen zu Stráž pri Morave, Martin 1940, S. 155)

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Paradoxerweise bezeichnete Žarnov sein Ziel in einem Artikel als „Revolution des Geistes“¹⁹². Diese Gedichtsammlung spricht jedoch eine andere Sprache. Sie ist in einer durch und durch kämpferischen und blutrünstigen Sprache formuliert. In „Prielom“¹⁹³ [Vollmond] streckt in der Geisterstunde zwischen den Furchen eine uralte Kraft ihre erdige Faust empor und hat dabei Blut im Gesicht. Die Morgendämmerung, „Nad ránom“ [Über den Morgen], steht hier nicht für den Anbruch einer besseren Zeit, sondern für den beginnenden Kampf, bei dem das Blut mit stählernem Schritt aus den Furchen zutage tritt und ein Heer aus ehemals Toten zum Kampf aufersteht. Die „slowakische Frage“ wird in „Zvoniaca Krv“¹⁹⁴ [Klingendes Blut] zur „blutigen Frage“. Die kämpferische Bewegung wälzt sich als Hochwasser „unter der Tatra, am Váh, Hornad, dem Pohronie entlang, dröhnt, dröhnt über die Felder wie ein Panzer“¹⁹⁵. Es breitet sich vom Norden, den ländlichen Gegenden, vom Fuße des symbolträchtigen Tatra-Gebirges¹⁹⁶ in Richtung Süden aus, auf die Ebenen, wo Bratislava liegt. Die Gedichtsammlung richtet sich nicht mehr räumlich auf die Grenze zu Mähren aus, wie dies noch in „Stráž pri Morave“ der Fall war. Die Gesellschaft hatte ihre kulturelle Heterogenität im Innern erhalten und sogar noch verstärkt durch Tschechen und tschechoslowakische Ideologie unter Slowaken. Aus diesem Grund fokussiert Žarnov in der Sammlung „Die Stimme des Blutes“ weniger auf das konkrete Feindbild, als vielmehr diffus auf den Kampf als solchen. In „Zvoniaca krv“ richtet sich der Autor gegen den Zentralstaat, wenn es heißt, die Bewegung kämpfe „für das Brot der weißen Wahrheit“. Damit spielt der Dichter mehrfach auf die katholische Ikonografie an: auf Unbeflecktheit und Reinheit, auf die Eucharistie sowie die Auferstehung Jesus’, ausgedrückt im Weiß des Leichentuches. Die Anspielung auf das tschechoslowakische Staatswappen bezieht sich auf den darin enthaltenen legendären Satz des Reformators Jan Hus’ „Pravda viťazí“ [Die Wahrheit siegt]. Insgesamt lässt sich über die Gedichtsammlung „Hlas krvi“ sagen, dass der Autor darin die christliche Blutsymbolik militaristisch umdeutet und im politischhistorischen Kontext verankert.

192 Žarnov Andrej: Čujem pochod novej generácie [Ich vernehme den Gang einer neuen Generation], in: Rozvoj, 7, 5, 1929, S. 97. 193 Žarnov 1932, S. 69 f. 194 Žarnov 1932, S. 75–77. 195 Žarnov 1932, S. 77 [povodeň zvoní pod Tatrou, u Váhu, Hornádom, na Pohroní, duní, duní cez chotáre ako tank.] 196 Das Gebirge Tatra und der Fluss Donau sind seit der Romantik literarische Topoi in der Nationalbewegung.

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Die Gedichtsammlung fällt in die Zeit der Radikalisierung der Jugend und von Teilen der politischen Öffentlichkeit im Jahr 1932.¹⁹⁷ Somit spiegelt die Radikalität und kämpferische Haltung von Žarnovs Gedichten den Zeitgeist und verleiht diesem einen ästhetisierten Ausdruck. Für die militanten Gedichte in „Hlas krvi“ erhielt Žarnov seine erste große öffentliche Anerkennung in Form des slowakischen Landespreises 1934. In der Jury wirkten neben anderen Tido Gašpar und Štefan Krčméry, Redakteur der Slovenské pohľady, mit. Žarnov gelang es, die kulturellen Dispositionen der Menschen zu treffen und seine nationalistischen Anliegen zu vermitteln, indem er christliche Rituale ästhetisch adaptierte und säkulare Handlungsanleitungen implizierte. Indem der Dichter als opfernder Priester imaginiert wird, übernimmt er die nationale Führerschaft.

Frauen auf dem Altar der Nation Dem Opfer wird in vielen Religionen eine reinigende Kraft zugeschrieben.¹⁹⁸ Die christliche Religion beruht auf dem Kerngedanken, dass Jesus sich für die Menschheit opferte. Aus dem Bewusstsein des Opfers entsteht das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit, der Solidarität unter den Christen. Das Opfer wird somit zur Voraussetzung für die Kollektivbildung. Das religiöse Opfer als Ausschlussfigur wird positiv besetzt, indem es sakralisiert wird. Es gehört die Einsicht dazu, dass das Opfer notwendig ist für das nationale Kollektiv. In nationalistischen Fiktionen wird – neben Soldaten innerhalb einer Kriegsmetaphorik – geliebten Frauen die Rolle des Opfers zugewiesen. Ihr Ausschluss als Opfer ist eine Art Vorbedingung dafür, dass ein berufener, aus der Masse herausragender Mann, das nationale Werk in Angriff nehmen kann, um sich ganz der höheren Aufgabe zu widmen – ähnlich wie im Zölibat. In der säkularisierten Glaubenslehre des Nationalismus steht die Nation für die höchste Idee, zu deren Gunsten geopfert werden muss. In beiden Fällen aber sind es die Verbindungen mit einer Frau respektive die Pflichten eines Ehemanns und Familienvaters, die sich nicht mit der höheren Aufgabe in Einklang bringen lassen.¹⁹⁹

197 Vgl. den Abschnitt über die Radikalisierung der slowakischen Öffentlichkeit vor 1933 in den Kapiteln 4 und 5 dieser Studie. 198 Jay, Nancy: Throughout your Generations Forever. Sacrifice, Religion, and Paternity, Chicago 1990. 199 Die Rolle der Mütter ist in der nationalen Mythologie ebenfalls fixiert, und zwar als Leidende. Ihr Leiden wird durch die Aufopferung ihrer Söhne für die Nation verursacht. Zahlreiche visuelle und literarische Pietá-Darstellungen zeugen davon. Maßgeblich war etwa die Darstellung der

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Charakteristisch ist das Opferritual für Agrar- und Hirtengesellschaften, denn in ihnen spielen der Besitz und die Vererbung von Produktionsmitteln wie Ackerboden und Vieh eine existenzielle Rolle. Das Opferritual gewährleistet in diesem Zusammenhang die männliche intergenerationelle Kontinuität bzw. den Bestand der sozialen Strukturen und Machtverhältnisse.²⁰⁰ Im Roman „Peter Paul an der Schwelle zur neuen Welt“ von Ján Hrušovský ist der spezifische Umgang mit Frauen eine wesentliche Übertrittsvoraussetzung für die Hauptfigur in die neue Welt der Zukunft. Der slowakische Offizier hat eine sexuelle Affäre mit der Frau seines Vorgesetzten und verliebt sich danach in eine Pfarrerstochter, deren Name auf die biblische Maria anspielt und die ihm als rein und unverdorben erscheint. Die beiden Frauen sind als gegensätzliche Figuren angelegt: Heilige versus Hure, rein versus schmutzig. Die Hauptfigur wird Zeuge, wie die ehemalige Geliebte von einem Dutzend betrunkener Soldaten überfallen, vergewaltigt und getötet wird. Die Frau wird durch ihre Mörder vollends beschmutzt und ihre Tötung kommt einer Reinigung gleich – die Leiche wird ins Wasser geworfen. Für den Helden ist damit das Kapitel des sexuellen Begehrens gelöscht. Doch auch die geliebte Frau wird Opfer eines Überfalls durch den als Teufel attribuierten kommunistischen Widersacher. Beide Frauenfiguren werden zugunsten der nationalen Mission des Helden, die neue Welt zu verkünden, geopfert. Die Hauptfigur expliziert selber den Sinn: Die geliebte Frau sei das letzte Opfer der alten Welt gewesen. Er vergleicht ihren Tod mit Jesus’ Opfer: „So wie einst auf Golgatha das Blut des Menschen und Sohnes Gottes vergossen wurde, damit auf Erden einst sein Königreich herrsche, so vergoss auch Marilla ihr Blut, damit das Königreich der Neuen Welt kommen könne.“²⁰¹ Marillas Tod ist demnach die Voraussetzung für die neue Welt – ihr jungfräuliches Opfer wird zum nationalen Gründungsmythos. Gleichzeitig befreit der Autor seine Hauptfigur vom Eheversprechen gegenüber einem Angehörigen der österreichischen Nation. Denn die Trennung der vermeintlich natürlichen Völker wird im Buch als Prinzip der neuen Welt verkündet. Hrušovský fokussiert in seiner Bearbeitung des Mythos die Rolle des Opfers als Voraussetzung für die Auferstehung und den damit verbundenen Beginn der neuen Welt. In Štefan Gráfs Roman „Zápas“ werden ebenfalls mehrere Frauen geopfert, welche die Hauptfigur bei seinem Auftrag als nationaler Erlöser gefährden. Der Autor vollzieht ein Blutopfer, indem er eine Geliebte an der Verunreinigung ihres

leidenden und sich auflehnenden Mutter Ilčička in Urbans Roman „Živý bič“. Diese Auffassung der Mütter leitet sich ebenfalls aus dem Primärmythos des nationalen Martyriums ab. 200 Vgl. Jay 1990, S. Xxv. 201 Bd. 2, S. 251 [Ako bola kedysi preliata na Golgate krv Syna-Človeka, aby mohlo zavládnuť na zemi Jého Kráľovstvo, tak preliavala krv i Marilla, aby mohlo nastúpiť kráľovstvo Nového Sveta.]

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Blutes und eine weitere durch Selbstmord sterben lässt. Die Ehefrau liebt der quasi zum Zölibat verpflichtete, impotente Held nicht. Sie selber stirbt zwar nicht, zieht sich aber immer mehr Krankheiten und Verletzungen zu, weil auch sie aufgrund einer sexuellen Affäre mit einem Juden nicht ganz rein ist. Ein Held mit mythischen Zügen ist auch die Figur Adam in Milo Urbans Romantrilogie. Adam wird als neuer Mensch eingeführt, mit einem höheren Bewusstsein für die wahren gemeinschaftlichen Werte. Seiner vorbildhaften Bedeutung geht wiederum der Verlust seiner Frau voraus, die eine Art Opfer für die Mission des Mannes darstellt. Die Figur Eva wird im Krieg ebenfalls durch eine Vergewaltigung quasi beschmutzt und stirbt von der Gemeinschaft ausgeschlossen. Besonders in Urbans Roman „V osídlach“ spielen Frauenopfer eine zentrale Rolle. Die als ideale Slowakin dargestellte Freundin der Hauptfigur wird versehentlich während eines Streiks von einem Polizisten erschossen. Durch ihren Tod erkennt der Held die Quellen des gesellschaftlichen Übels beginnt entsprechend seiner nun begriffenen nationalen Mission zu handeln. Die Frauenopfer in diesem Roman verkörpern das nationale Martyrium des Volkes. Erschossen wird auch die Mutter der männlichen Parallelfigur, während sie sich schützend vor ihren Sohn wirft. Zur gleichen Zeit stürzt sich die Schwester der männlichen Hauptfigur aus dem Fenster in den Tod, weil sie die aus ökonomischen Interessen vom Vater verordnete Ehe nicht mehr aushält. Die Mutter hatte sich schon früher aus Protest gegen die Machenschaften des Ehemanns ganz aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen. Der Held erkennt, dass sein Vater die Schuld an den gesammelten Frauenopfern trägt. Der Vater wird im Roman aufgrund seiner tschechoslowakischen Einstellung und seines skrupellosen, eigennützigen Handelns an den Pranger gestellt. Die toten Frauen legitimieren, dass die Hauptfigur den Vater ersetzt und den richtigen nationalen Weg einschlägt. Als genuine Voraussetzung der Slowakizität des Volkes – eines ursprünglichen slowakischen Charakters – wird die Funktion der Frau im Roman von Jozef Cíger Hronský „Jozef Mak“ [Josef Mohn]²⁰² dargestellt. Sie ist Teil einer mythischzyklischen Idee von der slowakischen christlichen Natur, da sie als Gebärerin eines Sohnes die Gemeinschaft weiterbestehen lässt. Hronskýs Roman ragt mit seiner dichten Komposition und Erzählweise literarisch aus den anderen besprochenen Romanen heraus. Seine nationalen Vorstellungen vermittelt er weniger plakativ und ohne emanzipatorischen Impetus. In diesem Roman werden die Frauen nicht im Hinblick auf eine verheißungsvolle nationale Zukunft geopfert. Sie helfen der männlichen Hauptfigur mit den Zumutungen der sich modernisierenden und wandelnden Welt zurechtzukommen

202 Hronský, Jozef Cíger: Jozef Mak, Martin 1933.

8.6 Die auferstandene Nation |

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und sein Schicksal zu akzeptieren. Die beiden zentralen Frauenfiguren werden mit einer Marienfigur assoziiert. Eine dritte Frauenfigur übernimmt die Rolle der Verführerin, die folgerichtig bei einem Unfall stirbt. Sie stellt eine Prüfung dar auf dem Weg zu größerer Reife und der geistig-moralischen Erkenntnis des Helden. Die innere Schönheit und Reinheit der betrogenen Ehefrau erkennt die Hauptfigur erst, als jene nach einer Geburt im Sterben liegt. Die Frauen funktionieren vor allem als Erkenntnisgehilfinnen des Mannes, und sie erhalten den natürlichen Lebenszyklus aufrecht. Die Frauen sind demnach in die Konstruktion einer naturgegebenen „Slowakizität“ eingeschrieben, wobei ihr Opfer deren Voraussetzung wird. Ab 1939, nach Ausbruch des Krieges, gab es reale Opfer auf den Schlachtfeldern. Von nun an wurden die gefallenen Soldaten als „Opfer auf dem Altar der Nation“ bezeichnet, die ihr Leben für die Freiheit ihrer Nation hergegeben hatten.²⁰³ Sie befanden sich analog zu den Frauen in einer dienenden Position gegenüber den Führern bzw. nationalen Helden und wurden gleichermaßen der höheren Idee geopfert. Das Soldatenopfer ähnelt im Bezug auf die Nation strukturell demjenigen der Frauen.

8.6 Die auferstandene Nation Das Thema der Auferstehung wurde seit Beginn der Zwischenkriegszeit von nationalistischen Autoren weitgehend intuitiv behandelt, denn es finden sich keine Abhandlungen dazu im Zusammenhang mit der „Nation“. Aufgrund großer konzeptioneller Übereinstimmungen ist aber davon auszugehen, dass programmatische Schriften, etwa von Johann Gottlieb Fichte, den nationalistischen Intellektuellen bekannt waren. Fichte als einflussreicher Philosoph und Vordenker des deutschen Nationalismus hatte ein Modell für die nationalistische Adaption der christlichen Auferstehung in den „Reden an die deutsche Nation“²⁰⁴ von 1808 geliefert. In seiner dritten Rede beschreibt er die alttestamentarische Geschichte des Propheten Ezechiel, der die Vision vom Tal der verdorrten Knochen hat, die vom Herrn wiederbelebt werden. Nach heutiger Auffassung symbolisieren die Knochen die jüdische Nation, und die Auferstehung demonstriert das göttliche Wunder, welches dem jüdischen Volk Hoffnung auf seine scheinbar aussichtslose Wiederauferstehung

203 Diese Formel ehrte einen Gardisten, der nur wenige Tage vor der Staatsgründung im HomolovPutsch, einem tschechischen Angriff, erschossen und in einem feierlich inszenierten Begräbnis am 14. März 1939 beigesetzt wurde. Baka 2003, S. 288 f. 204 Fichte, Johann Gottlieb: Fichtes Reden an die deutsche Nation, Leipzig 1925; hier S. 54 f.

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gibt.²⁰⁵ Fichte zitiert die Bibelstelle als Gleichnis mit der Hoffnung, dass der „Nationalkörper“ wiederbelebt werden kann: Lasset immer die Bestandteile unsres höheren geistigen Lebens ebenso ausgedorret und eben darum auch die Bande unserer Nationaleinigkeit ebenso zerrissen und in wilder Unordnung durcheinander zerstreut herumliegen wie die Totengebeine des Sehers; lasset unter Stürmen, Regengüssen und sengendem Sonnenscheine mehrerer Jahrhunderte dieselben gebleicht und ausgedorrt haben; – der belebende Odem der Geisterwelt hat noch nicht aufgehört zu wehen. Er wird auch unsers Nationalkörpers erstorbene Gebeine ergreifen und sie aneinanderfügen, dass sie herrlich dastehen in neuem und verklärtem Leben. (53 f.)

Besonders deutlich referieren Andrej Žarnovs Darstellungen von auferstehenden Toten im Sinne einer wiederzubelebenden Nation auf Fichte. Doch auch in der Presse tauchte der Begriff „Auferstehung“ wiederholt auf, ohne dass sich Metakommentare dazu fänden. Dichter, die im Gardista Karriere machten, kommentieren in der Bildlichkeit der Auferstehung den Herrschaftswechsel und die Pseudo-Eigenständigkeit der Slowakei ab 1938/39. B. Dafčik beispielsweise publizierte das Gedicht „Auferstandenes Volk“²⁰⁶, Jožo M. Broďany fordert in „Wir sind eine Nation!“²⁰⁷ die Slowaken, nachdem sie nun auferstanden seien, zum Kampf um die verlorenen Territorien auf und Juraj Ohrival feiert den 6.X.1938 im gleichnamigen Gedicht als „Tag der Auferstehung der Wahrheit“.²⁰⁸ Am 6. Oktober 1938 wurde die Autonomievereinbarung zwischen der tschechoslowakischen Regierung und Vertretern der slowakischen Autonomie getroffen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass nicht der Tag der Staatsgründung, sondern der Autonomievereinbarung bereits als Auferstehungstag gefeiert wurde. Trotz der weit herum als Erfolg und somit als vollzogene „Auferstehung“ gefeierten Autonomie bzw. Staatsgründung gaben die Intellektuellen das fundamentale Narrativ des nationalen Martyriums nicht auf. Es wurde mit Blick auf die neue historische Situation, das heißt auf die vom Krieg ausgehende Bedrohung umgedeutet.

Von der geistigen zur nationalsozialistischen Revolution Eine Ehrung Žarnovs für sein literarisches Werk folgte rasch nach der Staatsgründung. 1940 erhielt er als erster den Staatspreis des slowakischen Staates, und zwar

205 Ringgren, Helmer: Resurrection, in: Mircea Eliade (ed.), The Encyclopedia of Religion, London 1987, S. 344–350; hier S. 346. 206 B. Dafčík: Vzkriesený národ, in: Gardista, 1, 20, 1939, S. 5. 207 Jožo M. Broďany: Sme národom!, in: Gardista, 1, 21, 1939, S. 2. 208 Juraj Ohrival: 6.X.1938, in: Gardista, 1, 36, 1939, S. 2.

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für den umfangreichen Gedichtband „Štít“ [Schild/Panzer] (1940)²⁰⁹ mit aktuellen und Gedichten aus den Dreißigerjahren. Im Gedicht „Das Urteil“ [Ortieľ] nimmt Žarnov Stellung zu aktuellen Ereignissen, indem er die Slowakei als Opfer der internationalen Mächte darstellt. Das „Urteil“ ist eine Reaktion auf die Folgen des Wiener Schiedsspruchs vom 2. November 1938, in dem Gebiete im Süden und Norden der Slowakei zugunsten Polens und Ungarns abgetrennt wurden.²¹⁰ Die Slowakei wird darin als Opfer des internationalen Mächtespiels dargestellt. Infolge der ungarischen Besetzung nach dem Wiener Schiedsspruch wurde die Kleinstadt Šurany zu einem slowakischen Erinnerungsort²¹¹. Ungarische Gendarmen schossen dort zu Weihnachten 1938 in die vor der Kirche versammelte Menschenmenge und töteten dabei ein Mädchen. „Šurany“ wurde somit, wie auch früher „Černovᓲ¹² zum Denkmal für die Slowaken als Minderheit unter ungarischer Herrschaft. Dass Žarnov literarisch über diese Ereignisse schrieb, trug dazu bei, diese Orte überhaupt zu nationalen Gedächtnisorten zu machen. Im Gedicht „Šurany“²¹³ bezieht sich Žarnov auf das historische Geschehen. Doch deutet er das getöte Mädchen zu einem Blutopfer um, mit dem Gott dazu bewegt werden soll, an den Mördern Rache zu üben. Das Geschehen kleidet der Autor in eine biblische Geschichte. So werden die Ungarn zu „Herodes, der sich Gendarm nennt“. Gott wird gebeten, den „Heiden, der die Erde mit Blut benetzt, zu demütigen und ihm kein Glück in Europa zu geben“. Die Ungarn als heidnische

209 Žarnov, Andrej: Štít, Bratislava 1940. Ich zitiere aus Žarnov 2003. 210 Der als Wiener Schiedsspruch bezeichnete Vertrag zwischen Deutschland und Italien hielt die neue Grenzregelung zwischen Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei fest. Von der Slowakei wurden insgesamt 10 390 km2 abgetrennt mit 854 217 tschechoslowakischen Bürgern, davon mehr als 250 000 slowakischer Nationalität. An Ungarn gingen mehrere Städte, darunter mit Košice die zweitgrößte slowakische Stadt. Polen erhielt ein kleineres Gebiet inklusive Teschen sowie einen Teil des Tatra-Gebirges zugesprochen. Deutschland besetzte den slowakischen Erinnerungsort Devín an der Mündung der Morava in die Donau und mit Petržalka den Teil Bratislavas südlich der Donau. Vgl. Lipták, Ľubomír: Slovensko medzi dvoma vojnami [Die Slowakei zwischen zwei Kriegen], in: Kováč, Dušan, ders. u. a., Dejiny Slovenska, Bratislava 2000, S. 225–243; hier S. 240 f. 211 An den Erinnerungsorten versucht eine Nation, mit ihrer Vergangenheit in Kontakt zu treten, ähnlich wie in verschiedenen Religionen heilige Orte die Verbindung zu den Göttern ermöglichen sollten. Vgl. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2006, S. 337. 212 Černová war der Geburtsort von Andrej Hlinka. 1907 wurde dort auf Initiative und mit Unterstützung Hlinkas eine neue katholische Kirche gebaut. Er selbst sollte sie einweihen, war aber gerade aus politischen Gründen vom Dienst suspendiert worden. Die Gemeinde wollte deshalb die Einweihung verschieben, doch der Bischof ordnete die sofortige Durchführung ohne Hlinka an. Die Gendarmen brachen den Widerstand der Gläubigen gewaltsam. Fünfzehn Menschen wurden dabei getötet. Vgl. Lipták 2000, S. 210. 213 Žarnov 2003, S. 114 f.

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„Asiaten“ bilden den Gegensatz zu den europäischen Slowaken. Dass die Besetzer als unchristliche und damit minderwertige Rasse dargestellt werden, soll die geforderte Grausamkeit rechtfertigen. Für seine Botschaft arbeitet Žarnov in diesem Gedicht mit einem kulturellen Rassismus, der eine Hierarchie zwischen den Kulturen konstruiert. Das Gedicht „Devín“²¹⁴ thematisiert die Gebietsverluste bzw. Besetzungen. Devín als strategisch wichtiger Vorort an der Mündung der March in die Donau wurde nach dem Wiener Schiedsspruch von deutschen Truppen besetzt. Der Ort mit seiner romantischen Burgruine gilt als nationales Symbol, da die Romantiker um Štúr 1836 dorthin gepilgert waren und die Festung als Teil des Großmährischen Reiches zeitweiliger Sitz von Svätopluk gewesen sein soll. Im Gedicht beschreibt Žarnov diesen national bedeutsamen, mythischen Ort als substanziell gefährdet, weil symbolisch von den deutschen Besatzern entweiht. Im letzten Teil der Gedichtsammlung namens „Slovenské ráno“²¹⁵ [Slowakischer Morgen] feiert Žarnov die slowakische Staatsgründung. Das Bitt-Gedicht „Steh auf, Herr, von den Toten. . . “²¹⁶ wurde zuerst in der Weihnachtsausgabe des Slovák 1939 abgedruckt. Wiederum benutzt Žarnov das christliche Narrativ, um seine nationale Bildwelt zu entwickeln. Die Auferstehung wird nun konkret auf die Eigenständigkeit der Slowakei bezogen, doch bleibt sie gleichzeitig als noch bevorstehend Prophezeiung. Im März 1939 griff die ungarische Armee die Ostslowakei an, und im September 1939 beteiligte sich die slowakische Armee selbst am Krieg gegen Polen. Im Gedicht wird Gott angefleht, er möge das heimatliche Land an der Donau nicht verlassen, sondern dort auferstehen. Das Gebet in Gedichtform endet mit der Bitte „(. . . ) steh glorreich auf von den Toten in Europa, Herr“²¹⁷. Diese Auferstehung wäre die Voraussetzung für eine geglückte Zukunft der Nation als gleichwertiger Teil der europäischen Zivilisation. Die Verse des Epilogs „Zaklínam“ [Ich beschwöre] sind aufschlussreich für die Rolle des Glaubens in Žarnovs nationalen Vorstellungen. „Gott, gib Glück, Kräfte für den Kampf, und die Schwachen hülle ein in den Panzer des Glaubens. . . “²¹⁸

214 Žarnov 2003, S. 113. 215 Die Gedichtauswahl „Nedopoviem slovom. . . “ von 2003 bringt die Sammlungen Stráž pri Morave, Brazda cez úhory sowie auch die ersten beiden Teile von Štít vollständig. Lediglich Gedichte mit ausgesprochen politischem Bezug aus den Kapiteln „Urteil“ und vor allem „Slowakischer Morgen“ fanden vor den Herausgebern keine Gnade. Es sind dies: „Verräter“, „Aufmarsch der Lebenden“, „Bauer ins Haus“, „Meine Heimat“, „Nach Hause“ und „Slowakischer Morgen“. 2007 ist allerdings eine vollständige Ausgabe aller Gedichte als reintegrativer Beitrag zur Nationalliteratur erschienen: Andrej Žarnov. Môj domov jediný, hg. v. Julius Pašteka, Prešov 2007. 216 Žarnov 2003, S. 115. 217 [(. . . ) vstaň slávne zmŕtvých v Európe, Pane. . . ] 218 [Daj, Bože, šťastia, sily do zapasu a slabých zahaľ do panciera viery. . . ]

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Die Nation steht Gott unmittelbar gegenüber wie ein Individuum, also etwas Unteilbares. Für die slowakische Eigenständigkeit bildet Gott die einzige Referenz und legitimierende Instanz. Žarnov bleibt allerdings bei einem metaphorischen Bezug zwischen Gott und der Nation. Die „Nation“ tritt nicht an die Stelle von Gott. Bemerkenswert an dieser Sammlung ist, dass der Glaube stärker thematisiert wird als in den beiden vorangegangenen Sammlungen. Der unmittelbare Bezug auf Gott steht im Zusammenhang mit der neuen Staatlichkeit und ihrer Legitimation. Die Nation und Gott treten nun in eine gleichrangige Wechselbeziehung. Dieser Befund deckt sich mit den politischen Ideen des Staatspräsidenten Jozef Tiso, für den nach der Staatsgründung von 1939 die Beziehung zwischen Nationalismus und Christentum eine wesentliche Rolle spielte: Without God, the population would be no more than an unrelated mass of people, bound by no deeper moral concept to unite them before the world. Common traditions, language and way of life – these worldly values must be linked in thought and action with the eternal value represented by the existence of God.²¹⁹

Vom Christentum soll demnach die säkulare Religion des Nationalismus die Moral als Bindemittel für die Gemeinschaft übernehmen sowie das quasi natürliche Recht der Nation für die Ewigkeit verbrieft bekommen. Als Žarnov 1929 eine „Revolution des Geistes“²²⁰ forderte, war ihm – ähnlich wie den französischen Intellektuellen der katholischen Literaturrenaissance – vor allem an der Neuorientierung der geistigen Kräfte gelegen, was auf eine Stärkung christlicher, antiliberaler Werte hinauslief. Die Idee einer quasi theoretischen Revolution teilte Žarnov mit konservativen Intellektuellen in weiten Teilen des damaligen Europas. Žarnov schwebte eine Gesellschaft vor, in der die Individuen spirituell geleitet würden, statt vom modernen „Materialismus“ oder der „Masse“. Es ging ihm aber nicht primär um die Stärkung der katholischen Kirche oder des christlichen Glaubens. Die christliche Glaubenslehre erfüllte vielmehr die Funktion einer Metaphernspenderin. Das geht aus seinem Aufruf an die junge studentische Generation aus dem Jahr 1928/29 hervor, der in der Zeitschrift Pero erschien, die dem ehemaligen Vatra- und späteren Slovák-Redakteur Augustin Način Borin gehörte. Als ein Grundübel der vorangegangenen Generation hält Žarnov darin fest, dass diese nicht an die Vorgänger angeknüpft habe, die sich um die Festsetzung der slowakischen Eigenart verdient gemacht hätten – von Bernolák bis Vajanský. In seiner Aufzählung reiht Žarnov Katholiken und Anhänger des evangelischen

219 Zit. nach Hoensch 1987, S. 167. 220 „Čujem pochod novej generácie“ [Ich vernehme den Gang einer neuen Generation], Rozvoj, 7, 5, 1929, S. 97.

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Glaubens unterschiedslos aneinander. Der Mangel der Väter-Generation – offenbar eine Kritik an pro-tschechische Haltungen–, sei gewesen, nicht in der Geschichte zu wurzeln. Die Geschichte der slowakischen Nation wird nicht als eine von Kriegen, Helden und Herrschaft aufgefasst – die sie nicht vorzuweisen hat –, sondern als das Ergebnis intellektueller Anstrengungen von gelehrten Aktivisten. Die junge Generation solle nun kommen, um den Sumpf der Gesellschaft mit ihrem Feuer trocken zu legen: „Der revolutionäre Geist muss in unsere fauligen – feuchten – holprigen Verhältnisse kommen.“²²¹ Hier formuliert Žarnov die Ankunft des revolutionären Geistes wie jene des Heiligen Geistes in der Bibel. Der revolutionäre Geist wendet sich mit christlicher Spiritualität gegen die Dominanz materieller Werte als Ergebnis der gesellschaftlichen Modernisierung, insbesondere der Säkularisierung. Gleichzeitig trägt dieser Geist die slowakische Geschichte die einer nationalen Glaubensgemeinschaft, indem sie selbst metaphorisch als Kirche bezeichnet wird: Ihr müsst mit schöpferischer Liebe in die slowakische Geschichte kommen, aber auch mit der Peitsche des heiligen Zorns. Vertreiben die Geldwechsler und Wucherer aus dem Tempel unserer Geschichte und euch eine eigene, schlagwortfreie, slowakische Welt formen.²²²

Über die Kirchenmetapher entwirft Žarnov einen säkularen Mythos für die Nationalgeschichte. Dieses Projekt, die nationale Geschichte als Geistesgeschichte zu mythologisieren, führte Žarnov in seiner Gedichtsammlung „Štít“ von 1940 fort, in der er Porträts von slowakischen Persönlichkeiten versammelte. Die Zäsur durch die Staatsgründung im Jahr 1939 stellte gleichsam einen Wechsel von der Theorie zur Praxis in Bezug auf eine Revolution dar. Eine polemische Debatte entspann sich um Urbans angeblich revolutionäre Neigungen. Als Chefredakteur des Gardista und aufgrund seiner engen Zusammenarbeit mit Alexander Mach und dessen radikal-nationalistischem Gefolge sah sich Urban Angriffen von Seiten der Intellektuellen um den Slovák ausgesetzt. Wer für Urban Partei ergriff, bekannte sich indirekt zum radikalen Flügel. Dies taten Žarnov und Beniak in ihren Reaktionen auf die spöttische Polemik gegen Urban als den „Revolutionär Nr. 1“, die durch den Artikel Urbans im Gardista vom 16. Januar 1941 „Angst vor der Revolution“ entfacht worden war. Darin erklärt Urban die Notwendigkeit, dass Tuka und Mach die begonnene Revolution fortsetzen müssten, um die herrschenden anarchistischen Verhältnisse in der Slowakei zu beseitigen: „Tuka und Mach tun das, damit wir Platz schaffen für die neue nationalsozialistische gesellschaftliche

221 [Revolučný duch musí prísť do zhnílych – mokrých – kostrbatých našich pomerov!] 222 [Musíte prísť do dejín slovenských s činorodou láskou, ale i s korbáčom svätého hnevu. Vyhnať peňazomencov a kupčíkov z chrámu našich dejín a vytvoriť si svojský, neheslovitý, slovenský svet. ]

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Ordnung, die nicht nur nach außen, sondern auch im Innern als einzige unsere Eigenständigkeit festigen und sichern kann.“²²³ Urban verteidigt die Idee der Revolution, die bereits ganz Europa erfasst habe. Urbans Idee von der Revolution ist tatsächlich ein säkularer Erneuerungsmythos. Sein Text richtet sich explizit gegen die gemäßigten Volksparteiler, besonders gegen den Präsidenten Tiso. Die säkulare Ausrichtung seiner gesellschaftlichen Erneuerungsvorstellungen dürfte den Anlass für die Polemik von der konservativeren, der Kirche nahe stehenden Seite gegeben haben. Die Autoren des Slovák, darunter Konstantin Čulen, unterstellten ihm eine Nähe zum Kommunismus – einer atheistischen Ideologie. Tatsächlich hatte sich Urban eingehend mit dem Kommunismus auseinandergesetzt, diesen auch in seinen Romanen thematisiert.²²⁴ Wenn Urban die Fortführung der Revolution fordert, tut er das, um sich von den konservativen Kräften der Volkspartei abzusetzen. Er selber verstand sich und die Radikalen als fortschrittliche Kräfte in der Slowakei. Entsprechend diagnostizierte er „geschiedene Geister“²²⁵ [triedenie duchov] und zitierte damit ein geflügeltes Wort, das wiederum Žarnov in der Zwischenkriegszeit geprägt hatte. An dieser Debatte zeigt sich der gewachsene Graben zwischen den klerikalen und den säkular-religiösen, radikalen Kräften. Die junge Generation der radikalen Nationalisten, allen voran Mach, Čulen, Murgaš und Urban, gab vor, sich stärker auf die Auseinandersetzung mit den sozialen und somit weltlichen Problemen in der Slowakei zu konzentrieren.²²⁶ 1941 schreibt Urban dazu im Gardista: Oft musste ich feststellen, dass jene politische Garnitur, die nach 1930 den autonomistischen Kampf führte, die soziale Frage in der Slowakei nie lösen würde. Sie hatten den Mund voller päpstlicher Enzykliken, aber im Herzen und in ihren Taten nicht einen Rest sozialen Empfindens. Sie hielten jeden für einen Bolschewiken, der sich für soziale Fragen interessierte. Sie

223 Zit. nach Vnuk 1987, S. 245 [Tuka a Mach robia to preto, aby sme stvorili miesto novému spoločenskému poriadku národno-socialistickému, ktorý nielen navonok, ale aj vnútorne jedine môže upevniť a zabezpečiť našu samostatnosť.]. 224 Für Urban schlugen unter anderem die prominenten Dichter Beniak und Žarnov eine Bresche. Beniak verurteilte in seinem Artikel „Ich melde mich zu Wort“ vom 22. Januar 1941 im Gardista die „öffentliche Hinrichtung Urbans“, als die er die Polemik bezeichnete. Žarnov fragt sich am 26. Januar 1941 in derselben Zeitung, ob der Slovák sich denn so sehr gewandelt habe seit den Zeiten, in denen jener in ihm publizierte. Er fügt an, dass die Verunglimpfung Urbans sogar so weit gehe, dass dieser, selbst auf Žarnovs Vorschlag hin, nicht in die literarische Abteilung der Katholischen Akademie aufgenommen wurde. Vgl. Vnuk 1987, S. 247. 225 Gardista, 22.1.1941. 226 Vnuk führt diese als Angehörige einer Gruppe auf, die der Volkspartei nur deshalb treu blieben, weil sie dieser am ehesten die Lösung der sozialen Probleme in der Slowakei zutrauten. Vnuk 1987, S. 110.

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sahen nur sich, sich und sich, folgten nur ihren eigenen Interessen und das übrige war für sie Stroh. Mit dieser Überzeugung verließ ich unlängst die Redaktion des Slováks, verstehend, dass die Zeit vorüber war und dass mir auf den Seiten des Gardista die Möglichkeit geboten wurde, für Dinge zu kämpfen, die eine alte Liebe meines Herzens waren – für die soziale Verbesserung und Gleichberechtigung des slowakischen Menschen.²²⁷

Mit der „Liebe“ spricht Urban seinen nationalen Glauben an und stellt ihn dem katholischen Glauben, hier als päpstliche Enzykliken verbrämt, gegenüber. Dass er sein Engagement für soziale Fragen ausdrückt, hat wohl mit der „sozialen“ Ausrichtung des Nationalsozialismus zu tun. Davon abgesehen substituierte er mit sozialen und säkular-religiösen Fragen in seinen Romanen tatsächlich die kirchlich-religiöse Thematik.

Milo Urbans revolutionärer Sprengsatz Literarisch entwickelte Milo Urban die Idee der Revolution in seinem 1940, also bereits im slowakischen Staat veröffentlichten Roman „V osídlach“ [In Fesseln]. Die „Revolution“, wie sie Urban entwirft, soll die Fesseln sprengen, die den Slowaken vermeintlich durch die Verhältnisse in der tschechoslowakischen Republik angelegt sind. Das Hauptthema des 540-seitigen Romans ist die Ablösung eines Vaters, der sich intrigierend zum Herrscher über die Slowakei gemacht hat, durch seinen Sohn. Der Anwalt und ehemalige Minister ist seiner Gesinnung nach ein Tschechoslowakist und verfügt über ein weitreichendes Netz an politischen Beziehungen und Kontakten, die er für egoistische Zwecke benutzt. Als Vorlage dieser Figur ist leicht Hlinkas Gegenspieler, der ehemalige Slowakei-Minister Vavro Šrobár, zu identifizieren. Der sprechende Familienname lautet Kalnický, „der Trübe“, was bereits auf

227 Zit. nach Vnuk 1987, S. 110. An diesem Zitat ist neben anderem bemerkenswert, dass Urban hier angibt, wegen inhaltlicher Differenzen und somit aus eigenem Antrieb vom Slovák zum Gardista gewechselt zu haben. In seinen Memoiren stellt Urban den Wechsel von der Kulturredaktion des Slovák zur Chefredaktion des Gardista in ein Licht, als sei er gegen seinen Willen dorthin abgeschoben worden. Die Wahrheit wird sich aufgrund des stark ausgeprägten urbanschen Opportunismus kaum feststellen lassen. – [Často som musel konštatovať, že tá politická garnitúra, ktorá po r. 1930 viedla autonomistický boj, sociálnu otázku na Slovensku nikdy nevyrieši. Mali plné ústa pápežských encyklík, ale v srdci a vo svojich skutkoch ani zbla sociálneho cítenia. Za boľševika pokladali každého, kto sa o sociálne otázky zaujímal. Videli len seba, seba a seba, išli len za svojimi osobnými záujmami a to ostatné bola pre nich slama. S týmto presvedčením som nedávno odišiel z redakcie Slováka, vidiac, že nadišiel čas a že sa mi na stĺpcoch Gardistu ponúka možnosť bojovať za veci, ktoré sú dávnou láskou môjho srdca – za sociálne pozdvihnutie a zrovnoprávnenie slovenského človeka.]

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das zugrundeliegende Konzept der Reinigung hindeutet. Die slowakische Nation muss von solch trüben, intriganten und machtbesessenen Gestalten wie Kalnický gesäubert werden, legt Urban nahe und diskutiert, welche Reinigungsmethoden denkbar wären. Die Generation der Söhne erhält den Auftrag, die Gesellschaft zu erneuern. Die parallele Hauptfigur versucht sich, vertraut mit kommunistischen Ideen an revolutionären Ansätzen und bereitet einen Streik auf dem Land vor. Er scheitert letztlich, weil er ebenfalls aus egoistischen Motiven, nämlich aus Rache handelt. Ihm fehlt, nach Urban, das richtige Motiv zum Handeln: das Wohl der Nation. Der Autor negiert kommunistische Ideen nicht einfach, sondern diskutiert sie. Er stimmt ihnen zu, wenn es um soziale Gerechtigkeit geht. Doch er lehnt die abstrakte, wissenschaftliche Basis ab, was mit seiner generellen anti-intellektualistischen Haltung korrespondiert. Auf einer Versammlung von kommunistischen Studenten formuliert ein Student die Schuld Kalnickýs: Der alte Kalnický ist ein typischer Vertreter dieser Ideologie [des Kapitalismus, die Verf.]. Er kämpfte, doch als er einen warmen Platz für sich selber erkämpft hatte, kehrte er die Waffen um und kämpft seither gegen jene, die ihm früher beim Kampf zur Seite standen. Früher opferte er sein letztes Hemd auf dem Altar der Nation, doch heute nimmt er anstelle des alten einige Dutzend neuer Hemden.²²⁸

In einer weiteren Episode verhandelt Urban die praktische Tauglichkeit kommunistischer Ideen. Die Reihe von Unruhen in der gesamten Tschechoslowakei infolge der Weltwirtschaftskrise, insbesondere der Streik der Fabrikarbeiter in Košuty 1931, bei dem die Polizei drei Menschen erschoss, inspirierten Urban zu seiner Darstellung. Urban hatte daraufhin nebst Alexander Mach das von Kommunisten verfasste Protestmemorandum unterzeichnet; die staatliche Gewalt vereinte die gegensätzlichen Intellektuellen. Bei Urban findet der Streik in einem Dorf statt, in dem auch Kalnický illegal Land besitzt. Die Kommunisten sind in verschiedenen lokalen Bauernvereinigungen und Gewerkschaften zu schwach organisiert, um die Verhältnisse ihrer Mitglieder zu verbessern. Sie desavouieren sich durch sinnlose Aktionen. Zur gleichen Zeit wird im Roman der Kommunismus in den Intellektuellenund Studentenkreisen Bratislavas salonfähig. Die Mentalität der jungen Städter sich wandelt sich, sie sind weniger als früher bereit, den Autoritäten zu folgen. Die Schwester der Hauptfigur ist jedoch skeptisch, weil die kommunistischen Ideen von der sterbenden kapitalistischen Gesellschaft sich widersprüchlich zur 228 S. 95 [Starý Kalnický je výrazným predstaviteľom tejto ideologie. Bojoval, ale keď si vybojoval teplé miesto, obrátil zbraň a bojuje proti tým, čo mu pomáhali bojovať. Kedysi obetoval poslednú košeľu na oltár národa, ale dnes za tú jednu starú koseľu berie si niekoľko tuctov nových.]

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Natur mit ihrem zyklischen Wesen verhalten würden. Sie glaubt, der Grund für das merkwürdige Verhalten der Menschen sei nicht in der äußeren Welt, sondern im Innern der Person zu finden.²²⁹ Hier klingt Urbans Religion des Instinkts an, die er der rationalen kommunistischen Ideologie entgegensetzt. Die Romanhandlung wird durch einen mythischen Zirkelschluss beendet. Es stehen einander die beiden jungen parallelen Protagonisten als mögliche Erneuerer gegenüber im Gerichtsprozess gegen den einen als Streikführer. Urbans Sympathieträger hält eine moralische Rede, die über den eigentlichen Prozess hinausgeht. Dabei fällt er, indem er dessen Vergehen benennt, ein symbolisches Todesurteil über den Vater und setzt sich an dessen Stelle. Er verlässt die Stadt, um auf dem Land von vorn anzufangen, wo auch sein Vater einst noch anständiger Slowake gewesen war. Durch diese mythisch zyklische Zeitvorstellung ensteht die Möglichkeit von vorn anzufangen. Urban versucht, die Erste Republik aus der slowakischen Geschichte zu löschen, ähnlich einem Trauma, das erst nach einem neuerlichen Durchleben vergessen werden kann. Auf diese Weise erfindet Urban einen Gründungsmythos für den slowakischen Staat. Dieser Mythos besteht in einem revolutionären, allerdings rein rhetorischen Akt, der das korrumpierte Establishment beseitigt und durch eine neue Ordnung in der Zukunft ersetzt.

Štefan Gráfs kulturfähige Slowaken In einem vom Verlag Čas in Bratislava ausgeschriebenen Wettbewerb wurde Štefan Gráfs Roman „Cesta za snom“²³⁰ [Der Weg zum Traum] ausgezeichnet. Der Roman erschien 1942 in der wie zur Vorkriegszeit üblichen Auflage von 3000 Exemplaren. Die Grafik auf dem Schutzumschlag (Richard Zapletal) zeigt eine verhärmte Mutter mit weinendem Sohn zu ihren Füßen. Die beiden befinden sich in einem Innenraum mit kleinem Fenster und Kruzifix an der Wand. Die traurige Stimmung passt nicht zur Erfolgsgeschichte, die im Roman erzählt wird. Gleichwohl fängt es das Klischee ein, nach dem die Slowaken ihr Kreuz zu tragen haben. Die Gestalt der Mutter verkörpert hier wie auch in Romanen anderer Autoren allegorisch das Leid der Nation. An seiner Hauptfigur entwickelt Gráf die Idee von der Kulturfähigkeit der slowakischen Nation. Er zeigt das am Aufstieg des Sohnes eines armen, groben DorfZimmermanns und einer eingeschüchterten Mutter aufwächst. Der Roman entwirft die Bildungsbiographie eines mittel- und chancenlosen Jungen, der aus eigener Kraft Schulabschlüsse macht, eine Redaktions- und dann eine Beamtenstelle be229 S. 437 230 Gráf, Štefan: Cesta za snom [Der Weg zum Traum], Bratislava 1942.

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kommt und schließlich ein erfolgreicher Schriftsteller wird. Dabei überwindet er die Hindernisse, die ihm ein geldgieriger Jude oder missgünstige Beamte in den Weg stellen. Er macht seinen Weg zu einer bürgerlichen Existenz und führt damit exemplarisch vor, dass die junge slowakische Nation trotz ungünstiger Startbedingungen und mangelnden Kapitals den Aufstieg zu einer bürgerlichen Gesellschaft und damit zu einer Kulturnation schaffen kann. Gráf nimmt hier wie in „Zápas“ [Das Ringen] das Motiv des betrügerischen Juden auf, der den Slowaken existenziell gefährdet. Nach weiteren Hindernissen auf seinem Weg zum bürgerlichen Leben erlangt er öffentliche Anerkennung durch den Staatspreis für sein zweites literarisches Werk. Parallel zu diesem Aufstieg findet der Niedergang des Geschäftshauses statt, in dem die Hauptfigur ihre Lehrjahre absolviert hatte. Als Grund für den Bankrott legt der Autor eine ideologische Fährte aus: Der slowakische Unternehmer leidet am fehlenden slowakischen Bewusstsein: Macháč schreibt sich Machács (S. 8), hat also seinen Namen magyarisiert. Auch den Namen der Hauptfigur magyarisiert er und nennt diesen statt Ľudo, worin das Wort „Volk“ enthalten ist, Lajo. Im Umgang mit dörflicher Kundschaft redet der Geschäftsinhaber „Küchenslowakisch“ (S. 8) und beherrscht hingegen Ungarisch und Deutsch besser. Aus dem untergehenden Geschäftshaus rettet die Hauptfigur, nachdem er ein bekannter Schriftsteller geworden ist, die Tochter, was ihre Namensänderung von der ungarischen Kurzform von Elisabeth Erzi zum slowakischen Betka umfasst. Über die Namenswechsel von Lajo zu Ľudo, Erzi zu Betka, Machács zu Macháč wird der Roman als dem staatlichen Slowakisierungsprojekt verpflichtet erkennbar. Der Erfolg der Hauptfigur ist das Ergebnis harter kontinuierlicher Arbeit, doch auch ein Frauenopfer ist Bedingung: Während einer Kajakfahrt auf der Donau ertrinkt die Verlobte. Diese tragische Episode steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Rolle des nationalen Schriftstellers, der nun seine Mission erkennt, die in der intellektuellen Arbeit besteht: Arbeite. Dann bringt dich weder die Missgunst der Mächtigen dieser Welt um, noch der Hass der Ehrgeizigen oder die Blödheit von Dummköpfen. Brechen kann dich nur das Schicksal, die Vorsehung, wenn deine Zeit kommt. Bis dahin: Träume, halte den Gedanken fest und arbeite – ! Die Arbeit, in der das Suchen der Wahrheit ist und das Suchen des Schönen, wird dich befreien.²³¹ Nationales und ästhetisches Anliegen soll der Schriftsteller im Sinne seiner individuellen und auch der nationalen Emanzipation verbinden. Seine Mission ist

231 S. 296 [Pracuj. A vtedy ťa nezabije ani nepriazeň mocných tohto sveta, ani závisť ctibažníkov, ani hlúposť sprostých. Zlomiť ťa môže iba osud, Prozreteľnosť, keď príde tvoj čas. Dovtedy: snívaj, trímaj myšlienku a pracuj – ! Práca, v ktorej je hľadanie pravdy a hľadanie krásna, ťa oslobodí.]

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eine zivilisatorische, da er die Kulturfähigkeit und damit den Anspruch auf eine eigenständige Nation unter Beweis stellt. Durch seine intellektuellen Handlungen gewährt der Schriftsteller die geistige Kontinutität der Nation. Eine leidenschaftliche Liebe würde ihn dabei allerdings einschränken. Diesem Entwurf liegt die katholische zölibatäre Vorstellung als Muster zugrunde, die vor allem dazu dienen soll, die nationale Mission mit einer höheren Weihe auszustatten. Ebenso wie der Roman „Zápas“ spielt dieser in der Zwischenkriegszeit, obgleich Gráf ihn erst unter den Bedingungen des slowakischen Staates verfasste. Im Roman „Zápas“ scheitert die Hauptfigur mit ihrer nationalen Mission an den historischen Bedingungen. Die Leserschaft sollte empört und mobilisiert werden. Der Roman „Cesta za snom“ hingegen zeigt nun in denselben Verhältnissen eine individuelle Erfolgsgeschichte – geschrieben aus der Sicht der nationalen Erfolgsgeschichte seit der slowakischen Staatsgründung. Die Funktion des Romans in nationalistischer Hinsicht ist somit, die weitere intellektuelle Arbeit für die Nation mit einem höheren, aus der christlichen Spiritualität abgeleiteten Sinn auszustatten.

Ein Ideal völkischer Dichtung Schon bald nach der Entstehung des slowakischen Staates begann die nationalistische Kulturszene sich selbst zu reproduzieren. 1941 erschien die erste Monografie über den Dichter Žarnov; bereits 1943 folgte eine zweite Auflage mit insgesamt 5500 Exemplaren²³². Der Autor Ján Sedlák, ein Literaturwissenschaftler und -kritiker, hatte in Krakau und Paris studiert und war ein „Svoradovčan“²³³, wie viele der jungen intellektuellen Nationalisten. Von 1940 bis 1942 arbeitete er als – staatlich eingesetzter – Dramaturg am Nationaltheater in Bratislava und war zugleich Redakteur der Zeitschrift Rozvoj, dem Magazin der katholischen Studentenschaft, wo auch Žarnov regelmäßig publiziert hatte. Von 1943 bis 1944 war er als Redakteur der katholischen Zeitschrift Kultúra tätig. Ab Mitte der Dreißigerjahre war Sedlák ständiger Mitarbeiter des Parteiorgans Slovák, außerdem von Slovenská politika und den katholischen Literaturzeitschriften Postup und Kultúra.²³⁴ Sedlák bewegte sich in denselben Kreisen wie Žarnov, welcher mit der literaturgeschichtlichen Studie nicht nur kanonisiert werden sollte, sondern auch aufs nationale Podest gehoben wurde.

232 Sedlák 1994, S. 86. 233 Siehe Kapitel 6 in dieser Studie. 234 Maťovčík, Augustín, Cabadaj, Peter, Ďurovčíková, Margita et. al.: Slovník slovenských spisovateľov [Wörterbuch der slowakischen Schriftsteller], Martin 2001, S. 407.

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Als Sekretär des Ablegers der Matica slovenská in Bratislava hielt Sedlák 1940 im Rahmen einer Vortragsreihe, welche in der Aufbruchsstimmung die slowakische Gegenwartsliteratur popularisieren sollte, einen Vortrag über Žarnov. Zu einer Monografie ausgearbeitet bildete dieser dann den Auftakt zu einer Editionsreihe, die Sedlák im Volkspartei-Verlag Čas herausgab. Darin erschienen die Werke der Autoren, die in Sedláks Darstellung in der Ersten Republik aus ideologischen Gründen zu wenig Aufmerksamkeit erhalten hatten: darunter Beniak, Gašpar, Bor und Rázus; ein Text Anton Prídavoks über den literarischen Osten der Slowakei ging nicht mehr in den Druck.²³⁵ In der Monografie²³⁶ über das bis dahin vorliegende Werk Žarnovs ordnete Sedlák diesen in die literarischen Strömungen der Nachkriegszeit ein. Er hob die Verdienste Žarnovs für die Nation hervor und profilierte ihn als bedeutenden Dichter der Gegenwart: „Bei Žarnov wurde die Poesie nicht nur ein Sprachrohr des inneren geistigen Reifens, sondern sie griff als ein starker sozialer Faktor in die gesellschaftlichen Umbrüche ein. Mächtig und hart.“²³⁷ Mit Hilfe dieser Monografie sollte retrospektiv die Existenz einer „nationalrevolutionären“ Strömung in der Dichtung etabliert werden. Entsprechend stellt Sedlák anhand von Žarnovs Gedichten Kriterien für diese Art von Dichtung auf: Die Dichtung [ist; die Verf.] ungekünstelt und bäuerlich gesund in Versen von nationaler Prägung, und lyrisch rein, nicht sentimental krankhaft im subjektiven künstlerischen Ausdruck. Und deshalb auch wahrhaftig und aufrichtig. Die Metaphern sind klar, ohne versteckten Sinn, sie wirken hart, dynamisch. Der Dichter bringt getrennte und gegeneinander stehende Ausdrücke zusammen, die Träger einer unerwarteten Überraschung sind.²³⁸

Zudem lobt er die Reinheit des Slowakischen. Nach Sedláks Auffassung spiegelt die Dichtung den Horizont des ländlichen Milieus, des so genannt einfachen Volkes. Sie sei anti-elitär und anti-intellektualistisch orientiert, nicht subjektivistisch. Das bedeutet, dass er Dichtung, die nicht auf eine gruppenbezogene Ideologie abzielt, ebenso ablehnt wie Individualität zusammen mit psychologisierender Empfindsamkeit. Die Dichtung soll nicht mehrdimensional oder voller Anspielungen sein,

235 Sedlák 1994, S. 86. 236 Sedlák, Ján: Básnický profil Andreja Žarnova [Das dichterische Profil Andrej Žarnovs], Bratislava 1941. 237 Sedlák 1941, S. 6 [U Žarnova poézia stala sa nielen vyslovovateľkou duchovného vnútorného dozrievania, ale ako silný sociálny faktor zasahovala do spoločenských premien. Mocne a tvrdo.]. 238 Sedlák 1941, S. 32 [Poézia nenaumelkovaná a sedliacky zdravá vo veršoch nacionálneho razenia, a lyricky čistá, nie sentimentálne chorobná v subjektívnom umeleckom prejave. A preto i pravdivá a úprimná. Metafory sú jasné, bez skrytého smyslu, pôsobia tvrdo, dynamicke. Básnik sdružuje rozlučené a proti sebe postavené výrazy, ktoré sú nositeľmi nečakanej prekvapivosti.].

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sondern sofort verständlich. Ihre Aufgabe besteht demnach darin, erfahrungsweltliche Komplexität zu reduzieren. Und sie soll durch eine krasse Bildlichkeit und starke Kontraste Effekte erzielen. Dies sind Charakteristika, die eine völkische Poetik beschreiben, durchaus aber auch für eine linke revolutionäre Dichtung gelten könnten. Entlarvend für den konkreten literarischen Nationalismus ist im obigen Zitat allerdings die biologistische Krankheitsrhetorik, die der Autor sowohl gegen das soziale urbane Milieu als auch gegen ästhetische individualistische Stömungen wendet. Außerdem hebt Sedlák hervor, dass Žarnov sich nicht wie andere Dichter darauf beschränkt, das ländliche Leben zu glorifizieren, sondern auch eine kämpferische Poetik verfolgt. Als „Barde der kleinen Nation“ bezeichnet, wird Žarnov in diesem Sinne zum poetologischen Modellfall, normbildend für eine nationale Dichtung. Deren Vertreter sind neben Žarnov Valentín Beniak, der ebenfalls ein Funktionär im slowakischen Staat war und „reine nationale Poesie“ geschaffen habe sowie Ján Kostra und Emil B. Lukáč. Sedlák bezeichnet diese Dichter als die „ausdrucksstarken Schöpfer einer neuen national-funktionalen Lyrik“ und gibt dieser Dichtung somit einen Namen. Sie zeichne sich durch eine intime Neigung zur neuen Wirklichkeit und zur Zeitlichkeit aus, sie sei rebellisch und dokumentiere den Kampf für die Freiheit.²³⁹ Sedlák streicht die breite Wirkung von Žarnovs Gedichten heraus. So beweise etwa die einstige heftige Kritik des einflussreichen tschechischen Philologieprofessors an der Universität in Bratislava, Albert Pražák²⁴⁰, die Furcht vor der Wirkung der Gedichte. Das Gedicht „Aufmarsch der Vergifteten“, das zuerst zensiert und nach einer Interpellation im Parlament im Slovák veröffentlicht wurde, nennt er das revolutionärste slowakische Gedicht aller Zeiten. Es habe das ideologische Credo und Programm der jungen Generation ausgedrückt als unmittelbare Reaktion auf die Anklage im Tuka-Prozess²⁴¹, jener würde die Jugend vergiften.²⁴²

239 Sedlák 1942, S. 22. 240 Als lautstarker Gegner der nationalistischen Kulturakteure um die Volkspartei war der Tscheche Albert Pražák, Professor an der Universität in Bratislava, bekannt. Er verriss Žarnovs Erstling wegen antitschechischer Hetze und bezeichnete den Dichter als kämpferischsten Propagator des slowakischen Nachkriegsautonomismus. Die nächste Gedichtsammlung „Brázda cez úhory“, 1929, nahm der Tschechoslowakist und Philologe Prážak dann wesentlich günstiger auf. Vgl. Pašteka 2000, S. 9. 241 Der Prozess gegen Vojtech Tuka wurde 1929 wegen Hochverrats angestrengt und führte zu einer langjährigen Freiheitsstrafe. Aus Protest beendete die Volkspartei ihre nur zwei Jahre währende Mitarbeit in der Regierungskoalition. 242 Sedláks Befund wird bestätigt durch Žarnovs etwa zeitgleich entstandenen Zeitungsartikel „Ich höre den Gang einer neuen Generation“, in dem er sich als Wortführer der jüngeren Generation von Nationalisten gibt und diese aufruft, nicht nur Schöpfer, sondern auch Kämpfer und

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Sedlák muss als ein intellektueller Säkularisierer angesehen werden. Zumindest bildet das Thema Religion eine auffallende Leerstelle in seinem Werk. Durch seine Interpretation lotet er die motivisch und strukturell in der christlichen Glaubenslehre ankernde Dichtung Žarnovs auf ihre Möglichkeit zu säkularer Inanspruchnahme aus und prägt dafür die Formel des „national-funktionalen“ Dichters.

Fazit Die Autoren nationalistischer Literatur schrieben in einer schwierigen Situation, da slowakische Literatur auf dem tschechoslowakischen Buchmarkt wenig gefragt war. Sie waren auf die Einkünfte aus Tätigkeiten in der öffentlichen Verwaltung oder bei Parteizeitungen angewiesen, womit sie in ein Spannungsverhältnis zu den großen Erwartungen gerieten, die gegenüber den Schöpfern einer slowakischen Nationalkultur gehegt wurden. In den Diskussionen über die Rolle der slowakischen Schriftsteller und der Nationalkultur spiegelten sich die anfänglichen Orientierungsschwierigkeiten, denn es musste ein Umgang sowohl mit der tschechischen Kultur und als auch mit der slowakischen Tradition gefunden werden, und es galt, unter neuen historischen Bedingungen eine adäquate Funktion der slowakischen Kultur zu definieren. In diesem Prozess orientierten sich die Intellektuellen auch am europäischen Ausland. Der Blick richtete sich, gelenkt von außerliterarischen Kriterien wie Politik und Religion nach Frankreich und Polen. Es zeichneten sich teilweise parallele Entwicklungen mit der völkischen Literatur ab. Zudem wirkte der ehemalige gemeinsame Kulturraum mit Ungarn fort. Die kritische Lektüre von Romanen und Gedichten erwies als deren Ziel, eine mythische Vergangenheit für die slowakische Nation zu konstruieren: zum einen als Ersatz für die fehlende Herrschaftsgeschichte und zum anderen als Quelle für auf die Zukunft gerichtete Nationsvisionen. Dabei erlangte der Mythos vom nationalen Martyrium als Primärmythos den Status einer Meistererzählung für die slowakische Geschichte. Aus diesem leiteten sich die Folgemythen ab: Opfer, Auferstehung, Erlösung und Reinigung/Säuberung. Letztlich zielten alle Mythenbearbeitungen trotz unterschiedlich intensiver Anwendung der „mythischen Methode“ – komplementär zum Lebenswillen der slowakischen Nation – auf die Überwindung des Todes ab. Daraus leitete sich der spezifische Charakter des Nationalismus von einem generell ethnisch-kulturell attribuierten ab, der sich freilich zunehmend zu einem körperlich, organisch-biologisch verstandenen Nationalismus verengte.

Revisionisten zu sein. „Čujem pochod novej generácie“ [Ich vernehme den Gang einer neuen Generation], Rozvoj, 7, 5, 1929, S. 97.

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Körper und Instinkt bekamen eine herausragende Bedeutung für die Idee des Nationalen. Die Deutungen derselben historischen Ereignisse in verschiedenen Romanen zeigen in dieser Hinsicht einen konzeptionellen Wandel und die Schärfung des Begriffs des Nationalen in biologisch-organischem Sinne. Verkörperungen, Inkarnation, Instinkt und Blutbewusstsein wurden zentrale Motive und Stilmittel bei der literarischen Konstruktion eines nationalen Kollektivs. Die mobilisierende, das heißt appellative Funktion der Texte wurde überwiegend über christliche Analogien und Mythenadaptionen gewährleistet. Auf der thematisch-inhaltlichen Ebene wurden gängige Deutungen historischer Ereignisse uminterpretiert und korrigiert. Das Thema des nationalen Martyriums erfuhr verschiedene ästhetische Realisierungen von teilweise innovativem, modernisierendem Wert. Für das Konzept der Reinigung wurde häufig der Motivbereich des Stadt-Land-Gegensatzes bearbeitet. Die Idee der Reinigung zielte auf die Beseitigung der Ursachen des slowakischen Martyriums durch eine Regeneration mittels ländlicher oder traditioneller Werte ab. Der Bezug auf den Ackerboden lieferte das wichtigste Argument für das nationale Fortbestehen. Von einer bloßen Preisung des ruralen Lebens unterschied sich dieser Bezug etwa durch politisch-ideologische Analogien oder durch eine überlagernde Blutmetaphorik. Ambitionen zur Aneignung der Städte stellten spezifische Legitimationsstrategien für slowakische Ansprüche dar, wobei die Literatur die Funktion übernahm, eine nationale Vergangenheit zu konstruieren. Abgesehen von modernen Stilmitteln sind es die „mythische Methode“ und die damit verbundenen Narrationstechniken, welche die nationalistische Literatur zugleich als modernistische ausweisen. Anders als etwa die Vorkriegsprosa mit ländlicher Thematik zeigen die nationalistischen Autoren nach 1918 eine keineswegs homogene slowakische Gesellschaft, sondern eine, die unter einem großem Veränderungsdruck stand. Aus diesem Grund eigneten sich die Autoren eine antiliberale Grundhaltung an, aus der heraus sie die liberalen Institutionen und die sozialen Auswirkungen des Modernisierungsprozesses ablehnten und nationalkollektivistische Alternativen zu deren Überwindung entwarfen. Eine wesentliche Funktion übernahm dabei das Sakrale, das sie auf ästhetischem Weg versuchten, durch die „Nation“ zu substituieren. Eine besondere Form von Modernität bewirkte ein nationaler Antisemitismus. Dieser umfasste lag den Wandel vom religiös-spirituellen Konzept der Reinigung hin zur säkularen, physisch und rassisch verstandenen Säuberung. Der kulturelle und biologische Antisemitismus stellte eine spezifische Form des slowakischen Nationalismus dar, die bewirkte, dass auch das nationale Kulturkonzept elementar antisemitisch geprägt war. Nicht nur die christliche Ikonographie diente als Mythengenerator, sondern auch religiöse Rituale. Vom christlichen Opferritual leiteten mehrere Autoren Kon-

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tinuitätserzählungen ab, als deren Voraussetzung Frauen in den Texten zu Ausschlussfiguren wurden. In der Autonomiephase und mit der Gründung des slowakischen Staates erlebte das Hochwertkonzept der Auferstehung einen Aufschwung. Es ließ sich gut an die neue Situation anpassen, weil es zum einen die positive Seite der Erlösungshoffnung enthielt. Zum anderen ließ sich das Narrativ des nationalen Martyriums unter dem Eindruck von Gebietsverlusten und beginnendem Krieg wieder in der Publizistik und Literatur anwenden. Die Differenzen zwischen den verschiedenen nationalistischen Lagern wurden über den Diskurs der „Revolution“ ausgetragen, in welchem sich ein militanterer Ton im Bezug auf eine gesellschaftliche Erneuerung etablierte. Der revolutionäre Gestus war indessen von Anfang an vorhanden, etwa im Revolutionssymbol des Feuers, das der ersten nationalistischen Literaturzeitschrift, Vatra [Lagerfeuer], Namen und Signet verlieh. Die Staatsgründung im Jahr 1939 wurde als Erfolg angesehen, weil die Slowakei nun als gleichrangige Nation mit einer nationalen Kultur als Leistungsausweis den anderen Nationen gegenüberstand. Der Bezug auf Gott und die christliche Religion verstärkte sich, weil die Nation als von Gottes – statt von Hitlers – Gnaden legitimiert werden sollte. Die ehemals oppositionellen nationalistischen Intellektuellen fanden sich mit einem Mal in der Rolle von Staatsdichtern, über die nun Werke verfasst wurden mit dem Ziel, die zur Staatskultur gewandelte Nationalkultur symbolisch zu repräsentieren.

Schlussfolgerungen Den Schlussfolgerungen aus dieser Untersuchung möchte ich die Lektüre einer Erzählung von Franz Kafka (1883–1924) aus dem Jahr 1914 voranstellen. Sie funktioniert wie eine Negativfolie zu den untersuchten literarischen Werken. Als politikinteressierter Prager deutscher Jude erlebte Kafka den Untergang der k. u. k. Monarchie sowie die ersten Jahre nach der Gründung der Tschechoslowakei mit.²⁴³ In seiner grotesken Erzählung „In der Strafkolonie“ setzt sich Kafka auf ästhetische Weise mit dem Verhältnis von Intellektuellen zur Macht auseinander. Der Text enthält einige Indizien dafür, dass der Autor ihn vor dem Hintergrund der DreyfussAffäre in Frankreich geschrieben hat²⁴⁴, die als Geburtsstunde der Intellektuellen gilt. Die dichte Erzählung fordert viele Lesarten heraus. Mit der hier vorliegenden Arbeit ist jedoch die vorgeführte ästhetische Transfiguration von besonderem Interesse, die ein Mensch in der Hoffnung auf eine Offenbarung mit sich geschehen lässt. Die Handlung wird durch einen Forschungsreisenden in Gang gesetzt, der in eine Strafkolonie gelangt, die auf einer Insel von einer französischen Besatzungsmacht geführt wird. Dort wird ihm eine grauenvolle, aber raffinierte Tötungsmaschine vorgeführt. Der Bestrafungsapparat bildet das Herzstück des Systems und gleichzeitig dessen legitimatorische Referenz. Die Totalität des Systems wird durch die Charakterisierung des verstorbenen Kommandanten unterstrichen, der alle Funktionen in sich vereint hatte, „Soldat, Richter, Konstrukteur, Chemiker, Zeichner“ (S. 14), und in dessen Geiste das Bestrafungsverfahren fortgeführt wird. Der Verstorbene wird wie eine Gottheit verehrt, weshalb dem Befehlshaber die eigenen Hände „nicht rein genug“ erscheinen, um die Originalzeichnungen des Kommandanten zu berühren. Dass Kafkas Darstellung auf Glaubenssysteme abzielt, die eine vollkommene Unterwerfung vom Individuum verlangen, wird gerade durch solche religiösen Attribute deutlich. So wird dem Verurteilten auch „das Gebot, das er übertreten hat“ durch Nadeln als Inschrift in den Leib geritzt. (S. 16) Oder der Offizier vollzieht wie ein Hohepriester an dem „Bett“ genannten Altar, auf dem der Verurteilte liegt, das Opfer, wobei ritualgerecht Blut fließt. Allein vom Forschungsreisenden – der Verkörperung eines Intellektuellen – soll abhängen, ob diese willkürliche und grausame Justiz beibehalten würde. Eine groteske Wendung nimmt die Geschichte, nachdem der Reisende sich gegen die Maschine ausspricht: Der Befehlshaber legt

243 Kafka, Franz: In der Strafkolonie. Eine Geschichte aus dem Jahre 1914, hg. von Klaus Wagenbach. Berlin 1995, S. 9 ff. 244 Zimmermann, Rolf Christian: Der Dichter als Prophet. Grotesken von Nestroy bis Thomas Mann als prophetische Seismogramme gesellschaftlicher Fehlentwicklungen des 20. Jahrhunderts, Tübingen 1995, S. 179 ff.

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sich selber in die Maschine und wird quasi zum Märtyrer, der seinen Glauben an die Richtigkeit dieses „Gerichts“ durch sein eigenes (lustvoll erbrachtes) Opfer bezeugt. Zwar wird er wie ein Gekreuzigter von den Nadeln durchbohrt, doch bleibt das erhoffte Transzendenzerlebnis aus: „Es [das Gesicht] war, wie es im Leben gewesen war; kein Zeichen der versprochenen Erlösung war zu entdecken (. . . )“ (S. 65) Dass Kafka hier die Dekonstruktion eines menschenverachtenden totalitären Herrschafts- und Justizsystems vorführt, das wesentlich auf einem pseudoreligiösen Glauben fußt, zeigt sich ebenso in der Beschreibung der Begräbnisstätte des früheren Kommandanten. Die Inschrift auf dessen Grabstein berichtet von einer „Prophezeiung, dass der Kommandant nach einer bestimmten Anzahl von Jahren auferstehen und aus diesem Hause seine Anhänger zur Wiedereroberung der Kolonie führen wird. Glaubet und wartet!“ (S. 68) An diesem Punkt des Textes ist das Faszinosum der Maschine längst gebrochen, sie selbst für immer zerstört und der Selbstversuch des Offiziers gescheitert. Erlösungsprophetien desavouiert Kafka vollständig, indem er die barbarischen und tödlichen Praktiken bloßlegt, die deren Verwirklichung verlangen. Sein Text liefert somit ein eindrückliches Beispiel für eine den nationalistischen Fiktionen entgegengesetzte intellektuelle Praxis. Kafka verweist durch seine Darstellung auf die Rolle ästhetisierender und transformierender Praxis als Voraussetzung und Teil eines Systems, welches zum Ziel hat, sich ein Individuum mit Leib und Seele unterzuordnen – auch um den Preis der Zerstörung desselben. Insofern versinnbildlicht Kafkas Text auch die reale Wirkungsmacht symbolischer Praktiken. Die Darstellung einer bestimmten symbolischen Praxis und ihrer gesellschaftlichen Relevanz hat auch die vorliegende Untersuchung zum Ziel. Die Untersuchung der drei Praxisbereiche kulturelle Institutionen, Presse und Literatur bestätigte die zentrale Annahme, dass der Nationalismus in der Slowakei zwischen 1918 und 1945 wesentlich durch die kulturelle Praxis nationalistischer Intellektueller wirksam wurde.

Handeln aus Überzeugung Die Frage, weshalb sich die schreibenden Intellektuellen am slowakischen Nationalisierungsprojekt beteiligten, lässt sich durch den Vergleich der sozialen Herkunft und der Bildungswege sowie Berufskarrieren beantworten. Ein wesentlicher Grund ist in ihrer ländlichen Sozialisation zu suchen. Sie kamen oft aus der rein slowakischen Provinz und nahmen auf ihrem Bildungsweg die soziale und kulturelle Schichtung in den Städten als Bedrohung wahr. Zudem waren sie stark durch katholische Gemeindeschulen geprägt, die ihnen christliche Vorstellungen

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einimpften. In den ungarischsprachigen Mittelschulen machten sie während des Ersten Weltkriegs häufig noch Zurücksetzungserfahrungen, an die sie später bereitwillig slowakisch-nationalistische Vorstellungen anknüpften. In den Städten erfuhren sie wohlfahrtliche, soziale und kulturelle Unterstützung wiederum von Einrichtungen der katholischen Kirche, die ihrer Ambition, mit Hilfe intellektueller Tätigkeit sozial aufzusteigen, entgegenkam. Die katholische Kirche selber war durch den neuen Zentralstaat unter erheblichen Säkularisierungsdruck geraten und erhoffte sich im Gegenzug von den Jungen Verstärkung für die kirchlichen Anliegen. So gingen katholische Kirche und aufstrebende nationalistische Intellektuelle eine für beide Seiten vorteilhafte Allianz ein. Zusätzlich wurden die Jungen von den Vertretern eines gemäßigten, traditionalistischen Nationalismus, der ans 19. Jahrhundert anknüpfte, gefördert. Jene bereits reüssierten Schriftsteller und Journalisten halfen mit ihren Institutionen und Aktivitäten der neuen Generation beim Aufstieg. Ein solchermaßen geknüpftes nationalistisches Netzwerk von Personen in politischen und kulturellen Institutionen war eine wesentliche Voraussetzung für die Bildung einer neuen nationalistischen Elite. Überdies untergruben die mäßige Partizipation der Slowaken im tschechoslowakischen Staat sowie die ungleiche wirtschaftliche und soziale Stellung im Vergleich mit dem tschechischen Landesteil die Loyalität zu diesem Staat. Unter diesen Voraussetzungen können wir davon ausgehen, dass die Intellektuellen beziehungsweise die Schriftsteller aus Überzeugung und weniger aus propagandistischem Auftrag handelten. Zu ernsthaft und komplex für reine Auftragsarbeit war etwa die Gestaltung der literarischen Werke. Die selbstgewählte Aufgabe der Schriftsteller bestand darin, über Werte und Verhaltensnormen zu reflektieren, die in ihren Augen in der idealen Gemeinschaft gelten sollten. Sie richteten ihr Interesse also vor allem auf das Verhältnis vom Individuum zum Kollektiv in der künftigen Nation und definierten dieses als ein moralisches. Der Idealfall wäre der neue Mensch, der bereitwillig im Kollektiv aufginge und die Nation solchermaßen erneuerte. Die nationalistischen Autoren betraten mit der moralischen Frage die Domäne des Christentums und widmeten sich der Adaption von religiösen Konzepten. Das heißt, sie entwarfen eine neue Welt durch die Brille der christlichen Werteordnung und säkularisierten sie gleichzeitg, indem sie das christliche Glaubenssystem durch ein nationales ersetzten. Sie entwickelten nationale Deutungen der Gesellschaft weitgehend eigenständig, wobei ihnen die christlich-mythischen Konzepte Hilfen an die Hand gaben. Die nationalistische Literatur entstand an der Schnittstelle politisch-gesellschaftlicher Entwicklungen und ästhetischer Strömungen und Ideen. Individuelle Sozialisierung, der gesellschaftliche und literarische Kontext standen hinter der Entwicklung einer Literatur, die an modernen ästhetischen Entwicklungen partizipierte, obgleich sie gesellschaftlich konservative Werte vertrat. Die kulturelle

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Praxis der jungen Nationalisierer resultierte in der Etablierung der spezifisch slowakischen Kategorie des Nationalen. Ein Katalysator dabei waren die aktuellen gesellschaftlichen Gegebenheiten, insbesondere die asymmetrischen Machtverhältnisse in der Ersten Republik.

Nationales Martyrium als Primärmythos Bei der Analyse der rhetorischen und literarischen Praxis, das heißt von Presseerzeugnissen und literarischen Werken, kristallisierte sich heraus, dass den ideellen Kern im Denken vieler slowakischer Nationalisten in der Zwischenkriegszeit der Mythos vom nationalen Martyrium bildete. Das Hegelsche Diktum vom „geschichtslosen Volk“ beziehungsweise Marx’ und Engels’ Äußerungen über die „barbarischen“ und „nicht lebensfähigen“ Völker Südosteuropas waren das vermeintliche Pièce de résistance auf dem Weg zur eigenständigen Nation, an dem die Intellektuellen sich kollektiv abarbeiteten. Das Trauma von der fehlenden oder verlorenen Staatlichkeit, das allgemein auf das Ende des historisch umstrittenen Großmährischen Reiches im 10. Jahrhundert und die dauerhafte Etablierung der Herrschaft des ungarischen Königshauses im Jahr 1030 datiert wird, öffnete einen kreativen Raum für die Konstruktion eines nationalen Gedächtnisses, in das sich die individuell in der Gegenwart erfahrenen Zumutungen bestens einfügen ließen. Wie beiläufig transportierte die Idee der herrschaftslosen Geschichte die Idee der Nation. Darauf kam es vor allem an, denn auch eine unterdrückte Nation war ein Beweis für die historische Existenz der Nation. Den literarischen Werken, die sich durch eine vorgängige nationalistische Reflexion und damit auch eine erkennbare Programmatik von anderer Literatur abheben, liegt in der Regel der Mythos vom unterjochten slowakischen Volk zugrunde. Dieser Mythos erlaubte, eine Kontinuität von einer fernen Vergangenheit bis in die historische Gegenwart zu konstruieren. Da die Slowaken keine Phasen der Herrschaft vorweisen konnten und der historische Mythos vom Großmährischen Reich bereits von der tschechoslowakischen Symbolpolitik okkupiert war, bot sich der Mythos vom geknechteten Volk zum Bearbeiten an. Er enthielt eine Wahrheit, die sich für alle Zeiten konstruieren ließ, und war anschlussfähig in der Gegenwart. Damit knüpfte der Nationalismus auch an die emanzipatorische Orientierung im 19. Jahrhundert an, wobei dieser neo-emanzipatorische Nationalismus tatsächlich aber antiliberale Züge aufwies. Allerdings konkurrierten die nationalistischen Intellektuellen mit den linken Intellektuellen um die Verwendung des favorisierten Mythos vom geknechteten Volk, weil auch jene sich der unterdrückten und ausgebeuteten sozialen Schichten

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annehmen wollten. Das schlug sich unmittelbar in reflektierenden Passagen in den Prosawerken nieder. Die Auseinandersetzungen mit der marxistischen Ideologie mündeten letztlich darin, die Überlegenheit national-konservativer Werte als Basis der angestrebten Erneuerung darzustellen. Die erstmalige, vergleichend angelegte Analyse nationalistischer Werke der slowakischen Literatur legt den Blick darauf frei, wie der nationale Mythos ausgearbeitet und differenziert wurde: Aus dem Primärmythos vom nationalen Martyrium leiteten die Autoren Folgemythen wie Auferstehung, Erwachen und Freiheit ab. Durch diese literarische Praxis wollten die slowakischen Intellektuellen eine Nationalkultur entwickeln, um letztlich den Beweis zu erbringen, dass sie einer kulturund damit lebensfähigen Nation angehörten.

Kulturelle Grenzziehungen In den untersuchten Praxisbereichen erwies sich die Betonung kultureller Differenzen und Eigenheiten, gefasst im Begriff der Slowakizität, als ein favorisiertes Instrument, um die Eigenständigkeit der slowakischen Kultur zu bestimmen. Die Abgrenzung vom ungarischen Staat war in den nationalen Repräsentationen und Fiktionen anders als zu erwarten, kaum ein Thema beziehungsweise lokal beschränkt auf die südöstlichen Grenzregionen. Eine kulturelle Abgrenzung gegenüber dem Ungarischen spielte zwar auf der Ebene der Sprachverwendung im öffentlichen Raum eine Rolle. Werke der ungarischen Literatur wurden indessen weiterhin als vorbildlich selbst für den slowakischen Nationalismus rezipiert. Ebensowenig wurden kulturelle Grenzen gegenüber der Karpatho-Ukraine zur Schärfung des nationalen Profils herausgearbeitet. Polen war das große Vorbild führender slowakischer Autonomisten, wobei selbst aktuelle Grenzstreitigkeiten ausgeblendet wurden. Zur Vorbildfunktion der polnischen Kultur in der Vergangenheit und Gegenwart bekannten sich die Intellektuellen uneingeschränkt. Polen übernahm in dieser Hinsicht die Rolle eines externen Heimatlandes für die sich als nationale Minderheit gebenden slowakischen Nationalisten. Entscheidend ist hier, dass sich dies wesentlich auf der symbolischen Ebene abspielte, was nicht bedeutet, dass die Prozesse deshalb weniger wirksam waren. Da die Bildung der nationalen Mythen in der Slowakei dominant auf der katholischen Ikonographie und Prägung beruhten, sind die Gründe für die tiefgehende Verwandtschaftsempfindung für Polen gerade nicht nur auf der politisch-pragmatischen Ebene zu suchen, auch wenn es handfeste Gründe für die positive Haltung gegenüber Polen gab, wie den praktizierten Katholizismus, die große territoriale – man teilte sich sogar das Tatra-Gebirge als wichtiges nationales

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Symbol der jeweiligen Seite – und die sprachliche Nähe des slawischen Nachbars sowie die Existenz eines autoritär geführten Nationalstaats. Österreich wurde in literarischen Texten thematisiert, wobei die Emanzipation von der einstmals dominierenden habsburgischen und damit deutschsprachigen Kultur als Akt der kulturellen Überlegenheit dargestellt wurde – versinnbildlicht in der Ablösung eines urwüchsigen Jungen von einem kraftlosen Meister, der einer überlebten Welt angehört. Um ein starkes slowakisches Profil zu gewinnen und identifikatorische Angebote machen zu können, wendeten sich die oppositionellen Nationalisten in Zeitungen, Gedichten und Romanen mit großer Wucht gegen die tschechische Kultur und den liberal-demokratischen Zentralstaat. Die tschechische Kultur wurde als die kapitalistische, egoistische, säkulare und damit amoralische Macht gebrandmarkt, die der slowakischen Nation ein neuerliches Joch anlegte und somit die Kontinuität des nationalen Martyriums verschuldete. Der deutsche Nationalsozialismus wurde im slowakischen Staat, ab 1939, stark rezipiert, was allein schon in der Machtposition Deutschlands gegenüber der Slowakei begründet lag. Die Untersuchung journalistischer Texte, literarischer Praktiken und institutioneller Aktivitäten zeigt aber, dass es dafür erstaunlich wenig Vorlauf in der Zwischenkriegszeit gab. Abgesehen vom Kriterium eines nationalistischen autoritären Regimes strahlte der Nationalsozialismus zu wenig auf das Gros der nationalistischen Slowaken aus. Das hatte mehrere Gründe: Zuerst einmal waren die Deutschen historisch betrachtet das Problem der Tschechen. Zudem fehlte eine konfliktträchtige räumliche Nachbarschaft. Sprachlich-kulturell waren die Deutschen und auch die deutschsprachige Minderheit in der Slowakei eher Repräsentanten der alten Oberschicht. Somit wurde auch die deutsche Sprache als feindliches Element für die slowakische Nation betrachtet. Ein letzter wesentlicher Punkt für die Reserviertheit der Slowaken war der restriktive Umgang des säkular auftretenden nationalsozialistischen Regimes mit den Kirchen. Insofern ist es kaum verwunderlich, dass nur ein kleiner radikaler Kreis den Nationalsozialismus mit offenen Armen empfing und dadurch später im slowakischen Staat erheblich an Einfluss gewann. Dieser radikale Kreis zeichnete sich auch durch eine größere Säkularität aus, weshalb unter dessen Mitgliedern kirchliche Anliegen keine Priorität hatten. Der gemäßigtere Flügel der Volkspartei und späteren Einheitspartei wollte aber den Katholizismus im Staat stärken, was ein Rückschritt hinsichtlich der Modernisierung des Staates bedeutete. Hier geriet das wichtige Paradox des Nationalismus als „säkularer Religion“ in Bedrängnis, da es sich mit einem erstarkenden Katholizismus nicht vertrug. Einen etwas besseren Stand bei den slowakischen Nationalisten hatten im Vergleich zu Deutschland in der Zwischenkriegszeit autoritäre Regime nichtslawischer Staaten, sofern der Katholizismus ein Attribut ihrer nationalstaatlichen Kultur war, etwa Italien und Spanien.

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Von der Reinigung zur Säuberung Literarischer Antisemitismus war ein weiteres Mittel zur Profilierung der Slowakizität, mit anderen Worten der Spezifizierung der Kategorie des Nationalen. In der Zwischenkriegszeit tauchte er sporadisch in einzelnen Werken auf. Eine gezielt antisemitische Darstellung als Ausdruck eines organisch-rassistischen Nationalismus findet sich erst gegen Ende der Dreißigerjahre. Antisemitische Konzepte in der Literatur lieferten auf der Kehrseite die positiven nationalen Eigenschaften und bewiesen die Überlegenheit und Zugehörigkeit zur Gruppe der vermeintlich kulturvollen europäischen Nationen. Obwohl in relativ geringem Ausmaß produziert, lässt sich in den antisemitischen Darstellungen der Wandel des religiösen Konzepts von spiritueller Reinigung hin zu rassistischer Säuberung besonders deutlich nachzeichnen. Dem Narrativ des nationalen Martyriums folgten auch Bereiche der nationalistischen Argumentation, welche dies auf den ersten Blick nicht vermuten ließen, besonders die Sprache. Charakteristisch für die slowakische Situation war, dass das sprachliche Argument relativ offensichtlich Teil eines sich selbst als politisch verstehenden Nationalismus war. Es wurde – gegenüber den Tschechen und tschechoslowakisch orientierten Slowaken – nicht als Attribut einer ethnisch, sondern vor allem politisch abgegrenzten Nation eingesetzt. Mit Blick auf die symbolische Praxis und die symbolische Macht der Sprache ging es bei der Auseinandersetzung um das Slowakische vor allem um die Funktion eines kulturellen Konzepts. In den mehrheitlich in journalistischen Texten geführten Debatten zeigt sich eine ganz neue, legitimistische Ebene in der sprachlich-kulturellen beziehungsweise politischen Argumentation. Nicht mehr die Sprache als solche, sondern der Kampf um ihre Qualität, konkret: ihre „Reinheit“, diente den Nationalisten als Legitimation, die sie vor der slowakischen Bevölkerung, und zwar aufgrund des religiösen Mythos beanspruchen konnten.

Säkularisierende Praxis Eine Eigentümlichkeit des slowakischen Nationalismus bestand in dem aus vielen publizierten Äußerungen herauslesbaren obersten Ziel, eine ethnische Nation zu bilden, nicht etwa einen Nationalstaat. Denn dieser war in seiner bestehenden Form in der historischen Situation gerade das erklärte Feindbild der meisten Nationalisten. In der Autonomiephase, 1938/39, als der Staat erodierte, machten sich die slowakischen Nationalisten mit Eifer an die ethnische Homogenisierung und gaben diese als Weg zur notwendigen moralischen Erneuerung aus, wobei die

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Religion als Bindemittel für das slowakische Volk dienen sollte – nicht die Kirche als solche, sondern der Glaube an ein gemeinsames Volk. Dabei war die „Nation“ nicht die höchste Referenz einer staatsbürgerlichen Religion (civic religion) wie sie Mazzini in Italien im vorausgegangenen Jahrhundert angestrebt hatte, sondern einer „politischen“ Religion mit ethnischem Bezugsrahmen, wofür Anleihen beim Katholizismus genommen wurden. Eine bemerkenswerte Ausnahme davon bildet in der Literatur ein Roman von Ján Hrušovský, dessen Gestaltung einem staatsbürgerlichen Nationalismus entspringt; ähnlich wie Mazzini beschwört er darin nicht eine neu zu schaffende Nation, sondern das Vaterland und den Staat, und entwirft somit eine patriotische „civic“ Religion. Von zentraler Bedeutung für den sich profilierenden Nationalismus war der Prozess von Säkularisierung und Sakralisierung, das heißt der Säkularisierung von religiösen Vorstellungen und der Sakralisierung von nationalen Ideen, womit derselbe Prozess aus zwei Perspektiven betrachtet wird.²⁴⁵ Säkularisierung und Sakralisierung wurden – gleichermaßen in Publizistik und Literatur – mittels ästhetischer Verfahren vollzogen. Autoren verwendeten religiöse Metaphern, bildeten ihre Narrative biblischen Geschichten nach oder zitierten religiöse Rituale, so dass die christliche Religion den nationalistischen Autoren als wesentliche Konzeptgeberin diente. Von der Religion übernahmen sie auch die grundsätzlich moralischen Erklärungen und setzten demgemäß die Nation als moralische Institution sowie Moral als einheitsstiftende Kraft ein. Die Intellektuellen inszenierten sich durch ihre Texte selber als Propheten. In ihren Darstellungen, selbst in Martyriumsdarstellungen als Negativfolie, kündigten sie stets eine bessere Welt an. Das Flottieren zwischen Säkularem und Sakralem zeigt sich besonders an der Rolle revolutionärer Ideen. Die Autoren Andrej Žarnov, Milo Urban und Štefan Gráf thematisierten sie, um Wege der Erneuerung aufzuzeigen, an dessen Ende der neue Mensch stehen würde. Die Revolution steht dabei für ein säkulares Mittel der radikalen Nationalisten, doch nutzten sie mit den Ideen von Erneuerung und Homo novus christliche Konzepte. Einen säkularen Wandel machte zwar das Konzept der spirituellen Reinigung zur rassistisch-antisemitischen Säuberung durch. Generell lässt sich jedoch feststellen, dass alle christlichen Bezüge, wenn sie im nationalistischen Kontext zu verorten sind, zwar säkular verwendet wurden, gleichwohl aber auf den christlichen Gott bezogen sein konnten, indem dieser explizit angerufen wurde.

245 Lewis beschreibt dies als Bewegung vom Jenseits ins Diesseits, die mittels ästhetischer Verfahren Sakrales im Diesseits erfahrbar machen soll: „The modernists were not the devout secularists that most critics portray; rather, they sought, through formal experiment, to offer new accounts of the sacred for an age of continued religious crisis.“ Vgl. Lewis, Pericles: Religious Experience and the Modernist Novel, Cambridge 2010, S. 24.

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Kulturelle nationalistische Praxis erweist sich somit großenteils als säkularisierende Praxis, bei der die christliche Religion in eine „neue Pseudo-Religion“ transformiert wird.²⁴⁶ Die Liebe als zentrale moralische Größe im Christentum wurde in Analogie zur Liebe zur Nation umgedeutet. Unter den besonderen slowakischen Verhältnissen entsprach dies aber nicht einem Patriotismus, als Liebe zum Vaterland, sondern in Abgrenzung vom Staat einer Liebe zur Nation. Weltliche Gegenstände wurden im Gegenzug sakralisiert, um sie in die nationalistische Pseudo-Religion zu integrieren, so etwa die Sprachenfrage. In der Zwischenkriegszeit wurde deren einstige Funktion als emanzipatorisches Element während der ungarischen Herrschaft verändert. Eine vordergründige Legitimation bezogen die nationalistischen Kräfte zwar weiterhin aus jener Vorgeschichte. Konkret aber wurde die slowakische Sprache zum Schauplatz einer nationalistischen Sakralisierung, da die Vorstellungen von spiritueller Reinigung und Erneuerung auf die Sprachenfrage übertragen wurden und sich somit die politischen Konflikte nun an der sprachlichen Reinheit entzündeten.

Autoritäre Anschlussmöglichkeiten Die Erneuerung mit vorausgehendem Martyrium als zentralem Konzept der nationalistischen Religion richtete sich stets an die Massen, jedoch nicht in einem republikanisch-demokratischen Sinne, sondern in einem völkisch-populistischen. Das heißt, die Massen sollten sich als Repräsentanten eines Volkes verstehen, deren letztgültige Referenz die nationale Idee und das nationale Kollektiv darstellten. Entsprechend waren auch die großen nationalisierenden Kulturinstitutionen nicht elitär ausgerichtet, sondern auf die Bildung der Massen, um so ein Gegengewicht zum staatlichen Bildungssystem aufzubauen. Die katholische Kirche versuchte, durch eine eigene Kulturorganisation ihre Position mit Hilfe der Volksbildung zu stärken. Sie stand nicht nur unter staatlichem Säkularisierungsdruck, sondern sah sich zum Teil auch von den radikalen Nationalisten herausgefordert. Dieser Konflikt entfaltete sich vor allem im slowakischen Staat. Somit verhinderte die katholische Kirche die vollständige Säkularisierung des politischen Feldes. Das bestätigt die Analyse literarischer Werke, in denen die Säkularisierung des Nationalismus als Religion nicht konsequent vollzogen wurde, da der christliche Gott weiterhin als Referenz der Nation seinen Platz behält. 246 „Among the various forms that this sacralization of politics has assumed in the modern world, nationalism has certainly been the most vital and universal. Nationalism has proved to be a powerfully seductive religion, one with an extraordinary syncretic capacity for assimilation and metamorphosis, and a similarly formidable ability to build and to destroy.“ Gentile 1996, S. 154.

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Der politische Katholizismus trug zwar selber zur Säkularisierung der Religion bei, zielte auf diese aber keinesfalls ab, sondern räumte der Stellung der Kirche stets die oberste Priorität ein. Aus diesen Umständen ergibt sich die paradoxe Rolle der katholischen Kirche: Einerseits ermöglichten christliche Vorstellungen den intellektuellen Anschluss an die autoritären Strömungen in Europa, andrerseits verhinderte ihre starke Stellung die breite Durchsetzung einer radikal-nationalistischen Bewegung wie Faschismus oder Nationalsozialismus. Die Nationalisten nutzten die christlich-mythologischen Konzepte und verhalfen der Kirche gleichzeitig, sich in der nationalisierenden Gesellschaft besser zu verankern. Die Politisierung christlicher Werte und Vorstellungen führte allerdings auch zur Entwicklung autoritärer Elemente in der nationalistischen intellektuellen Praxis. Mit Hilfe ihrer Semantisierungen stellten die Intellektuellen auch ideelle Anschlussmöglichkeiten für das autoritäre Regime ab der Autonomiephase bereit. Im Gegenzug wurden sie mit wichtigen Positionen in Staat und Verwaltung belohnt.

Modernität Die jungen Nationalisten, deren Karrieren in der vorliegenden Untersuchung in verschiedenen kulturellen und gesellschaftlichen Bereichen verfolgt wurden, zeichnen sich durch eine Modernität nicht nur im ästhetischen modernistischen Sinne aus. Sie bilden einen ganz neuen politischen Typus, wie Roger Griffin formuliert: „The hallmark of modernist historical space is the appearance of a new type of political animal – not the product of traditional conservative or liberal mechanisms for creating a political class, but figures who had come into politics from another activity such as literature, cultural studies, political journalism, the military, or religion. (. . . ) The ‚historical subject‘ was not to be a particular social or political class, but instead a new elite embodying the healthy national and racial sentiments that the existing order repressed.“²⁴⁷ Diese Persönlichkeiten gewannen die Erkenntnis vom Niedergang der Kultur aus ihren angestammten Gebieten und entwickelten Erneuerungsszenarios für die Zukunft mit den ihnen vertrauten Mitteln. Darin liegt ihre eigentliche Modernität, die sich auch in den ästhetischen Verfahren in der Literatur niederschlägt.

247 Griffin, Roger: Political Modernism and the Cultural Production of,Personalities of the Right’ in Inter-War Europe, in: Rebecca Haynes, Martyn Rady (ed.), In the Shadow of Hitler. Personalities of the Right in Central and Eastern Europe, New York 2011, S. 20–37; hier S. 30.

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Abruptes Ende der Visionen Ein Blick soll der persönlichen Zukunft der nationalistischen Visionäre gelten. Das Schicksal der einzelnen Akteure wurde zumeist mit jenem des slowakischen Staates besiegelt. Manche Intellektuelle erlebten indes schon vorher das Ende ihres raschen Aufstiegs. Karol Sidor etwa, der als Nachfolger Hlinkas galt, amtete 1939 nur einen Tag lang als Ministerpräsident des neuen Staates und verschwand mit seiner Versetzung als Botschafter im Vatikan von der politischen Bildfläche. Ferdinand Ďurčanský musste ebenfalls nach kurzer Amtszeit von seinem Posten als Innenminister demissionieren. Karol Murgaš hielt sich nach den Salzburger Verhandlungen 1941 nicht mehr länger als Chef des Propagandaamtes. Und Alexander Mach, den Vojtech Tuka 1944 als seinen Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten vorschlug, genoss zu wenig Vertrauen bei Staatspräsident Jozef Tiso und konnte diesen Posten deshalb nicht antreten. Stattdessen wurde er bloß als Innenminister gelitten, den die Autonomisten wegen der Partisanenkämpfe auch noch scharf kritisierten. Die Politiker der jüngeren Generation gerieten in den Strudel der internen Machtkämpfe zwischen gemäßigten und radikalen autonomistischen Kräften. Die geringe Größe der Classe politique bewirkte auch, dass persönliche Animositäten und Sympathien stark bei der Be- oder Absetzung von Posten mitspielten. Etwas weniger turbulent ging es bei den Akteuren zu, die nicht an vorderster Front des neuen Staates mitwirkten, wie die Schriftsteller Hronský, Žarnov, Urban, Gašpar und Beniak. Sie hielten sich auf ihren Positionen bis zum Ende des slowakischen Staates. Nur wenige aus der hier behandelten Gruppe von Nationalisten wagten es, 1945 im Land zu bleiben. Die meisten emigrierten oder versuchten dies zumindest. Gašpar oder Beniak etwa fühlten sich zu wenig mit dem Regime verbunden, als dass sie Strafmaßnahmen befürchteten. Gašpar wurde durch eine siebzehn Jahre währende Haft eines Besseren belehrt. Wer erst einmal blieb, so auch Andrej Žarnov, hatte eine massive Einbusse an Ansehen hinzunehmen und wurde als Person wie auch als Autor oder Intellektueller gesellschaftlich degradiert. Der Staatsdichter Valentín Beniak wurde in Untersuchungshaft genommen, doch konnten ihm keine strafrechtlich relevanten Verbrechen als „Verräter oder Kollaborateur“ nachgewiesen werden. So ging er straffrei aus. Im Gegenteil wurde er noch 1945 in den Staatsdienst aufgenommen. Als so genannter Exponent des Regimes war er jedoch mit einem Makel behaftet, der 1947 zu seiner Zwangspensionierung führte. Er konnte erst 1964 wieder etwas publizieren. Denn in der Tauwetterphase der Sechzigerjahre erlebten einige der Nationalisten, die mit Publikationsbeschränkungen oder -verboten belegt waren, eine Renaissance. Dazu gehörte auch Milo Urban, der sich zu umfangreichen opportunistischen Überarbeitungen seiner Werke bereitfand.

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Wirkungsmacht nationalisierender Repräsentationen Seit der Samtenen Revolution sind mehr als zwanzig Jahre vergangen. Das anfängliche Interesse an den Weißen Flecken – den nationalistischen Intellektuellen – der slowakischen Geschichte ist bis auf Ausnahmen inzwischen wieder abgeflaut. Nationalistisches Denken ist in der slowakischen Gesellschaft jedoch weiterhin verbreitet. Bis in die Gegenwart schreibt sich der in der Zwischenkriegszeit stark bearbeitete Mythos von der unterdrückten Nation fort. Der slowakische Philosoph Vladimír Bakoš etwa erklärte in einer Studie im Jahr 1999 das Erstarken des slowakischen Nationalismus in der Vergangenheit aus der Verteidigungshaltung gegenüber dem Tschechoslowakismus heraus: „The defensive character of Slovak nationalism was a result of a conflict between the new ‹ruling›, majority nation and ‹small› (suppressed) nationality.“²⁴⁸ Bakoš reproduziert so die zeitgenössische Deutung der slowakischen Nation als „unterdrückt“. Das Konzept der Slowaken als (Pseudo-)„Minderheit“ scheint hier durch, auch wenn Bakoš der „Mehrheit“ explizit die „Nationalität“ gegenüberstellt. Tatsächlich hatten sich die slowakischen Nationalisten im Symbolischen als unterdrückte Minderheit inszeniert und machten diese nationale Repräsentation zur Grundlage ihres realen Handelns und Argumentierens. Die Wirkungsmacht dieser Repräsentation beweist auch eine Feststellung des slowakischen Intellektuellen Martin Šimečka. Der Logik eines historischen Determinismus folgend erklärte er die Probleme der Slowakei in den 1990er-Jahren mit dem Erbe der Vergangenheit: „a history of adaptation and outward loyalty to power regardless of its conditions“.²⁴⁹ In dieser Sichtweise wird die Slowakei weniger als unterdrückt von fremden Mächten aufgefasst, als vielmehr von seiner eigenen Geschichte. Nun ist es nicht mehr die „fehlende“ Herrschaftsgeschichte, sondern die „falsche“ Geschichte – Šimecka bezeichnet sie als „strange history“ –, die den Mythengenerator am Laufen hält. Der Mythos von der unterdrückten Nation findet so eine weitere Variation. Es ist nicht zu weit hergeholt, das Fortwirken dieses Mythos auch für den verbreiteten und offenen Antiziganismus in der heutigen Slowakei verantwortlich zu machen. Welche große Rolle kulturelle Prozesse für den Gang der Geschichte im 20. Jahrhundert spielten, zeigte Emilio Gentile richtungsweisend am italienischen Beispiel auf: „The twentieth century could be defined as the period in which politics was made sacred. In fact, this phenomenon reached its apogee and affirmation in the

248 Bakoš, Vladimír: Question of the Nation in Slovak Thought, Bratislava 1999, S. 174. 249 Šimečka, Martin: Slovakia’s Lonely Independence, in: Transitions, August 1997, S. 14–21. Zit. nach Auer 2004, S. 134.

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totalitarian movements of the first half of the century.“²⁵⁰ Er zitiert einen Zeitzeugen aus dem Jahr 1932: „Dictators need myths, symbols, and ceremonies with which to regiment, arouse, and terrify the multitudes and suppress their every attempt to think for themselves. The Catholic church’s fantastic and pompous ceremonies and mysterious rites in an alien tongue are masterworks of this sort. It is the church’s model that Fascists and Communists followed when, with their mass meetings, they appealed to the irrational instincts of the mob.“²⁵¹ Gentile betont die performative Seite der katholischen Kirche, die stark formgebend auf die totalitären Bewegungen wirkte. In der Tschechoslowakischen Republik gab es ebenfalls Bewegungen, die sich der kirchlichen Performativität bedienten, um die Massen zu mobilisieren, allerdings waren die faschistischen und kommunistischen Bewegungen in der parlamentarischen Demokratie weniger erfolgreich. Den slowakischen Nationalisten hingegen gelang es, die Menschen durch Massenveranstaltungen zu mobilisieren. Ebenso gehörte die Etablierung von kulturellen Institutionen zum Glaubenssystem des Nationalismus. Allerdings blieb in gewisser Hinsicht die Säkularisierung, das heißt die Transformation vom religiösen in die säkulare Sphäre oftmals stecken, da die nationalistische Bewegung vom politischen Katholizismus dominiert war. Die radikale Ablösung von religiösen Zielen und Inhalten blieb einer kleineren Gruppe von radikalen Nationalisten vorbehalten. Diese Spaltung in einen so genannt gemäßigten und einen radikalen Flügel bildete sich bereits in der Zwischenkriegszeit heraus und führte im slowakischen Staat zu offenen politischen Konflikten. Folgerichtig fanden sich die prominenten Intellektuellen unter den Nationalisten im slowakischen Staat ab 1939 unter den radikalen, das heißt säkularen Nationalisten. Denn sie waren diejenigen, die die Konzepte der säkularen nationalistischen Religion überhaupt erschufen. Sofern sie der in die Zukunft weisenden Quasi-Religion des Nationalismus eine Stimme gaben, waren sie der Funktion nach nicht nur die Propheten des Nationalen, sondern die Verkünder einer neuen irdischen Reinheit. Sie ermöglichten durch ihre prophetische Praxis die ins Reale transformierte spirituelle Reinigung.

250 Gentile, Emilio: The Sacralization of Politics in Fascist Italy, England 1996, S. 155 f. 251 Ebenda.

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Ordnungssysteme Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit Herausgegeben von Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael Die Reihe Ordnungssysteme nimmt Impulse auf, die sich seit zwei Jahrzehnten aus der Revision politik- und sozialgeschichtlicher Forschungsansätze entwickelt haben. Als Forum einer methodisch erneuerten Ideengeschichte trägt sie der Wirksamkeit politisch-kultureller Traditionen Europas seit dem Zeitalter der Aufklärung Rechnung. Die besondere Aufmerksamkeit gilt dem konkreten Wechselspiel ideeller, politischer und sozialer Prozesse. Die Reihe Ordnungssysteme hat insbesondere das Ziel: – vergleichende Studien zu den nationalen Eigenarten und unterschiedlichen Traditionen in der europäischen Ideengeschichte zu fördern, – gemeineuropäische Dimensionen seit der Aufklärung zu untersuchen, – den Weg von neuen Ideen zu ihrer breitenwirksamen Durchsetzung zu erforschen. Die Reihe Ordnungssysteme verfolgt einige Themen mit besonderem Interesse: – den Ideenverkehr zwischen Europa und Nordamerika, – die Beziehungen zwischen politischen und religiösen Weltbildern, – die Umformung der politischen Leitideen von Liberalismus, Nationalismus und Sozialismus im 20. Jahrhundert, – die Herausbildung traditionsstiftender, regionenbezogener Gegensatzpaare in der europäischen Ideenwelt, wie zum Beispiel den Ost-West-Gegensatz. Die Reihe Ordnungssysteme bemüht sich um eine methodische Erneuerung der Ideengeschichte: – Sie verknüpft die Analyse von Werken und Ideen mit ihren sozialen, kulturellen und politischen Kontexten. – Sie untersucht die Bedeutung von Wissenssystemen in der Entwicklung der europäischen Gesellschaften. – Sie ersetzt die traditionelle Ideengeschichte der großen Werke und großen Autoren durch eine Ideengeschichte, die Soziabilität und Kommunikation als tragende Gestaltungskräfte kultureller Produktion besonders beachtet. – Sie bezieht Institutionen und Medien der Kulturproduktion systematisch in die Untersuchung ein.

Band 1: Michael Hochgeschwender Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen 1998. 677 S. ISBN 978-3-486-56341-2

Band 2: Thomas Sauer Westorientierung im deutschen Protestantismus? Vorstellungen und Tätigkeit des Kronberger Kreises 1999. VII, 326 S. ISBN 978-3-486-56342-9

Band 3: Gudrun Kruip Das „Welt“-„Bild“ des Axel Springer Verlags Journalismus zwischen westlichen Werten und deutschen Denktraditionen 1999. 311 S. ISBN 978-3-486-56343-6 Band 4: Axel Schildt Zwischen Abendland und Amerika Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre 1999. VIII, 242 S. ISBN 978-3-486-56344-3 Band 5: Rainer Lindner Historiker und Herrschaft Nationsbildung und Geschichtspolitik in Weißrußland im 19. und 20. Jahrhundert 1999. 536 S. ISBN 978-3-486-56455-6 Band 6: Jin-Sung Chun Das Bild der Moderne in der Nachkriegszeit Die westdeutsche „Strukturgeschichte“ im Spannungsfeld von Modernitätskritik und wissenschaftlicher Innovation 1948–1962 2000. 277 S. ISBN 978-3-486-56484-6 Band 7: Frank Becker Bilder von Krieg und Nation Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864–1913 2001. 601 S. und 32 S. Bildteil ISBN 978-3-486-56545-4 Band 8: Martin Sabrow Das Diktat des Konsenses Geschichtswissenschaft in der DDR 1949–1969 2001. 488 S. ISBN 978-3-486-56559-1

Band 9: Thomas Etzemüller Sozialgeschichte als politische Geschichte Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 2001. VIII, 445 S. ISBN 978-3-486-56581-2 Band 10: Martina Winkler Karel Kramář (1860–1937) Selbstbild, Fremdwahrnehmungen und Modernisierungsverständnis eines tschechischen Politikers 2002. 414 S. ISBN 978-3-486-56620-8 Band 11: Susanne Schattenberg Stalins Ingenieure Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren 2002. 457 S. ISBN 978-3-486-56678-9 Band 12: Torsten Rüting Pavlov und der Neue Mensch Diskurse über Disziplinierung in Sowjetrussland 2002. 337 S. ISBN 978-3-486-56679-6 Band 13: Julia Angster Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie Die Westernisierung von SPD und DGB 2003. 538 S. ISBN 978-3-486-56676-5 Band 14: Christoph Weischer Das Unternehmen ,Empirische Sozialforschung‘ Strukturen, Praktiken und Leitbilder der Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland 2004. X, 508 S. ISBN 978-3-486-56814-1

Band 15: Frieder Günther Denken vom Staat her Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970 2004. 364 S. ISBN 978-3-486-56818-9 Band 16: Ewald Grothe Zwischen Geschichte und Recht Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900–1970 2005. 486 S. ISBN 978-3-486-57784-6 Band 17: Anuschka Albertz Exemplarisches Heldentum Die Rezeptionsgeschichte der Schlacht an den Thermopylen von der Antike bis zur Gegenwart 2006. 424 S., zahlreiche Abb. ISBN 978-3-486-57985-7 Band 18: Volker Depkat Lebenswenden und Zeitenwenden Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts 2007. 573 S. ISBN 978-3-486-57970-3 Band 19: Lorenz Erren „Selbstkritik“ und Schuldbekenntnis Kommunikation und Herrschaft unter Stalin (1917–1953) 2008. 405 S. ISBN 978-3-486-57971-1 Band 20: Lutz Raphael, Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.) Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte 2006. 536 S. ISBN 978-3-486-57786-0

Band 21: Thomas Großbölting „Im Reich der Arbeit“ Die Repräsentation gesellschaftlicher Ordnung in den deutschen Industrie- und Gewerbeausstellungen 1790–1914 2007. 518 S., zahlreiche Abb. ISBN 978-3-486-58128-7 Band 22: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.) Ordnungen in der Krise Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933 2007. 566 S. ISBN 978-3-486-58177-5 Band 23: Marcus M. Payk Der Geist der Demokratie Intellektuelle Orientierungsversuche im Feuilleton der frühen Bundesrepublik: Karl Korn und Peter de Mendelssohn 2008. 415 S. ISBN 978-3-486-58580-3 Band 24: Rüdiger Graf Die Zukunft der Weimarer Republik Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933 2008. 460 S. ISBN 978-3-486-58583-4 Band 25: Jörn Leonhard Bellizismus und Nation Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750– 1914 2008. XIX, 1019 S. ISBN 978-3-486-58516-2 Band 26: Ruth Rosenberger Experten für Humankapital Die Entdeckung des Personalmanagements in der Bundesrepublik Deutschland 2008. 482 S. ISBN 978-3-486-58620-6

Band 27: Désirée Schauz Strafen als moralische Besserung Eine Geschichte der Straffälligenfürsorge 1777–1933 2008. 432 S. ISBN 978-3-486-58704-3

Band 33: Silke Mende „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“ Eine Geschichte der Gründungsgrünen 2011. XII, 541 Seiten, 6 Abb. ISBN 978-3-486-59811-7

Band 28: Morten Reitmayer Elite Sozialgeschichte einer politisch-gesellschaftlichen Idee in der frühen Bundesrepublik 2009. 628 S. ISBN 978-3-486-58828-6

Band 34: Wiebke Wiede Rasse im Buch Antisemitische und rassistische Publikationen in Verlagsprogrammen der Weimarer Republik 2011. VIII, 328 S., 7 Abb. ISBN 978-3-486-59828-5

Band 29: Sandra Dahlke Individiuum und Herrschaft im Stalinismus Emel’jan Jaroslavskij (1878–1943) 2010. 484 S., 9 Abb. ISBN 978-3-486-58955-9 Band 30: Klaus Gestwa Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte, 1948–1967 2010. 660 S., 18 Abb. ISBN 978-3-486-58963-4 Band 31: Susanne Stein Von der Konsumenten- zur Produktionsstadt Aufbauvisionen und Städtebau im Neuen China, 1949–1957 2010. VIII, 425 Seiten, 107 Abb. ISBN 978-3-486-59809-4 Band 32: Fernando Esposito Mythische Moderne Aviatik, Faschismus und die Sehnsucht nach Ordnung in Deutschland und Italien 2011. 476 Seiten, 17 Abb. ISBN 978-3-486-59810-0

Band 35: Rüdiger Bergien Die bellizistische Republik Wehrkonsens und „Wehrhaftmachung“ in Deutschland 1918–1933 2011. 448 S. ISBN 978-3-486-59181-1 Band 36: Claudia Kemper Das „Gewissen“ 1919–1925 Kommunikation und Vernetzung der Jungkonservativen 2011. 517 S. ISBN 978-3-486-70496-9 Band 37: Daniela Saxer Die Schärfung des Quellenblicks Forschungspraktiken in der Geschichtswissenschaft 1840–1914 2014. 459 S., 1 Abb. ISBN 978-3-486-70485-3 Band 38: Johannes Grützmacher Die Baikal-Amur-Magistrale Vom stalinistischen Lager zum Mobilisierungsprojekt unter Brežnev 2012. IX, 503 S., 9 Abb. ISBN 978-3-486-70494-5

Band 39: Stephanie Kleiner Staatsaktion im Wunderland Oper und Festspiel als Medien politischer Repräsentation (1890–1930) 2013. 588 S., 38 Abb. ISBN 978-3-486-70648-2 Band 40: Patricia Hertel Der erinnerte Halbmond Islam und Nationalismus auf der Iberischen Halbinsel im 19. und 20. Jahrhundert 2012. 256 S., 22 Abb. ISBN 978-3-486-71661-0 Band 41: Till Kössler Kinder der Demokratie Religiöse Erziehung und urbane Moderne in Spanien, 1890–1936 2013. 544 S., 19 Abb. ISBN 978-3-486-71891-1

Band 42: Daniel Menning Standesgemäße Ordnung in der Moderne Adlige Familienstrategien und Gesellschaftsentwürfe in Deutschland 1840–1945 2014. 470 S., 8 Abb. ISBN 978-3-486-78143-4 Band 43: Malte Rolf Imperiale Herrschaft im Weichselland Das Königreich Polen im Russischen Imperium (1864–1915) 2015. 537 S., 31 Abb. ISBN 978-3-486-78142-7 Band 44: Sabine Witt Nationalistische Intellektuelle in der Slowakei 1918–1945 Kulturelle Praxis zwischen Sakralisierung und Säkularisierung 2015. 412 S. ISBN 978-3-11-035930-5