Narratologie und mittelalterliches Erzählen: Autor, Erzähler, Perspektive, Zeit und Raum 9783110566536, 9783110565478

Following a methodological approach, the volume studies the alterity of medieval narration in the sense of a “historical

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German Pages 295 [296] Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Sprachliche Grundbedingungen der klassischen Tagebuchliteratur Japans und Probleme von Erzählstimme und Perspektive im ,Tosa nikki‘
Perspektive bei Chrétien de Troyes
Narrative and Experience in Medieval Literature
A Monk’s Tale
Die diachrone Entwicklung der Erzählung in der kymrischen Heiligendichtung
Schaubühnen
Die deiktische Poetik des Präsens, oder: Wie das ,jetzt‘ ein ,hier‘ erschafft
Welt ir nu gerne schowen, so hoeret vil bereit
Von Soltane nach Munsalvaesche
Dimensions of Tense and Temporality in Middle High German Narratives
Schlagwortregister
Autoren- und Werkregister
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Narratologie und mittelalterliches Erzählen: Autor, Erzähler, Perspektive, Zeit und Raum
 9783110566536, 9783110565478

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Narratologie und mittelalterliches Erzählen

Das Mittelalter Perspektiven mediävistischer Forschung

| Beihefte Herausgegeben von Ingrid Baumgärtner, Stephan Conermann und Thomas Honegger

Band 7

Narratologie und mittelalterliches Erzählen | Autor, Erzähler, Perspektive, Zeit und Raum Herausgegeben von Eva von Contzen und Florian Kragl

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)

ISBN 978-3-11-056547-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-056653-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-056549-2 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Gesetzt mit LATEX Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Eva von Contzen und Florian Kragl Einleitung | 1 Sebastian Balmes Sprachliche Grundbedingungen der klassischen Tagebuchliteratur Japans und Probleme von Erzählstimme und Perspektive im ,Tosa nikki‘ | 9 Brigitte Burrichter Perspektive bei Chrétien de Troyes | 43 Eva von Contzen Narrative and Experience in Medieval Literature Author, Narrator, and Character Revisited | 61 Stijn Praet A Monk’s Tale Framing the Fictional in John of Alta Silva’s ,Dolopathos‘ | 81 David Callander Die diachrone Entwicklung der Erzählung in der kymrischen Heiligendichtung | 101 Florian Kragl Schaubühnen Überlegungen zur erzählten Topographie und ihrer historischen Bedingtheit | 125 Katharina Philipowski Die deiktische Poetik des Präsens, oder: Wie das ,jetzt‘ ein ,hier‘ erschafft | 165 Christian Schneider Welt ir nu gerne schowen, so hoeret vil bereit Raumwahrnehmung und Wahrnehmungsräume in der frühen höfischen Epik | 193 Dominik Streit Von Soltane nach Munsalvaesche Raum und Zeit im ,Parzival‘ Wolframs von Eschenbach | 233

VI | Inhalt

Sonja Zeman Dimensions of Tense and Temporality in Middle High German Narratives | 267 Schlagwortregister | 285 Autoren- und Werkregister | 287

Eva von Contzen und Florian Kragl

Einleitung Der vorliegende Band publiziert die Arbeitsergebnisse des interdisziplinären DFGNetzwerks ,Medieval Narratology‘. Zentrales Anliegen des Netzwerks, das aus dreizehn festen sowie einer Reihe von assoziierten Mitgliedern aus fünf Philologien (Anglistik, Germanistik, Islamwissenschaften, Romanistik und Skandinavistik; assoziiert zudem Japanologie, Keltologie, Linguistik und Mittellatein) besteht, ist es, mittelalterliches Erzählen vor allem in den verschiedenen Volkssprachen theoretisch zu fassen und zu vergleichen. Die Publikation verfolgt das Ziel, die Idiosynkrasien mittelalterlicher Erzählmuster in den Blick zu nehmen und ihrer Alterität gerecht zu werden. Hier nimmt die kritische Evaluation etablierter Parameter der erzähltheoretischen Forschung einen wichtigen Platz ein. Es geht nicht darum, eine gänzlich neue Erzähltheorie zu entwickeln, sondern – ausgehend von Textbeispielen – bestehende narratologische Modelle auf ihre Anwendbarkeit im historischen Kontext zu überprüfen und gegebenenfalls auf der Basis der mittelalterlichen Beispiele anzupassen, sodass sowohl die Formen und Funktionen mittelalterlichen Erzählens adäquat beschrieben als auch die Erzählforschung in ihrer historischen Dimension durch die Inklusion mittelalterlicher Texte entscheidend erweitert werden können. Der thematische Fokus des Bandes liegt auf den zwei großen, inhaltlich jeweils eng verzahnten Themenbereichen ,Autor/Erzähler/Perspektive‘ und ,Zeit/Raum‘, die anhand von exemplarischen Analysen sowohl die Problemfelder und Herausforderungen als auch die Chancen und den Gewinn einer dediziert historischen, an der Textwirklichkeit orientierten erzähltheoretischen Arbeit in der Mediävistik eruieren. Freilich ergeben sich zwischen den Sektionen auch Schnittbereiche, wie auch sämtliche Beiträge, angeregt vom interdisziplinären Gespräch des Netzwerks, den transkulturellen und transnationalen Charakter der mittelalterlichen Erzählanalyse, die sowohl das Eigene der verschiedenen Volksprachen und ihrer Traditionen als auch das Gemeinsame hervorhebt, berücksichtigen: Das Gros der Beiträge ist unmittelbar von den einzelnen Netzwerktreffen angeregt, die nicht nur den genannten thematischen Schwerpunkten galten, sondern oft auch Textstellen zum Gegenstand hatten, die in den Beiträgen diskutiert sind. Dadurch berühren sich die Beiträge nicht nur intensiv thematisch und theoretisch, sondern ergänzen einander in vielen Fällen zu einem größeren Argumentationsganzen (z. B. Balmes/von Contzen zur Flüchtigkeit der ,Person‘ im vormodernen Erzählen und ihren Konsequenzen, Kragl/Schneider zur medientheoretischen Bedingtheit der mittelalterlichen Raumdarstellung oder Philipowski/ JunProf. Dr. Eva von Contzen, University of Freiburg, Department of English, Rempartstr. 15, 79085 Freiburg, Germany, e-mail: [email protected] Prof. Dr. Florian Kragl, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Department Germanistik und Komparatistik, Bismarckstr. 1, 91054 Erlangen, e-mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110566536-001

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Zeman zum Verhältnis von Tempus und Narration). Sie tragen deutliche Spuren, dass hier über drei Jahre hinweg gemeinsam diskutiert und gemeinsam gedacht worden ist. Auf einem Arbeitstreffen des Netzwerks im Spätherbst 2016 wurden die Beiträge zur Diskussion gestellt, sodass, was hier vorliegt, nicht nur eine Sammlung einzelner Studien, sondern Ergebnis echten interdisziplinären Austauschs ist.

Sektion I: Wer spricht, wer sieht? Autor – Erzähler – Perspektive Gegenstand des Beitrags von Sebastian Balmes (,Sprachliche Grundbedingungen der klassischen Tagebuchliteratur Japans und Probleme von Erzählstimme und Perspektive im ,Tosa nikki“) ist die enigmatische Überblendung verschiedener Erzählinstanzen und Erzählerstimmen in der ,Tagebuchliteratur‘ der japanischen Heian-Zeit (vor allem 10. und 11. Jahrhundert). Sie steht insofern in Analogie zur westlichen ,Vormoderne‘, als sie sich durch literarische Entwürfe auszeichnet, die aus der Perspektive moderner Literatur für befremdlich gelten müssen. So verzichten die ,Tagebücher‘ zum einen auf eine Festlegung der Erzählinstanz, sodass – vor allem aufgrund ausgesparter Pronomina – konkret nicht oder nur sehr schwer zu entscheiden ist, ob das Tagebuch-Ich in erster oder dritter Person spricht bzw. auftritt; zum anderen scheinen aber auch verschiedene Typen der Fokalisierung (intern/extern) sowie der Erzählerstimme (homo-/ heterodiegetisch) dicht miteinander verwoben oder auch bisweilen ununterscheidbar. Kategorien, die dem ,klassischen‘ Roman wesentlich sind, werden durch eigentümliche Indifferenzen und Schwebezustände unterlaufen, und auch wenn sich immer wieder Indizien dafür finden lassen, dass eine Passage beispielsweise in der ersten oder dritten Person gesprochen, intern oder extern fokalisiert ist, ist dies nicht mit der Rigidität der uns vertrauten Kategorien zu vergleichen. Damit prallen die vor allem von Gérard Genette geprägten analytischen Instrumente der modernen Narratologie an der ,vormodernen‘ japanischen Literatur gleichsam ab, insofern sie auf Unterscheidungen zielen, die für diese Literatur nicht maßgeblich sind. Fokalisierung, Fokalisierungswechsel (Paralepsen), Figurenreden und die Darstellung von Figurengedanken (vor allem erlebte Rede) gelten mit der Erzähltheorie Gérard Genettes als typische Merkmale des Romans des ,langen‘ 19. Jahrhunderts. Brigitte Burrichter (,Perspektive bei Chrétien de Troyes‘) unternimmt es, Beispiele für die genannten Erzähltechniken im Oeuvre Chrétiens de Troyes zu suchen. Die Funde sind – für einen ,vormodernen‘ Text – erstaunlich facettenreich und von einer verblüffenden Reichhaltigkeit. Auch dass Chrétien die Techniken offenbar gezielt dazu einsetzt, um bestimmte narrative Effekte zu generieren (etwa suspense durch länger andauernde Fokalisierung durch den ahnungslosen Protagonisten), legt nahe, dass diese gleichsam unerhörte Modernität eine durchaus intentionale ist. So gering freilich

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die Differenzen des chrétienschen Erzählens zu Erzählformen jüngerer Epochen ist, so deutlich ist seine Sonderstellung im Gefüge der mittelalterlichen Literatur. Eva von Contzen (,Narrative and Experience in Medieval Literature. Author, Narrator, and Character Revisited‘) setzt an bei einer grundsätzlichen Kritik daran, dass Erzählen in der Narratologie häufig primär als ein Akt der Kommunikation verstanden wird. Mit dieser Infragestellung verliert auch die Autor-Erzähler-Unterscheidung an Relevanz, und zwar dann, wenn Erzählen – in Anlehnung an kognitive Erzähltheorie – vordergründig als Erlebnis bzw. Erfahrung (experience) verstanden wird: als prozessuales Erleben sowohl des Lesers als auch der handelnden Figuren einerseits sowie als statische Erfahrung, in der das Erlebte gleichsam gebündelt vorliegt, andererseits. Diese doppelte experience wird durch verschiedene Instanzen der Erzählerrede (des Ich-Sagens) gesteuert resp. vermittelt, ohne dass sich dieses mehrfache funktionale Hervortreten des Erzählers in einem Text zu einer textübergreifenden kommunikativen Größe bündeln müsste. These ist, dass im ,alten‘ Erzählen – in diesem Punkt nicht unähnlich populären Erzählformen der Gegenwart – nicht Figuren bzw. Charaktere (seien dies solche der Handlung oder der Autor/Erzähler) den Kern der Faszination bilden, sondern die Geschichte mit ihren vielfältigen Erlebnis- und Erfahrungs-Angeboten. Beispiele sind der mittelenglischen Literatur entnommen, u. a. ,Sir Gawain and the Green Knight‘ und den Werken Chaucers. Stijn Praet (,A Monk’s Tale: Framing the Fictional in John of Alta Silva’s ,Dolopathos“) diskutiert die Frage der Differenzierung zwischen Autor und Erzähler im Spannungsfeld von erzählerischer Legimitation säkularer Stoffe und Fiktionalitätsansprüchen in der mittellateinischen Literatur. Hier, so Praets These, spielt die literarische Form des Rahmens eine zentrale Rolle. Als Fallstudie dient die zwischen 1184 und 1212 verfasste Erzählung ,Dolopathos, sive de rege et septem sapientius‘ des Zisterziensermönches Johannes von Alta Silva. Im späten zwölften Jahrhundert hat sich in der lateinischen Lehrtradition bereits durchgesetzt, unglaubliche, d. h. fiktionale Erzählungen (fabulae) zum Zwecke der moralischen und praktischen Unterweisung zu nutzen statt ihre offenkundige Fiktionalität als Lügen zu verbuchen. Praet zeigt, wie Johannes von Alta in seinem Werk auf solche etablierten Legitimationsdiskurse zurückgreift, um die darin zuhauf enthaltenen phantastischen Elemente zu rechtfertigen. Dazu gehört neben der christlichen Deutung von Episoden oder der Hinzufügung eines Pro- sowie eines Epilogs vor allem die Rahmenstruktur, die das Werk als historisch ausweist bzw. auszuweisen scheint. Narratologisch gesprochen, erfindet Johannes einen Erzähler, indem er sich in der Rahmenerzählung als Historiograph inszeniert: Er kreiert eine persona, deren Fingiertheit darauf baut, vom Publikum entlarvt zu werden, und die somit die Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler voraussetzt. Das ludische Moment birgt dabei die potenzielle Gefahr, dass das literarische Spiel nicht als solches erkannt und Johannes als Lügner gestraft wird.

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Sektion II: Wann und wo? Zeit und Raum David Callander (,Die diachrone Entwicklung der Erzählung in der kymrischen Heiligendichtung‘) widmet sich der temporalen Organisation mittelkymrischer Heiligendichtung (12. bis 16. Jahrhundert), wobei er sich in erster Linie auf den Aspekt der ,Länge‘ des Narrativs in diesen im Allgemeinen relativ kurzen Texten konzentriert. Gegenüber einer Forschung, die die narrativen Aspekte dieser Texte kleinredet, betont er den Erzählgehalt und versucht, über quantifizierende Analysen eine diachrone Entwicklung der Erzähllänge innerhalb des aus mehreren Dutzend Texten bestehenden Korpus darzustellen. Methodische Basis ist die an gesprochener Sprache geschulte Erzählanalyse von William Labov, die freilich durch kleinere Modifikationen dem literarischen Korpus angepasst werden muss; im Wesentlichen geht es um die Identifizierung narrativer Teilsätze und deren Sequenzierungen, deren Anzahl bzw. Länge als Maß für das Erzählen der Texte begriffen wird. Gegenüber einem rein exemplarischen Vorgehen liegt der Vorteil dieses im weiteren Sinne statistischen Unterfangens in seiner ,Objektivierbarkeit‘. Es zeigt sich, grob gesprochen, dass die frühen Heiligenlegenden geprägt sind von sehr kurzen Erzählsequenzen, die aber im Verlauf des 15. Jahrhunderts an Länge zunehmen. Florian Kragl (,Schaubühnen. Überlegungen zur erzählten Topographie und ihrer historischen Bedingtheit‘) liefert eine grundsätzliche Studie zur narrativen Gestaltung von Raumstrukturen und den Möglichkeiten der Historisierung von literarischen Räumen. Dass narrative Räume sowohl im modernen Roman (als Fallstudie dient ,Der Wildtöter‘ von J. F. Cooper in einer deutschen Jugendbuchbearbeitung) als auch in mittelalterlichen Texten keine exakten, auf Karten nachzuzeichnenden Routen liefern, ist ein Proprium des Erzählens, das gerade nicht mathematisch korrekt operiert, sondern Räume an das Erleben von Figuren bindet. Kragl macht die literarhistorische Variabilität von Raumdarstellungen stark, welche zeit- und genrespezifischen Konventionen unterworfen sind. Für die eigentümliche Unverbundenheit mittelalterlicher Raumdarstellungen, beispielsweise in exponiert gestellten descriptiones im ,Lanzelet‘ des Ulrichs von Zatzikhoven, konstatiert Kragl, dass Raum nicht dynamisch, sondern statisch gedacht wird und in der Konsequenz jeder Bildung einer ,mentalen Karte‘ entgegensteht. Am Beispiel des ,Wigalois‘ des Wirnt von Gravenberg und dem ,Wilhelm von Orlens‘ des Rudolf von Ems wird jedoch deutlich, dass es durchaus mittelalterliche Texte gibt, die ihren Raum, hierin ähnlich dem modernen Roman, strategisch narrativ ausgestalten und damit dynamisieren. Die Alterität des erzählten Raumes, die in der mittelalterlichen Tradition überwiegt, sieht Kragl letztlich von ihrer medialen Situation bedingt: Im konkreten Kontext der Rezitation und Aufführung wird der erzählte Raum gleichsam zur dramatischen ,Schaubühne‘. Der Beitrag von Katharina Philipowski (,Die deiktische Poetik des Präsens, oder: Wie das ,jetzt‘ ein ,hier‘ erschafft‘) versucht sich daran, eine ,Poetik des Präsens‘ zu entwickeln. Sie geht aus von der Frage, ob ein Erzählen im Präsens überhaupt Erzählen

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genannt werden kann (oder doch nur ,Bericht‘ o. Ä.), und zeigt in intensiver Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur, dass diese Frage offenbar einen wunden Punkt in den Theoriegebilden der Narratologie markiert. Nicht zuletzt die fehlende oder erschwerte Unterscheidung zwischen histoire und discours beim Erzählen im Präsens führt auf narratologische Beschreibungsparadoxa hin. Die exemplarische Konfrontation eines ,präsentischen‘ Erzählliedes Hadlaubs (um 1300) mit einer ebenfalls im Präsens gehaltenen, jedoch völlig ,unnarrativen‘ Minnerede des 14. Jahrhunderts legt nahe, dass ein theorieseitiges Festhalten an binären Oppositionen die Realität literarischer Verhältnisse verfehlt. Christian Schneider (,Welt ir nu gerne schowen, so hoeret vil bereit. Raumwahrnehmung und Wahrnehmungsräume in der frühen höfischen Epik‘) entwirft ein Modell des Erzählens vom und über den Raum, das den unmittelbaren Rezeptionskontext der frühen höfischer Epik (ca. 1150–1190) konsequent in narratologische Überlegungen zur Textkonstitution einbezieht. Zugrunde legt Schneider ein pragmalinguistisches Verständnis von ,Text‘, wonach der in einer konkreten Rede- oder Vortragssituation unmittelbar geäußerte Sprechakt auf einen Kontext zweiter Ordnung übertragen wird. In Bezug auf ihre Raumentwürfe sind höfische Romane wie das ,Rolandslied‘, ,König Rother‘ oder ,Herzog Ernst‘ grundlegend von den perzeptiven Bedingungen der Vortragssituation beeinflusst, und zwar sowohl hinsichtlich auditiver als auch hinsichtlich visueller Einflüsse: Primäre und sekundäre Sprechsituation verschmelzen. Vor diesem Hintergrund erweisen sich vom modernen Leser als irritierend wahrgenommene Darstellungen von Raum und Räumlichkeit als medial bedingt. Die ,amorph‘ erscheinenden Raumentwürfe in mittelalterlichen Texten werden als Ausdruck ihrer eingeschriebenen Performanz verständlich. Dies gilt im Besonderen für die Verwendung von Deixis und bühnenhaften, dramatischen Raumdarstellungen. Die Alterität des Raumes in der mittelalterlichen Literatur lässt sich also mediengeschichtlich verorten, und es wird deutlich, wie konkrete Rezeptionskontexte narratologische Fragestellungen erweitern können. Dominik Streit (,Von Soltane nach Munsalvaesche: Raum und Zeit im ,Parzival‘ Wolframs von Eschenbach‘) untersucht die komplexen Raum- und Zeitstrukturen in Wolframs von Eschenbach ,Parzival‘. Im genauen Durchgang durch alle wesentlichen Stationen der Parzival- und der Gawan-Handlung wird deutlich, inwieweit Wolfram typische Erzähltechniken des höfischen Romans zugleich übernimmt und raffiniert. Die Topographie des ,Parzival‘ erweist sich als bemerkenswert exakter Entwurf, und zwar sowohl was seine makro- (die ,Welt‘ aus Orient und Okzident) als auch was seine mikrostrukturellen Verflechtungen (der Bereich rund um die Gralsburg, Trevrizents Klause als räumlicher ,Anker‘) angeht. Im selben Maße ist Verlaufszeit im ,Parzival‘ eine nicht selten präzise berechnete Größe, was nicht zuletzt dazu führt, dass einzelne Momente der Handlung in genaue chronometrische Relation zueinander gesetzt werden können. Dennoch wird diese vergleichsweise hohe Präzision des Raum-Zeit-Gefüges selten dominant. Die Entfaltung des Raumes bleibt eng gebunden an den Weg des bzw. der Protagonisten – mit zahlreichen blinden Flecken links und rechts dieses Weges

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–, und die Verlaufszeit wird von zyklischen Zeitentwürfen (z. B. dem Kirchenjahr) überlagert, die Fragen des Vorher-Nachher nicht obsolet machen, sie aber gleichsam narrativ auf die Ränge verweisen. Sonja Zeman (,Dimensions of Tense and Temporality in Middle High German Narratives‘) nimmt den Tempusgebrauch mittelhochdeutscher Literatur in den Blick und zeigt, wie linguistische Differenzierungen der Tempora narrative Zeitdimensionen erhellen können. Erzählungen operieren bekanntlich auf mehreren temporalen Ebenen. Hier lassen sich grob zwei Tendenzen unterscheiden: Zeit als Sequenz von Ereignissen, die wiederum auf den Ebenen von histoire und discours verschieden manifest werden, sowie Zeit als das Vergangene, d. h. Erzählung notwendigerweise als etwas, das vom Erzählzeitpunkt her gedacht retrospektiv ist. Beide Zeitstrukturen – „früher vs. später“ und „vergangen vs. jetzt“ – sind im Tempusgebrauch mittelhochdeutscher Literatur manifest. Die unterschiedlichen Verwendungsbereiche von Präteritum und Perfekt beispielsweise lassen sich verbinden mit narrativen vs. nicht-narrativen Passagen sowie mit einer systematischen Unterscheidung zwischen dem ,Jetzt‘ des Erzählers sowie seines Publikums und einem Referenzsystem des Vergangenen. Das Präsens, so Zeman, ist ähnlich funktionalisiert, allerdings in Bezug auf immediacy effects, d. h. die Evozierung von unmittelbar Erlebtem. * Die in diesem Band versammelten Beiträge bieten einen exemplarischen Einblick in den Status quo erzähltheoretischer Forschung in Bezug auf mittelalterliches Erzählen. Er ist exemplarisch in einem doppelten Sinne, insofern sowohl der Facettenreichtum der analytischen Methoden als auch die Bandbreite der literarischen Texte und ihrer jeweiligen Kontexte offenkundig werden. Zugleich spiegelt die fachliche Ausrichtung der Beitragenden, unter denen ein klares germanistisches Übergewicht auszumachen ist, klar wider, welche Vorreiterrolle der germanistischen Mediävistik und ihren Arbeiten auf dem Gebiet der Narratologie zukommt. Die kleineren Fächer können davon profitieren und ihrerseits dazu beitragen, dass zentrale Erkenntnisse und theoretische Anpassungen der Narratologie an die mediävistischen Forschungsinteressen und textuellen Realitäten der mittelalterlichen Dichtung in anderen Fächern ebenfalls nutzbar gemacht werden und diese z. B. einem englischsprachigen Publikum zugänglich machen. Die zehn Beiträge verstehen sich als Wegmarke und zugleich Aufruf zu weiterem Austausch und Diskussionen auf dem Gebiet der mediävistischen Erzählforschung. Fünf Aspekte erscheinen uns von besonderer Signifikanz: 1) Gattungsfragen: Neben der Diskussion über die grundsätzliche Anwendung (und deren Grenzen bzw. Möglichkeiten der Adaptation) von narratologischen Theorien auf mittelalterliche Erzählkontexte ist es ebenso wichtig, mittelalterliche Erzählpraktiken in ihrer Gattungsvielfalt zu betrachten. Hier dominieren in der Forschung immer noch zumeist der höfische Roman und – jedoch schon weit weniger häufig – andere längere

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Verserzählungen wie beispielsweise Heiligenlegenden oder Heldenepik. Eine Ausweitung auf lyrische oder eher lyrische Texte wäre ebenso eine Herausforderung wie jene auf dramatische Gattungen und kürzere narrative Formen (Exemplum, Fabel, Mirakel etc.). 2) Zeitlicher Rahmen: Hier sind sowohl eine Ausweitung wie auch eine kritische Differenzierung vonnöten. Mit der Präferenz für bestimmte narrative Gattungen geht eine Marginalisierung früherer (und späterer) Texte einher, die sich in verschiedenen geographischen und kulturellen Kontexten anders manifestieren und entwickeln; es sei nur auf die zeitliche Divergenz zwischen der italienischen und der im Norden Europas aufkommenden Renaissance hingewiesen, in deren Folge narrative Praktiken je anders gerahmt und historisch verortet werden. 3) Vergleichsstudien: Die gemeinsame Arbeit im Rahmen des DFG-Netzwerks hat immer wieder deutlich gemacht, wie wichtig vergleichende Arbeiten sind, ergeben sich doch vielfach Konvergenzen und Vergleichspunkte, die das Verständnis mittelalterlicher Erzählvorstellungen und –realitäten neu konfigurieren können. Zugleich wird durch den konsequenten Vergleich auch greifbar, in welchen Punkten Erzähltraditionen Alleinstellungsmerkmale einer bestimmten sprachlichen und/oder kulturellen Gruppe sind und daher nur bedingt Rückschlüsse auf ,das‘ mittelalterliche Erzählen erlauben. 4) Theoriefragen: Mittelalterliches Erzählen in den Kontext moderner – d. h., beinahe ausschließlich für moderne Texte und auf deren Basis entwickelter – Theorien zu stellen, bedingt nicht selten einen Rechtfertigungsgestus angesichts der nicht gut oder nur zum Teil ,passenden‘ theoretischen Kategorien der Narratologie. Die mediävistische Erzähltheorie muss keinesfalls jeden aktuellen Trend der (allgemeinen) Erzähltheorie aufgreifen und diesem folgen. Ihre Stärke liegt vielmehr darin, dass moderne Theorien in Anwendung auf mittelalterliche Erzählpraktiken kritisch hinterfragt werden können und ihr ahistorischer Geltungsanspruch so korrigiert werden kann. Vielversprechend sind hier die zur Zeit boomende kognitive Erzähltheorie, aber auch die (wieder neu geführte) Fiktionalitätsdebatte sowie medientheoretische und medienhistorische Perspektiven. 5) Zu guter Letzt sei auf die Stärke der mediävistischen Erzählforschung hingewiesen, die es erlaubt und erlauben sollte, die Karte der Diachronie auszuspielen. Während mediävistische narratologische Forschung oftmals hauptsächlich synchron ausgerichtet ist, d. h. mittelalterliches Erzählen als solches im Detail und in seinem jeweiligen Wirkungskontext betrachtet, ist es nicht weniger lohnenswert, die Ergebnisse in einen diachronen Rahmen einzufügen, der – dies ist ein Punkt, der in den Beiträgen immer wieder anklingt – unser Verständnis der Entwicklung des Erzählens generell erweitern und möglicherweise grundlegend verändern kann. Dies betrifft vor allem die Frage nach den Parametern ,populären‘ Erzählens. Aber das wäre eine andere Geschichte, die andere zu erzählen haben.

Sebastian Balmes

Sprachliche Grundbedingungen der klassischen Tagebuchliteratur Japans und Probleme von Erzählstimme und Perspektive im ,Tosa nikki‘ Zusammenfassung: This article examines to what degree narratological categories apply to tenth and eleventh century Japanese prose and explores the ramifications of this with regard to interpretations of Ki no Tsurayuki’s travel diary ,Tosa nikki‘ (ca. 935). Based on an analysis of two passages from other ,diaries‘, in which the narration appears to change from third to first person, it is argued that the reader does not necessarily have to settle on a specific grammatical person. Rather, nuances conveyed by means of verb suffixes have to be taken into account in order to determine a narrative stance. While the ,Tosa nikki‘ is usually seen as a first person narrative depicting the events of a sea voyage to the capital through the eyes of a female passenger, the introduction of a distinction between narrating self and experiencing self shows that the narrative at no point transmits any information about this character explicitly. The character can only be deduced from her seeming internal focalisation, which is assumed since the narrator identifies herself as a woman at the beginning of the text. Following later literary conventions, the ,Tosa nikki‘ can be read as a first person narrative, but different interpretations are to be considered as well. Regarding certain passages, it could even be argued that, while it is not altogether impossible to explain them as internally focalised, a changing point of view seems a more natural explanation. The ,Tosa nikki‘ therefore demonstrates how early Japanese literature with its elusive and poetic language does not have to be fully homodiegetic or heterodiegetic, thus challenging traditional narratological models. Schlagwörter: Erlebendes Ich, Erzählendes Ich, Erzählstimme, Fokalisierung, Japanische Literatur, Lyrik, Paralepse, Paratext, Person, Perspektive, Tagebuchliteratur

1 Einleitung Während zur japanischen Literatur auch Texte zählen, die bezüglich ihrer narrativen Charakteristika und semi-oralen Produktionsbedingungen Parallelen zu mittelalterliWeite Teile dieses Aufsatzes wurden vorab auf Japanisch publiziert in Sebastian Balmes, ,Tosa nikki‘ no ¯ o¯ ni yoru kosatsu, ¯ ¯ katarite to shiten. Naratoroj¯ı no hoh in: Kodai chusei bungaku ronko¯ kanko¯ kai (Hg.), Sebastian Balmes, M. A., Ludwig-Maximilians-Universität München, Seminargebäude am Englischen Garten, Oettingenstr. 67, 80538 München, e-mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110566536-002

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cher Erzählliteratur aus Europa aufweisen – so etwa das Kriegsepos ,Heike monogatari‘ ¯ 平家物語 (,Erzählungen von den Heike‘),¹ das zudem in den als ,Mittelalter‘ (chusei) Japans bezeichneten Zeitabschnitt zwischen 1185 und 1573 fällt –, gibt es vor dem ¯ japanischen Mittelalter neben den Texten des ,Altertums‘ (jodai, 710–794) eine überaus ¯ reiche Literaturtradition der ,Klassik‘ (chuko, 794–1185).² Die überwiegend in Silbenschrift gehaltene klassische Erzählliteratur, die im Umfeld des Kaiserhofs entstand und oftmals von Frauen geschrieben wurde, ist stärker in der Schriftlichkeit verankert und reich an lyrischen Bezügen. So verlockend und gewinnversprechend Vergleiche verschiedener ,mittelalterlicher‘ Literaturen der Weltgeschichte sind, habe ich mich an dieser Stelle dafür entschieden, das Wort ,mittelalterlich‘ im Titel dieses Bandes in der Bedeutung ,vormodern‘ zu verstehen. Dieser Beitrag versucht, die interkulturelle Reichweite der Publikation zu vergrößern, indem eine im interdisziplinären Vergleich

¯ ¯ o¯ 2017, S. 97–123. Ich danke Professor Jinno Hidenori (WasedaKodai chusei bungaku ronko¯ 35, Toky ¯ o) ¯ für seine wertvollen Anregungen und Hinweise. Der Text folgt bei japanischen Universität, Toky Namen der Konvention, den Familiennamen vor dem Vornamen zu nennen. Schriftzeichen werden grundsätzlich hinter der ersten Nennung von Werktiteln und Namen historischer Personen angegeben, weiterhin hinter japanischen Begriffen, wenn es für die japanologische Lektüre sinnvoll erscheint. Zitate aus Primärquellen sind in der Regel nur in Transliteration wiedergegeben, da die zitierten Werke ohnehin fast ausschließlich in Silbenzeichen verfasst sind. Die Transliteration bildet indes nicht die Phonetik des klassischen Japanischen ab, sondern berücksichtigt spätere phonetische Veränderungen. Die Umschrift folgt den Konventionen, nach denen japanische Literaturwissenschaftler heute klassische Texte vorlesen. 1 Siehe hierzu Helen Craig McCulloughs Nachwort „The ,Heike‘ as Literature“ in ihrer Übersetzung The Tale of the Heike, Stanford 1988, S. 456–475. 2 Hier unterscheidet sich die Epocheneinteilung der Literaturwissenschaft von der der Geschichtswissenschaft. Während letztere den Beginn ihres ,Altertums‘ (kodai) ebenfalls 710 ansetzt, bleibt ¯ (wörtlich ,Mittelalter‘, aber kein moderner Übersetzungsbegriff, sondern aus der chinesischen chuko Schriftsprache stammend) ein Terminus der Literaturwissenschaft, um die Literatur der Heian-Zeit (794–1185) von der der Nara-Zeit (710–784) abzugrenzen. Während die Geschichtswissenschaft den Beginn des darauf folgenden ,Mittelalters‘ mittlerweile früher sieht – im frühen 12. oder bereits im späten 11. Jahrhundert –, ist auch der Beginn der ,mittelalterlichen‘ Literatur etwas früher anzusetzen als in der obigen, ein wenig vereinfachten Übersicht. In der englischsprachigen Forschungsliteratur ¯ gibt es mitunter auch die Tendenz, die ,Klassik‘ (chuko) in das ,Mittelalter‘ miteinzuschließen, wie bei William R. LaFleur, für den das japanische ,Mittelalter‘ die vom Deutungssystem ,Buddhismus‘ dominierte Zeit darstellt (The Karma of Words. Buddhism and the Literary Arts in Medieval Japan, Berkeley, Los Angeles, London 1983, besonders S. 13 f.). Eine japanische Ausnahme stellt die fünfbändige ¯ o¯ 1985–92), in der die ,Klassik‘ ,erster Literaturgeschichte Konishi Jin’ichis dar (Nihon bungei-shi, Toky ¯ daiikki) und die ,frühe Neuzeit‘ (kinsei, 1573–1868) ,dritter Abschnitt Abschnitt des Mittelalters‘ (chusei ¯ daisanki) genannt wird. In der japanischen Sprachwissenschaft sind ebenfalls des Mittelalters‘ (chusei ¯ und chusei ¯ die Begriffe chuko geläufig, in westlichen Darstellungen wird dagegen zwischen frühem Mitteljapanisch und spätem Mitteljapanisch unterschieden. Dies entspricht grob der Einteilung bei LaFleur. In diesem Kontext ließe sich statt von klassischer Literatur auch von frühmitteljapanischer Literatur sprechen.

Sprachliche Grundbedingungen der klassischen Tagebuchliteratur Japans | 11

,andersartige‘ Form von Literatur aus dem zehnten und elften Jahrhundert – zeitgleich zum europäischen Mittelalter – vorgestellt wird,³ die der japanischen ,Tagebücher‘. Zur vormodernen Tagebuchliteratur Japans liegen bereits zwei narratologische Untersuchungen von Simone Müller vor.⁴ In ihrer zweiten Arbeit ordnet Müller Werke der japanischen Tagebuchliteratur gemäß den wichtigsten Kategorien der Erzähltheorie Gérard Genettes ein. In diesem Aufsatz geht es dagegen weniger um eine umfassende erzähltheoretische Klassifizierung der japanischen Literaturgattung oder einzelner Werke, sondern vielmehr darum, Beispiele früher Literatur vorzustellen, die sich gewissen narratologischen Beschreibungskategorien zu entziehen scheinen. Hierzu wird im Folgenden zunächst das Problem der grammatischen Person behandelt, die innerhalb einzelner Textpassagen zu wechseln scheint. Dies erlaubt es, narrative Besonderheiten der japanischen Literatur herauszuarbeiten, die nicht zuletzt durch Eigenschaften der klassischen japanischen Sprache bedingt sind. Auf dieser Grundlage erfolgt eine Analyse von Erzählstimme und Perspektive in Ki no Tsurayukis 紀貫之 (gest. 945) ,Tosa nikki‘ 土左日記⁵ (,Tagebuch [des Gouverneurs] von Tosa‘, um 935), das trotz des männlichen Autors über eine weibliche Erzählinstanz zu verfügen scheint. Es wird gezeigt, dass das erlebende Ich an keiner Stelle explizit erwähnt wird und dass sich manche Passagen durch Fokalisierungswechsel auszeichnen, die das Wissen der Erzählerin überschreiten. Unter Berücksichtigung seiner Entstehungsumstände wird die gängige Lesung des Werkes als eine Ich-Erzählung aus der Sicht einer Frau zumindest für Teile des Textes in Frage gestellt.

3 Davor, bei der Darstellung japanischer Texttradition solche Überlieferungen auszuwählen, die zur Annahme einer scheinbaren Ähnlichkeit mit dem Abendland führen könnten, warnt Klaus Vollmer, Alteritätsbewusstsein und Pluralität der Diskurse. Aspekte von Textkultur und Lebenspraxis in Japan, in: Wolfgang Reinhard (Hg.), Sakrale Texte. Hermeneutik und Lebenspraxis in den Schriftkulturen, München 2009, S. 244–290, 373–380, hier S. 245. 4 Simone Müller, Fiktivität und Fiktionalität im Izumi Shikibu nikki. Narratologische Bestimmung eines heian-zeitlichen „Frauentagebuches“, in: Asiatische Studien/Études Asiatiques LXIII,3 (2009), S. 515–552; dies., Warten auf den Liebestraum. Eine gender-narratologische Verortung des Werks Utatane (Der Schlummer) in der Heian- und Kamakura-zeitlichen Frauentagebuchliteratur, in: Stephan Conermann (Hg.), Kulturspezifische Erzählstrategien in „nicht-abendländischen“ Lebensdarstellungen (Narratio Alinea? 6), Berlin 2015, S. 25–90 (die Seiten 25 bis 49 eignen sich gut als allgemeine narratologische Einführung in die japanische Tagebuchliteratur). 5 Es ist bekannt, dass das Werk im zehnten Jahrhundert ,Tosa no nikki‘ genannt wurde, auch wenn die ¯ attributive Postposition no im Titel der Handschriften nicht ausgeschrieben ist (vgl. Suzuki Tomotaro, Kaisetsu, in: ders. u. a. [Hgg.], Tosa nikki, Kagero¯ nikki, Izumi Shikibu nikki, Sarashina nikki [Nihon ¯ o¯ 1957, S. 5; siehe auch Higashihara Nobuaki u. Loren Waller [Hgg.], koten bungaku taikei 20], Toky ¯ o¯ 2013, S. 13 f.). In diesem Aufsatz wird die in der westlichen ForschungsliteraShinpen Tosa nikki, Toky tur übliche Lesung ,Tosa nikki‘ verwendet, da nicht die historischen Lesungen aller zitierten Werktitel bekannt sind. Bezüglich der Schreibung des Titels ,Tosa [no] nikki‘ sei darauf hingewiesen, dass das sa 左 in Tosa auf den Einbänden der erhaltenen Handschriften ohne nin-ben イ geschrieben ist.

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2 Zum Problem der grammatischen Person 2.1 Wechsel oder gradueller Übergang? (,Kagero¯ nikki‘) Ki no Tsurayukis poetischer Reisebericht ,Tosa nikki‘ wird am Anfang der Tradition der Heian-zeitlichen (794–1185) Tagebuchliteratur gesehen, deren nachfolgende Werke in der Regel von Frauen geschrieben wurden. Im Gegensatz zum unter den männlichen Höflingen üblichen Schriftchinesischen sind diese Texte auf Japanisch verfasst. Sie bedienen sich fast ausschließlich phonetischer Zeichen, die von chinesischen Schriftzeichen abgeleitet sind (kana 仮名, ,entliehene Zeichen‘), und nur sehr weniger semantisch verwendeter Schriftzeichen (mana 真名, ,wahre Zeichen‘). Vor einer eingehenden Diskussion der Erzählstimme des ,Tosa nikki‘ soll am Beispiel eines späteren Tagebuches sowie eines Reiseberichts verdeutlicht werden, weshalb die Erzählstimme vor allem auf den ersten Seiten dieser Texte dazu neigt, dem westlichen Übersetzer Probleme zu bereiten. Der japanische Satz erfordert keine Nennung eines Subjekts, und die Tendenz zu seiner Auslassung ist in der klassischen Sprache besonders stark vertreten. Auch ,personale Demonstrativa‘ – den Begriff schlägt Bruno Lewin für das Japanische als Alternative zum Wort ,Personalpronomen‘ vor, da „die betr. Wortgruppe morphologisch und syntaktisch nicht von den Nomina abgrenzbar ist“⁶ – sind im klassischen Japanischen äußerst spärlich gesät.⁷ Da das japanische Prädikat zudem keine Personalform hat, kann es schwierig sein, die grammatische Person zu bestimmen. Für die Über-

6 Bruno Lewin, Abriß der japanischen Grammatik auf der Grundlage der klassischen Schriftsprache, 5. Aufl. Wiesbaden 2003, S. 52. Während in der Nara-Zeit noch ein System echter Personalpronomen existierte, kam dieses in der Heian-Zeit außer Gebrauch (vgl. ebd., S. 8 f.; siehe auch Bjarke Frellesvig, A History of the Japanese Language, Cambridge 2011, S. 245). Bemerkenswert ist weiterhin, dass es keine personalen Demonstrativa gibt, die ausschließlich die dritte Person bezeichnen. Stattdessen werden „reale Demonstrativa, die eine personale Nebenfunktion angenommen haben,“ verwendet (Lewin, S. 54). In der Linguistik findet sich der Vorschlag, für das Japanische von zwei Personen auszugehen, ji (,Selbst‘) und ta (,Andere‘), die weniger grammatisch als soziologisch bestimmt sind und in denen interpersonale Beziehungen zum Ausdruck kommen. Siehe Kishitani Shoko, Zum Phänomen der Person in der Sprache. Ein Vergleich zwischen der Deutschen und der Japanischen Auffassung der personalen Beziehung, in: dies., Die Person in der Satzaussage. Beiträge zur deutschen und japanischen Verbalkategorie (Veröffentlichungen des Ostasien-Instituts der Ruhr-Universität Bochum 35), Wiesbaden 1985, S. 172–185, hier v. a. S. 178, 182; Tanaka Shin, Deixis und Anaphorik. Referenzstrategien in Text, Satz und Wort (Linguistik. Impulse & Tendenzen 42), Berlin, Boston 2011, v. a. S. 64, 69. In der Regel wird jedoch auch in der Linguistik am Begriff ,Personalpronomen‘ festgehalten und von einer dreigliedrigen Kategorie der Person ausgegangen (so etwa bei Martina Ebi u. Viktoria Eschbach-Szabo, Japanische Sprachwissenschaft. Eine Einführung für Japanologen und Linguisten, Tübingen 2015, S. 169). 7 Nach einigen wenigen Beiträgen in den ersten Ausgaben der Zeitschrift Poetica sind wohl kaum japanologische Studien in einem für Mediävisten sichtbaren Medium erschienen. Es sei daher darauf hingewiesen, dass Ekkehard May in seiner Interlinearübersetzung eines 1718 uraufgeführten ¯ joruri-Stücks in seiner Übertragung der einzelnen Satzglieder Personalpronomen ergänzt, die sich im

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setzung in eine europäische Sprache ist die Person hingegen ebenso wie das Subjekt unabdingbar. Während ein Tagebuch – ungeachtet seines Fiktionalitätsgrades – einen IchErzähler in Aussicht stellt, finden sich in japanischen Tagebüchern Stellen, an denen der vermeintliche Ich-Erzähler auf sich selbst in der dritten Person zu referieren scheint. Dies ist etwa im ,Kagero¯ nikki‘ 蜻蛉日記⁸ (,Tagebuch einer Eintagsfliege‘, 971–975) der Fall, das in drei Teilen die unglückliche Beziehung der nur als Mutter des Fujiwara no Michitsuna no haha (jap. 藤原道綱母, 936?–995) bekannten Autorin zu Fujiwara no Kaneie 藤原兼家 (929–990) zwischen den Jahren 954 und 974 beschreibt und das erste längere ,Frauentagebuch‘ der Heian-Zeit darstellt. In der Einleitung des Tagebuchs nennen die Übersetzungen die Verfasserin und Protagonistin größtenteils in der dritten Person. Der einzige – aber entscheidende – Grund, der sich im japanischen Text hierfür findet, ist, dass der erste Satz mit hito arikeri endet: ,es gab eine, [die . . . ]‘. Da die vorliegenden Übersetzungen nicht exakt genug sind, um meine Thesen zu veranschaulichen, habe ich die im Folgenden zitierten Passagen neu übersetzt. Das aus einem kürzeren und einem sehr langen Satz bestehende Vorwort des ,Kagero¯ nikki‘ lautet: Kaku arishi toki sugite, yo no naka ni ito mono-hakanaku, to ni mo kaku ni mo tsukade, yo ni furu h i t o a r i k e r i . Katachi tote mo hito ni mo nizu, kokoro-damashii mo aru ni mo arade, ko¯ mono no yo¯ ni mo arade aru mo kotowari to omoitsutsu, tada fushi-oki akashi-kurasu ¯ ¯ mama ni, yo no naka ni okaru furu-monogatari no hashi nado o mireba, yo ni okaru soragoto dani ari, hito ni mo aranu mi no ue made kaki nikki shite, mezurashiki sama ni mo arinamu, tenge no hito no shina takaki ya to, towamu tameshi ni mo seyo kashi to oboyuru mo, suginishi ¯ toshitsuki-goro no koto mo obotsukanakarikereba, sate mo arinu beki koto namu okarikeru.⁹

japanischen Text nicht finden. Siehe Ekkehard May, Monzaemon Chikamatsu, Sôshichis und Kojorôs Weg (Hakata Kojoro¯ namimakura [,Hakata Kojoro¯ – Die Wellen als Kopfkissen‘] III, ,Sôshichi Kojorô michiyuki‘), in: Poetica 4 (1971), S. 515–553. 8 Auch dieser Titel wurde wohl mit eingeschobenem no ,Kagero¯ no nikki‘ gelesen, da die Erzählerin am Ende des ersten Teiles anmerkt, dass man den Text kagero¯ no nikki かげろふのにき nennen solle, und der in der Katsuranomiya-Handschrift 桂宮本 darauf folgende kurze Kolophon den Werktitel in Silbenschriftzeichen mit demselben Lautwert schreibt (siehe das Faksimile in Katsuranomiya-bon ¯ hrsg. v. Uemura Etsuko [Kasama eiin sokan ¯ ¯ o¯ 1999, S. 71 f.). In der Kagero¯ nikki [jo], 68], ND 2. Aufl. Toky neueren japanischen Forschungsliteratur wird der Titel daher oft ,Kagero¯ no nikki‘ かげろふの日記 ¯ ¯ o¯ 2007; geschrieben (z. B. in Hijikata Yoichi, Nikki no seiiki. Heian-cho¯ no ichi-ninsho¯ gensetsu, Toky ¯ Jinno Hidenori, Naratoroj¯ı no kore kara to ,Genji monogatari‘. Ninsho¯ o meguru kadai o chushin ni, in: ¯ ¯ o¯ 2016, Sukegawa Koichir o¯ u. a. (Hgg.), Kakyo¯ suru ,bungaku‘ riron [Shin-jidai e no Genji-gaku 9], Toky S. 96–122). Auf dem Einband der Katsuranomiya-Handschrift ist der Titel dagegen wie oben im Haupttext in chinesischen Schriftzeichen geschrieben. Das Wort nikki wurde in japanischer Silbenschrift ohne den ,Spannungslaut‘ (sokuon) geschrieben (ni-ki にき), aber dennoch nikki ausgesprochen (vgl. Hagitani ¯ ¯ o, ¯ S. 52). Boku, Tosa nikki zenchushaku, 2. Aufl. 1970 Toky 9 Transliteration nach dem Faksimile der Katsuranomiya-Handschrift in Katsuranomiya-bon Kagero¯ ¯ (Anm. 8), S. 1. Drei Fehler der Handschrift sind in der Transliteration korrigiert. Vgl. die nikki (jo) ¯ ¯ Auflistung zu Abschnitt 1 in Shinpan Kagero¯ nikki I (jokan, chukan). Gendaigo-yaku tsuki, hrsg. u. ¯ ¯ o¯ 2003, S. 462. übers. v. Kawamura Yuko, Toky

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Die Zeit, in der es so war, ist vergangen. Es gab eine, die ihr Leben verbrachte, indem sie in der Welt sehr unsicher war und ohne recht Halt zu finden. Ihr Aussehen war nicht mit anderen vergleichbar, und es war auch nicht so, dass sie Verstand gehabt hätte, und sie dachte, dass es nur natürlich sei, dass sie auf diese Weise ohne Nutzen sei. Wenn sie, während sie dahinlebte, indem sie sich nur hinlegte und [wieder] aufstand, Abschnitte aus den in der Welt zahlreichen Erzählungen las, gab es [darin] sogar leere Worte, die in der Welt zahlreich sind. [Ich werde] über [meine] Situation schreiben, die von anderen verschieden ist, und ein Tagebuch machen – das wird bestimmt etwas Ungewöhnliches sein. Ich denke mir, man solle es doch als Beispiel nehmen, wenn man fragt, [wie eine Frau] von hohem Rang unter den Menschen unter dem Himmel [lebt], doch weil die Ereignisse vergangener Jahre und Monate [nun] im Unklaren liegen, sind es dennoch viele Ereignisse geworden, die es [nun im Tagebuch] geben sollte.

Der japanische Text enthält keine personalen Demonstrativa – alle Personalpronomen in der Übersetzung sind daher interpretationsabhängig. Anders als in obigem Vorschlag ist in den früheren Übersetzungen¹⁰ die gesamte Passage in der dritten Person gehalten, was zweifellos darauf zurückzuführen ist, dass der westliche Leser bzw. Übersetzer Einheitlichkeit hinsichtlich der grammatischen Person erwartet¹¹ – wenn nicht schon über das gesamte Werk hinweg, dann zumindest in der knappen Einleitung. Tatsächlich spricht jedoch einiges dagegen, das Subjekt hier durchgängig in der dritten Person zu übersetzen, um nach der Einleitung plötzlich zur ersten Person zu wechseln. Obwohl der Text mit der Wendung hito arikeri wie eine in der dritten Person gehaltene Erzählung beginnt,¹² lassen die nachfolgende Zuschreibung unterdurchschnittlicher Schönheit¹³ und mangelnder Intelligenz im Rahmen literarischer Konventionen darauf

10 Die erstmals 1955 publizierte und 1964 überarbeitete Übersetzung von Edward Seidensticker: The Gossamer Years. The Diary of a Noblewoman of Heian Japan, übers. v. Edward Seidensticker, 4. Aufl. Tokyo, Rutland/Vermont, Singapore 2008, S. 7. Weiterhin existiert eine deutsche Übersetzung: Kagerô Nikki. Tagebuch einer japanischen Edelfrau ums Jahr 980, übers. v. Tsukakoshi Satoshi, Imaizumi Tadayoshi u. Max Niehans, Zürich 1955, ND Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1981, S. 7. Letztere bezeichnet Wolfgang Schamoni zu Recht als „eher problematisch“ und Müller als „unbefriedigend“ (Wolfgang Schamoni: Weibliche Autobiographie vs. männliche Biographie? Die japanischen „Hofdamentagebücher“ des X./XI. Jahrhunderts, in: Walter Berschin u. ders. [Hgg.], Biographie – „So der Westen wie der Osten“?, Heidelberg 2003, S. 59–80, hier S. 70, Anm. 40; Müller 2015 [Anm. 4], S. 42, Anm. 17). Auch Edwin A. Cranston versteht die Einleitung als in der dritten Person gehalten, bevor das eigentliche Tagebuch in der ersten Person einsetze (vgl. Edwin A. Cranston, The Izumi Shikibu Diary. A Romance of the Heian Court, Cambridge/Massachusetts 1969, S. 108). 11 Nach Genette stellt eine Änderung der grammatischen Person im klassischen Roman einen noch größeren Regelverstoß als eine Änderung des Erzähltyps dar. Vgl. Gérard Genette, Die Erzählung, übers. v. Andreas Knop, 3. Aufl. Paderborn 2010, S. 160. 12 Es wird häufig auf die sprachliche Nähe zu Texten des monogatari-Genres hingewiesen. Hijikata ¯ Yoichi begründet diese Nähe damit, dass sich die Autorin bloß an monogatari sowie an Prosaabschnitten vor Gedichten in Lyrikanthologien, die ihrerseits wieder an monogatari angelehnt waren, orientiert haben kann, da andere Erzählprosa in Silbenschrift zu jener Zeit noch keine Verbreitung gefunden hatte. Vgl. Hijikata (Anm. 8), S. 144; Jinno (Anm. 8), S. 103 f. 13 Dafür, dass dies zumindest von späteren Lesern als eine übertrieben bescheidene Selbstbeschreibung verstanden wurde, spricht, dass die Mutter des Michitsuna laut der Genealogie ,Sonpi bunmyaku‘

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schließen, dass die Autorin über sich selbst schreibt. Dafür spricht auch, dass die Erzählerin die ,leeren Worte‘¹⁴ der verbreiteten Geschichten bemängelt und mit ihrem Tagebuch ein ,Beispiel‘ (tameshi), eine Referenz¹⁵ für das Leben einer Frau von hohem Stand schaffen will – auch wenn sie einräumt, dass einige Erinnerungen nun im Dunkeln liegen. Während zu Beginn die allgemeinen Lebensumstände der Protagonistin distanziert geschildert werden – wozu sich eine an Erzählungen angelehnte Sprache eignet, die in Übersetzung zur dritten Person tendiert –, wird anschließend über die alltägliche Lektüre zum Entschluss übergeleitet, selbst ein ,Tagebuch‘ zu schreiben, und die damit verbundene Erwartungshaltung der Erzählerin beschrieben. Sonja Arntzen setzt den Wechsel zur ersten Person am Ende der Einleitung an: „[. . . ] yet the events of the months and years gone by are vague; places where I have just left it at that are indeed many.“¹⁶ Davon ausgehend, dass die erste Person für eine Übersetzung des Tagebuchs am geeignetsten ist, habe ich mich an dem Satz mezurashiki sama ni mo arinamu (,das wird bestimmt etwas Ungewöhnliches sein‘) orientiert, um diesen Wechsel früher anzusetzen. Das abschließende -namu, eine Verbindung der Verbalsuffixe -nu und -mu, drückt eine starke Vermutung in Bezug auf die Zukunft aus. Dieser Kommentar lässt sich allerdings auch als Monolog verstehen, der nicht durch eine Postposition (to oder tote), geschweige denn ein verbum dicendi/credendi als Figurenrede gekennzeichnet ist, oder, wie bei Arntzen, als Teil der nachfolgenden Gedankenrede, die sie der in ihrer Übersetzung hier noch in der dritten Person gehaltenen Protagonistin zuschreibt und in indirekter Form wiedergibt.¹⁷

尊卑分脈 (,Ehrwürdige und gemeine Linien‘) aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts eine der drei schönsten Frauen Japans gewesen ist. Siehe Suzuki u. a. (Anm. 5), S. 109, Anm. 3. 14 Fiktionale Erzählliteratur wurde als ,leere Worte‘ (soragoto) bezeichnet, was in der Bedeutung ,Lüge‘ später im Kontext buddhistischer Verhaltensregeln problematisiert wurde. Siehe hierzu Sebastian Balmes, „Verrückte Sprache und ausgeschmückte Worte“. Zum buddhistischen Diskurs über den Wert der Literatur im Rahmen der Genji-Rezeption des 12. Jahrhunderts, in: Bunron 4 (2017), S. 1–33. 15 Das japanische tameshi entspricht hier dem sinojapanischen senrei 先例, übersetzt ,Präzedenzfall‘. Historisches Wissen sollte bei eigenen Entscheidungen helfen, und seine Vermittlung war nach konfuzianischer Auffassung Sinn der Literatur. Zur konfuzianischen Bewertung von Literatur siehe das Kapitel „Chinese views of fiction“ in Thomas James Harper, Motoori Norinaga’s criticism of the ,Genji monogatari‘. A Study of the Background and Critical Content of his ,Genji monogatari tama no ogushi‘, Ann Arbor 1971 (Diss., University of Michigan), hier S. 6–14. 16 The Kagero¯ Diary. A Woman’s Autobiographical Text from Tenth-Century Japan (Michigan Monograph Series in Japanese Studies 19), übers. v. Sonja Arntzen, Ann Arbor 1999, S. 57. Wolfgang Schamoni folgt in seiner Übersetzung des Vorworts hierin Arntzen (siehe Schamoni [Anm. 10], S. 70). In den für Haruo Shirane (Hg.), Traditional Japanese Literature. An Anthology, Beginnings to 1600, New York 2007 überarbeiteten Abschnitten ihrer Übersetzung bleibt Arntzen bei ihrer Interpretation (hier S. 224). 17 Hijikata macht bereits an der Stelle ,und sie dachte, dass es nur natürlich sei, dass sie auf diese Weise ohne Nutzen sei‘ einen plötzlichen Wechsel zur ersten Person fest (vgl. Hijikata [Anm. 8], S. 144). Er versteht die ,erste Person‘ jedoch eher im Rahmen einer Fokalisierung als in grammatischem Kontext (siehe Anm. 29).

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Konishi Jin’ichi führt aus, dass die Subjekte im ersten Teil des ,Kagero¯ nikki‘, sofern sie genannt werden, in der dritten Person gehalten seien und die Autorin daher eine Erzählung in der dritten Person angestrebt habe.¹⁸ Davon kann jedoch keine Rede sein, denn es finden sich zwar fünf weitere Textstellen, an denen die Erzählerin auf ihr früheres Ich scheinbar in der dritten Person referiert, dieser Eindruck scheint aber auf eine rhetorische Konvention zurückzuführen zu sein. Bei allen Beispielen handelt es sich um Gegenüberstellungen, und in vier der fünf nennt sich die Erzählerin in Situationen, in denen eine andere Person abreist (etwa ,Hinfortziehende(r)‘, yuku hito, genannt),¹⁹ selbst ,die Zurückbleibende‘ (tomaru hito).²⁰ In der fünften Textstelle bezeichnet sich die Erzählerin gegenüber Kaneie, dem ,Glücklichen‘ (saiwai aru hito), als ,die Person, die Monate und Jahre eine Beziehung mit ihm gepflegt hatte‘ (toshitsuki mishi hito).²¹ In der Formulierung ist das Verbalsuffix -ki (in seiner Attributivform -shi in mishi) enthalten, das persönlich Erinnertes markiert und, wie Konishi an anderer Stelle anmerkt, seinem Verständnis nach die erste Person kennzeichnet.²² Vor allem aber finden sich die personalen Demonstrativa ware und wa im ersten Teil des ,Kagero¯ nikki‘ häufig genug (außerhalb von Gedichten und Briefen sowie Rede- und Gedankendarstellung insgesamt 23mal), um von einer Erzählung in der ersten Person auszugehen.²³ Die oben dargelegten Schwierigkeiten bei der Bestimmung der grammatischen Person bleiben wohl vor allem Probleme der Übersetzungspraxis und Literaturwissenschaft. Es scheint zwar, als beginne der Text in der dritten Person, um nach einer Übergangsphase, in der die Person entweder nicht bestimmt werden kann oder es zu einem graduellen Wechsel kommt, in der ersten Person gehalten zu sein. Es ist aber

18 Vgl. Konishi Jin’ichi, A History of Japanese Literature. Volume Two: The Early Middle Ages, hrsg. v. Earl Miner, übers. v. Aileen Gatten u. a., Princeton 1986, S. 289. Auch zum ,Sarashina nikki‘ schreibt er, dass eine Erzählung in der dritten Person beabsichtigt gewesen sei, jedoch erste und dritte Person gemischt aufträten, wobei die erste dominiere (vgl. ebd., S. 295). Ein Beispiel für die dritte Person findet sich allerdings höchstens im ersten Satz (siehe Anm. 60). ¯ (Anm. 8), S. 7, 44. 19 Katsuranomiya-bon Kagero¯ nikki (jo) 20 Ebd., S. 7, 12. An zwei Stellen findet sich der Ausdruck verkürzt als tomaru wa: ebd., S. 44, 47. In der ¯ ¯ ¯ Untergliederung von Kakimoto Tsutomu, Kagero¯ nikki zenchushaku. Jokan (Nihon koten hyoshaku, ¯ ¯ ¯ o¯ 1966, die unter anderen Kawamura (Anm. 9) in ihrer Edition übernimmt, zenchushaku sosho), Toky entspricht dies den Abschnitten 9, 15, 47 und 49. ¯ (Anm. 8), S. 35. Abschnitt 39 nach Kakimoto (Anm. 20). 21 Katsuranomiya-bon Kagero¯ nikki (jo) 22 Vgl. Konishi (Anm. 18), S. 291, Anm. 59. 23 Im Folgenden sind der Übersichtlichkeit halber nur die Nummern der Abschnitte nach Kakimoto (Anm. 20) angegeben. Ware (insg. 13mal): Nr. 16, 23 (in ware wa ware ni mo arazu ist nur das erste ware gezählt, da das zweite Teil einer Redewendung ist), 40, 42 (2mal), 44, 47, 50, 53, 54, 61, 65, 66. Wa, eines der realen Personalpronomen der Nara-Zeit (siehe Anm. 6), tritt ausschließlich im Ausdruck waga auf, der eine Verbindung mit der Postposition ga darstellt (insg. 10mal): Nr. 8, 20, 29 (2mal), 31, 42 (3mal), 65 (2mal). Auch der Ausdruck waga mi (Nr. 42; siehe Abschnitt 2.2 in diesem Aufsatz) und das Demonstrativum konata (,hier‘, ,wir‘, ,ich‘) (Nr. 33, 61) können als Indizien für die erste Person gesehen werden. Nur an einer Stelle bezieht sich waga auf Kaneie und steht somit in der dritten Person (Nr. 39; siehe auch zu dieser Gebrauchsweise Abschnitt 2.2).

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fraglich, ob ein japanischer Leser allen Textsegmenten unterbewusst eine bestimmte grammatische Person zuordnet. Jinno Hidenori relativiert die grammatische Kategorie durch den Zusatz des Attri¯ butivsuffixes -teki 的 (z. B. ichininsho-teki,²⁴ ,in der Art der ersten Person‘) und schlägt darüber hinaus vor, dass eine grammatische Person in klassischen japanischen Texten fehle.²⁵ Jinno kritisiert die von Fujii Sadakazu in zahlreichen Publikationen für die Sprache der klassischen Literatur Japans entwickelte Theorie einer Kategorie der Per¯ und ,vierte Person‘ son, die zahlreiche Erweiterungen wie ,nullte Person‘ (zero-ninsho) ¯ enthält,²⁶ da hier eine im Text nicht angezeigte Person angenommen wird. (yo-ninsho) Weiterhin entstammt die ,vierte Person‘ der Ainu-Grammatik und kann im Japanischen nicht bezeichnet werden. Im Gegensatz zu Fujii ist für Jinno die Person nicht ,latent‘ (senzai-teki)²⁷ vorhanden, wo sie nicht markiert ist, und liegt selbst dort nicht unbedingt vor, wo sie auf den ersten Blick markiert scheint.²⁸ Dies würde auch erklären, weshalb die Stellen, an denen sich die Erzählerin des ,Kagero¯ nikki‘ scheinbar in der dritten Person nennt, nicht als Widerspruch wahrgenommen werden. Jinnos These einer fehlenden Person erscheint umso plausibler, da viele japanische Literaturwissenschaftler das Wort ,Person‘ nicht im grammatischen Sinne verwenden,²⁹ obwohl die japanische Übersetzung ninsho¯ 人称 – anders als die europäischen Entsprechungen – mit seinem zweiten Schriftzeichen in der Bedeutung ,Bezeichnung‘

24 Jinno (Anm. 8), S. 102, auch S. 118. Diesen Ausdruck verwendet Hijikata bereits im Nachwort seiner Aufsatzsammlung (vgl. Hijikata [Anm. 8], S. 268, 270, 271, 274, Anm. 12; zudem auf S. 179 in einem ¯ erstmals 1986 erschienenen Aufsatz in der Form sanninsho-teki in Bezug auf die dritte Person). Dies ist für die hier gegebene Argumentation jedoch nur bedingt von Interesse, da Hijikata das Wort ,Person‘ nur sehr eingeschränkt in grammatischem Zusammenhang gebraucht (siehe Anm. 29). 25 Vgl. ebd., S. 107, 115, 117. ¯ o¯ 2001; ders., Monogatari 26 Siehe vor allem Fujii Sadakazu, Heian monogatari jojutsu ron, Toky ¯ Toky ¯ o¯ 2004; ders., Bunpo-teki ¯ ¯ o¯ 2015. Fujii weist darauf hin, dass die riron kogi, shigaku, 2. Aufl. Toky Person im Japanischen außer in personalen Demonstrativa nur in honorativen Ausdrücken zutage tritt. Daher gebe es keine Notwendigkeit, sich zu sehr auf die erste bis dritte Person zu versteifen (vgl. Fujii 2015, S. 337; auch zitiert in Jinno [Anm. 8], S. 106). Problematisch ist jedoch, dass er, anders als Jinno, dennoch am Konzept der Person festhält. Wie sehr sich Fujii damit von der Grammatik entfernt, zeigt sich am deutlichsten an seinen Vorschlägen für neue Unterkategorien wie ,Natur‘ (shizensho¯ 自然称; ¯ dem zweiten Schriftzeichen in ninsho, ¯ ,Person‘; eine Zusammensetzung aus shizen, ,Natur‘, und sho, siehe Fujii 2015, S. 340–342). 27 Jinno (Anm. 8), S. 108. 28 Vgl. ebd., S. 106–108. 29 Etwa beziehen sich Ausdrücke von Hijikata wie ,monogatari-hafte erste Person‘ (monogatari-teki ¯ und ,dialogische erste Person‘ (kaiwa-teki ichi-ninsho; ¯ Hijikata [Anm. 8], S. 270) nicht ichi-ninsho) auf grammatische Phänomene, sondern darauf, in welcher Weise Autor oder Erzähler sich selbst im Text darstellen. Zum ,Tosa nikki‘, das keine personalen Demonstrativa in Bezug auf die Erzählinstanz enthält, schreibt Hijikata außerdem, dass ,zu Beginn die weibliche erste Person etabliert‘ werde ¯ o¯ de josei ichi-ninsho¯ o teiritsu shita; ebd., S. 126), obwohl der Text – wenn man die grammatische (bot Kategorie hier anwendet – streng genommen in der dritten Person beginnt (siehe Abschnitt 3.1). Da es im Japanischen kein Genus gibt, muss mit ,weibliche erste Person‘ die ,Ich-Erzählerin‘ gemeint

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ausschließlich grammatisch angelegt ist. Auch in japanischen Wörterbüchern wird der Terminus nur als grammatische Kategorie definiert. Das Missverständnis zahlreicher Literaturwissenschaftler einschließlich Fujii könnte darauf zurückzuführen sein, dass eine ,Person‘ als grammatische Kategorie im Japanischen gar nicht vorliegt.

¯ hoshi ¯ 2.2 ,Narrative Einstellungen‘ und Erzählkonventionen (,Zoki ¯ shu‘) Eine verblüffend ähnliche Situation wie in der Einleitung des ,Kagero¯ nikki‘ findet sich auch zu Beginn eines weniger erforschten Textes. Das auch als ,Ionushi‘ いほ ぬし (,Herr der Hütte‘) bekannte in der letzten Dekade des zehnten oder zu Beginn ¯ hoshi ¯ ¯ 増基法師集 (,Gedichtsammlung des elften Jahrhunderts entstandene ,Zoki shu‘ ¯ des Meister Zoki‘) wird auch als dem Genre der Reiseliteratur zugehörig betrachtet und weist Ähnlichkeiten zur Tagebuchliteratur auf. So unterteilt Hayashi Toshihiko den Text in drei geographisch gegliederte Tagebücher: ein ,Kumano-Reisetagebuch‘ (Kumano kiko¯ nikki 熊野紀行日記), ein ,Kamo-Tagebuch‘ (Kamo nikki 賀茂日記) mit ¯ omi ¯ nikki 遠江日記) mit ¯ omi-Tagebuch‘ ¯ angefügten Liebesgedichten und ein ,Tot (Tot einem kurzen Nachwort.³⁰ Da sich die letzten beiden Teile jedoch hauptsächlich aus Gedichten zusammensetzen,³¹ eignet sich vor allem das ,Kumano-Reisetagebuch‘ dazu, als Tagebuch gelesen zu werden.³² Der Beginn lautet:

sein, vergleichbar mit dem Ausdruck „woman persona“ bei Lynne K. Miyake, The Tosa Diary. In the Interstices of Gender and Criticism, in: Paul Gordon Schalow u. Janet A. Walker (Hgg.), The Woman’s Hand. Gender and Theory in Japanese Women’s Writing, Stanford 1996, S. 41–73. ¯ hoshi ¯ ¯ ¯ o¯ 2006. Der Tot ¯ omi-Teil ¯ 30 Siehe Hayashi Toshihiko, Zoki ,Ionushi‘ chukai, Toky wird im Text ¯ omi-Tagebuch‘ ¯ selbst angekündigt und ausdrücklich als ,Tagebuch‘ bezeichnet: ,Dies ist das Tot (Kore ¯ omi ¯ no nikki; ebd., S. 194). In Hayashis Edition stellt zudem der erste Absatz des nachfolgend wa Tot transliterierten und übersetzten Textes ein eigenständiges Vorwort dar (siehe ebd., S. 8), mir erscheint er jedoch – nicht zuletzt aufgrund der in diesem Aufsatz gegebenen grammatischen Analyse – dem ,Kumano-Reisetagebuch‘ zugehörig (siehe hierzu auch Anm. 55). In anderen Editionen ist die Passage, ¯ o¯ Zoki, ¯ die Hayashi als ,Vorwort‘ (jobun) markiert, nicht vom Rest des Textes abgesetzt. Vgl. Daisoj ¯ in: Kishigami Misao (Hg.), Zokuzoku Kiko-bun ¯ ¯ o¯ Kumano kiko, shu¯ (Zoku Teikoku bunko 37), Toky ¯ hoshi, ¯ 1901, S. 41–48, hier S. 41; Zoki Ionushi, in: Hanawa Hokiichi (Hg.), Gunsho ruiju¯ 18. Nikki-bu, ¯ ¯ o¯ 1959, S. 348–360, hier S. 348; Zoki ¯ hoshi ¯ ¯ in: ,Shikashu¯ taisei‘ CD-ka iin-kai kiko-bu, 3. Aufl. Toky shu, ¯ o¯ 2008. (Hg.), Shinpen Shikashu¯ taisei CD-ROM-ban, Toky ¯ 31 In der Gunsho-ruiju-Edition beträgt das Verhältnis von Gedicht- zu Prosazeilen im ,Kumano¯ omi-Tagebuch‘ ¯ Reisetagebuch‘ 30 zu 157, im ,Kamo-Tagebuch‘ hingegen 43 zu 86 und im ,Tot 50 zu 87. Hinzu kommt, dass die Gedichtzeilen in kleinerer Schriftgröße gedruckt sind und sich immer über die ganze Höhe der Kolumne erstrecken – im Gegensatz zur Prosa, die von den Gedichten unterbrochen ¯ hoshi ¯ wird. Siehe Zoki (Anm. 30). ¯ o¯ Zoki ¯ (Anm. 30) eigenständig ediert. Darüber hinaus erschien vor einiger 32 So wurde dieser in Daisoj Zeit eine deutsche Übersetzung des ,Kumano-Reisetagebuchs‘: Zôki, Schilderung der Reise nach Kuma-

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Itsu bakari no koto ni ka arikemu, yo o nogarete, kokoro no mama ni aramu to omoite, yo no naka ¯ ni kiki to kiku tokorodokoro, okashiki o tazunete kokoro o yari, katsu wa totoki tokorodokoro ogami-tatematsuri, waga mi no tsumi o mo horobosan to aru h i t o a r i k e r i . Ionushi to zo iikeru. ¯ ¯ Kaminazuki no toka bakari, Kumano e modekeru ni, hitobito morotomo ni nado iu mono ¯ hitori shite zo arikeredo, [waga]³³ kokoro ni nitaru mo nakarikereba, tada shinobite doji ¯ modekeru. ¯ ¯ matsu no kozue ni Miyako yori izuru hi, Yawata ni modete tomarinu. Sono yo, tsuki omoshirote kaze suzushikute, mushi no koe mo shinobiyaka ni shika no ne mo haruka ni kikoyu. Tsune no waga sumika naranu kokochi mo, yo no fuke-yuku ni aware nari. Ge ni, kakareba kami mo sumi-tamau nan meri, tote, Koko ni shimo / wakite idekeru / iwashimizu / Kami no kokoro o / kumite shirabaya³⁴ Wann es wohl war? Da gab es einen, der wollte der Welt entsagen und so sein, wie es seinem Geist entsprach. Er wollte versuchen, alle wunderbaren Orte, von denen man in der Welt hörte, zu besuchen und dort zur Ruhe zu finden sowie seine Vergehen zu tilgen, indem er den erhabenen Plätzen Verehrung erwies. Er nannte sich Herr der Hütte. Als ich ungefähr am zehnten Tag des zehnten Monats nach Kumano pilgerte, gab es welche, die mit mir zusammen gehen wollten. Doch weil ihre Absichten meiner nicht ähnlich waren, ging ich nur heimlich mit einem Knaben. An dem Tag, an dem ich die Hauptstadt verließ, pilgerte ich zum Yawata und übernachtete dort. In dieser Nacht war der Mond schön, und der Wind blies kühl durch die Kiefernwipfel. Zu hören waren die leisen Stimmen der Insekten und die fernen Rufe der Hirsche. Ein Gefühl, anders als in meiner gewöhnlichen Wohnung, mit voranschreitender Nacht so rührend! Ich dachte daher, dass hier wahrlich eine Gottheit zu wohnen scheint: Gerade hier / quellt das klare Wasser / aus dem Felsen hervor / Wenn ich den Geist der Gottheit / doch nur schöpfend erfassen könnte!

Bereits die anfängliche Frage verwirrt im Tagebuchkontext: Auch wenn in der volkssprachlichen Tagebuchliteratur Japans genaue Zeitangaben die Ausnahme sind, stellt diese betonte Ungewissheit des berichteten Zeitpunktes – die zudem nicht auf ein schwaches Gedächtnis des Autors oder des Erzählers zurückzuführen ist, wie an der Datumsangabe im zweiten Absatz deutlich wird – eher eine fiktionale Erzählung als einen Reisebericht in Aussicht. So beginnt etwa das ,Genji monogatari‘ 源氏物語 (,Die Erzählung von Genji‘, frühes 11. Jh.) der Hofdame Murasaki Shikibu 紫式部 mit der Frage: ,In welcher Regierungszeit es [wohl] war?‘³⁵

no, übers. v. Araki Emiko u. Rudi Henning, in: Bochumer Jahrbuch zur Ostasienforschung 9 (1986), S. 287–305. 33 Waga 我 ist in der zugrundeliegenden Handschrift nicht eindeutig zu entziffern, ergibt sich jedoch aus dem Kontext und findet sich an dieser Stelle auch in den anderen Textzeugen. 34 Transliteration mit geänderten Satzzeichen nach der Edition der Suketsune-Handschrift 資経本 aus dem zwölften Monat des Jahres Einin 1 (1293/1294) im Besitz der Reizei-Familie 冷泉家 in ,Shikashu¯ taisei‘ CD-ka iin-kai (Anm. 30). Die Unterteilung der Abschnitte folgt Hayashi (Anm. 31), S. 8, 10, 12. ¯ 35 Izure no on-toki ni ka [. . . ] (Yanai Shigeshi u. a. [Hgg.], Genji monogatari 1 [Shin Nihon koten bungaku ¯ o¯ 1993, S. 4). Auch im ,Genji monogatari‘ endet der erste Satz mit dem Verb arikeri. taikei 19], Toky

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Beide Formulierungen scheinen in ihrer Funktion der Wendung ima wa mukashi (,Nun in ferner Vergangenheit‘) ähnlich, mit der Volkserzählungen häufig eingeleitet werden und die den Rezipienten sogleich aus seiner Gegenwart in die Erzählwelt entführt (hier im Gegensatz zu ima wa mukashi wohlgemerkt ohne den Aspekt der Genrezuordnung) – oder, wie unten am Verbalsuffix -keri gezeigt wird, eher umgekehrt die Erzählwelt in die Gegenwart des Rezipienten hineinholt. Auch das ,Kagero¯ nikki‘ setzt mit einer zeitlichen Kontextualisierung ein: ,Die Zeit, in der es so war, ist vergangen‘ (Kaku arishi toki sugite). Das Verbalsuffix -ki in arishi stellt das Vergangene als persönlich Erlebtes heraus und wirkt in Verbindung mit hito arikeri am Ende des Satzes unpassend, da dort eine Außenperspektive eingenommen wird.³⁶ ¯ hoshi ¯ ¯ gesperrt dargestellte Das im transliterierten Abschnitt aus dem ,Zoki shu‘ hito arikeri zwingt den Übersetzer ebenso wie zu Beginn des ,Kagero¯ nikki‘, den Protagonisten (und Verfasser) des Tagebuchs in die dritte Person zu setzen. Der Ausdruck waga mi (wörtlich ,mein Leib‘) kann – wie das mittelhochdeutsche mîn lîp – als Personalpronomen der ersten Person übersetzt werden, aber auch als Personalpronomen der dritten Person (waga mi no ist hier mit ,seine‘ wiedergegeben).³⁷ Der Ausdruck dürfte vor dem Hintergrund seiner Wortbedeutung dennoch zur Perspektivierung auf den Mönch beitragen, zumal im ersten Absatz keine weiteren personalen Demonstrativa auftreten. Auch waga im zweiten Absatz (dort mit ,meiner‘ übersetzt) ließe sich sowohl auf die erste als auch auf die dritte Person beziehen. Der Wechsel in der hier gegebenen Übersetzung von der dritten zur ersten Person ergibt sich daher weniger aus den personalen Demonstrativa, sondern vielmehr aus den Verbalsuffixen, die im japanischen Text eine Ebene der Nuancen eröffnen, die sich nur schwer übersetzen lässt.³⁸ Im oben transliterierten Abschnitt fällt besonders das Verbalsuffix -keri auf (dort jeweils unterstrichen), welches überliefertes Vergangenes markiert. Es findet vor allem in fiktionalen Erzähltexten Anwendung, weshalb Bruno Lewin seine Funktion – ver-

Die Frage zu Beginn steht im Kontrast zum ausführlichen Wissen der Erzählerin und stellt daher ein Fiktionalitätssignal dar (vgl. Jörg B. Quenzer, Fiktion und Liebe im Genji monogatari, Nachrichten der Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens [NOAG] 183–184 [2008], S. 61–73, hier S. 64). 36 Siehe auch Hijikata (Anm. 8), S. 161 f. 37 Siehe auch die Auflistung personaler Demonstrativa des frühen Mitteljapanischen in Frellesvig (Anm. 6), S. 246. Im späten Mitteljapanischen kann mit dem Ausdruck zudem ein hierarchisch untergeordnetes Gegenüber in der zweiten Person bezeichnet werden (vgl. Zen’yaku kogo jiten, 3. Aufl. ¯ o¯ 2003). Die vielfältige Verwendung ist wohl darauf zurückzuführen, dass wa ursprünglich ein Toky unbestimmtes Personalpronomen gewesen zu sein scheint (siehe Frellesvig [Anm. 6], S. 138, 142). 38 Sowohl der spärliche Gebrauch personaler Demonstrativa als auch die komplexe Konnotierung durch Verbalsuffixe zeichnet insbesondere das klassische Japanische aus. Während bereits in der frühen Neuzeit der komplexe Gebrauch von Verbalsuffixen zurückging, wirkte sich der Einfluss durch die westlichen Sprachen in der Moderne auch auf die Syntax aus, was unter anderem die Kenntlichmachung des nominalen Subjekts betrifft (siehe Lewin [Anm. 6], S. 14).

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mutlich in Anlehnung an Käte Hamburger³⁹ – als „episches Präteritum“⁴⁰ bezeichnet, wohingegen in der letzten Zeit seine modale Funktion der Vergegenwärtigung von Vergangenem hervorgehoben wird.⁴¹ Während das Verbalsuffix in den ersten beiden Absätzen durchgängig Verwendung findet – gemäß den Konventionen von Erzählungen wie den einzelnen Episoden des ,Ise monogatari‘ 伊勢物語 (,Erzählungen von Ise‘, 10. Jh.) –, tritt es im nachfolgenden Text nicht mehr auf. Eine Ausnahme stellen Gedichte dar, in denen es in der Regel ausrufend in Bezug auf etwas gerade Entdecktes verwendet wird. Im weiteren Text finden sich Verbalsuffixe wie -nu in perfektiver Funktion, oft besteht das Prädikat aber nur aus der Finalform⁴² eines Verbs (wie oben kikoyu – in der Übersetzung ,zu hören war‘ im Präteritum, um eine Dissonanz zu vermeiden, die im japanischen Text nicht als solche wahrgenommen wird). Da das Erlebte somit direkter erzählt wird, erscheint es mir schlüssig, in der Übersetzung einen Ich-Erzähler sprechen zu lassen. Der zweite Absatz konstituiert dabei eine Übergangsphase. In der Übersetzung ist hier die erste Person gewählt, weil so der Text inhaltlich kohärenter scheint (auf diese Weise beginnt mit der Datumsangabe das eigentliche Tagebuch). Auch hier scheint also ein Tagebuch vorzuliegen, das in der dritten Person einsetzt, ohne dass sich mit Sicherheit bestimmen ließe, wo der Wechsel zur ersten Person erfolgt. Dieser Eindruck wird jedoch infrage gestellt, wenn später im Text häufiger von ¯ auch genannt wurde, ,in der dritten Person‘ die Rede ist. Zunächst tritt Ionushi, wie Zoki der Name fünfmal in zwischen Figurenreden eingeschobenen Erzählerreden auf, wo ein moderner Leser das Personalpronomen ,ich‘ (bzw. die japanische Entsprechung ware) erwarten würde, und anschließend noch einmal in der Einleitung zu einem Antwortgedicht von Ionushi, in der sein Eindruck des zuvor erhaltenen Gedichtes geschildert wird.⁴³ Möglicherweise bezeichnen Araki Emiko und Rudi Henning aufgrund dieser Passagen den Protagonisten der Reisebeschreibung in ihrer deutschen Übersetzung durchweg in der dritten Person,⁴⁴ was der homodiegetischen Tagebuchform zu widersprechen scheint. Zu diesem sich dem Übersetzer aufdrängenden Dilemma kommt es

39 Hamburger argumentierte 1957, dass das Präteritum in Erzähltexten seine temporale Funktion verliere und stattdessen die Fiktionalität des Textes aufzeige. Siehe das Kapitel „Das epische Präteritum“ in Käte Hamburger, Die Logik der Dichtung, ND Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1980, S. 63–78. Die erste Auflage von Lewins Grammatik erschien 1959. 40 Lewin (Anm. 6), S. 162. 41 Siehe Royall Tyler, The Tale of Genji, London 2003, S. xxviii. Lewin behandelt diesen Aspekt nicht, obwohl der Gebrauch von Hamburgers Begriff dies nahelegen würde. ¯ 42 Die Finalform (shushi-kei) markiert im Japanischen das Ende eines Satzes. 43 Dies betrifft die Prosaabschnitte um das 12. und 13. sowie vor dem 17. Gedicht. Siehe ,Shikashu¯ taisei‘ CD-ka iin-kai (Anm. 30). 44 Siehe Zôki (Anm. 32). Auch Donald Keene merkt in seinem Buch zur japanischen Tagebuchliteratur ¯ schreibe über sich in der dritten Person (vgl. Donald Keene, Travelers of a Hundred Ages, New an, Zoki York 1999, S. 32). Nach dem ersten Absatz in meiner obigen Transliteration und Übersetzung überträgt jedoch auch Keene die von ihm ausgewählten Textpassagen in der ersten Person (siehe ebd., S. 33–35).

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erst gar nicht, wenn man wie Jinno davon ausgeht, dass das Japanische keine gramma¯ tische Person kennt. Imanishi Yuichir o¯ vertritt zum ersten Satz des ,Kagero¯ nikki‘ die These, dass der Ausdruck hito arikeri nicht unbedingt auf den Einfluss von Erzählungen zurückzuführen sei, sondern Bescheidenheit ausdrücke.⁴⁵ Es ist durchaus denkbar, ¯ ein wiederholtes ware zu aufdringlich schien⁴⁶ und ihm nichts anderes übrig dass Zoki blieb, als mehrmals seinen Namen zu nennen, um den Dialog verständlich zu halten. Laut Gérard Genette wählt der Autor „nicht zwischen zwei grammatischen Formen, sondern zwischen zwei narrativen Einstellungen (deren grammatische Formen nur eine mechanische Konsequenz sind)“.⁴⁷ Auch in der klassischen Literatur Japans werden ,narrative Einstellungen‘ gewählt, doch scheinen diese anderer Natur zu sein, sich nicht gegenseitig auszuschließen und somit auch nicht die Einheitlichkeit einer grammatischen Person zu bewirken. Konishi Jin’ichi schreibt in seiner Typologie der Heian-zeitlichen Genres monogatari (,Erzählung‘), nikki (,Tagebuch‘) und shu¯ (,Gedichtsammlung‘), dass die grammatische Person kein Kriterium darstelle, um zwischen monogatari und nikki zu unterscheiden.⁴⁸ Er betont, dass Genre-Zuweisungen nicht absolut sind und zahlreiche Texte unter verschiedenen Titeln in Umlauf waren. So ¯ o¯ no war etwa das ,in der dritten Person‘ erzählte ,Ise monogatari‘ auch als ,Zaigo chuj nikki‘ 在五中将の日記 (,Tagebuch des fünften [Sohnes] der Ari[-wara], mittlerer Hauptmann‘) bekannt.⁴⁹ Graduelle Abstufungen zwischen den Textgattungen seien somit sinnvoller als der Versuch einer klaren Abgrenzung. Von zeitgenössischen Rezipienten „allgemein akzeptierte Kriterien“⁵⁰ seien indessen Vergangenheitsform bei monogatari und Gegenwartsform (dies allerdings nicht als notwendiges Merkmal) sowie der Fokus auf das Leben einer historischen Person bei nikki.⁵¹ Problematisch an dieser Unterscheidung ist die Betonung des Tempus, denn genau genommen verfügt das Japanische über diese grammatische Kategorie nicht.⁵² Während Konishi das Verbalsuffix -keri bloß in seiner Funktion der Markierung von ¯ ¯ ,Kagero¯ nikki‘ jobatsu ko, ¯ in: Bungaku 55,10 (1987), S. 38–53, auch in: ders., 45 Vgl. Imanishi Yuichir o, ¯ o¯ 2007; zitiert in Hijikata (Anm. 8), S. 170, Anm. 3 und Jinno (Anm. 8), Kagero¯ nikki oboegaki, Toky S. 104. Vgl. auch die betreffende Anmerkung in Imanishis Edition des ,Kagero¯ nikki‘ in Hasegawa Masaharu u. a. (Hgg.), Tosa nikki, Kagero¯ nikki, Murasaki Shikibu nikki, Sarashina nikki (Shin Nihon ¯ o¯ 1989, S. 35–249, hier S. 39, Anm. 3. koten bungaku taikei 24), Toky ¯ 入唐求法巡礼行記 (,Aufzeichnungen 46 Vergleiche hierzu den Reisebericht ,Nitto¯ guho¯ junrei koki‘ einer Pilgerreise nach Tang auf der Suche nach dem Dharma‘, 836–847) des Mönchs Ennin 円 仁 ¯ ¯ (794–864), in dem er auf sich selbst mit dem Ausdruck shoyaku hoshi 請益法師 (,[in China] Nutzen ersuchender Dharma-Meister‘) referiert (vgl. Hijikata [Anm. 8], S. 128). 47 Genette (Anm. 11), S. 158. 48 Vgl. Konishi (Anm. 18), S. 253. 49 Vgl. ebd., S. 251 f. 50 Ebd., S. 256. 51 Vgl. ebd., S. 256 f. ¯ o¯ 1971, S. 549. Siehe auch die Kommentare 52 Vgl. Matsumura Akira (Hg.), Nihon bunpo¯ daijiten, Toky des Herausgebers Earl Miner in Konishi (Anm. 18), S. 256, Anm. 15, S. 282, Anm. 49. Die präteritale ¯ o¯ Bestimmung der Verbalsuffixe -ki und -keri erfolgte durch Yamada Yoshio (Nihon bunpo¯ ron, Toky

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überliefertem Erinnerten nennt,⁵³ scheint im Kontext der monogatari besonders seine vergegenwärtigende Funktion bedeutsam – im Gegensatz zu den abgeschlossenen und oft Jahre zurückliegenden Erinnerungen in den nikki. Vor dem Hintergrund, dass nicht nur die Grenzen zwischen den Heian-zeitlichen Textgattungen fließend sind, sondern dass ein Text auf verschiedene ,narrative Einstellungen‘ zurückgreifen kann, scheint das Postulieren zweier sich abwechselnder Tempusformen ebenso irreführend wie die Betonung zweier wechselnder grammatischer Personen innerhalb eines Textes, insofern dies eine dem japanischen Text nicht inhärente bzw. von seinen Rezipienten nicht als solche wahrgenommene Dissonanz impliziert. Ohne dass ein „Regelverstoß“⁵⁴ vorläge, erfolgt in den zitierten Einleitungen eine graduelle Überführung von monogatari-haftem zu nikki-haftem Erzählen,⁵⁵ die anhand verschiedener Merkmale festzustellen ist. Hierzu gehören neben der Art der Bezeichnung des Subjekts – welches das Problem der grammatischen Person berührt – vor allem die modalen Verbalsuffixe, die dem Text verschiedene Nuancen verleihen.

3 Der Zusammenhang von Erzählstimme und Perspektive im ,Tosa nikki‘ 3.1 Das implizite erlebende Ich In der Forschung zur japanischen Tagebuchliteratur zieht die Erzählstimme des ,Tosa nikki‘ besondere Aufmerksamkeit auf sich. Obwohl der Text bekanntlich vom Dichter Ki no Tsurayuki verfasst wurde, dessen 55tägige Heimreise in die Hauptstadt nach seiner vierjährigen Amtszeit als Gouverneur der Provinz Tosa in 54 Einträgen geschildert wird, scheint eine weibliche Erzählinstanz zu sprechen. Tsurayukis fiktive Entsprechung

1908) in Anlehnung an die englische Grammatik (vgl. Haruo Shirane, Classical Japanese. A Grammar, New York 2005, S. 74). 53 Vgl. Konishi (Anm. 18), S. 255, 257. 54 Genette (Anm. 11), S. 160. 55 Die behandelten Einleitungen, die in manchen Editionen als ,Vorworte‘ (jobun) gekennzeichnet ¯ hoshi ¯ ¯ siehe Anm. 30), sind (das ,Kagero¯ nikki‘ in Shinpan Kagero¯ nikki I [Anm. 9], S. 15; zum ,Zoki shu‘ sind in den Handschriften nicht vom Rest des Textes abgesetzt (siehe Katsuranomiya-bon Kagero¯ nikki ¯ [Anm. 8], S. 1 sowie die Reproduktion der ersten Seite einer Handschrift des ,Zoki ¯ hoshi ¯ ¯ vor [jo] shu‘ Kawase Kazumas Aufsatz ,Ionushi‘ no genzon saiko shahon ni tsuite, in: Aoyama gakuin joshi tanki daigaku kiyo¯ 26 [1972], S. 1–9). Der oben beschriebene grammatische und inhaltliche Übergang fällt gewissermaßen mit Genettes Vorstellung des Vorworts als „Schwelle“ ohne feste Grenzen zusammen (Gérard Genette, Paratexte, übers. v. Dieter Hornig, Frankfurt a. M., New York 1989, S. 10). Die Überleitung vom Außen zum Innen lässt sich parallel zum Wandel des Erzähler-Ichs von Objekt zu Subjekt betrachten. Vom Autor bewusst selegiert werden dabei, wie oben dargelegt, jedoch nicht die grammatischen Formen, sondern ,narrative Einstellungen‘.

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wird mit Ausdrücken wie ,eine gewisse Person‘ (aru hito), ,der frühere Gouverneur‘ (saki no kami) und ,der Schiffsherr‘ (funagimi) bezeichnet.⁵⁶ Die ersten Sätze lauten: Otoko mo su naru nikki to iu mono o, omuna mo shite mimu tote suru nari. Sore no toshi no shiwasu no hatsuka-amari-hitohi no hi no inu no toki ni, kadode su. Sono yoshi, isasaka ni mono ni kaki-tsuku.⁵⁷ Sogenannte tägliche Aufzeichnungen,⁵⁸ von denen es heißt, dass Männer sie machen, will nun eine Frau zu machen versuchen. Am Tag einem nach dem zwanzigsten Tag [im Monat] der rennenden Mönche eines gewissen Jahres brachen wir zur Stunde des Hundes auf.⁵⁹ Davon schreibe ich hier ein klein wenig auf.

Auch in dieser Passage unterliegen die Personalpronomen (,wir‘, ,ich‘) der Interpretation des Übersetzers. Obwohl beim ,Tosa nikki‘ von einer Erzählung in der ersten Person ausgegangen wird, findet sich an keiner Stelle im Text ein personales Demonstrativum in Bezug auf die Erzählinstanz oder ihr früheres Selbst. Zudem steht das Subjekt des ersten Satzes (omuna, ,Frau‘) von westlichen Grammatiken ausgehend streng genommen in der dritten Person.⁶⁰ Sätze wie ,Die Männer schienen chinesische Gedichte zu

¯ boji ¯ no haha to no kanren ni oite, in: Tokusei 56 Vgl. Takei Mutsuo, ,Tosa nikki‘ no katarite. Keigo shiyo, ¯ Tanki daigaku bu 32 (1999), S. 184–178, hier S. 184; Shimizu Yutaka, Tosa nikki daigaku kenkyu¯ kiyo. no josei kataku setsu o hai su, in: Ritsumeikan bungaku 70–72 (1949), S. 137–148, hier S. 142. 57 Transliteration nach dem Faksimile der Seikei-shooku-Handschrift (siehe Abschnitt 3.3) in Eiin-bon ¯ o¯ 2010, S. 17. Edition in Hasegawa u. a. Tosa nikki (shintei-ban), hrsg. v. Hagitani Boku, 23. Aufl. Toky (Anm. 45), S. 1–33, hier S. 3. 58 Ich übersetze das Wort nikki hier, anders als im ,Kagero¯ nikki‘, nicht als ,Tagebuch‘, sondern wörtlich als ,tägliche Aufzeichnungen‘, da ein Tagebuch einen hohen Grad an Subjektivität und Reflexivität in Erwartung stellt, hier jedoch auf eine bestehende Tradition von Dokumenten aufzeichnender Natur ¯ referiert wird. Solche Aufzeichnungen wurden von Männern in jährlichen Almanachen (sog. guchu-reki 具注暦) geführt, die für jeden Tag zwei bis drei freie Zeilen für die Notizen ihrer Besitzer enthielten (siehe hierzu Gustav Heldt, Writing Like a Man. Poetic Literacy, Textual Property, and Gender in the Tosa Diary, in: The Journal of Asian Studies 64,1 [2005], S. 7–34, hier S. 13). Gewissermaßen ist das ,Tosa nikki‘ selbst der erste überlieferte in Japan entstandene Text, der die genannten Kriterien der Tagebuchliteratur erfüllt. Es sei weiterhin angemerkt, dass dieser Verweis auf eine ,männliche‘ Textgattung das einzige Wort ist, das auf der ersten Manuskriptseite in chinesischen Schriftzeichen geschrieben ist (nikki 日記) – abgesehen von der später zwischen den Zeilen ergänzten Angabe des Zeitraumes, in dem Ki no Tsurayuki als Provinzgouverneur tätig war. Selbst der Tag des Monats ist – anders als in Datumsangaben, wie sie sich auch vor den nachfolgenden Einträgen finden, sonst üblich – in Silbenschrift geschrieben und stellt eher eine Zählung als ein festes Datum dar (siehe Anm. 126). 59 Als Monat der ,rennenden Mönche‘ (shiwasu) ist der zwölfte Monat des Mondkalenders bekannt. Die ,Stunde des Hundes‘ (inu no toki) bezeichnet in etwa den Zeitraum zwischen sieben und neun Uhr abends. 60 Das große Interesse an der angenommenen Ich-Erzählerin scheint dazu geführt zu haben, dass dies bislang übersehen wurde. Häufig wird hingegen ausgeführt, dass das um 1060 von der Tochter des Sugawara no Takasue (jap. Sugawara no Takasue no musume 菅原孝標女, 1008–?) verfasste ,Sarashina nikki‘ 更級日記, das letzte der berühmten vier Frauentagebücher der Heian-Zeit, teilweise

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sprechen, vielleicht um sich zu trösten‘⁶¹ (1/18)⁶² sind zwar intern fokalisiert, belegen aber nicht, dass das Tagebuch in der ersten Person geschrieben ist. Die Anwesenheit der Erzählinstanz äußert sich in Evaluationen, Vermutungen, deiktischen Ausdrücken⁶³ und vereinzelten Honorifika.⁶⁴ Zudem gibt es neben der oben zitierten Einleitung drei Textstellen, bei denen beim Übersetzen in eine westliche Sprache Personalpronomen in Bezug auf die Erzählinstanz gewählt werden müssen: ,die chinesischen Gedichte kann [ich] hier nicht aufschreiben‘⁶⁵ (12/26); ,Außer diesen gab es noch viele, doch [ich] schreibe [sie] nicht auf‘⁶⁶ (1/9); ,sein Name, gleich wird [er mir wieder] einfallen‘⁶⁷ (1/7).

in der dritten Person gehalten sei, weil die Ich-Erzählerin am Anfang des ersten Satzes mit hito auf sich selbst referiert (siehe Gyobutsu Sarashina nikki, hrsg. v. Hashimoto Fumio, ND 3. Aufl. 2009 ¯ o, ¯ S. 5). Während Cranston zurückhaltend von „a tiny vestige of third-person narration“ spricht Toky (Cranston [Anm. 10], S. 109), beginnt laut Schamoni der Text „zunächst zwischen dritter und erster Person schwankend“ (Schamoni [Anm. 10], S. 74), und Müller führt aus, das Tagebuch sei zunächst in der dritten Person gehalten, „um dann in eine autodiegetische Erzählweise umzuschwenken“ (Müller 2015 [Anm. 4], S. 30, Anm. 8). Da sich der erste Teilsatz des ,Sarashina nikki‘ als allgemeine Feststellung lesen lässt, scheint dies überzogen. Schamoni selbst übersetzt: „Wie provinziell muß jemand [hito], die noch jenseits des Endes des Ostlandweges aufgewachsen ist, gewesen sein, aber, wie mag ich wohl [. . . ]“ (Schamoni [Anm. 10], S. 74). Vgl. auch die Neuübersetzung von Sonja Arntzen: „As a girl [hito] raised in the back of beyond, even farther than the end of the road to the East Country, how rustic and odd I must have been.“ (Sugawara no Takasue no Musume, The Sarashina Diary. A Woman’s Life in Eleventh-Century Japan [Translations from the Asian Classics], übers. v. Sonja Arntzen u. Ito¯ Moriyuki, New York 2014, S. 90). Von den Übersetzungen ausgehend, würde man wohl kaum argumentieren, dass hier ein Wechsel der grammatischen Person in Bezug auf die Protagonistin vorläge. Streng genommen würde, von der Argumentation Schamonis und Müllers ausgehend, auch der Beginn des ,Tosa nikki‘ in der dritten Person geschrieben sein, da das Subjekt kein personales Demonstrativum, sondern das Substantiv omuna (,Frau‘) ist. Hier übersetzt aber auch Schamoni in der ersten Person „Ich will als Frau [. . . ]“ (Schamoni [Anm. 10], S. 69) und befindet sich damit im Einklang mit den anderen Übersetzungen. Dass trotz der Überkommentierung der Stelle im ,Sarashina nikki‘ die Ähnlichkeit im ,Tosa nikki‘ übersehen wurde, belegt die Faszination für seine vermeintliche Ich-Erzählerin. 61 Otoko-dochi wa, kokoro-yari ni ya aramu, karauta nado iu beshi. Eiin-bon Tosa nikki (Anm. 57), S. 54; Hasegawa u. a. (Anm. 45), S. 16. 62 Der 18. Tag des ersten Monats nach dem Mondkalender. Im Folgenden wird in Klammern in der japanischen Reihenfolge auf Monat und Tag der einzelnen Einträge verwiesen. 63 Besonders häufig tritt das Wort kyo¯ (,heute‘) auf, außerdem finden kino¯ (,gestern‘; 1/6, 1/14, 1/20, 1/24, 2/1, 2/3), koyoi (,heute Abend‘; 12/27, 1/8, 2/8, 2/9, 2/16), kesa (,heute Morgen‘; 1/28) und yonbe (,gestern Abend‘; 1/22) Verwendung. 64 Eine Untersuchung der honorativen Ausdrücke, die im Prosatext außerhalb wörtlicher Rede auftreten – insgesamt sieben Stellen –, findet sich in Takei (Anm. 56), S. 182–181. 65 Karauta wa, kore ni e-kakazu. Eiin-bon Tosa nikki (Anm. 57), S. 21; Hasegawa u. a. (Anm. 45), S. 4. ¯ 66 Kore narazu okaredomo, kakazu. Eiin-bon Tosa nikki (Anm. 57), S. 42; Hasegawa u. a. (Anm. 45), S. 12. 67 [. . . ] sono na nado zo ya, ima omoi-idemu. Eiin-bon Tosa nikki (Anm. 57), S. 33; Hasegawa u. a. (Anm. 45), S. 9.

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Schwieriger wird es auf der Ebene der histoire. Bei den Auszügen aus dem ,Kagero¯ ¯ hoshi ¯ ¯ ist das Subjekt in den Sätzen, in denen es ungenannt nikki‘ und dem ,Zoki shu‘ bleibt, leicht als das Erzähler-Ich zu identifizieren. Während die Wahl der grammatischen Person hier in erster Linie einen stilistischen Unterschied macht, kommt es im ,Tosa nikki‘ je nach Interpretation zu zahllosen inhaltlichen Verschiebungen. Als kurzes Beispiel mag der Satz Yoru wa i mo nezu (1/20)⁶⁸ dienen. Olbricht übersetzt „Er konnte keinen Schlaf finden“,⁶⁹ was Porters Übertragung von 1912 entspricht.⁷⁰ McCullough wählt die dritte Person Plural,⁷¹ wohingegen Kikuchi in seiner modernsprachlichen Übersetzung kein Subjekt nennt,⁷² damit jedoch impliziert, dass der Satz auf das Erzähler-Ich zu beziehen ist, so wie ihn auch Miner versteht.⁷³ Es kann als eine Besonderheit des ,Tosa nikki‘ gelten, dass die Instanz ,Figur‘ nur sehr schwach ausgeprägt ist. Nicht nur werden Figuren kaum charakterisiert, sie lassen sich oft gar nicht voneinander unterscheiden. Symptomatisch hierfür ist der Ausdruck aru hito (,eine gewisse Person‘), mit dem nicht nur der ehemalige Gouverneur, sondern auch zahlreiche weitere Figuren bezeichnet werden. Higashihara Nobuaki zufolge verhindert der Ausdruck, dass sich der Leser eine einheitliche Figur vorstellt.⁷⁴ Auch ¯ hoshi ¯ ¯ treten die Figuren bis auf einige Ausnahmen als ,ein Bekannter‘ im ,Zoki shu‘ (shiritaru hito), ,eine gewisse Person‘ (aru hito), ,jemand‘ (hito) oder ,die Leute‘ (hitobito) auf.⁷⁵ Der Ausdruck aru hito im ,Tosa nikki‘ wird mitunter auch so verstanden, dass er in seiner Anonymität das Kollektiv der Reisenden repräsentiert.⁷⁶ Da sich zudem oft gar kein Subjekt findet, können die beschriebenen Handlungen auch auf die Gruppe bezogen werden. Die Erzählinstanz nimmt dann eine beobachtende Funktion ein, indem sie die Eindrücke der Reisegemeinschaft aufzeichnet.⁷⁷ Aufgrund dieser Schemenhaftigkeit der Figuren, die oft nur vereinzelt auftreten, um Gedichte zu sprechen, führt Kikuchi Yasuhiko die Erzähltechnik des ,Tosa nikki‘ ¯ auf sogenannte ,Wandschirmgedichte‘ (byobu-uta 屏風歌) zurück, durch die sich die

68 Eiin-bon Tosa nikki (Anm. 57), S. 57; Hasegawa u. a. (Anm. 45), S. 17. 69 Ki no Tsurayuki, Elegische Heimreise. Ein japanisches Tagebuch aus dem Jahre 935, übers. v. Peter Olbricht (Insel-Bücherei Nr. 1222), Frankfurt a. M., Leipzig 2001, S. 29. 70 Vgl. Ki no Tsurayuki, The Tosa Diary. Bilingual Edition, übers. v. William N. Porter, Boston, Rutland/Vermont, Tokyo 2005, S. 57. ¯ The First Imperial Anthology of Japanese Poetry, 71 Vgl. Helen Craig McCullough, Kokin Wakashu. Stanford 1985, S. 276. 72 Vgl. Tosa nikki, hrsg. u. übers. v. Kikuchi Yasuhiko, in: ders. u. a. (Hgg.), Tosa nikki, Kagero¯ nikki ¯ o¯ 1995, S. 9–57, hier S. 33. (Shinpen Nihon koten bungaku zenshu¯ 13), Toky 73 Vgl. Earl Miner, Japanese Poetic Diaries, Berkeley, Los Angeles 1969, S. 73. 74 Vgl. Higashihara u. Waller (Anm. 5), S. 8 f., 17, 138–137, 126; Higashihara Nobuaki, Tosa nikki ¯ ¯ o¯ 2015, S. 254 f., 259; vgl. auch kyoko-ron. Shoki sanbun bungaku no seisei to kokufu¯ bunka, Toky Kikuchi Yasuhiko, Kaisetsu, in: ders. u. a. (Anm. 72), S. 59–80, hier S. 67. 75 Vgl. Hayashi (Anm. 30), S. 38. 76 Vgl. Hijikata (Anm. 8), S. 141, Anm. 3. 77 Siehe etwa Hijikata (Anm. 8), S. 127.

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auf dem Wandschirm dargestellten Figuren mitteilen. Ki no Tsurayuki ist dafür bekannt, solche Gedichte geschrieben zu haben. Der Einfluss der abstrakten Wandschirmmalerei zeige sich auch an den kargen Landschaftsbeschreibungen im ,Tosa nikki‘.⁷⁸ Dass der heimkehrende Höfling, der den Autor Ki no Tsurayuki verkörpert und an einigen Stellen als talentierter, an anderen hingegen als ungeschickter Dichter beschrieben wird,⁷⁹ keine nachvollziehbare Figur darstellt, begründet Kikuchi damit, dass es Tsurayuki nicht darum gegangen sei, sich selbst als fiktive Figur in das Werk zu bringen, sondern nur darum, was für die einzelne Szene passend sei.⁸⁰ Der geringe Grad der Spezifizierung hinsichtlich der Figuren rückt das ,Tosa nikki‘ in die Nähe der Lyrik. Higashihara weist zudem darauf hin, dass in den Handschriften – anders als in modernen Editionen – die Gedichte nicht von der Prosa abgesetzt sind. Die Gedichte mit einem Zeilenumbruch zu markieren, sei für monogatari und nikki wohl erst mit der Editionstätigkeit Fujiwara no Teikas 藤原定家 (1162–1241) üblich geworden.⁸¹ Wendet man die für eine narratologische Analyse notwendige Unterscheidung zwischen erzählendem und erzähltem Ich – den Instanzen Erzähler und Figur entsprechend – auf das ,Tosa nikki‘ an, fällt auf, dass das vermeintliche frühere Ich an keiner Stelle explizit erzählt wird. Hier wird daher der Begriff ,erlebendes Ich‘ bevorzugt, um die Beobachterrolle zu betonen.⁸² Alle Informationen, die sich zum erlebenden Ich finden, sind hypothetischer Natur (Yoru wa i mo nezu könnte bedeuten, dass das frühere Ich nicht schlafen konnte, könnte sich aber auch auf andere Figuren beziehen) bzw. Schlussfolgerungen, die aus der Erzählinstanz resultieren. Denn die allgemeine Annahme, dass es sich beim erlebenden Ich um eine Frau in der Entourage des ehemaligen Provinzgouverneurs handelt, basiert lediglich auf der zitierten Einleitung des Tagebuchs, dem scheinbaren Unvermögen, chinesische Gedichte zu notieren,⁸³ sowie darauf, dass der Provinzgouverneur als Dritter (oder ,in der dritten Person‘) 78 Vgl. Kikuchi (Anm. 72), S. 67 f. Zu dem Einfluss von Wandschirmgedichten auf Tsurayukis Schaffen ¯ 2009. Siehe außerdem Hasegawa Masaharu, als Dichter siehe Kanda Tatsumi, Ki no Tsurayuki, Kyoto ¯ Tosa nikki. Sono hyogen sekai, in: ders. u. a. (Anm. 45), S. 497–514, hier S. 500 f. 79 Vgl. Higashihara u. Waller (Anm. 5), S. 11, 134; Higashihara (Anm. 74), S. 258. 80 Vgl. Kikuchi (Anm. 72), S. 67. 81 Vgl. Higashihara (Anm. 74), S. 188 f. 82 Zu den Begriffen ,erzählendes Ich‘ und ,erzähltes Ich‘ vgl. Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, 3. Aufl. Berlin, Boston 2014, S. 82. Schmid zieht dem Ausdruck ,erlebendes Ich‘ die Bezeichnung ,erzähltes Ich‘ vor, da sie funktional statt psychologisch bestimmt ist. 83 Von diesem scheinbaren Unvermögen auf eine weibliche Erzählerin zu schließen ist indes nicht unproblematisch. Es ist mittlerweile bekannt, dass auch weibliche Angehörige des Adels mit der chinesischen Schriftsprache teilweise vertraut waren. Zudem konnten Frauen Land besitzen und erben, was mit in Schriftchinesisch verfassten Urkunden verbunden war (vgl. Yoda Tomiko, Gender and National Literature. Heian Texts in the Constructions of Japanese Modernity, Durham, London 2004, S. 103, 105 f.). Die Annahme, dass Frauen Unkenntnis des Chinesischen vortäuschen und ihr Wissen nicht zur Schau stellen sollten, stützt sich hauptsächlich auf Beschreibungen aus dem ,Murasaki Shikibu nikki‘ 紫式部日記 (,Tagebuch der Murasaki Shikibu‘, 1008–1010) (siehe Ito¯ Hiroshis Edition

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beschrieben wird – all dies ist Teil des discours und kann streng genommen nur auf das erzählende Ich bezogen werden. Wenn man den Text als sprachliche Erzählung betrachtet, wird das erlebende Ich erst durch den Leser konstruiert. Die Annahme einer Figur folgt Genre-Konventionen,⁸⁴ da von einem Tagebuch erwartet wird, dass der Erzähler eigene Erlebnisse schildert. Die Fokalisierung auf die Erzählinstanz zu Beginn des Tagebuchs dürfte für die meisten Rezipienten eine weitere (figurale) interne Fokalisierung in Aussicht stellen, da zwischen erzählendem und erlebendem Ich oft nicht differenziert wird.⁸⁵ Für sich betrachtet sind viele der Tagebucheinträge extern fokalisiert, von einer solchen impliziten Figur ausgehend erscheinen sie jedoch intern fokalisiert – selbst wenn es sich dabei zuweilen um eine „schwache interne Fokalisierung“⁸⁶ handelt. Da die Figur nie von außen dargestellt und nicht benannt wird, liegt in vielen Fällen eine solche innere Fokalisierung vor, wie sie Genette „im strengeren Sinne des Wortes“⁸⁷ definiert. Alain Robbe-Grillets ,La Jalousie‘ (1957),⁸⁸ die Genette als Beispiel hierfür nennt, hat mit dem ,Tosa nikki‘ gemein, dass der unsichtbaren, aber figura-

in Hasegawa u. a. [Anm. 45], S. 251–324, hier S. 309, 311, 314 f.; englische Übersetzung in The Diary of Lady Murasaki, übers. v. Richard Bowring, 18. Aufl. London 2005, S. 54 f., 57 f.). Diese Quelle ist jedoch mehr als siebzig Jahre nach dem ,Tosa nikki‘ entstanden, zu dessen Zeit vermutlich andere Konventionen herrschten (siehe hierzu auch Anm. 116). Es besteht die Gefahr eines Zirkelschlusses, wenn die Äußerung der Erzählinstanz, chinesische Gedichte nicht aufschreiben zu können, unter Rückbezug auf vermeintliche soziale Konventionen als Hinweis auf eine weibliche Erzählerin gesehen wird, da in Untersuchungen zu weiblichen und männlichen Formen von Schriftlichkeit im frühen 10. Jahrhundert das ,Tosa nikki‘ die wohl am häufigsten zitierte Quelle darstellt. 84 Zwar gab es im zehnten Jahrhundert wohl noch kein Bewusstsein für ein japanisches Tagebuchgenre (vgl. etwa Hijikata [Anm. 8], S. 270 f.), doch steht das ,Tosa nikki‘ im Kontext faktualer ,täglicher Aufzeichnungen‘ (siehe Anm. 58), bei denen ebenfalls nicht zwischen Autor, Erzähler und Protagonist unterschieden wurde. 85 Siehe auch Genette (Anm. 11), S. 131. Es wurde kritisiert, dass Genette bei Erzählungen in der ersten Person vom selben internen Fokalisierungstyp spreche wie bei solchen in der dritten Person, obwohl bei letzteren keine Erzählerkommentare erlaubt seien, wohingegen Genette bei der internen Fokalisierung in der ersten Person vom Wissensstand des erzählenden Ichs ausgehe (vgl. Eva Broman, Narratological Focalization Models – a Critical Survey, in: Göran Rossholm [Hg.], Essays on Fiction and Perspective, Bern u. a. 2004, S. 57–89, hier S. 68). In seinen Ausführungen zur ,Polymodalität‘ betont Genette jedoch, dass interne Fokalisierung bei autobiographischen Erzählungen äußerst selten sei und in diesem Kontext auch ,Paralipse‘ genannt werden könne (vgl. Genette [Anm. 11], S. 127). Vor diesem Hintergrund ist Müllers Einordnung der allermeisten klassischen und mittelalterlichen japanischen Frauentagebücher als intern fokalisiert problematisch (siehe Müller 2015 [Anm. 4], S. 30 f., 35–37), wo sie doch hervorhebt, dass die Erzählinstanz oft Vermutungen äußert (vgl. ebd., S. 45 f.). Da sich eine weitere Unterscheidung jedoch äußerst schwierig gestaltet, bleibe auch ich hier bei der Bezeichnung der internen Fokalisierung (siehe auch Anm. 104). 86 Tilmann Köppe u. Tom Kindt, Erzähltheorie. Eine Einführung, Stuttgart 2014, S. 214. 87 Genette (Anm. 11), S. 123. 88 In deutscher Übersetzung Die Jalousie oder Die Eifersucht, übers. v. Elmar Tophoven, ND Stuttgart 2013.

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len Fokalisierungsinstanz keine grammatische Person zugeordnet werden kann. Da zwischen grammatischer Form und Perspektive kein notwendiger Zusammenhang besteht, müssen japanische Rezipienten, selbst wenn sie gewisse Handlungen der Fokalisierungsinstanz zuschreiben, sich nicht zwangsläufig zwischen einer Erzählung in der ersten oder einer in der dritten Person entscheiden. Im ,Tosa nikki‘ wird die Figur, anders als in ,La Jalousie‘, nicht aus ihrer fokalen Position deduziert,⁸⁹ sondern aus der Erzählstimme, aufgrund deren wiederum die Fokalisierung erst vermutet wird. Erzählstimme und Perspektive lassen sich im ,Tosa nikki‘ daher nicht unabhängig voneinander betrachten. Zwar kritisiert Genette in seinem „Diskurs der Erzählung“ frühere Theorien zur Erzählperspektive dafür, dass sie Modus (Perspektive) und Stimme (Erzähler) bzw. die Fragen ,Wer sieht?‘ und ,Wer spricht?‘ vermengten,⁹⁰ doch auch in seiner eigenen Typologie wird die Perspektive bzw. Fokalisierung durch das Wissen des Erzählers bedingt.⁹¹ Eva Broman schreibt daher, dass die Trennung von Modus und Stimme ebenso irreführend sei wie ihre Vermengung.⁹² Konstruiert man erst aufgrund der literarischen Konventionen des Tagebuches ein erlebendes Ich, fällt auch seine Abgrenzung zum erzählenden Ich schwer. Evaluationen und Vermutungen lassen sich oft nicht mit Bestimmtheit einer Instanz zuweisen. Die dubitativen Verbalsuffixe -mu und beshi im oben zitierten Satz ,Die Männer schienen chinesische Gedichte zu sprechen, vielleicht um sich zu trösten‘ lassen sich sowohl dem erzählenden Ich als auch dem erlebenden Ich zuschreiben. Die semantische Auffälligkeit, dass oft explizit von ,Männern‘ die Rede ist, wenn es um chinesische Dichtung geht,⁹³ sowie der Fokus auf Frauen an anderer Stelle⁹⁴ lassen sich in Wolf Schmids Terminologie der ,perzeptiven‘ Perspektive zurechnen, welche die Auswahl des Erzählten organisiert.⁹⁵ Doch obwohl dieser Parameter seines fünfstufigen Modells der Perspektive hier eindeutig vorliegt, lässt er sich weder als narratorial noch als figural

89 Vgl. Genette (Anm. 11), S. 123. 90 Vgl. ebd., S. 119 f. 91 Vgl. ebd., S. 120 f. Siehe auch Broman (Anm. 85), S. 61 f.; Wolf Schmid, Perspektive, in: Matías Martínez (Hg.), Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart, Weimar 2011, S. 138–145, hier S. 142. Die scheinbare Trennung zwischen Modus und Stimme führte zur großen Beliebtheit Genettes Typologie der Fokalisierung (vgl. ebd.). Auch in neueren Publikationen findet sich noch die Annahme, dass der Erzähler keinen Einfluss auf die Fokalisierung nehme (so etwa bei Köppe u. Kindt [Anm. 86], S. 218). 92 Broman (Anm. 85), S. 80. 93 1/18, 1/27. Zudem findet sich in 1/20 die Bezeichnung ,Männerschriftzeichen‘ (otoko-moji) für die chinesische Schrift, und in 1/17 wird ein chinesischer Dichter mit ,früher ein Mann‘ (mukashi no otoko) umschrieben – bei einem männlichen Erzähler wäre hier wohl eher das geschlechtsneutrale hito zu erwarten. 94 1/13, 1/26. 95 Vgl. Schmid (Anm. 91), S. 126 f.; Schmid (Anm. 91), S. 140 f. Schmid unterscheidet zwischen perzeptiver, ideologischer, zeitlicher, räumlicher und sprachlicher Perspektive.

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bestimmen.⁹⁶ Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass sich in der bisherigen Forschung zu Tsurayukis Text zwar vereinzelt die grundlegende Unterscheidung von erzählendem und erlebendem Ich findet, diese Differenzierung in Detailanalysen aber kaum aufgegriffen wird.⁹⁷

3.2 Interpretationen von Perspektive im ,Tosa nikki‘ In ihrer struktural-narratologischen Klassifizierung japanischer Frauentagebücher der Heian- und Kamakura-Zeit (1185–1333) schreibt Müller dem ,Tosa nikki‘ – als einzigem Werk neben dem ,Izumi Shikibu nikki‘ 和泉式部日記 (,Tagebuch der Izumi Shikibu‘, um 1007) – nicht eine bloß interne, sondern eine variable interne Fokalisierung zu,⁹⁸ was sie an Gedankendarstellungen des heimkehrenden Gouverneurs und dessen Frau festmacht.⁹⁹ Obwohl sich im ,Tosa nikki‘ tatsächlich Einträge finden lassen, die variabel intern fokalisiert sind (z. B. 1/18), lässt sich die abweichende Perspektive von einer weiblichen Erzählstimme ausgehend meist im Rahmen der Kompetenz der Erzählerin erklären. So könnte die Fokalisierung auf andere Figuren auf Inferenzen (oft aus dem Inhalt eines vorgetragenen Gedichts) oder zumindest hypothetisch auf Wissen zurückgehen, welches das Erzähler-Ich nach den berichteten Ereignissen durch Gespräche in Erfahrung gebracht haben könnte. Im Folgenden wird unter der vorläufigen Annahme einer durchgängigen weiblichen Erzählstimme untersucht, wie plausibel diese Möglichkeit der Interpretation im Einzelnen ist. Konishi versteht das ,Tosa nikki‘ als ein in der ersten Person verfasstes Werk mit beschränkter Perspektive, in dem die Erzählerin nur das schildert, was sie beobachtet,

96 Zur Unterscheidung figuraler und narratorialer Aspekte von Perspektive siehe Schmid (Anm. 91), S. 127 f., 132; Schmid (Anm. 91), S. 141. ¯ zwischen der ,Zeit des Schreibens‘ (shippitsu-ji) und der ,Zeit des 97 So differenziert Fukazawa Toru ¯ ¯ Erlebens‘ (taiken-ji; Fukazawa Toru, ,Tosa nikki‘ jiku-ron. Sono tassei to genkai, in: Nihon bungaku 32,6 [1983], S. 59–68, hier S. 62) sowie zwischen einem „Ich‘ als im Werk auftretende Figur‘ (sakuchu¯ ¯ o¯ jinbutsu to shite no ,watashi‘) und einem „Ich‘ als Autorsubjekt‘ (sakusha shutai to shite no ,watashi‘; toj ebd., S. 61). Mit letzterem ist die Erzählinstanz gemeint, da Fukazawa außerdem ausführt, dass das ,Autorsubjekt‘ innerhalb des Werkes konstruiert werde (vgl. ebd., S. 60). Hijikata deutet vereinzelt – wenn auch nicht in Bezug auf das ,Tosa nikki‘ – eine Unterscheidung von ,schreibendem ,Ich“ (kaite ¯ iru ,watashi‘) und ,objektiviertem ,Ich“ (taisho-ka sareta ,watashi‘; Hijikata [Anm. 8], S. 163) sowie ¯ von ,Autor (Ausdruckssubjekt)‘ (,sakusha (hyogen shutai)‘) und ,Autor (Erlebnissubjekt)‘ (,sakusha (taiken shutai)‘; ebd., S. 269) an, wovon die letzteren zwei dem Begriffspaar Erzähler/Figur entsprechen würden. 98 Vgl. Müller 2015 (Anm. 4), S. 30 f., 35–37. Zum ,Izumi Shikibu nikki‘ findet sich zudem der Vermerk „Polymodalität“. Siehe hierzu auch ebd., S. 46 f. sowie Müller 2009 (Anm. 4), S. 532. 99 Vgl. Müller 2015 (Anm. 4), S. 47.

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während ihr die Gedanken der anderen Figuren verschlossen bleiben.¹⁰⁰ Die einzige Abweichung sei folgende Passage (1/9):¹⁰¹ Kore yori ima wa kogi-hanarete yuku. Kore o mi-okuramu tote zo, kono hito-domo wa oi-kikeru. ¯ narinu. Fune no Kakute kogi-yuku manima ni, umi no hotori ni t o m a r e r u h i t o mo toku hito mo miezu narinu. Kishi ni mo iu koto aru beshi. Fune ni mo omou koto aredo, kai nashi.¹⁰² Wir ruderten jetzt von hier weg. Diese Leute folgten uns, um uns nachzusehen. Während wir wegruderten, rückten die am Strand Zurückbleibenden in die Ferne. Auch die Leute auf dem Schiff konnten bald nicht mehr erkannt werden. Am Ufer gab es gewiss Dinge, die gesagt wurden. Und obwohl es auch auf dem Schiff Dinge gab, die gedacht wurden, hatte es keinen Zweck.

Es ist auffällig, dass hier wie bei den oben besprochenen Textstellen aus dem ,Kagero¯ nikki‘ von einer Parallelstruktur Gebrauch gemacht wird und von Abreisenden und ,Zurückbleibenden‘ (tomareru hito) die Rede ist, die beide als hito ,in der dritten Person‘ genannt werden. Es steht daher zu bezweifeln, dass der Autor hier einen Fehler gemacht hat und eine nennenswerte Überschreitung der eingeschränkten Perspektive vorliegt.¹⁰³ Doch obwohl sich keine Transgressionen der impliziten internen Fokalisierung¹⁰⁴ nachweisen lassen, finden sich Passagen, bei denen auch von einer Nullfokalisierung ausgegangen werden könnte. Als Beispiel soll die zweite Hälfte des Eintrages zum elften Tag des ersten Monats dienen. Als die Reisegruppe an den Ort Hane kommt, dessen Name ,Flügel‘ bedeutet, fragt ein kleines Mädchen, ob dieser auch wie der Flügel eines Vogels aussehe. Nachdem sie sich in einem Gedicht wünscht, in die Hauptstadt fliegen zu können, lautet der hier zunächst unter Annahme einer internen Fokalisierung¹⁰⁵ übersetzte Text wie folgt: Otoko mo omuna mo, ika de toku kyo¯ e moga na, to omou kokoro areba, kono uta yoshi to ni wa aranedo, ge ni, to omoite, hitobito wasurezu. Kono hane to iu tokoro tou warawa no tsuide ni zo, mata mukashie-bito o omoi-idete, izure no toki ni ka wasururu. Kyo¯ wa mashite haha no kanashigararuru koto wa. Kudarishi toki no hito no kazu taraneba, furu-uta ni, ,kazu wa tarade zo / kaeru beranaru‘ to iu koto o omoi-idete, hito no yomeru,

100 Vgl. Konishi (Anm. 18), S. 284 f. 101 Vgl. ebd., S. 288. ¯ 102 Eiin-bon Tosa nikki (Anm. 57), S. 39; Hasegawa u. a. (Anm. 45), S. 10 f. Das Verbalsuffix -nu in toku narinu ist hier ergänzt, da es sich außer im Seikei-shooku-Manuskript und der ihm zugrunde liegenden Tameie-Handschrift in allen Überlieferungszeugen findet. 103 Diese Argumentation findet sich bei Konishi (Anm. 18), S. 288. 104 Da sich im ,Tosa nikki‘ zwischen narratorialer und figuraler Perspektive oft nicht unterscheiden lässt, bleibe ich der Einfachheit halber bei dem Ausdruck ,intern fokalisiert‘ – auch wenn eigentlich weiter differenziert werden müsste (siehe Anm. 85) – und schließe darin sowohl die narratoriale Fokalisierung durch das erzählende Ich als auch die figurale Fokalisierung durch das erlebende Ich ein. 105 Auf diese Weise interpretiert auch Hagitani Boku in seinem umfangreichen Kommentarwerk die Passage. Vgl. seine modernsprachliche Übersetzung in Hagitani (Anm. 8), S. 181.

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¯ / omoi ni masaru / omoi naki kana Yo no naka ni / omoi-yaredomo / ko o koru to iitsutsu namu.¹⁰⁶ Weil sowohl die Männer als auch die Frauen sich wünschten, möglichst rasch die Hauptstadt [zu erreichen], dachten sie, wiewohl dieses Gedicht nicht gut war: ,Wahrlich. . . ‘, und die Leute vergaßen es nicht. Bei diesem Kind, das nach dem Ort namens Hane [,Flügel‘] fragte, erinnerte ich mich wieder an das verstorbene Kind. Wann werde ich es je vergessen? Heute trauerte zudem die Mutter! Weil es nun weniger Menschen waren als zu der Zeit, zu der wir [aus der Hauptstadt] hinabgefahren waren, erinnerte sich jemand an das alte Gedicht ,sie scheinen heimzukehren / obwohl es nicht alle sind‘ und dichtete: In die Welt / ließ ich meine Gedanken schweifen / Doch größeren Kummer / als sich nach seinem Kind zu sehnen / solchen Kummer gibt es nicht! wiederholte [die Person].

Dass die Reisenden das Gedicht des Kindes nicht vergessen (wasurezu), scheint eine Information darzustellen, die das beschränkte Wissen der Erzählerin übersteigt. Von einer internen Fokalisierung ausgehend, wäre aber auch denkbar, dass hiermit gemeint ist, dass die Erwachsenen das mündlich vorgetragene Gedicht wiederholen, um es nicht zu vergessen. Im nächsten Satz ist unklar, wer an das in der Provinz Tosa verstorbene Mädchen erinnert wird. Es ließe sich ebenso als Innendarstellung in Bezug auf die im Folgenden genannte Mutter deuten,¹⁰⁷ die einen Trauertag zu begehen scheint. Dass man aus der Hauptstadt hinabfuhr (kudarishi), wird als persönliche Erinnerung berichtet, wie durch das Verbalsuffix -ki (hier in seiner Attributivform -shi) angezeigt ist. In der intern fokalisierten Übersetzung ist es der Ich-Erzählerin zugeschrieben, es könnte aber genauso gut auf die Mutter bezogen werden. Auch wer sich an das Gedicht erinnert, aus dem hier zwei Verse zitiert werden, geht nicht eindeutig aus dem Text hervor. Geht der Leser davon aus, dass zuvor die Erinnerung der Mutter wiedergegeben wird, nimmt er vermutlich an, dass auch ihr das Gedicht in den Sinn kommt. Die Nennung einer dichtenden Person (hito no yomeru) mag wiederum anschließend dazu veranlassen, nun die neu aufgetretene Figur als diejenige zu sehen, die sich an das alte Gedicht erinnert.¹⁰⁸ Bei einer durchgehaltenen internen Fokalisierung müsste das

106 Eiin-bon Tosa nikki (Anm. 57), S. 45 f.; Hasegawa u. a. (Anm. 45), S. 12 f. 107 So bei Takei (Anm. 56), S. 181. Die Gedankendarstellung wird mitunter auch auf Tsurayuki bzw. seine fiktive Entsprechung bezogen. So etwa bei Shimizu (Anm. 56), S. 146, und in Olbrichts Übersetzung in Ki no Tsurayuki (Anm. 69), S. 24. ¯ 古今和 108 Das Gedicht eines anonymen Autors findet sich in der neunten Rolle des ,Kokin waka shu‘ 歌集 (,Anthologie japanischer Gedichte aus alter und neuer Zeit‘, 905), an dessen Kompilation Ki no Tsurayuki maßgeblich beteiligt war. Das volle Gedicht lautet: Kita e yuku / kari zo naku naru / Tsurete koshi / kazu wa tarade zo / kaeru beranaru, ,Ich höre sie schreien / die nach Norden fliegenden Gänse / Die Herannahenden / scheinen heimzukehren / obwohl es nicht alle sind‘. Transliteriert nach Suzuki u. a. (Anm. 5), S. 68, Anm. 44. Das Rufen von Tieren und Weinen sind Homonyme (naku). Naku naru kann zudem nicht nur ,rufen hören‘, sondern auch ,verschwinden‘ oder ,sterben‘ bedeuten. Aufgrund der angedeuteten Trauer um die nicht mehr gemeinsam zurückkehrenden Gefährten ist der Ausdruck hier mit ,schreien hören‘ übersetzt.

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Erzähler-Ich in einem späteren Gespräch davon erfahren haben, denn aus dem rezitierten Gedicht selbst lässt sich der Bezug zum alten Gedicht nicht ableiten. Weiterhin kann aber auch nicht ausgeschlossen werden, dass das Erzähler-Ich selbst an das alte Gedicht denkt. Eine auf die Mutter fokalisierte Übersetzung des mittleren Teiles der oben zitierten Passage lautet wie folgt: Bei diesem Kind, das nach dem Ort namens Hane [,Flügel‘] fragte, erinnerte sie sich wieder an das verstorbene Kind. Wann würde sie es je vergessen? Weil die Mutter heute zudem darüber trauerte,¹⁰⁹ dass es nun weniger Menschen waren als zu der Zeit, zu der sie [aus der Hauptstadt] hinabgefahren waren, erinnerte sie sich an das alte Gedicht ,sie scheinen heimzukehren / obwohl es nicht alle sind‘, und jemand dichtete:

Earl Miner scheint die Fokalisierung durch die Mutter so stark zu sein, dass er sie mit dem Erzähler-Ich identifiziert, obwohl sie auch an anderer Stelle ,in der dritten Person‘ genannt und ihr gegenüber ein honorativer Ausdruck gebraucht wird.¹¹⁰ In seiner vereinheitlichenden Übersetzung übersetzt er nicht nur haha (,Mutter‘) mit ,ich‘, sondern auch hito (,jemand‘, ,eine Person‘).¹¹¹ Möglicherweise orientiert er sich hierbei an Prosaabschnitten in Gedichtsammlungen, die häufiger ,in der dritten Person‘ verfasst sind und stellenweise Ähnlichkeiten mit der Tagebuchliteratur aufweisen.¹¹² Wie die zitierte Passage zeigt, lassen sich einige Stellen mit Genette als ,Paralepsen‘ bezeichnen, womit Wechsel der Perspektive gemeint sind, welche die Kompetenz des Erzählers überschreiten und durch die mehr Informationen vermittelt werden, „als der Fokalisierungscode, der das Ganze beherrscht, an sich gestattet.“¹¹³ Dies trifft besonders auf jene Textabschnitte zu, welche die Trauer um das verstorbene Kind thematisieren und Gedanken oder Gefühle der Eltern wiedergeben. Aufgrund der sprachlichen Unbestimmtheit des Textes lässt sich zwar eine durchgängige interne Fokalisierung nicht widerlegen, da sich scheinbare Transgressionen der Perspektive durch den unterschiedlichen Wissensstand von erlebendem und erzählendem Ich erklären lassen. Das entsprechende Wissen müsste allerdings noch am selben Tag ¯ verwendet erlangt werden, da die Erzählerin deiktische Ausdrücke wie ,heute‘ (kyo) (siehe Anm. 63). Im Einzelfall erscheint es schlüssiger, von einer Paralepse auszugehen.

109 Diese Variante folgt den Lesungen, welche wa in kanashigararuru koto wa nicht als den Satz abschließende finale, sondern als korrelative Postposition verstehen. Siehe Hagitani (Anm. 8), S. 184 f.; Kikuchi u. a. (Anm. 72), S. 28, Anm. 10. 110 Takei schließt daher aus, dass sie die Erzählerin sei (vgl. Takei [Anm. 56], S. 183, 181–179; ebenso Hasegawa u. a. [Anm. 45], S. 12, Anm. 15; Kikuchi u. a. [Anm. 72], S. 28, Anm. 8). Das erwähnte Honorifikum ist das Verbalsuffix -ru im oben transliterierten kanashigararuru (dort in der Attributivform -ruru). 111 Siehe Miner (Anm. 73), S. 69. Auch auf S. 87 übersetzt Miner haha mit „I“, auf S. 83 mukashie-bito no haha (,die Mutter der Verstorbenen‘) mit „one like myself, the mother of a dead girl“. 112 Siehe Cranston (Anm. 10), S. 105 f.; Konishi (Anm. 18), S. 254 f.; Hijikata (Anm. 8), S. 146–148, 166–168. 113 Genette (Anm. 11), S. 125.

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Obwohl die Gedankendarstellungen die Kompetenz der Erzählerin überschreiten mögen, lassen sich solche Paralepsen keineswegs als ,illegitim‘ bezeichnen, wie es Dan Shen in Bezug auf Sherwood Andersons Kurzgeschichte ,The Egg‘ (1920) in Abgrenzung zur ,legitimen‘ variablen Fokalisierung tut.¹¹⁴ Das ,Tosa nikki‘ gilt als das erste Werk der ab den 1920er Jahren¹¹⁵ als ,Tagebuchliteratur‘ (nikki bungaku) bekannten Textgattung und stellt einen der ersten längeren Prosatexte in japanischen Silbenzeichen dar. Es ist nicht davon auszugehen, dass bereits im zehnten Jahrhundert normative Erzählkonventionen existierten, gegen die das ,Tosa nikki‘ verstoßen hätte. Es ließe sich wohl auch argumentieren, dass Tsurayukis Autorschaft das zusätzliche Wissen der Erzählerin ,legitimiere‘. Es finden sich intratextuelle Hinweise auf den Autor – etwa wenn die Erzählerin Kritik am Provinzgouverneur äußert oder sich über ihn lustig macht (12/23, 12/26, 1/14, 2/1, 2/7) –, und der Stil weist keine besonderen weiblichen Merkmale auf.¹¹⁶ Insofern scheint es möglich, in Bezug auf das ,Tosa nikki‘ Genettes Begriff der ,Polymodalität‘ aufzugreifen, da es einerseits gegen die interne Fokalisierung der Tagebuchliteratur zu verstoßen scheint, sich andererseits aber auch als System ohne „herrschenden Code“¹¹⁷ verstehen lässt.

114 Vgl. Dan Shen, Breaking Conventional Barriers. Transgressions of Modes of Focalization, in: Willie van Peer u. Seymour Chatman (Hgg.), New Perspectives on Narrative Perspective, Albany/New York 2001, S. 159–172, hier S. 168 f., 172. 115 Siehe hierzu Tomi Suzuki, Gender and Genre. Modern Literary Histories and Women’s Diary Literature, in: Haruo Shirane u. dies. (Hgg.), Inventing the Classics. Modernity, National Identity, and Japanese Literature, Stanford 2000, S. 71–95, hier S. 83; Hijikata (Anm. 8), S. 174. 116 Vgl. Shimizu (Anm. 56), S. 145; Keene (Anm. 44), S. 21. Zwar geht vor allem Lynne K. Miyake davon aus, dass Weiblichkeit bereits allein durch die Silbenschrift konstituiert wird (vgl. Miyake [Anm. 29], S. 43 f., 47, 53, 57, 59, 61 f.). Tatsächlich ist jedoch nicht klar, inwieweit zur Entstehungszeit des ,Tosa nikki‘ die Silbenschriftzeichen wirklich als weiblich galten (auch Miyake relativiert diese Auffassung in einer Anmerkung; siehe ebd., S. 66 f., Anm. 5). Die Opposition zwischen japanischen Texten in der ,Hand der Frau‘ (onna-de 女手) und chinesischen in der ,Hand des Mannes‘ (otoko-de 男手) (s. ebd., S. 43, 47, 51) basiert auf Befunden aus späterer Zeit. So finden sich die ersten Erwähnungen des Wortes onna-de im ,Kagero¯ nikki‘ (971–975) und im ,Utsuho monogatari‘ うつほ物語 (,Erzählung von der Höhle‘, ca. 970–999), die erste des Ausdrucks otoko-de im ,Utsuho monogatari‘ (vgl. Nihon ¯ o¯ 2007, Online-Zugriff über die Datenbank JapanKnowledge). Der früheste Beleg kokugo daijiten, Toky für das von Keene (Anm. 44), S. 21 verwendete onna-moji (,Frauenschriftzeichen‘) findet sich sogar erst 1703 – dort in Bezug auf das ,Tosa nikki‘ (vgl. Nihon kokugo daijiten; zur These, Tsurayuki habe ein Schriftzeichen vergessen und omuna mo shite anstatt omuna-moji shite geschrieben, siehe Shimizu [Anm. 56], S. 138–141, 147 f.). Zudem ist nicht schlüssig, weshalb sich in der Silbenschrift die Präsenz der Erzählerin zeigen sollte, „even if the content, perspective, and narrating voice at that time is male“ (Miyake [Anm. 29], S. 44), wo Ki no Tsurayuki doch die erste japanische Poetologie in Silbenschrift ¯ (siehe Anm. 108), in dem verfasst hat, das japanische Vorwort (kana-jo 仮名序) zum ,Kokin waka shu‘ Gedichte von Frauen nur am Rande behandelt werden. Gustav Heldt betont, dass Kenntnisse der chinesischen Schrift weniger durch das Geschlecht als durch soziale Stellung bedingt gewesen seien (vgl. Heldt [Anm. 58], S. 7, 9 f.). 117 Genette (Anm. 11), S. 134.

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Dass sich die Abschnitte zur verlorenen Tochter hinsichtlich der Erzählperspektive durch vermehrte Innendarstellung auszeichnen, was in einer hohen emotionalen Intensität resultiert, zeigt, wie zentral diese Abschnitte innerhalb des Werkes sind. Obwohl historisch nicht belegt werden kann, dass Tsurayuki eine Tochter gehabt hatte, mag die hier gegebene Analyse der Perspektive dafür sprechen, dass das Wissen der Erzählerin um die realen Gefühle des Elternpaares erweitert wurde.

3.3 Die Erzählstimme unter Berücksichtigung des Produktionsprozesses Wie in den anderen vorliegenden wissenschaftlichen Arbeiten wurde auch in diesem Aufsatz das ,Tosa nikki‘ bisher als ein zusammenhängender Text betrachtet. Abschließend soll kurz umrissen werden, welche Implikationen im Hinblick auf die Erzählstimme sich zudem aus seinem Produktionsprozess ergeben. Die Annahme, dass es sich bei der Erzählinstanz um eine Frau handelt, stützt sich ausschließlich auf die Einleitung, die nicht aufgeschriebenen chinesischen Gedichte sowie darauf, dass in Bezug auf chinesische Gedichte oft explizit von Männern die Rede ist und an anderer Stelle Frauen und Kindern besondere Aufmerksamkeit zuteil wird. Die Diskussion um die weibliche Erzählstimme geht stets vom ersten Satz des Textes aus, der den einzigen klaren Hinweis auf das Geschlecht der Erzählinstanz gibt. ¯ Während sich in zahlreichen Tagebucheinträgen deiktische Ausdrücke wie ,heute‘ (kyo) finden, fällt die Einleitung durch die Angabe ,eines gewissen Jahres‘ (sore no toshi) aus dem Rahmen. Da Monate und Tage sowie Ortsnamen im Tagebuch genau bezeichnet sind, fällt es schwer zu glauben, dass die Einleitung tatsächlich am 21. Tag des zwölften ¯ Monats im Jahr Johei 4,¹¹⁸ dem Jahr, in dem Ki no Tsurayukis Amtszeit in Tosa endete, geschrieben worden sein soll. Ähnlich verhält es sich mit den zitierten Einleitungen ¯ hoshi ¯ ¯ des ,Kagero¯ nikki‘ und des ,Zoki shu‘.¹¹⁹ Es wird davon ausgegangen, dass die Fassung, in der das ,Tosa nikki‘ heute vorliegt, nur geringfügig von Tsurayukis nicht mehr erhaltener eigenhändiger Handschrift¹²⁰ abweicht. Moderne Editionen basieren in aller Regel auf der Seikei-shooku-Handschrift

¯ 118 Das Jahr Johei 4 entspricht größtenteils dem Jahr 934 nach dem gregorianischen Kalender, der 21. Tag des zwölften Monats fällt jedoch ins Jahr 935. 119 Es gilt als sicher, dass das Vorwort des ,Kagero¯ nikki‘ erst entstanden ist, nachdem bereits ein guter Teil des Tagebuchs niedergeschrieben war (vgl. Watanabe Minoru, Style and Point of View in the Kagero¯ nikki, übers. u. eingeleitet v. Richard Bowring, in: The Journal for Japanese Studies 10,2 [1984], S. 365–384, hier S. 368 f., 375; Hijikata [Anm. 8], S. 144, 163). Dies geht auch aus der Bemerkung hervor, dass es viele Ereignisse seien, ,die es [nun im Tagebuch] geben sollte‘ (arinu beki). Auch die ersten ¯ hoshi ¯ ¯ (,Wann es wohl war? Da gab es einen, [. . . ]‘) dürften wohl kaum unmittelbar Worte des ,Zoki shu‘ nach Reisebeginn geschrieben worden sein. 120 Während die Tameie- und die Seikei-shooku-Handschrift in fast quadratischen kleineren Heften (sog. masugata-bon 枡形本) vorliegen, schrieb Tsurayuki auf einer Schriftrolle ohne Achse (vgl. Hi-

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Abb. 1: Erste Seite der Seikei-shooku-Handschrift. Aus Eiin-bon Tosa nikki (Anm. 57), S. 17.

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青谿書屋本, die – auch hinsichtlich der Form der einzelnen Schriftzeichen – eine getreue Kopie von Fujiwara no Tameies 藤原為家 (1198–1275) Abschrift von Tsurayukis Manuskript darstellt.¹²¹ Nachdem die Tameie-Handschrift mit einem Kolophon aus dem Jahr Katei 2 (1236) lange Zeit als verschollen galt, wurde sie 1984 wiederentdeckt. Wie genau die Tameie- und Seikei-shooku-Handschriften Tsurayukis Schrift nachzeichnen, wird deutlich, wenn man sie mit dem Muster von Tsurayukis Handschrift vergleicht, das Fujiwara no Teika im Jahr Bunryaku 2 (1235) anfertigte, indem er die letzten 118 Zeichen des ,Tosa nikki‘ sorgfältig kopierte.¹²² In der Tameie-Handschrift markieren Zeilenumbrüche ausschließlich den Beginn neuer Tagebucheinträge, wobei es auch Einträge gibt, vor denen die Zeile bis zum unteren Seitenrand ausgeschrieben ist, sodass sie vom Schriftbild her nicht abgesetzt sind.¹²³ Es ist auffällig, dass der erste und der dritte Satz des Textes (siehe Transliteration und Übersetzung zu Beginn von Abschnitt 3.1) sich jeweils bis zum Ende einer Zeile erstrecken. Auf der abgebildeten ersten Seite der Seikei-shooku-Handschrift¹²⁴ handelt es sich hierbei um die zweite sowie die fünfte Zeile von rechts – man beachte, dass die spätere Notiz zur Dauer von Tsurayukis Einsatz als Provinzgouverneur zwischen der zweiten und dritten Zeile hier nicht mitgezählt ist. Es ist gut denkbar, dass Kikuchi das Schriftbild des Manuskripts berücksichtigt, wenn er in seiner Edition des ,Tosa nikki‘ die ersten drei Sätze als eigenständiges Vorwort präsentiert.¹²⁵ Da aber der zweite Satz wie die anderen Tagebucheinträge mit einer Datumsangabe beginnt,¹²⁶ könnte man auch hier den Beginn des ersten Tagebucheintrags sehen. Auch wenn man nicht gashihara [Anm. 74], S. 190 f.). Tsurayukis Manuskript ist Kolophonen späterer Abschriften zufolge mindestens noch bis zum Jahr Meio¯ 1 (1492) erhalten gewesen (vgl. Higashihara u. Waller [Anm. 5], S. 15, 128). 121 Hagitani zufolge machte der Urheber der Seikei-shooku-Fassung nur vier eigene Fehler (vgl. Hagitani Boku, Kaisetsu, in: Eiin-bon Tosa nikki [Anm. 57], S. 5–16, hier S. 12). Sogar eine von Tameie versehentlich freigelassene Doppelseite bleibt auch in der Seikei-shooku-Handschrift leer (vgl. ebd., S. 14). ¯ Ha-gyo¯ tenko-on ni kan shite, 122 Vgl. Kano Ritsuko, Nihon daigaku toshokan zo¯ ,Tosa nikki‘ no hyoki. in: Kokubungaku 91 (2007), S. 415–433, hier S. 415 f. Eine Gegenüberstellung der letzten Seiten der drei ¯ ¯ o¯ 1984, S. 8. Handschriften findet sich in Sorimachi Shigeo (Hg.), Kobuns o¯ keiai-sho zuroku 2, Toky 123 Dies ist bei 1/1 (siehe Eiin-bon Tosa nikki [Anm. 57], S. 28), 1/6 (ebd., S. 31), 1/16 (ebd., S. 50), 1/23 (ebd., S. 65) und 1/29 (ebd., S. 69 f.; hier liegt zusätzlich ein Seitenumbruch vor) der Fall. Zudem ist hinter den Zeilen vor 1/20 (ebd., S. 56) und 1/25 (ebd., S. 65) kaum mehr Platz freigelassen, als hinter dem ersten Satz des ,Tosa nikki‘. In den Zeilen vor 1/11 (ebd., S. 43) und 1/18 (ebd., S. 53) sind die letzten Schriftzeichen seitlich versetzt geschrieben, damit keine neue Zeile begonnen werden musste. 124 Die Tameie-Handschrift wurde bislang nicht vollständig als Faksimile veröffentlicht. Farbige Abbildungen einzelner Seiten finden sich in Sorimachi (Anm. 122), S. 3, 5–9 (die hier besprochene erste Seite auf S. 5). Dort sind jeweils auch die entsprechenden Seiten der Seikei-shooku-Fassung abgebildet, was die verblüffende Ähnlichkeit der Form der einzelnen Schriftzeichen demonstriert. 125 Siehe Tosa nikki (Anm. 72), S. 15. 126 Zwar setzen die anderen Einträge in der Art ,täglicher Aufzeichnungen‘ mit in chinesischen Schriftzeichen geschriebenen Zahlen ein, während der Tag im zweiten Satz in japanischer Weise gezählt wird und ungewöhnlicherweise doppelt von ,Tag‘ (hi) die Rede ist (hatsuka-amari-hitohi no hi, ,Am Tag einem

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wie Kikuchi davon ausgeht, dass die ersten drei Sätze ein Vorwort bilden, lässt sich zumindest der erste Satz, aufgrund dessen eine weibliche Erzählerin angenommen wird, als vom restlichen Tagebuch abgesetzter kurzer Paratext ,in der Art der dritten Person‘ lesen. Die Forschung geht allgemein davon aus, dass das ,Tosa nikki‘ erst nach Tsurayukis Rückkehr in die Hauptstadt entstanden ist, aber auf Aufzeichnungen basiert, die Tsurayuki schon während der Reise gemacht hatte.¹²⁷ Es ist durchaus denkbar, dass einzelne Teile des Textes als persönliche Tagebucheinträge Tsurayukis bereits in ihrer fast endgültigen Form existierten. Es lässt sich daher fragen, inwieweit es sinnvoll ist, die weibliche Erzählstimme auf das ganze Werk zu übertragen. Zwar wurde auch in den vorangehenden Abschnitten dieses Aufsatzes der Text in seiner vorliegenden Gesamtheit betrachtet, doch ist es sicherlich ein Fehlschluss, ihn als ein von Anfang bis Ende durchstrukturiertes Werk zu lesen.¹²⁸ Das zeigt auch die in Abschnitt 3.1 beschriebene Uneinheitlichkeit der Figuren. Die Annahme einer Erzählerin über das ganze Werk hinweg blendet somit die Entstehungsumstände des Textes aus. Dass die ersten Sätze des Tagebuchs offensichtlich später hinzugefügt wurden, macht es wahrscheinlich, dass sich Tsurayuki erst dann dazu entschied, seinen Text als einen von einer Frau verfassten auszuweisen. Neben der Einleitung mögen auch andere Hinweise auf eine Frau als Erzählerin aus der Zeit stammen, als Tsurayuki bereits vorhandene Fragmente sammelte, umarbeitete und ergänzte – ohne jedoch eine konsequente Vereinheitlichung anzustreben. Der bereits oben zitierte Satz ,Außer diesen gab es noch viele, doch [ich] schreibe [sie] nicht auf‘ (1/9), der als Indiz für eine weibliche Erzählinstanz gesehen wird, setzt indes nicht zwangsläufig ein weibliches Subjekt voraus. Tsurayuki ist als Autor des ersten poetologischen Textes in japanischer Silbenschrift (siehe Anm. 116) bekannt und verfolgte offensichtlich auch mit dem ,Tosa nikki‘ die Absicht, das Japanische als Literatursprache zu nutzen. Würde man den Text ohne seinen ersten Satz lesen, käme man von diesem Zitat aus wohl kaum auf den Gedanken, dass hier eine Frau spreche. Anders mag es sich – wenn auch unter Vorbehalt (siehe Anm. 83) – mit der anderen zitierten Textstelle verhalten: ,die chinesischen Gedichte kann [ich] hier nicht aufschreiben‘ (12/26). Während selbstverständlich auch beide Einschübe spätere Ergänzungen sein könnten, bräuchte Tsurayuki dem

nach dem zwanzigsten Tag‘; zu den Schreibweisen und möglichen Lesungen der Datumsangaben im ,Tosa nikki‘ siehe Hagitani [Anm. 8], S. 52–55). Der Beginn des Tagebuchs unterscheidet sich aber auch darin von den anderen Einträgen, dass er sich auf das Jahr bezieht – auch wenn es absichtlich nicht näher bestimmt wird. 127 Vgl. Higashihara u. Waller (Anm. 5), S. 8, 62, 138; Higashihara (Anm. 74), S. 254; Takei (Anm. 56), S. 184; Hasegawa (Anm. 78), S. 501. 128 So etwa bei Takei (Anm. 56), S. 178, Anm. 2, S. 183. Zudem schreibt Hijikata (Anm. 8), S. 141, Anm. 2, die Fiktion einer weiblichen Verfasserin werde hinreichend durchgehalten, um zwischen Autor und Erzähler unterscheiden zu können.

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Wort kakazu (,nicht aufschreiben‘) lediglich ein Silbenzeichen voranzustellen, um eine weibliche Erzählstimme zu evozieren: e-kakazu (,nicht aufschreiben können‘). Eine ausführliche Einbettung dieser Beobachtungen in die japanologische Diskussion zu Tsurayukis Wahl einer weiblichen Erzählstimme¹²⁹ würde nicht nur den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, sondern sich allzu sehr in Spekulationen verfangen. Es soll an dieser Stelle genügen zu zeigen, wie fragil das Gerüst der Erzählerin ist, die für viele Interpreten die im ,Tosa nikki‘ beschriebenen Ereignisse umrahmt. Berücksichtigt man die oben umrissenen Entstehungsumstände des Textes, lassen sich einige Passagen leichter verstehen, wie etwa das Ende des Eintrages zum 21. Tag des ersten Monats. Kaku iitsutsu yuku ni, funagimi naru hito, nami o mite, kuni yori hajimete, kaizoku mukui semu, to iu naru koto o omou ue ni, umi no mata osoroshikereba, kashira mo mina shirakenu. Nanaso-ji, yaso-ji wa, umi ni aru mono narikeri. Waga kami no / yuki to isobe no / shiranami to / izure masareri / oki-tsu-shima-mori, kajitori ie.¹³⁰ Während wir fuhren, indem wir uns so unterhielten, blickte jener, der der Schiffsherr war, auf die Wellen. Weil ich nicht nur darüber bekümmert bin, dass man, seit wir aus der Provinz losgefahren sind, sagt, die Piraten würden sich rächen, sondern auch das Meer furchterregend ist, sind meine Haare ganz weiß geworden. Ein Siebzig- oder Achtzigjähriger ist auf dem Meer! Meiner Haare Schnee / und die weißen Wellen / am steinigen Strand / was davon ist weißer? / Wächter der fernen Insel Steuermann, sprich!

Der Abschnitt ab dem zweiten Satz in der Übersetzung wird auch als wörtliche Rede aufgefasst (so etwa in Hasegawas Edition), die nicht durch eine der üblichen Postpositionen, to und tote, als Figurenrede markiert ist. Higashihara argumentiert hingegen, dass der Abschnitt als Teil eines Dialoges unangemessen sei und es sich vielmehr um einen Monolog des früheren Provinzgouverneurs in der Form der freien direkten Rede (free direct discourse, jap. jiyu¯ chokusetsu gensetsu) handle.¹³¹ Da der frühere Gouverneur sich über seine eigenen Sorgen und Ängste lustig macht, erscheint hier ein innerer Monolog wahrscheinlicher als ein äußerer bzw. ein Soliloquium. Eine Gedankenrede schließt jedoch aus, dass ein weibliches Erzähler-Ich sie gehört haben kann. Nimmt man für den Eintrag aber Tsurayuki bzw. die auf ihm basierende Figur als Erzähler an, der auf sich selbst mit ,jener, der der Schiffsherr war‘ (funagimi naru hito) als Dritten referiert, überschreitet der Monolog die Kompetenz der Erzählinstanz nicht. So wirken

129 Eine knappe Zusammenfassung in englischer Sprache der am häufigsten vertretenen Positionen zu Tsurayukis Motiv, eine weibliche Erzählerin sprechen zu lassen, findet sich in Miyake (Anm. 29), S. 45 f. 130 Eiin-bon Tosa nikki (Anm. 57), S. 62 f.; Hasegawa u. a. (Anm. 45), S. 18 f. 131 Vgl. Higashihara (Anm. 74), S. 199–201.

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manche Passagen des ,Tosa nikki‘ natürlicher, wenn man nicht davon ausgeht, dass an jeder Stelle im Text zwangsläufig eine weibliche Erzählstimme spricht.

4 Fazit Die zitierten Abschnitte aus der klassischen Tagebuchliteratur Japans weisen Eigenschaften auf, welche die traditionellen narratologischen Modelle an ihre Grenzen stoßen lassen. Die grammatische Person kann nicht nur unbestimmt bleiben, es spricht sogar einiges dafür, dass das Japanische über die grammatische Kategorie der Person gar nicht verfügt. Zudem sind an ,narrativen Einstellungen‘ bzw. der Distanz der Erzählstimme zum Gegenstand der Erzählung auch Verbalsuffixe maßgeblich beteiligt. Wie sehr die volkssprachliche Erzählliteratur der Heian-Zeit, deren Sprache Sonja Arntzen treffend als „rich in connotation but unclear in reference“¹³² charakterisiert und die sich auch durch ihre Nähe zur Lyrik auszeichnet, der Interpretation des einzelnen Rezipienten unterworfen bleibt, verdeutlicht das Beispiel des ,Tosa nikki‘. Wiewohl bereits Genette schrieb, dass „sich eine auf eine bestimmte Figur bezogene externe Fokalisierung bisweilen ebensogut als eine interne Fokalisierung auf eine andere Figur auffassen“¹³³ lässt, ist die im Allgemeinen angenommene interne Fokalisierung im ,Tosa nikki‘ wesentlich auf die Konstruktion eines erlebenden Ichs, welches an keiner Stelle im Text explizit benannt wird, durch die Rezipienten zurückzuführen. Manche Passagen lassen sich allerdings nur mit einiger Mühe als durch das angenommene weibliche Erzähler-Ich fokalisiert verstehen und scheinen eher Paralepsen darzustellen. Somit demonstriert das ,Tosa nikki‘, dass zwischen Homodiegese und Heterodiegese nicht immer verlässlich getrennt werden kann, und eröffnet die Möglichkeit, wie bei der grammatischen Person (sofern man denn an der grammatischen Kategorie festhalten will) auch hier graduelle Abstufungen zu denken. Die Entstehungsumstände des Textes legen zudem nahe, dass die Hinweise auf eine Erzählerin erst ergänzt wurden, nachdem Teile des Tagebuchs bereits fertiggestellt waren. Eine Analyse zeigt, dass einige Passagen schlüssiger wirken, wenn man von Tsurayuki bzw. der auf ihm basierenden Figur als Erzähler ausgeht. Es lässt sich jedoch keine verbindliche Lesart des ,Tosa nikki‘ bestimmen, zumal Tsurayukis Intentionen nicht bekannt sind. In der volkssprachlichen Literatur der Heian-Zeit bleiben viele Aspekte, die in narratologischen Modellen erfasst werden, letztlich nicht bestimmbar und unterliegen dem Verständnis des jeweiligen Rezipienten, welches sich wiederum während des

132 Sonja Arntzen, Getting at the Language of The Tale of Genji through the Mirror of Translation, in: Edward Kamens (Hg.), Approaches to Teaching Murasaki Shikibu’s The Tale of Genji, New York 1993, S. 31–40, hier S. 35. 133 Genette (Anm. 11), S. 122.

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Lesens oder beim Wiederlesen ändern kann. So ergibt sich die Komplexität der klassischen japanischen Literatur paradoxerweise vor allem aus der sprachlichen Einfachheit der Texte. Entsprechend komplex erscheinen einzelne Werke bei der Anwendung moderner Modelle, die am klassischen Roman entwickelt wurden und denen bestimmte narrative Normen zugrunde liegen, die sich im Japan des zehnten Jahrhunderts in dieser Form noch nicht herausgebildet haben.

Brigitte Burrichter

Perspektive bei Chrétien de Troyes Zusammenfassung: In Chrétien de Troyes, focalisation constitutes a rich narrative element that is used in a highly calculated way. Throughout Chrétien’s oeuvre, there is evidence of strategically employed changes of focalisation (paralipses) that go hand in hand with the characters’ speeches and the representation of their thoughts and feelings. This contribution demonstrates that Gérard Genette’s features of focalisation are by no means only applicable to the novel of the 19th century. Chrétien also uses focalisation techniques to elicit certain narrative effects, such as suspense, by restricting the point of view to the unsuspecting protagonist. At the same time, it becomes obvious that Chrétien occupies a special position within medieval literature more generally. Schlagwörter: discours indirect libre, Figurengedanken, Figurenperspektive, Figurenrede, Fokalisierung, Fokalsierungswechsel, Paralipse

1 Die theoretischen Grundlagen Gérard Genette fasst die Erzählperspektive unter die „Modi der Erzählung“, sie ist – neben der Distanz – das Mittel zur „Regulierung der narrativen Information“.¹ In einer einfachen Formulierung unterscheidet er die beiden Fragen „Wer sieht?“ (Modus) und „Wer spricht?“ bzw. „Wo liegt das Zentrum, der Fokus der Wahrnehmung?“ (Stimme).² Im Kapitel über die Modi positioniert er zwischen der Distanz und der Perspektive die Figurenrede, wohl weil – Genette expliziert dies nicht – sie an beidem Anteil hat. Matías Martinez und Michael Scheffel folgen ihm, wenn sie die „Erzählung von Ereignissen“ u n d die „Erzählung von Worten und Gedanken“ unter die Distanz fassen.³ In der folgenden Analyse werde ich mich an ihnen orientieren und die Wiedergabe der Figurenrede mit einbeziehen. Zur genauen Bestimmung der Erzählperspektive in einzelnen Szenen ist Genettes Instrumentarium allerdings zu unpräzise, da die Fokalisierung allein nichts über das Wissen des Erzählers über den Text aussagt, wenn etwa ein Erzähler die Perspektive einengt, um Information zurückzuhalten. Dieser Vorwurf ist Genette immer wieder

1 Gérard Genette, Die Erzählung, Paderborn 3 2010 (1 1994), S. 102. 2 S. 213. 3 Matías Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 10 2016 (1 1999), S. 52 bzw. 54. Prof. Dr. Brigitte Burrichter, Neuphilologisches Institut/Romanistik, Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Am Hubland, 97074 Würzburg, e-mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110566536-003

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gemacht worden,⁴ es gibt zahlreiche neuere Vorschläge, etwa von Monika Fludernik oder Gregory Currie, die eher vom anglophonen Ansatz des point of view ausgehen.⁵ Für die Beschreibung der Erzählperspektive bei Chrétien de Troyes sind diese neuen Ansätze allerdings ebenfalls nicht unmittelbar geeignet, weil sie entweder zu ungenau (Fludernik) oder zu sehr auf das moderne Erzählen abgestimmt (Currie) sind. Genettes Begrifflichkeit scheint mir flexibel genug zu sein, um sie an die Erfordernisse einer Bestimmung der Erzählperspektive im mittelalterlichen Text anzupassen.⁶

2 Warum Chrétien Die französischen Erzähler des 12. und 13. Jahrhunderts setzen ganz unterschiedliche Erzählperspektiven ein, in der Regel aber überwiegen eine nullfokalisierte Erzählstimme, die Einsicht in alle Zusammenhänge und Figuren hat, sowie berichtete Rede. Indirekte Rede, erlebte Rede, externe oder interne Fokalisierung sind dagegen weniger vertreten (ähnlich wie auch im späteren Roman), wenn sie auch in vielen Texten eingesetzt werden. Chrétien verwendet gerade diese Möglichkeiten, um besondere Situationen mittels der Erzählperspektive zu gestalten. Seine Verwendung der Erzählperspektive ist im Vergleich zu anderen Erzählern besonders komplex und kalkuliert. Dies soll anhand ausgewählter Episoden gezeigt werden.

3 Fokalisierung Als Erzähler ist Chrétien in seinen Werken sehr präsent, er durchbricht immer wieder die Diegese und kommentiert das Geschehen. Damit unterstreicht er seine Kontrolle über die Erzählung und den Anspruch, die bele conjointure, die neue Art der dispositio und elocutio, auf allen Erzählebenen allein zu verantworten. Innerhalb der Diegese

4 Vgl. die ausführliche Darstellung und Diskussion bei Gert Hübner, Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im ,Eneas‘, im ,Iwein‘ und im ,Tristan‘, Tübingen/Basel 2003, S. 10–76, bes. S. 39–45. 5 Monika Fludernik, Erzähltheorie. Eine Einführung, Darmstadt 3 2010 (1 2006), S. 47–50. Gregory Currie, Narrative & Narrators. A Philosophy of Stories Oxford 2012 (1 2010), bes. S. 123–138. 6 Deshalb verwende ich im Folgenden die Begriffe Genettes, wie sie bei Martinez/Scheffel dargestellt werden. Diese Entscheidung ist eine rein pragmatische, die Argumente gegen Genette und vor allem der Verweis darauf, dass er Phänomene beschreibt, die mit den älteren Begriffen des point of view oder mit Stanzels Terminologie ebenso fassbar sind, ist unbestritten, ebenso, dass Präzisierungen mit anderer Terminologie sinnvoll sind. Mit Blick auf die unterschiedlichen Modellierungen der Erzählperspektive schließe ich mich Burkhard Niederhoffs Apell zur „friedlichen Koexsistenz der Begriffe“ an (Burkhard Niederhoff, Fokalisation und Perspektive. Ein Plädoyer für friedliche Koexistenz, Poetica 33/2001, S. 1-21, hier S. 20).

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bemüht er sich, ganz im Sinne der zeitgenössischen Rhetorik, um abwechslungsreiches Erzählen.⁷ Ein Mittel dazu ist die Variation der Erzählperspektive. Nach Genette handelt es sich dabei um Alterationen,⁸ die den vorherrschenden Modus der Nullfokalisierung unterbrechen. Diese Nullfokalisierung der erzählenden Instanz geht einher mit der Position des allwissenden Erzählers, der Einblick in seine Figuren und in die größeren Kontexte der Handlung hat. Allerdings setzt Chrétien diese ,Allwissenheit‘ des Autors als Erzähler oft sehr gezielt ein – oder auch nicht. Er gibt als allwissender Erzähler Einblick in das Innenleben seiner Figuren, meistens allerdings sehr knapp, um das Figurenverhalten zu erklären. Als Erec und Enide bei einem Grafen einkehren, der Enide für sich gewinnen will, präzisiert der Erzähler die Einstellung der Figuren. Der Graf ist verliebt: Mes li cuens onques ne repose De regarder de l’autre part; De la dame s’est prist regart. Por la biauté qu’an li estoit, Tot son pansé an li avoit. Tant l’esgarda come il plus pot, Tant l’a covi et tant li plot Que sa biautez d’amors l’esprist. De parler a li, congié prist A Erec mout covertemant.⁹ (V. 3294–3303) Aber der Graf wurde nicht müde, zur anderen Seite zu schauen, zu der Dame, die er unentwegt ansah. Wegen der Schönheit, die in ihr war, war er in Gedanken ganz bei ihr. Er schaute sie an, so viel er konnte. So viel schaute er sie an und so sehr gefiel sie ihm, dass er wegen ihrer Schönheit in Liebe entbrannte. Er bat Erec, mit ihr sprechen zu dürfen, und verbarg ihm dabei seine Absichten.

Erec durchschaut den Grafen nicht: Erec ne fu mie jalous, Que n’i pansa nule boise. (V. 3314 f.) Erec war nicht eifersüchtig, er dachte dabei an keinen Betrug.

Als Enide die Absichten des Grafen hört, geht sie auf sein Angebot ein, allerdings, wie der Erzähler mit einer kurzen Innensicht klarstellt, nur zum Schein: Ce panse cuers que ne dit boche. (V. 3394, ,Das Herz denkt nicht das, was der Mund sagt.‘). Solche

7 Vgl. Danièle James-Raoul, Chrétien de Troyes, la griffe d’un style, Paris 2007, S. 466 f. 8 S. 125. Vgl. zu Chrétiens Erzählen unter diesem Gesichtspunkt James-Raoul, S. 766–770. 9 Chrétien de Troyes, Erec et Enide, V. 342–601, zitiert nach: Chrétien de Troyes, Érec et Énide, hg. und [ins Neufranzösische] übers. von Peter F. Dembowski, in: Chrétien de Troyes, Œuvres complètes, hg. von Daniel Poiron, Paris 1994, S. 1–169. Die Übers. sind hier und im Folgenden die der Verfasserin.

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kurzen Einblicke in die Motivation einer Figur gibt es im Lauf der Erzählungen ständig, sie gehören zu den Mitteln des allwissenden Erzählers, um die Rezeption zu steuern. Auffällig selten allerdings gibt der Erzähler längere Überlegungen der Figuren, etwa innere Konflikte oder Seelenzustände, aus der Nullfokalisierung wieder.¹⁰ Et cil de la charrete panse Con cil qui force ne deffanse N’a vers Amors qui le justise ; Et ses pansers est de tel guise Que lui meïsmes en oblie, Ne set s’il est, ou s’il n’est mie, Ne ne li manbre de son non, Ne set s’il est armez ou non, Ne set ou va, ne set don vient ; De rien nule ne li sovient Fors d’une seule, et por celi A mis les autres en obli ; A cele seule panse tant Qu’il n’ot, ne voit, ne rien n’antant.¹¹ (711-724) Und der von der Karre war in Gedanken versunken wie einer, der weder Kraft noch Widerstand gegen Amor hatte, der ihn beherrschte. Sein Denken war dergestalt, dass er sich selbst darüber vergisst. Er weiß nicht, ob er ist oder ob er nicht ist, er erinnert sich nicht an seinen Namen, er weiß nicht, ob er bewaffnet ist oder nicht, er weiß nicht, wo er hingeht noch wo er herkommt, er erinnert sich an nichts außer an Eine, und um derentwillen hat er alle anderen vergessen. An diese allein denkt er so sehr, dass er nichts hört, nichts sieht, nichts versteht.

Lancelot ist so sehr in seine Liebesgedanken versunken, dass er keinen normalen Gedanken mehr fassen kann. Der Erzähler kann diesen Zustand nur beschreiben, aber nicht durch den Inhalt der Gedanken wiedergeben. Hier ist die Einsicht des Erzählers in die psychische Verfassung der Figur und deren ausführliche Wiedergabe in der Erzählerrede also inhaltlich motiviert. Sehr häufig wählt Chrétien allerdings eine andere Perspektive und erzählt aus einer Haltung heraus, die an eine externe Fokalisierung erinnert.¹² Er berichtet die Handlung oder auch die Figurenreden, ohne sie durch zusätzliche Informationen zu

10 Vgl. dazu unten zur Figurenrede. 11 Chrétien de Troyes, Lancelot, zitiert nach: Chrétien de Troyes, Lancelot ou Le Chevalier de la charrette, hg. und [ins Neufranzösische] übers. von Daniel Poiron, in: Chrétien de Troyes, Œuvres complètes, hg. von Daniel Poiron, Paris 1994, S. 505–682. 12 Mit Alain Rabatel gehe ich davon aus, dass der allwissende Erzähler beliebige Perspektiven einnehmen kann, oder, in seiner Argumentation, dass der allwissende Erzähler die fokalisierte Figur (oder den fokalisierten Ort) beliebig in Innen- oder Außensicht darstellen kann, ohne dafür seinen Standpunkt – also seine grundsätzliche Fokalisierung – ändern zu müssen. Vgl. M. Alain Rabatel, L’introuvable focalisation externe. De la subordination de la vision externe au point de vue du personnage ou au point de vue du narrateur, in: Littérature 107 (1997), S. 88–113, hier S. 101 f.

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kommentieren oder zu illustrieren. Als Erec nach dem Vorwurf der recreantise zur Abenteuerfahrt aufbricht, erzählt Chrétien alle seine Aktionen aus einer externen Perspektive. Er gibt eine ganz detaillierte Beschreibung der Vorbereitungen zum Aufbruch, der Waffen und Befehle. An keiner Stelle aber gibt er einen Einblick in die Figur, der Rezipient erfährt nichts von Erecs Plänen, sie bleiben ihm so unverständlich wie den anderen Protagonisten. Diese eher externe Perspektive ermöglicht in besonderen Szenen auch spezielle Effekte, wenn nicht nur die Fokalisierung auf die Handlung betroffen ist, sondern auch die Perspektive, aus der heraus erzählt wird (also das ,Wer spricht?‘). Hier wechselt Chrétien immer wieder die Perspektive, um die Informationsvergabe zu steuern.

4 Fokalisierungswechsel Besonders häufig verengt Chrétien die Erzählperspektive und wechselt in den Blick einer Figur, um die Informationsvergabe einzuengen; diese Figur hat überdies keine besondere Kenntnis der Situation, sondern beobachtet das Geschehen. Der allwissende Erzähler nimmt also die beschränkte Perspektive einer Figur ein, um damit dem Rezipienten Wissen vorzuenthalten. Genette beschreibt diesen Fokalisierungswechsel als Paralipse. Dabei geht es Chrétien nicht, wie in Genettes Beispielen, darum, dass die betreffende F i g u r etwas verschweigen würde,¹³ sondern der E r z ä h l e r verzichtet darauf, die Sichtweise der Figur durch weitergehende Informationen zu ergänzen. Durch den Fokalisierungswechsel schafft er eine Erzählsituation, in der es plausibel ist, dass der allwissende Erzähler keine weitere Information geben muss und so die Rätselhaftigkeit einer Situation oder auch die Spannung erhalten kann. Ein erstes Beispiel dafür findet sich bereits am Anfang von ,Erec et Enide‘. In der Eröffnungssequenz des Romans hat der König die Jagd auf den weißen Hirsch ausgerufen, die zu einem Konflikt am Hof führen könnte. Am Morgen reitet der Hof zur Jagd aus, nur Erec kommt zu spät. Er trifft auf die Königin, die in Begleitung einer jungen Hofdame hinter der Jagdgruppe zurückgeblieben ist. Der Erzähler berichtet mit wechselnder Fokalisierung, wie die Königin und Erec den jagenden Rittern nachreiten, sie aber schließlich verlieren: Por orellier et escouter, S’il orroient home parler Ne cri de chien de nule part, Tuit troi furent an un essart, Anz en un chemin aresté; Mes mout i orent po esté,

13 Genette (Anm. 1), S. 125.

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Qant il virent un chevalier Venir armé sor un destrier, L’escu au col, la lance el poing. La reïne le vit de loing. (V. 133–142) Um zu hören und zu lauschen, ob sie jemanden sprechen hörten oder irgendwo einen Hund bellen, hatten alle drei an einer Lichtung neben einem Weg angehalten. Sie waren noch nicht lange da, als sie einen bewaffneten Ritter auf einem Pferd kommen sahen, den Schild am Hals und die Lanze in der Hand. Die Königin sah ihn von weitem.

In den Versen 133–139 berichtet der allwissende Erzähler, was passiert. Mit dem il virent (,sie sahen‘) ändert sich die Perspektive. Zunächst sehen die Figuren den bewaffneten Ritter kommen, dann verengt sich die Perspektive auf die Wahrnehmung der Königin, noch ein zweites Mal heißt es La reïne Guenievre voit (V. 149), dann schickt sie ihr Fräulein zum fremden Ritter, um mehr von diesem zu erfahren. Die Erzählung aus der Figurenperspektive motiviert die Frage und bewahrt das Geheimnis des Ritters, der seine Identität nicht preisgeben will. Erec verfolgt ihn schließlich, um ihn bei Gelegenheit zum Kampf herauszufordern. Chrétien führt diese Technik bei Erecs Ankunft in der nächsten Stadt fort, wenn die Perspektive hier auch narratologisch schwerer zu fassen ist, ohne die klare Indikation des Sehens ist das Zentrum der Fokalisierung weniger eindeutig festzulegen. Mit Blick auf den heterodiegetischen Erzähler könnte man hier auch von einer konsequent externen Fokalisierung sprechen, denn er berichtet nur, was zu sehen ist, ohne weitere Informationen zu geben. Der Kontext legt es aber nahe, dass diese externe Fokalisierung mit der Wahrnehmung der Figur Erec zusammenfällt: Erec reitet als Fremder durch die namenlose Stadt, in der offensichtlich ein Fest vorbereitet wird. Wir erfahren über diese Stadt (fast)¹⁴ nur, was aus der Perspektive des Reiters zu sehen ist, da es sich aber um eine heterodiegetische Erzählstimme handelt, ist die Unterscheidung extern/ intern nicht eindeutig. El chastel mout grant joie avoit De chevaliers et de puceles; Car mout an i avoit de beles. Li un peissoient par les rues Espreviers et faucons de mues. Et li autre aportoient fors Terciaus, ostors mu et sors. Li autre jeuent d’autre part Ou a la mine ou a hasart, Cil as eschas et cil as tables. Li garçon devant cez estables Torchent les chevaus et estrillent. (V. 348–359)

14 Einzige Ausnahme ist der Vers 360, der von den Damen berichtet, die sich im Haus herausputzen.

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In der Burgsiedlung herrschte große Freude unter den Rittern und Fräuleins, denn es gab viele hübsche. Die einen fütterten auf den Straßen Sperber und Falken. Die anderen brachten Terzel heraus und dunkle Habichte. Die anderen spielten daneben Würfelspiele, Schach oder Tric Trac. Die Burschen vor den Ställen rieben und striegelten die Pferde.

Über gut 60 Verse – vom Einritt Erecs in die namenlose Stadt bis zum Schönheitsporträt Enides – behält die Erzählung diese Fokalisierung aus Erecs Perspektive bei (V. 348–410). Diesmal gibt es kein Verb, das den Fokalisierungswechsel ankündigen würde, aber die Beobachtung der Festvorbereitungen in der Stadt und des freundlichen Empfangs, der dem arroganten Ritter bereitet wird, beschränkt sich auf die Perspektive des Protagonisten, und wir Leser erfahren nicht mehr als dieser sieht. Erst beim Abendessen fragt Erec seinen Gastgeber nach dem anstehenden Fest und der Identität des fremden Ritters und erfährt die Zusammenhänge. Die Technik, Informationen über eine Szene durch den Fokalisierungswechsel lange zurückzuhalten, spielt im Graalsroman eine ganz besondere Rolle. Die Burg Gornements, der dem jungen Perceval seine ritterliche Ausbildung geben wird, ist durch die besondere Technik der Beschreibung herausgehoben. Zunächst berichtet der Erzähler, wie der junge Mann an einem wilden Fluss entlang bis zu einer Burg reitet. Dann wechselt die Perspektive auf die Sicht des Protagonisten: Sor cele roche, an un pandant qui vers mer aloit descendant, Ot un chastel mout riche et fort. Si com l’eve aloit au regort, Torna li vaslez a senestre Et vit les torz del chastel nestre, Qu’avis li fu qu’eles nessoient Et que fors del chastel issoient.¹⁵ (V. 1321–1328) Auf diesem Felsen, an einem Abhang, der zum Meer hinunterführte, war eine reiche und starke Burg. So wie der Bach eine Schleife machte, wandte sich der Junge nach links und sah die Türme der Burg entstehen, ihm war, als würden sie geboren und kämen aus der Burg heraus.

Hier leitet das Verb sehen von der Perspektive des Erzählers zu der des Protagonisten über. Die Szene ist sehr kurz, aber aus der Perspektive des Protagonisten heraus entwickelt Chrétien eine raffinierte Inszenierung der optischen Perspektive, wenn Perceval beim Näherkommen immer mehr von den Türmen und schließlich die Burg erkennt. Dem Leser wird damit signalisiert, dass die Burg eine besondere Bedeutung haben wird.¹⁶ Eine besondere Rolle spielt die interne Fokalisierung aus der Sicht des 15 Chrétien de Troyes, Perceval, zitiert nach: Chrétien de Troyes, Perceval ou Le Conte du Graal, hg. und [ins Neufranzösische] übers. von Daniel Poiron, in: Chrétien de Troyes, Œuvres complètes, hg. von Daniel Poiron, Paris 1994, S. 683–911. 16 Die Graalsburg steht dagegen ganz plötzlich vor dem jungen Ritter: Er hat von einem Hügel aus nach der angekündigten Burg Ausschau gehalten, konnte sie aber nicht sehen, bis plötzlich in einem

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Protagonisten bei der ersten Begegnung Percevals mit dem Graal. Auf der Suche nach dem Haus des Fischers sieht er im Tal eine Turmspitze, die Erzählung wechselt dann gleich zur Nullfokalisierung, beschreibt zunächst detailliert die dazugehörige Burg und anschließend Percevals Ankunft. Als Perceval dann den großen Saal der Burg betritt, nimmt der Erzähler dessen Perspektive ein, hier deutlich markiert durch ,er sah‘ (V. 3024). Durch Percevals Augen sehen wir den Saal und den Gastgeber, der stets als prodome bezeichnet wird, da Perceval ihn nicht kennt. Die Begrüßung und den Beginn der abendlichen Szene berichtet der Erzähler dann aus einer nicht näher spezifizierten Perspektive. Bei der Begegnung mit dem Graal wird die Frage nach der Erzählperspektive komplizierter. Zunächst erfahren wir, dass alle im Raum das Wunder am Beginn der Graalsprozession sehen: Quequ’il parloient d’un et d’el, Uns vaslez d’une chanbre vint, Qui une blanche lance tint Anpoigniee par le mileu, Si passa par entre le feu Et ces qui el lit se seoient ; Et tuit cil de leanz veoient La lance blanche et le fer blanc ; S’issoit une gote de sanc Del fer de la lance an somet Et jusqu’a la main au vaslet Coloit cele gote vermoille. (3190–3201) Als sie so von allerlei sprachen, kam ein Knappe aus einem Raum, der eine weiße Lanze in der Mitte hielt. Er ging zwischen dem Feuer und denen, die auf dem Bett saßen, vorbei, und alle im Raum sahen die weiße Lanze und die weiße Lanzenspitze. Ein Blutstropfen quoll aus der Lanzenspitze ganz oben heraus, und bis zur Hand des Knappen lief dieser blutrote Tropfen.

Ein Knappe trägt eine weiße Lanze in den Saal und a l l e sehen, dass aus der Lanzenspitze ein Blutstropfen quillt und an der Lanze herabläuft. Dann engt der Erzähler die Perspektive ein und bekräftigt, dass auch der junge Gast dieses Wunder gesehen habe, dass er aber nicht wage, nach dem Grund zu fragen. Die gesamte folgende Szene ist erzähltechnisch so aufgebaut wie die Szene in Erec – die Objekte werden aus einer externen Perspektive beschrieben, die der Perspektive des Gastes entspricht, der nicht weiß, was er sieht. Unterbrochen wird die Beschreibung hier durch Erzählerinformationen über die Gedanken des Protagonisten und Erzählerkommentare. Perceval sieht die Graalsprozession, er versteht sie nicht, fragt aber nicht nach. Der Erzähler erklärt dieses Schweigen

Tal eine Turmspitze zu sehen ist. Soll man als Leser schon hier auf die besondere Burg aufmerksam werden? (V. 2989 f.)

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– Gornemant hatte ihm geraten, nicht zu viele Fragen zu stellen – und kommentiert es immer deutlicher als falsch. Bei der Lanze wird noch unkommentiert erzählt: Li vaslez vit cele mervoille, Qui leanz est la nuit venuz ; Si s’est de demander tenuz Comant cele chose avenoit, Que del chasti li sovenoit Celui qui chevalier le fist, Qui li anseigna et aprist Que de trop parler se gardast ; Si crient que, s’il li demandast, Qu’an li tornast a vilenie, Et por ce n’an demanda mie. (3202–3212) Der Junge [Perceval] sah dieses Wunder, das diese Nacht hier hereingekommen ist. Er hat nicht gefragt, wie diese Sache geschah, weil er sich an die Ermahnung dessen erinnerte, der ihn zum Ritter gemacht hatte und der ihn lehrte und ihm beibrachte, dass er sich davor hüten solle, zu viel zu reden. Er fürchtete, dass man es ihm übelnähme, wenn er fragte, und deshalb fragte er nicht.

Auch der dann folgende Graal wird aus der Sicht Percevals beschrieben. Er nimmt zuerst die große Helligkeit des Graals wahr, die alles überstrahlt, dann das Fräulein hinter der Graalsträgerin. Dann kehrt sein Blick zum Graal zurück, der vor ihm vorbeigetragen wird. Er sieht das Gold und die Edelsteine. Dann verlässt der Graal den Raum wieder. Auch hier verweist der Erzähler auf den Grund des Schweigens und kommentiert es noch zusätzlich: Et li vaslez les vit passer Et n’osa mie demander Del graal cui l’an an servoit, Que il tozjorz el cuer avoit La parole au prodome sage. Se criem que il n’i ait domage, Que j’ai oï sovant retraire Que ausi se puet an trop taire Com trop parler, a la foiee. Bien li an praingne ou mal l’an chiee, Ne lor anquiert ne ne demande. (V. 3243–3253) (vgl. V. 3290–3309) Und der Junge sah sie vorbeigehen und wagte nicht zu fragen nach dem Graal und wen man damit bediente, weil er immer die Worte des weisen Edelmanns im Herzen hatte. Aber ich fürchte, dass ihm daraus Schaden erwachsen könnte, denn ich habe oft sagen hören, dass man ebenso zu viel schweigen wie zu viel reden könne. Es mochte zu seinem Vorteil oder zu seinem Nachteil sein, er fragte sie nicht und erkundigte sich nicht.

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Die Sicht auf die Graalsprozession aus einer externen Perspektive – der internen des unwissenden Gastes – ermöglicht es, das Geheimnis dieses Wunders zu bewahren. Die Innensicht in die Figur durch den allwissenden Erzähler motiviert das Schweigen und damit den Umstand, dass es keine zusätzlichen Informationen gibt, die Kommentare schließlich lenken die Rezeption und deuten das kommende Unheil an. Die ganze Episode ist – aus der Sicht der Erzählperspektive – ausgesprochen komplex mit ständigen wechselnder Fokalisierung gestaltet. Die jeweils verwendete Fokalisierung entspricht dabei stets den inhaltlichen Anforderungen an die Erzählung, die von einem rätselhaften Gegenstand handelt, dessen Rätselhaftigkeit erhalten werden soll. Die variable Erzählperspektive mit wechselnden Fokalisierungen wird in allen Romanen Chrétiens eingesetzt, wenn auch nicht immer in dem Maß wie im Graalsroman. Immer wieder tritt dadurch der allwissende Erzähler zurück und nimmt eine Perspektive ein, aus der nur beschränkte Informationen gegeben werden können, sei es, dass er selber eine nahezu externe Position einnimmt, sei es, dass er aus einer Figurenperspektive erzählt. Der Rezipient bekommt dadurch nicht immer alle Hintergrundinformationen zu einer Szene, sondern bleibt auf dem begrenzten Wissensstand der oder des Protagonisten, er bleibt solange unwissend wie die Protagonisten selber.

5 Figurenrede und Figurengedanken Die Wiedergabe von Figurenrede und Figurengedanken wird bei Genette im Kapitel über den Modus behandelt, sie hat Anteil an der Fokalisierung und an der Informationsvergabe durch die gewählte Erzählstimme. In der Eröffnungssequenz des ,Yvain‘ kombiniert Chrétien die Möglichkeiten der Figurenrede – berichtete, wörtliche Rede, indirekte sowie erlebte Rede bzw. Gedankenrede – in einer Weise, die aus narratologischer Sicht besonders interessant ist.

5.1 Figurenrede Nach dem Essen haben sich König und Königin zurückgezogen, die Ritter unterhalten sich. Calogrenant erzählt ein Abenteuer.¹⁷ Dies wird zunächst nur konstatiert und der Bericht wird auch gleich durch die Königin unterbrochen, die den Saal betritt. Die Diskussion, die sich dann zwischen den Rittern und der Königin entspinnt, zeigt ein Charakteristikum von Chrétiens Wiedergabe von Figurenrede. Die unmittelbare

17 Chrétien de Troyes, ,Yvain‘, zitiert nach: Chrétien de Troyes, Yvain ou Le Chevalier au lion, hg. von Karl D. Uitti und Philippe Walter, [ins Neufranzösische] übers. von Philippe Walter, in: Chrétien de Troyes, Œuvres complètes, hg. von Daniel Poiron, Paris 1994, S. 337–503.

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Situation wird knapp angegeben – Calogrenant hat als einziger die Königin kommen sehen und ist aufgestanden (V. 67 f.) – und Keu hält ihm das vor. Keu, so erfahren wir, ist immer missmutig und höhnisch. Dann zeigt die ohne weiteren Kommentar oder eine charakterisierende Inquitformel angeschlossene Rede, was das bedeutet. Die Königin wirft ihm seine Bosheit vor, Keu verteidigt sich und beendet das Gespräch mit dem Hinweis, dass Calogrenant seine Geschichte weitererzählen soll. Die wörtliche Rede vermittelt hier und generell bei Chrétien Informationen zu Figuren oder auch zur Handlung, die nicht zusätzlich Gegenstand der Erzählerrede sind. Der Erzähler gibt also seine Stimme an Figuren ab, um die Erzählung weiterzutreiben.¹⁸ Zudem gibt es in Dialogen, die unhöfische Äußerungen enthalten, häufig eine Person, die als Korrektiv wirkt (hier ist es die Königin) und damit den Erzählerkommentar ersetzt. Dieses Verfahren beschränkt sich nicht auf die Dialoge. Das Brunnenabenteuer beginnt mit Calogrenants Erzählung seiner Schande, einem langen Bericht in der ersten Person: Il m’avint, plus a de set ans, Que je, seus comme païsanz, Aloie querant aventures, Armez de toutes armeüres Si come chevaliers doit estre; Et tornai mon chemin a destre, Parmi une forest espesse. Mout i ot voie felenesse, De ronces et d’espines plainne. A quelqu’enui, a quelque paine Ting cele voie et ce santier! A bien pres tot le jor antier M’en alai chevalchant issi Tant que de la forest issi, Et ce fu en Broceliande. [. . . ] (V. 175–189) Mir passierte es vor mehr als sieben Jahren, dass ich, allein wie ein Bauer, auf Abenteuersuche ging, in voller Rüstung, wie es sich für einen Ritter gehört. Und ich ging einen Weg nach rechts durch einen dichten Wald. Der Weg war sehr schlecht, voller Brombeeräste und Dornen. Mit viel Mühe, mit viel Schmerz folgte ich diesem Weg und dem Pfad! Fast den ganzen Tag ritt ich so, bis ich aus dem Wald herauskam, und das war in Broceliande.

18 Johannes Frey sieht in dieser Haltung des Erzählers zur Figurenrede einen großen Unterschied zu Hartmann von Aue: „Die Funktion der beiden Erzählstimmen ist [. . . ] grundverschieden: bei Hartmann ist die Figurenrede illustrierendes Anhängsel, bei Chrétien notwendiger Bestandteil der Textentwicklung.“ (Johannes Frey, Wer die Geschichte erzählt. Figuren und Erzähler in Chrétiens ,Yvain‘ und Hartmanns ,Îwein‘, in: Marcel Krings/Roman Luckscheiter (Hg.), Deutsch-französische Literaturbeziehungen. Stationen und Aspekte dichterischer Nachbarschaft vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Würzburg 2007, S. 39–50, hier S. 41).

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Der heterodiegetische Erzähler gibt hier für eine lange Erzählung (über 400 Verse hinweg) die Stimme an eine Figur ab. Wir haben also eine autodiegetische Erzählung mit interner Fokalisierung, eine (pseudo-)autobiographische Erzählung. Der heterodiegetische Erzähler kommentiert diese Erzählung nicht, sondern überlässt auch den Kommentar Calogrenant, der am Ende den Historiker Wace zitiert und seine Unternehmung als Dummheit darstellt.¹⁹ Durch das Schweigen des Erzählers ist es dem Rezipienten überlassen, Calogrenant zu glauben oder nicht. Die intradiegetischen Rezipienten haben allerdings keine Zweifel an seinem Bericht,²⁰ der Fortgang der Erzählung wird diesen bestätigen. An die Erzählung schließt sich ein langes Gespräch zwischen Yvain, Keu und der Königin an, in dem wichtige Erzählstränge geöffnet werden (Yvains Abenteuer und die Notwendigkeit, später einen Beweis für das Bestehen desselben zu liefern). Es ist also wieder ein Gespräch, das für den Fortgang der Handlung wichtig ist und das durch die positiven Figuren, hier die Königin und Yvain, kommentiert wird. Schließlich kommt der König, und da er Calogrenants Erzählung verschlafen hat, erzählt die Königin sie ihm: Delez la reïne s’asist, Et la reïne maintenant Les nouveles Calogrenant Li reconta tot mot a mot, Que bien et bel conter li sot. (V. 654–658) Neben die Königin setzt er sich, und die Königin erzählte ihm jetzt die Neuigkeiten von Calogrenant, Wort für Wort, weil sie ihm gut und schön erzählen konnte.

Der heterodiegetische Erzähler beschränkt sich hier auf die einfache Informationsvergabe, er gibt in dieser kurzen Szene keine Information zum Inhalt, sondern betont, dass die Königin genau das erzähle, was Calogrenant vorher berichtet habe. Einen Kommentar gibt es allerdings zur Erzählweise – die Königin ist eine gute Erzählerin –, ohne dass dies spezifiziert würde. Der König will das Abenteuer wagen und greift dabei dessen wichtigste Stationen auf, es wird also nochmals erzählt. Sein offizieller Beschluss wird in indirekter Rede wiedergegeben: Li rois les oï volantiers Et fist trois sairemanz antiers, L’ame Uterpandragon son pere

19 Vgl. Brigitte Burrichter, La Fontaine de Barenton – Poetologische Implikationen der Gewitterquelle aus dem ,Yvain‘, in: Gerlinde Huber-Rebenich, Christian Rohr und Michael Stolz (Hgg.), Wasser in der mittelalterlichen Kultur: Gebrauch – Wahrnehmung – Symbolik, Berlin 2017, S. 449–464, hier S. 456. 20 Er hat die Autorität des Augenzeugenberichts.

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Et la son fil, et la sa mere, Qu’il iroit veoir la fontaine, Ja einz ne passeroit quinzaine, Et la tempeste et la mervoille, Si que il y vanra la voille Monseigneur saint Jehan Baptiste (V. 659–667) Der König hörte [die Neuigkeiten] gern und schwor drei ganze Eide auf die Seele Utherpendragons, seines Vaters, und auf die seines Sohnes und seiner Mutter, dass er die Quelle sehen wolle, bevor zwei Wochen um seien, und das Unwetter und das Wunder. Er wolle am Vorabend des Festtags des heiligen Johannes des Täufers dort sein.

Nach Calogrenants Erzählung und den Dialogen ist die Verwendung der indirekten Rede hier wohl der Abwechslung im Erzählen geschuldet, aber es ist sicher nicht zufällig, dass gerade die Rede des Königs nur indirekt wiedergegeben wird. Er war über lange Zeit abwesend und wurde damit seiner Rolle als König nicht gerecht. Nun wird die Stimme des Königs durch die Stimme des Erzählers ersetzt, er also weiter an den Rand der Wahrnehmung gerückt. Seltener kommt in altfranzösischen Texten in der Wiedergabe von Figurenrede die erlebte Rede vor, bei Chrétien gibt es keine Beispiele. ²¹ Sie ist schwerer zu fassen als die anderen Redeformen, die Definitionen sind unterschiedlich eng. Im eigentlichen Sinn handelt es sich um die Wiedergabe von Redeinhalten unter Beibehaltung der dritten Person, aber ohne verba dicendi, wobei Erzähler- und Figurenrede ineinander übergehen.²² Von der Grammatik wurde der discours indirect libre erstmals im 19. Jahrhundert beschrieben und als Phänomen der modernen Literatur aufgefasst. Im Französischen ist er aber schon seit dem ersten literarischen Text, der Eulalia-Sequenz (ca. 880) vertreten.²³

5.2 Figurengedanken Die Gedanken von Figuren, insbesondere wenn es um die Wiedergabe innerer Konflikte geht, werden gelegentlich als Kampf innerer Mächte erzählt,²⁴ in den meisten Fällen aber in der Form von inneren Dialogen oder Selbstgesprächen.

21 Vgl. die Beispiele bei Bernard Cerquiglini, Le style indirect libre et la modernité, in: Langages 19.73 (1984), Les Plans d’Énonciation, S. 7–16; http://www.persee.fr/doc/lgge_0458726x_1984_num_19_73_1162, S. 15 f. 22 Weiter gefasst Definitionen erlauben verba dicendi, etwa Fludernik und Ehrlich (vgl. Sophie Marnette, Réflexions sur le discours indirect libre en français médiéval, in: Romania 114, 1996, S. 1-49, hier S. 4). 23 Vgl. Cerquiglini (Anm. 21), S. 11. 24 Prominente Beispiele sind der Kampf zwischen Amor und Raison (Vernunft) im ,Lancelot‘ (V. 365– 377) und die Trennung von Herz und Körper im ,Yvain‘ (V. 2641–2662).

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Laudine, die Witwe des von Yvain getöteten Brunnenritters, hält vor sich selbst ein Gerichtsverfahren ab, in dem sie in ihrer Vorstellung Yvain anklagt und zur Verteidigung herausfordert: Et celui qu’elle ot refusé A mout lëaument escusé Par reison et par droit de plet, Qu’il ne li avoit rien mesfait. Si se desresne tout ensi Con s’il fust venus devant li; Lors sel comance a pleidoier; Viax tu donc, fet elle, noier Que par toi ne soit morz mes sire? – Ce, fet il, ne pui je desdire, Einz l’otroi bien. – Di donc por coi. [. . . ] Ensi par li meïsme prueve Que droit san et reison i trueve Qu’an lui haïr n’a elle droit (V. 1753–1777) Und den, den sie zurückgewiesen hatte, entschuldigte [Lunete, mit der sie vor diesen Überlegungen gesprochen hatte] ernsthaft durch Vernunft und Recht, dass er kein Unrecht begangen hatte. Sie spricht genauso, als wäre er vor sie gekommen, und beginnt ein Plädoyer: ,Willst du‘, sagt sie, ,leugnen, dass mein Herr durch dich gestorben ist?‘ ,Das‘, sagt er, ,kann ich nicht leugnen, sondern gebe es zu.‘ ,Dann sag mir, warum.‘ [. . . ] So beweist sie vor sich selber, dass sie [in Yvains Verteidigung] Recht, Sinn und Vernunft findet, dass sie nicht Recht hat, ihn zu hassen.

In einem klaren, wie eine Gerichtsverhandlung aufgebauten Prozess wägt Laudine hier das Problem ab, den Mörder ihres Mannes heiraten zu sollen. Es wird nicht klar, ob dieses und andere Selbstgespräche leise oder laut gesprochen zu denken sind,²⁵ lediglich Enides Klage nach dem Vorwurf der recreantise wird eindeutig laut hervorgebracht, da Erec davon wach wird.²⁶ Gelegentlich werden Figurengedanken in indirekter Rede gestaltet, allerdings nur in kurzen Sequenzen²⁷ oder als Einleitung zur Wiedergabe in der erlebten (Gedanken-)Rede. Häufiger werden Figurengedanken in erlebter Rede wiedergegeben. Beispiele dafür finden sich in vielen Texten des 12. Jahrhunderts.²⁸

25 Vergleichbar werden auch andere Liebeskonflikte als innere Dialoge in Form einer disputatio gestaltet, etwa die Liebesklagen von Alexander und Soredamors im ,Cligès‘ (V. 626–868 und 891–1043). 26 ,Erec et Enide‘, V. 2492–2503. 27 Z. B. [. . . ] Et dist que, se ele pooit, / Einçois de li a cort vanroit (,Yvain‘, V. 4721 f.; ,Und sie sagte, dass sie, wenn sie es könne, vor ihr an den Hof kommen würde.‘) oder: Et [Perceval] pansa que veoir iroit / Hercheors que sa mere avoit, / Qui ses aveinnes li herchoient; / bués doze et sis hierches avoient. (,Perceval‘, V. 79–82; ,Und Perceval überlegte, dass er zu den Eggern seiner Mutter gehen will, die ihren Hafer eggen; zwölf Ochsen und sechs Eggen haben sie.‘). 28 Marnette (Anm. 21); knapper: Sophie Marnette, Speech and Thought Presentation in French. Concepts and Strategies, Amsterdam/Philadelphia 2005, S. 181 (mit weiteren Angaben).

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Oft sind es nur kurze Überlegungen der Figuren, und im Unterschied zur erlebten Gedankenrede des 19. Jahrhunderts handelt es sich dabei nicht selten um Reflexionen über die aktuelle Situation oder um Zukunftsplanungen. Daher steht die typische Zeit für den discours indirect libre des 19. Jahrhunderts, das imparfait, nur selten, das Futur überwiegt.²⁹ Eine komplexe Mischung der verschiedenen Techniken findet sich im ,Lancelot‘. Der Protagonist ist zwischen zwei Anforderungen an seine Rittertugend hinund hergerissen: Ein besiegter Ritter fleht um Gnade, ein Fräulein will den Kopf des Besiegten. Or est li chevaliers si pris Qu’el panser demore et areste, Savoir s’il an donra la teste Celi qui la rueve tranchier, Ou s’il avra celui tant chier Qu’il li praigne pitiez de lui. Et a cesti et a celui Viaut feire ce qu’il li demandent : Largece et Pitiez li comandent Que lor boen face a enbedeus, Qu’il estoit larges et piteus. Mes se cele la teste an porte, Donc iert Pitiez vaincue et morte ; Et s’ele ne l’an porte quite, Don iert Largece desconfite. An tel prison, an tel destrece Le tienent Pitiez et Largece Que chascune l’angoisse et point. La teste vialt que il li doint La pucele qui li demande ; Et d’autre part li recomande Pitiez ensemble sa franchise. (V. 2830–2851) Jetzt denkt der Ritter so verlegen, dass er in Gedanken versunken und stehen bleibt. Soll er derjenigen den Kopf geben, die ihn auffordert, ihn abzuschneiden, oder schätzt er denjenigen so sehr, dass er Mitleid mit ihm haben soll? Ihr und ihm will er geben, was sie von ihm verlangen: Großzügigkeit und Mitleid befehlen ihm, dass er beiden gerecht werde, denn er war großherzig und mitleidig. Aber wenn diese den Kopf mitnimmt, dann ist Mitleid besiegt und tot, und wenn sie ihn nicht mitnehmen kann, dann ist Großzügigkeit besiegt. In solcher Qual und solcher Bedrängnis halten ihn Mitleid und Großzügigkeit, und jede quält und bedrängt ihn. Den Kopf soll er ihr geben, bittet ihn das Fräulein, und andererseits verlangt Mitleid seine Freilassung.

Einleitend konstatiert der Erzähler, dass der Ritter überlegt, seine Gedanken können als indirekte Rede gelesen werden, auch wenn diese grammatikalisch nicht eindeutig 29 Cerquiglini (Anm. 21), S. 15 f. Cerquiglinis These, der discours indirect libre in den altfranzösischen Texten sei dem mündlichen Vortrag geschuldet (S. 16), kann ich nicht folgen. Dies ließe sich allenfalls für sehr kurze Sequenzen in Anschlag bringen.

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ist, oder aber als Erzählerinformation. Mit Großzügigkeit und Mitleid kommen dann die zwei widerstreitenden Instanzen ins Spiel. Hier ist eher von der Stimme des Erzählers auszugehen, wenn auch einzelne Passagen, etwa die Verse 2841–2844, ebenso als erlebte Rede gelesen werden können. Nach einer eindeutigen Erzählerrede (V. 2845– 2847) wird der Konflikt noch einmal skizziert, diesmal in Formulierungen, die auch Gedanken des Ritters sein könnten. Daran schließt sich eine lange Passage in erlebter Rede an: Et des que il li a requise Merci, ne l’avra il donques ? Oïl, ce ne li avint onques Que nus, tant fust ses anemis, Des que il l’ot au desoz mis Et merci crïer li covint, Onques ancor ne li avint C’une foiz merci li veast, Mes au sorplus ja ne beast. Donc ne la vehera il mie Cestui qui li requiert et prie Des que ensi feire le sialt. Et cele qui la teste vialt Avra la ele ? Oïl, s’il puet. (V. 2852–2865) Und da er ihn um Gnade gebeten hat, soll er sie also nicht haben? Doch, es ist ihm noch nie passiert, dass, wenn einer, und sei er sein ärgster Feind, sobald er besiegt war und um Gnade flehen musste, er ihm nicht einmal Gnade gewährte, aber danach kümmerte es ihn nicht. Er wird sie ihm also nicht verwehren, ihm, der ihn bittet und anfleht, da er es immer so gehalten hat. Und diejenige, die den Kopf will, wird sie ihn bekommen? Ja, wenn er es kann.

Der Ritter überlegt sich, was er nun konkret tun soll. Da er noch nie einem Ritter die Gnade verwehrt hat, wird er es auch diesmal nicht tun, aber die Gnade gewährt er nur bei der ersten Niederlage. Der Erzähler moderiert diese Überlegungen nicht mehr und kommentiert damit auch nicht die Entscheidung des Protagonisten. Dieser bietet schließlich dem besiegten Ritter einen weiteren Kampf an. Sollte er nochmals unterliegen, wird das Fräulein den Kopf des Ritters bekommen. Die längste Gedankenrede im discours indirect libre findet sich in der bereits angeführten Eröffnungsszene des Yvain. Nach dem Beschluss des Königs, das Abenteuer zu wagen, ist Yvain unglücklich, er will das Abenteuer für sich. Seine Überlegungen gibt Chrétien nach einer Einleitung in der indirekten Rede im discours indirect libre wieder: Por ce seulement li grevoit Qu’il savroit bien que la bataille Avroit messire Kex, sans faille, Einz que il ; si’l la requeroit; Ja vehee ne li seroit; Ou messire Gauvains meïsmes,

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Espoir, le demandera primes. Se nus de ces deus la requiert, Ja contredite ne lor iert; Mes il ne les atendra mie, Qu’il n’a soing de lor compagnie, Einçois ira toz seus, son veul, Ou a sa joie ou a son duel, Et, qui que remaigne a sejor, Il vialt estre jusq’a tierz jor, An Broceliande, et querra Si’il puet, tant que il trovera L’estroit santier tot boissoneus, Que trop an est cusançoneus, Et la lande et le meison fort Et le solaz et le deport De la cortoise damoisele [. . . ] (V. 680–701, der discours indirect libre wird bis V. 720 weitergeführt) Nur deshalb kümmerte es ihn, weil er wohl wusste, dass Herr Keu den Kampf zugesprochen bekommen würde, eher als er selbst, wenn er darum bitten würde, er würde ihm nicht verwehrt. Oder vielleicht würde ihn Herr Gauvain selber erbitten. Wenn keiner der beiden ihn fordern würde, dann würde er ihm nicht verwehrt werden. Aber er wird nicht auf sie warten, er legt keinen Wert auf ihre Gesellschaft, sondern wird ganz allein hingehen, wie er es will, sei es zu seiner Freude oder zu seinem Leid. Und, wer immer warten möge, er will in drei Tagen in Broceliande sein, und solange suchen, wenn er kann, bis er den schmalen, dornigen Pfad findet, er hat zu große Lust, den befestigten Weg und die Burg zu finden, und die Freude und das Vergnügen des höfischen Fräuleins [. . . ]

Der Beginn steht in der indirekten Rede (Il savoit bien que. . . ). Aber mit dem Vers 685 (Ou mesire Gauvains meïsmes . . . ) ändert sich dies, die Erzählung wechselt in die erlebte Rede. Yvains Plan, dem Entschluss des Königs zuvorzukommen und auf eigene Faust aufzubrechen, wird als direkter Blick in seine Gedankenwelt ohne jegliche Vermittlung durch die Erzählinstanz wiedergegeben. Yvains Entschluss wird dadurch ausschließlich als seine Entscheidung dargestellt, der Erzähler greift weder moderierend ein noch kommentiert er das Gedachte. Yvains Plan ist im Kontext der Erzählung durchaus zweifelhaft: Er widersetzt sich der Entscheidung seines Königs und will zudem während der Festzeit aufbrechen, in der es verboten ist, Waffen zu tragen, als Grund gibt er zudem seine große Begierde an. Es bleibt dem Leser überlassen, dies zu bewerten. Da Yvain als positive Figur gezeichnet ist und es keine Hinweise auf die problematische Situation gibt, wird er ihm aber möglicherweise kritiklos folgen. Der Auftakt des ,Yvain‘ ist damit von zwei Redewiedergaben gerahmt, die nicht von der Stimme des allwissenden Erzählers beglaubigt werden und auch nicht, wie im Dialog, durch eine autoritative Figurenstimme kommentiert werden – die Ich-Erzählung Calogrenants und der Entschluss Yvains, der bereits einen genauen Plan hat. Unerwähnt und unkommentiert bleibt durch diese Technik vor allem, dass Yvains Entschluss problematisch ist. Die erlebte Rede stellt es, wie der Augenzeugenbericht, dem Leser anheim, das Gesagte oder Gedachte zu beurteilen.

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6 Fazit Chrétien de Troyes kontrolliert als allwissender Erzähler seine Texte, aber er verengt auch immer wieder seine Perspektive und gibt sehr gezielt seine Stimme an Figuren ab, um damit besondere Effekte zu schaffen. Die Erzählung wird damit nicht nur inhaltlich, sondern auch in der Gestaltung der Erzählstimme abwechslungsreich, vor allem aber ermöglichen es die Paralipse durch die verengte Fokalisierung und die erlebte Rede, Spannung aufrecht zu erhalten und die Überlegungen der Figuren direkt wiederzugeben. Chrétien löst seinen im Prolog des ,Erec‘ formulierten Anspruch auf die bele conjointure mit ihrem Schwerpunkt auf der ästhetischen Seite des Erzählens überzeugend ein, indem er Erzählstimme und Erzählinhalt bzw. Erzählintention aufeinander abstimmt. Chrétien ist mit dieser virtuosen Handhabung der Erzählperspektive eine Ausnahme in seiner Zeit und weit darüber hinaus. Zwar setzen auch andere Erzähler Fokalisierungswechsel und erlebte Rede ein, aber in sehr viel geringerem Umfang und weniger motiviert als bei Chrétien.³⁰ Der anonyme Prosaroman des 13. Jahrhunderts kennt keine starke Erzählerfigur, die Fokalisierung ist hier allgemein, Figurenreden und -gedanken haben deutlich weniger Gewicht als in den Versromanen. Das Bestreben nach kunstvollem Erzählen tritt hinter der Absicht zurück, den Roman der Historiographie anzupassen. Die Instrumente der modernen Narratologie erlauben es ohne Probleme, die Erzählkunst Chrétiens zu beschreiben, wenn auch eine Kombination verschiedener Theorien und graduelle Abstufungen der Fokalisierung (zwischen erzählerextern und figurenintern) sinnvolle Ergänzungen sind. Reaktionen auf Genettes Theorie zeigen allerdings, dass diese Einschränkungen kein Spezifikum des mittelalterlichen Erzählens sind.

30 Vgl. die Beispiele bei Marnette (Anm. 21).

Eva von Contzen

Narrative and Experience in Medieval Literature Author, Narrator, and Character Revisited Zusammenfassung: Der Beitrag setzt an bei einer grundsätzlichen Kritik daran, dass Erzählen in der Narratologie häufig primär als ein Akt der Kommunikation verstanden wird. Mit dieser Infragestellung verliert auch die Autor-Erzähler-Unterscheidung an Relevanz, und zwar dann, wenn Erzählen – in Anlehnung an kognitive Erzähltheorie – vordergründig als Erlebnis bzw. Erfahrung (experience) verstanden wird: als prozessuales Erleben sowohl des Lesers als auch der handelnden Figuren einerseits sowie als statische Erfahrung, in der das Erlebte gleichsam gebündelt vorliegt, andererseits. Diese doppelte experience wird durch verschiedene Instanzen der Erzählerrede (des Ich-Sagens) gesteuert resp. vermittelt, ohne dass sich dieses mehrfache funktionale Hervortreten des Erzählers in einem Text zu einer textübergreifenden kommunikativen Instanz bündeln müsste. These ist, dass im ,alten‘ Erzählen – in diesem Punkt nicht unähnlich populären Erzählformen der Gegenwart – nicht Figuren bzw. Charaktere (seien dies solche der Handlung oder der Autor/Erzähler) den Kern der Faszination bilden, sondern die Geschichte mit ihren vielfältigen Erlebnis- und Erfahrungs-Angeboten. Beispiele sind der mittelenglischen Literatur entnommen, u. a. ,Sir Gawain and the Green Knight‘ und den Werken Chaucers. Schlagwörter: Autor-Erzähler-Unterscheidung, Erfahrung, Erfahrungsmodell, Erzählte Erfahrung, Ich-Erzähler, Kognitive Literaturwissenschaft, Kommunikationsmodell, Metalepse, Rezeption Narration in the first person is ubiquitous in medieval literature, yet notoriously difficult to tackle from a theoretical point of view. There is hardly any medieval narrative that does not involve the evocation of an ,I‘ that recounts the events. Sometimes these first person references are brief and fade in view of the ensuing narrative, sometimes the ,I‘ remains overt, reminding us constantly of its presence and bearing on the narrative transmission, sometimes the ,I‘ turns out to be the protagonist and we follow the story through his or her eyes. Given that the first person is the default case of narrative onsets in medieval literature, it is remarkable that critics have struggled to fit this evidence

I would like to thank the members of the interdisciplinary research network ,Medieval Narratology‘ and Stefan Tilg for their critical feedback on earlier versions of this article. JunProf. Dr. Eva von Contzen, University of Freiburg, Department of English, Rempartstr. 15, 79085 Freiburg, Germany, e-mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110566536-004

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in their theoretical boxes. The ,I‘ in medieval literature resists being contained within the traditional parameters of literary and narrative theory: there is a real-world author who invents a narrator, that is, the text-internal construct that mediates the narrative, who may or may not be identical with one of the characters; if not, there will be other characters who feature in events which the narrator, in a more or less overt manner, mediates.¹ For medieval literature, some of these seemingly stable parameters evidently do not hold. The terminology accounts for this difference: the term auctor does not equal our modern ,author‘, and ,narrator‘ only comes into existence relatively late.² In many cases, texts are transmitted anonymously, often because the identity of the author simply did not matter. If a work was composed by a known author, audiences tended to ascribe the first person to this individual. Overall, there seemed to be no or little awareness of the narrator as a concept in the sense of modern critical theory. Medievalists, by consequence, have turned to alternative notions such as voice and performance instead of the narrator.³ Even though modern literary theory has taught us, time and again, that the author is not to be confused with the narrator, and that, if anything, the author is dead and we are left with the narrator, who is always a textual construct, medieval literature forcefully prompts us to return to a conflation of the two.⁴ I suspect that the discomfort we sometimes experience when dealing with authors and narrators in medieval texts is largely due to our suspension of the theoretical backdrop. The author-narrator distinction is a habit that we have been trained to perform, and that is hard to break. I would like to take this as my starting point: if medieval texts invite us to throw over board a theoretical convention that we tend not to question, then this phenomenon requires our close attention. The obvious conclusion to be drawn is that we should rethink our theories rather than try to make the medieval practices fit our modern ideas. Our received author-as-clearly-distinct-from-the-narrator model is based on the assumption that a real-world person cannot be ,inside‘ a narrative text. It is an ontolo-

1 See e. g. the definition by Gerald Prince: „the one who narrates, as inscribed in the text. There is at least one narrator per narrative, located at the same diegetic level as the narratee he or she is addressing“ (A Dictionary of Narratology, Lincoln, London 2003, p. 65). 2 See on medieval notions of authority A. J. Minnis, Medieval Theory of Authorship. Scholastic Literary Attitudes in the Later Middle Ages, 2nd ed., London 1988. A. C. Spearing, What is a Narrator?, in: Digital Philology: A Journal of Medieval Cultures 4/1 (2015), pp. 59–105, provides a short history of the term ,narrator‘. 3 See e. g. Paul Zumthor, Essai de Poétique Médiévale, Paris 1972, and by the same author, Performance, Réception, Lecture, Quebec 1990; Claire M. Waters, Angels and Earthly Creatures. Preaching, Performance, and Gender in the Later Middle Ages, Philadelphia 2004, and recently David Lawton, Voice in Later Medieval English Literature, Oxford 2017. 4 See famously Roland Barthes, La mort de l’auteur, in: Roland Barthes (ed.), Essais critiques IV. Le Bruissement de la langue, Paris 1984, pp. 61–67. See also Michel Foucault, What is an Author?, in: James D. Faubion (ed.), Robert Hurley et al. (trans.), Michel Foucault. Aesthetics, Method, and Epistemology (Essential Works of Foucault Vol. 2), New York 1998, pp. 205–222.

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gical impossibility. Hence the ,I‘ of the text is necessarily a construct, even in those cases in which the ,I‘ and the author have the same referent. For most modern fiction, this distinction makes perfect sense. At the same time, it is an abstract concept that outside of literary studies, in everyday life, does not hold. In e-mails and other forms of written communication, we do not assume a difference between the textual ,I‘ and the real-world individual who has sent us a message. How abstract the author-narrator distinction is can be nicely illustrated by comparing it to painting. For paintings we do not assume that there is any picture-internal stance different from the painter. Käte Hamburger adduces this argument in order to postulate that there is a functional, not a relational, relationship between author and narrator: just as a painter uses brush and paint in a certain way to create a picture, the author uses narrative to create the text.⁵ The comparison is not perfect: paintings rely on visual perception, whereas narrative requires an act of communication and is thus closer to everyday communicative contexts. Yet in both cases we are dealing with the mediation of some content by a cultural product, and only in the case of narrative we require an additional stance responsible for this mediation. In medieval studies, the most fervent proponent of a no-narrator model recently has been A. C. Spearing. In two monographs and an article he has laid out his arguments against the narrator-thesis. Spearing rejects the concept of the narrator on the grounds that it is biased and ahistorical, and argues that medieval narratives exhibit „textual subjectivity“ rather. Especially in cases of first-person narratives, he posits, the ,I‘ is not necessarily referential but operates on deictic terms in order to transmit closeness or some form of experientiality. Thus it is the effect of the experience that counts, which is not attributed to a concrete individual.⁶ In particular, Spearing criticises that the prominence of the narrator in modern theory is inextricably linked with the communicative view on narrative. He draws on Derrida and the critique of phonocentrism, the favouring of speech over writing, and contends that the communicative perspective narrative theorists use as their basis is neither binding nor perhaps the most useful one.⁷ As part of this communicative model, there is the underlying assumption of coherence in that the narrator functions as a „unifying principle“.⁸ Indeed

5 Käte Hamburger, Logik der Dichtung, 3rd ed. Stuttgart 1977, p. 135. 6 See A. C. Spearing, Textual Subjectivity. The Encoding of Subjectivity in Medieval Narratives and Lyrics, Oxford 2005; Medieval Autographies. The ,I‘ of the Text, Indiana 2012; and Spearing 2015 (note 2). The narrator theory has also been criticised prominently by Sylvie Patron, Le Narrateur: Introduction à la théorie narrative, Paris 2009; The Death of the Narrator and the Interpretation of the Novel, in: Journal of Literary Theory 4/2 (2010), pp. 253–272. See also Sonja Glauch, who discusses the first person in medieval narrative in detail, offering a diachronic typology of first-person narrators: Ich-Erzähler ohne Stimme. Zur Andersartigkeit mittelalterlichen Erzählens zwischen Narratologie und Mediengeschichte, in: Harald Haferland u. Matthias Meyer (eds.), Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven, Berlin 2010, pp. 149–185. 7 Spearing 2005 (note 6), pp. 6–10. 8 Spearing 2005 (note 6), p. 2.

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a related issue when interpreting medieval narratives concerns their oftentimes ,odd‘ or lack of coherence: illogical jumps, unexpected turns of the plot, and stylistic choices that do not correspond to other parts of the text. Predicating a narrator that somehow is responsible, textually, for all of this, can be an attempt at coming to terms with these seeming inconsistencies. Poignantly, Spearing concludes that the ,narrator theory of narrative‘ „assumes that a human consciousness comes first, and narrative comes afterwards, as a message to be conveyed to another consciousness“, but that in medieval culture, rather, „it was not the consciousness of men that determined narrative, but narratives that determined their consciousness“.⁹ This intersection of narratives and consciousness will be central to the remainder of this article. While I do not question that narrative is a form of communication, I oppose the heavy, often exclusive stress that has been placed on this notion in most narrative theories. Shifting the emphasis away from narrative as a communication between consciousnesses and texts, I consider narrative as a cognitive product, and as being entangled in cognitive processes and parameters. Rather than starting from the concepts ,author‘ and ,narrator‘, I see at the heart of the issue a conceptual difference that is much more encompassing than the question of ontological congruence (or not) between the two. In this context a third factor is of key importance: the roles and functions of characters in medieval narratives. Opening up the author-narrator debate to the category of characters will help us throw into relief a different understanding of experience that underlies medieval narrative. I suggest, then, in factoring in experience and paying attention to its specific renderings, we can go beyond the problem of the author-narrator distinction. My argument falls into two parts. First, I am going to make a case for a cognitive approach, which brings experience and narrative together. In a second step, I revisit the question of ,Who speaks?‘ in conjunction with the roles and functions of character in medieval narrative. I set my critique of existing narratological approaches to premodern narrators and characters in dialogue with the concept of experience and put forth an alternative model that capitalises on the notion of experience.

1 Narrative Experience and Cognitive Literary Theory I begin with a number of examples. In medieval literature, the strict distinction between author and narrator is neither here nor there in many cases. There are at least three typical narrative constellations that feature an ,I‘, and only one of them is potentially problematic.

9 Spearing 2005 (note 6), pp. 25–26. For the term narrator theory of narrative, see S.-Y. Kuroda, Reflections on the Foundations of Narrative Theory from a Linguistic Point of View, in: Teun A. van Dijk (ed.), Pragmatics of Language and Literature, Amsterdam 1976, pp. 107–140.

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In the first constellation, the ,I‘ is merely the transmitter of the narrative content and not or hardly individualised. It may overlap, in actual performance indeed merge, with the person who reads out the text. The ,I‘ and the narrated events are distinct from one another, thus there is no conflict between them and the identity of the ,I‘. Examples include medieval romances such as ,Bevis of Hampton‘ (c. 1324) or ,Gawain and the Green Knight‘ (late 14th century). ,Gawain and the Green Knight‘ begins with a brief account of the siege of Troy, Aeneas’s flight, and the legendary foundation of Britain by Brutus, the great-grandson of Aeneas. In the second stanza, we encounter an ,I‘ for the first time, who presents himself as a bard, that is, as the transmitter of the traditional material: Ande quen þis Bretayn watz bigged bi þis burn rych Bolde bredden þerinne, baret þat lofden, In mony turned tyme tene þat wroʒten. Mo ferlyes on þis folde han fallen here oft Þen in any oþer þat I wot, syn þat ilk tyme. Bot of alle þat here bult of Bretaygne kynges Ay watz Arthur þe hendest, as I haf herde telle. Forþi an aunter in erde I attle to schawe, Þat a selly in siʒt summe men hit holden And an outtrage awenture of Arthurez wonderez. If ʒe wyl lysten þis laye bot on littel quile, I schal telle hit astit, as I in toun herde, With tonge. As hit is stad and stoken In stori stif and stronge, With lei letteres loken, In londe so hatz ben longe. (ll. 20–36)¹⁰ And when this Britain was founded by this noble man, bold men flourished there, who loved battle, who brought about trouble there in many a turbulent time. More marvels have often happened here in this land than in any other I know, since that same time. But of all the kings of Britain that lived here Arthur was always the noblest, as I have heard tell. Therefore I intend to set forth a real-life adventure, which some people consider plainly a marvel and an extraordinary adventure of the wonders of Arthur. If you will listen to this poem but a little while, I shall tell it at once, aloud, as I have heard it in the court. The form in which it is set down and fixed, in a brave and powerful chronicle enshrined in true syllables, is that in which it has long existed.¹¹

The short interjections þat I wot (l. 24) and as I haf herde telle (l. 26) are topical, just like the reference to the court as the source of the text (l. 31). Together with the announcement of the theme and that the tale is about to begin (ll. 27; 31), the references evoke

10 I use the edition by Malcolm Andrew and Ronald Alan Waldron, The Poems of the Pearl Manuscript (York Medieval Texts, second series), London 1978. 11 Translation taken from: The Poems of the Pearl Manuscript in Modern English Prose Translation, trans. Malcolm Andrew and Ronald Waldron, Exeter 2007.

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the actual situation of the performance and allow any reciter to assume the identity of the ,I‘. From the very beginning it is obvious that the ,I‘ does not feature in the story; he recounts a tale that belongs to the Arthurian tradition. Its fictional status is subject to debate; it may be a true account (aunter in erde, l. 27; selly in siʒt, l. 28) or an outright fantasy (l. 29). Throughout the ensuing story, the narrator comes to fore occasionally to comment on selected aspects of the story. Sometimes these comments are meant to channel the audience’s responses and expectations in a particular direction, for instance when the ,I‘ urges Gawain to þenk wel about the auenture he has taken on (ll. 487; 489). However, these comments are textual, they pertain to the story and the reception and do not provide any indication of a narrator that is different from the author. In the second constellation of first person narration, there is an ,I‘ who narrates and who is identifiable as an individual, but the narrated events are distinct from his or her own experiences. The first person thus claims authorship, but is not directly involved in any of the actions he or she describes. Examples are the romances of Chrétien de Troyes, Geoffrey Chaucer’s ,Troilus and Criseyde‘, and hagiographic works by Osbern Bokenham and John Capgrave (both early- to mid-fifteenth century), but also texts that have been transmitted anonymously, such as the saints’ legends in the ,Scottish Legendary‘ (late 14th century). Even though Osbern Bokenham in the prologue to his ,Legendys of hooly wummen‘ withholds his name for fear of critique, thus evoking the humility topos, the author is abundantly identified as an individual: he is an Austin Friar, mentions past experiences, the genesis of the work, the date in which he began writing, and addresses his friend Thomas Borgh.¹² In these and similar cases, the ,I‘ orchestrates his authorship, often by including (pseudo-)biographical details and reflecting on the process of writing. Prologues become playfields for authors who stage themselves in greater detail, thus this type of first person accounts is often located there. As the ,I‘ always refers to the author, author and narrator collapse into one. Like the second category, the third constellation features an ,I‘ that is evidently identifiable as a real-world individual, yet in this group the narrated events feature the ,I‘ as a (main) character who either narrates his or her own experiences, or is in some way involved in the world that is described. One may call it pseudo-autobiographical, or imaginatively autobiographical, even though the term ,autobiographical‘ is problematic because it implies a sense of self-writing that does not lie within the scope of the medieval tradition.¹³ The status of the narrated experiences is the crux: the events can span a wide spectrum from being highly probable and thus possibly or even undoubtedly true to being entirely fictional. Here we find borderline cases such as Mandeville’s ,Travels‘, Thomas Hoccleve’s ,Complaint‘, Margery Kempe’s book, but also

12 See Prologus, ll. 1–240 in Osbern Bokenham, Legendys of Hooly Wummen, ed. M. S. Serjeantson, London 1938. 13 See also Glauch (note 6) on pseudo-autobiography.

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,The Canterbury Tales‘ and Chaucer’s dream visions. Dream visions are particularly rich in linking narrative and imagined experience in first-person accounts.¹⁴ For example, Chaucer’s poem ,The Book of the Duchess‘ begins with a vivid account of the speaker’s sleeplessness. When he finally falls asleep, after having read the story of Ceyx and Alcyone, he has a marvellous dream in which he encounters a black knight who mourns the death of his lady. Upon waking up, the poet decides to put the dream into words: Therwyth I awook myselve And fond me lyinge in my bed; And the book that I hadde red, Of Alcione and Seys the king, And of the goddes of slepyng, I fond it in myn hond ful even. Thoghte I, ,Thys ys so queynt a sweven That I wol, be processe of tyme, Fonde to put this sweven in ryme As I kan best, and that anoon.‘ This was my sweve; now hit ys doon. (ll. 1324–1334)¹⁵ With that I awoke and found myself lying in my bed; and the book I had read, about Alcyone and King Ceyx and the goddess of sleep, I found in my hand, wide open. I thought, ,This is so strange a dream that I will, in the process of time, try to put this dream into rhyme as best as I can, and that right away.‘ This was my dream; now it is done.

Chaucer frames the dream in such a way that we are to imagine the dream as the poet’s even though the meeting with the knight and the dialogue they engage in is obviously not something he has ever encountered in a dream in his real life. The poem has often been read autobiographically because of its many potential allusions to the death of Blanche, Duchess of Lancaster and wife of John of Gaunt, and perhaps Gaunt may even have commissioned the poem himself. These links notwithstanding, the dream remains a fiction, a poeticised account of an experience of loss in which the poet (as author and narrator in one) features. What emerges from our brief exploration of the three categories of ,I’s is the following: unless a text features an ,I‘ that is distinct from the author, medieval literature generally does not distinguish between author and narrator even in cases in which it is very unlikely, even impossible, that an actual person may have experienced the narrated events in the first place. The question of who takes responsibility for the narrative events, and his or her ontological status, is thus far less important to medieval authors

14 See e. g. Stephen J. Russell, The English Dream Vision. Anatomy of a Form, Columbus 1987, and A. C. Spearing, Medieval Dream-Poetry, Cambridge 1976 on the tradition of medieval dream visions and its topical elements. 15 All quotations from Chaucer are taken from The Riverside Chaucer, ed. Larry D. Benson, Oxford 1987. The translation is my own.

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and audiences than modern literary theory would have it. We could leave it at that and register the evidence as a footnote to current narratological debates on the author/ narrator distinction. I want to go one step further and argue that the medieval practice of collapsing author and narrator into one, or paying no attention to the identity of the narrative ,I‘, is indicative of another, more fundamental practice of medieval narration. Instead of the narrator, it is the narrated experiences themselves that take centre stage. The ,who‘ is dominated by the ,what‘. Medieval narratives prioritise the representation of experience, behind which questions of transmission and authorship recede. In a similar vein, Sonja Glauch has argued that medieval first-person narrators can be placed in the trajectory of experience. First-person narrators, according to Glauch, narrativise a common experience, which may be gained from hearsay, through other stories, exempla, ancient narratives, and so forth. The first-person account then is a fiction, the poetic manifestation of a more general truth.¹⁶ This truth justifies the form, which is no longer remarkable or ontologically challenging. In my usage of the term ,experience‘ I follow Glauch, who sets it apart from Monika Fludernik’s definition. Fludernik has famously put experience on the narratological map. She argues that ultimately all narratives are characterised by „the quasi-mimetic evocation of ,real-life experience‘“.¹⁷ However, the kind of experience medieval narratives are concerned with, as Glauch points out, is of a different nature than the one Fludernik discusses. Fludernik’s experientiality is based on schemata and frames derived from real-world experiences of how the human body is enmeshed in the world.¹⁸ In other words, experience in the sense of lived experience, Erlebnis, derived from oral storytelling, provides the basis for her model.¹⁹ Medieval narratives, by contrast, reverberate with experience in a more abstract sense. When I talk about ,experience‘ as being at the heart of medieval narrative, I imply four overlapping meanings of the term, based on the two-fold temporal layer of narrative: 1. experience in a processual sense: that which is experienced in the evolving narrative by the characters, linked to their perceptions, observations, discoveries, and so forth, in the temporal order of the narrative (Arthur is challenged by the Green Knight; Gawain accepts the challenge; he searches for the Green Chapel, meets Bertilak, and so forth);

16 See Glauch 2010 (note 6), p. 171: „Die Erzählhandlung ist also Fiktion, poetische Einkleidung einer allgemeineren Wahrheit.“ Glauch’s approach is diachronic; she postulates a development from author-narrators (in narratives without a frame) and character-narration (frame narratives) to pseudoautobiographical, fictive authors (see the overview on p. 155). 17 Monika Fludernik, Towards a Natural Narratology, London, New York 1996, p. 12 18 Fludernik (note 17), p. 51. Fludernik does not define her notion of experience, but it is clear that she uses it in different senses, ranging from real-world experiences (Erlebnisse) to the experience of reading and its effects in a more abstract sense, as the accumulation of knowledge gained from a text. This corresponds to my own understanding of the term. 19 Glauch 2010 (note 6), pp. 159–160.

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experience in a resultative sense: the knowledge, information, or skill gained from the narrative and its events as an abstraction („a tale about chivalry and proper behaviour towards women“) as manifested in and by the characters; 3. experience in a reception-oriented, processual sense: the experience of reading, i. e. the reading process as evolving in time; 4. experience in a reception-oriented, resultative sense: the experience of acquiring knowledge (in the widest sense) from the narrative. 2.

Categories (3) and (4) thus describe the readers’ experience and highlight the dynamics of the reading process as an evolving, processual activity on the one hand and the result of this experience as an abstraction on the other.²⁰ Experience is dynamic as the evolving plot, and resultative as the completion of the experience (lived experience vs. experience as an abstraction), and likewise the reading process is both dynamic – the actual experience of reading in time – and the experience of the reading a f t e r the actual chronological, line-by-line, page-by-page reception. On both the level of the story and in the world of the reader, lived experience (of characters acting, of the reader reading) and experience as the result of the process go hand in hand. Pertaining to all four meanings is the dimension of affect. Experience, even if it is meant to be general and encompassing, involves affective responses of the experiencer as well as the audience.²¹ My definition also implies that there are two kinds of experience in terms of where it is located: one is text-internal in that it is generated within and by the narrative, the other is text-external as it refers to the readers’ engagement with the text. Importantly, the two levels do not map onto each other in any neat or direct way. The readers’ experience does not necessarily mirror the characters’ experience or constitutes an act of ,reliving‘ the narrated events. In fact, the conclusions one draws from a reading experience may be strikingly different from

20 See, as a point of comparison, the range of meanings the term has in Middle English: „experience (n.).“ 1a., 1b., 2a., 3., 4.“ Middle English Dictionary, University of Michigan, April 2013, Web, 12 February 2017: „The method or process of acquiring knowledge or understanding by observation, esp. through sensory perception“; „The action of observing, seeing with one’s own eyes, hearing with one’s own ears, investigating, testing, or experimenting; observation, investigation, experiment; also, what is found out by investigation or experiment, discovery“; „What is observed or experienced by the senses, sense perceptions; something seen, heard, felt, etc.; personal or practical experience, practice“; „Knowledge, information, ,know-how‘, or skill acquired through personal experience or practice; expert knowledge; also, good practical sense, understanding, or wisdom.“ 21 See the definition 4.a in the OED: „The fact of being consciously the subject of a state or condition, or of being consciously affected by an event. Also an instant of this; a state or condition viewed subjectively; an event by which one is affected“ („experience, n.“ OED Online, Oxford University Press, Web, 12 February 2017). My distinction bears some resemblance to Hans Robert Jauss’s threefold distinction between poesis, praxis, and catharsis in his approach to aesthetic experience (Aesthetic Experience and Literary Hermeneutics, trans. Michael Shaw [Theory and History of Literature 3], Minneapolis 1982).

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the conclusions offered within the narrative.²² Glauch uses the concept of experience to tackle the author-narrator distinction from a diachronic perspective. She suggests that fictional first-person accounts of personal experience (pseudo-autobiographical novels) are a relatively late development. The experiences in the first person relate to a different, or rather, newly discovered notion of fictionality. I would like to go beyond this and argue that it is indeed experience we should take as our vantage point in order to understand how medieval narratives function. Experience allows us to conceptualise the author-narrator-character triad anew, and to move away from the problematic communicative model of narration. Experience, then, requires a more detailed discussion, especially with respect to its cognitive grounding and cognitive literary studies. An experience-based approach to medieval narrators and narratives starts from the premise that narrative texts are the products of minds, that they are cognitive because they are imaginative creations inextricably linked with the processes of thinking, reasoning, ordering, and perceiving the world. Likewise, reading, as an essentially mental ability, is linked with parameters of cognition. Cognitive literary studies are a relatively young but thriving field in the humanities which investigate, among other things, the cognitive backdrop of literary production, the cognitive engagement and investment of readers, and, by metaphorical extension, how mental processes are represented and instigated by means of literary texts. In the introduction to the ,Oxford Handbook of Cognitive Literary Studies‘, Lisa Zunshine stresses the dialogic and open nature of the various approaches, ranging from neuroaesthetics and cognitive narratology to the new unconscious, and their resistance to unified theories.²³ All of the approaches share the view that meaning is c o n structed rather than e x tracted; the text is regarded not as a container but as a medium. Cognitive narratology, in David Herman’s definition, then, studies the „mind-relevant aspects of storytelling practices“.²⁴ Experience is a key term in this trajectory, most often evoked in the context of theories of embodiment, which also forms the basis of Fludernik’s cognitive approach to experientiality. According to theories of embodied perception, we cannot dissociate the experience of the world from the way our bodies function. Alva Noë has introduced the most developed theory in this context, the so-called enactive approach. Perceptual experience, he argues, is interactive: the embodied mind is constantly in dialogue with the physical environment. We thus necessarily rely on our perception, and then evaluation, of what is going on around us, on our upright posture, the body’s movement, sensual experiences,

22 But see Marco Caracciolo, The Experientiality of Narrative. An Enactivist Approach, Berlin 2014, who argues that on the level of embodied perception in particular such a mapping of narrative experience onto the reader can constitute a powerful means of facilitating immersion. 23 Lisa Zunshine, Introduction to Cognitive Literary Studies, in: Lisa Zunshine (ed.), The Oxford Handbook of Cognitive Literary Studies, Oxford 2014, pp. 1–9. 24 David Herman, Cognitive Narratology, in: Peter Hühn (ed.), Handbook of Narratology, Berlin 2009, pp. 30–43, here p. 30.

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and so forth.²⁵ By now, a number of studies have demonstrated on a wide historical spectrum how embodied perception has informed literary texts and their reception. Embodied knowledge is an important aspect how we experience and make sense of literature, and the concept works well in order to elicit whole networks of ,embodied‘ configurations within and across literary texts.²⁶ The concept of experience features in these approaches predominantly as the bodily experience of human beings in the real world. This experience operates as the backdrop for the literary evidence. Authors can evoke, draw on, appeal to, poeticise, convert, and so forth our pre-existing knowledge of embodied cognition and perception. In my approach, embodiment is but one textual strategy that channels narratively encoded experience. By ,cognitive‘ I mean a fuzzy concept that refers to the sense-making strategies more generally that are triggered by literary texts, and inscribed into them. It is a model that claims a cognitive grounding in terms of understanding and deriving meaning from literary texts.²⁷ Also, it posits that some cognitive parameters are historically dependent: this includes those soft parameters that pertain to the practices of writing and reading. There are differences because the cultural, historical, and social contexts were different, which led to a difference in perceiving and evaluating the world.²⁸

25 See Alva Noë, Action in Perception, Cambridge 2004, and Out of our Heads: Why You Are Not Your Brain, and Other Lessons from the Biology of Consciousness, New York 2009. In narrative theory, a group of scholars who call themselves second-generation cognitive theorists have conducted excellent work on embodiedness and enactivism in literary texts; see Caracciolo (note 22), and Karin Kukkonen and Marco Caracciolo (eds.), Special Issue on Cognitive Literary Study. Second-Generation Approaches, in: Style 48/3 (2014). For important groundwork on the mind-body relation, see Mark Johnson, The Body in the Mind. The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason, Chicago 1987; A. R. Damasio, Self Comes to Mind. Constructing the Conscious Brain, New York 2010. 26 The study of metaphors, frames, scripts, and blends, as well as semantics play crucial roles. For medieval literature, the connections between the embodied mind and religion are particularly pertinent. See e. g. Guillemette Bolens, The Style of Gestures: Embodiment and Cognition in Literary Narrative, Baltimore 2012; Cristina Maria Cervone, Poetics of the Incarnation. Middle English Writing and the Leap of Love, Philadelphia 2012; Mary Thomas Crane, Shakespeare’s Brain. Reading with Cognitive Theory, Princeton 2001; Ellen Spolsky, Contracts of Fiction. Cognition, Culture, Community, Oxford 2015; Jill Stevenson, Performance, Cognitive Theory, and Devotional Culture. Sensual Piety in Late Medieval York, New York 2010; Lisa Zunshine, Getting Inside Your Head. What Cognitive Science Can Tell Us about Popular Culture, Baltimore 2012. With respect to medieval texts, see also Robert Mohr, Cognitive Poetics und mittelalterliche Literatur. Chancen einer Untersuchung mittelalterlicher Leseprozesse und schemabezogener Identitätsbildung, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 141 (2012), pp. 419–433 and the articles in Jane Chance (ed.), Postmedieval: a journal of medieval cultural studies 3 (2012), which focus on neuroscience and cognitive literary theory. The introduction is particularly rich in terms of the overview Jane Chance provides (Cognitive Alterities: From Cultural Studies to Neuroscience and Back Again, pp. 247–261). 27 Terence Cave uses the apt phrase of a „a cognitively inflected reading“ (Thinking with Literature. Towards a Cognitive Criticism, Oxford 2016, p. 31). 28 For instance, as Elizabeth Hart has demonstrated, the cultural impact of the changes brought about by the printing press may be linked to the new focus of interiority and immersion that emerged in

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2 From ,Who Speaks?‘ to ,Who Experiences?‘ Gérard Genette famously distinguished between Qui parle? and Qui voit?, that is, between the source of the narrative ,voice‘ and its identity on the one hand, and the perspective or stance from which something is viewed, on the other.²⁹ Even though the terminology has been criticised, and later critics have introduced new terms and new distinctions, the categories of voice and perspective still loom large in narratological theories, and continue to be used in connection with the communicative model of narrative.³⁰ Against my outline of narrative experience above, I would like to propose an alternative question: ,Who experiences?‘ This question runs crosswise the Genettian distinction and complements it by factoring in both the characters’ and the readers’ experience. As we have seen, experience is located on two levels: it refers to (1) the narrated experience in the storyworld as a process (the events as they evolve), (2) the narrated experience in the storyworld as abstracted from the actual development, (3) the reader’s activity in engaging with the text, which is dynamic, evolving chronologically in the act of reading, and (4) the completion of the process, its result (the experience of having read something). The most obvious answer to the question ,Who experiences?‘, then, is experience in the sense of the first case: after all, it is the characters and their actions that are central to most medieval narratives. If a narrative is written in the first person, the protagonist may correspond to the ,I‘ that recounts the events, which, as we have seen, typically converges with the real-life individual responsible for writing the text. The first step in the analysis is the identification of the main experiencer, which goes hand in hand with the analysis of the main action, that is, what the narrative is ,about‘. In the example from ,Sir Gawain and the Green Knight‘ from above, the main experiencer is Gawain, together with the other characters he engages with: the Green Knight, Arthur, the other Knights of the Round Table, Bertilak, Bertilak’s wife, and so forth. Here the experiencers and the ,I‘ do not correspond, but as we have seen

the sixteenth century (1500–1620: Reading, Consciousness, and Romance in the Sixteenth Century, in: David Herman [ed.], The Emergence of Mind. Representations of Consciousness in Narrative Discourse in English, Lincoln 2011, pp. 103–131). I am indebted here also to Antonina Harbus’s important work on Anglo-Saxon material; see e. g. Cognitive Approaches to Old English Poetry, Cambridge 2012. She argues: „With the potential new lines of inquiry offered by Cognitive Literary/Cultural Studies and Cognitive Poetics, texts become key sources of information with relevance beyond their own immediate literary meaning: they become instantiations of human cognitive processing and conceptual structures“ (p. 19). 29 Gérard Genette, Figures III, Paris 1972, p. 203. Genette later added the question Qui percoit? in order to highlight that focalisation is not only a matter of ,seeing‘, but of ,perceiving‘ in a more general sense (Gérard Genette, Nouveau discours du récit, Paris 1983, p. 43). 30 Armin Schulz, for instance, postulates in his section on the narrator that the Genettian categories have proven to be useful (Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, edited by Manuel Braun/ Alexandra Dunkel/Jan-Dirk Müller, Berlin 2012, p. 367).

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the ,I‘ can also experience the narrative events in that he or she may be affected by the events and comment on them. In Chaucer’s dream visions, it is an ,I‘ that we can identify with Chaucer because it is presented as such. Here the poet is also the main experiencer: he walks across the dreamscape and relates his meeting with the black knight. In Bokenham’s saints’ legends, the experiencers are the saints whose legends follow upon the poet’s prologue. In all these cases, it is usually straightforward to identify the main experiencer within the storyworld. From the perspective of a theory of experience, character is the most important category. Experience hinges on someone (or something) who acts, reacts, perceives, and reasons. Crucially, the focus on ,experience‘ does not imply that characters have to be particularly reflective or conscious about what they have experienced. In fact, medieval narratives often lack such depictions of interiority and self-reflection. Instead, we encounter characters who frequently do not expose their mental processes. Characters are relatively flat, they do not develop, and we are not granted any, or only very limited, access to their psyches. As I have argued elsewhere, medieval literature favours plot rather than minds: action patterns that move quickly from one scene to the next. Thus we still ,follow‘ characters, in Lisa Zunshine’s sense, but not for their minds.³¹ People seldom act ,out of themselves‘. There are outer forces that move them: the constraints and rules of chivalry, divine orders, destiny, the requirements of tradition in which a story’s ending is prefigured. Experience is something that happens to someone, which brings about an effect or change of affairs. This, in turn, leads to further actions by the same person, or by others. Medieval romances have perfected this pattern. Finally, we can turn to the analysis of the readers’ experience, or the experience of reading. This dimension is the least accessible. As John Ganim puts it, „We are, in a sense, the poet’s most complicated characters“.³² Apart from our own, modern responses, we may be lucky and have evidence of how medieval readers evaluated a story, for instance through marginal notes, references in other works, and a detailed transmission history. If such evidence is not available – and often it is not due to the mobile and open transmission of texts – we have to take recourse to the clues the texts offer. Medieval literature is rich in providing these clues: the texts, exactly because the author-narrator is of lesser importance, frequently dramatise the reader and thus stage the experience of reading. Clearly, reception theory, especially Iser’s model of textual

31 See Eva von Contzen, Why Medieval Literature Does Not Need the Concept of Social Minds: Exemplarity and Collective Experience, in: Narrative 23.2 (2015), pp. 140–153. Paul Ricoeur also focuses on action and agents on the level of Mimesis I in his model and stresses that ,Why?‘ is necessarily linked with the question ,Who?‘: „To identify an agent and to recognize this agent’s motives are complementary operations“ (Time and Narrative, Vol. 1, trans. Kathleen McLaughlin and David Pellauer, Chicago 1984, p. 55). Emplotment then occurs on the level of Mimesis II, and interpretation on Mimesis III. Narrative experience, however, does not feature in this account, as Fludernik (note 17) p. 24 rightly points out. 32 John M. Ganim, Style and Consciousness in Middle English Narrative, Princeton 1983, p. 144.

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gaps that require to be filled, suggests itself as a starting point for the analysis. One could fruitfully combine it with cognitive theory in order to approximate the effects of the reading experience.³³ Cognitive theory offers a useful tool for this purpose: the dimension of affordances. Affordances are the instrumental qualities that are within the range of an object or action, but need not be fully, even not at all, realized or activated in a certain situation. They pertain to the p o t e n t i a l meanings and uses.³⁴ If we approach the third level of experience, the readers’ engagement, from this perspective, we can justifiably speculate about their reactions – as long as we can situate our hypotheses in the context of the affordances of a particular experience. Embodied readings are a good example of interpreting textual cues as affordances. From a cognitive perspective, embodiedness can elucidate a strong sense of immediacy and thus foster immersion in a story – in other words, trigger effects that point us to the experience of the readers. Given how ,embodied‘ our language is, it is small wonder that metaphors and imagery often evoke embodiedness, and I have referred to important studies in this field already. Even though often the texts do not provide the detailed descriptions of bodily perception that we find in modern narratives, there is still enough material that lends themselves to enactive readings. A short passage from the ,Book of the Duchess‘ may serve as an example: I was go walked fro my tree, And as I wente, ther cam by mee A whelp, that fauned me as I stood, That hadde yfolowed and koude no good. Hyt com and crepte to me as lowe Ryght as hyt hadde me yknowe, Helde doun hys hed and joyned hys eres, And leyde al smothe doun his heres. I wolde haue kaught hyt, and anoon Hyt fledde and was fro me goon; And I hym folwed, and hyt forth wente Doun by a floury grene wente Ful thikke of gras, ful softe and swete. With floures fele, faire under fete[.] (ll. 387–400) I had walked away from my tree, and as I went there came a whelp close to me that fawned on me as I stood there. It had followed me and did not know what to do. It crept towards me lowly, right as if it had known me, held down his head and put back his ears, and laid his hair down all smooth. I wanted to catch it, but he fled away quickly and was gone. I followed him, and it went forth, down by a flowery green path, full thick with grass, soft and sweet, with many flowers, fair under the feet.

33 See Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 4 1994; Jauss (note 21). 34 See Cave (note 27), pp. 46–62.

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This is a very vivid account. We can immediately link it with our own everyday life experiences: we can see Chaucer standing there, the little dog at his feet, trying to reach out, then Chaucer walking over the grass. The sensory experience of the grass is highlighted, just as the dog and his typical dog-behaviour are described with an eye for detail that make him stand out plastically. Enactive readings form but one part of the reading experience, however; they are a micro-strategy that links up, cognitively, with human beings’ sense-making capacities. A specifically premodern way of conceptualising literature and its purposes, on a macroscale, concerns the usefulness of literature. This would qualify as one example of the affordances of literary works. The Horatian paradigm that literature is both pleasurable and beneficial is more than a bon mot, it points towards the fundamental understanding of literature as being instrumental. Mary Carruthers has argued that such a dynamic, active, and agential understanding pertained to medieval conceptualisations of the arts in general: „In the presence of any artefact, our first question could then be not ,What is it (and what does it represent)?‘ but ,What is it doing (and is it asking us to do)?‘“³⁵ Many a miscellaneous manuscript provides ample proof of how narrative and instructive pieces were set, and presumably read, side by side. Recent research has indicated that very different text types interact in various fruitful ways, and share many aspects in terms of their didactic messages. In particular, the intersections of romance and conduct literature are striking, which often co-occur in manuscripts. Rory Critten suggests that the two were „more widely felt to constitute two different sides of the same conceptual coin“.³⁶ Modern readers tend to blend out the dimension of instruction; we evidently assume a different attitude towards the texts. Here we can evoke the notion of affordances once more: for us, the texts afford pleasure rather than instruction; we thus frame it from the perspective of a different experience. Let me adduce one last example, a brief passage from Chaucer’s ,Knight’s Tale‘. Framed by the pilgrim Chaucer, another case of an author-narrator who pretends to recount his own experiences, we are introduced to the Knight as the teller of the tale. He is thus the ,I‘ that sometimes surfaces in order to structure the story and comment on the events. In the third part of the tale, we are told how the two protagonists Arcite and Palamon assemble their knights in the amphitheatre in order to determine who is allowed to marry Emelye, the queen’s sister they both have fallen in love with. The theatre contains three temples, devoted to Mars, Venus, and Diana respectively. Each of these temples and their interior is described in great detail. In the description of the temple of Venus, the speaker addresses the audience directly and invites them to ,see‘ the images inside the building: First in the temple of Venus maystow se (,First in the temple of Venus you may see‘; l. 1918). Turning to the temple of Mars, all of a sudden

35 Mary Carruthers, The Experience of Beauty in the Middle Ages, Oxford 2013, p. 14. 36 Rory G. Critten, Bourgeois Ethics Again: The Conduct Texts and the Romances in Oxford, Bodleian Library MS Ashmole 61, in: The Chaucer Review, 50/1&2 (2015), pp. 108–133, here p. 132.

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the ,I‘ has entered the storyworld: a first person now recounts what he has seen. There saugh I first the derke ymaginyng / Of Felonye (,There I first saw the malicious plotting / of wickedness‘; ll. 1995–1996); Yet saugh I brent the shippes hoppesteres (,Yet I saw the burned ships, dancing‘; l. 2017); And al above [. . . ] / Saugh I Conquest (,And all above [. . . ] / I saw Conquest‘; ll. 2028–2029). Is this the Knight speaking, imagining himself within the story? Have we perhaps even left, at this stage in the narrative, the framework of ,The Canterbury Tales‘ altogether and hear Chaucer’s voice, rather? The description of the temple of Diana continues in the same vein: the ,I‘ is again part of the narrated world. He ,sees‘ how Diana fared with Callisto, how she turned Daphne into a tree, and Actaeon into a hart (ll. 2055–2068). The two roles or functions of the ,I‘ clash when the description is combined with an explanation: There saugh I Dane, yturned til a tree – I mene nat the goddesse Diane, But Penneus doghter, which that highte Dane. (ll. 2062–2064) There I saw Daphne, turned into a tree – I do not mean the goddess Diana, but Peneus’s daughter, who was called Daphne.

Here we have the ,I‘ both as an eye witness of the scenes in the temple and as the transmitter of the tale, structuring and punctuating the narration. The two senses do not correspond neatly to the distinction between narrating and narrated ,I‘; rather, the two functions of the first person – the transmitter of the narrative material and the imagined (?) eye witness account are at odds with one another. Just before the passage quoted above, the transition to the description of the temple of Diana likewise features the ,I‘ in a double sense: Now to the temple of Dyane the chaste, As shortly as I kan, I wol me haste, To telle yow al the descripsioun. (ll. 2051–2053) Now I will haste to the temple of Diana the chaste, as shortly as I can, to describe everything to you.

That the speaker ,moves‘ from one temple to the next could be meant literally and figuratively. Both meanings are possible, and I think both are implied. Chaucer does not want to commit to one reading, because what counts is that these metaleptic jumps from one narrative level to the next are highly effective. They draw us into the story, heighten our sense of proximity to the images that are being described and thus our affective response to the tales of metamorphosis triggered by love and hate. The e x p e r i e n c e of the description is central. Who narrates cannot be dissociated from the question of who experiences, and ultimately the latter (the experiencer and his or her experiences) sidelines the former (potential questions about the teller’s identity

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and referentiality). T h a t something happens, and h o w, is more important than the identity of the experiencer. The act of experiencing comes before the act of identifying, and monopolises the act of narrating.

3 Conclusion: Communicating Experience It is in order to summarise my line of argument. I have begun by criticising the narratortheory and the communicative model of narrative it is based on. We as literary scholars are so used to conceptualising our theories in terms of a communicative model that we automatically assume that the teller of a story – the one who narrates, the one whose voice we are hearing – comes first. Yet it may be just as well possible to begin at what in the usual models is the core: the content of the story, the plot, the events as s o m e o n e ’ s e x p e r i e n c e s . If we start from the angle of experience, we begin by identifying the main ,experiencer‘ and his or her relation to the audience: as an ,I‘ that has undergone the experience himor herself, as a character that is talked about by an ,I‘ who may or may not be identifiable. My approach does away with the vexed author-narrator question in medieval narrative. It is neither here nor there; what matters is the experience that is being narrated (as a process and the result of this process), and the experience readers gain from the text. Medieval literature evidently functions differently from modern texts with respect to the author-narrator and the configuration of the narrated events as sequences of experience. These narrated events, largely action-based rather than psychology-based, take precedence before the actual or imagined contexts of the speaker. In an experiencebased model, narrative is viewed not as something that ,communicates‘ (other than in the actual context of performance), but as something that one ,does‘ – a task, an action, an experience in itself. Crucially, experience results from action, from the events in which the characters are entangled. These events ,communicate‘ to the reader.³⁷ I have proposed that medieval readers put a premium on the events as someone’s experiences, from which they could, in the widest sense, profit. Taking pleasure from a text is just as profitable as a concrete piece of advice. It is not real life that is the benchmark of narrated events, but the conclusions to be drawn, the potential lessons to be learned. The exact nature of these lessons is subject to individual interpretation, they depend on the divergent realisation of the affordances inherent in every act of narrative experience. I am not implying that there are no links to real-life parameters; after all, without these we would not be able to understand any narrative. My point is that while all narratives draw on realist and mimetic parameters t o s o m e d e g r e e, not all narratives derive their fascination from their mimetic quality. This is particularly true

37 See Cave, who posits that „literature [. . . ] is part of the human conversation“ (note 27), p. 4. In this broad sense, literature is of course communicative.

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for the medieval context. I have suggested calibrating the emphasis we have placed on the communicative model anew and shifting it to the notion of experience. Since the model is indebted to cognitive literary theory, we can focus on the processual aspects of narrative and reception: how sense-making activates and necessarily engages minds. At the same time, the experience model elucidates the category of character as a key component in narrative. It is through the characters that experience is re-experienced, and can be made useful for the audience. That medieval characters tend to be flat is due to their function in the trajectory of transmitting experience that is meant to be useful for the audience. An experience-based analysis may not lead to completely different or strikingly new readings of medieval literature. Yet it can help us better understand phenomena such as immersion and the utility of literature as located in – and created by – the dynamic trajectory of processual and resultative experience between authors, narrators, characters, and readers. In addition, my approach also offers new starting points for the study of genre. Genres, one could argue, display different kinds of experience, frame and structure experience differently, and differ in the conclusions they draw from this experience. They reflect diverging attitudes to texts, and are ultimately the result of realising experience in narratives across a wide linguistic and structural canvass. We could extend the argument and take so-called non-literary or ,practical‘ genres into account as well. Here the transmission of experience does not circumvent through a storyworld, but is direct and immediately made accessible. Crucially, experience can also be theoretical. Examples include handbooks and teaching material, scientific treatises, as well as theological and philosophical works. A further field of inquiry pertains to the story/discourse distinction. One could argue that the processual and the resultative dimensions of experience in my model roughly correspond to story (resultative) and discourse (processual) respectively. In the communicative model of narration, the two do not really fit; they open up a further category that adds to the description of narrative. From the perspective of experience, they are rehabilitated as two conceptual dimensions of experience; they are intersected, result from one another, and remind us of the significance of time as a category that is crucial for the reading process. At the same time, the focus on experience frees us from the narrowness and containment of an action-based or plot-based approach. Experience is derived from the plot, obviously, but it is dynamic and processual rather than static. From a diachronic perspective, moreover, it is suggestive to postulate a shift in how experience is conceptualised as a key generator for changes in narrative forms and functions. Such a shift certainly does not pertain to all narrative genres and modes, but to some, with the novel being the prime example. For medieval narratives, the guiding question would be: what is being experienced by whom to which end? Experience is something that one undergoes, that happens to someone, triggered and brought about by external agents and forces. For the modern novel, one could rather ask: who experiences what to which end? Here experience is more active, based on individual

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choice. These differences would account for the divergent representation of characters. At the same time, there are modern genres which have retained the medieval model, especially in so-called paraliterature. Let me close with a somewhat imperfect comparison which nevertheless captures key aspects of what I have outlined here. Narrative, in my approach, works much like cooking. W h o has cooked a meal is only indirectly of importance in that it may influence how you judge it (if it was expensive, prepared by a famous chef or a loved one, for instance); but what matters is the w h a t: the synergy of the ingredients, the textures, the order of the dishes, in other words, the e x p e r i e n c e of the taste. The biblical metaphor of ,eating the book‘ acquires a new meaning: Then he said to me, ,Son of man, eat this scroll I am giving you and fill your stomach with it.‘ So I ate it, and it tasted as sweet as honey in my mouth. (Ezekiel 3:3).

Stijn Praet

A Monk’s Tale Framing the Fictional in John of Alta Silva’s ,Dolopathos‘ Zusammenfassung: Im späten 12. Jh. hat sich in der lateinischen Lehrtradition bereits durchgesetzt, unglaubliche, d. h. fiktionale Erzählungen (fabulae) zum Zwecke der moralischen und praktischen Unterweisung zu nutzen statt ihre offenkundige Fiktionalität als Lügen zu verbuchen. Der Beitrag zeigt, wie der Zisterziensermönch Johannes von Alta Silva in seinem zwischen 1184 und 1212 verfassten Werk ,Dolopathos, sive de rege et septem sapientibus‘ (,Dolopathos, oder der König und die Sieben Weisen‘) auf solche etablierten Legitimationsdiskurse zurückgreift, um die darin zuhauf enthaltenen phantastischen Elemente zu rechtfertigen. Dazu gehört neben der christlichen Deutung von Episoden oder der Hinzufügung eines Pro- sowie eines Epilogs vor allem die Rahmenstruktur, die das Werk als historisch ausweist bzw. auszuweisen scheint. Narratologisch gesprochen, erfindet Johannes einen Erzähler, indem er sich in den Peritexten sowie in der Rahmenerzählung als Historiograph inszeniert: Er kreiert eine persona, deren Fingiertheit darauf baut, vom Publikum entlarvt zu werden, und die somit die Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler voraussetzt. Schlagwörter: Binnenerzählung, Christianisierung, Erzählerfigur, Exemplum, Fabula, Fiktionalität, Historisierung, Märchen, Moralisierung, Rahmenerzählung, Wahrheit, Wunderbares, Zisterzienserliteratur

1 Telling Truths with Lies In the first book of his ,Etymologiae‘ (,Etymologies‘, ca. 600–625), Isidore of Seville roughly distinguishes between three types of narratives based on their level of historical veracity and empirical verisimilitude, a distinction derived from classical theories of rhetoric:¹ historiae sunt res verae quae factae sunt; argumenta sunt quae etsi facta non sunt, fieri tamen possunt; fabulae vero sunt quae nec factae sunt nec fieri possunt,

1 The most elaborate study to my knowledge of this system and its impact in the Middle Ages is Päivi Mehtonen, Old Concepts and New Poetics: Historia, Argumentum and Fabula in Twelfth- and EarlyThirteenth Century Latin Poetics of Fiction, Helsinki 1996. Green also discusses its significance in his seminal study on the rise of literary fictionality in the long twelfth century, Dennis H. Green, The Beginnings of Medieval Romance: Fact and Fiction, 1150–1220 (Cambridge Studies in Medieval Literature 47), Cambridge 2002, pp. 1–17, 134–137. Dr Stijn Praet, Romanska och klassiska institutionen, Stockholms universitet, 10691 Stockholm, Sweden, e-mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110566536-005

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quia contra naturam sunt.² Of these three types Isidore discusses the fabula at greatest length, primarily with reference to animal fables and classical mythology, though not without noting that Scripture also has its share of such fictitious fabrications. As he understands it, these fabulae allow their audience ut fictorum mutorum animalium inter se conloquio imago quaedam vitae hominum nosceretur,³ whether it be for the purpose of pure entertainment, (metaphoric) natural philosophy, or moral edification. In his appreciation of the fabula as a potential vehicle for the sort of truth that is to be understood in the moral and/or allegorical sense rather than the historical one, Isidore concurs with his fellow Church Father Augustine, also building on the latter’s argumentation.⁴ Augustine moreover thinks it worthwhile to state the difference between, on the one hand, made-up stories that convey some ,deeper‘ (,higher‘) meaning in an appealing and therefore more convincing manner, and on the other hand, intentional lies that are meant to deceive: Non enim omne quod fingimus mendacium est; sed quando id fingimus quod nihil significat, tunc est mendacium. Cum autem fictio nostra refertur ad aliquam significationem, non est mendacium sed aliqua figura ueritatis.⁵ In quo genere fingendi humana etiam facta vel dicta irrationalibus animantibus et rebus sensu carentibus homines addiderunt, ut ejusmodi fictis narrationibus, sed veracibus significationibus, quod vellent commendatius intimarent. Nec apud auctores tantum saecularium litterarum, ut apud Horatium, mus loquitur muri, et mustela vulpeculae, ut per narrationem fictam ad id quod agitur, vera significatio referatur; unde et Aesopi tales fabulas ad eum finem relatas, nullus tam ineruditus fuit, qui putaret appellanda mendacia: sed in litteris quoque sacris, sicut in libro Judicum ligna sibi regem requirunt, et loquuntur ad oleam, et ad ficum, et ad vitem, et ad rubum. Quod utique totum fingitur, ut ad rem quae intenditur, ficta quidem narratione, non mendaci tamen, sed veraci significatione veniantur.⁶

2 Isidorus Hispalensis episcopus, Etymologiarum sive originum libri XX 1, ed. William M. Lindsey, Oxford 1911, cap. 44 par. 5. ,Historiae are true things that have taken place. Argumenta are things that, though they have not taken place, could take place nevertheless. Meanwhile, fabulae are things that have not taken place and cannot take place, because they are at odds with nature.‘ All translations in this essay are my own. 3 Ibid., cap. 40 par. 1. ,to recognise a certain image of human life in the conversation of made-up dumb beasts‘ 4 For a comprehensive discussion of Augustine’s understanding of and relation to fictionality, see especially Anders Cullhed, The Shadow of Creusa: Negotiating Fictionality in Late Antique Latin Literature, Berlin, Boston 2015, pp. 83–299. 5 Sanctus Aurelius Augustinus, Quaestiones evangeliorum cum appendice. Quaestionum XVI in Matthaeum, ed. Almut Mutzenbecher (Aurelii Augustini opera 13.3. Corpus Christianorum: Series Latina 44B), Turnhout 1980, p. 116. ,Not everything we make up is a lie: when we make up something that does not signify anything, t h e n it is a lie, but when that which we have made up refers to some or other meaning, it is not a lie but a figure of truth.‘ 6 Sanctus Aurelius Augustinus, Opera omnia 6.1, Eds. Monachi ordinis Sancti Benedicti e congregatione S. Mauri, Paris 1837, col. 780. ,In this kind of made-up account people have attached human deeds or

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It is not that strange that pre-modern pillars of the Church and unrelenting seekers of eternal Truths such as Isidore and Augustine should come to the defence of stories that lack historical veracity or empirical plausibility. After all, both men had been schooled in the Latin tradition and thus thoroughly accustomed to the art of moralising and allegorising interpretation, applied not only to Old Testament accounts or the parables of Christ, but also to the wondrous tales of classical pagan mythographers. As for animal fables, these had already been a widely implemented didactic tool for centuries, as little moral lessons, and to help develop basic Latin reading and compositional skills.⁷ So when Augustine asserts that it would be hard to find someone who is t h a t stupid/unschooled (ineruditus) that they would conflate fabula with mendacium (,lie‘), he has good reasons to do so. And yet, while the Church Fathers’ musings on the nature and function of stories – their epistemological status and pragmatic potential in terms of historical/empirical and moral/spiritual truthfulness – would take deep roots in medieval Latinate culture, and though many other Latin authors both classical and medieval, pagan and Christian, had similar outlooks on the matter, fabulae could never fully escape the suspicions and criticisms of ,serious readers‘ who spurned them for being frivolous, irrational and mendacious. Even the medieval creators of such stories often remain entangled in the classical terminology of triviality (nenia, nuga), falsity and mendacity (mendax, mendosus, mendacium) when qualifying their work for their audience. Thus in the prologue to the ,Ecbasis cuiusdam captivi per tropologiam‘ (,The Escape of the Captive, Told in a Figurative Manner‘, 1050s?), a mock-epic take on the schoolish genre of the animal fable, the narrator remarks: raram si pono fabellam, / Confiteor culpam: mendosam profero cartam, adding by way of assurance, Sunt tamen utilia quę multa notantur in illa.⁸ About a century and a half later, Nigel of Longchamps still feels obliged to resort to the same utilitarian rhetoric when introducing his satirical beast epic ,Speculum stultorum‘ (,Mirror of Fools‘, 1180s):

words to non-rational animate and non-comprehensive inanimate things so as to intimate what they want more appealingly with made-up stories that, however, have truthful meanings. And it is not just so in ancient [pagan] authors such as Horace, where mouse speaks to mouse and weasel to fox, that a made-up story may refer to a true meaning concerning a certain matter – hence no man is t h a t ignorant that he would deem it fit we designate Aesop’s fables, which are [also] told to this purpose, as lies –, but it is also the case in Scripture, as when in the Book of Judges the trees are in search of a king and speak with the olive, the fig, the vine and the bramble. Of course, all of this is made up so that the thing under consideration may be approached through a made-up story with a meaning that is, however, not mendacious, but truthful.‘ 7 For the classical-medieval Latin fable tradition, see for instance Francisco Rodrígues Adrados, The Fable During the Roman Empire and in the Middle Ages (History of the Graeco-Roman Fable 2), Leiden, Boston 2000, pp. 559–710. 8 Ecbasis cuiusdam captivi. Escape of a Certain Captive: An Eleventh-Century Beast Epic, ed. Edwin H. Zeydel, Chapel Hill 1964, vss. 39–41. ,I present you with a strange little tale. / I confess my guilt: I offer you a lying sheet of paper. / Yet there are many useful things to be gleaned from it.‘

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Ipsa superficies quamvis videatur inepta Materiesque rudis, verba diserta minus, Multa tamen poterit lector studiosus in illis Sensibus et studiis carpere digna suis. Non quod verba sonant, sed quae contraria verbis Insita sensus habet sunt retinenda magis. Quis vetet, ex nugis vario paradigmate sumpto, Seria quandoque plurima posse legi? Saepius historiae brevitas mysteria magna Claudit, et in vili res pretiosa latet. Quicquid ad exemplum morum scriptura propinat Doctrinae causa, debet habere locum.⁹

Indeed, even by the end of the twelfth century, as marvellous stories were becoming more and more common in both Latin and vernacular literatures (e. g. Arthurian histories, lais, romances, fable- and fairy-tale-like epics, etc.),¹⁰ their authors were still not wholly safe from being deemed either liars for recounting the historically or empirically untrue, or fools for believing their own nonsense. Not surprisingly, they often employ certain authorial techniques to vindicate their choice of writing, also depending on the specific contexts in which they are working. Thus, while (pseudo-)historians and romance authors of the period commonly turn to topical claims of historical veracity in (mock-)defence of the marvels they are recounting, invoking allegedly reliable sources (existing or made-up, written or oral, based on eyewitness-accounts or well-established hearsay), writers in a predominantly moralistic and/or religious context tend more towards stressing the moral/spiritual veracity of their little fabulae.

9 Nigel de Longchamps, Speculum stultorum, eds. John H. Mozley and Robert R. Raymo, Los Angeles 1960, p. 31. ,Though this [work] may appear silly on the surface, / its matter crude and its words less than eloquent, / the studious reader will nonetheless be able, / through good sense and contemplation, to grasp its many merits. / It is not what the words sound out, but the contrary / meanings grafted onto them that are to be remembered here. / Who is to say that in the various examples of trifling tales / many serious matters cannot be read as well? / Quite often, the brevity of a story great secrets / does enfold, and hides something valuable in its lowliness. / Whatever moral example a piece of writing has to offer / in the name of education [Holy Doctrine?], it should have its place.‘ This ,line of defence‘, (rhetorically) acknowledging the humble artistic status of wondrous tales while stressing their didactic value, would be reiterated frequently in centuries to come, and it is still alive today. See for instance the many fore- and afterwords that have accompanied fairy-tale collections from the sixteenth century onward, several of which are translated and discussed in Ruth Bottigheimer (ed.), Fairy Tales Framed: Early Forewords, Afterwords, and Critical Words, New York 2012. 10 See for instance, Green (note 1) and Jan Ziolkowski, Fiction in the Long Twelfth Century and Beyond: Naissance, Renaissance, Both, or Neither, in: Marianne Pade et al. (eds.), Fiction and Figuration in High and Late Medieval Literature, Rome 2017, pp. 11–20. I am currently preparing a monograph on medieval Latin ,fairy tales‘ which also pays attention to the broader literary-historical developments that proved conductive to the appearance of such texts from the twelfth century onward: Stijn Praet, Fairy Tales and Latin Tradition: The Case of the Donkey Prince, Detroit (forthcoming).

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In the remainder of this contribution I will be discussing a particular Latin text from the long twelfth century (ca. 1050–1230) that provides us with an interesting perspective on the various strategies through which a medieval author may attempt to tell (and ,sell‘) the truth by recounting that which to the less forgiving or ,simpleminded‘ reader (cf. Augustine’s ineruditus) might look like nonsense or lies: a work entitled ,Dolopathos, sive de rege et septem sapientibus‘ (,Dolopathos, or the King and the Seven Sages‘).¹¹ Among other things, I will be touching on its author’s purposeful use of narrative framing, which surely transcends merely stringing together random stories for the sake of collecting, as well as on his direct narratorial interventions in the form of interpretative comments and metaliterary reflections. The picture that will emerge from this, however, is not that of an all-controlling ,I‘ fully on top of things, but of someone who does not feel completely confident about his brand of marvellous storytelling – a true reflection of the man handling the quill, or a playful fictionalising persona set up for the occasion?

2 Once Upon a Time in Sicily ,Dolopathos‘ was written sometime between 1184 and 1212 at the Cistercian monastery of Alta Silva, founded not a century earlier in the woodlands of the Lorraine region.¹² About its author, who refers to himself only as Johannes (henceforth Anglicised as John), we know next to nothing, though the literary accomplishment of his work suggests that it may not have been his first attempt at composition.¹³ The better part of ,Dolopathos‘ is made up by an encompassing frame narrative in which about ten shorter tales are embedded. It is furthermore accompanied by a pro- and epilogue, as well as a panegyric letter in which John dedicates his work to a certain Bertrand, then Bishop of Metz.¹⁴ The contents of the first- and second-degree narratives in ,Dolopathos‘ can be summarised as follows: ever since his boyhood days, Dolopathos (> Gr. dolos + pathos, ,he who suffers deceit‘), King of Sicily in the days of the Emperor Augustus, has surrounded

11 I use the Latin text edition in: Johannes de Alta Silva, Historia septem sapientum II: Dolopathos sive de rege et septem sapientibus, ed. Alphons Hilka, Heidelberg 1913. For modern translations, see Jean d’Haute-Seille, Dolopathos, ou le roi et les sept sages, ed. and trans. Yasmina Foehr-Janssens and Emmanuelle Métry, Turnhout 2000, and Johannes de Alta Silva, Dolopathos: Or The King and the Seven Wise Men, trans. Brady B. Gilleland, Binghamton NY, 1981. 12 Now Haute-Seille, part of the community of Cirey-sur-Vezouze. Only some ruins remain of the abbey’s Romanesque church. For the history of the monastery, see Edmond M. De Martimprey de Romécourt, L’abbaye de Haute-Seill, in: Bulletins de la société d’archéologie Lorraine 3.15 (1887), pp. 86-186. 13 For John’s style, see Gilleland in Johannes de Alta Silva (note 11), pp. ix–xii. 14 Hence the dating of ,Dolopathos‘: the monastery of Alta Silva was included in the diocese of Metz in 1184, while Bishop Bertrand died in 1212.

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himself with intelligent advisors and has himself become a wise ruler, strict in his application of the law, but caring of his people. Through a series of events Dolopathos becomes friends with the Emperor and he decides to send his only child Lucinius (> Lat. lux, ,light‘) to Rome to be educated for seven years by none other than Vergil, legendary master in the arts of poetry, magic and divination.¹⁵ Lucinius, too, displays a special talent for the latter, which on one occasion saves him from being maliciously poisoned. One night, the boy dreams that his mother has died. After pledging an unexplained vow of silence to his mentor Vergil, he hastily returns to his father’s court. Lucinius arrives at home to find the King has already remarried. Intrigued by the young man’s mysterious silence, his stepmother vainly tries to seduce him. Wounded in her pride, she accuses him of attempted rape. Lucinius is unable to defend himself because of his vow to Vergil, so the King sees no choice but to condemn his son to be burned at the stake. On the allotted day, an old man steps up from the crowd, introducing himself as one of the renowned Seven Sages of Rome. The Sage tries to dissuade the King from going through with the execution by telling him an exemplary tale relevant to his own situation, thus holding up a narrative mirror of truth. Afterwards, the King decides to forestall the event and mull things over, but he is persuaded again by his wife to proceed the next day. This scenario is repeated six more times, each time with a different Sage. Their stories go as follows: – First Sage, ,Canis‘ (,The Dog‘):¹⁶ An impoverished nobleman misinterprets the situation and in a fit of anger rashly kills his horse, his sparrow hawk, and the loyal dog that has just saved his child from a serpent. – Second Sage, ,Gaza‘ (,The Treasure‘): A father and son gradually rob a king’s treasure from a tower. When the former finds himself glued stuck near the entrance, he convinces the latter to cut off his head and flee, so that neither of them may be identified. The King tries to tease out the remaining thief by publicly desecrating the headless corpse. The young man slices off his own thumb to explain away his incontrollable tears at the cruel sight. Overcome by shame, he retrieves his father’s body by way of a clever ruse. – Third Sage, ,Senex‘ (,The Old Man‘): An ill-advised young king has all the elderly in his land executed to cope with a famine and plunges the realm into chaos. One youth hides away his old father. Thanks to the latter’s wise counsel he becomes a trusted advisor to the King. When the King asks each of his courtiers to show him their best friend, their most loyal servant, their favourite entertainer and their worst enemy, the old man instructs his son to take his dog, his donkey, his little boy

15 For Vergil’s legendary medieval reputation as master of these arts, see Domenico Comparetti, Vergil in the Middle Ages, Princeton 1997. The second part of this book is devoted particularly to the Vergil of legend, including a brief section on ,Dolopathos‘ (pp. 232–238), which does suffer somewhat under the author’s conflation of the Latin prose text with its Old French verse adaptation by Herbert of Paris (Li romans de Dolopathos, ca. 1220). 16 The titles of the embedded tales are a handy addition by the text editor.

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and his wife. Disgruntled because of this slight, the woman betrays her husband and father-in-law at court. The King, however, pardons them, sees his own errors, reinstates the ancient laws of his kingdom and appoints the old man as high judge. Fourth Sage, ,Creditor‘ (,The Creditor‘): A highly educated enchantress noblewoman becomes rich by receiving men into her bed for a fee, but cheats them out of any carnal satisfaction with the help of a magic, sleep-inducing feather. Eventually, she weds a lucky young man whose life she later saves by transforming herself into a male law specialist and cleverly entrapping his accuser at the royal court, in what is our oldest attestation of the so-called ,pound-of-flesh‘-intrigue immortalised in Shakespeare’s ,The Merchant of Venice‘ (1605). Fifth Sage, ,Viduae filius‘ (,The Widow’s Son‘): The son of a Roman king has his hawk strike down a poor widow’s only chicken. The woman’s son in response kills the hawk, but is killed in turn by the enraged princeling. The widow demands justice from the King. Rather than having the boy executed for his crime, she accepts his son as her adoptive child. Sixth Sage, ,Latronis filii‘ (,The Robber’s Sons‘): A retired robber’s sons get caught trying to steal a horse from a queen. She is willing to ransom them back to their father in return for some adventurous tales of his younger days. It concerns the third-degree narrations: ,Polyphemus‘ (after the cyclops of the Odyssean episode on which this tale is modelled): The robber and his gang break into the house of a rich giant, but are apprehended and devoured by the monster one by one. The robber manages to trick the giant and blinds him horribly. After some failed attempts hiding amongst a flock of sheep, he finally escapes, but not without biting off his own finger in order to rid himself of a magic ring that forces him to reveal his whereabouts. ,Striges‘ (,The Witches‘): Following his flight from the giant, the robber winds up in a forest hut where he finds a frightened mother and her child held captive by cannibalistic witches. He poses as a hanged corpse to evade detection. The hags cut off and eat a slice of his buttocks. Eventually, they are driven out of their hut by a mysterious force, leaving their captives safe. Seventh Sage, ,Cygni‘ (,The Swans‘): A nobleman stumbles across a clairvoyant woodland nymph while hunting and takes her for his wife. The nobleman’s mother is envious of her daughter-in-law and schemes to have her unjustly condemned to a cruel fate. She kidnaps her sextuplets at birth, replaces then with puppies, and has the girl blamed for the allegedly monstrous, bestial births. The infants are left in the woods to die, but are found instead by a hermit-philosopher who rears them for seven years. Having learnt that the children are still alive, the wicked mother-in-law’s servant sets out and steals away the boys’ magical necklaces, thus forcing them to remain in what turns out to be their natural form as swans, bereft of human speech. Their still human sister takes care of them for some time, meets their unwitting father and mother, and narrowly escapes a final murder attempt at her grandmother’s behest. In the end, all is revealed. The children are made

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human again (but for one whose necklace has become damaged),¹⁷ the family is reunited and the evildoer is submitted to the same life-sentence punishment previously undergone by the innocent nymph. And yet, when everything is said and done, even after the Seventh Sage’s suggestive story and explicit accusation laid against the new Queen, King Dolopathos is still none the wiser and prepares to burn his son. In the nick of time, Vergil comes flying to the rescue on the back of a giant bird and acquits Lucinius on account of a legal procedural mistake. He then tells one more anecdote, ,Puteus‘ (,The Well‘): an unfaithful wife is locked out of the house by her angry philosopher husband and cleverly feigns drowning herself in a nearby well. When her sorry spouse comes running out, she slips back indoors and turns the tables on him, loudly crying for all the neighbours to hear that it was h e who has committed adultery. She only lets him in after he has promised to forgive her. Vergil, having made his point that not even a wise philosopher is ever fully safe from the cunning of women,¹⁸ now relieves Lucinius of his vow of silence. Dolopathos finally understands the truth of the matter and the Queen is condemned to die at the stake she had intended for her stepson. Not long after, Dolopathos and Vergil pass away. Lucinius grows up to become a just king. In the meantime, Christ has walked and left the earth. One day, a Roman Jew comes to spread the gospel on Sicily. Lucinius invites him to a series of conversations, which take the shape of scholarly dialogues. They talk of many things, including man’s essential dignity and fall into sin, the divine gift of free choice, the Incarnation through the Virgin, the Trinity, the subject of false idols, etc. Lucinius grows increasingly persuaded by the apostle’s arguments, though not completely. Then a funeral procession passes by on its way to cremate a deceased youth. When the apostle performs the miracle of resurrection on the boy, the King and many of his subjects are amazed and convert to Christianity.¹⁹ Lucinius entrusts the throne to a worthy friend and travels to Jerusalem to spend his life near the apostles and the holy places. We know he never

17 The narrator remarks in passing that it concerns that very swan who will later pull a little boat carrying one of his brothers and gain him the title of ,Swan Knight‘. How the story of the swan children as we know it from ,Dolopathos‘ was integrated into the grander mythology encompassing not just the Swan Knight, but also the House of Bouillon and the First Crusade, is a different story altogether, one that eventually also leads to the writing desk of Hans Christian Andersen. For a literary-historical outline of that development, see Stijn Praet, Fairy Tales and the Latin Tradition: A Literary-Contextualising Approach, PhD diss., Ghent 2014, pp. 339-355, and Cyrille François, C’est la plume qui fait le conte: Die Sechs Schwäne des frères Grimm et De vilde Svander de Hans Christian Andersen, in: Féeries 9 (2012), pp. 55-84. 18 This theme plays an important role throughout ,Dolopathos‘. It is also common in the writings of many other didactically oriented (and certainly monastic) authors of the High Middle Ages, including Petrus Alfonsi’s popular and influential proverb- and exempla-compilation ,Disciplina clericalis‘ (,The Cleric’s Education‘, 1106–1110) which devotes an entire series of roguish tales to it. 19 The passage is likely modelled on Luke 7:11–17.

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returned from there, but are left to assume he was eventually received into the Kingdom of God. With the wondrous storytelling in ,Dolopathos‘, John of Alta Silva performed quite a remarkable feat, considering the environment in which he was writing. Granted, during the latter decades of the long twelfth century, marvellous stories were becoming more acceptable in both Latin and vernacular literatures than had been the case in preceding centuries, the popularity of the matière de Bretagne being a shining testimony to this literary evolution. That being said, are the Cistercians not known as one of the most exactingly ascetic monastic orders of the High Middle Ages? Its most illustrious abbot Bernard of Clairvaux (while an imaginative literator himself) was already annoyed at the sight of the grotesque stone monsters and mythical creatures decorating many a cloister and church façade, which according to him could only lead to spiritual distraction.²⁰ For mimi, et magi, et fabulatores scurrilesque cantilenae he had little patience either,²¹ much in line with ancient Christian attitudes in contempt of worldly entertainment.²² Other Cistercians such as Aelred of Rievaulx and Caesarius of Heisterbach specifically warn against the matière de Bretagne as an enticing distraction from the true Word and instigator of vain emotions in the reader.²³ Of course, it is not hard to picture how stories of King Arthur and the likes would have occasionally penetrated the monastic walls and minds nonetheless – recollected by monks from the days before their admission, overheard at public performances during travels and public dealings, or even read in manuscripts that were to be copied out at the scriptorium for courtly use or indiscriminate storage.²⁴ Also, the brethren’s Latinate education would have made them well acquainted with the sort of heroic and wondrous accounts found in classical poets such as Vergil and Ovid. I would note here that the Cistercians did in

20 See Bernard’s ,Apologia ad Guillelmum‘ 1 (,Defence Addressed to William [of Saint-Thierry]‘, ca. 1124). 21 Sanctus Bernardus Claraevallensis, Opera omnia 41.2, eds. Jean Leclerq et al., Rome 1958, p. 926. 22 See for instance Augustine’s ,Confessiones‘ 1.13 (,Confessions‘, ca. 397), in which he professes his embarrassment for having wasted so much time and idle tears on the tragic fate of Dido and Aeneas in Vergil’s ,Aeneid‘. The Vulgate itself already states: bonus eris minister Christi Iesu, enutritus verbis fidei et bonae doctrinae quam adsecutus es. Ineptas autem et aniles fabulas devita. Exerce te ipsum ad pietatem (I Timothy 4:6–7, quoted from the text edition in Biblia Sacra iuxta vulgatam versionem, ed. Robert Weber, Stuttgart: 1969), ,You shall be a good servant of Jesus Christ, nourished on the words of the Faith and the good doctrine which you have followed. But avoid foolish old wives’ tales. Work towards being pious‘. 23 See Aelred’s ,Speculum caritatis‘ 2.17 (,Mirror of Charity‘, ca. 1142) and Caesarius’s ,Dialogus miraculorum‘ 7.36 (,Dialogue of Miracles‘, ca. 1219–1223). The text edition that I have consulted for the latter is Caesarius Heisterbacensis, Dialogus miraculorum, ed. Joseph Strange, Köln 1851. 24 The active role of Welsh Cistercian monasteries in the preservation of broadly Arthurian narratives during the thirteenth and fourteenth century is documented in Daniel Huws, Medieval Welsh Manuscripts, Cardiff 2000.

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fact develop a thriving tradition of wondrous storytelling of their own,²⁵ though this mostly involves exemplary tales detailing the miraculous interventions or deceitful illusions of God, angels, saints and demons in the world of men, usually within a tangibly religious atmosphere. In John of Alta Silva, however, we have a Cistercian who composed a fresh string of adventurous tales of courtly intrigues, preternatural beings, enchanted objects and magical metamorphoses that feel much more akin to the marvels of courtly romance and lais than to the miracles of the religious exemplum.²⁶ Yet not only did he receive formal support from his abbot, conform the Statutes of the General Chapter,²⁷ he also thought it appropriate to dedicate his work to a bishop. So how does one relate such stories to an audience of monks who are supposed to be austere and focus their lives on continuous prayer and spiritual contemplation?

3 Framing the Fictional: Christianisation, Moralisation, Dramatisation, Historicisation Firstly, John does what we would expect from a writer in his position, namely mould his narrative materials to illustrate and confirm certain moral and spiritual truths and wisdoms. This is most evident in the frame tale, which starts off as something reminiscent of a romance adventure, but over time develops into a religious conversion story, and one that would have been of particular interest to John’s intended audience: a young boy from a noble family who proves himself exceptionally chaste, obedient and silent (cf. the vows to become a Cistercian monk) receives an education in the ancient Latin authorities (also prerequisite to enter the Cistercian brotherhood), but eventually takes the next step and transcends their profane wisdom by retreating from the courtly world to spend his life in a spiritual place devoted to God (the monk’s solution for the problem of the cunning woman posed in ,Puteus‘). . . It reads like a celebration and even heroisation of the choice for a monastic life. Meanwhile, the embedded exempla of ,Dolopathos‘, while somewhat daring at times, generally remain in line with a medieval Christian ethos, validating virtues such as self-constraint, humility

25 See Brian P. McGuire, Friends and Tales in the Cloister: Oral Sources in Caesarius of Heisterbach’s ,Dialogus Miraculorum‘, in: Analecta Cisterciensia 36 (1980), pp. 167–247, complemented by Brian P. McGuire, Written Sources and Cistercian Inspiration in Caesarius of Heisterbach, in: Analecta Cisterciensia 35 (1979), pp. 227–282. 26 Looking at story collections from the later thirteenth and fourteenth century, we notice an increased openness to such materials within religious contexts, Jacobus de Voragine’s hagiographic ,Legenda aurea‘ (,The Golden Legend‘) and the ,Gesta Romanorum‘ (,Deeds of the Romans‘) being excellent cases in point. John’s ,Dolopathos‘ comes quite early in that respect. 27 For the relevant paragraph in the Statutes concerning the writing of new books, see Narrative and Legislative Texts from Early Cîteaux, ed. and trans. Chrysogonus Wadell, Cîteaux 1999, p. 481.

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and charity while punishing vices like wrath, pride and deceitfulness, from time to time also acknowledging the just hand of God in the matter. Secondly, in case his reader should miss the point, John attaches moralising interpretations to his stories, as I acknowledged supra a common approach in Latin education and writing since Antiquity. With each new exemplum, its second-degree narrator offers some comments to the King regarding the lessons he should ideally draw from it. In a neat parallel to these little ad hoc exegeses addressed to the King, the first-degree narrator similarly addresses his reader right after Lucinius had been vindicated and set free (a climactic moment that comes with the sense of an ending, except that John then takes the anagogical logic of his account further). He praises Dolopathos’s sense of duty and sacrifice, as well as Lucinius’s obedienciam custodiamque precepti [. . . et] constantiam, patientiam ac pudicitiam, and then exhortitavely remarks: Quis hodie regum uel principum aut saltem abbatum patris imitetur iusticiam? Quis pauperum monachorum dumtaxat, ne dicam secularium, filii obedientiam et patientiam exequatur?²⁸ Thirdly, the very manner in which the frame story of ,Dolopathos‘ plays out constitutes a dramatisation of the salutary, edificatory potential of storytelling itself. From the First Sage’s exemplum to ward off Lucinius’s death to the Roman apostle’s discussions of the Faith that steer the young King towards spiritual life everlasting,²⁹ all of the embedded narratives in ,Dolopathos‘ are offered up by their second-degree narrators as de te fabulae (,stories about you‘) to their textual addressees, the successive kings of Sicily.³⁰ The connections between the embedded tales of Vergil and the Sages and their encompassing frame, but also among the tales themselves, are manifold, each new story picking up elements from previous ones, repeating, mirroring or contrasting them. The result is an intricate and coherent narrative texture in which a number of thematic threads can be traced that bear direct relevance to the hidden truth underlying the events in the textual reality of the Sicilian court,³¹ including: murder resulting from

28 Johannes de Alta Silva, p. 91: ,obedience and faithfulness to the precept that had been placed upon him, [and his] constancy, meekness and chastity? [. . . ] Who today among kings, princes or even abbots would strive to surpass the father’s sense of justice? Who amongst monks really, who have taken the vow of poverty (and I am not even speaking of laymen), would rival the son’s obedience and meekness?‘ 29 This attempt to escape death through storytelling reminds one of course of those other, more famous medieval framed tale compilations ,Alf laila wa laila‘ (,The Thousand and One Nights‘, frame story first attested in the ninth century) and Giovanni Boccaccio’s ,Decameron‘ (1351). 30 Tale compilations in which the transfer of wisdom is thematised by means of a proper frame tale (rather than a less narratively complicated dialogue) become more common in Europe during the High Middle Ages, probably also under the influence of Oriental models. See for instance Pascale Bourgain, Latin Culture and Oriental Wisdom, in: Wim Verbaal et al. (eds.), Appropriation and Latin Literature (Latinitas Perennis 2), Boston, Leiden 2009, pp. 163–178. 31 For an in-depth analysis of the many connections between these exempla amongst themselves and their frame tale, see Yasmina Foehr-Janssens, Le temps des fables: Le Roman des Sept Sages, ou l’autre voie du roman (Nouvelle Bibliothèque du Moyen Age 27), Paris 1994, pp. 195–296.

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rash and foolish decisions, the unnaturalness of infanticide, the life-saving bonds between parents and (their) children, the overly strict application of human laws, the cunning of women, etc. Saliently enough, the truthful suggestiveness of the exempla in ,Dolopathos‘, the mise en abyme, reaches its climax with the Seventh Sage’s tale about the enchanted swan children, exactly the sort of story John’s earliest audience would have associated with the mendacious marvels of the matière de Bretagne. Nevertheless, it is here where the trials and tribulations of the Sicilian kings are mirrored most clearly and systematically, even as regards several minor details.³² Apparently, not only can incredible fabulae be employed to illustrate eternal moral/spiritual Truths, they may also shed light on more specific situational, temporal truths, helping their audience to discern the everyday workings of the world more sharply and make wise decisions accordingly. John also adds an important nuance to his dramatisation of edificatory storytelling: having heard all of the tales of the Seven Sages, Dolopathos still does not grasp the truth. In the end, Lucinius is acquitted not by his father’s perspicacity, nor by Vergil’s final anecdote about the wiliness of women, but by the latter basically pleading mistrial and then allowing his pupil to disclose what has happened.³³ Lucinius, too, spends many hours listening to a wise man, the Roman apostle, but without ever fully embracing what he has to offer. It takes the sight of an actual miracle to convert him to the ultimate Truths of Christianity. Thus we are reminded that the practical potential of stories, truthful as they may be, is not always realised; it takes the right kind of diligent and open-hearted reader/listener to recognise, understand and benefit from their examples. If they do not, at least part of the fault is theirs, not the storyteller’s. These first three writerly strategies through which John of Alta Silva tries to highlight the ,deeper‘ truth value of his narrative materials, are not that much out of the ordinary, akin as they are to the moralising and allegorising interpretational methods that had been applied to fables and classical mythology for many centuries. However, John also adopts a fourth strategy, one that may have seemed more problematic to some of his contemporaries (not to mention those of us trying to make sense of it eight hundred years later). We now turn to the peritextual pieces of ,Dolopathos‘, its pro- and epilogue, in which the narrator reflects on some of the literary trends of his day and how his own account fits into that.³⁴ Their paragraphs read like a catalogue of literary

32 I hone in on this topic in Stijn Praet, Een onwaarschijnlijk verhaal: de Latijnse ,sprookjes‘ van een middeleeuwse Cisterciënzer, in: Volkskunde (2018, forthcoming). 33 Similarly, in the twelfth-century ,Historia septem sapientum‘, which shares its basic intrigue with ,Dolopathos‘ (see infra), storytelling itself leads to nothing but a postponement of the Prince’s execution. In the end, the boy only clears his name by resorting to trial by combat, rightly trusting that his innocence will ensure God’s protection. 34 For the importance of prologues as a place of literary-theoretical reflection and interpretational guidance in high medieval literatures, see Pascale Bourgain, Les prologues des textes narratifs, in: Jacqueline Hamesse (ed.), Les prologues médiévaux, Turnhout 2000, pp. 245–273.

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tropes pertaining to historical truthfulness, literary originality and dependence on oral sources – commonplaces of the sort we also find littered across contemporaneous (pseudo-)historiography and chivalric romance, where they are often to be taken with more than a grain of salt. The prologue opens with a critical comparison between two (but actually three) groups of writers, namely ueteres (,Ancients‘) and moderni (,Moderns‘), then a rather ,fashionable‘ theme at the schools.³⁵ Veterum philosophorum, so the narrator explains, studium hoc totum fuit rerum ueritatem proprietatemque multiplici uarioque sermone disquirere, regum bella et illustrium gesta uirorum, prout temporum decursus declarabant, proprie et nude describere, rerum gestarum fidem et temporum noticiam in exemplum et in admiracionem posteris reliquentes.³⁶ The Ancients here are specified as those philosophi who have striven towards historical veracity and whose accounts are still valuable to the medieval reader. In terms of Isidore of Seville’s traditional tripartite division of narrative genres, this would classify their writings as historiae, based on true events – the Latin term res gesta commonly being reserved for narratives with historiographic pretentions (cf. the Old French chanson de geste) – and written down in a straightforward, truthful manner to serve as an example for posterity. Next, the narrator complains about c e r t a i n writers among the contemporary Moderns (modernorum quidam) who are not interested in truth, but send lies into the world in the shape of exaggerated flattery and invectives. In their perverseness, they attempt to meram ac simplicem ipsam corrumpere ueritatem et ueritatis pallio mendatium obumbrare.³⁷ This, we could obliquely relate to Isidore’s category of the argumentum, not strictly speaking historically true, but at least empirically possible (though in fairness, what John describes here leans closer to mendacium, lie). Then, the narrator launches an attack against the kind of Moderns who, like madmen, nec uerum nec uerisimile quid dicentes ad tantam eciam stulticiam deuenerunt ut quibusdam monstruosarum fabularum laruis repertis diuersas partes sibique repugnantes coniungere niterentur monstrisque libros suos replentes monstruosam larualemque

35 We also see this, for instance, in the newly created artes poeticae of the late twelfth and early thirteenth centuries, of which Matthew of Vendôme’s ,Ars versificatoria‘ (,The Art of Versification‘, before 1175) is an early example. The tension between, on the one hand, classical authors and those adhering to their exemplary value, and on the other, contemporary authors who prefer novel experimentation to classicism, is a recurring phenomenon throughout Western literary history. For the situation in the long twelfth century, see for instance Alessandro Ghisalberti, I moderni, in: Guglielmo Cavallo et al., Lo spazio letterario del Medioevo 1.1, Rome 1992, pp. 605–631; Brian Stock, Antiqui or Moderni?, in: Medieval Litature and Contemporary Theory (1979), pp. 391-400. 36 Johannes de Alta Silva, p. 2: ,The efforts of the ancient philosophers were wholly dedicated to the search for the truth and the nature of things through manifold and various inquiries. They described the wars of kings and deeds of illustrious men throughout the course of time in apt and naked terms, and left behind a faithful record of historical events [res gestae] to serve as an example and source of admiration for posterity.‘ 37 Ibid.: ,corrupt the unadulterated and simple truth and cover up lies with a cloak of truth.‘

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paginam hominibus traderent.³⁸ To those who already know about the marvellous contents of ,Dolopathos‘, this spiteful condemnation of Isidore’s third category of the incredible fabula may appear rather puzzling. Granted, the narrator does go on to make a concession regarding such stories, namely that dum regionum civitatumque leges et iura commemorant, dum prauorum bonorumque mores et actus descibunt hominum, dum his ridiculosis fabulis detinentur, et uice ioculatorum humane miserie solatium prebuerunt et, quid eligendum quidue respuendum foret, posterorum iudicio reliquerunt.³⁹ Notwithstanding this afterthought about the exemplary or at least soothing potential of c e r t a i n incredible fabulae, it does feel as if the narrator is shooting himself in the foot here. The ambiguity continues as he positions ,Dolopathos‘ within the literary landscape he has just sketched: Ego autem dum ueterum recolo studium, dum eorum ammiror ingenia, cuiusdam regis gesta, sub quo et cui mira contigerunt, subito in memoriam deuenerunt. Qui quia adhuc scriptoribus intacta uel forsitan incognita permanebant, timens ne tanta tanti regis opera paulatim successu temporis a memoria hominum omni cum tempore laberentur, presumpsi ea quamquam elinguis et ydiota, quamquam nullius discipline scientiam assecutus, saltem qualicumque stillo describere, non tam materiam phaleratis pompis cupiens colorare uel ut uerius decolorare dicam, quam materie ueritatem, prout res geste sunt, simplici pedestricque calamo satagens declarare.⁴⁰

The narrator is ostentatiously professing his adherence here to the aforementioned ueteri philosophi and their truthful, unadorned descriptions (materie ueritatem, prout res geste sunt) of true events (cuiusdam regis gesta) for the edification of future generations. ,Dolopathos‘, he suggests, will be a proper historia that can function as an exemplum.

38 Johannes de Alta Silva, p. 3: ,without ever saying anything true or verisimilar arrive at such stupidities that they try to conjoin various contrary bits and pieces from monstrous confabulations with phantoms of their own invention. Filling their books with monsters, they offer mankind a monstrous and haunted page.‘ 39 Ibid.: ,when they commemorate the laws and jurisdiction of regions and cities, when they describe the depraved and goodly customs and deeds of men, attached as they are to these ridiculous confabulations, they do offer a juggler’s solace to human misery and leave behind examples for posterity to judge over what is to be desired and what is to be despised.‘ 40 Ibid.: ,As for me, as I was contemplating the studiousness of the ancients, whose ingenuity I admire, the deeds of a certain King, under whose reign and to whom some marvellous things had happened, suddenly descended into my memory. Because until then the materials had never been touched on by any writer and may have even remained unknown, I feared that the great undertakings of this great King would, little by little and with the passing of time, slip from mankind’s memory. Thus I took it upon myself – even though I lack the eloquence and training and have never acquired an understanding of any discipline – to write them down in a style that I can manage. In doing so, I do not wish to colour (or should I say discolour) my materials with ornamental pomp, but to lay bare the truth of the matter as it happened, labouring on with a simple and prosaic pen.‘

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While narratologically speaking this historicising truth claim need only pertain to the first diegetic level of the text, the embedded tales are likewise framed in an atmosphere of historical veracity by their second-degree narrators Vergil and the Seven Sages – the acumen of the ueteri philosophi. The Sages mostly introduce themselves as scholars who roam the lands to learn about the fortunes (fortunae) and fateful events (casus) that have befallen mankind and who recount them to others by way of exemplum, the generic term that is also used with reference to ,Canis‘, ,Senex‘, ,Creditor‘ and ,Latronis filii‘. ,Viduae filius‘ is moreover designated as res gesta, while ,Gaza‘ and the fairy-tale-like ,Creditor‘ and ,Cygni‘ are respectively said to relate quod quondam accedit and fortunam que quondam accedit.⁴¹ As for ,Puteus‘, Vergil goes as far as asserting that he had been an eyewitness to the events himself: subito in mentem redit quod ipse uidi.⁴² Based on the rhetorics and terminology used by the first- and seconddegree narrators of ,Dolopathos‘, it is safe to conclude that its contents are presented to the reader as an exemplary historia encapsulating other exemplary historiae.⁴³ Not once are these stories associated with fabulae – not until the epilogue, that is. I quote it here in full: Hic ergo narrationi mee finem imponens lectorem rogo ne incredibilia uel impossibilia me scripsisse contendat nec me iudicet reprehensibilem, quasi eos imitatus sim quorum uitia in libri prefatiuncula carpserim, quia non ut uisa sed ut audita ad delectationem et utilitatem legentium, si qua forte ibi sint, a me scripta sunt; quamquam etiam etsi facta non sint, fieri tamen potuisse credendum. Ceterum autem cogetur nemo munus habere meum, neminem hec legere compello. Verum si quis malicia aut inuidia magis quam iusto zelo succensus nostra dampnat nec nostram recipit satifactionem, dicat et ipse michi quomodo magi Pharaonis virgas suas in colubris mutaverint, quomodo produxerint ranas de paludibus, quomodo aquas Nili verterint in sanguinem; dicat et ipse michi quomodo Phytonissa prophetam suscitaverit Samuelem, quomodo etiam Circe, Solis filia, Vlixis socios in diuersa transformauerit animalia, quod uere factum beatus Augustinus Ysodorusque Hyspalensis testantur. Et cum hec negare omnia non possit, nostra quoque ut recipiat necesse est.⁴⁴

41 Ibid., pp. 49, 62, 80: ,that which took place once‘; ,an adventure which took place once.‘ 42 Ibid., p. 88: ,Something suddenly comes to mind that I have seen myself.‘ 43 By way of contrast: in the prologue to the aforementioned beast epic ,Ecbasis cuiusdam captivi‘ (vss. 34–39), its narrator amusingly takes pains to note that his story is just a little fabula (fabella) that is certainly not to be mistaken for some ancient res gesta based on an eyewitness-account. 44 Ibid., pp. 107 f.: ,As I am bringing my story to a close here, I ask the reader not to protest that the things I have written are incredible or impossible, as if I had imitated those [Moderns] whose vices I have tackled in the little preface to this book. For they were written down by me not as I have seen, but as I have heard them, and this for the pleasure and benefit of my readers (should there be any). And even i f they did not happen, it is nonetheless credible that they could. In any case, I am not forcing anyone to accept my gift; I am not compelling anyone to read them. However, should anyone, inflamed by spite or envy rather than righteous zeal, condemn my work and reject my justification of it, let him tell me himself how Pharaoh’s magicians changed their staffs into snakes, how they brought forth frogs from the marshes, how they turned the waters of the Nile into blood. Let him tell me himself how the Pythic soothsayer [i. e. the Witch of Endor] brought back Samuel from the dead, and even how Circe,

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In this final paragraph, the narrator at the same time reinforces and nuances the historicising truth claim of his prologue. Now that the reader has been submitted to the marvellous tales of ,Dolopathos‘, he anticipates the understandable criticism that at least part of his work positively reeks of monstrous fabulae instead of historiae. His threefold topical defence has a certain nervousness to it: 1) If my stories are not historically true, than at least they are empirically plausible (if not historiae, then argumenta), also given that the Vulgate, the classical poets and the Church Fathers all confirm that magical metamorphoses (cf. ,Creditor‘ and ,Cygni‘) and resurrections (cf. frame tale) belong to the realm of historical fact. 2) If my stories are not historically true, I cannot be held accountable for that, because I based them on hearsay rather than on an eyewitness account.⁴⁵ 3) If my stories are not historically true and that bothers you, no-one is forcing you to read them. Now, the peritextual assertions that ,Dolopathos‘ is a historical account based on an oral source (non ut uisa, sed ut audita) that has never been put into writing before (scriptoribus intacta) would have likely raised some eyebrows amongst John’s earliest readers, and not just because of the work’s incredible preternatural elements, but also because for almost all of its narrative materials there existed well-known antecedents in Latin and/or vernacular literatures, where they did not necessarily come with historiographic pretensions.⁴⁶ The frame tale of ,Dolopathos‘ is unmistakably an elaborate adaptation of a pre-existing family of Latin and vernacular texts generically referred to as ,The Seven Sages of Rome‘, based in turn on the Oriental ,Book of Sindibad‘

daughter of the Sun, transformed Ulysses’ men into various animals, which both Augustine and Isidore of Seville confirm to be true. And seeing as they cannot deny these things, they must also accept mine.‘ The textual references are respectively to Exodus 7:9–26; Samuel 28; possibly Ovid, ,Metamorphoses‘ 14.242–307; Augustine, ,De civitate Dei‘ 18.17–18; Isidore, ,Etymologiae‘ 8.9. 45 The importance of eyewitness-accounts and reliable written documents for constructing a proper historia is already discussed in Isidore’s ,Etymologiae‘ 1.41. John’s contemporary Gerald of Wales introduces the wonders of the second part of his ,Topographia Hibernica‘ (,Topography of Ireland‘, 1188) as follows: Scio tamen et certus sum, me nonnulla scripturum quae lectori vel impossibilia prorsus, vel etiam in ridiculosa videbuntur. Sed ita me Dii amabilem praestent, ut nihil in libello apposuerim, cujus veritatem vel oculate fide, vel probatissimorum et authenticorum comprovincialium virorum testimonio, cum summa diligentia non elicuerim (Geraldus Cambrensus, Opera, ed. John Sherren Brewer and James F. Dimock, Doetinchem 1861, pp. 74 f.), ,I know and I am certain that I will be writing several things that to the reader will seem truly impossible or utterly ridiculous. But so help me God, I will include nothing in this little book that I have not carefully distilled either through relying on my own eyes or from the first-hand accounts of most trustworthy men living in the region‘. For the assertion in ,Dolopathos‘, also see Foehr-Janssens (note 31), p. 98n13. 46 Many earlier commentators of ,Dolopathos‘, beginning with its earliest modern editor Hermann Oesterley, have accepted these phrases in the pro- and epilogue at face value, readily interpreting them as an indication that John took his materials directly from popular oral folklore. I am not inclined to take that hypothesis for granted, given both the highly topical nature of the peritexts and the existence of textual evidence that points in a different direction (see infra).

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which survives in Arabic, Syriac, Persian, Greek and Hebrew redactions.⁴⁷ As for the embedded exempla, the only ones for which we cannot pinpoint any unmistakable textual models are ,Creditor‘ and perhaps ,Cygni‘, which may have either been derived from or served as model to an Old French chanson de geste (or they may share an unknown common ancestor).⁴⁸ Though in principle John might have heard some of these stories being (re)told or recited at one point in his life, before his time in the monastery or during a stolen moment outside its walls, it does seem unlikely that a well-read author like himself would have been completely ignorant of their written traditions.

4 The ,I‘ in the Lie Recapitulating: we have seen how with ,Dolopathos‘, John of Alta Silva is expanding on a long tradition of Latin authors, both pagan and Christian, who believed that even a humble, child-like genre like the fabula can be used to convey moral/spiritual Truths and elucidate concrete real-life situations. What complicates the matter is that its first-degree narrator moreover claims, along the topical lines of contemporaneous historiography, that his previously undocumented materials are also historically true or at least plausible, a claim that would have been suspicious to medieval readers both on account of their incredible contents ánd their well-documented prior existence in popular Latin and vernacular texts. How then should we qualify this Cistercian author from the Lorraine: fool, liar of fictionist? Let us briefly consider these three possibilities: perhaps John did indeed base (part of) his work on what would have been a rather lengthy oral account by a public performer (who in turn may have taken his cue from one of the existing ,Seven Sages‘- or ,Book of Sindibad‘ -texts). And perhaps he did believe all of it to be true or at least likely, strengthened in this opinion by the ancient Latin auctoritates. This would have probably made him a fool in the eyes of some of his more critical contemporaries. Alternatively, John is intentionally lying about the historical veracity and provenance of his materials so as to enhance the dignity and novelty of his already morally truthful stories, which, however, would be risky, superfluous and also not very pious. That

47 For an introduction to these Western and Eastern branches, see for instance Lodewijk Jozef Engels, Seven Sages of Rome, in: Willem P. Gerritsen and Anthony G. van Melle (eds.), A Dictionary of Medieval Heroes. Characters in Medieval Narrative Traditions and Their Afterlife in Literature, Theatre and the Visual Arts, Woodbridge 2000, pp. 244–248, and Gilleland in Johannes de Alta Silva (note 11), pp. xiii–xix. The nested tales in the Western versions are mostly of a European descent. 48 For medieval parallels to the exempla and frame tale in ,Dolopathos‘, see Foehr-Janssens (note 31), pp. 449–473. For the connections between ,Cygni‘ and its Old French counterpart ,Élioxe‘, see La Naissance du Chevalier au Cygne. Elioxe. Beatrix (The Old French Crusade Cycle 1), eds. Emanuel J. Mickel et al., Tuscaloosa 1977, pp. lxxxxi–lxxxxix.

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leaves us with a third option, which is also the most interesting, certainly more so than a gullible or a fibbing monk, namely that John of Alta Silva is disassociating himself from the first-degree narratorial ,I‘ of ,Dolopathos‘, constructing and donning instead the fictionalising persona (literally: ,mask‘) of a pseudo-historiographer, also echoing the latter’s hollowed-out trademark claims of historical veracity. Elsewhere in this volume, Eva von Contzen rightly observes that the author/ narrator-duality, taken for granted in modern narratological theory, does not always add something significant to our reading experience of medieval narrative texts. Meanwhile, there are many cases in which medieval authors actively make use of that very duality to introduce an element of playfulness to their narrations. The so-called ,Loire school‘ provides us with an early example of this. As Wim Verbaal discusses in several of his articles,⁴⁹ when it comes to medieval Latin literature before 1100, overt disjunctions between the voice of the narrator and that of the author seem fairly absent. Then around the turn of the century, a group of scholars from the Loire valley including Marbod of Rennes and Baudri of Bourgueil – all men of the cloth, abbots and bishops even – collectively turned to writing Ovidian-styled Latin poetry in which experimenting with fictive narratorial personae lay at the very heart of the game. A number of these poems are deliberately crafted, also intertextually, so as to invite in some confusion regarding whether or not the narrator is to be (fully) identified with the author, potentially leading some of their less witting readers to scandalous conclusions, for instance if the persona in question is that of an ardent nun’s lover or a hypocrite pederast with a taste for pretty novices who apparently ,betrays‘ himself in his verses. Narratorial games like these presuppose an implied reader who is able to acknowledge that there is no a priori need for the reality conjured up within the text to neatly correspond to the historical-empirical reality outside of it; that the ,I‘ of the text is not misrepresenting the world, but authoring another one. They ask for a reader willing to participate in what in modern terminology we could call the ,fictional contract‘.⁵⁰ If I

49 See Wim Verbaal, Getting Lost in Worlds: The Fiction of Literature (Eleventh and Twelfth Century), in: Marianne PADE et al. (eds.), Fiction and Figuration in High and Late Medieval Literature, Rome 2017, pp. 56–58, and Wim Verbaal, How the West was Won by Fiction: The Appearance of Fictional Narrative and Leisurely Reading in Western Literature (11th and 12th century), in: Anders Cullhed and Lena Rydholm (eds.), True Lies Worldwide: Fictionality in Global Contexts, Berlin 2014, pp. 194–198. 50 Questions regarding the conceptualisation and nature of fictionality currently occupy a prominent position in the study of medieval literatures across the world. Recent publications that attempt to provide a critical survey of some of the main currents in the field include Sonja Glauch, Fiktionalität im Mittelalter; revisited, in: Poetica 46 (2014), pp. 85-139, Timo Reuvekamp-Felber, Diskussion. Zur gegenwärtigen Situation mediävistischer Fiktionalitätsforschung. Eine kritische Bestandsaufnahme, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 132.3 (2013), pp. 417–444, and Monika Fludernik, The Fiction of the Rise of Fictionality (forthcoming). I am sympathetic to the latter’s inclusive definition of „fictionality as the invention [I would add: ,and experience‘] of fictive worlds which are presented in textual, dramatic (i. e. performative) or visual (and audiovisual) form for the entertainment, diversion, intellectual stimulation and (moral) instruction of recipients who, in their turn, recognise that the truth claims

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am right, a similar case can be made for the peritextual pieces of ,Dolopathos‘. This would mean that, on top of morally edifying his monastic audience and confirming their choice for the coenobitic life, our white monk of Alta Silva is also inviting them to a little readerly game of fictionality, hinging on their ability to recognise the difference not just between historia and fabula, but also between author and narrator. Cistercians at play!

profered by these texts or artefacts are predominantly universal, moral and philosophical rather than historical or factual“, not eliminating „from view the technique of the pseudofactual, i. e. of a strategy of deceptive (or ironic) authentification through factual pretense“. Despite the fact that this conceptualisation indeed fits a work like ,Dolopathos‘ rather well, looking at it from a more generalising angle, I would nonetheless de-emphasise her insistence on universal, moral and philosophical truth claims; after all, not a l l fictional worlds are consciously created to offer much more than their own diverting existence, nor are they always interpreted as such.

David Callander

Die diachrone Entwicklung der Erzählung in der kymrischen Heiligendichtung Zusammenfassung: This article examines how we can productively study and compare narrative length in the short poems of late medieval Wales. One of the key models for investigating narrative at a local level is that provided by William Labov. This article highlights the ways in which Labov’s model needs to be adapted in order for it to work most effectively with these medieval poems. Utilising and revising the narrative model first presented by Labov allows us to create some basic statistical data on narrative length which can contribute to our understanding of diachronic developments in narrativity. The adapted model is applied to the corpus of medieval Welsh poetry to saints, spanning the twelfth to sixteenth centuries, and shows that in certain periods there is a demonstrably greater potential for more extended narratives than in others. The use of progressive temporal markers is also examined and appears to follow the same pattern. The possible applications of this research are then discussed, including its use in dating anonymous Welsh poems and for investigating diachronic changes in narrativity in other literatures. Schlagwörter: Erzähllänge, Erzählsequenzen, Heiligendichtung, Kymrische Literatur, Mittelkymrisch, Narrative Teilsätze, Statistik Die mediävistische Narratologie geht davon aus, dass die Modelle, die in der modernen und für moderne Texte geeigneten Narratologie benutzt werden, angepasst werden müssen, damit sie mit größtem Gewinn auf die mittelalterliche Literatur angewendet werden können.¹ Diejenigen, die sich mit den mittelalterlichen Literaturen beschäftigen, welche weniger theoretisch untersucht sind, bemerken aber, dass auch die narratologischen Modelle, die ausdrücklich für die Mediävistik formuliert wurden, nicht immer die Bedingungen ihrer Korpora treffen.² Selten wird mittelkymrische oder mittelalterliche keltische Literatur in Werken, die die Narratologie aus mediävistischer Sicht untersuchen, diskutiert. Außerdem werden längere Erzählungen viel häufiger betrachtet als

Für ihre Hilfe danke ich Stefanie Gropper, Barry Lewis, Benedikt Peschl, Bernhard Maier und dem Leverhulme Trust, dessen Stipendium mir ermöglichte, diesen Artikel zu schreiben. 1 Vgl. Armin Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, Berlin, Boston 2012, S. 1; Eva von Contzen, Why We Need a Medieval Narratology. A Manifesto, in: DIEGESIS 3.2 (2014), S. 1–21, hier S. 4. 2 Vgl. Christina Putzo, Alteritäre Narratologie. Eine Einführung in mittelalterliches Erzählen als Beitrag zur mediävistischen Perspektivierung der Erzähltheorie, in: DIEGESIS 3.1 (2014), S. 104–117, hier S. 114–115; von Contzen (Anm. 1), S. 15. David Callander, M. A., Emmanuel College, St Andrew’s Street, Cambridge CB2 3AP, England, e-mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110566536-006

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solche kurzen Erzählungen wie die, die in der mittelkymrischen Dichtung zu finden sind.³ Dieser Artikel bietet einen neuen Ansatz, diese Dichtung zu untersuchen, und wendet zu diesem Zweck Teile der vom Soziolinguisten William Labov entwickelten Erzähltheorie auf die kymrische Heiligendichtung an. Labovs Modell, das in letzter Zeit eine wichtige Rolle besonders in der mittelalterlichen Narratologie gespielt hat, wird angepasst, mit dem Ziel statistische Daten zur walisischen Heiligendichtung zu generieren und zu zeigen, dass die Narrativität dieser Dichtung in manchen Zeiträumen höher ist als in anderen.⁴ Die Heiligendichtung spielt eine wichtige Rolle im großen Korpus der mittelalterlichen walisischen Dichtung.⁵ Das Korpus der Heiligendichtung besteht aus ungefähr 6000 Versen, wobei die spätmittelalterlichen Gedichte normalerweise eine Länge von ca. 55–80 Versen haben. Die Heiligendichtung ist deswegen nützlich, diachrone Entwicklungen der walisischen poetischen Erzählung zu untersuchen, da sie ein umfangreiches Korpus von Texten mit einem verhältnismäßig hohen Grad von Narrativität im Vergleich mit zeitgenössischen walisischen Gedichten bietet. Diese Texte werden meistens historischen Dichtern zugeschrieben, deren Wirkungszeiten in der Regel bekannt sind. Deshalb sind sie besonders nützlich, wenn diachrone Entwicklungen untersucht werden.⁶ Einige Wissenschaftler sind der Meinung, dass es überhaupt keine Erzählung in der mittelalterlichen walisischen Dichtung gibt. Sioned Davies behauptet, „ni cheir unrhyw naratifau mydryddol mewn Cymraeg Canol“, und viele andere Wissenschaftler haben eine ähnliche Einschätzung.⁷ Im Zeitraum nach 1300, in dem die Mehrheit der hier untersuchten Gedichte verfasst wurde, gibt es deutliche Beispiele für Erzählungen. Die Forschung ist sich aber auch hier nicht sicher, ob man diese Texte als Erzählungen

3 Auch Forschung zu „kürzeren mittelalterlichen Erzählformen“ betrachtet normalerweise Erzählungen, die deutlich länger als die mittelkymrischen poetischen Erzählungen sind: s. Walter Haug u. Burghart Wachinger, (Hgg.), Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts, Tübingen 1993. 4 Zu Labov und seinem Einfluss s. unten S. 105–112. 5 Einen Überblick über diese Gedichte und ihren geschichtlichen Kontext bietet Barry J. Lewis, Medieval Welsh Poems to Saints and Shrines, Dublin 2015. 6 Wie auch in anderen mittelalterlichen Texten ist es hier zu bedenken, dass die Gedichte, die oft erst in späteren Handschriften erhalten sind, manchmal während ihrer Überlieferung verändert wurden: s. z. B. Peredur Lynch, Cynghanedd Dafydd ap Gwilym. Tystiolaeth y Llawysgrifau Cynnar, in: Dafydd Johnston u. a. (Hgg.), Cyfoeth y Testun, Caerdydd 2003, S. 109–147. 7 „Es gibt keine metrischen Erzählungen im Mittelkymrischen“: Sioned Davies, Crefft y Cyfarwydd, Caerdydd 1996, S. 3; vgl. Ian Hughes, The Early Welsh Narrative Tradition - a Classification, in: A. Ó Corràin (Hg.), Proceedings of the Third Symposium of Societas Celtologica Nordica, Uppsala 1994, S. 43–65, hier S. 43. Mittelkymrisch ist ein unklarer Begriff, da verschiedene Wissentschaftler für diese Sprachstufe abweichende Zeiträume ansetzen: s. Robert Borsley, Maggie Tallerman u. David Willis, The Syntax of Welsh, Cambridge 2007, S. 2.

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betrachten soll, obwohl die Schreiber sie selbst manchmal als solche bezeichneten.⁸ Tatsächlich gibt es meines Erachtens aber Erzählungen aus jeder Phase der walisischen Dichtung, sowohl in der Heldendichtung wie in apokryphen christlichen Erzählungen und späteren Geschichten in Anlehnung ans Fabliau. Obwohl die Gründe dafür in der wissenschaftlichen Literatur nicht ausdrücklich erwähnt werden, scheint es, dass die Kürze dieser Erzählungen und ihre oft fehlende Deixis dafür verantwortlich sind, dass diese Texte oft nicht als echte Erzählungen betrachtet werden. Ehe die diachronen Entwicklungen im gesamten Korpus dieser Gedichte diskutiert werden, lohnt es sich, ein mittelalterliches walisisches Erzählgedicht beispielhaft zu besprechen. Als solches Beispiel soll das Gedicht ,Cynog‘ (der Name eines walisischen Heiligen) von Hywel Dafi (wirkte um 1440–1485) dienen.⁹ Es beginnt mit einem allgemeinen, an Cynog gerichteten Lobpreis. Mit Vers 9 setzt dann die Erzählung ein. Sie richtet sich durchgehend in der 2. Person an Cynog.

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Dygaist – hwy a’th fendigynt – Yn Iwerddon goron gynt. ˆ y’th edir – Gwrthodaist – gwr O gariad Duw Dad dy dir, Gwrthod coron ffrwythlon ffraeth A dewis y feudwyaeth.

Du trugst – sie segneten dich – früher eine Krone in Irland. Du lehntest – du wirst als Mann angesehen – dein Land aus Liebe zu Gott dem Vater ab. Du lehntest die Krone eines fruchtbaren und lebhaften [Königreichs] ab und wähltest das Eremitentum.

Dann erfahren wir, dass Cynog einen Riesen tötete, um die Bevölkerung seiner Gemeinde in Wales zu schützen:

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Pan ddoethost, pen i ddoethion, Eirian sant, i’r ynys hon, Cawr dros blwyf, Caerwedros blant, A leddaist rhag aflwyddiant. Blaidd neu ryw ddiawlaidd elyn, Bwyta ’dd oedd o bob tˆy ddyn. Pan guddiaist, penaig addwyn, Rhagddo fab y wraig weddw fwyn, Golwyth a roist o’r gelain Yn lle’r mab, o ddyn llerw main. Y cawr a wybu’r cerrynt O ddamwain y gelain gynt;

Als du, Leiter der Weisen, herrlicher Heiliger, zu dieser Insel kamst, tötetest du einen Riesen für eine Gemeinde, für die Kinder von Caerwedros, um Unglück zu vermeiden. Ein Wolf oder irgendein teuflischer Feind hat einen Mensch aus jedem Haus gefressen. Als du, geliebter Anführer, den Sohn der sanften Witwe vor ihm verstecktest, gabst du ein Stück vom Fleisch der Leiche statt des Sohnes, eines schlanken mageren Mannes. Der Riese wusste, was früher mit der Leiche geschehen war;

8 Dafydd Johnston, Llên yr Uchelwyr, Caerdydd 2005, S. 14, 116, 143, 213; vgl. Madog Dwygraig, ,Ystoria Deicyn‘, in: Gwaith Madog Dwygraig, hrsg. v. Huw Meirion Edwards, Aberystwyth 2006, Nr. 14; Tudur Aled, ,Gwenfrewi‘, in: Gwaith Tudur Aled, hrsg. v. T. Gwynn Jones, Caerdydd 1926, Nr. 139. 9 Text aus Lewis (Anm. 5). Zu Cynog s. S. 242 f.

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ˆ llwyd, goryw y llid, Y gwr A geisawdd lle crogysid, Ac yna’r aethost, Gynog, Yn lle hwn i’r pren crwn crog. Torres y gormes dy gig, Dy forddwyd di, o fawrddig. Tyfoedd ar forddwyd dafad Gwlân gwyn ar dy glun a gad, A’i fryd oedd, fwriad addig, Eilwaith gael ei wala o’th gig. Yno y daeth, enaid ethawl, Arf i ti i orfod diawl: Torch o nef, trychu a wnaeth Trwy filaen, twrf o alaeth.

er [der Riese] suchte, er ergrimmte sich, den heiligen Mann, wo jemand [der Junge?] aufgehängt werden könnte. Und dann gingst du, Cynog, statt diesem zum runden Galgen. Der Unterdrücker zerriss dein Fleisch, deinen Oberschenkel, aus großer Wut. Weiße Wolle wuchs auf dem Oberschenkel eines Schafs, die auf deinen Oberschenkel gelangte, und es war seine Absicht, ein wütender Vorsatz, nochmal sich an deinem Fleisch zu sättigen. Dann kam, erkorene Seele, eine Waffe für dich, den Teufel zu überwältigen: ein Torques (Halsring) vom Himmel durchbohrte den Wilden, klagender Lärm.

Danach erzählt das Gedicht die Herstellung des Torques und schließlich den Tod Cynogs, ehe der Dichter Cynog bittet, seine Gemeinde zu schützen. Das Erzähltempo des Textes ist sehr hoch und ein modernes Publikum kann der genauen Reihenfolge der Ereignisse nur schwer folgen. Dennoch ist es offensichtlich, dass es sich hier um ein Erzählgedicht handelt. Trotz der Behauptung vieler Wissenschaftler, dass es keine solchen Erzählgedichte gebe, ist es sicherlich wichtig und weiterführend, zwischen Gedichten wie ,Cynog‘ und den zahlreichen walisischen Gedichten, die keine Erzählung enthalten, zu unterscheiden. Die Untersuchung der Erzählung in der kymrischen Dichtung sollte natürlich nicht auf das Studium ihrer Narrativität beschränkt sein. Es gibt viele weitere Fragen, die wir stellen müssen und die in einem einzigen Beitrag nicht beantwortet werden können. So stellt sich die Frage nach der Funktion der Erzählsequenzen in diesen Gedichten. Die mittelkymrischen Gedichte, die historischen Dichtern zugeschrieben werden, sind hauptsächlich Preisgedichte, die den Adel bzw. Gott und die Heiligen loben und ihrer gedenken, und für die die Dichter oft eine Art Belohnung erwarten.¹⁰ Besonders ab 1300 beobachten wir eine größere thematische Vielfalt in Form etwa von Liebesdichtung und Naturdichtung.¹¹ Diese Unterschiede sind natürlich wichtig hinsichtlich der Funktion der Gedichte, und alle Gattungen verfügen über ein (begrenztes) Potenzial für kurze Erzählsequenzen. Die Frage stellt sich, inwiefern sich die Funktion ganzer Gedichte durch ihre Narrativität ändert. Große Fragestellungen der Narratologie, z. B. nach der Rolle der Autor/Erzähler-Figur und der Figuren im Gedicht selbst sind noch zu untersuchen, darunter die der Figuren, die in zweiter Person direkt angesprochen

10 A. M. Allchin, Praise Above All: Discovering the Welsh Tradition, Cardiff 1991. 11 Einen Überblick bieten Alfred O. H. Jarman u. Gwilym Rees Hughes (Hgg.), A Guide to Welsh Literature, Bd. 1–2, Cardiff, 2 1992–1997 und Bleddyn Owen Huws u. Cynfael Lake (Hgg.), Genres y Cywydd, Talybont 2016.

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werden, wie es in ,Cynog‘ und in vielen anderen mittelkymrischen Gedichten zu sehen ist. Dieser Beitrag bietet einen ersten Schritt hin zu einer ausführlicheren Analyse der Erzählung in diesen Gedichten.

1 Das Modell Die mediävistische Narratologie wendet ein breites Spektrum an Erzähltheorien auf ihre Texte an, was wegen der Vielfalt der mittelalterlichen Literatur zu erwarten ist und sich auch in diesem Band wiederspiegelt. Die Untersuchung der mittelkymrischen Poesie erfordert ein Erzählmodell, das sich für die Analyse sehr kurzer Erzählungen eignet. Genauso ein Modell, das Erzählanalyse sogar auf Ebene der einzelnen Teilsätze ermöglicht, wird vom Soziolinguisten William Labov geboten. Verschiedene Teile seines Modells werden eher in der Anglistik als in der Germanistik angewendet. Labovs Erzähltheorie und seine Untersuchungen von Erzählungen aus persönlicher Erfahrung haben einige der wichtigsten narratologischen Werke der letzten 30 Jahre beeinflusst, darunter ,Tense and Narrativity‘ von Suzanne Fleischman und ,Towards a „Natural“ Narratology‘ von Monika Fludernik.¹² Auch in der Altanglistik gibt es ein wachsendes Interesse an Labovs Ideen, die etwa von Susan Deskis und Emily Thornbury auf die angelsächsiche Dichtung angewendet werden.¹³ Teile der von Labov vorgeführten Erzähltheorie sind auch für unsere Zwecke besonders nützlich, weil sie uns die Möglichkeit bieten, auf Grundlage sehr begrenzter Textabschnitte eine Unterscheidung zwischen Gedichten wie ,Cynog‘ und Gedichten ohne erzählerischen Gehalt, zu machen. In den letzten Jahren hat Labov die Theorie mehrfach diskutiert, besonders in seinem 2013 veröffentlichten Buch ,The Language of Life and Death‘.¹⁴ Allerdings liegt das wissenschaftliche Hauptaugenmerk auf dem von William Labov und Joshua Waletzky verfassten Artikel ,Narrative Analysis: Oral Versions of Personal Experience‘, der später in überarbeiteter Form als letztes Kapitel von ,Language in the Inner City‘ erschien.¹⁵

12 Suzanne Fleischman, Tense and Narrativity, London 1990; Monika Fludernik, Towards a ,Natural‘ Narratology, London, New York 1996. 13 Susan Deskis, Exploring Text and Discourse in the Old English Gnomic Poems. The Problem of Narrative, in: Journal of English and Germanic Philology 104 (2005), S. 326–344; Emily Thornbury, Becoming a Poet in Anglo-Saxon England, Cambridge 2014. 14 William Labov, The Language of Life and Death. The Transformation of Experience in Oral Narrative, Cambridge 2013. 15 Labov u. Waletzky, Narrative Analysis. Oral Versions of Personal Experience, in: June Helm (Hg.), Essays on the Verbal and Visual Arts, Seattle 1967, S. 12–44; Labov, Language in the Inner City. Studies in the Black English Vernacular, Philadelphia 1972, S. 354–396.

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Labovs Modell basiert auf elementarster Ebene auf narrative clauses (narrativen Teilsätzen), die als Bausteine der Erzählung dienen.¹⁶ Seine Arbeit hilft deswegen sehr bei der Untersuchung von kürzeren Erzählungen. Labov definiert die Erzählung als „one method of recapitulating past experience by matching a verbal sequence of clauses to the sequence of events which (it is inferred) actually occurred“.¹⁷ Er führt weiter aus: „[T]he skeleton of a narrative then consists of a series of temporally ordered clauses which we may call narrative clauses,“ und gibt folgendes Beispiel: (a) I know a boy named Harry. (b) Another boy threw a bottle at him right in the head. (c) And he had to get seven stitches.¹⁸

Labov stellt fest: „This narrative contains three clauses, but only two are narrative clauses. The first has no temporal juncture, and might be placed after (b) or after (c) without disturbing temporal order.“¹⁹ Eine solche temporale Anbindung, die einen festen und einmaligen Zeitpunkt zwischen narrativen Teilsätzen herstellt, ist für Labovs Theorie von entscheidender Bedeutung. Labov untersucht ein Korpus von mündlichen Erzählungen aus persönlicher Erfahrung. Dennoch hat die Analyse der Erzählung von kurzen Texten gewissermaßen durch eine Analyse auf Zeilenebene, die sein Modell uns ermöglicht, auch für schriftliche bzw. potentiell schriftliche Texte Relevanz. Genau aus diesem Grund wendete Susan Deskis die Theorie auf die altenglische gnomische Dichtung an, um die kurzen Erzählsequenzen darin zu untersuchen.²⁰ Labovs Theorie erfordert natürlich gewisse Anpassungen, ehe sie auf das teilweise andersgeartete Korpus der kymrischen Heiligendichtung angewendet werden kann. Mögliche Probleme bei der Anwendung dieser Theorie auf literarische Texte wurden zum Teil schon diskutiert, insbesondere im siebten Band des ,Journal of Narrative and Life History‘, der zahlreiche verschiedene Antworten auf die Theorie Labovs versammelt und einen Überblick über seinen Einfluss bietet.²¹ Labov konzentriert sich speziell auf Erzählungen aus persönlicher Erfahrung, die er und Waletzky selbst vorlegen und analysieren. Es überrascht daher nicht, dass er die Erzählung als „one method of recapitulating past experience“ [Hervorhebung des Verf.] betrachtet. Narratologen sind im Allgemeinen flexibler als Labov und be-

16 Labovs Theorie in ihrer Gesamtheit umfasst eine große Zahl weiterer Begriffe, wie z. B. evaluation, die er benutzt, um seine Texte in vollem Umfang zu studieren. Diese sind kein Teil des hier vorgestellten Modells, da es sich nur mit Erzählung beschäftigt und es oft äußert schwierig ist, zwischen Evaluation und Erzählung zu unterscheiden: s. J. Culler, The Pursuit of Signs, Ithaca 1981, S. 20. 17 Labov (Anm. 15), S. 359–360; vgl. Labov (Anm. 14), S. 6, 14. 18 Labov (Anm. 15), S. 361. 19 Ebd., S. 360, vgl. Labov u. Waletzky (Anm. 15), S. 20. 20 Deskis (Anm. 13). 21 Von besonderer Relevanz ist Suzanne Fleischman, The ,Labovian Model‘ Revisited with Special Consideration of Literary Narrative, in: Journal of Narrative and Life History 7 (1997), S. 159–168.

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zeichnen auch Texte mit anderen Zeitbezügen als Erzählungen. Ein Beispiel wäre das Erzählen von Ereignissen, die aus Sicht des Erzählers noch nicht geschehen sind, was Genette „narration antérieure“ nennt.²² Hinsichtlich des Zeitbezugs ist Labov in der Tat äußerst restriktiv: „clauses containing used to, would and the general present are not narrative clauses and cannot support a narrative“.²³ Das erweist sich als nicht unproblematisch, da Erzählungen oft viele verschiedene Zeitformen dynamisch verwenden, wie verschiedene Wissenschaftler, darunter Suzanne Fleischman und Susan Deskis, gezeigt haben.²⁴ Dafydd ap Gwilym z. B. verwendet im mittelkymrischen Gedicht ,Merched Llanbadarn‘ verschiedenste Zeitformen und Modi wie Indikativ Präsens, Indikativ Imperfekt, Konjunktiv Präsens und Konjunktiv Imperfekt, um eine Geschichte zu erzählen, obwohl diese keine üblichen Erzählzeitformen im Mittelkymrischen sind.²⁵ Der Indikativ Imperfekt im Kymrischen erfüllt tatsächlich eine teils ähnliche Funktion wie das englische Hilfsverb would, wenn es die Vergangenheit beschreibt. Das hier vorgeschlagene angepasste Modell schließt deshalb aus, dass es sich bei einem Text nur wegen seiner Zeitbezüge oder Zeitformen nicht um eine Erzählung handeln kann. Ein weiterer Aspekt von Labovs Modell, der sich in der Literaturwissenschaft als problematisch erwiesen hat, ist seine Behauptung, die erzählten Ereignisse würden in Erzählungen in derselben Reihenfolge beschrieben, in der sie wirklich geschehen sind. Obwohl das in den von Labov behandelten Texten zu erwarten ist, folgt mittelalterliche sowie moderne Literatur diesem Muster nicht immer.²⁶ Das gilt besonders für mittelalterliche walisische Dichtung. So gibt es wegen der Unklarheit des Texts selbst und wegen fehlender anderer Quellen für die erwähnten Ereignisse meiner Ansicht nach keine ausreichenden Beweise, dass die folgenden Verse des ,Canu i Ddewi‘ (,Gesang an David‘) von Gwynfardd Brycheiniog (wirkte im 12. Jahrhundert) eine Erzählung im Sinne Labovs sind. Ef kymerth yr Duw dioteifyeint – yn dec Ar donn a charrec, a chad6 y vreint, A chyrchu Ru6ein, rann gyreifyeint, A gwest yn Efrei, g6st diamreint,

22 Gérard GENETTE, Figures III, Paris 1972, S. 229–232. 23 Labov (Anm. 15), S. 362. In letzter Zeit bezeichnet Labov mit dem Begriff ,pseudo-narrative‘ „an account of the kind of things that usually happened, using the conditional would“: Labov (Anm. 14), S. 17. Labovs spätere Forschung ist oft flexibler hinsichtlich Zeitformen: Labov (Anm. 14), S. 19; Labov, Some Further Steps in Narrative Analysis, in: Journal of Narrative and Life History 7 (1997), S. 395–415, hier S. 400. 24 Deskis (Anm. 13), S. 336; vgl. Fleischman (Anm. 12), S. 4, 19. 25 Dafydd ap Gwilym, ,Merched Llanbadarn‘, in: dafyddapgwilym.net, hrsg. v. Johnston u. a., Abertawe 2007, Nr. 137; vgl. W. Beynon Davies, Y Tymp Amherffaith, in: Studia Celtica 18.19 (1983/4), S. 278–286. 26 Einen Überblick aus Sicht der Rhetorik bietet Ulrich Ernst, Ordo, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6 (2003), Sp. 416–423.

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A gotef palua6d, derna6d trameint, Y gan vorwyn difwyn, diwyl y deint. (V. 19–24) Er nahm auf sich Leiden für Gott, / gerecht auf Welle und Felsen, und bewahrte seine Ehre, / und er machte sich auf nach Rom, in das Land der Vergebung, / und blieb in Kanaan, eine große Anstrengung, / und ertrug einen Hieb, einen gewaltigen Schlag, / von einem schroffen Mädchen, barsch in ihrem Gebaren.²⁷

Um die chronologische Reihenfolge der Ereignisse in Gedichten dieses Typs festzustellen, muss eine Vielzahl von Faktoren untersucht werden, darunter Temporaladverbien, Konjunktionen und Präpositionen sowie das vorhandene Kontextwissen.²⁸ Es ist sehr wohl möglich, dass Erzählsequenzen, angedeutet durch temporale Partikeln, eine chronologische Ordnung haben können, die der Ordnung der Zeilen widerspricht. Das ist im folgenden Beispiel aus dem frühen kymrischen Gedicht ,Armes Dydd Brawd‘ zu sehen: Can mil egylyon yssyd imi yn tyston, a doeth y’m kyrcha6 g6edy vyg croga6 yg croc yn greulet [. . . ] Ich habe hunderttausend Engel / als Zeugen, / die kamen, mich zu holen / nachdem ich am Kreuz / grausam gekreuzigt worden war [. . . ]²⁹

Daher ist es auch offensichtlich, dass im adaptierten Modell, anders als bei Labov, narrative Teilsätze keine Hauptsätze sein müssen.³⁰ Labov gründet seine Position auf der Behauptung „[o]nce a clause is subordinated to another, it is not possible to disturb the original semantic interpretation by reversing it.“³¹ Wenn mehr Faktoren als die Ordnung der Zeilen allein für die Herstellung des chronologischen Zusammenhangs entscheidend sind, gilt dieser Einwand nicht mehr. Labovs frühere Arbeiten beschäftigen sich mit Texten, die nur eine einzige Erzählsequenz enthalten. Martha Shiro stellt fest:

27 Gwynfardd Brycheiniog, ,Canu i Ddewi‘, in: Gwaith Llywelyn Fardd 1 ac eraill, hrsg. v. Kathleen Bramley u. a., Caerdydd 1994, Nr. 26. Die „6“ im Zitat steht für eine besondere Art des Buchstabens „v“, der in den mittelkymrischen Texten angewendet wird. 28 Das hier angepasste Modell ist daher weniger formalistisch als Labovs Modell. Vgl. Björn Wiemer, Narrative Units and Temporal Organization of Ordinary Discourse, in: Journal of Narrative and Life History 7 (1997), S. 245–250; Volkmar Lehmann, Interaktion chronologischer Faktoren beim Verstehen von Erzähltexten, in: Slavistische Beiträge 304 (1993), S. 157–196. 29 ,Armes Dydd Brawd‘, in: Blodeugerdd Barddas o Ganu Crefyddol Cynnar, hrsg. v. Marged Haycock, Felindre 1994, Nr. 20, V. 145–149. 30 Labov (Anm. 15), S. 362; vgl. Labov u. Waletzky (Anm. 15), S. 21. 31 Labov (Anm. 15), S. 362.

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Labov’s model of narrative analysis is meant to describe accounts of personal experience. However, this model cannot be applied to personal narratives having more than one episode, because its underlying assumption is that personal experiences consist of one episode only. [. . . ] No criteria were offered to determine whether two contiguous episodes should be treated as one or two narratives.³²

Doch ist es möglich, das Modell so anzupassen, dass es auch für Texte mit mehreren Erzählsequenzen gilt. So geht auch Labov in seinem Buch ,The Language of Life and Death‘ vor, in dem er Texte in Episoden teilt. Jede Episode enthält mindestens eine „complicating action“, obwohl nicht ganz klar ist, wie Labov das Ende einer Episode und den Anfang der nächsten bestimmt.³³ In dem hier angepassten Modell bedarf es einer bestimmten Beziehung zwischen den einzelnen Teilen einer Erzählung, damit sie als eine einzige Erzählsequenz und nicht als mehrere Erzählsequenzen betrachtet werden. Diese Beziehung muss in mehr als chronologischer Ordnung und der Ordnung der Zeilen bestehen, so z. B. in Kausalität oder Teleologie.³⁴ Dies lässt sich am besten an einem Beispiel erklären. Der Großteil des Gedichts ,Cywydd Dewi‘ von Ieuan ap Rhydderch (Mitte des 15. Jhs.) wird als eine einzige Erzählsequenz ausgelegt, da seine narrativen Teilsätze in einer Sequenz zusammenhängen, die das Leben des Heiligen David in chronologischer Reihenfolge erzählt.³⁵ Das frühe kymrische Gedicht ,Iesu a Mair a’r Cynhaeaf Gwyrthiol‘ dient als Gegenbeispiel.³⁶ In den Versen 45–52 wird Evas Rolle im Sündenfall erzählt. Danach, in den Versen 55–84, wird die Geschichte der wunderbaren Ernte von Christus und Maria erzählt. Es ist klar, dass die zweite Erzählsequenz der ersten chronologisch folgt. Trotzdem werden sie nicht miteinander verbunden, was sie zu einer verbundenen Erzählsequenz machen könnte, sondern vom Dichter als zwei verschiedene Erzählsequenzen vorgelegt. Deshalb wären sie nach dem hier vorgeschlagenen Modell als zwei verschiedene Erzählsequenzen zu betrachten.³⁷ So sind explizite Verbindungen und Trennungen, etwa Anknüpfungsund Schlusssätze, von Seiten des Dichters bzw. Erzählers besonders wichtige Indizien, um das Ende einer Erzählsequenz und den Anfang der nächsten zu bestimmen. Wie auch in Labovs Theorie können Erzählsequenzen sich nur in eine Richtung entwickeln,

32 Martha Shiro, Labov’s Model of Narrative Analysis as an Emerging Study in Discourse, in: Journal of Narrative and Life History 7 (1997), S. 309–314, hier S. 312. 33 Labov (Anm. 14), S. 107–175. Eine sehr kurze Erklärung der Episodenstruktur findet sich auf S. 107. 34 Vgl. Michael Toolan, Narrative: A Critical Linguistic Introduction, London 2 2001, S. 6. 35 Ieuan ap Rhydderch, ,Cywydd Dewi‘, in: Lewis (Anm. 5), Nr. 18. 36 ,Iesu a Mair a’r Cynhaeaf Gwyrthiol‘, in: Haycock (Anm. 29), Nr. 14. 37 Es gibt natürlich thematische Beziehungen zwischen den zwei Erzählsequenzen hinsichtlich der christlichen Geschichtsvorstellung, in welcher der Kontrast zwischen Eva und Maria von höchster Bedeutung ist. Es ist nichtsdestoweniger sinnvoll, zwischen solchen Erzählsequenzen mit bloß thematischen Beziehungen und einzelnen längeren Erzählsequenzen, die in Gedichten wie ,Cywydd Dewi‘ zu finden sind, zu unterscheiden.

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obwohl ein Text eine unbegrenzte Anzahl von Erzählsequenzen enthalten kann, die manchmal auch teilweise in ein und derselben Zeile zu finden sind. In Zusammenhang mit der Idee, dass in einer Erzählung chronologische Ordnung und die Ordnung der Zeilen immer übereinstimmen, ist es sehr wichtig, dass Labovs Erzählungen ausschließlich Ereignisse beschreiben, die nur einmal geschehen sind. Wenn die Ereignisse mehr als einmal geschähen, wäre Labovs strenge (a dann b)Ordnung gestört, da in einer (a dann b dann a dann b)-Reihenfolge gelegentlich der b-Teilsatz dem a-Teilsatz vorangeht. Andere Narratologen behaupten, dass auch Erzählsequenzen, die Ereignisse darstellen, die mehrmals geschehen sind, noch produktiv als Erzählsequenzen betrachtet werden können. Eine solche Erzählung wird von Genette als „récit itératif“ bezeichnet.³⁸ Derartige Erzählungen sind auch in der kymrischen Dichtung zu finden, z. B. ,Merched Llanbadarn‘ von Dafydd ap Gwilym, das Ereignisse beschreibt, die angeblich jeden Sonntag passierten (V. 19–20). Das abstract, das Labov als „one or two clauses summarizing the whole story“ definiert, enthält Labovs Meinung nach keine Erzählung, da es laut Deskis „temporally displaced and thus displaceable“ ist.³⁹ Problematisch ist hierbei, dass Ereignisse mehrmals auf der Diskursebene erzählt werden, was auch die (a dann b)-Ordnung stört. Trotzdem kann das abstract selbst nach Labovs Theorie als eine Erzählung mit zwei narrativen Teilsätzen in chronologischer Ordnung analysiert werden. Das folgende abstract aus ,Cynog‘ von Hywel Dafi dient als Beispiel dafür: Pan ddoethost, pen i ddoethion Eirian sant, i’r ynys hon Cawr dros blwyf, Caerwedros blant, A leddaist rhag aflwyddiant. (V. 15–18) Als du, Leiter der Weisen, / herrlicher Heiliger, zu dieser Insel kamst, / tötetest du einen Riesen für eine Gemeinde, / für die Kinder von Caerwedros, um Unglück zu vermeiden⁴⁰

Es ist offensichtlich, dass Cynogs Ankunft auf der Insel der Tötung des Riesen vorangeht. Deshalb sind die Zeilen als eine verbundene Reihenfolge von narrativen Teilsätzen in einer chronologischen Ordnung, das heißt: als eine Erzählung, zu betrachten. Dasselbe wird in den darauffolgenden Zeilen ausführlicher erzählt, was aber die Narrativät des abstract selbst nicht beeinträchtigt. Zusätzlich zu den genannten Änderungen ist Labovs Modell durch die von Gerald Prince vertretene Definition der Erzählung mehr Flexibilität verliehen worden. Prince stellt fest, dass auch Situationen oder Zustände gleichermaßen wie Ereignisse Teil einer Erzählsequenz werden können.⁴¹ Labov deutet an, dass nur Ereignisse Teil der

38 Genette (Anm. 22), S. 148; vgl. Deskis (Anm. 13), S. 333 f. 39 Labov (Anm. 15), S. 363; vgl. Labov (Anm. 23), S. 402. Deskis (Anm. 13), S. 332. 40 Lewis (Anm. 5), Nr. 14. 41 Gerald Prince, Narratology. The Form and Functioning of Narrative, Berlin 1982, S. 4.

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Erzählsequenz werden können, wenn er z. B. von „matching a verbal sequence of clauses to the sequence of events“ spricht, obwohl er Teilsätze wie there was another guy als narrative Teilsätze betrachtet. Princes Definition ist insofern nützlicher, als sie sich zur Stellung von derartigen Sätzen klar positioniert.⁴² Diesem Modell nach werden Situationen oder Zustände und narrative Teilsätze als parallel bezeichnet, wenn sie innerhalb der histoire gleichzeitig sind. Gruppen von parallelen Beschreibungen von Ereignissen oder Zuständen können ebenfalls Teil einer längeren Erzählsequenz werden, wie z. B. in der altenglischen Dichtung im Fall der Verwendung von Variationen.⁴³ Labovs Konzeption der narrativen Teilsätze wird im hier vorgeschlagenen Modell mit Princes Definition der Erzählung als „the representation of at least two real or fictive events or situations in a time sequence, neither of which presupposes or entails the other“ kombiniert.⁴⁴ In diesem Modell muss eine Sequenz zwei Ereignisse oder mindestens ein Ereignis und einen Zustand enthalten, ehe sie als Erzählsequenz betrachtet wird. Labov stellt klar, dass verneinte Teilsätze sich nicht als Erzählelemente konstruieren lassen, denn: „negation is not something that happens: rather it expresses the defeat of an expectation that something would happen.“⁴⁵ In dieser Hinsicht folgt unser angepasstes Modell weitgehend Labov, mit einigen Ausnahmen. Wenn Princes Einbeziehung der Zustände als Bausteine der Erzählsequenz berücksichtigt wird, ist es offensichtlich, dass verneinte Teilsätze mit gewissen statischen Verben wie sein genauso wie positive Teilsätze narrativ sein können, wie z. B. sie war nicht glücklich und sie war unglücklich. Im Modell gelten solche verneinten Teilsätze mithin als Bausteine der Erzählsequenz in gleichem Maße wie positive Zustände. Weiterhin erkennt Fleischman für manche Fälle an: „semantically doublenegative predications – ,not not-doing x‘ – also constitute ,events‘ inasmuch as they are paraphrasable in the affirmative as ,managing to do x.‘“ Fleischman gibt als Beispiel „,Aucassin did not fail to spot him‘ (= A. spotted him)“.⁴⁶ Fleischman bezieht sich auch auf die Argumente von van Dijk, um festzustellen, dass einige Nicht-Ereignisse (z. B. wenn eine Figur ein ertrinkendes Kind nicht rettet) auch als Ereignisse gelten,

42 Labov (Anm. 15), S. 359–360; Labov u. Waletzky (Anm. 15), S. 27. Ereignisdarstellungen, die kein Teil einer Erzählsequenz sind, werden nach dem angepassten Modell als unabhängige Ereignisdarstellungen bezeichnet. 43 Vgl. Deskis (Anm. 13), 329–330. Parallele Teilsätze und parallele Zustände dürfen nicht mit parallelen Erzählsequenzen verwechselt werden. Parallele Erzählsequenzen liegen dann vor, wenn zwei oder mehr verschiedene Erzählsequenzen mindestens teilweise dieselben Ereignisse oder Zustände erzählen. 44 Prince sagt „two events, or one state and one event“ in seinem ,Dictionary of Narratology‘; der Begriff ,Zustand‘ wird hier statt ,Situation‘ verwendet; Prince, A Dictionary of Narratology, Nebraska 2 2003, S. 58. Weiter zu dieser Definition s. Prince (Anm. 41), S. 3. 45 Labov (Anm. 15), S. 380f; vgl. Fleischman (Anm. 12), S. 158; Prince, Narrativehood, Narrativeness, Narrativity, Narratability, in: John Pier u. José Angel Garcia Landa (Hgg.), Theorizing Narrativity, Berlin 2008, S. 19–27, hier S. 22. 46 Fleischman (Anm. 12), S. 159.

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„if it is essential to plot development“.⁴⁷ Es führt unvermeidlich zu Schwierigkeiten, wenn zwischen wichtigen und unwichtigen Nicht-ereignisse zu unterscheiden ist. Dennoch ist es nötig, dieses Argument in unserem Modell zu berücksichtigen, vor allem deshalb, weil die Nicht-Ereignisse in der Erzählung der Heiligendichtung eine solch bedeutsame Rolle spielen, wie z. B. wenn davon die Rede ist, dass Glut einen Heiligen nicht verbrennt.

2 Erzähllänge Nach den oben ausgeführten Anpassungen kann das Modell auf mittelalterliche walisische Gedichte angewendet werden, um die Narrativität verschiedener Texte zu vergleichen. Das ursprüngliche Modell von Labov hat weitreichende Anwendung erfahren. Bisher wurde es aber meines Wissens noch nicht angewendet, um insbesondere die Länge von Erzählungen zu untersuchen. Labovs prototypische Erzählsequenz im Original hat eine Länge von zwei Teilsätzen, da sie aus zwei narrativen Teilsätzen ((b) und (c)) besteht:

↓↓ ↓

(a) (b) (c)

I know a boy named Harry. Another boy threw a bottle at him right in the head. (N Cl) And he had to get seven stitches. (N Cl)

Länge der Erzählsequenz = 2⁴⁸ Wenn ein weiterer narrativer Teilsatz hinzufügt wird, ergibt sich eine Länge von 3 Teilsätzen:

↓↓ ↓ ↓

(a) (b) (c) (d)

I know a boy named Harry. Another boy threw a bottle at him right in the head. (N Cl) And he had to get seven stitches. (N Cl) Afterwards he left the hospital. (N Cl)

Länge der Erzählsequenz = 3 Das kann unbegrenzt fortgesetzt werden:

↓↓ ↓ ↓ ↓

(a) (b) (c) (d) (e)

I know a boy named Harry. Another boy threw a bottle at him right in the head. (N Cl) and he had to get seven stitches. (N Cl) Afterwards he left the hospital (N Cl) and took the bus home. (N Cl)

47 Ebd.; vgl. A. van Dijk, Action, Action Description and Narrative, in: New Literary History 6 (1975), S. 274–294, hier S. 280. 48 Labov (Anm. 15), S. 361.

Erzählung in der kymrischen Heiligendichtung | 113

Länge der Erzählsequenz = 4 Eine solche Art der Messung bietet natürlich nur einen sehr beschränkten und groben Blick auf die Länge von Erzählungen. In Anbetracht der Mehrdeutigkeit der mittelalterlichen walisischen Dichtung stützt sich dieser Blick immer nur auf eine mögliche Auslegung.⁴⁹ Das Verfahren ist aber trotzdem nützlich, da es uns ermöglicht, allgemeine Muster aus großen Korpora herauszulesen. Ohne ein solches Modell könnte man lediglich angeblich repräsentative Beispiele aus verschieden Epochen anführen und die Meinung äußern, dass die Erzähllänge sich im Laufe der Zeit ändert. Um die Anwendung des Modells auf das Korpus der kymrischen Heiligendichtung zu demonstrieren, lege ich ,Cynog‘ von Hywel Dafi nochmals vor. Diesmal ist das ganze Gedicht inbegriffen und die Struktur seiner Erzählung wird folgendermaßen gekennzeichnet: Reihen von Pfeilen kennzeichnen Erzählsequenzen und ihre temporale Richtung. Ein doppelter Pfeil zeigt den Anfang der Erzählsequenz. Doppelpunkt zeigt Stellen, an denen die Erzählsequenz unterbrochen, danach aber wieder fortgesetzt wird. Die temporale Richtung einer Erzählung kann der Ordnung der Zeilen gegenüberstehen. Die folgenden Abkürzungen werden verwendet: (NT) = narrativer Teilsatz. (UE) = unabhängige Ereignisdarstellung.⁵⁰ (PNT) = paralleler narrativer Teilsatz.⁵¹ (PZ) = paralleler Zustand in einer Erzählsequenz. (SZ) = Zustand in einer Erzählsequenz. ,Cynog‘ von Hywel Dafi Cadw y tir, ein ceidwad da, Cynog o wlad Frecania.

4

Penrhaith i’th wlad y’th adwyd, (UE) Perchen, a mab Brychan wyd. Bodd drosom, ym mhob goddeg, Brenin dof geir bron yn deg, A bydd, ble bynnag y bôn‘,

8 ↓↓ ↓

Fugail ar dy blwyfogion. Dygaist – hwy a’th fendigynt – (PZ) Yn Iwerddon goron gynt. (PZ)

Bewahre das Land, unser guter Beschützer, Cynog aus [dem walisischen Königreich] Brycheiniog. Du wurdest als Anführer deines Lands angesehen, Herr, und du bist der Sohn Brychans. Das Wohlwollen des milden Königs in der Nähe [sei] über uns in jeder Absicht, und sei Hirte über deine Gemeindeglieder, wo immer sie seien. Du trugst – sie segneten dich – früher eine Krone in Irland.

49 Mit diesem Modell ist es natürlich möglich, die Erzähllänge in einem bestimmten Gedicht mehrmals auf Grundlage verschiedener Auslegungen zu messen. 50 S. oben Anm. 42. 51 S. oben S. 111.

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ˆ y’th edir – Gwrthodaist – gwr

↓ ↓

12

O gariad Duw Dad dy dir, (PNT)

16

Gwrthod coron ffrwythlon ffraeth (PNT) A dewis y feudwyaeth. (NT) Pan ddoethost, pen i ddoethion, Eirian sant, i’r ynys hon, (NT)

↓ ↓ : :

↓↓ ↓

:



:



Cawr dros blwyf, Caerwedros blant, A leddaist rhag aflwyddiant. (NT)

↓ ↓

Blaidd neu ryw ddiawlaidd elyn, 20

↓ ↓

Pan guddiaist, penaig addwyn, Rhagddo fab y wraig weddw fwyn, (PNT) Golwyth a roist o’r gelain

↓ ↓

Bwyta ’dd oedd o bob tˆy ddyn. (SZ)



Yn lle’r mab, o ddyn llerw main. (PNT) Y cawr a wybu’r cerrynt

↓ ↓ ↓

O ddamwain y gelain gynt; (SZ) ˆ llwyd, goryw y llid, (PNT) Y gwr A geisawdd (PNT) lle crogysid,

↓ ↓ ↓ ↓ ↓

24

28

32

↓ ↓ ↓

Gwlân gwyn ar dy glun a gad, (NT) A’i fryd oedd, fwriad addig, 36

↓ ↓ ↓ ↓

Ac yna’r aethost, Gynog, Yn lle hwn i’r pren crwn crog. (NT) Torres y gormes dy gig, Dy forddwyd di, o fawrddig. (NT) Tyfoedd ar forddwyd dafad (NT)

Eilwaith gael ei wala o’th gig. (SZ) Yno y daeth, enaid ethawl, Arf i ti i orfod diawl: (NT)

40

Torch o nef, trychu a wnaeth Trwy filaen, (NT) twrf o alaeth. (NT)

Du lehntest – du wirst als Mann angesehen – dein Land aus Liebe zu Gott dem Vater ab. Du lehntest die Krone eines fruchtbaren und lebhaften [Königreichs] ab und wähltest das Eremitentum Als du, Führer der Weisen, herrlicher Heiliger, zu dieser Insel kamst, tötetest du einen Riesen für eine Gemeinde, die Kinder von Caerwedros, um Unglück zu vermeiden. Ein Wolf oder irgendein teuflischer Feind hat einen Mensch aus jedem Haus gefressen. Als du, geliebter Anführer, den Sohn der sanften Witwe vor ihm verstecktest, gabst du ihm ein Stück vom Fleisch der Leiche statt des Sohnes, eines schlanken mageren Mannes. Der Riese wusste, was früher mit der Leiche geschehen war; Er [der Riese] suchte, er ergrimmte sich, den heiligen Mann an dem Ort, wo jemand [der Junge?] aufgehängt werden könnte. Und dann gingst du, Cynog, statt diesem zu dem runden Galgen. Der Unterdrücker zerriss dein Fleisch, deinen Oberschenkel, aus großer Wut. Weiße Wolle wuchs auf dem Oberschenkel eines Schafs, die auf deinen Oberschenkel gelangte. Und es war seine Absicht, ein wütender Vorsatz noch einmal sich an deinem Fleisch zu sättigen. Dann kam, erkorene Seele, eine Waffe für dich, den Teufel zu überwältigen: Ein Torques vom Himmel durchborte den Wilden, klagender Lärm.

Erzählung in der kymrischen Heiligendichtung | 115

:

↓↓

Di-wg y rhoed ar dy grair

: :

↓ ↓

Dyfiad heb naddiad neddair. (NT) ˆ o ben digaeth, Dygaist, wr,

:



: :

↓ ↓

44

Dorch, ac nid eurych a’i gwnaeth,(UE) Crair o fetel rhuddfelyn, Cynghron dorch, cae ’nghroen y dyn. (PZ) Odid o thorrid â thân,

48

Nac un gof a’i gwnâi’n gyfan.

: : : :

↓↓ ↓

:



:



:



: ↓





52

56

↓ ↓ : :

60

Y gof yn Efena gynt, O’i thorri, (NT) bu waith hirynt; (SZ) Tair darn – cadarn y cydiawdd (PNT) – Iesu, hwn a’u iasai’n hawdd. (PNT) Penrhaith, heb efeilwaith fu (PZ) Pan welad iasad Iesu. (PNT) Ban dorred dy ben dewrwych, (NT) Y gwnaeth gwyrth a gwyniaith gwych: (PNT) Cerddaist a’th ben wrth dennyn Wrth dy gorff o wyrth Duw gwyn. (PNT) Ni allai’r byd, hyfryd hwyl, Ddwyn d’enaid, ddyn da annwyl,

↓ ↓

Hyd pan gad taliad dilys, (PNT) Dwyn dy grair oi dan dy grys,



Penrhaith, rhag poenau yrhawg



64

68

Ywch, annwyl ym Mrycheinawg. (PNT) ˆ Ei phennaeth dofriaeth wyd, wr, A’i phen a’i hamddiffynnwr. Amddiffyn wlad y tad tau, Iaith o Dduw, â’th weddïau. Bydd feddyg i’r genfigen, Bwrw o’n mysg ein bâr, amen!

Ohne Stirnrunzeln ließ man deine Reliquie ohne Handgravur wachsen. Du trugst, Mann, mit deinem edlen Kopf, einen Torques, und es war kein Goldschmied, der ihn machte, eine Reliquie aus rotgelbem Metall, einen königlichen Torques, eine Girlande auf der Haut des Menschen. Es wäre ein großes Wunder, wenn sie mit Feuer gebrochen wäre, und kein Schmied könnte sie ausbessern. [Als] der Schmied früher in Efena [war], wegen ihres Brechens gab es langandauernde Mühe; drei Teile – stark fügte er zusammen – Jesus, er verband sie mit Leichtigkeit. Leider, als das Fügen Jesu gesehen wurde, war es ohne Schmiedekunst. Als dein mutiger und prächtiger Kopf abgetrennt wurde, vollbrachte er ein Wunder und einen großartigen Segen. Du gingst mit deinem Kopf an der Leine von deinem Körper durch das Wunder des gütigen Gottes. Die Welt, ein entzückender Verlauf, konnte deine Seele nicht nehmen, guter lieber Mann, bis [er] eine gültige Zahlung bekam, deine Reliquie wurde aus deinem Hemd genommen, Anführer, langandauernde Schmerzen zu vermeiden für dich, [der du] in Brycheiniog lieb [bist]. Du bist der Anführer der Versorgung [des Landes], Mann, und ihr Oberhaupt und ihr Verteidiger. Schütze das Land deines Vaters, ein Volk von Gott, mit deinen Gebeten. Sei Arzt gegen den Neid, treibe uns unseren Zorn aus, Amen!

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Galw dy hun yn ein gwlad hedd 72

Ac eiriol am drugaredd.

Fordere du selbst Frieden in unserem Land und bitte um Erbarmen.

Erzählsequenzen: – 9–14: Früher trug Cynog eine Krone in Irland und das Volk dort segnete ihn (2 x PZ). Cynog lehnte das Land und die Krone ab (2 x PNT, die den vorher genannten parallelen Zuständen folgen). Cynog wählte das Eremitentum (NT). Länge dieses Teils der Erzählsequenz = 3. – 15–18: Als Cynog zu dieser Insel kam (NT), tötete er einen Riesen (NT). Länge der Erzählsequenz = 2. Dieses abstract folgt natürlich auch der Erzählsequenz in V. 9–14, aber nur die Hauptsequenz (die mit V. 19 forsetzt) wird als eine Fortführung der Erzählsequenz in 9–14 betrachtet. Diese Regel wird bei jeder Analyse eines Textes nach dem hier vorgeschlagenen Modell befolgt, da sie am besten die Narrativität des Gedichts wiedergibt. – 19–40: Ein teuflischer Feind hat Menschen gefressen (Imperfekt) (SZ). Als Cynog den Sohn der Witwe vor ihm versteckte, gab Cynog dem Feind ein Stück der Leiche zur Ablenkung (2 x PNT). Der Riese wusste, was geschah (das heißt, er hatte von Cynogs Täuschung erfahren (SZ)). Der Riese ergrimmte sich und suchte Cynog an dem Ort, wo jemand [der Junge?] aufgehängt werden könnte (2 x PNT). Dann ging Cynog zu den Galgen (wo der Riese anscheinend war) (NT). Der Unterdrücker zerriss Cynogs Fleisch (NT). Wolle wuchs auf dem Oberschenkel eines Schafs (NT). Es gelangte auf Cynogs Oberschenkel (NT). Der Unhold wollte sich an seinem Fleisch sättigen (SZ). Dann [oder dort] kam eine Waffe für Cynog, um den Teufel zu überwältigen (NT). Der Torques durchborte den Wilden (NT), [und er äußerte] klagenden Lärm (NT). Länge dieses Teils der Erzählsequenz = 12. Länge der Erzählsequenz bisher = 15. – 41–46: eine Reliquie wurde gemacht (NT), Cynog trug einen königlichen Torques (NT). „Der ihn machte“ (44) ist UE. Länge der Erzählsequenz = 2. – 49–54: Wegen des Brechens des Torques (NT) gab es langandauernde Mühe (SZ). Jesus fügte ihn zusammen, er verband ihn problemlos (2 x PNT). Als das Fügen Jesu gesehen wurde, war es ohne Schmiedekunst (PZ/PNT). Länge der Erzählsequenz = 4. Diese Analyse folgt der Auslegung, dass der Schmied den Torques in drei Teile zerbricht, ehe Christus sie wieder zusammenfügt. – 55– 64: Als sein Kopf abgetrennt wurde, (NT), vollbrachte er ein Wunder: Cynog ging mit seinem Kopf an der Leine (2 x PNT), bis [er] eine gültige Zahlung bekam: Cynogs Reliquie wurde aus seinem Hemd genommen (2 x PNT).

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Länge dieses Teils der Erzählsequenz = 3. Gesamte Länge der Erzählsequenz = 18. Statistische Daten: – Zeilenanzahl: 72 – Anzahl der narrativen Teilsätze und unabhängigen Ereignisdarstellungen: 24 – Anzahl der Erzählsequenzen: 4 – Zeilenanzahl in narrativen Teilsätzen und unabhängigen Ereignisdarstellungen: 39 – Prozentsatz von Zeilen, die sich in narrativen Teilsätzen und unabhängigen Ereignisdarstellungen befinden: 54,2% – Zeilenanzahl in Erzählsequenzen: 52 – Prozentsatz von Zeilen, die sich in Erzählsequenzen befinden: 72,2% – Zeilenanzahl in nicht-parallelen Erzählsequenzen: 12 – Prozentsatz von Zeilen, die sich in nicht-parallelen Erzählsequenzen befinden: 16,7% – Anzahl von parallelen Erzählsequenzen: 2 – Prozentsatz von Erzählsequenzen, die zueinander parallel sind: 50% – Durchschnittliche Länge der Erzählsequenzen: 6,5 (2x2, 1x4, 1x18) – Länge der längsten Erzählsequenz: 18 – Anzahl von temporalem yna/yno (,dann‘) und adverbiellem gwedi (,danach‘): 1–2 Soweit ein Beispiel für die Anwendung des Modells auf das Korpus der kymrischen Heiligendichtung.⁵² Das Korpus der mittelalterlichen walisichen Dichtung mit strenger Metrik wird generell von Literaturwissenschaftlern in verschiedene Entstehungszeiträume unterteilt. Die Mehrheit der vorhandenen Gedichte stammt aus dem Zeitraum von Beirdd yr Uchelwyr (nach 1300).⁵³ Diese Studie folgt einem Modell, welches die Gedichte in 4 Zeiträume einteilt.⁵⁴ Obwohl es Evidenz für die Ansetzung dieses Modells gibt, ist es nicht endgültig bewiesen, da eine große Anzahl der späteren Gedichte noch nicht ediert wurde. Kurz gesagt dauert Zeitraum 1 von um 1320 bis zum frühen 15. Jahrhundert. Für diesen Zeitraum sind die Cynghanedd sain genannte dichterische Ausschmückung sowie allgemein ein gehobener Stil typisch. Zeitraum 2 umfasst die 1430er Jahren bis um 1485, und die Dichter scheinen zu dieser Zeit einen leichteren und weniger undurchsichtigen Stil zu bevorzugen.⁵⁵ Zeitraum 3 (um 1485–um 1525)

52 Zum Korpus s. unten Anhang. 53 Der Begriff ,Beirdd yr Uchelwyr‘ bezieht sich auf die walisischen Dichter, die in den Jahrhunderten nach dem Untergang der walisischen Prinzen in 1282 die walisische Oberschicht lobten. 54 Eurys Rolant, Arddull y Cywydd, in: Ysgrifau Beirniadol 2 (1966), S. 36–57; Johnston (Anm. 6), S. 99 f.; Cynfael Lake, Gwe Gaeth y Gymraeg Wen, in: Llên Cymru 27 (2004), S. 48–70, hier S. 54. 55 Cynghanedd ist eine komplexe Mischung von Reim und Wiederholung von Konsonanten, die in der kymrischen Dichtung zu finden ist. Die vier Arten von Cynghanedd heißen Cynghanedd Lusg,

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zeichnet sich durch besonders komplexe Cynghanedd aus. Besonders der Gebrauch vom poetischen Ornament Cynghanedd groes ist häufig. Cynfael Lake stellte fest, dass es Gründe für die Ansetzung eines vierten Zeitraums im späteren 16. Jahrhundert gibt. Zu dieser Zeit verwenden Dichter wie Gruffudd Hiraethog die Cynghanedd erneut eher flexibler. Es muss betont werden, dass es in jedem Zeitraum Vielfalt gibt, und dass sich Dichter aus verschiedenen Zeiträumen gelegentlich zeitlich überlappen. Die Zeiträume entsprechen jedoch stilistischen Tendenzen und Tendenzen in der Verwendung der Cynghanedd. Dasselbe gilt auch für die Erzählung. Zur Anwendung dieses Modells können statistische Daten zu den jeweiligen Zeiträumen erhoben werden. Diese können auf verschiedene Weise untersucht werden, um neues Licht auf Tendenzen in der Entwicklung der Erzählung zu werfen.⁵⁶

Zeitraum

Gogynfeirdd (12. Jh.–um 1320) Uchelwyr Zeitraum 1 (um 1320–1420) Uchelwyr Zeitraum 2 (um 1420–1485) Uchelwyr Zeitraum 3 (um 1485–1525) Uchelwyr Zeitraum 4 (nach 1525)

Durchschnittliche Länge der Erzählsequenzen

längste Erzählsequenz

Mittelwert der längsten Erzählsequenzen aller Gedichte

2,19 2,44 3,14 2,45 3,83

4 5 27 8 12

2,2 3,67 6,32 3,82 11

Die Länge der Erzählsequenzen⁵⁷ ist von entscheidender Bedeutung, um eine Unterscheidung zwischen Heiligengedichten mit wenig oder keinem und solchen mit größerem narrativen Gehalt zu machen. Einige andere statistische Daten, wie z. B. der Prozentsatz der Zeilen, die sich in Erzählsequenzen und narrativen Teilsätzen befinden, sind im Rahmen der vorliegenden Studie von geringerer Bedeutung, da manche Gedichte viele Wunder erwähnen, die der Heilige vollbrachte, ohne diese in einer ausgedehnten Erzählsequenz zu beschreiben. In diesem Kontext ist nochmals zu betonen, dass Statistiken keine eigentliche Beschreibung der Entwicklung der Erzählung in den

Cynghanedd Sain, Cynghanedd Draws und Cynghanedd Groes, die verschiedene Arten von Wiederholung umfassen: s. Patrick Ford und Aled Llion Jones, Celtic Prosody, in: Roland Greene and Stephen Cushman (Hgg.), The Princeton Handbook of World Poetries, Princeton 2017, S. 109–112; Lewis (Anm. 5), S. xxi–xxx; John Morris-Jones, Cerdd Dafod, Rhydychen 1925. 56 Der Begriff ‚Gogynfeirdd‘ bezieht sich hauptsächlich auf die höfischen Dichter des 12. und 13. Jahrhunderts, schließt aber auch manche Dichter des 14. Jahrhunderts mit ein, die sich eines ähnlichen Stils bedienten. Wegen der Aufnahme von Gruffudd ap Dafydd ap Tudur (wirkte um 1300) in diese Gruppe wird hier der Begriff Gogynfeirdd statt Beirdd y Tywysogion (‚Dichter der Prinzen‘) verwendet. Obwohl die so genannten späten Gogynfeirdd auch im späten 14. Jh. wirkten, dichtete keiner von ihnen an die Heiligen nach Gruffudd ap Dafydd ap Tudur. 57 In der vierten Spalte der Tabelle wurde den Gedichten ohne Erzählsequenzen der Wert 1 gegeben.

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Gedichten bieten. Sie markieren dennoch nützlich Tendenzen in großen Korpora. Zu berücksichtigen ist freilich der geringe Umfang der Teilkorpora für die Zeiträume 1 und 4, da es unüberlegt wäre, auf Grundlage so weniger Daten zu einem zweifelsfreien Schluss kommen zu wollen. Dies bedeutet natürlich nicht, dass die Ergebnisse dieser Zeiträume ignoriert werden können. Für Zeiträume 2 und 3 gelten die gennanten Bedenken allerdings nicht, da die Korpora größer und die Ergebnisse dementsprechend sicherer sind. Auch wenn nur die durschnittlichen Längen der Erzählsequenzen betrachtet werden, ist eine große Anzahl von bedeutsamen und statistisch signifikanten Unterschieden zu finden. Diese zeigen z. B., dass die Heiligendichtung in Zeitraum 2 höhere Narrativität als in Zeitraum 3 aufweist und dass alle Zeiträume von Beirdd yr Uchelwyr größeren narrativen Gehalt als der der Gogynfeirdd haben. Zeiträume 2 und 4 haben auch die größte Standardabweichung der durchschnittlichen Länge ihrer Erzählsequenzen.⁵⁸ Dies deutet einmal mehr darauf hin, dass es in diesen Zeiträumen ein größeres Potenzial für längere Erzählungen gibt. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass sich bei der Verwendung von temporalen Adverbien dieselben Tendenzen zeigen.⁵⁹ Die für den Aufbau der längeren Erzählsequenzen wichtigsten Adverbien sind yno oder yna, die entweder ,dann‘ oder ,da‘ bedeuten, und adverbielles gwedy (,danach‘). Wie das Beispiel auf S. 107–108 demonstriert, ist es in der mittelalterlichen walisischen Dichtung oft schwierig, ohne solche Adverbien die chronologische Reihenfolge der dargestellen Ereignisse zu bestimmen. Wenn in den auf S. 107–108 zitierten Zeilen aus ,Canu i Ddewi‘ temporales yna verwendet würde, hätte ich sie wahrscheinlich als eine Erzählsequenz ausgelegt. Diese Adverbien spielen also eine bedeutsame Rolle bei der Hervorhebung der Erzählstruktur und zeigen nochmals, dass die Narrativität in Zeitraum 2 besonders hoch ist. Auch diese Statistiken sind wohlgemerkt mit Vorsicht zu behandeln, da die Anzahl der Belege der Adverbien für jeden Zeitraum recht gering ist.

58 Mittelwert der Gogynfeirdd = 2,19 Standardabweichung = 0,46341 Standardfehler des Mittelwerts = 0,08192. Mittelwert Zeitraum 1 = 2,44 Standardabweichung = 0,865 SdM = 0,216. Mittelwert Zeitraum 2 = 3,14 Standardabweichung = 3,379 SdM = 0,3379. Mittelwert Zeitraum 3 = 2,45 Standardabweichung = 1,037 SdM = 0,096. Mittelwert Zeitraum 4 = 3,83 Standardabweichung = 3,3375 SdM = 0,9635. 59 Die Forschung zur diachronischen Entwicklung von temporalen Adverbien, Konjunktion und Präpositionen im Alt- und Mittelenglischen lieferte das Beispiel für diesen Teil der Untersuchung: s. Monika Fludernik, Middle English þo and Other Narrative Discourse Markers, in: Andreas Jucker (Hg.), Historical Pragmatics (Pragmatics and Beyond NS 35), Amsterdam 1995, S. 359–392 und Brita Wårvik, Perspectives on Narrative Discourse Markers: Focus on English þa, Turku 2013, das einen ausführlichen Überblick über die Verwendung von þa bietet.

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Zeitraum

Gogynfeirdd (12. Jh.– um 1320) Uchelwyr Zeitraum 1 (um 1320–1420) Uchelwyr Zeitraum 2 (um 1420–1485) Uchelwyr Zeitraum 3 (um 1485–1525) Uchelwyr Zeitraum 4 (nach 1525)

Größe des Korpus (Zeilen)

Anzahl an Texten

Anzahl von temporalem yno/yna und adverbiellem gwedy

756 290 1498 1506 186

5 3 22 22 2

0 0 11–15 6 1

3 Fazit Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sind wichtig. Wenn die diachronen Tendenzen der Erzählung eindeutig zu erkennen sind, können die Herausgeber eines Gedichts aus einem bestimmten Zeitraum die Erzählung dieses Gedichts im Kontext der Normen der Erzählung im entsprechenden Zeitraum untersuchen. Im Fall von anonymen Gedichten sind die Ergebnisse auch für die Datierung von Bedeutung. Es ist z. B. wahrscheinlich, dass ein Gedicht an einen Heiligen mit besonders starker Erzählung aus Zeitraum 2 oder Zeitraum 4 stammt. Das gilt für den anonymen Cywydd an Michael, der eine Erzählsequenz mit der Länge 9 enthält, also länger ist als alle Werte aus den Zeiträumen 1 und 3.⁶⁰ Auch in diesem Fall ist freilich der kleine Umfang der Teilkorpora für die Zeiträume 1 und 4 zu berücksichtigen. Die Narrativität ist natürlich nur eine von mehreren Faktoren, wie z. B. auch der historische und handschriftliche Kontext, die Sprachform und Cynghanedd, die bei der Datierung solcher Gedichte zu untersuchen sind. Die Tendenzen der Narrativität laufen parallel zu allgemeineren Innovationen in Cynghanedd und im Stil, da die Anforderungen des Stils und der Cynghanedd in den Zeiträumen 2 und 4 etwas weniger streng als in den Zeiträumen 1 und 3 sind.⁶¹ Dichter aus den Zeiträumen 2 und 4 hatten vielleicht deswegen größere Freiheiten bei der Einbindung narrativer Passagen. Die Kreativität der Dichter in den Zeiträumen 1 und 3 war aber nicht wegen der Metrik eingeschränkt. Die Veränderungen hängen auch mit Tendenzen der poetischen ,Mode‘ zusammen. Mit Blick auf die walisische Dichtung im allgemeinen stellt sich die entscheidende Frage, inwieweit die Veränderungen der Erzähllänge in der Heiligendichtung den generellen Tendenzen in der Narrativität der Dichtung der jeweiligen Zeitalter entsprechen. Wie oben erwähnt zeigen die walisischen Gedichte an die Heiligen einen verhältnismäßig hohen Grad an Narrativität im Vergleich mit zeitgenössischen walisi-

60 D. Gwenallt Jones, Buchedd Mihangel a’r ,Legenda Aurea‘, in: Bwletin y Bwrdd Gwybodau Celtaidd 5 (1929/31), S. 8–14, hier S. 9–11. 61 Johnston (Anm. 6), S. 99 f.

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schen Gedichten.⁶² In den mittelkymrischen bardischen Traktaten gibt es eine Beschreibung von pa furyf y moler pob peth o’r y mynner prydu idaw (,wie alles, an das man dichten möchte, zu loben ist‘), die deutlich macht, wie Gott, Maria, die Heiligen, und verschiedene andere Arten von Männern und Frauen im Gedicht zu loben sind.⁶³ Fester Bestandteil des Lobes eines Heiligen war der Verweis auf seine Wunder (gwyrtheu) und himmlische Taten (nefolyon weithredoed). In ,Cynog‘ z. B. finden wir Erzählung in Gebetsform, damit der Dichter die nefolyon weithredoed des Heiligen beschreiben und gleichzeitig Cynog direkt ansprechen und loben kann. Die Erzählung spielt deshalb in der Heiligendichtung oft eine sehr wichtige Rolle und ist vielleicht wichtiger als in manchen anderen Gattungen. Trotzdem sind die allgemeineren Stilinnovationen in verschiedenen Gattungen der Dichtung mit strenger Metrik zu finden, und das viel kleinere Korpus der mittelalterlichen walisischen erotischen Dichtung zeigt dieselbe Korrelation zwischen Erzähllänge und Zeitalter.⁶⁴ Folglich gibt es Grund zur Annahme, dass die Änderungen nicht auf die Heiligendichtung beschränkt sind. Um dies zu bestätigen, ist aber weitere Forschung zu allen Gedichten mit strengem Versmaß aus diesen Jahrhunderten erforderlich. Es ist denkbar, dass einige Gattungen abweichende Tendenzen aufweisen. Mutatis mutandis wird das hier vorgeschlagene angepasste Modell hoffentlich auch nützlich für die Erforschung kleiner Erzählungen in anderen Großkorpora sein. Offensichtlich ist das Modell für manche Korpora besser als für andere geeignet, und es wäre schwierig, das Modell z. B. auf ein großes Korpus von Epen anzuwenden. Im Fall anderer schwach narrativer Traditionen, wie z. B. der altnordischen Skaldendichtung, bieten sich gute Gelegenheiten, das Modell anzuwenden, um diachrone Tendenzen oder auch Abweichungen hinsichtlich anderer, z. B. regionaler Faktoren zu untersuchen.

4 Anhang: das Korpus Das Korpus enthält alle veröffentlichten bzw. wissenschaftlich edierten walisischen Gedichte an Heilige aus den oben definierten fünf Zeiträumen. Das entspricht der großen Mehrheit der erhaltenen Gedichte dieser Art. 8 Gedichte aus der Zeit nach dem Ende des 16. Jhs. und 16 undatierbare anonyme Gedichte wurden zwar untersucht,

62 Mehrere walisische Gedichte an die Heiligen weisen trotzdem fast keinen narrativen Gehalt auf, und es gibt kein Minimum an Narration, das die Texte zeigen müssen. Manche Gedichte loben bestimmte Heilige, ohne irgendwelche Ereignisse aus ihrem Leben zu erzählen, z. B. Dafydd ap Gwilym, ,Galw ar Ddwynwen‘, in: Johnston (Anm. 25), Nr. 48. 63 Gramadegau’r Penceirddiaid, hrsg. v. G. J. Williams und E. J. Jones, Caerdydd 1934, S. 15 f., 34 f., 55 f., 131–133. 64 In diesem Korpus stammen die datierbaren Gedichte mit den längsten Erzählsequenzen aus den Zeiträumen 2 und 4; s. D. Johnston (Hg.), Canu Maswedd yr Oesoedd Canol, Caerdydd 1991, Nr. 20 (Zeitraum 2), Nr. 21 (Zeitraum 2), Nr. 22 (Zeitraum 2), Nr. 23 (Zeitraum 4).

122 | David Callander

sind aber nicht in die Statistiken mitaufgenommen. Gleiches gilt für späte einzelne ,Englynion‘. Gogynfeirdd Gwynfardd Brycheiniog, Canu i Ddewi,Canu i Ddewi‘, in: Bramley (Anm. 27), Nr. 26. Cynddelw Brydydd Mawr, Canu Tysilio,Canu Tysilio‘, in: Gwaith Cynddelw Brydydd Mawr I, hrsg. v. Nerys Ann Jones u. a., Caerdydd, 1991, Nr. 3. Gruffudd ap Dafydd ap Tudur, Gofyn Nawdd Cedig Sant,Gofyn Nawdd Cedig Sant‘, in: Gwaith Gruffudd ap Dafydd ap Tudur, hrsg. v. N. G. Costigan u. a., Aberystwyth 1995, Nr. 1. Llywelyn Fardd I, Canu i Gadfan,Canu i Gadfan‘, in: Bramley (Anm. 27), Nr. 1. Madog ap Gwallter, I Fihangel,I Fihangel‘, in: Gwaith Bleddyn Fardd, hrsg. v. Rhian Andrews u. a., Caerdydd 1996, Nr. 34. Z e i t r a u m 1 (um 1320–um 1420) Dafydd ap Gwilym, Galw ar Ddwynwen,Galw ar Ddwynwen‘, in: Johnston (Anm. 25), Nr. 48. Iolo Goch, I Ddewi Sant,I Ddewi Sant‘, in: Gwaith Iolo Goch, hrsg. v. Dafydd Johnston, Caerdydd 1988, Nr. 29. Rhys Goch Eryri, I Feuno,I Feuno‘, in: Gwaith Rhys Goch Eryri, hrsg. v. Dylan Foster Evans, Aberystwyth 2007, Nr. 14. Z e i t r a u m 2 (um 1430–um 1485) Dafydd Llwyd o Fathafarn, Awdl i Ddewi,Awdl i Ddewi‘, in: Gwaith Dafydd Llwyd o Fathafarn, hrsg. v. W. Leslie Richards, Caerdydd 1964, Nr. 3. Dafydd Llwyd o Fathafarn, Cywydd i Dydecho Sant,Cywydd i Dydecho Sant‘, in: Ebd., Nr. 52. Dafydd Nanmor, Gweddi ar Bedrog Sant wedi storm tywod,Gweddi ar Bedrog Sant wedi storm tywod‘, in: Lewis (Anm. 5), Nr. 17. Gruffudd Nannau, Cywydd i Fwrog Sant,Cywydd i Fwrog Sant‘, in: A critical examination of Welsh poetry relating to the native saints of North Wales (c. 1350–1670), hrsg. v. Maredudd Ap Huw, DPhil Diss., Oxford 2001, Nr. 21. Hywel Dafi, Seintiau Enlli,Seintiau Enlli‘, in: Ebd., Nr. 13. Hywel Rheinallt, Cywydd Cawrda Sant,Cywydd Cawrda Sant‘, in: Ebd., Nr. 10. Hywel Rheinallt, Cywydd Einion,Cywydd Einion‘, in: Ebd., Nr. 11. Huw Cae Llwyd, I Iesu a’r Seintiau,I Iesu a’r Seintiau‘, in: Gwaith Huw Cae Llwyd, hrsg. v. Leslie Harries, Caerdydd 1953, Nr. 43. Huw Cae Llwyd, Y Seintiau,Y Seintiau‘, in: Ebd., 45. Hywel Dafi, Cynog,Cynog‘, in: LEWIS (Anm. 5), Nr. 14. Hywel Rheinallt, Dwynwen,Dwynwen‘, in: Ebd., Nr. 3. Ieuan ap Rhydderch, Buchedd Dewi Sant,Buchedd Dewi Sant‘, in: Ebd., Nr. 18. Ieuan Brydydd Hir, Ffynnon Gwenfrewi,Ffynnon Gwenfrewi‘, in: Gwaith Ieuan Brydydd Hir, hrsg. v. M. Paul Bryant-Quinn, Aberystwyth 2000, Nr. 9. Ieuan Llwyd Brydydd, Gweddi ar i Ddoged Sant adfer golwg y bardd,Gweddi ar i Ddoged Sant adfer golwg y bardd‘, in: Gwaith Ieuan ap Llywelyn Fychan, hrsg. v. M. Paul Bryant-Quinn, Aberystwyth 2003, Nr. 15. Lewys Glyn Cothi, Awdl-Gywydd i Ddewi Sant,Awdl-Gywydd i Ddewi Sant‘, in: Gwaith Lewys Glyn Cothi, hrsg. v. Dafydd Johnston, Caerdydd 1995, Nr. 8. Lewys Glyn Cothi, Gweddi ar Ddewi Sant amddiffyn Elfael,Gweddi ar Ddewi Sant amddiffyn Elfael‘, in: Ebd., Nr. 142. Lewys Glyn Cothi, I Ieuan Fedyddiwr,I Ieuan Fedyddiwr‘, in: Ebd., Nr. 3. Lewys Glyn Cothi, I Sain Lug,I Sain Lug‘, in: Ebd., Nr. 4. Lewys Glyn Cothi, I Sain Niclas,I Sain Niclas‘, in: Ebd., Nr. 6.

Erzählung in der kymrischen Heiligendichtung | 123

Lewys Glyn Cothi, I Saint Cymru,I Saint Cymru‘, in: Ebd., Nr. 7. Lewys Glyn Cothi, I Lawddog Sant,I Lawddog Sant‘, in: Ebd., Nr. 9. Lewys Glyn Cothi, I Simon a Siwd,I Simon a Siwd‘, in: Ebd., Nr. 5. Z e i t r a u m 3 (um 1485–um 1525) Dafydd ap Llywelyn ap Madog, Ffynnon Dyfnog,Ffynnon Dyfnog‘, in: Lewis (Anm. 5), Nr. 7. Dafydd ap Llywelyn ap Madog, Mordeyrn,Mordeyrn‘, in: Ebd., Nr. 6. Dafydd Epynt, Cynog,Cynog‘, in: Ebd., Nr. 15. Dafydd Epynt, Gweddi ar Sant Cathen Llangathen iachau’r bardd o’i gryd,Gweddi ar Sant Cathen Llangathen iachau’r bardd o’i gryd‘, in: Ebd., Nr. 21. Syr Dafydd Trefor, I Ddeiniol Bangor a’r Esgob Thomas Skeffington,I Ddeiniol Bangor a’r Esgob Thomas Skeffington‘, in: Gwaith Syr Dafydd Trefor, hrsg. v. Rhiannon Ifans, Aberystwyth 2005, Nr. 14. Syr Dafydd Trefor, I Ddwynwen,I Ddwynwen‘, in: Ebd., Nr. 13. Gruffudd ab Ieuan ap Llywelyn Fychan, Gweddi ar Gynhafal Sant,Gweddi ar Gynhafal Sant‘, in: Critical Examination of Welsh Poetry, hrsg. v. Ap Huw, Nr. 20. Gwilym Gwyn, Elian,Elian‘, in: Lewis (Anm. 5), Nr. 2. Ieuan ap Llywelyn Fychan, Gweddïo ar y Saint,Gweddïo ar y Saint‘, in: Gwaith Ieuan ap Llywelyn Fychan, hrsg. v. Bryant-Quinn, Nr. 6. Iorwerth Fynglwyd, I San Ffraid,I San Ffraid‘, in: Gwaith Iorwerth Fynglwyd, hrsg. v. Howell Ll. Jones u. Eurys I. Rowlands, Caerdydd 1975, Nr. 43. Lewys Daron, I Bedr yn Rhosyr,I Bedr yn Rhosyr‘, in: Gwaith Lewys Daron, hrsg. v. Cynfael Lake, Caerdydd 1994, Nr. 28. Rhisiart ap Rhys, Catwg,Catwg‘, in: Lewis (Anm. 5), Nr. 24. Rhisiart ap Rhys, Catwg (2),Catwg (2)‘, in: Gwaith Rhys Brydydd, hrsg. v. Eurys I. Rowlands, Caerdydd 1976, Nr. 7. Rhisiart ap Rhys, I Sant Curig ac I Seintiau Eraill,I Sant Curig ac I Seintiau Eraill‘, in: Ebd., Nr. 8. Rhisiart ap Rhys, I Ddewi a Syr Rhys ap Tomas,I Ddewi a Syr Rhys ap Tomas‘, in: Ebd., Nr. 9. Rhisiart ap Thomas Du, Tyfodwg,Tyfodwg‘, in: Lewis (Anm. 5), Nr. 22. Siôn ap Hywel, Awdl i Wenfrewi,Awdl i Wenfrewi‘, in: Ebd., Nr. 18. Siôn ap Hywel, Awdl i Gatrin,Awdl i Gatrin‘, in: Gwaith Siôn ap Hywel, hrsg. v. Cynfael Lake, Aberystwyth 1999, Nr. 19. Siôn ap Hywel, Tyrnog,Tyrnog‘, in: LEWIS (Anm. 5), Nr. 8. Siôn Ceri, Llwchaearn,Llwchaearn‘, in: Gwaith Siôn Ceri, hrsg. v. Cynfael Lake, Aberystwyth 1996, Nr. 55. Tomas Derllys, Marged Llanfaches,Marged Llanfaches‘, in Lewis (Anm. 5), Nr. 25. Tudur Aled, Gwenfrewi,Gwenfrewi‘, in Jones (Anm. 8), Nr. 139. Z e i t r a u m 4 (später im 16. Jh.) Huw Arwystl, Awdl Llonio Sant,Awdl Llonio Sant‘, in: The Lives of the British Saints, hrsg. v. Sabine Baring-Gould und John Fisher, London 1907–1913, Bd. 4, S. 429. Lewys Morgannwg, Moliant Illtud Sant,Moliant Illtud Sant‘, in: Gwaith Lewys Morgannwg, hrsg. v. Cynfael Lake, Aberystwyth 2004, Nr. 100.

Florian Kragl

Schaubühnen Überlegungen zur erzählten Topographie und ihrer historischen Bedingtheit Zusammenfassung: The article takes as its onset the ,otherness‘ we perceive when looking at the organisation of narrative space in medieval literature. In contrast to a highly dynamic development of the narrative topography in the ,modern‘ novel, the spaces of which usually evolve around the characters’ actions, medieval narratives (or at least the courtly romance) seem to rely on more static concepts of narrative space. The topography of medieval narratives is set in advance, not unlike the stage in a modern theater, and it gives room to the characters and their actions, but is itself not substantially modified by them. The contrast between medieval and ,modern‘ narrative strategies is exemplified by comparing J. F. Cooper’s ,Der Wildtöter‘ (a German adaptation for young readers) with the ,Lanzelet‘ by Ulrich von Zatzikhoven, an Arthurian romance from around 1200. A close look at two passages from the ,Wigalois‘ by Wirnt von Gravenberg and the ,Wilhelm von Orlens‘ by Rudolf von Ems – two courtly romances from the 13th century – will then demonstrate that the ,modern‘ narrative technique is not unknown to medieval authors, but that they make use of it only very scarcely. It is argued that specific aspects of media history – a very slow shift from semi-oral to more or less ,literary‘ vernacular texts during the ,long‘ 13th century – might help to explain both the differences between medieval and ,modern‘ narration and the changes the genre of courtly romance underwent during the 13th century. The introduction reflects on literary space in general, on its relation to maps and to everyday experience, as well as on the possibilities of a historiography of narrative space. Schlagwörter: Abenteuerroman, Artusroman, Höfischer Roman, Karte, Medialität, Mündlichkeit, Raumdarstellung, Raumgeographie, Topographie, Vortrag

1 Literarischer Raum und Möglichkeiten seiner Historisierung Es zeichnet literarische Räume – anders wohl als literarische Zeit¹ – aus, dass sie im Hörer oder Leser zwar eine Folge räumlicher Imaginationen provozieren, diese Imagina1 Sie ist denn auch als narratologische Kategorie wesentlich einfacher zu fassen und – von den Narratologen – insgesamt wesentlich systematischer erschlossen. Vgl. Wolfgang Hallet und Birgit Neumann, Prof. Dr. Florian Kragl, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Department Germanistik und Komparatistik, Bismarckstr. 1, 91054 Erlangen, e-mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110566536-007

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tionen sich aber selten zu einer komplexen räumlichen ,Welt‘ zusammenfügen wollen.² Ich erinnere mich noch gut, als ich als Fast-schon-Halbwüchsiger einen Karl May-Band nach dem anderen verschlungen habe und mir jeder Roman aufs Neue die mir damals etwas seltsame Erfahrung eingetragen hat, dass darin zwar Räume und auch Wege mit scheinbar höchster Präzision beschrieben sind, irgendwann aber doch immer der Punkt erreicht war, wo die Landkarte, die ich mir in meinem Kopf angelegt hatte, gegen die Gesetze der Physik verstoßen wollte; sei es, weil plötzlich aneinandergrenzte, was nicht aneinandergrenzen durfte, oder dass weit auseinanderlag, was in unmittelbarer Nachbarschaft zu denken sein sollte. Es wird verschiedene Gründe gegeben haben, warum dies damals meine Irritation ausgelöst hat. Vielleicht ist es das Erlebnis eines naiven Lesers, der Literatur gleichsam erst lernen muss und der aber doch und gerade deswegen vielleicht ein Auge hat für jene Sonderbarkeiten des literarischen Erzählens, die uns irgendwann durch professionelle Abstumpfung selbstverständlich werden. Vielleicht liegt es auch just am Schreiben Karl Mays, der ja nun tatsächlich viel Wortenergie darauf verwendet, die Raumgeographie um seine Helden äußerst präzise zu zeichnen, ähnlich vielleicht wie im (im weitesten Sinne) Abenteuerroman des ,langen‘ 19. Jahrhunderts überhaupt (James Fenimore Cooper, Jack London etc.). Welche Ausmaße dies annehmen kann, zeigen Bücher, die ihre fiktive Geographie auf einem Sonderblatt gleich mit abdrucken – so wie in Walter Moers ,Rumo‘ oder in J. R. R. Tolkiens ,Lord of the Rings‘, der wohl nicht zuletzt auch wegen dieser Pedanterie ein Professorenroman genannt werden darf.³

Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung, in: Wolfgang Hallet und Birgit Neumann (Hgg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, S. 11–32, hier S. 19; Ansgar Nünning, Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung: Grundlagen, Ansätze, narratologische Kategorien und neue Perspektiven, in: ebd., S. 33–52, hier S. 34. Entsprechend bunt sind die literaturwissenschaftlichen Raumkonzepte überhaupt: Hallet/Neumann, a. a. O., S. 11. 2 Vgl. Alfred Ebenbauer, Dichtung und Raum. Kritische Gedanken zu einer mittelalterlichen ,Literaturgeographie‘, in: Hartmut Kugler (Hg.), Interregionalität der deutschen Literatur im europäischen Mittelalter, Berlin, New York 1995, S. 23–43, hier S. 23: „Neben den Zeitkoordinaten bestimmen die Koordinaten des Raumes den Menschen, sein Leben, seine Kultur, seine Identität. Allerdings scheint es [. . . ] schwieriger zu sein, die räumlichen Faktoren von Identität zu bestimmen, als die der Zeit. Wir sind gewohnt, Kulturphänomene zeitlich zu ordnen und zu verstehen: [. . . ] Mit der Ordnung des Raumes scheint es allerdings weniger leicht zu gehen.“ 3 Zu diesen literary maps, die z. T. auch erst in der Rezeption eines Erzähltextes entworfen werden, siehe Eric Bulson, Novels, Maps, Modernity. The Spatial Imagination 1850–2000, New York, London 2007. Zur Interdependenz von Literatur und Karte siehe auch Federico Italiano, Kartographisches Schreiben und kartographische Imagination, in: Jörg Dünne und Andreas Mahler (Hgg.), Handbuch Literatur & Raum (Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie 3), Berlin, Boston 2015, S. 249–258, zur damit sich berührenden ,Literaturgeographie‘ (die ,fiktionale‘ mit ,wirklichen‘ Orten verrechnet) Barbara Piatti, Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien, Göttingen 2 2009.

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Doch nicht auf die Frage, wo wir diese Irritation erleben und warum sie uns mal mehr, mal weniger bewusst wird, kommt es mir an. Wesentlicher scheint mir zu sein, dass literarische Räume im Grunde – über alle Schattierungen und Abstufungen hinweg – so gut wie immer dieses Charakteristikum der Karl May-Räume aufweisen, dass sie nämlich in unseren Köpfen konkret und prägnant da sind, doch in jedem Kopf verschieden, und in keinem wohl ,richtig‘ dergestalt, dass sich von ihnen eine funktionale Karte zeichnen ließe.⁴ Woran aber liegt es, dass wir bei literarischen Texten kaum je eine Schwierigkeit damit haben, uns eine Figur – und sei sie noch so disparat gezeichnet – als Charakter auszumalen, uns – auch wenn uns oft nur punktuelle Angaben dafür zur Verfügung stehen – eine zeitliche Linie durch die erzählte Handlung zu legen, dass aber die erzählten Räume zwar je szenisch präzisiert sein mögen, eine große Erzählwelt sich aus ihnen aber schwerlich zusammensetzen lässt? Ich meine, dass der Grund für diese Ausnahmestellung des Raums im Gefüge der narratologischen Kategorien darin zu suchen ist, dass Einzelräume, die sich zu einem Weltganzen fügen sollen, notwendigerweise geographische Räume zu sein haben. Sie brauchen klare Angaben zu Distanzen zwischen einzelnen wichtigen Punkten und exakte Informationen über die Winkel, die diese Distanzen nehmen – also etwa Himmelsrichtungen, Längen- oder Breitengrade. Das ist das Prinzip der Atlanten, das sich jene Autoren, die ihren Büchern Skizzen über die geographische Konfiguration der Erzählwelt beigeben, borgen.⁵ Im erzählten Text aber begegnen derlei geographische

4 Auf dieses Paradoxon weist auch Bulson (Anm. 3), S. 107 hin, verbucht es aber als ein Charakteristikum des modernen Romans, der seinen Leser absichtlich sich (und zwar in der Großstadt) verlieren lässt. Marie-Laure Ryan, Cognitive Maps and the Construction of Narrative Space, in: David Herman (Hg.), Narrative Theory and the Cognitive Sciences (CSLI Lecture Notes 158), Stanford CA 2003, S. 214– 242 hat das Phänomen in einem empirischen Experiment wenn nicht nachgewiesen, dann immerhin überzeugend illustriert. Allgemein adressiert ist es bei Gabriel Zoran: Towards a Theory of Space in Narrative, in: Poetics Today 5 (1984), S. 309–335, hier S. 316 f. 5 Vgl. Robert Stockhammer, Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur (Bild und Text), München 2007, bes. S. 8: „Das Zeichenverbundsystem Karte beschreibt den Raum und die Lage der Dinge, ja auch die Lage der Menschen im Raum, auf eine andere Weise, als es gewöhnlich von der Literatur erwartet wird: Die Karte bringt zahlengenaue Maßverhältnisse ins Spiel, abstrahiert von der idiosynkratischen Perspektive einzelner Subjekte und von deren seelischer Tiefe; sie erzählt keine zusammenhängende Geschichte, und sie deutet auf etwas statt etwas zu bedeuten. Wenn literarische Texte sich Karten annähern, so nähern sie sich damit zugleich, in ihren Aussagen ebenso wie in ihrer Gestalt, diesen Funktionsweisen des kartographischen Mediums an.“ Die Differenz zwischen litearischer und kartographischer Darstellung ist (mit ähnlicher Stoßrichtung) reflektiert bei Maximilian Benz, Kritik der Karte. Mapping als literaturwissenschaftliches Verfahren, in: Marion Picker, Véronique Maleval und Florent Gabaude (Hgg.), Die Zukunft der Kartographie. Neue und nicht so neue epistemologische Krisen (Kultur- und Medientheorie), Bielefeld 2013, S. 199–218. Vgl. auch Stefanie Stockhorst, ,Raum‘ als kulturwissenschaftliches Paradigma. Begriffliche, methodische und thematische Perspektiven für eine Germanistik im Zeichen des ,topographical turn‘, in: Françoise Lartillot und Ulrich Pfeil (Hgg.), Constructions de l’espace dans les cultures d’expression allemande (Convergences 71), Bern u. a. 2013, S. 7–32, hier S. 19 und 23 (mit demselben Zitat ebd.).

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Angaben nur höchst selten. Vielleicht steht irgendwo, dass Old Shatterhand einmal ichweißnichtwieviele Meilen nordwestwärts reitet, aber diese Angaben sind selektiv, sie erschließen nicht die ganze Erzählwelt,⁶ und da reale Karten ihr Koordinatennetz auf den Längen- und Breitengrad genau bestimmen, würde auch eine Fülle solcher Streckenmaße nichts nützen, wenn nicht jeweils auch die Grade am Kompass angegeben wären, denen Old Shatterhand gerade nachgeht, ohne vielleicht einen solchen Kompass überhaupt zu haben. Dazu kommt, dass der Leser sich von Beginn an eine mentale Hypothese⁷ über die Raumvorstellungen zurechtlegt, die z. T. auch blinde Flecken ausfüllt und damit möglicherweise räumliche Informationen, die erst zu einem späteren Zeitpunkt im Text gegeben werden, nicht mehr problemlos integrieren kann; in der Konsequenz wird aber nicht beständig an dieser Hypothese gearbeitet, sondern werden widerstrebende Nachtragsdaten, so sie nicht ans Grundgerüst der Konzeption rühren, tendenziell einfach ignoriert.⁸ Die Sache vergleicht sich der Orientierung in einer fremden Stadt (die nicht, wie Erlangen oder Mannheim, in Quadranten angelegt ist – wo es nur 90°-Kreuzungen gibt): Wer je einen Einheimischen nach einem Weg gefragt hat, dessen Verlauf die Komplexität von ,Nehmen Sie die Zweite links!‘ überstiegen hat, weiß aus eigener Erfahrung, dass erzählte Räume, selbst wenn sie präzise und operationalisierbar sein sollten, ja, müssten, und ihre mentalen Repräsentationen im Kopf des Rezipienten – die oft verblüffend stur sein können (man landet dann auf einem alten Fabriksgelände, in einer Fußgängerzone, auf einem Feldweg) – mit der als real erlebten Geographie oft kaum zur Deckung zu bringen sind. Wenn aber erzählte Räume keine geographischen Räume sind, was sind sie dann? Das Beispiel der Auskunft eines Ortskundigen, die einem Ortsunkundigen wenig sagt, führt bereits darauf hin, dass dieses Problem kein genuin literarisches, vielmehr eines des Raum-Erzählens und Raum-Besprechens generell ist. Wenn wir, das heißt, wir Menschen, einen räumlichen Verlauf beschreiben, bedienen wir uns dazu einer Sprache, die nicht dafür gemacht scheint, diesen Verlauf mit mathematischer Exaktheit – dafür gibt es ja die andere, geometrische Sprache – abzubilden. Was wir uns berichten und erzählen, sind keine vermessenen Räume, sondern erlebte Räume.⁹ Erlebt sind diese Räume nicht in dem emphatischen Sinne, dass an jeder Ecke eine tiefschürfende Erinnerung haftete. Erlebt sind sie vielmehr dergestalt, dass wir zu ihrer Beschreibung relationale Begriffe verwenden, die unser Sein und unser Bewegen durch den Raum benennen, nicht aber die geographische Beschaffenheit des Raums selbst zum Ziel

6 Ryan (Anm. 4), S. 233 f. bringt einen kurzen Beispieltext, der genau diesen Versuch unternimmt und der zugleich drastisch erkennen lässt, dass eine solche Form des präzisen Raumerzählens Textungetüme zeitigt. 7 Ryan (Anm. 4), S. 237 spricht von „a global vision“. 8 Ebd., S. 236–238. 9 Vgl. Hartmut Böhme (Hg.), Topographien der Literatur deutsche Literatur im transnationalen Kontext, Stuttgart, Weimar 2005, S. xv–xviii (Einleitung).

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haben;¹⁰ die also unserer eigenen körperlichen Positionierung und Manövrierung dienen,¹¹ mehr über uns aussagen als über den Raum schlechthin;¹² die darauf Rücksicht haben, dass die mentalen Kapazitäten des menschlichen Gehirns offenbar nicht dazu geeignet sind, zwei- oder gar dreidimensionale Karten zu speichern wie Papier oder EDV.¹³ Das anthropocentric bias prägt auch unser Raumverständnis.¹⁴ Selbst wenn wir uns bemühen, von diesem unseren Selbst Abstand zu nehmen – zum Beispiel weil wir eben einem Fremden einen Weg beschreiben wollen –, gelingt uns dies nur sehr schwer. In literarischen Texten (oder schlicht auch in aufgeschriebenen, erzählten) lässt sich dieses Vagieren um einen exakten Raum recht genau beobachten. Zwar gibt es immer wieder – wie eingangs erwähnt – genaue Bestimmungen: wenn ein Ritt drei Tage dauert, eine Entfernung in metrischen Dimensionen benannt wird, eine Himmelsrichtung gegeben, auch wenn Relationen verschiedener räumlicher Punkte gleichsam mathematisch bestimmt werden, drei Städte etwa, die in gleichem Abstand zueinander liegen. Aber diese vergleichsweise seltenen narrativen Ausflüchte in die Gefilde der Geometrie und Geographie stehen gegen ungleich häufigere räumliche Bezeichnungen, die aus dem menschlichen Erfahrungsbereich stammen.¹⁵ Dann geht es aber nicht um Winkel und Meter, sondern um nah oder fern, kurz oder lang, vorne oder hinten, links oder rechts, oben oder unten,¹⁶ deiktische Ausdrücke aller Art,¹⁷ häufig in Dichotomien sortiert,¹⁸ wie die linguistische Pragmatik sie im Sprachvergleich fein

10 Vgl. Teresa Bridgeman, Time and Space, in: David Herman (Hg.), The Cambridge Companion to Narrative, Cambridge 2007, S. 52–65, hier S. 55. 11 Hartmut Böhme, Raum – Bewegung – Grenzen der Sinne, in: Christine Lechtermann, Kirsten Wagner und Horst Wenzel (Hgg.), Möglichkeitsräume. Zur Performativität von sensorischer Wahrnehmung, Berlin 2007, S. 53–72. Vgl. Hallet/Neumann (Anm. 1), S. 21, 27. 12 Vgl. Andreas Mahler, Topologie, in: Dünne/Mahler (Anm. 3), S. 17–29, hier S. 17–21. 13 Diese Differenz ist Thema der kognitiven Raumforschung, für einen Überblick siehe Kirsten Wagner, Kognitiver Raum: Orientierung – Mental Maps – Datenverwaltung, in: Stephan Günzel (Hg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart, Weimar 2010, S. 234–249. 14 Stephen C. Levinson, Space in Language and Cognition, Cambridge 2003, bes. S. 9–14. Vgl. Mahler (Anm. 12), S. 19. 15 Vgl. (zu Wolfram von Eschenbach) Hartmut Beck, Raum und Bewegung. Untersuchungen zu Richtungskonstruktion und vorgestellter Bewegung in der Sprache Wolframs von Eschenbach (Erlanger Studien 103), Erlangen, Jena 1994, S. 242: „Nicht die Gegenstandswelt und das an ihr Vermeßbare gliedert die Welt, sondern erst das menschliche Handeln schafft den (erzählten) Raum.“ 16 Vgl. Bridgeman (Anm. 10), S. 55; Hilary P. Dannenberg, Coincidence and Counterfactuality. Plotting Time and Space in Narrative Fiction (Frontiers of Narrative), Lincoln, London 2008, S. 75 f.; Mahler (Anm. 12), S. 19–21, der verschiedene „topologische Achsen“ unterscheidet. 17 Eine Systematik bietet Katrin Dennerlein, Narratologie des Raumes (Narratologia 22). Berlin, New York 2009, S. 75–96 mit Tab. 1 f. auf S. 208 f. 18 Vgl. Armin Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Hg. von Manuel Braun, Alexandra Dunkel und Jan-Dirk Müller, Berlin, Boston 2012, S. 293.

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differenziert beschrieben hat,¹⁹ auch um markante Punkte wie Berge, Seen, Schluchten, Häuser, Wegkreuzungen und ihre atmosphärischen Konnotate,²⁰ also um einzelne herausgehobene Orte (frames), in denen sich eine konkrete Handlungsumgebung (setting) installieren lässt.²¹ Diese Angaben machen je für sich guten Sinn, werden von uns auch lesend und hörend verstanden – besser wohl sogar als eine Angabe wie ,43 Kilometer‘ –, aber eben nur für den Moment. Wenn wir jedoch, weiterlesend, irgendwann versuchen, diese sprachlichen Raumgrößen zueinander in Bezug zu setzen, um uns einen großen Entwurf der erzählten Welt zu zimmern, scheitern wir notwendig. Allzu drastisch ist dieses Scheitern freilich nicht: Denn bei den allermeisten Texten werden wir diesen Versuch einer mentalen Kartierung der erlesenen Welt gar nicht unternehmen – „people read for the plot and not for the map“²² –, und so mag uns in vielen Fällen leicht entgehen, dass sich die Handlung, von der wir da lesen oder hören, in einem Raum abspielt, der unvorstellbar ist. Da wir auch ,unsere‘ Welt nicht primär als Landkarte wahrnehmen, stört es uns auch nicht im Mindesten, wenn uns ,fremde‘ Welten nicht als Landkarten präsentiert werden. Die genuin anthropologische bzw. kognitive Form der Raumentfaltung ist (mit Michel de Certeau) nicht die ,objektive‘ carte (die lieus produziert), sondern der parcours (der espaces konstituiert);²³ die Räume der menschlichen Wahrnehmung bestehen nicht als abstrakte Gegebenheiten, sondern entstehen durch spacial practices,²⁴ als gleichsam performative Effekte, im ›Vollzug‹²⁵. Das bislang umrissene Konzept des erzählten Raumes kann als Grundstufe des literarischen Raumes begriffen werden. Denn wie auch in anderen Kategorien des literarischen Erzählens zeichnet sich dieses dadurch aus, dass es Elemente des gleichsam alltäglichen Weltverstehens und des konventionellen Welterzählens übernimmt,²⁶ diese aber – zum größeren oder kleineren Teil, immer aber in mimetischer Verfremdung – überformt, stilisiert und konterkariert.²⁷ Hinsichtlich des literarischen Raumes

19 Räumliche ›Rahmung‹ eines Objekts oder einer Handlung, Demonstrativa, deiktische Adverbia, deiktisch markierte Pronomina der dritten Person und Verba der Bewegung. Siehe den Überblick zur space deixis bei Yan Huang, Pragmatics. Oxford 2007, S. 149–162. 20 Vgl. Wolfram Nitsch, Topographien: Zur Ausgestaltung literarischer Räume, in: Dünne/Mahler (Anm. 3), S. 30–40, hier bes. S. 31–33. 21 Ruth Ronen, Space in Fiction, in: Poetics Today 7 (1986), S. 421–438. 22 Ryan (Anm. 4), S. 238. 23 Michel de Certeau, Praktiken im Raum, in: ders., Die Kunst des Handelns. Aus dem Frz. übers. von Ronald Voullié, Berlin 1988, S. 179–240, hier bes. S. 217–219. 24 Markus Stock und Nicola Vöhringer (Hgg.), Spatial Practices. Medieval/Modern (TRAST 6), Göttingen 2014, vgl. bes. die Einleitung der Herausgeber, S. 7–9, 15–17. 25 Hugo Kuhn, Zur Deutung der künstlerischen Form des Mittelalters, in: Studium Generale 2 (1949), S. 111–121; wieder in: ders., Dichtung und Welt im Mittelalter, Stuttgart 1959, S. 1–14; engl. Übs. durch Christopher Liebtag Miller in: Stock/Vöhringer (Anm. 24), S. 253–266. 26 Dies konzedieren auch gleichsam klassisch-narratologische Ansätze, vgl. etwa Dennerlein (Anm. 17), Kap. 3 (S. 48–72). 27 Vgl. Bridgeman (Anm. 10), S. 64; Hallet/Neumann (Anm. 1), S. 11; Nünning (Anm. 1), S. 37 ff., 40 f. Einige Modalitäten dieser literarischen Übernahme beschreibt Jörg Dünne: Dynamisierungen:

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stehen dazu im Grunde zwei Operationen zur Verfügung, die beide darauf bauen, dass sie Erwartungen an das konventionelle Raumerzählen enttäuschen. Die eine dieser Operationen war bisher bereits mehrfach angeklungen. Sie setzt darauf, den literarischen Raum präzise auszumessen und zumindest die Suggestion zu nähren, hier würde eine Erzählwelt mit naturwissenschaftlichen Maßstäben errichtet. Karl May wäre ein Exponent dieser Bemühungen, das literarisch Erwartete durch ein höheres Maß mathematischer Präzision zu enttäuschen, in seinem Fall wohl um des Eindrucks einer realistischen, ,echten‘, historischen Welt willen. Aber auch der realistische Roman hat ein evidentes Faible dafür, zumindest kleinräumige Szenen mit größter Exaktheit auszugestalten – ich denke an Flauberts ,Madame Bovary‘, die an Passagen dieser Art nicht arm ist. Die andere Operation ist zu dieser Integration des geometrischen Raums in den literarischen exakt gegenläufig. Sie dreht die Stellschraube zwischen erlebtem und gemessenem Raum in die andere Richtung und inseriert dem literarischen Raum solche Elemente, die nicht nur einem naturwissenschaftlichen, sondern auch einem schlicht vernünftigen, ,erfahrenen‘ Weltbild zuwiderlaufen. So entstehen Räume, die den Gesetzen der physikalischen Welt nicht nur in der großen Zusammensicht einer erzählten Landkarte spotten – darin läge nichts Besonderes –, sondern solche, bei denen schon das räumliche Detail sich über alle Formeln von Raum und Zeit, mitunter auch über die Schwerkraft hinwegsetzt. Ein bekannter Fall ist der Eingang von Lewis Carolls ,Alice in Wonderland‘, bei dem sich die Räume um Alice und Alice sich in ihren Räumen ständig ändern, weil sich dehnt und schrumpft, was eng und weit war, Gerades sich krümmt und Bögen sich ausstrecken. Nicht dass hier gegen geometrische Gewissheiten verstoßen wird, ist das Auffällige; dies hat in jeder Raumerzählung statt. Das Charakteristische solcher Räume liegt vielmehr darin, dass dieser Verstoß so deutlich – nämlich im räumlichen Detail einer einzelnen Szene – in den Text geschrieben ist, dass er jene Irritation auslöst, die das Raumganze einer ,konventionellen‘, z. B. alltagswirklichen Erzählung nur dann bewerkstelligt, wenn der Leser oder Hörer sie beflissen sucht. Im (dem Selbstverständnis nach) nicht-trivialen, nicht-,unterhaltenden‘ Erzählen der letzten beiden Jahrhunderte scheint dieses spektakuläre Entgrenzen räumlicher Gegebenheiten inzwischen mehr und mehr konventionelle Norm geworden.²⁸ Das bislang Gesagte versteht sich als Universalie. Die Disposition des Menschen macht es schwer denkbar, dass diese Bedingungen von einer Kultur gleichsam ad hoc außer Kraft gesetzt würden. Diese Universalität dispensiert aber nicht von der Aufgabe, in dieses System weitere historische Schichten einzuziehen, nur dass eben die Historisierung nicht in einer Variation dieser Prinzipien bestehen kann, sondern

Bewegung und Situationsbildung, in: Dünne/Mahler (Anm. 3), S. 41–54. Es ist zugleich die Grundthese der kognitiven Narratologie, zur Raumkognition siehe Wagner (Anm. 13), für eine Anwendung auf das Raumthema siehe Ryan (Anm. 4). 28 Beispiele bei Nitsch (Anm. 20), S. 33–38.

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auf ihrer Basis zu agieren hat. Der Wege, die dabei beschritten werden können, gibt es zwei: Historisch (und kulturell – was immer ich zur Diachronie sage, gilt nicht minder für den synchronen Kulturvergleich) variabel ist – zumindest potentiell – das Raumerleben als solches. In jedem Fall wird es gegen das mathematische Raumbeschreiben verstoßen, denn dass sich Menschen in ihrer Welt in Metern und Winkelgraden zurechtfinden, gibt das menschliche Gehirn offenbar nicht her. Ob aber oben/unten, links/rechts, vorne/hinten, kurz/lang, nah/fern in allen Kulturen zu allen Zeiten die wesentlichen ,Maßstäbe‘ darstellen, mit denen sich Menschen ihre Räume zurechtlegen, und ob diese Kategorien immer gleiche Geltung haben, ist nicht ausgemacht. Selbst wenn diesbezüglich keine Variation festzustellen wäre, so ist damit noch lange nicht gesagt, dass mit vorne/hinten in einem Text des europäischen 20. Jahrhunderts derselbe Vorstellungsbereich beschrieben ist wie in einem mittelalterlichen. Gerade weil die Begriffe und Kategorien, die wir verwenden, um Räume zu erzählen, nicht mathematisch exakt sind, ist ihre historische und kulturspezifische Füllung latent offen für Veränderungen. Im Grunde ist dies die Frage, wie weit das ,Selbst‘ reicht, wenn es in einem Vorstellungsraum positioniert wird, was noch als dazugehörig erfasst wird, was als tangential, was als entfernt. Untersuchungen, die sich dieser Problematik widmen, müssten in erster Linie linguistische, weniger literaturwissenschaftliche sein, weil die Antwort auf die aufgeworfene Frage zuvorderst bei der adverbialen Struktur (zumindest der indogermanischen Sprachen) anzusetzen hätte.²⁹ Nicht länger historisch, aber sehr wohl literarhistorisch variabel ist, wie in literarischen Texten gegen die wie auch immer zu bestimmende Konvention des Raumerzählens und Raumerlebens in einer historisch spezifischen kulturellen Situation verstoßen wird. Diese historische Frage hängt niedriger als die andere, weil nun keine grundlegende kulturelle Andersheit im Sinne einer historischen Anthropologie anvisiert ist, sondern lediglich, welche Auswahl die Literatur aus den Konventionen des ,Lebens‘ trifft und ob und wie es diese stört. ,Realistische‘ Räume wie jene Flauberts sind im mittelalterlichen Erzählen etwa genauso schwer denkbar wie die gezielte Irritation dieses realistischen Prinzips bei ,Alice in Wonderland‘. Dafür kennt das mittelalterliche Erzählen heroische Räume, die ganz um ihre Protagonisten zentriert scheinen (Dietrichs Wald, Siegfried als Herr der Nibelungen, Isenstein), mythische Räume, die auch den Gesetzen der konventionellen mittelalterlichen Literaturgeographie entzogen scheinen, allerdings ohne ihnen zu spotten, und die auffällig problemlos in diese eingeschaltet sein können (die Wasser- und die Schwertbrücke in Chrétiens ,Lancelot‘), oder auch pseudo-geographische Räume wie den weiten Osten Alexanders des Großen, der im mittelalterlichen Alexanderroman so unerhört zusammenschrumpft, wie man

29 Für die Dichtungen Wolframs von Eschenbach ist dies bereits geschehen: Beck (Anm. 15). Ergeben hat sich dabei u. a., dass die Räume bei Wolfram – stärker noch als anderswo – ,soziale‘ Räume sind, insofern Wolfram „sich Raum vor allem als Geflecht sozialer Beziehungen vorstellt“ (S. 242).

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es heute nur noch aus verschiedenen Subwelten eines Computerspiels kennt, wo auch das nächste Großreich oft schon hinter der nächsten Dungeon-Tür beginnt. Während die Historisierung der sprachlichen Raumwahrnehmung und des Raumerzählens im Allgemeinen eine Sache der Linguistik ist, ist diese historische Varianz des literarischen Raumerzählens Kerngeschäft der Literaturgeschichte. Das Folgende ist dieser letzten aufgeworfenen Frage verpflichtet. Es geht aus von der offensichtlichen Beobachtung, dass narrative Raumentwürfe des mittelalterlichen Erzählens sich grundlegend von jenen im Erzählen des 18.–21. Jahrhunderts unterscheiden. Gegenüber einer im hohen Maße dynamischen Raumentfaltung im Erzählen spätestens seit der Zeit um 1800 setzt das mittelalterliche Erzählen stärker auf statische Raummodelle, die mehr von der einzelnen Szene (oder Episode) her gedacht sind und weniger auf die Komposition eine komplexen räumlichen narrativen Welt zielen. Diese These zu prüfen, die mit ihr verbundenen narrativen Mechanismen zu entdecken und ihre poetologischen Konsequenzen zu bedenken, ist das Ziel der folgenden Ausführungen. Sie beginnen mit einem Prototyp jener narrativen Raumgeographie, die heute als gängig und geläufig gelten kann, dem mit Ulrichs von Zatzikhoven ,Lanzelet‘ ein mittelalterliches Kontrastbeispiel entgegengestellt wird. Es folgen Überlegungen zu Wirnts von Gravenberg ,Wigalois‘ und Rudolfs von Ems ,Wilhelm von Orlens‘, die sich ein Stück weit hin zu gleichsam modernen Raumentwürfen bewegen, wobei aufschlussreich weniger der Versuch als der Punkt des Scheiterns ist. Am Ende des Beitrags sei zumindest ausblickshaft über mögliche (mediengeschichtliche) Gründe für diese, wie mir scheinen will, besonders auffällige Differenz zwischen dem Erzählen des Handschriftenzeitalters und jenem des gedruckten Buches nachgedacht. In allen Fällen gilt meine Aufmerksamkeit der Entfaltung einer ,Szenerie‘, worunter ich die räumliche Kontur eines Handlungsabschnitts von relativer Selbständigkeit (einer ,Episode‘, eines ,Kapitel‘ oder einer ,Kapitelfolge‘, analogisch gesprochen: einer ,Szene‘) begreife. Die ,Landschaft‘ im Sinne eines räumlichen Entwurfs, der sich gegen die Handlung weitgehend verselbständigt, spielt im Vergleich dazu nur eine marginale Rolle. Stets also liegt das Augenmerk auf der topographischen Auserzählung von Raum, sodass andere Aspekte des Raumes, wie sie in den vergangenen Jahren im Gefolge des spatial turn auch in die literaturwissenschaftliche bzw. – näher – in die mediävistische Forschung³⁰ Einzug gehalten haben (Raumsemantik, Raumerfahrung, Raumerfindung³¹), meistenteils außen vor bleiben.

30 Vgl. den Überblick bei Schulz (Anm. 18), S. 292–321. 31 Z. B Jan A. Aertsen und Andreas Speer (Hgg.), Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 25), Berlin, New York 1998; Böhme (Anm. 9); Laetitia Rimpau und Peter Ihring (Hgg.), Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, Berlin 2005; Elisabeth Vavra (Hg.), Virtuelle Räume. Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter. Akten des 10. Symposiums des Mediävistenverbandes, Krems, 24.–26. März 2003, Berlin 2005; Ursula Kundert, Barbara Schmid und Regula Schmid (Hgg.), Ausmessen – Darstellen – In-

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2 Hutters See Die ersten drei Kapitel von J. F. Coopers Erzählung ,Der Wildtöter‘ führen auf nicht unelegante Weise in die zentralen Probleme der Handlung ein und stellen die wesentlichen Figuren vor, die diese ausagieren.³² Da sind: Tom Hutter, der mit seinen Töchtern Hetty und Judith abgeschieden an bzw. in (nämlich auf einem Wasserhaus: einer Pfahlkonstruktion) einem dicht umwaldeten See lebt; Harry March, genannt Hurry Harry, sein Gefährte; und Natty Bumppo, den die Delawaren ,Wildtöter‘ nennen und den man außerdem und später als ,Falkenauge‘, ,Pfadfinder‘, ,Lange Büchse‘, ,Lederstrumpf‘ kennen wird. Sie alle stehen unter dem Bann der militärischen Auseinandersetzungen zwischen Engländern und Franzosen anno 1740 in einer Gegend östlich vom Mississippi (S. 9), auf der Seite der Engländer kämpfen die Delawaren, auf jener der Franzosen die Huronen; die genannten Figuren sind Parteigänger der Engländer, die Huronen sind damit ihre Feinde, und dies ist zugleich Motivation der beginnenden Handlung: Tom Hutter versucht, gemeinsam mit Hurry Harry und Wildtöter – der erst am Vortag zur Gruppe gestoßen ist –, den See zu sichern, indem sie im Schutze der Dunkelheit die an verschiedenen Ufern geparkten Kanus abholen und auf die Seemitte zum Wasserhaus transportieren, um dort vor den Huronen, die nach und nach den See umzingeln, fürs Erste sicher zu sein. Die Erzählung beginnt medias in res mit der Sicherung eines der Kanus, das erfolgreich zum Wasserhaus geschleppt wird; als die drei Männer sich daran machen, das letzte verbleibende Kanu zu gewinnen, geschieht das Unvermeidliche: Sie entdecken ein Indianerlager. Tom Hutter und Hurry Harry wollen die Indianer im Schlaf überraschen, während der junge Wildtöter am Ufer im Kanu wartet (das gesuchte Kanu hat er bereits auf den See hinausgetrieben), doch die Situation – die der Leser nur schemenhaft durch das Auge des Wildtöters miterleben darf – gerät außer Kontrolle: Tom Hutter und Hurry Harry werden gefangen genommen, dem Wildtöter gelingt es, sich auf den See zu retten, wo er die Nacht im Kanu verbringt. Am nächsten Morgen wird er feststellen, dass es das freie Kanu wieder an Land, jedoch an ein anderes Seeufer getrieben hat, beim Versuch, es zu gewinnen, gerät er an einen kriegslustigen Indianer,

szenieren. Raumkonzepte und die Wiedergabe von Räumen in Mittelalter und früher Neuzeit, Zürich 2007; Burkhard Hasebrink u. a. (Hgg.), Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters. XIX. Anglo-German Colloquium Oxford 2005, Tübingen 2008; Carsten Morsch, Blickwendungen. Virtuelle Räume und Wahrnehmungserfahrungen in höfischen Erzählungen um 1200 (Philologische Studien und Quellen 230), Berlin 2011; Jens Pfeiffer (Hg.), ,Landschaft‘ im Mittelalter? – Augenschein und Literatur (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 16 [2011], H. 1), Berlin 2011; Martin Huber u. a. (Hgg.), Literarische Räume. Architekturen – Ordnungen – Medien, Berlin 2012; Maximilian Benz und Katrin Dennerlein (Hgg.), Herkunftsräume. Elemente einer historischen Narratologie (Narratologia 51), Berlin, Boston 2016; Dünne/Mahler (Anm. 3). Vgl. den Befund bei Nünning (Anm. 1), S. 35–39. 32 J. F. Cooper, Lederstrumpf. Die drei schönsten Erzählungen, neu bearb. von Prof. Karl Bamberger, mit 6 Illustrationen von Akad. Maler Hans Wulz, Wien [o. J.].

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den er aber schlussendlich überwinden und damit das Kanu endgültig sichern kann. Wildtöter kehrt mit den Kanus zum Wasserhaus zurück. Bald aber brechen er und die beiden Frauen zu dritt, und zwar in einer zum Wasserhaus gehörigen Arche (einer Art Hausboot), auf, um Wildtöters Delawaren-Freund Chingachgook vom Ufer zu holen, was trotz der Verfolgung der Huronen auch gelingt. Mit ihm hatte sich Wildtöter am See treffen wollen, um gemeinsam die gefangene Häuptlingstochter Wah-ta-Wah, Chingachgooks Geliebte, zu befreien. Damit haben die Hauptfiguren sich gegenseitig, die Handlung aber ihre Probleme – drei Gefangene – gefunden, die Fronten sind markiert, die Sympathien verteilt. Die eigentliche Handlung kann beginnen. Ich schildere diese Ouvertüre des ,Wildtöter‘ in dieser Ausführlichkeit nicht, weil es mir um die Exordialtechnik Coopers oder die sonderbar mathematisch kalkulierte Rollenverteilung des Romans geht. Im Fokus steht die narrative Raumregie dieser ersten drei kurzen Kapitel; diese aber ist ohne ein Mindestmaß an Handlung nicht zu erfassen. Das liegt nicht alleine daran, dass diese Handlung zu einer bestimmten Zeit innerhalb einer bestimmten Zeitspanne an einem konkreten Ort in einem weiteren Weltzusammenhang statthat; vielmehr gewinnt der Raum erst über das Handeln der Protagonisten an Kontur. Die im Handlungsreferat vorgestellten Räume sind nicht einfach ,da‘, sie sind nicht vorgängig in dem Sinne, dass die Szenerie vom Erzähler vorweggenommen, das setting um den See im Modus einer descriptio entworfen würde, sondern sie ,wachsen‘ gleichsam, indem sie von den Bewegungen der Figuren erfasst werden. (Dass sie damit derselben Erzähllogik unterliegen wie die Figurenkonstellation und die motivationale Tektonik, sei zumindest erwähnt: Cooper nimmt nichts erklärend vorweg, sondern entwickelt die gesamte Situation samt ihrer weiten Rahmung durch den englisch-französischen Krieg fast ausschließlich peu à peu, im narrativen Verlauf.) Ich sammle die wichtigsten Stellen: Gleich zu Beginn von Kapitel 1 zoomt die ,Erzählkamera‘ von der extremen Totalen auf die USA des mittleren 18. Jahrhunderts auf die Region östlich des Mississippi, hin zu einer Region voller funkelnder Seen und weiter Wälder, in der auch der nämliche See liegt. Schon aber bewegt sich auf diesem See – die ,Kamera‘ zoomt immer weiter ein – das Boot der weißen Männer, das an ein Ufer stößt, wo ein Kanu gefunden wird; dann die Fahrt zur Mitte des Sees, etwa eine halbe Stunde (S. 10), zum Wasserhaus, das auf Pfählen ruhte, die offenbar in den Schlamm einer Sandbank getrieben waren (ebd.). – Wieder fahren die Männer aus, diesmal aber einer anderen Stelle des Seeufers zu (S. 14); sie erreichen das Ende einer Landzunge und legten in einer kleinen Bucht an. Die mit hohen Bäumen bewachsene Halbinsel war ziemlich lang, erhob sich aber wenig über das Wasser und war stellenweise nur einige Schritte breit (ebd.). Der hohle Baum, in dem das zweite Kanu verborgen war, lag ungefähr in der Mitte der Landzunge (ebd.). Während Tom Hutter und Hurry Harry das Indianerlager heimsuchen, ruderte [Wildtöter] das Kanu leise und vorsichtig fast bis zur Mitte des Sees und ließ dann das Boot mit dem leichten Südwind in der Richtung zur Wasserburg treiben. Nach zehn Minuten näherte er sich wieder dem Lande, und als er die Binsen sehen konnte, die im Wasser, etwa hundert Schritte vom Ufer entfernt, wuchsen, hemmte er die Bewegung des Kanus und hielt sich

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an den harten Halmen fest (S. 15). Bald aber hört er Schreie in dem nahen Buschwerk (ebd.), dann den Aufprall eines Körpers auf dem Boden zwischen den Bäumen, die am Ufer standen (S. 16), er sieht jemanden die Anhöhe herab[kommen], hört einen Mann, der den Abhang hinabrollte (ebd.); wieder auf dem See, spähte [er] über die weite Wasserfläche (ebd.). Das Kanu trieb langsam nach Norden zu (ebd.). Kapitel 2 hat die Gewinnung des verlorenen Kanus und den Kampf gegen den vereinzelten Indianer zum Gegenstand. Einleitend erfahren wir, dass der See sich etwa drei Meilen in die Länge und eine halbe Meile in die Breite erstreckte (ebd.). Nichts nimmt Wildtöter wahr als die glatte Fläche des Sees, die friedliche Wölbung des Himmels und den dichten Kranz der Wälder (S. 17). Das Wasserhaus [. . . ] sah [er] endlich umrißhaft in etwa der Mitte des Sees (ebd.). Sich und die Mädchen weiß er alleine inmitten dieses großen, schweigenden Sees und der weiten Wälder (ebd.). Der leichte Wind aber, der über Nacht stärker geworden war, hatte das leichte Kanu [. . . ] so weit getrieben [. . . ], daß es sich dem Fuß eines Berges näherte, der sich steil an dem östlichen Ufer erhob. Das andere Kanu aber, das dieselbe Richtung genommen hatte, trieb langsam auf eine Landspitze zu (ebd.). Es bleibt dort an einem kleinen Felsstück (ebd.) hängen, landet dann aber. Wildtöter, der das Kanu bergen will, hofft, von den Indianern nicht bemerkt zu werden, [d]a die Landzunge dem Indianerlager fast diagonal gegenüberlag (ebd.). Als er ungefähr noch hundert Schritte vom Ufer entfernt war (S. 18), rudert er mir größerer Anstrengung. Dann schießt der Hurone auf ihn, Wildtöter lässt sich zu Boden fallen, und ein Indianer sprang aus dem Gebüsch auf eine freie Stelle der Landspitze (ebd.). Sowie er erkennt, dass Wildtöter nicht tot ist und die Flinte auf ihn richtet, springt er wieder ins Gebüsch. Wildtöter verschwand, Deckung suchend, im Ufergebüsch. [. . . ] Die Entfernung zwischen ihm und Wildtöter betrug ungefähr fünfzig Schritt (ebd.). Die Kontrahenten schließen einen trügerischen Frieden, Wildtöter gibt dem freien Kanu einen kräftigen Stoß, der es wohl hundert Fuß weit in den See trieb, wo es durch die Strömung verhindert werden mußte, wieder an die Landspitze oder an diesen Teil des Ufers zu kommen (S. 19). Nachdem Wildtöter den Indianer im erneuten Kampf schwer verletzt und dem Sterbenden Trost zugesprochen, dann den Toten würdevoll mit dem Rücken gegen einen kleinen Felsen (S. 21) gelehnt hat, kommt ein weiterer Indianer, der seine Gefährten mit einem lauten Schrei herbeiruft, der von einem Dutzend Stimmen an verschiedenen Punkten des Bergrückens (ebd.) beantwortet wird. Plötzlich drangen die Feinde aus dem Dickicht zur Lichtung an der Landspitze vor (ebd.). Doch Wildtöter entkommt, ruderte schnell auf die Wasserburg zu. Die Sonne stand bereits über den östlichen Bergen und verbreitete eine Flut von Lichtstrahlen über den See (ebd.). Man könnte die Zitatorgie leicht verlängern, nicht nur mit dem dritten Kapitel, das uns neben einem weiteren Seebezirk auch die Architektur von Wasserhaus und Arche näher bringen wird, sondern im Grunde über sämtliche Lederstrumpf-Romane, denen allen eine eigentümliche Vorliebe für sanft glitzernde Waldseen, enge Schluchten und verschlungene Flussläufe eignet. Substanziell Neues hinsichtlich der literarischen Technik der Raumentfaltung würde sich dabei freilich kaum finden. Dies liegt nicht nur daran, dass Cooper seiner Art zu schreiben treu blieb, auch nicht am Genre Abenteuer-

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roman. Natürlich sind die Details der Raumentfaltung typisch coopersch, zum Beispiel, dass er (wie erwähnt) mit kompakten Beschreibungen geizt und die räumlichen (und im Übrigen auch zeitlichen, überhaupt alle kontextuellen) Informationen lieber en passant und ad hoc in die Handlung einstreut. Und natürlich verspricht der Abenteuerroman reiche Beute, wenn man sich auf die Suche nach der narrativen Ausstellung komplexer Szenerien macht; darum eignet er sich ja auch besonders gut als plakatives Beispiel narrativer Raumgestaltung, und für die deutsche (!) Jugendbuch-Bearbeitung der cooperschen Erzählungen durch Karl Bamberger, gilt dies verschärft. Im Prinzip aber ist die hier verwandte Technik eine, die sich der ,Wildtöter‘ mit so gut wie allen konventionellen Erzählformen – gerade auch mit jenen, die sich nicht am Höhenkamm der Belletristik wissen (daher auch bewusst die Jugendbuch-Version) – der letzten zweieinhalb Jahrhunderte teilt. Deren Grundzüge wären in etwa diese: 1) Narrativer Raum entsteht immer um die handelnden Figuren herum. Mit deren Aktionen ,wächst‘ und ,schrumpft‘ der Raum, und wir wissen über diesen nicht mehr, als was ihn um die Figuren herum an diese bindet. Das schließt nicht aus (auch wenn Cooper es tendenziell vermeidet), dass räumliche Verhältnisse auch in ausführlicheren Deskriptionen dargelegt werden. Allerdings stoßen diese an eine gewisse Wahrnehmungsbarriere insofern, als zwar grobkörnige Raumkoordinaten auf diese Weise gesetzt oder ein partikuläres Detail so beschrieben werden können, es aber jede narrative Aufmerksamkeitsspanne sprengte, die ganze Raumwelt in all ihren Details ein für allemal zu skizzieren, um darin dann die Handlung sich abspielen zu lassen. Man kann dies an den oben zitieren Passagen leicht probieren. Wäre, was wir über den See im Wald, seine schwimmenden Objekte, die einzelnen Uferabschnitte und Landzungen erfahren, en bloc vorweggenommen, um später nur noch im Verweis aufgerufen zu werden, der Leser hätte alles wenige Zeilen später schon vergessen und müsste blättern (oder würde, wahrscheinlicher, das Buch zur Seite legen). Ein Vergleich mit der Kameraführung im Film mag dies verdeutlichen:³³ Verschiedene Einstellungen – von der extremen Totalen bis hin zum Close-Up – dienen dazu, die handelnden Figuren in die erzählte Welt zu setzen und diese uns vorstellbar zu machen. Nie aber geht es darum – noch nicht einmal bei den neuerdings grassierenden von oben-Dokumentationen –, die Totalität einer ganzen Welt oder Region einzufangen, und zwar weder in den ganzen Details – dies wäre ohnehin illusorisch – noch in ihrer geographischen Komposition. Darum ist narrativer Raum immer dynamisch auf seine Figuren bezogen, und je intensiver diese sich im Raum bewegen – wobei Intensität nicht nur eine Frage der Wegstrecke, sondern auch der Interaktion mit räumlichen Gegebenheiten (die Binsen etwa) ist –, desto weiter und/oder detaillierter wird uns dieser sein. Diese Figuren sind es auch zugleich, die dem Ganzen Zusammenhalt geben: Weil es i h r e Geschichte ist, verorten wir die Szenen in einem räumlichen Kontinuum, und nicht umgekehrt.³⁴

33 Vgl. ähnlich Ryan (Anm. 4), S. 235 f. 34 Ebd., S. 236.

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2) Das bedeutet freilich nicht, dass der narrative Raum sein Recht nur als Ort der Figurenhandlung hätte. Er kann – auch dafür ist der Abenteuerroman ein gutes Beispiel – auch als ,Landschaft‘ eine ganz autonome Faszination auf den Leser entwickeln. Bei Coopers Lederstrumpf-Romanen mit der ihnen eigenen Landschaftsmalerei ist dies gewiss der Fall. Da sind dann eben der dunkle Wald, der schimmernde See, die Landzungen, das Buschwerk, der steile Abhang, das Wasserhaus, die auch in so kalkulierter Weise wiederholt werden (immer wieder das Wasserhaus in der Seemitte, immer wieder die spiegelglatte Wasseroberfläche, immer wieder das buschige Ufer), dass man sich ihnen nur schwer entziehen kann: sei es, dass man sich fasziniert der Idee einer gefährlichen Idylle hingibt, sei es, dass man sie als kitschig zurückweist. Plastisch aber ist die so begründete Raumvorstellung allemal. Sie ist dies sowohl, weil einzelne räumliche Bezirke, die auch im Detail entworfen werden, ein spektakuläres Faszinationspotential tragen (wie das Wasserhaus), als auch, weil durch die Bewegungen der Handelnden durch diese Bezirke und von einem Bezirk in den nächsten der Eindruck evoziert wird, als wären diese detaillierter ausgeleuchteten Bezirke miteinander organisch zu einer Erzählwelt verwachsen. Indem wir von diesen Räumen auf diese Weise erzählt bekommen, machen wir uns von ihnen ein Bild im Kopf. 3) Dieses Bild aber ist immer ein mentales und subjektives, es lässt sich nicht objektivieren. Zwar werden alle aufmerksamen Leser des Eingangs von ,Der Wildtöter‘ wissen, dass die eine Landzunge im Südwesten, die Landspitze aber im Nordosten, mäßig aufmerksame, dass der See länglich in einem Tal liegt, alle aber, dass das Wasserhaus enmitten dieses Sees auf Pfählen ruht; denn nichts wird öfter gesagt in diesen drei Kapiteln als dieses schlichte Faktum, das der Leserschaft des 19. Jahrhunderts vielleicht ein Faszinationskern ganz eigener Art war. Und die eine oder andere Distanz wird im Text selbst vermessen: Es wird gesagt, wie viele Meilen der See lang und breit ist, gelegentlich wie viele Minuten man von hier nach dort braucht bei welchem Rudertempo, bei welchem Wind man wie schnell und wohin abgetrieben wird. Für die Umsetzung der narrativen Raumverhältnisse in eine präzise geographische Karte aber genügt dies nicht. Eine solche Umsetzung scheitert nicht nur an den beschränkten Kapazitäten des menschlichen Gehirns, sich beispielsweise metrische Angaben präzise vorzustellen, sie scheitert – wie in der Einleitung gesagt – noch mehr an der Tatsache, dass das Sprechen über den Raum (nicht nur das literarische) an Sprachelemente (oft) gebunden ist, die keine objektiven, exakten Größen repräsentieren, sondern immer nur die ungefähre und (im soziologischen Sinne) subjektive Relation eines Menschen zu einer räumlichen Gegebenheit beschreiben. nah, fern, weit, eng, schmal, breit, hoch, steil und so weiter nähren unseren Vorstellungsschatz; vermessen aber lassen sie sich nicht. Die Karte im Kopf ist darum keine Karte, die sich zu Papier bringen ließe: Sie weist – wie ein Gefäß, das seine Ausdehnung immerzu seinem Inhalt anzupassen wüsste – enorme geographische Lücken auf, die wir aber in der Regel gar nicht bemerken (was ist ,links‘ und ,rechts‘ der Figurenwege?), sie ist aber dafür an anderen Stellen so dicht mit Information besetzt, dass diese sich mit konventionellen Mitteln der Geographie nicht mehr abbilden ließen.

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3 Dodone Wie steht es nun um die literarischen Räume im mittelalterlichen Erzählen? Anzunehmen wäre, dass es sich dort nicht grundlegend anders verhält als im Roman des 18. bis 21. Jahrhunderts, denn was gerade anhand von Coopers ,Wildtöter‘ in der deutschen Jugendbuch-Version illustriert worden ist, scheint historisch (und generisch) unspezifisch. Dennoch vermitteln mittelalterliche Erzählungen schon auf den ersten, flüchtigen Blick den Anschein, als wären dort Räume von jener Plastizität, wie das Erzählen spätestens seit 1800 sie im Medium des Buches genauso entwirft wie in jenem des Films, echte Mangelware. Selbst das literarische Erzählgenre des Mittelalters mit dem höchsten Raffinement, der höfische Roman, ist weit davon entfernt, Räume zu entwerfen, die auch nur der im Grunde doch fast schon topischen, exemplarisch einfachen Waldeinsamkeit Coopers nahe kämen. Zwar kennt auch der höfische Raum Faszinationsräume, die zumindest von den Figuren als solche wahrgenommen werden (zeitgenössische Rezeption ist ja bekanntlich schwer zu greifen). Aber ihre Ausfaltung ist ungleich statischer, als wir das im jüngeren Erzählen beobachten können, und die Reichweite der mentalen Karte begrenzt. Ich greife als ein beliebiges Beispiel die Dodone-Szene des ,Lanzelet‘ Ulrichs von Zatzikhoven heraus, eines um 1200 entstandenen Artusromans.³⁵ Es ist dies die – neben dem späteren Entscheidungskampf um Ginover – zentrale Szene des Romans. Lanzelet ist als Säugling von einer Meerfee geraubt oder gerettet worden (die Vasallen seines Vaters Pant haben diesen attackiert und getötet), wächst bei dieser namenlos in einem Frauenreich auf einer Insel auf, mit 15 Jahren dann fährt er aus, agiert zuerst als Dümmling, lernt aber schnell, findet eine erste Frau, indem er deren bösartigen Vater tötet, dann noch eine, der er den abermals bösen Onkel erschlägt. Sein Ziel ist es, seinen Namen zu erfahren, und der aber wird ihm, so sagte es ihm die Meerfee (V. 331– 338), nur kundgetan, wenn er deren Erzfeind Iweret besiegt. Lanzelet verfolgt dieses Ziel nicht konsequent, vielmehr verliert er es häufig für längere Zeit aus den Augen, aber er besinnt sich dann doch immer wieder darauf und widmet sich ihm schließlich. Die Burg (bzw. das Land), über das Iweret herrscht, heißt Dodone, der mythische Wald rundum ist Behforet. Selbstredend wird Lanzelet diesen Iweret erschlagen und dadurch knapp zur Hälfte des Romans seine dritte Frau – die Iweret-Tochter Iblis – gewinnen, mit der er ganz am Ende des ,Lanzelet‘ auch glücklich Happy End feiern wird. Schon der Weg, der Lanzelet nach Dodone führt, ist von ganz anderer Natur als die Wege, wie sie im ,Wildtöter‘ beschritten werden. Denn die einzelnen Stationen Lanzelets, von denen eben die Rede war, sind auf eine eigentümliche Weise unverbunden. Dies liegt nicht daran, dass der junge Lanzelet, der die Ritterwelt noch nicht ganz begreift, latent ziellos durch die Welt reitet. Auch eine ungerichtete Bewegung einer

35 Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet. Text – Übersetzung – Kommentar. Studienausg., hrsg. v. Florian Kragl, 2., rev. Aufl. (de Gruyter Texte), Berlin, New York 2013.

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Figur durch den Raum ließe sich illustrieren. Genau dies aber geschieht nicht. Als etwa Lanzelet seine erste, namenlose Frau, die Tochter des Galagandreiz, verlässt, übrigens ohne dass genau gesagt würde, weshalb er dies tut, heißt es lapidar: eines tages, dô ez schœne was, dô nam er sîn harnas geswâslîch an sînen lîp. ez enwiste man noch wîp, Waz daz was, daz in twanc. vier tageweide lanc reit er für sich balde ûz engegen einem walde. dâ vant er drî strâzen di zwô begund er lâzen ze ietwederr sîten, di mitelen begund er rîten. diu gienc ûf ein burc vast. (V. 1365–1377)

Diese Burg gehört Linier von Limors, dem Onkel der Ade, die Lanzelets zweite Frau sein wird. Binnen weniger Verse also bewegt sich die Protagonistenfigur von einem Handlungsbezirk in den nächsten, und wenn man von der symbolisch aufgeladenen Kreuzung³⁶ absieht, weiß man nichts über das Dazwischen. Selbst die Notiz, dass er vier Tagesritte von hier nach dort brauchte, ist wertlos, denn wer ziellos reitet, nimmt vielleicht auch nicht den kürzesten Weg. So gut wie alle Episodenübergänge des ,Lanzelet‘ und des höfischen Romans überhaupt funktionieren nach diesem Muster, sodass man auch und sehr treffend von gleichsam isolierten „Inselräumen“³⁷ gesprochen hat, innerhalb derer die Handlung abliefe. Diese ,Inselräume‘ sind zwar für die einzelne Szene von großer haptischer Dichte, fügen sich aber, als diskontinuierliche Entitäten, aufs Ganze des (episodischen) Romans gesehen nicht zu einer kompakten Vorstellungswelt zusammen. Um den Lebensweg des Protagonisten herum entfaltet sich Raum nur stationenweise.³⁸

36 Auch sie ist allerdings ein ,trivialisiertes‘ Bivium. Vgl. René Pérennec, Artusroman und Familie: Daz welsche buoch von Lanzelete, in: Acta Germanica 11 (1979), S. 1–51, hier S. 33–37, sowie Elisabeth Feistner, er nimpt ez allez zeime spil. Der ,Lanzelet‘ Ulrichs von Zatzikhoven als ironische Replik auf den Problemhelden des klassischen Artusromans, in: Archiv 232 (1995), S. 241–254, hier S. 246. 37 Jan Mohr, Inseln und Inselräume. Kontingenz in Grimmelshausens und Dürers Schelmenromanen, in: Anna E. Wilkens, Patrick Ramponi und Helge Wendt (Hgg.), Inseln und Archipele. Kulturelle Figuren des Insularen zwischen Isolation und Entgrenzung (Kultur- und Medientheorie), Bielefeld 2011, S. 225–243, hier bes. S. 225–230. Der Begriff nach Bernhard Jahn, Raumkonzepte in der Frühen Neuzeit. Zur Konstruktion von Wirklichkeit in Pilgerberichten, Amerikareisebeschreibungen und Prosaerzählungen (Mikrokosmos 34), Frankfurt a. M. u. a. 1993. Vgl. zusammenfassend Schulz (Anm. 18), S. 301–304. 38 Dies eine der Grundthesen von Uta Störmer-Caysa, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman (de Gruyter Studienbuch), Berlin 2007, siehe z. B. S. 76. Vgl. auch

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Dodone und Behforet, der Schöne Wald, ist nun ein solcher ,Inselraum‘, in den Lanzelet, obwohl er ihn sucht (er will ja seinen Namen erfahren), eher zufällig hineinstolpert: Nach einem Turnier macht sich Lanzelet in Begleitung seiner zweiten Frau Ade und ihres Bruders Tibalt eigentlich nach Pluris auf, um sich an einem dort wohnenden Zwerg zu rächen, der ihn einst mit einer Geißel malträtiert hatte. Dann aber gelangen sie zu einer Burg, die Schadil li Mort heißt und auf der Mabuz, der Sohn der Meerfee, haust: ein Feigling, der vor der Welt insofern gesichert ist, als seine Burg einem Verkehrungszauber unterliegt. Die Tapferen werden dort feige, die Feigen aber tapfer. Für Lanzelet ist dies eine implizite Tugendprobe – er ist natürlich der Allerfeigste in diesem Zauberbann –, die ihn aber auch von seiner zweiten Ehe entbindet, denn Ade und Tibalt, die vom Zauber nichts ahnen, verlassen den vermeintlichen Erzfeigling stante pede. Mabuz’ Land aber ist ungesichert und wird ständig von den Schergen des benachbarten Iweret drangsaliert, und als diese wieder einmal daran sind, bei Mabuz brandzuschatzen, schickt dieser seinen feigsten Gefangenen Lanzelet gegen diese ins Feld. Lanzelet siegt, und wieder leitet ihn der Zufall: Nuo reit unser ritter dan und kom für einer zellen tor. zer Jæmerlichen Urbor, sô nant man daz klôsterlîn. (V. 3826–3829)

Der Abt dieses Klosters, das Iweret untersteht, von diesem finanziert wird und dem dieser seine (zahlreichen) getöteten Gegner zur Bestattung und geistlichen Pflege schickt, unterrichtet Lanzelet nun über die Sitte des Landes und über das Land selbst: Iweret herrsche über drei Reiche, habe aber nur ein einziges Kind, nämlich eine schönste Tochter; wer diese freien will, muss – so hat es Iweret ausgelobt – im Schönen Wald gegen ihn kämpfen, und zwar under einer linden wol getân. dar under stât ein brunne kalt, den Iweret, der helt balt, hât mit wahen swibogen harte wol uberzogen. getriben ûf von grunde, ûz eines lewen munde

Rolf Bräuer, Das abenteuerliche Unterwegssein und ,Erfahren‘ der Welt als konstitutive Existenz des epischen Helden der mittelalterlichen Literatur, in: Irene Erfen und Karl-Heinz Spiess (Hgg.), Fremdheit und Reisen im Mittelalter, Stuttgart 1997, S. 53–63. Dass diese Lebenswege – zeitlich betrachtet – nicht notwendig streng linearer Natur sein müssen, hat dies., Kausalität, Wiederkehr und Wiederholung. Über die zyklische Raumzeitstruktur vormoderner Erzählungen mit biographischem Schema, in: Harald Haferland und Matthias Meyer (Hgg.), Historische Narratologie – mediävistische Perspektiven (Trends in Medieval Philology 19), Berlin 2010, S. 361–383 gezeigt. Wichtig für den hiesigen Zusammenhang ist, dass – im Erzählverlauf – eins nach dem anderen kommt, als ginge es um einen Verlauf von A nach B, und sei es – global betrachtet – auch ein Kreis oder eine Spirale.

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fliuzet der brunne in ein vaz. ein edel marmel ist daz, dar in swebet daz wazzer klâr. diu linde ist gruene durch daz jâr. ein êrin zûber ist gehenket dran, daz ein iegelich man mit eim hamer dran slât, der muot ûf mîne vrouwen hât und der manheit wil bejagen. Sô zem dritten mâle wirt geslagen in daz selbe glockelîn sô kumpt Iweret, der herre mîn gewâfent ritterlîchen wol. (V. 3888–3907)

Die Linde ist vom Kloster nicht weit entfernt: dar ist volle ein halbiu mîle niht (V. 3914). Am nächsten Morgen macht sich Lanzelet, dem durchaus bewusst geworden ist, dass er nun seinem alten Ziel sehr nahe ist (V. 3931–3935), auf den Weg. Er findet aber nicht sofort die Quellenszenerie, sondern wird zunächst von einem Boten zum Schönen Wald geleitet. ich enweiz, ob ich iu zalde, wi des waldes site was: er was grüene als ein gras beidiu winter und sumer. dâ stuont manic boum sô frumer der aldaz jâr obez truoc, zîtig und guot genuoc, und anderhalp doch bluote. (V. 3940–3947)

Die Früchte sind ein Speisewunder, weil sie alle Geschmackswünsche erfüllen, Krankheit heilen sie auch. Die Wurzeln in Iwerets Hag aber geben diesem seine Kraft. Außerdem liegt Vor sîner bürge ein tal, kein krût was sô smal noch sô lanc noch sô breit, daz kein edel bluomen treit, daz enwære dâ in solcher art, sô ez ie aller schoenest wart. sô stuont diu heide für sich an als rehte wol getân, ân wandel an ir stæte. swi daz weter tæte, sô was der wert und der walt allez sumerlîch gestalt. (V. 3971–3982)

Das vertreibt alle Traurigkeit.

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den walt nant man durch daz Behforet, den Schœnen Walt. sîn gezierde was sô manicvalt, des uns diu sage niht verhilt: Lewen, bern und wilt, swîn, und swaz man jagen wil, des was dâ mêr danne vil ze rehter tagalte. vil dicke man dâ valte manigen grôzen helfant. Des waldes art was sô gewant: in schiet ein wazzer wol getân, und muosten einhalp gan diu tier; daz was ir urganc. anderhalp was vogelsanc und gefügel allerhande, di man noch ie bekande, swaz êt hât gevidere. her über noch hin widere kom ir tweders ûz ir zuht. daz wazzer brâht ouch genuht von allerhande vischen, di man ze küniges tischen mit êren möht bringen. mit allen guoten dingen was der walt vollekomen, als ir wol hânt vernomen. (V. 3989–4014)

Damit endet der Block von descriptiones, die Behforet und seinem Ambiente gewidmet sind, und der Text setzt unmittelbar fort mit einer weiteren Beschreibung, die nun aber Iwerets Tochter Iblis betrifft. In diese eingelassen ist aber nochmals ein Seitenblick auf das Vallis Iblê (V. 4086), das so heißt, weil Iblis dort mit 100 Gespielinnen gerne Blumen sammelte und Kränzchen wand. ob uns di meister niht enlugen, sô si ein bluomen ûz zugen, sô stuont ein ander zehant dort, dâ man den erren vant. daz het got alsô gelân. (V. 4079–4083)

Dann schwenkt der Blick des Erzählers zur Burg Dodone, die auf einem Berg herrlich erbaut ist; ich übergehe die Details: die vor Edelsteinen strotzende Burgbeschreibung mit ihrer wunderschönen Kemenate – in der Iweret mit seiner Tochter in einem Bett schläft – ist durch und durch topisch (V. 4091–4184). Erst danach findet die Erzählung wieder zurück zur Handlung, das heißt, zu Lanzelet, wie dieser zur Linde kommt, sein Pferd an einen Ast bindet, die Glocke schlägt, Iblis begegnet (die ihrem Vater voraus ist und in der Nacht von Lanzelet geträumt hatte), wieder und wieder die Glocke

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schlägt, dann gegen Iweret (der wiederum mit einer ausladenden descriptio bedacht wird) kämpft . . . Man erkennt an dieser Szene, dass – und darin ist sie typisch für die gesamte mittelalterliche Literatur – Handlung und Beschreibung strikte getrennt sind. Zwar interagieren die Figuren mit der Szenerie, doch sie tun dies nur im unbedingt nötigen Maße: Lanzelet schlägt dreimal die Glocke, er wäscht sich mit dem Quellwasser die Hände und erfrischt seine Augen (V. 4210 f.), nach seinem Sieg labt er damit die ohnmächtige Iblis (V. 4564). Ansonsten aber stehen die Figuren sonderbar teilnahmslos in der Szenerie, die ihnen vorneweg ausgebreitet wird. Wenn dann Iweret und Lanzelet beispielsweise kämpfen, spielt das Drumherum keine Rolle, etwa dergestalt, dass sich jemand hinter der Glocke versteckte, die immergrünen und immerfruchttragenden Bäume umhaute oder dergleichen. Auch erfährt man während der Figurenaktionen kaum Neues über ihre Umgebung, wenn man von topischen Versfüllseln absieht wie etwa, dass Iblis durch den schœnen klê (V. 4220) – der den schwierigen Reim auf Iblê (V. 4219) ermöglicht – zur Linde gegangen kommt. Die Beschreibungen (nicht nur jene der Räume) sind ausladend und füllen, in Versen gemessen, oft längere Strecken als die Handlung selbst. Aber sie sind – das ist in der ,Lanzelet‘-Episode überdeutlich – klar zu Blöcken gebündelt und gehen dem Geschehen, das in den beschriebenen Räumen und durch die beschriebenen Figuren passiert, in aller Regel voran oder sind gleichsam als Exkurse in diese eingelassen. Zugleich bleiben diese descriptiones, so ausführlich sie sind, auf charakteristische Weise abstrakt. Verschärft gilt dies für die dutzenden und aberdutzenden Beschreibungen von Burgen, amoenen Szenerien, natürlich auch von idealisierten Rittern und Damen. Doch selbst jene Orte, die aus der narrativen Normalität schon intradiegetisch herausragen – wie die quasi-mythische Quellenszenerie in Behforet rund um Dodone – werden selten prägnant. Wir hören von der Glocke, von den Vegetationswundern im Wald und auf der Wiese, aber sie alle bleiben einzelne Faszinationsmomente und bündeln sich nicht zu einer kompakten räumlichen Vorstellung. Es fehlt uns jede geographische Vermittlung zwischen den einzelnen Elementen, weil eben die Beschreibungen vorgezogen sind und sich nicht anhand eines Figurenwegs ergeben. Darum sind die descriptiones des mittelalterlichen Erzählens, so bunt sie sich auch gerieren, zugleich von einer typischen Vorstellungsblässe überzogen, und dies aber durchaus nicht nur dann, wenn sie mit räumlichen Gegebenheiten unter freiem Himmel zu tun haben. Lanzelets Wunderzelt, das ihm nach seinem Sieg über Iweret von einer Botin der Meerfee (samt seinem Namen) überbracht wird, ist nicht minder superlativisch mit seinen mythischen Gimmicks, in seiner Idealität aber auch nicht minder ungreifbar. Wenn dies aber schon für die mythischen Faszinationsräume des Erzählens wie Dodone, Ascalons bzw. Iweins Brunnenreich, Lancelots Schwert- und Gaweins Wasserbrücke und dergleichen gilt – und als faszinierend und extraordinär markieren die Erzähler, mitunter auch die Figuren das von ihnen Beschriebene, wie an den Zitaten zu sehen, sehr deutlich –, gilt es für gleichsam ,normale‘ Räume (wie Lanzelets Stationen davor)

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verschärft: Die Räume des mittelalterlichen Erzählens sind erklärtermaßen grellbunt, aber sie laden nicht dazu ein, sich eine prägnante Vorstellung von ihnen zu machen. Verglichen mit den drei Charakteristika von Räumen des uns geläufigeren Erzählens, heißt dies: 1) Auch im mittelalterlichen Erzählen entsteht der Raum um die Figuren herum, doch ist seine Genese keine dynamische in einem zweifachen Sinne. Die Räume ,wachsen‘ – erstens – nicht mit den Figurenbewegungen und Figurenhandlungen, sondern sie werden den Figuren gleichsam vorgesetzt, wie eine Bühne, auf der sie sich dann bewegen und auf der sie interagieren können.³⁹ Und diese Räume ändern sich – zweitens – kaum noch; sie sind, einmal deskriptiv gesetzt, für die Dauer einer Episode (und mittelalterliches Erzählen ist immer ein episodisches) stabil, das Bühnebild ist gleichsam weitgehend fest, die Figuren ändern nichts an ihrem räumlichen Umfeld. Damit sind diese Räume gleichsam unszenisch gedacht im cinematographischen Sinne, auch unszenisch im Sinne eines ,Films im Kopf‘. Und sie sind, wenn man so möchte, ,entmenschlicht‘ dergestalt, dass sie häufig nicht nah, fern, weit, eng, lang etc. sind, sondern aggregativ⁴⁰ aus diesem und jenem Element ,bestehen‘, ohne dass die Gesamtheit dieser Elemente räumlich wahrgenommen würde.⁴¹ Räume des mittelalterlichen Erzählens konstituieren sich nicht adverbial in Relation zu den Figuren oder zum Erzähler (der ja, kameragleich, durch sie fliegen könnte), sondern sind überwiegend rein additive Häufungen von Objekten, die, in Ermangelung eines sehenden Auges, nicht zu einem Kosmos gleich welcher Ausdehnung gefügt werden. 2) Daraus folgt, dass die Raumvorstellung, die sich aus mittelalterlichen Erzähltexten gewinnen lässt, in der Regel nicht plastisch ist. Die blockhafte, abstrakte Beschreibung der Räume und die fehlende Dynamik in der Interaktion zwischen Figuren und Raum steht einer kompakten Imagination entgegen. Dazu kommt, dass descriptiones nicht dazu geeignet sind, jenes ständige Ein- und Auszoomen zu leisten, wie wir es aus der heutigen Erzähltechnik kennen. Darum werden mittelalterliche Räume kaum je zu einer mentalen Karte.⁴² Das Bild im Kopf ist gesprenkelt, wir wissen von diesem und

39 Die Analogie ähnlich bei Ryan (Anm. 4), S. 236, dort aber nicht als Beschreibung ,alten‘ Erzählens, sondern als Gegenbeispiel zur Raumentfaltung in (modernen) Erzähltexten. 40 Vgl. Erwin Panofsky, Die Perspektive als ,symbolische Form‘, in: Vorträge der Bibliothek Warburg 1924/25, Berlin 1927, S. 258–330. Die literaturwissenschaftliche Übernahme des Begriffs u. a. bei Peter Czerwinski, Gegenwärtigkeit. Simultane Räume und zyklische Zeiten, Formen von Regeneration und Genealogie im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung II, München 1993. Vgl. auch Schulz (Anm. 18), S. 302, 304. 41 Vgl. Claudia Brinker-von der Heyde, Zwischenräume: Zur Konstruktion und Funktion des handlungslosen Raums, in: Vavra (Anm. 31), S. 203–214, hier S. 210 f. 42 Ich sollte an dieser Stelle daran erinnern, dass ich mit ,mentaler Karte‘ jene Art der Raumvorstellung adressiere, die mutmaßlich historisch invariant ist, weil sie im täglichen Leben aller Menschen gebraucht wird. Dass sich die – im geographischen Sinne gesprochen – kartographischen Modelle über die Zeit ändern, tut dem keinen Abbruch. Ein mittelalterlicher Mönch mag die Welt als T-O-Karte gekannt haben; aber wenn er von Köln nach Rom reisen wollte, wird er sich anders beholfen haben.

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jenem Element, können sie aber kaum organisch in Bezug zueinander setzen, und fast alle Elemente sind von derselben abstrakten Qualität, werden – im höfischen Roman: trotz oder gerade wegen ihrer persistent superlativischen Aura – nur schwach ,individualisiert‘ (ein immergrüner Baum, eine klare Quelle, eine wunderschöne Glocke etc.). All dies gilt schon für die einzelne Episode. Aufs Romanganze gesehen, fehlt es an räumlichen Verbindungen zwischen den einzelnen Episoden, die uns eine Vorstellungskarte von der Erzählwelt entwürfen;⁴³ an die Stelle räumlicher Vektoren treten andere Bindemittel, in aller Regel der Protagonist, der die Räume durch sein Auftreten kombiniert.⁴⁴ 3) Wenn es aber schon eine mentale Karte bestenfalls nur in ihren Rudimenten gibt, fällt die Frage, wie sich eine solche zu geographischen Karten verhält, flach. Gewiss könnte man hier einwerfen, dass unter 1) und 2) keine absoluten Differenzen, sondern nur graduelle Verschiedenheiten benannt sind: Auch im Erzählen der letzten Jahrhunderte sind descriptiones oft vom Figurenhandeln abgesetzt – aber sie sind dies auf viel kleingliedrigerer Ebene – und sind die Räume nicht zu sehen wie auf einer Malerei oder einer Fotografie, sondern setzen sich aus einzelnen Informationen zusammen – doch sind diese dichter, charakteristischer, sodass wir danach immerhin ein Bild malen könnten, das von Person zu Person anders, aber nicht grundverschieden aussähe. Damit aber ist das Wesentliche schon gesagt: Denn wiewohl die Verschiedenheit narratologisch nur eine graduelle sein mag, ist sie rezeptionsästhetisch eine absolute dergestalt, dass ein Leser des 21. Jahrhunderts einem mittelalterlichen Text nicht annähernd eine Raumvorstellung – eine ,Landschaft‘, eine ,architektonische‘ Begebenheit, ganz egal – jener Art abgewinnen kann, wie er sie in so gut wie jedem Erzähltext unserer Zeit findet. Nur en passant sei notiert, dass dies gerade die ältere Forschung⁴⁵ dazu angeleitet hat, das mittelalterliche Raumerzählen als defizitär zu begreifen, was die jüngere Forschung wiederum mit apologetischen Entwürfen quittiert hat, die ihren Elan meist

Soweit ich es sehe, wissen wir wenig über diese Praxis der Raumorientierung in ,alter‘ Zeit; dass es funktionale Techniken gegeben hat, zeigen uns Chroniken und Itinerarien. 43 Dies gilt auch für das großepische Erzählen neben dem höfischen Roman, also vor allem für die Heldenepik. So hat etwa Elisabeth Schmid, . . . der rehten franzoiser het er gern gehabet mêr. Zu einigen Scheidelinien auf der mentalen Landkarte von Wolframs ,Willehalm‘, in: Hartmut Kugler (Hg.), Interregionalität der deutschen Literatur im europäischen Mittelalter, Berlin, New York 1995, S. 127–142 für den ,Willehalm‘ vorgeführt, dass seine Herrschaftsbezirke und -bezeichnungen eklatant diskontinuierliche Größen repräsentieren. 44 Vgl. (allerdings zu Wolfram von Eschenbach) Beck (Anm. 15), S. 243. 45 Locus classicus ist Hennig Brinkmann, Zu Wesen und Form mittelalterlicher Dichtung, Halle 1928, ein besonders energischer Kritiker der mittelalterlichen Raumdarstellung ist Manfred Gsteiger, Die Landschaftsschilderungen in den Romanen Chrestiens de Troyes. Literarische Tradition und künstlerische Gestaltung, Bern 1958. Siehe für Details den luziden Forschungsüberblick bei Andrea Glaser, Der Held und sein Raum. Die Konstruktion der erzählten Welt im mittelhochdeutschen Artusroman des 12. und 13. Jahrhunderts (Europäische Hochschulschriften I 1888), Frankfurt a. M. 2004, S. 29–47.

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aus besonders spektakulären Räumen der mittelalterlichen Erzählliteratur (die Joye de la Curt im Chrétin de TroyesErec et Enide,Erec‘, die Wundersäule im ,Parzival‘ etc.) gewinnt.⁴⁶ Alleine, es geht hier zunächst nicht um ein Besser oder Schlechter, sondern um verschiedene Modalitäten der narrativen Entfaltung von Raum, und dass die eine dem heutigen Leserauge vertrauter ist als die andere, ist keine Sache der Wertung, sondern eine der Rezeptionsgewohnheiten. Ich komme am Ende des Aufsatzes auf dieses Problem zurück.

4 Das Reich des Roaz Die eben aufgemachte Dichotomie ist keine stabile. Es gibt im mittelalterlichen Erzählen durchaus einzelne szenische Abschnitte, die sich von der räumlichen Statik, die die Dodone-Episode des ,Lanzelet‘ prägt, freimachen und sich damit narratologisch ein Stück weit hin zu jenen Verhältnissen bewegen, die oben am ,Wildtöter‘ zu beobachten waren. Dies ist nicht nur deshalb wichtig, weil eine historische Narratologie diese Abstufungen zu verbuchen hat, sondern auch, weil gerade diese Versuche – und der Punkt, an dem sie doch schließlich alle scheitern – aufschlussreich sind für die im ,Raum‘ stehende Frage, worin diese Verschiedenheit zwischen ,altem‘ und ,neuem‘ Erzählen gründet. Ehe ich auf sie zurückkomme, seien wenigstens zwei solche Ausnahmen vorgestellt: die Korntin/Glois-Episoden im ,Wigalois‘ des Wirnt von Gravenberg und der Fluchtversuch von Wilhelm und Amelie im ,Wilhelm von Orlens‘ des Rudolf von Ems, beides Romane des mittleren 13. Jahrhunderts, eine oder zwei Generationen jünger als jene höfische Literatur, die man unter vorgehaltener Hand ,klassisch‘ nennt und für die über weite Strecken gilt, was anhand des ,Lanzelet‘ exponiert ist. Die Episodenreihe um die Handlungsbezirke Korntin und Glois führen auf den Höhepunkt der ,Wigalois‘-Handlung hin.⁴⁷ Was bisher geschah, ist für meinen Gegenstand nicht relevant, wichtig nur, dass der Feensohn und Gaweinsprössling Wigalois sich inzwischen hinreichend als Jungritter bewährt hat, um jene Aventiure in Angriff zu nehmen, die eine Botin am Artushof im Modus eines Hilferufs verkündet hat und zu der dann eben Wigalois aufgebrochen war: die Befreiung des Landes Korntin und seiner Prinzessin Larie von der Bedrohung des Riesen Roaz, dem die benachbarte Grafschaft Glois gehört. Der einstige König Korntins, Jorel, ist im Kampf gegen den Riesen gefallen, seither liegt das Land schutzlos, Larie und die verbliebenen Getreuen haben sich auf eine Burg zurückgezogen. Dorthin gelangt nun Wigalois und entdeckt, als er sich abends schlafen legen möchte, eine brunst in dem walde (V. 4298). Auf seine Frage hin,

46 So etwa Glaser (Anm. 45); Hans Rudolf Velten, Sprache und Raum. Anmerkungen zur Baumgartenszene in Gottfrieds ,Tristan‘, in: ZfdPh 133 (2014), S. 23–47. 47 Wirnt von Grafenberg, Wigalois. Text der Ausg. von J. M. N. Kapteyn, übers., erl. und mit einem Nachw. vers. v. Sabine und Ulrich Seelbach (de Gruyter Texte), Berlin, New York 2005.

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was dies bedeute, klärt man ihn darüber auf, dass dies das Land Korntin sei, konkret eine Burg (ein hûs, V. 4307), das seit zehn Jahren jede Nacht aufs Neue niederbrennt, um mit Tagesanbruch wieder dazustehen wie zuvor. Wigalois, dessen Weg ohnehin in dieses Land führen wird, ist angesichts des Wunders nochmals begieriger, es kennen zu lernen. Der Truchsess bedeutet ihm aber, dass ein breitez mos und ein sê (V. 4323 f.) das Land ganz umfangen haben, nur an zwei Stellen, die wiederum mit steinwenden / beslozzen und mit huote sind (V. 4329 f.), kann es betreten werden. Niemand kann es erreichen, wenn er nicht einem Tier folgt, das sich Tag für Tag als Führer nach Korntin anbietet. Damit ist grob jene Szenerie abgesteckt, in dem die folgenden Handlungen verlaufen werden. In dieser Hinsicht ist der ,Wigalois‘ keine Besonderheit im Gefüge des höfischen Romans: Wie gewöhnlich werden die räumlichen Verhältnisse beschreibend exponiert, ehe noch etwas geschieht, und ob dies in Erzählerrede oder (wie hier) in Figurenrede geschieht, ist einerlei. Durchaus besonders aber ist, dass nun dieser grobe Raumentwurf im Durchgang des Helden durch diese Teilwelt immer mehr an Details und Dynamik gewinnt. Mit Wigalois’ Weg durch Korntin und schließlich zum Riesen Roaz entfaltet sich eine mentale Geographie, die in dieser Dichte und Komplexität im höfischen Roman davor selten ist. Das narrative Prinzip, dem sich Wirnt von Gravenberg verpflichtet zeigt, wird sofort deutlich, als Wigalois am nächsten Tag tatsächlich das seltsame Tier (was genau es sein soll, wird verschwiegen) vor der Burg findet und diesem, das offenbar über Wigalois’ Vorhaben erfreut ist, nach Korntin folgt. her Gwîgâlois kêrt von dem wege / ein engez pfat (V. 4492 f.), dem Tier hinterher kêrte er von der stet ein pfat, / daz was vil enge (V. 4504 f.), in kurzer wîle reiten sie baz denne zwelf mîle; / sus vuoren si mit île. (V. 4507–4509) Hie hêt der walt ein ende; bî einer steinwende kômen si vür daz bürgetor; dâ lâgen wilde graben vor; die wâren sô vreislîche tief, als ein man dar în rief, daz ez vil kûme her ûf hal; dâ wâren pfîlære hin ze tal gewohrt mit grôzer krefte, dar ûf mit meisterschefte ein brücke was geslihtet, ein slegetor was gerihtet von den pfîlæren enbor; dâ was geheftet an daz tor. [,war die Zugbrücke fixiert‘, also geschlossen?] als daz tier zuo gie, der portenære ez sîgen lie und haftez ûf die brücke nider. (V. 4510–4526)

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Das Tier und Wigalois aber scheinen ihre Reise fortzusetzen (oder rekapituliert der Erzähler nur nochmals deren Ankunft?): nâch dem tiere reit er dô ze Korntîn in daz lant; daz was eben als ein hant, wol gebûwen über al; dâ lac ûf und zetal wînwähse harte vil. (V. 4533–4538)

Nun beobachtet Wigalois ein gleichsam höllisches Turnier, in das er auch einsteigen will, doch seine Lanze verbrennt, als er sie gegen einen der Ritter versticht. Später wird er erfahren, dass diese Ritter die toten Gefolgsleute des früheren Königs darstellen, der wiederum das Tier ist, das Wigalois leitet. Sie büßen im Fegefeuer für ihre Sünden, sind allerdings bald am Ende ihrer Buße angelangt. Wichtig für die Raumgestaltung ist, dass hier – wenn auch im Vergleich zum ,Wildtöter‘ gewiss nur rudimentär – jenes Einzoomen beobachtet werden kann, dem sich Texte wie der ,Lanzelet‘ verweigern. Wir erfahren (im doppelten Sinne) die Welt mit dem Helden, sehen, was er zu Gesicht bekommt, und mit seinen Bewegungen ,wächst‘ der Raum, der davon eine gewisse Charakteristik gewinnt, die er im ,Lanzelet‘ nicht hatte: Nicht nur ist die Burg auf eine Weise individualisiert, die das Vorstellungsbild von ihr nährt, auch Beiläufiges, wie dass das Land überall mit Weingärten übersät ist, macht den Raum griffig. Natürlich bleibt daneben das gleichsam ,alte‘ System präsent: Nach der Turnierschau reitet Wigalois hinter dem Tier wieder auf die (oder eine?) Burg zu, die dann in all ihrer Pracht beschrieben wird, nicht anders als jede andere höfische Burg auch. Aber zwischen diesen Konventionalitäten und entlang der Wege des Helden wird ein Raummodell sichtbar, das diese Abstraktionen unterläuft bzw. füllt. Die folgenden Episoden bleiben diesem Modell treu, machen davon aber mitunter wesentlich exzessiveren Gebrauch. Nachdem ihn das Tier (also Jorel) über das Land aufgeklärt und ihm die nötigen Anti-Zauber-Utensilien gegeben hat, die er braucht, um gegen den Drachen Pfetan zu ziehen, der das Land terrorisiert, fährt Wigalois weiter. Es ist inzwischen Abend geworden, die Burg ist wieder in Flammen aufgegangen (ein letztes Mal, wie Jorel sagt: dann sei er erlöst). Wigalois reitet zuo einem sê (V. 4868), findet schließlich den Drachen, der gerade vier Ritter besiegt hat, die er noch an seinem Schwanz mit sich trägt. Die Frau des einen klagt entsetzlich über ihr und ihres Mannes Los, ihr Klagegeschrei setzt Wigalois auf die richtige Fährte. Sus reit er einen berc zetal. dâ hôrte er mangen gôzen val von den starken esten; die boume begunden bresten dâ der wurm hin sleif; swaz er mit dem zagel begreif,

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daz brach er allez nâch im nider; sîner sterke was niht wider. (V. 5004–5011)

Dann sieht er den wurm (vil schiere sach der küene man, V. 5012), der nun ausführlich in seiner ganzen Grässlichkeit beschrieben wird. Das Ende der Beschreibung betont wieder die Wahrnehmung Wigalois’ (Als er den wurm rehte ersach, V. 5077), dann ergeht der Kampf, der selbst eine kleine Bewegung durch den Raum vollführt. Der Drache, von der Lanze durchstochen, brüllt auf, rast durch den Wald und reißt wieder viele Bäume nieder. Wigalois flieht (sîn snellez ors in danne truoc. V. 5107), doch nâch dem rîter kêrter [der Drache] sâ / und hêt in schiere ervarn (V. 5109 f.). Sterbend fällt der Drache auf Wigalois, wovon dieser das Bewusstsein verliert. sus warf er in als einen bal eine rîse hin zetal; dâ belac er bî dem breiten sê. (V. 5120–5122) [. . . ] âne maht und âne sin belac der rîter mit dem rade [das ist Wigalois’ Wappen] ûf des breiten sêwes stade. (V. 5131–5133)

Man muss nicht, man kann sich aber diese ganze Drachenepisode als Geschehen rund um diesen See ausmalen: wie Wigalois auf den Hängen rund um den See nach dem Drachen sucht, diesen, einen Abhang hinabgehend, findet, dann der Kampf, der nicht nur im Raum stattfindet, sondern seine Umgebung auch prägt (der Drache und die Bäume), schließlich kollert der Held wieder zum See hinab. Gewiss ist all dies, mit heutigen Leseraugen gesehen, nichts Außergewöhnliches. Aber in Ansätzen ist die dynamische Interaktion mit und durch den Raum doch erkennbar, und überall dort scheint sie besonders leicht zu gelingen, wo sich die Figuren tatsächlich und am besten mit großer Geschwindigkeit durch den Raum bewegen (wie eben bei einem solchen Kampf oder zuvor bei der Fahrt nach Korntin). Dass dieses Prinzip der Dynamisierung auch auf andere Ebenen der narrativen Gestaltung übergreift, nimmt nicht wunder: Die descriptio des Drachen ist nicht vorweggenommen (das Tier Jorel hätte ihn ja beschreiben können), sondern in die Szene eingelassen, und die Betonung auf Wigalois’ Wahrnehmung unmittelbar vor und nach der Beschreibung des Drachen suggeriert, dass diese durch den Helden gesehen ist. Dem Drachenkampf folgt eine etwas längliche Episode, die davon erzählt, wie der bewusstlose Wigalois zuerst von einem Fischerpärchen ausgeraubt, dann von Mondschein-wandelnden Gefährtinnen jener klagenden Frau, deren Mann Wigalois aus den Fängen des Drachen befreit hat, entdeckt, schließlich wieder zu Kräften gebracht und neu gewappnet wird. Es wird in dieser ,Fischerepisode‘ eine regelrechte Seegeographie entworfen mit dem Fischerpaar, das im Boot den See befährt, deren Hütte, gleich daneben eine der drei Burgen jenes befreiten Ritters (er heißt Graf Moral) – so nahe am See gelegen, dass das Wasser bei Wind gegen die Kemenatentüre schlägt

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–, alles eingelassen in eine geradezu ,romantische‘ Mondscheinszenerie, und vieles davon nicht auktorial erzählt, sondern von den Figuren, vor allem von einer der sechs Damen, gesehen und dann auch berichtet. Das räumliche Arrangement der verschiedenen Figurengruppen um den See und um den bewusstlosen Wigalois ist nicht ohne Kunst, ,technisch‘ ist es aber nur die Fortsetzung des Vorherigen. Tendenziell Neues aber enthalten die folgenden Episoden um das Waldweib Ruel und Wigalois’ Zug gegen die Burg des Roaz. Auch sie zeigen den Protagonisten, wie er sich und uns die Welt erfährt, aber mehr noch als in den Episoden davor interagiert er nun auch mit den räumlichen Gegebenheiten. Zum Waldweib Ruel gelangt er, frisch genesen, durch Zufall. einem stîge volget er nâch ûz gegen der linken hant, der was grasic unde ungebant. er truoc in verre in den walt dâ manic boum was gevalt und grôze ronen lâgen. dô begunde in des betrâgen daz er sîn ors allez zôch. (V. 6256–6263)

Wigalois ist im Dickicht eines Waldes gefangen – eine verblüffend realistische Situation, die dem ,klassischen‘ Artusroman durchaus fremd ist –, und er bemüht sich, diesem Dickicht wieder zu entkommen. ze stîgen er die ronen vlôch. an ein wazzer er dô reit, daz was tief und sô breit daz niht vurtes darüber gie. er gedâhte ,herre got, wie kum ich über daz wazzer hie?’ (V. 6264–6269)

Sein Pferd heftet er an einen Ast, doch auch er alleine kommt nur langsam voran: swie snel er wære, sîn gên was laz, / wand er muose sliefen dâ (V. 6273 f.). Da sieht er auf dem Wasser vliezen einen kleinen vlôz den ein starkiu wide slôz bî einem stecken zuo dem stade; dar kom der rîter mit dem rade von des waldes enge gesloffen durch gedrenge. (V. 6276–6281)

Das Floß bindet er los und zieht es in jene Richtung, in der er das Pferd hatte stehen lassen. Unterbrochen wird er von den Initiativen des Waldweibes Ruel, das ihn – es ist hier nicht von Belang – gefangen nimmt und, als es das Wiehern von Wigalois’ Pferd hört, wieder von ihm ablässt; die Beschreibung des Waldweibes ist im Übrigen

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wieder in die Begegnung der Figuren eingefügt, ganz wie zuvor jene des Drachen Pfetan. Sie flüchtet sich schließlich in eine Steinwand. Wigalois aber betet sich von den Fesseln, die ihm von ihr angelegt sind, los (diese religiösen Volten sind auch sonst sein Erfolgsrezept), dann geht er zurück zu seinem Pferd, zieht es aufs Floß und setzt über das Wasser. mit einem aste schielt er in [den vlôz] über daz breite wazzer hin anderhalbe an daz stat (V. 6534–6536),

wo er sich plötzlich vor der Burg Glois wiederfindet und damit in den nächsten Handlungsbezirk eintritt. Der Wald um das Waldweib war nichts mehr als eine liminale Passage gewesen, die aber raumästhetischen Eigenwert dadurch gewinnt, dass der Wald das erste Mal im Text als ein ,echter‘, dichter Wald plastisch in Erscheinung tritt, dass der Fluss nicht nur Staffage der Szenerie ist, sondern einen funktionalen Wert hat, dass Wigalois mit Pferd und Floß raumdynamisch agieren muss, um seinen Weg fortzusetzen. Mit dieser Betonung des interaktiven Verhaltens zu räumlichen Gegebenheiten ist die Waldweib-Episode zugleich Vorspiel der nun folgenden Szene um die Burg des Roaz, die von genau diesem Prinzip geprägt sein wird. Wigalois findet also die Burg Glois und davor sechzig feste Lanzen, die eine mîle ûf dem wege (V. 6548) aus dem Boden ragen. Er wird sie gegen Karrioz, eine Art Wächterfigur, verstechen. Als dieser endlich besiegt scheint und dem Tode nahe ist, flüchtet er sich gegen Glois (V. 6715), wobei – wieder eines dieser ,haptischen‘ Details, und wieder eine dynamische Fluchtbewegung – von sîner vluht wart der stoup alsô grôz ûf dem wege daz er ûz sîner [Wigalois’] ougen pflege kom in kurzer wîle, swie er im [Wigalois dem Karrioz] doch mit île ûf dem wege volget nâch. (V. 6719–6724)

Wieder schaut Wigalois: Er sieht einen nebel, der was swarz (V. 6726), der wie Pech auf der Heide liegt. Darin flieht Karrioz und stirbt: Wer in den schwarzen Nebel läuft, der wird von diesem verklebt und bleibt als schwarzes Monument, wie Pechstein, der Landschaft erhalten. Nur am Abend, erklärt der Erzähler, senkt sich der Nebel für kurze Zeitdauer, dann kann der Weg nach Glois passiert werden; bald aber steigt der Nebel wieder auf, und dann gilt: swaz er under im bevie, / daz lîmte er zesamne gar (V. 6762). Wigalois erkennt diese Prozessualität und wartet also, bis sich der Nebel ûf daz mos gelie (V. 6766). Dann reitet er die Straße nach Glois weiter, die was gebrücket über daz mos (V. 6768), also eine Brücke durchs Moor, und zwar wol eines schuzzes mâze (V. 6771), also einen Pfeilschuss weit. Auf der Brücke

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von marmel ein tor gemûret lac, des ein rat von êre pflac; daz lief umbe vor dem tor ûf îsenînen siulen enbor. Ez treip ein wazzer daz was grôz; durch daz vûle mos ez vlôz. daz rat mit kreften umbe gie; durch daz tor ez niemen lie. daz hêt Rôaz gemeistert dar. Mit scharfen swerten was ez gar und mit kolben wol beslagen. (V. 6774–6784)

Wigalois hält an, wand ern mohte niht vürbaz (V. 6788). Emsig sucht er nach einem Weg, das Rad zu überwinden, doch er findet keinen; er ist in einem (im landläufigen Sinne) dramatischen Zeit-Raum-Rätsel befangen, nicht anders als James Bond in so gut wie allen seinen Abenteuern: Er kann nicht vorwärts, wo ihm das Rad den Weg versperrt, und von hinten steigt mit dem Mondschein der Nebel wieder aus dem Moor (V. 6811–6813). Wigalois flieht sich zum Tor: vor im umbe lief daz rat, hinder im der nebel stoup, des tropfe velwet grüenez loup. nûne mohte er vür noch wider. (V. 6820–6823)

Wigalois ist – als ob der Text die Räumlichkeit der Falle betonen wollte – gevangen âne mannes hant (V. 6827). Den Ausweg bringt abermals ein Gebet: Wigalois bittet Gott um Hilfe, dann umfängt ihn Müdigkeit und er legt sich – das Pferd am Zaum haltend, das Schwert in der Hand – vor dem Tor schlafen. Tatsächlich hilft Gott, doch nicht, indem er das Rad mit göttlicher Intervention anhielte oder den Nebel ,wegzauberte‘, sondern indem auch er seine metaphysischen Kräfte raumphysikalisch wirken lässt: ze trôste sande er im den wint (V. 6884). Der Wind schlägt den Nebel ins Wasser nieder, wovon das Wasser, das das Rad umtreibt, erstarrt und das Rad stehen bleibt. Wigalois wiederum erwacht von genau diesem Vorgang, weil das Rad im Bremsvorgang quietscht (kerren, V. 6891: ,einen grellen Ton von sich geben; knarren, rauschen‘⁴⁸) und er davon aus dem Schlaf schnellt. Er nutzt die Gunst der Stunde, wiederum dynamisch in den Raum eingreifend: einen laden nam er dô, der lac bî im nâhen dâ. in daz rat leit er in sâ und zôch sîn ors drüber zehant. (V. 6900–6904)

48 Le I, Sp. 1557.

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Wenig später legt sich der Wind, der Nebel steigt wieder empor, das Wasser fließt erneut, das Rad nimmt abermals Fahrt auf. hie was diu âventiure mit / beslozzen, als mir ist geseit (V. 6925 f.). Man könnte diese Episodenreihe, die auf den nun nahenden Entscheidungskampf gegen Roaz hinführt, eine raumdramatische nennen. Je näher Wigalois seinem Ziel kommt, desto größer sind die räumlichen Hürden, die er zu nehmen hat, desto plastischer aber auch werden die Räume, durch die und in denen er sich bewegt. Das oben zum ,Wildtöter‘ angedeutete Gesetz, dass Räume desto greifbarer werden, je dynamischer sich Figuren in ihnen umtun, findet hier seine Bestätigung. Nochmals sei gesagt, dass der ,Wigalois‘ deshalb noch lange kein Text ist, der zeitübergreifend durch seine Raumregie auffiele. Als höfischer Roman tut er dies aber doch, sodass er eine Zwischenposition zwischen – mit den Beispielen gesagt – ,Lanzelet‘ und ,Wildtöter‘ besetzt. 1) Wie im ,Lanzelet‘ dominieren auch im ,Wigalois‘ – ich bin auf diese konventionellen Passagen nicht näher eingegangen – statische höfische Räume. Diese werden erst beim Eintauchen des Protagonisten in die Anderwelt um Korntin und Glois verlassen. Dann aber werden die Räume mehr und mehr figurendynamisch, werden auch zusehends häufiger durch die Augen der Figuren gesehen und geschildert, sodass man es nicht mehr nur mit additiven Sammlungen von Objekten zu tun hat, sondern mit kohärenten räumlichen Entwürfen. 2) Diese sind dann, notgedrungen, dem Geschehen nicht länger blockhaft vorangestellt, sondern dynamisch mit diesem verflochten, nicht anders als auch die descriptiones der Figuren bzw. Gegner des Protagonisten in dieser Episodenreihe. Übergänge zwischen den Räumen verbinden diese zumindest in Ansätzen, sodass, zumindest streckenweise, so etwas wie eine mentale Kartographie provoziert, die die markanten Einzelräume zueinander in Beziehung setzt. 3) Natürlich ist die resultierende mentale Karte noch um ein Vielfaches lückenhafter als in Texten aus unserer Zeit. Der See des Wigalois lässt sich kaum vergleichen mit Hutters See im ,Wildtöter‘. Die narrative Technik zielt aber in eine ähnliche Richtung, sodass es nur konsequent ist, dass auch die Räume dieser Passagen des ,Wigalois‘ gespickt sind mit Zeit- (Tag/Nacht), vor allem aber mit Längenangaben, die zwar noch lange nicht zur Frage provozieren, wie sich dies auf einer Karte abbilden ließe, die Möglichkeit einer solchen Frage aber zumindest nicht ausschließen. Auffällig ist zuletzt auch, wie klar diese spezifische Raumgestaltung im ,Wigalois‘ funktionalisiert ist. Denn sie zieht sich eben nicht durch den gesamten Roman, sondern ist auf die analysierten Episoden beschränkt. Außerdem ist sie nicht notwendige Folge der Handlungsführung, zumal Ähnliches (Kämpfe gegen Drachen, Wunderwesen, wundersame Objekte und Orte) in anderen Texten mit ganz und gar statischen Räumen geschildert wird. Man hätte diese Episodenfolge gewisse auch anders, konventioneller, haben können. Es ist also eine vielleicht intentionale, jedenfalls aber irgendwie kalkulierte Zutat, und dass sie just dort dem Geschehen beigegeben wird, wo es sich um anderweltliche Belange handelt, wird dann kaum Zufall sein. Das hieße aber, dass jener

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narrative Raum, der uns heute der gewöhnlichere ist, im Artusroman des mittleren 13. Jahrhunderts schon aufgrund seiner ,technischen‘ Modellierung einen Faszinationsraum bildet, mit dem Handlungslinien – durch die Beigabe eines solchen dichten räumlichen Ambientes – in besonderer Weise (hier: als düster, lunar, anderweltlich, liminal⁴⁹ , vielleicht auch und gerade wegen der prägnanten räumlichen Bedrohung durch Wald, Nebel, Brücke etc.: ,spannend‘ und ,packend‘) ausgezeichnet werden können.

5 Wilhelms Flucht All dieses zum ,Wigalois‘ Gesagte gilt nun ähnlich auch für eine kurze Passage im ,Wilhelm von Orlens‘ des Rudolf von Ems, nur dass Zweck und Mittel dort in einem anderen Verhältnis stehen. Die Stelle, um die es geht, befindet sich in etwa zur Handlungsmitte, die Situation ist diese:⁵⁰ Wilhelm, der Titelheld, befindet sich auf Turnierfahrt, er soll damit seine Ritterlichkeit unter Beweis stellen, als Lohn winkt ihm die Hand Amelies, der er zuvor schon in einer sehr speziellen (nämlich nur partiell gegenseitigen) Variante des Kinderminne-Motivs verbunden war. Allerdings weiß Amelies Vater, König Rainher von England, nichts von diesem Liebeshandel, sodass er Amelie – um eine dynastische Fehde beizulegen – seinem früheren Feind Avenis, dem König von Spanien, verspricht. Dass dieser, zumindest auf den Turnieren, auch stets auf der Gegnerseite Wilhelms kämpft, macht die Sache zusätzlich pikant. Jedenfalls soll die Eheschließung schon bald geschehen; als Wilhelm auf dem beginnenden Turnier von Reschun davon hört, drängt die Zeit. In seiner Not entwickelt er einen geradezu tristanschen Plan, den er sich von seinen Getreuen im Rat absegnen lässt. Mit nur kleiner Truppenstärke – 300 Mann – will er nach England fahren und Amelie entführen. Einen anderen Weg sieht er nicht. So geschieht es auch: Bei Barbefluot schifft man sich ein und landet – wissend, dass die Hochzeit in Parcemus (Portsmouth) stattfinden soll – dort in der Nähe bi ainer wilden habe (V. 8780), die über fünf mile lac / von Parcemus der houbet stat (V. 8782 f.). Wilhelm und seine Leute schlagen ihr Lager im Wald auf, Amelies getreuer Bote Pitipas, der auch die Nachricht zum Turnier getragen hatte, wird von Wilhelm zu Amelie geschickt, um ihr seine Pläne zu unterbreiten. Wilhelm lässt das Lager des Königs ausspähen, schon kommt Pitipas zurück mit Amelies Einverständnis. bi dem palas in einem wurzegarten (V. 8875, 8878) würde sie am Abend auf ihn warten.

49 Brinker-von der Heyde (Anm. 41) hat gezeigt, dass gerade solche ,Zwischenräume‘ im höfischen Roman mit einer energischen Raumregie bedacht sind. 50 Rudolfs von Ems Wilhelm von Orlens, hrsg. aus dem Wasserburger Codex der fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek Donaueschingen v. Victor Junk (DTM 2), Berlin 1905 [Graphie behutsam normiert].

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Wilhelm macht sich also mit zwei Rittern auf, im wurzegarten wartet Amelie ihrerseits mit zwei Mädchen. Wilhelm reitet – anscheinend ohne aufzufallen – durchs königliche Lager, in den wurzegarten gelangt er, indem er über eine nider mure (V. 8947) steigt, während er seine beiden Begleiter draußen warten lässt. Nach kurzer Begrüßung trägt er Amelie zu seinem Pferd, dann reiten sie davon durch al die schar durch diu gezelt, bis sie hin übers velt zu seinen Mannen kommen, da si haten sin gebiten (V. 8979–8982). Eilig reitet man von dannan zuo dem walde / gen der habe hin an das lant (V. 8986 f.). Würden sie den Hafen ohne Gegenwehr erreichen, wäre ihnen der Erfolg sicher (V. 8988 f.). Indes: Do gaheten si anderswa (V. 8990). Inzwischen bemerken der König und seine Frau das Fehlen ihrer Tochter, bald ist der Verdacht auf Wilhelm gefallen, bei Mondschein und mit Fackeln (das si gesahent uf der vart, V. 9112) jagt man den Flüchtigen mit einem großen Heeresaufgebot hinterher (V. 9105–9112). Wilhelm, Amelie und ihre Entourage aber verirren sich, was der Erzähler mit einer proverbialen Weisheit erklärt (dur liep, dur lait sol nieman sich / vergahen! V. 9129 f. – ,Übermut tut selten gut‘, wäre eine neuhochdeutsche Entsprechung). Wilhelm ist sich als Ortskundiger so sicher, dass er auf den Weg keine Acht hat. mit allen sinen mannen rait er ierre unz an den tac das er dekainer rihte pflac. (V. 9144–9146)

Erst bei Tagesanbruch erkennt Wilhelm, das er was misseritten (V. 9149) und dass sie die rehte wege durch den walt (V. 9151) verfehlt hätten. Um wieder auf den rechten Weg zu kommen, müssten sie – erklärt Wilhelm seinen Leuten – [. . . ] drie mile varn mit gaher ile, die wir geritten ierre sin. (V. 9157–9159)

Doch schon sehen sie die Verfolger herbeieilen, an Umkehr ist nicht zu denken, sodass Wilhelm vorschlägt: Nahe flússet iuns hi bi Ain murec wasser niht ze brait Dem sint die fúrte gar versait o Von muere und also benomen Das nieman kan drúber komen Wan ze ainer bruge stainin: Dar keren, das ist diu lere min, Und enthaltent úns alda! (V. 9172–9179)

Die Verfolger erkennen die Absicht und reiten noch schneller, doch Wilhelms Gruppe erreicht die Brücke vor ihnen. Dort bereitet man die Verteidigung vor, Amelie wird von zwei Rittern etwas abseits in Sicherheit gebracht, damit sie die Kämpfe nicht mit

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ansehen muss. Dann beginnt der Kampf – auf der einen Seite der Brücke diese, auf der anderen jene Partei – das gar claine[] her (V. 9224) Wilhelms setzt sich zur Wehr, die Feinde enmohten niender zuo in komen, als ir habt wol vernomen, wan an der selben brugge hie (V. 9227–9229).

Wilhelm instruiert die Schützen, und niemals, so der Erzähler, hatte ein so kleiner Trupp einem so großen Heer so sehr zum Schaden gereicht (V. 9238 f.). Lange bis in den Tag hinein dauert der Kampf, Wilhelm kann seinen unmittelbaren Kontrahenten Avenis schwer verwunden, wird aber schließlich selbst überwältigt und gefangen genommen. Der Rest des Romans wird – nach diesem (im umgekehrten Tragödiensinne) dramatischen Höhepunkt – von seiner Rehabilitation erzählen. Bemerkenswert an dieser Stelle ist zweierlei: Zum einen ist die Handlungsfolge, wie sie hier erzählt ist, eine für den mittelalterlichen Roman durchaus untypische. Flucht und Entführung gibt es natürlich allenthalben, aber diese auch auszuerzählen, als fugengleiche Bewegung durch die Erzählwelt, ist eine seltene Besonderheit. Das bringt automatisch eine Abweichung vom lanzeletschen Raumkonzept mit sich, sogar von jenem des ,Wigalois‘, weil sich die Handlung angesichts einer solchen geographisch instabilen Ereignisfolge nicht länger an einem Ort abspielen kann, der Ortswechsel vielmehr selbst zum handlungstragenden Moment wird: Hafen, Waldlager, Lager des Königs in Portsmouth, Flucht durch den Wald, die Verfolgung ebenda, dann die Entscheidung an der Brücke. Zum anderen aber erstaunt, wie wenig weit sich der Text auf dieses neue narrative Terrain vorwagt. Er tut nichts dazu, die raschen Szenenwechsel plastisch werden zu lassen, kaum etwas wird zu den einzelnen durchlaufenen Schauplätzen gesagt, und selbst dort, wo deren Charakteristik für die Handlung wesentlich wäre, wird sie in geradezu auffälliger Weise übergangen. Man könnte an den Wald erinnern, der für jede Art des Vom-Wege-Abkommens das rechte Ambiente gibt, ohne dass dieser Topos im ,Wilhelm von Orlens’ je genützt würde; vor allem aber ist es die Brücke über den sonst unüberwindlichen Fluss, die dem abschließenden Kampfgeschehen den rechten Rahmen setzt. Offenbar ist es ihre Enge, die es ermöglicht, dass dort eine kleine Gruppe sich vergleichsweise lange gegen eine militärische Übermacht behaupten kann, bis die Erschöpfung ihr Übriges dazu tut, dass die zahlenmäßig Unterlegenen es auch im Kampf werden. Solche Szenen gibt es im Abenteuer- und auch im Ritterroman der vergangenen zwei oder drei Jahrhunderte zur größten Genüge. Rudolf von Ems aber sagt zu diesem Spezifikum des Brückenkampfes nichts, setzt also alles daran, den Faszinationsraum nicht zu einem solchen werden zu lassen. Die obige Behauptung, dass im ,Wilhelm von Orlens‘ – im Vergleich zum ,Wigalois‘ – die Gewichtung zwischen Zweck und Mittel verschoben sind, gewinnt von diesen Beobachtungen aus Kontur. Zwar gilt für die Punkte 1) bis 3) für ,Wigalois‘ und ,Wilhelm

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von Orlens‘ im Grunde dasselbe, die poetische Begründung ist aber genau gegenläufig. Im ,Wigalois‘ besteht keine intrinsische Notwendigkeit, die Räume zu dynamisieren; dass es doch geschieht, hat seine Funktion darin, ein anderweltliches Szenario auszustaffieren, sodass das Mittel seinem Erzählzweck überschüssig ist: denn nur dieser Überschuss sichert ihm die Wirkung des Außergewöhnlichen. Im ,Wilhelm von Orlens‘ ist es gerade umgekehrt: Hier fordert der Erzählzweck einen dynamischen Raum ein, aber Rudolf von Ems gibt dieser Forderung nur so weit nach wie unbedingt nötig. Die Mittel, die zur Verfügung gestanden wären, verwendet er äußerst sparsam, mit dem Effekt, dass sich diese Flucht, so Aufsehen erregend sie per se im Kontext des höfischen Romans sein mag, über weite Strecken wie die Zusammenfassung ihrer selbst liest, die Geschwindigkeit der Bewegung durch den Raum nur behauptet, kaum aber narrativ gestaltet wird.

6 Fazit Es lohnt nicht, die Ergebnisse der Textreihe nochmals im Detail zu wiederholen; sie sind jeweils am Ende der textbezogenen Abschnitte formuliert. In der Zusammenschau aber ist – als Bestätigung des eingangs Gesagten – festzuhalten, dass der narrative Raum im mittelalterlichen Erzählen einer ist, der im Vergleich zum Erzählen des 18. bis 21. Jahrhunderts ein erstaunlich unflexibler, starrer und statischer ist. Handlung hat – ganz überwiegend – statt in vordefinierten, für die Dauer einer Episode festen räumlichen Gegebenheiten – Schauplätzen also⁵¹ –, die sich durch die Handlung kaum ändern, die miteinander kaum oder nur schwach verbunden sind und die den handelnden Figuren mehr als Kulisse dienen, als von diesen zu dreidimensionaler Interaktion genutzt zu werden. Anders gesagt, während im Roman der letzten Jahrhunderte Raum oft über paths ausgefaltet wird, die zwischen containers vermitteln, ist das mittelalterliche Erzählen ganz auf die Setzung und Beschreibung der containers konzentriert,⁵² während die Wege dazwischen blass bleiben.⁵³ Es dominieren – wie Ernst Robert Curtius betont hat – gleichsam topische Entwürfe die räumliche Gestal-

51 Joachim Schröder, Zu Darstellung und Funktion der Schauplätze in den Artusromanen Hartmanns von Aue (GAG 61), Göppingen 1972. 52 Die Begriffe nach Mark Johnson, The Body in the Mind: The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason, Chicago 1987. Für die narratologische Adaptation siehe Dannenberg (Anm. 16), S. 75 f.; Bridgeman (Anm. 10), S. 55. 53 Dieser Negativbefund ergibt sich auch aus der einschlägigen Studie von Ernst Trachsler, Der Weg im mittelhochdeutschen Artusroman, Bonn 1979. Es werden dort Wegbegriffe und dann der symbolische Gehalt von bestimmten (meist nur benannten) Protagonistenwegen untersucht, Wegschilderung im eigentlichen Sinne kommt aber – wie im höfischen Roman auch – so gut wie nicht vor.

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tung des mittelalterlichen Erzählens,⁵⁴ die sich darum oft in – wie Rainer Gruenter es nannte – „raumgesättigten Wörtern“ niederschlagen⁵⁵ und – mit Certeau gesprochen – die heutige Leseerwartung insofern enttäuschen, als sie die espaces latent als lieus formen. Folge davon ist, dass, was wir über diese Räume wissen, objekthaft und zersplittert wirkt, ohne dass sich aus diesem rein blockhaft-deskriptiven Wissen eine plastische Raumvorstellung ergäbe. Das mentale Bild bleibt ein abstraktes, und die verschiedenen Episodenräume formieren – in Ermangelung linearer Wege und suggestiver Koordinaten – gemeinsam kaum je eine mentale Landkarte. All dies war am ,Lanzelet‘ besonders deutlich zu sehen, der in dieser Hinsicht exemplarisch für das Gros der mittelalterlichen Erzählliteratur (nicht nur des höfischen Romans) stehen kann. Ausnahmen davon gibt es, wie der ,Wigalois‘ und der ,Wilhelm von Orlens‘ zeigen, aber diese sind quantitativ selten und qualitativ durchaus nicht radikal. Zwar entfernen sie sich tendenziell vom statischen Raummodell, doch sie gehen dabei nie sehr weit. Der ,Wigalois‘ lässt eine intensivere dynamische Interaktion zwischen Figuren und Räumen zu, aber die steife Episodenhaftigkeit bleibt erhalten, und auch die dynamischen Räume bleiben durchwachsen von starren descriptiones, die der Flexibilität einen gewissen Einhalt gebieten. Im ,Wilhelm von Orlens‘ wiederum ist das Erzählgerüst einer ganzen Episode darauf angelegt, die Idee eines stabilen räumlichen setting als solche zu verabschieden, aber so sehr dies mit dem Prinzip mittelalterlicher Raumgestaltung bricht, so wenig schlägt der Text daraus ästhetisches Kapital. Es wäre ein Leichtes, weitere Ausnahmen zu finden. Ich erinnere exemplarisch nur an die in der Altgermanistik fast sprichwörtlichen Türme des Artushofes, die dem jungen Parzival, als er auf sie zureitet, ,aus dem Boden wachsen‘, als hätte Artus sie ,gesät‘ (Pz. 161,23–30), weil der naive Bub der optischen Täuschung nicht mit Weltwissen zu begegnen weiß. Solche oft ganz kleinräumigen Details zeigen deutlich, dass das Vermögen der erzählerischen Raumgestaltung über die Zeit ein mehr oder minder invariantes ist, weil ihm prinzipiell keine anderen Grenzen gesetzt sind als der menschlichen Wahrnehmung auch. Darum wird man mutmaßlich auch für jede Technik narrativer Raumentfaltung mittelalterliche Pendants finden. Den Unterschied macht aber die Erzählenergie, die auf diesen Gegenstand üblicherweise verwendet wird, und also die je verschiedene Konvention des Erzählraumes:

54 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen, Basel 11 1993. Vgl. etwa Josef Semmler (Hg.), Der Wald in Mittelalter und Renaissance (Studia humaniora 17), Düsseldorf 1991. 55 Rainer Gruenter, Zum Problem der Landschaftsdarstellung im höfischen Versroman, in: Euphorion 56 (1962), S. 248–278. Vgl. ders., Landschaft. Bemerkungen zur Wortbedeutung und Bedeutungsgeschichte, in: GRM 34 (1953), S. 110–120; ders., Das ,wunnecliche tal‘, in: Euphorion 55 (1961), S. 341–404; Störmer-Caysa (Anm. 38), S. 50–52; exemplarisch Ernst S. Dick, Fels und Quelle. Ein Landschaftsmodell des höfischen Epos, in: Wolfram-Studien 6 (1980), S. 167–180.

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Was dem Jugendbuch des 20. Jahrhunderts (das im Übrigen eine sehr heftige Neugestaltung und Kürzung der cooperschen Vorlage ist!) abzulesen ist und was also mithin als konventionell, wenn nicht sogar als trivial gelten kann, findet sich im Romanerzählen des 12. und 13. Jahrhunderts tendenziell am literarischen Höhenkamm, während, was dem mittelalterlichen Erzählen gängig und üblich ist – sparsame narrative Räume von beharrlicher Statik –, im Erzählen des 18. bis 21. Jahrhunderts einen starken stilistischen Effekt generierte (man denke etwa an die Sparsamkeit von Kafkas Kurzerzählungen). Literaturgeschichte erscheint so weniger als eine Geschichte des Wann-zuerst, Wie-lange und Bis-zuletzt – denn kaum ein literarisches Moment gibt es, das nicht im Grunde schon seit Homer (oder gar seit dem Gilgamesch-Epos) zu verfolgen wäre –, sondern als eine Beschreibung der sich wechselnden literarischen Konventionen, vor deren Hintergrund die Leistung dessen, was wir (unter vorgehaltener Hand oder auch nicht) ,große‘ Literatur nennen, erst eigentlich sichtbar wird. Dass ich mit dem ,Wildtöter‘ Karl Bambergers und dem ,Lanzelet‘ zwei Texte ins Zentrum gerückt habe, die man – falls der Begriff historisch so weit gedehnt werden darf – beide der Trivialliteratur zuschlagen möchte, hat in dieser Überzeugung seinen Grund. Dass die These vom statischen Erzählraum des Mittelalters weitere Prüfung verdiente, bedarf kaum der Erwähnung. Wenn das Anliegen nicht ist, eine Erzähltechnik zu bestimmen, sondern ihre (Un-)Konventionalität zu belegen, kann das oben Gesagte nicht mehr als suggestiv sein. Größere Sicherheit brächte das Studium am breiten Erzählmaterial. Insofern es sich dabei um ein Studium handelt, das sich z. T. auch automatisieren ließe, wären bei einem entsprechenden Aufwand durchaus valide Ergebnisse zu erwarten. So könnte man etwa die behauptete, zum Roman des 18. bis 21. Jahrhunderts vergleichsweise spärliche Verwendung von Raumadverbien im mittelalterlichen Erzählen genauso erfassen wie die blockhafte Separierung von descriptio und narratio, die zu den im Erzählen sich ausdifferenzierenden Räumen unserer Zeit genau gegenläufig ist. Und größere Sicherheit brächten auch Gegenproben, zum Beispiel in Prosagattungen, die vielleicht dem Lesen näher stehen als dem Vortragen (auch wenn heute niemand mehr daran glauben will, dass Prosa nur gelesen, Reimpaarverse nur vorgetragen worden sind) – der ,Prosa-Lancelot‘ wäre hier die erste Adresse –, oder in Versdichtungen späterer Zeit, zum Beispiel in Minnereden, die oft mit einer erstaunlich dynamischen (wenn auch allegorischen) Raumregie aufwarten (ich denke an den Eingang der ,Minneburg‘). Auch Reiseliteratur und vor allem Jenseitsreisen⁵⁶ wären zu sichten, zumal es nicht unwahrscheinlich ist, dass die anderweltliche Raumgeographie des ›Wigalois‹ in Jenseitsreisen ein Vorbild haben könnte. Im Aufsatzrahmen ist solches nicht zu leisten; es stünde zu hoffen, dass sich im und nach dem spatial turn, der häufig nur auf die semantischen und/oder metaphorischen Dimensionen

56 Dazu grundlegend Maximilian Benz: Gesicht und Schrift. Die Erzählung von Jenseitsreisen in Antike und Mittelalter, Berlin, Boston 2013 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 78), bes. S. 158–165.

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des Raumbegriffs abgehoben hat, auch für diese vielleicht schlichtere, für das Erzählen aber vielleicht doch auch wichtige Fragestellung die nötige Forschungsenergie fände. Im ,Raum‘ steht die Frage, wie es – falls die These sich erhärten ließe – zu dieser auffälligen Diskrepanz zwischen ,altem‘ und ,neuem‘ Erzählen kommt. Es ist dies gewiss eine Frage, über die sich bestenfalls kontrolliert mutmaßen lässt, und ich vermag hier nicht mehr, als einen von mehreren, wohl in Kombination zu denkenden hermeneutischen Pfaden anzudeuten. Angesetzt sei dafür bei der verschiedentlich en passant getroffenen Beobachtung, dass sich mittelalterliche Räume eher wie die Räume einer Schaubühne – also des Theaters – ausnehmen, während sich die Räume des Romans seit 1800 oft ganz problemlos dem Film vergleichen, der mitunter ja auch genau diese Romane auf die Leinwand gebracht hat. Diese Feststellung siedelt zunächst nur auf Ebene der Beschreibungssprache, und doch ist es augenfällig, dass die Theatermetaphorik im einen Fall, jene des Films aber im anderen besonders packend zugreift, und dies, obwohl weder das Theater im 12./13. Jahrhundert noch der Film im 18./19. Jahrhundert als Gegebenheiten vorauszusetzen sind, obwohl also die Metaphorik in beiden Fällen eine eklatant ahistorische ist. Dennoch beschreibt sie Möglichkeiten und Beschränkungen der poetischen Gestaltung, und diese aber scheinen – darauf führt die Metaphorik hin – medialen Bedingungen zu unterliegen. Der realistische Roman mit seinen Vorläufern und Nachfahren, der in aller Regel ein gelesener Roman ist, kann sich verlassen auf einen konzentrierten Leser, dem die erzählten Begebenheiten zu dynamischen Bildern im Kopf wachsen. Er selbst steuert die Geschwindigkeit des narrativen Informationsflusses, wie er mit den Informationen hantiert und welche Muße er dabei hat, ist von Leser zu Leser, von Lektüresituation zu Lektüresituation verschieden, liegt aber in der Hand des Rezipienten. Dies maximiert die Auffassungsgabe, und dass Schriftgelesenes einen höheren Komplexitätsgrad erreichen kann als Vorgetragenes, ist ein banaler Gemeinplatz. Der mittelalterliche Roman kann sich auf genau diese rezeptionsseitigen Vorgänge nicht verlassen. Er ist zum überwiegenden Teil Vortragsliteratur, zwar nicht gesungen, nicht memoriert oder gar frei improvisiert wie die zeitgenössische Heldenepik, aber doch Erzählliteratur, die von einem Vortragenden an eine bestimmte Gruppe von Rezipienten vermittelt wird. Wie genau diese Vorträge vonstattengingen, wissen wir nicht, aber dass etwa das mittelalterliche Erzählen eine extrem hohe Dialoglastigkeit aufweist, mag uns signalisieren, dass diese Vorträge kein Vorlesen im heutigen Sinne waren, sondern – in Ansätzen – dramatische Inszenierungen. Der Vortragende – das zeigen auch manche Exkurse oder auch gewisse Autor-Erzählerrollen in Texten (etwa jene Wolframs von Eschenbach) – berührt sich narratologisch mit den Figuren der Erzählung, die Diegesegrenzen werden so durchlässig und die Szene des Vortrags ist von der Szene des Erzählten nicht immer ganz trennscharf zu scheiden. Diese situative Bindung, kombiniert mit einer vortragsgesteuerten Rezeptionssituation und einer (in aller Regel) von Metrum und Reim zu Minimaleinheiten (Strophen, Reimpaar) getakteten

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Sprache,⁵⁷ fordert dann aber eine gewisse Beschränkung in der Raumdarstellung geradezu ein (wie sie ganz generell die Poetik des mittelalterlichen Erzählens dominiert⁵⁸). Ein Raum von der Komplexität der Eingangskapitel des ,Wildtöter‘ ist in einer solchen Konzentration auf situative Gegebenheiten aus wahrnehmungspsychologischen Gründen nur mit ungleich höherem Erzählaufwand realisierbar. Man braucht nur an die Falltorszene in Hartmanns von Aue ,Iwein‘ denken, in der ein architektonischer Raum (freilich überwiegend starr-deskriptiv) mit großer Beflissenheit erzählt wird, dies aber so, dass es schlechterdings unmöglich ist, sich davon ein präzises Bild zu machen. Dass diese Vortragssituation zugleich auch, und wenn auch eher in Einzelfällen, ganz eigene Möglichkeiten der narrativen Raumgestaltung ermöglicht, die gelesener Literatur unmöglich sind, gilt davon unbenommen. Silvan Wagner hat jüngst gezeigt, inwieweit das mittelalterliche Erzählen ,virtuelle Räume‘⁵⁹ installiert, die Effekt nur einer ganz spezifischen kommunikativen Situation sind und außerhalb dieser – besonders aber bei gleichsam monologischer Lektüre – wegen der ihnen eigenen performativen Unverbindlichkeit und Flexibilität erheblich an Plausibilität verlieren, wenn nicht gar in sich zusammenfallen. Dass es dann just Romane wie ,Wigalois‘ und ,Wilhelm von Orlens‘ sind, die aus der mittelalterlichen Erzählnormalität räumlich ausscheren, fügt sich in diese These. Beides sind Romane, die viel stärker mit Schrift und Schriftlichkeit sympathisieren und auch kalkulieren als die Romangenerationen davor. Beim ,Wigalois‘ mag es genügen, an den Prolog zu erinnern, der zwar nur dem kleineren Teil der Handschriften eingeschrieben ist, dort aber auf spektakuläre Weise eine Buch-Leser-Beziehung⁶⁰ imaginiert: Das Buch adressiert jenen, der es aufschlägt. Rudolf von Ems wiederum, neben Konrad von Würzburg gewiss der gelehrteste und produktivste Autor des 13. Jahrhunderts, liebt das Spiel mit den Buchstaben. Seine Prologe (auch jene zu einzelnen ,Büchern‘

57 Zu Letzterem Dietrich Jäger, Erzählte Räume. Studien zur Phänomenologie der epischen Geschehensumwelt (Kieler Beiträge zur Anglistik und Amerikanistik, N. F. 14), Würzburg 1998, S. 66–98. 58 Am entschiedensten hat mit dieser Problematik Ernst gemacht Matthias Däumer, Stimme im Raum und Bühne im Kopf. Über das performative Potential der höfischen Artusromane (Mainzer Historische Kulturwissenschaften), Bielefeld 2013. 59 Silvan Wagner, Erzählen im Raum. Die Erzeugung virtueller Räume im Erzählakt höfischer Epik (Trends in Medieval Philology 28), Berlin, Boston 2015. Eingangsbeispiel ist ihm die gerade erwähnte rätselhafte ,Torverlies‘-Szene des ,Iwein‘, bei der – im ,Dialog‘ zwischen Handlungsverlauf und Publikumserwartung – ein Raum des Todes und der Drohung zusehends vom Konzept des Minneraums überschrieben werde. In der weiteren Kapitelfolge wird die Argumentation allerdings zusehends metaphorisch (,musikalischer Raum‘, ,Erinnerungsraum‘) und löst sich sukzessive vom Problem des Figurenhandelns im literarisch-geographischen Raum und vom Sprechen über diesen konkreter zu denkenden, gleichsam landschaftlich-architektonischen Raum. Vgl. auch Ralf Schlechtweg-Jahn, Virtueller Raum und höfische Literatur am Beispiel des ,Tristan‘, in: Vavra (Anm. 31), S. 69–85. 60 Wobei es für meinen Zusammenhang nachrangig ist, ob dieser Leser ein Selbst- oder ein Vorleser (so jetzt Däumer [Anm. 58], S. 148–170) ist.

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seiner Werke) sind mit Akrosticha geschmückt, er verwendet (im ,Wilhelm von Orlens‘) Anagramme (Avenis/Savine⁶¹), um die Figurenwelt zu gliedern, sein Satzbau und auch seine rhetorische Manieriertheit machen es streckenweise schwer vorstellbar, dass man derlei noch hörend hätte folgen können, und schließlich ist auch die Handlungskomposition oft auf eine Weise verkompliziert, die man mit schriftgebundener Rezeption verbinden möchte. Anders als in der höfischen Literatur zuvor gelingt es Rudolf (gerade im ,Wilhelm von Orlens‘) mit spielerischer Leichtigkeit, synchron ablaufende Handlungen an verschiedenen Schauplätzen zu schildern, was im Übrigen auch an der oben besprochenen Passage zu sehen wäre: Der Wechsel zwischen Flüchtigen und Verfolgern, verbunden mit einem (von mir ausgesparten) Seitenblick auf das parallel (und ohne Wilhelm) ablaufende Turnier, wäre dem höfischen Erzählen des 12. und frühen 13. Jahrhunderts undenkbar. Derartiges gibt es dort einfach nicht.⁶² All dies schließt mündlichen Vortrag nicht kategorisch aus. Aber es zeugt möglicherweise von einer Weiterentwicklung des höfischen Romanerzählens im Verlauf des 13. Jahrhunderts hin zu stärker schriftliterarisch geprägten Entwürfen. ,Wigalois‘ und ,Wilhelm von Orlens‘ stehen dabei nicht alleine auf weiter Flur, sie sind lediglich sehr frühe Exponenten dieser Innovation, an deren Seite sich wohl noch die ,Krone‘ Heinrichs von dem Türlin (um 1230) stellte, die mit ähnlich plastischen und prägnanten Raumentwürfen aufwartet (die Wunderketten, die kontinuierlich geschilderte Reise Gaweins mit Gansguoter durch eine schrille Gebirgswelt voller visueller Wunder etc.)⁶³ und die ihrerseits ein Text ist, der zumindest produktionsästhetisch ganz der Sphäre der Schriftlichkeit verhaftet ist: Heinrich kompiliert auf geradezu kühn-experimentelle Weise aus verschiedenen ihm vorliegenden buochen, anstatt – wie sonst üblich – einer einzigen (in der Regel: französischen) Quelle zu folgen. Vielleicht ist dieser mediale shift auch ein Mitgrund dafür, dass das Neue nur zaghaft erprobt wird: Im Übergang von der Vortragsdarbietung zur Lektüre hätten sich Erzählentwürfe, die zu weit gegangen wären, um einen Gutteil des zuhörenden Publikums gebracht. Den (dann im Vollsinne) literarischen Versuchen ist so eine gewisse wahrnehmungsästhetische Grenze gesetzt.

61 Armin Schulz, Avenis – Savine. Namenssemantik in Rudolfs von Ems ,Willehalm von Orlens‘, in: Archiv 241 (2004), S. 354–359. 62 Vgl. zum Thema nun den Sammelband Susanne Köbele und Coralie Rippl (Hgg.), Gleichzeitigkeit. Narrative Synchronisierungsmodelle in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Philologie der Kultur 14), Würzburg 2015. 63 Vgl. Florian Kragl, Zur Poetik der ,Krone‘ Heinrichs von dem Türlin, in: Heinrich von dem Türlin: Die Krone, unter Mitarbeit von Alfred Ebenbauer † ins Neuhochdeutsche übersetzt von F. K., Berlin, Boston 2012, S. 457–496; ders., Schneeritt und Schwanennachen. Zur Dramaturgie der ,Krone‘ Heinrichs von dem Türlin, in: Manfred Kern (Hg.), Imaginative Theatralität. Szenische Verfahren und kulturelle Potenziale in mittelalterlicher Dichtung, Kunst und Historiographie (Interdisziplinäre Beiträge zu Mittelalter und Früher Neuzeit 1), Heidelberg 2013, S. 161–182. Siehe dazu (und zu weiteren, ähnlichen, ,kinematischen‘ bzw. ,Kamera‘-gelenkten Phänomenen) Däumer (Anm. 58), bes. S. 241–323 (zur ,Krone‘) und 329–360 (zu Strickers ,Daniel‘).

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Diese mediengeschichtliche Deutung alleine wird die phänomenologische Differenz zwischen ,altem‘ und ,neuem‘ Erzählen kaum alleine erklären können. Zu berücksichtigen wären außerdem generische Konventionen, denn je nach Gattung kann dem szenischen Raum und auch der Verflechtung szenischer Räume zu einer Erzählwelt unterschiedliches Gewicht zukommen (man denke an Jenseitsvisionen oder Itinerare); stoffgeschichtliche Belange, weil es einen Unterschied macht, ob dynamisch auserzählte Räume ererbt sind (wie im Antikenroman, vor allem in den mittelalterlichen Bearbeitungen der ,Aeneis‘⁶⁴), oder ob sie neu entworfen werden; auch und weiter ausgreifend, als es hier möglich war, erzählfunktionale Fragen, die zu überlegen hätten, wie die Raumgestaltung mit anderen Erzählanliegen verschaltet ist (wie hier ansatzweise bei der Anderweltlichkeit im ,Wigalois‘ geschehen). Es ist eine typische Crux literarhistorischer Hermeneutik, dass sie den e i n e n Königsweg sucht und multifaktorielle Erklärungen meidet. Damit entgeht sie dem Dilemma, verschiedene Erklärungsansätze gleichsam miteinander verrechnen zu müssen. Der Preis für diese scheinbare Einfachheit ist, dass sie an der Komplexität literarhistorischer Verhältnisse ziemlich sicher vorbeizielt. Auch diese Multifaktorialität ist im Aufsatzrahmen nur benennbar, sodass die versuchte mediengeschichtliche Deutung lediglich als ein erster Vorstoß begriffen werden kann. Für den Moment immerhin scheint mir aber zu gelten, dass es – unter anderem – auch die Entdeckung eines neuen ,Schriftraums‘ im Verlauf des 13. Jahrhunderts war, der im deutschen volkssprachlichen Erzählen ,Platz‘ machte für narrative Raumexperimente, denen vor dieser Entdeckung kein poetischer ,Ort‘ beschieden war.

64 Dazu u. a. Joachim Hamm, Poetik des Übergangs. Erzählen von der Unterwelt im ,Eneasroman‘ Heinrichs von Veldeke, in: Joachim Hamm und Jörg Robert (Hgg.), Unterwelten. Modelle und Transformationen, Würzburg 2014, S. 99–122.

Katharina Philipowski

Die deiktische Poetik des Präsens, oder: Wie das ,jetzt‘ ein ,hier‘ erschafft Zusammenfassung: Is narrating in the present tense ,narration‘ in the strict sense of the term, or rather something else, such as mere reporting? The scrutiny of previous studies on the present tense and narration demonstrates that this question is a vexed one that constitutes a sore point in narratological theories. Especially the lack of, or difficulty in, distinguishing between histoire and discours in present tense narratives makes the narratological paradoxa obvious. As a test case, two medieval texts are set in contrast: on the one hand, a narrative song by Hadlaub (ca. 1300), and on the other hand a present-tense Minnerede of the 14th century that is completely ,non-narrative‘. The two examples suggest that the binary opposition of current narrative theory does not reflect the realities of medieval narrative practices. Schlagwörter: Abgeschlossenheit, Deixis, Erzählzeit und erzählte Zeit, Fiktionalität, Imagination, Narrativität, Referentialisierung, Referenz, Vortragssituation, Zeitliche Abgeschlossenheit, Zeitlichkeit Tempus ist eine maßgebliche Kategorie von Sprache. Das Verbtempus ordnet jede Äußerung in einen zeitlichen Bezug zu Vorvergangenheit, Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft oder in einen Raum der Zeitlosigkeit, Überzeitlichkeit, Entzeitlichung ein: „Die Funktion von Tempus wird nach der traditionellen Auffassung in der Lokalisierung eines Verbalereignisses in der Zeit gesehen [. . . ].“¹ Doch man kann das Tempus auch anders verwenden, hat es doch, wie Harald Weinrich gezeigt hat, nicht nur – und vielleicht sogar recht wenig – mit Zeit zu tun. Weinrich zufolge weist es Texten „besprechenden oder erzählenden Charakter“² zu: „Wenn wir erzählen, benutzen wir in der Regel die erzählenden Tempora. Ihre Funktion in der Sprache ist es, dem Hörer einer 1 Sonja Zeman, Tempus und „Mündlichkeit“ im Mittelhochdeutschen. Zur Interdependenz grammatischer Perspektivensetzung und „Historischer Mündlichkeit“ im mittelhochdeutschen Tempussystem (Studia Linguistica Germanica 102), Berlin, New York 2010, S. 43. 2 Harald Weinrich, Tempus. Besprochene und erzählte Welt, München 2001 (1 1964), S. 33. Demgegenüber die Bewertung von Zipfel: „Die beiden Formen der Sachverhaltsdarstellung, Erzählen und Beschreiben, unterscheiden sich nicht grundsätzlich, sondern nur insofern, als durch Erzählen Veränderungen und durch Beschreiben statische Strukturen dargestellt werden.“ Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft (Allgemeine Literaturwissenschaft 2), Berlin 2001, S. 300 mit Verweis auf Werner Kallmeyer, Fritz Schütze, Zur Konstitution von Kommunikationsschemata der Sachverhaltsdarstellung, in: Dirk Wegner (Hg.), Gesprächsanalysen. Vorträge, gehalten anläßlich des 5. Kolloquiums des Instituts für Prof. Dr. Katharina Philipowski, Universität Mannheim, Seminar für Deutsche Philologie, Germanistische Mediävistik, D-68131 Mannheim, e-mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110566536-008

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Mitteilung Nachricht davon zu geben, daß diese Mitteilung ,nur‘ eine Erzählung ist, so daß der Hörer mit einer gewissen Gelassenheit zuhören kann.“³ Diese Sprechhaltung⁴ „hat in der Tat nichts mit der Zeit unserer Uhren zu tun, sondern ist eine Einstellung des Sprechers, der den Hörer anweist, in welcher Rezeptionshaltung er den Text aufnehmen soll“⁵ – oder auch umgekehrt: Um zu beschreiben, zu beten, zu verkünden, einen Witz zu machen, zu belehren oder eine performative Handlung zu vollziehen, wird das Präsens verwendet, um zu beichten, zu berichten, zu erzählen, das Präteritum. Tempus und Texttyp gehen über diese konventionelle Verwendung des Präteritums für Erzähltexte und des Präsens für diskursive und lyrische Texte ineinander über, wobei die Abhängigkeiten zwischen beiden uneindeutig sind: Ist es das Präteritum, das einen Text zu einem eher narrativen, und das Präsens, das einen Text zu einem tendenziell diskursiven oder lyrischen macht? Oder wird umgekehrt das Tempus entsprechend der Aussageabsicht gewählt? In jedem Fall lässt sich aufgrund dieser Entsprechung zwischen Tempus und Textfunktion das Tempus auch gattungstypologisch fruchtbar machen und ist aus diesem Grunde auch oft Bestandteil von Gattungsmerkmalen: Gebet, Epos, Tagelied, Chronik, geistliches Spiel, Märe, Predigt, Sangspruch, Pilgerbericht, Didaxe, Ballade und Tugendlehre weisen – aus gutem Grund! – konventionell das eine oder das andere Tempus auf. Wo es notorisch schwankt wie im Falle der Gattung Minnerede, die narrative Formen im Präteritum ebenso wie diskursive im Präsens umfassen kann, wirft diese Offenheit schnell Zweifel an der Gattungshaftigkeit auf den Plan.⁶ Was sich zeigt, ist eine Übergängigkeit zwischen den Kategorien ,Präteritum und Präsens‘ und ,Narrativität und Diskursivität‘. Wer sich mit dem Tempus Präteritum auseinandersetzt, spricht eigentlich über das Erzählen – wer den (durchgängigen) Gebrauch des Präsens

Kommunikationsforschung und Phonetik, Bonn 14.–16. Oktober 1976, Hamburg 1977, S. 159–274, hier S. 201. 3 Weinrich (Anm. 2), S. 51. 4 Denn: „In Äußerungen dieser Art [Tempus-Gruppe der besprochenen Welt] ist der Sprecher gespannt und seine Rede geschärft, weil es für ihn um Dinge geht, die ihn unmittelbar betreffen und die daher auch der Hörer im Modus der Betroffenheit aufnehmen soll. Sprecher und Hörer sind engagiert; sie haben zu agieren und zu reagieren, und die Rede ist ein Stück Handlung [. . . ].“ Weinrich (Anm. 2), S. 50. 5 Weinrich (Anm. 2), S. 14. 6 Wolfgang Achnitz, Kurz rede von guoten minnen / diu guotet guoten sinnen. Zur Binnendifferenzierung der sogenannten ,Minnereden‘, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 12 (2000), S. 137– 149; Sonja Glauch, Zu Ort und Funktion des Narrativen in den Minnereden. Eine Skizze, in: IuliaEmilia Dorobanţu, Jacob Klingner, Ludger Lieb (Hgg.), Zwischen Anthropologie und Philologie: Beiträge zur Zukunft der Minneredenforschung, Heidelberg 2014, S. 53–69; Wolfgang Achnitz, Was ist keine Minnerede? Versuch einer Gattungsdefinition durch Exklusion, in: Zwischen Anthropologie und Philologie, S. 31–50. Vgl. auch: Hans-Joachim Ziegeler, Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen (MTU 87), München 1985, vor allem Erster Teil, Kapitel II: Ich-Rede und Ich-Erzählung im Bereich der Minnereden, S. 57–74.

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verstehen will, hat (zumindest als Mediävist⁷) vor allem mit diskursiven oder lyrischen Texten zu tun. Erzählt wird zumeist (und in der mittelhochdeutschen Literatur nahezu ausschließlich) im Präteritum, umgekehrt wird das Präteritum zum ganz überwiegenden Teil für narrative Texte verwendet. Diskursive Texte, also solche, die lehren, unterweisen, Wissen vermitteln, sind im Präsens abgefasst.

1 Kann man im Präsens erzählen? Allerdings zeigt sich bereits hier die Schwierigkeit, das Erzählen im Präsens begrifflich zu fassen. Mit Erzählen im Präsens ist hier und im Folgenden, wenn nicht anders bestimmt, jener Gebrauch gemeint, den Sonja Zeman in ihrem Forschungsbeitrag zum Historischen Präsens als H3 bezeichnet hat, nämlich die „durchgängige Verwendung des Präsens als Erzähltempus.“⁸ Was ist problematisch am Präsens als Erzähltempus? Neben der Bestimmung Weinrichs, dass dem Erzählen eine Haltung eigen sei, die

7 Ob und wie im Präsens erzählt werden kann, wird derzeit lebhaft in der Neugermanistik diskutiert. Mir scheint sich ein Konsens dahingehend abzuzeichnen, dass das Präsens als Erzähltempus in zunehmendem Maße akzeptiert wird. Vgl. dazu beispielsweise Avanessian und Hennig: „Die Frage nach dem Tempus Präsens ist dafür [für eine systematische Erweiterung zeitnarratologischer Fragestellungen um eine fiktionstheoretische Komponente] nicht eine unter anderen und bezieht sich zudem nicht nur auf Eigenschaften des Präsens als solches. Entscheidend ist vielmehr die Entdeckung des Präsens als ein zweites vollgültiges Erzähltempus. Damit ist nicht in erster Linie eine Abweichung von traditionellem Erzählen im Präteritum angesprochen, sondern die Einsicht in eine grundsätzlich zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem changierende Bipolarität aller erzählten Fiktion. Ein Nachdenken über die Tempora literarischen Erzählens fordert eine Neubestimmung von ,Erzählfiktion‘ oder ,fiktionalem Erzählen‘. Erst mit einem selbstverständlichen Erzählen im Präsens, erst mit der Etablierung des vollgültigen Phänomens eines Präsensromans werden ,Erzählen‘ und ,Fiktion‘ als ebenso untrennbare wie jeweils verschieden gewichtete Pole verstehbar.“ Armen Avanessian, Heike Hennig, Tempus – Fiktion – Narration. Kevin Vennemanns Erzählen im Präsens, in: Antonius Weixler, Lukas Werner (Hgg.), Zeiten erzählen. Ansätze – Aspekte – Analysen (Narratologia 48), Berlin, Boston 2015, S. 319–342, hier S. 319. Vgl. auch John R. Frey, The Historical Present in Narrative Literature, particularly in Modern German Fiction, in: Journal of English and Germanic Philology 45,1 (1946), S. 43–67 und Kazunari Miyahara, Why Now, Why Then? Present-Tense-Narration in Contemporary British and Commonwealth Novels, in: Journal of Narrative Theory 39,2 (Summer 2009), S. 241–268 und Armen Avanessian, Heike Hennig: Die Evolution des Präsens als Romantempus, in: Der Präsensroman (Narratologia 36), Berlin, Boston 2013, S. 139–180 und Suzanne Fleischman, Metalinguistische Funktionen. Erzählen im PRÄSENS, in: Der Präsensroman, S. 101–124. Gründe für den Gebrauch des Präsens für moderne Erzähltexte nennt Monika Fludernik, Tempus und Zeitbewusstsein. Erzähltheoretische Überlegungen zur englischen Literatur, in: Martin Middeke (Hg.), Zeit und Roman. Zeiterfahrung im historischen Wandel und ästhetischer Paradigmenwechsel vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Postmoderne, Würzburg 2002, S. 21–32, hier S. 26. 8 Sonja Zeman, Vergangenheit als Gegenwart? Zur Diachronie des Historischen Präsens, in: Petra Maria Vogel (Hg.), Sprachwandel und seine Reflexe im Neuhochdeutschen (Jahrbuch der Gesellschaft für Germanistische Sprachgeschichte 4), Berlin, Boston, S. 236–256, hier S. 242.

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durch das Präteritum dem Hörer vermittelt werde, setzen viele Erzähldefinitionen eine Differenzierung in histoire und discours und damit eine diegetische Struktur voraus. Wenn aber maßgeblich für die Zuordnung zum Erzählen allein das Vorliegen der elementaren Struktur der ,Narrativität‘ (des ,Erzählerischen‘) [ist]; deren Grundkomponenten, ein Erzählsubjekt (–> Erzähler) und das von ihm Erzählte (Geschichte bzw. histoire, –> Plot), sind strukturell durch den Akt des Erzählens und seine formalen und stilistischen Komponenten miteinander verbunden, wobei das Erzählte aufzufassen ist als eine zeitlich organisierte Handlungssequenz [. . . ],⁹

dann kann das Erzählen im Präsens in diesem Sinne kaum als Erzählen gelten, wird hier doch nicht ein zeitlich abgeschlossenes Geschehen nachträglich, sondern ein simultan ablaufendes Geschehen ,erzählt‘, beziehungsweise mitgeteilt, beschrieben oder beredet. Anders formuliert: Wenn es für Narrativität konstitutiv ist, jene zwei Zeitebenen auszubilden, die auch als die der Erzählung und die des Erzählers bezeichnet werden können, dann fehlt eine solche zeitliche Differenzierung dem Erzählen im Präsens: All narrative is intrinsically structured with two time frames: the time of the telling of the story and the time during which the events of the story took place. We will refer to these respectively as ,speech-event time‘ and ,narrated-event time.‘ Each of these time frames has a set of tense functions typically associated with it: primary sequence tenses (present, perfect, future) with speech-event time, secondary sequence tenses (imperfect, preterit, anterior tenses of the past, future-of-the-past – the so-called conditional [. . . ]) with diegetic time [. . . ].¹⁰

In der Forschung ist deshalb umstritten, ob und inwiefern Texte im Präsens narrativ sein können. Skeptisch äußert sich z. B. Fleischman, für die Präsenserzählungen „something other than narration“ sind,¹¹ weil das Erzählen im Präsens „ein gewisses Maß an Dechronologisierung und eine Reduktion spezifisch narrativer Elemente“¹² aufweise. Dass sich Teile der Narratologie dieser Auffassung jedoch nicht anschließen, liegt an den unterschiedlichen Definitionen von Narrativität. Martínez und Scheffel beispielsweise schreiben in ihrer Einführung: Berücksichtigt man, dass Erzählen immer ein ,Erzählen von etwas‘ bedeutet, ,das nicht selbst Erzählung ist‘ (Müller, Poetik, S. 250), und dass die ,Mittelbarkeit‘ als das Gattungsmerkmal der

9 Manfred Schmeling, Kerst Walstra, Erzählung1 , in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, S. 517–519, hier S. 517. 10 Suzanne Fleischman, Evaluation in Narrative: The Present Tense in Medieval ,Performed Stories‘, in: Yale French Studies 70 (1986), S. 199–251, hier S. 211. 11 Suzanne Fleischman, Tense and Narrativity. From Medieval Performance to Modern Fiction, Austin 1990, S. 306. 12 Fleischman (Anm. 7), S. 122.

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Erzählung betrachtet werden kann (Stanzel, Theorie, bes. S. 15–38), so sind wir im Fall einer Erzählung per definitionem mit zwei grundsätzlich verschiedenen Zeitvorgängen konfrontiert.¹³

Ausgehend von einer solchen Definition wäre das Präsens kaum als mögliches Erzähltempus zu bezeichnen. Scheffel legt demgegenüber in einem kurzen Artikel zu ,Erzählen‘ eine sehr viel offenere Definition vor, in die sich auch das Erzählen im Präsens problemlos integrieren ließe: „E. meint Darstellen einer nicht-zufälligen Ereignisfolge, oft durch eine Vermittlungsinstanz, den Erzähler.“¹⁴ Damit ist – unabhängig von Tempus und der Frage einer generellen Mittelbarkeit des Erzählens – der Fokus eher auf die Darstellung einer Ereignisfolge als auf die Herausbildung spezifischer Textstrukturen gerichtet. Nur im Sinne einer solchen offeneren Definition lässt sich von einem Erzählen im Präsens sprechen. Dieses lässt sich also unter Berücksichtigung beider Aspekte, dem der Ereignisfolge und dem der zeitlichen Differenzierung (also Mittelbarkeit allen Erzählens), bestimmen als ein Darstellen einer Ereignisfolge durch eine Vermittlungsinstanz, das jedoch aufgrund seines Tempus auf Mittelbarkeit, also die Herausbildung einer diegetischen Struktur, verzichtet. Ein solches Erzählen im Präsens bleibt im Mittelhochdeutschen eine Ausnahme. Als H3 im Sinne Zemans kommt es in einigen wenigen Liedern vor, neben der ,Serena‘ von Johannes Hadlaub etwa in Hugos von Montfort ,Ich fröw mich gen des abentz kunft‘¹⁵ oder im ,Kchühorn‘ des Mönchs von Salzburg.¹⁶ Welche Relevanz kommt dann aber einer Sensibilisierung für den Zusammenhang zwischen Tempus und Texttypus – narrativ oder diskursiv – zu? Wenn es, wie weiter oben festgestellt, so ist, dass das Tempus (vor allem in Form von Präteritum und Präsens) für die Systematik der Gattungen und Textsorten eine entscheidende Rolle spielt, dann könnte auch die Diskussion um Übergänge und Interferenzen zwischen ihnen,¹⁷ die sich in den letzten Jahren innerhalb der Altgermanistik als überaus fruchtbar und anschlussfähig erwiesen hat, den Aspekt des Tempus noch deutlich stärker berücksichtigen, als das bisher geschehen ist. Angelegt ist die Erweiterung beziehungsweise die Ergänzung der Kategorien Narrativität/Diskursivität um die Kategorien Präteritum/Präsens bereits in der Minnesang-

13 Matías Martínez, Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 9 2012, S. 32, Hervorhebungen im Original mit Hinweisen auf Günther Müller, Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1968 und Franz K. Stanzel, Theorie des Erzählens, Göttingen 8 2008. 14 Michael Scheffel, Erzählen, in: Gerhard Lauer, Christine Ruhrberg (Hgg.), Lexikon Literaturwissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2011, S. 84–87, hier S. 84. 15 Tagelieder des deutschen Mittelalters. Ausgewählt, übers. und komm. v. Martina Backes, Einleitung v. Alois Wolf, Stuttgart 2003, S. 188. Ansonsten wird in Erzähltexten im Präteritum punktuell das Präsens oder auch das Perfekt genutzt – in welcher Weise und wozu, kann hier nicht behandelt werden. 16 Christoph März, Die weltlichen Lieder des Mönchs von Salzburg. Texte und Melodien (MTU 114), Tübingen 1999, S. 182–184. 17 Hartmut Bleumer, Caroline Emmelius (Hgg.), Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur (Trends in Medieval Philology 16), Berlin, New York 2011.

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forschung, die sich mit dem Zusammenspiel von Narrativik und Lyrik seit geraumer Zeit auseinandersetzt. Um nur ein Beispiel heraus zu greifen: Albrecht Hausmann unterscheidet zwei literarische Formen innerhalb des Minnesangs, die er als ,narrative‘ und ,lyrische Option‘ bezeichnet: Bei Reinmar [wird] ein Modus der Vergegenwärtigung gewählt, den man als lyrisch bezeichnen kann: Hier spricht ein Ich [. . . ] so von sich und seinem Zustand, als wäre dieser hier und jetzt, im Moment der Rezeption, präsent. Es scheint also im Minnesang zwei grundlegend unterschiedliche Möglichkeiten des Sprechens zu geben: Eine narrative Option, mit der Geschehen, das aus der Perspektive der Aufführungssituation logisch in der Vergangenheit liegt, präsentiert werden kann, und eine lyrische Option, in deren Rahmen der Inhalt des Gesagten im Moment der Aufführung gegenwärtig erscheint.¹⁸

Ausgehend von dieser Begriffsbildung entwickelt Hausmann die These, dass sich „eine ,Geschichte‘ des Minnesangs schreiben [ließe], die von der Alternative zwischen lyrischer und narrativer Option ausgeht [. . . ].“¹⁹ Sehr stark reduziert, läuft seine Beobachtung darauf hinaus, dass im frühen Minnesang „das Programm der gegenseitigen, von der huote verhinderten Minne eine narrative Sprechweise und die Spaltung zwischen interner und externer Situation“²⁰ bedinge. Der Hohe Minnesang steht dazu in einem diskursiven Verhältnis und nimmt eine Verschmelzung von interner Situation und Aufführungssituation vor. In dieser Verschmelzung zielt die Bedeutung der lyrischen Aussage ganz auf die gegenwärtige Situation. Dabei kommt allerdings dem Hohen Minnesang die Dame ,abhanden‘: Es ereignet sich das, was Hausmann den Verlust der Dame nennt: Der Minnesang kreist nur noch um die Selbstreflexion des Werbenden, das Ziel seiner Werbung rückt in den Hintergrund. Die Minnesangautoren realisieren diesen Verlust und reagieren auf ihn, indem sie der ,verlorenen‘ und eigentlich im Rahmen der lyrischen Option nicht zu vergegenwärtigenden, abwesenden Dame durch Frauenrede Raum innerhalb des Liedes verschaffen oder sie in ihrer Reflexion virtuell visualisieren. Schließlich entscheiden die Autoren sich dafür, entweder die narrative oder die lyrische Option zu realisieren, also von der Dame entweder nur zu erzählen oder ihre Abwesenheit im reinen Klangspiel zu ästhetisieren.²¹ Bei aller Eleganz und Plausibilität dieser Argumentation überrascht es doch, dass sie eine Dimension ausklammert, die für die benannten Sachverhalte maßgeblich ist: das Tempus. Denn die lyrische Option verdankt ihren von Hausmann beschriebenen Effekt dem Präsens,²² genauer: seiner deiktischen Qualität. Elisabeth Leiss bestimmt das Präsens als 18 Albrecht Hausmann, Verlust und Wiedergewinnung der Dame. Zur inhaltlichen Funktion von Narrativierung und Entnarrativierung im Minnesang, in: Lyrische Narrationen (Anm 17), S. 157–180, hier S. 157 f. 19 Hausmann (Anm. 18), S. 180. 20 Hausmann (Anm. 18), S. 180. 21 Hausmann (Anm. 18), S. 180. 22 Die folgenden Aussagen beziehen sich auf das „Präsens der additiven, teilbaren, nichtholistischen Verben. Hier sind Aktzeit und Sprechzeit identisch. Da nonadditive Verben nichtbegrenzte Verbalsi-

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ein Synonym für das anthropozentrische Zeigfeld. [. . . ] Das Präsens als kognitive und sprachliche Kategorie ist kein Punkt auf einer Zeitlinie. Eine angemessenere Darstellung des kognitiven Äquivalents der Präsenskategorie erreicht man mit dem Bild des Zeitraums. Sprecher, Betrachter und Verbalsituation sind in demselben Raum lokalisiert. Der Zeitraum ist die Umwelt des Sprechenden [. . . ].²³

Dem Präsens fehlt also nicht „die ,zeitliche Lagerung‘, sondern die zeitliche Verlagerung eines Ereignisses.“²⁴ Dies ist ein wichtiges Merkmal des Präsens in der Rede eines Sprechers: Es begrenzt den Radius der Aussage auf die Zeit der konkreten Situation, die präsentische Aussage bezieht sich auf ein konkretes ,jetzt‘. Dieses aber hat auch räumliche Qualität, weil jeder, der an diesem ,Jetzt‘ partizipiert, es immer in einer auch räumlichen Situiertheit tut: „Das Prätempus Präsens wirkt nur lokalisierend, wohingegen die eigentliche Leistung der ,absoluten Tempora‘ Präteritum und Futur in einer Translokation zu suchen ist. Sie befähigen einen Sprecher zum Verlassen seines Standpunktes [. . . ].“²⁵ Auf die Beobachtungen Hausmanns bezogen lässt sich erkennen, dass der Verlust der Dame maßgeblich durch das Präsens der lyrischen Aussage herbeigeführt wird: Dieses etabliert einen Zeitraum, der die Aussage- oder Aufführungssituation umfasst und ausschließt, was nicht im Zeigfeld der Aussage anwesend ist. Dass die Dame in der Zustandsbeschreibung des Sängers keinen Raum hat, ist also darauf zurückzuführen, dass der Sänger spricht, also den Geltungsbereich seiner Aussage auf das mit seinem Publikum geteilte ,hier‘ und ,jetzt‘ absteckt und nicht erzählt – das sagt Hausmann selbst und beschreibt damit implizit die Logik der Tempora: Was mit dem Konzept der Hohen Minne erodiert, ist die Beziehungsfähigkeit von Minne, ist das Du. Und diesem Effekt seiner ureigensten Konzeption kann der Hohe Minnesang auch kaum etwas entgegensetzen, eben weil er das Du, zumindest einmal zunächst, nicht narrativ in die Texte hereinholen kann: Aufgrund der inszenierten Simultanität von ,ich singe‘ und ,ich minne‘ kann im Hohen Minnesang die liebende Frau nicht in Frauenstrophen präsentiert werden. Das nämlich würde diese Simultanität zerstören.²⁶

Würde der Aspekt des Tempus an dieser Stelle stärker berücksichtigt werden, ließe sich genau umgekehrt argumentieren: Nicht weil die Simultanität zerstört würde, kann die

tuationen darstellen, ist diese Identität nicht punktuell zu verstehen. Es handelt sich nicht um zwei Zeitpunkte, sondern um einen homogenen Zeitraum, in dem sich sowohl der Standpunkt des Betrachters als auch der Ort der Verbalsituation befinden. Bei den nonadditiven perfektiven und terminativen Verben besteht diese Übereinstimmung von Betrachtzeit und Aktzeit nicht.“ Elisabeth Leiss, Die Verbalkategorien des Deutschen. Ein Beitrag zur Theorie der sprachlichen Kategorisierung (Studia Linguistica Germanica 31), Berlin, New York 1992, S. 228. 23 Leiss (Anm. 22), S. 269. „Das Präsens ist eigentlich ein Synonym für das anthropozentrische Zeigfeld“ (ebd., S. 244). 24 Leiss (Anm. 22), S. 246. 25 Armen Avanessian, Anke Hennig, Präsens. Poetik eines Tempus, Zürich 2012, S. 137. 26 Hausmann (Anm. 18), S. 166 f.

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Dame nicht in die Reflexion des Sängers eintreten, sondern die Simultanität des Präsens von ,ich singe‘ und ,ich minne‘ – nämlich jetzt! – schließt aus der Vortragssituation aus, was nicht ,hier‘ ist. Der Sänger kann zwar über die Dame sprechen, sie damit aber nur beschreiben oder als Anwesende ansprechen. Präsenz im Sinne eigener Stimmlichkeit könnte die Dame nur im Rahmen von Erzählung oder von Rollenrede erlangen. Was an diesem Beispiel deutlich werden sollte, ist Folgendes: Die Tempora lokalisieren ein Verbalereignis in der Zeit, doch sie bewirken noch sehr viel mehr als das. Sie besitzen eine je eigene Form der Deixis und Referenz²⁷ und sagen nicht (nur) aus, ob ein Ereignis in der Vergangenheit liegt oder in der Gegenwart stattfindet,²⁸ sondern auch, in welches Verhältnis ein Rezipient zu diesem eintreten kann und soll. Gegenstand der folgenden Analysen ist die Frage, welche Deixis das Präsens vornehmen und wie es im Mittelhochdeutschen in literarischen Texten eingesetzt werden kann.²⁹ Dabei ist zu unterscheiden zwischen Präsenstexten, die eine Geschehensfolge schildern – also einigen Erzähldefinitionen zufolge ,erzählen‘ – und Präsenstexten, die diskursiv, also im eigentlichen Sinne Reden sind. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Interdependenzen und dem Zusammenspiel zwischen Tempus, Sprechhaltung und Fiktionalität. Die zentrale These ist, dass das Präsens die Ausbildung einer Diegese unterbindet und dieser Sachverhalt von Autoren genutzt wird, um Präsenzeffekte zu erzeugen: Denn dem Präsens ist eine zeitliche und räumliche ,Gegenwartsbehauptung‘ eigen, die in literarischen Texten zu einer Gegenwartssuggestion werden kann, welche zur Gegenwartsimagination einlädt: Das im Präsens Erzählte präsentiert sich als ,jetzt‘ stattfindend, also als ,da‘, und die Auseinandersetzung mit der Frage, in welcher Weise, ist den Rezipienten aufgegeben. Mit der Gegenwartssuggestion, die das Präsens vornimmt, sind auch Fragen danach verbunden, ob und wie Texte im Präsens fiktional sein können beziehungsweise, welche Geltung eine Präsenserzählung beansprucht. Diese Fragen werde ich nicht abschließend beantworten, sondern nur anreißen können. Das Tempus hat nicht nur weitreichende Auswirkungen auf die Bildung, Ordnung und Klassifikation von Textsorten und Gattungen (und mutmaßlich auch für die Über-

27 Zur Deixis der Tempora im Gegenwartsdeutschen vgl. Veronika Ehrlich, Heinz Vater (Hgg.), Temporalsemantik. Beiträge zur Linguistik der Zeitreferenz (Linguistische Arbeiten 201), Berlin, Boston 2012. 28 In der Sprachwissenschaft kann diese Funktion der Tempora sogar regelrecht bestritten werden: „Das System der ,Tempora‘ dient nicht dazu, die zeitliche Beziehung zwischen dem mitgeteilten Sachverhalt und der Sprechsituation zu kennzeichnen, wie es die Handbücher wollen – zu oft muß diese Beziehung schon bekannt sein, damit die Tempusform richtig interpretiert werden kann, zu oft auch bildet nicht die Sprechsituation den Bezugspunkt. Die Grundkomponenten und ihre paradigmatischen und syntagmatischen Verbindungen gestatten vielfältige Inbeziehungsetzungen zwischen Sachverhalten, Zeitpunkten, Belangen und Sprechenden.“ Anna Fuchs, Dimensionen der Deixis im System der deutschen ,Tempora‘, in: Temporalsemantik (Anm. 27), S. 1–25, hier S. 18. 29 Ich knüpfe dabei punktuell an Überlegungen an, die ich bereits angestellt habe in: Hadlaubs Serena oder wie das Präsens-Erzählen Präsenz herstellt, in: Annette Gerok-Reiter, Anna Sara Lahr, Simone Leidinger (Hgg.), Raum und Zeit im Minnesang, im Druck.

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gänge und Übergangsformen zwischen ihnen), sondern es kann, wie eingangs bereits deutlich geworden ist, spezifische ,nicht-grammatikalische‘ Funktion annehmen.³⁰ Käte Hamburger hat als eine der ersten zu zeigen versucht, wie das Präteritum als episches im Falle der heterodiegetischen Erzählung seine Funktion abstreift, Vergangenheit zu bezeichnen, und stattdessen die fiktionsanzeigende Zeitlosigkeit eines fiktionalen Erzählers erschafft:³¹ „Die These, die in der folgenden Untersuchung aufgestellt und zu beweisen versucht wird, ist in gewisser Weise paradoxalen Charakters. Sie lautet dahin, daß das Präteritum der epischen oder erzählenden Dichtung keine Vergangenheitsaussage bedeutet.“³² Auch in Teilen der neueren Narratologie wird das Fehlen zeitlicher Deixis in Erzählungen auf die Fiktionalität zurückgeführt: „To the extent that a narrative is a fiction, it is not deictically anchored in the here and now of the author and the reader, and as a result its temporal deixis becomes unmoored from real life.“³³ Entsprechende Bestimmungen des Erzählpräsens sind jedoch in den letzten Jahren teilweise auch für den Präsensroman, der die Erzählliteratur seit den 1930er Jahren stark beeinflusst, vorgenommen worden.³⁴ Auch hier „the present [. . . ] clearly does not refer to the reader’s present of reception but relates to the same virtual moment of time unanchored in the here and now that already characterized the epic preterite.“³⁵ Das Tempus hängt also eng mit Deixis zusammen und diese ihrerseits mit dem Aspekt von Fiktionalität. Eine etwas anders gelagerte Frage als die nach den Auswirkungen von Fiktionalität auf das Tempus ist die nach den Auswirkungen von Tempus auf Fiktionalität:

30 Zu dieser Schnittmenge zwischen grammatikalischer und nicht-grammatikalischer Funktion von Tempus vgl. auch den Forschungsbeitrag von Stierle: „Sprache artikuliert sich im Medium der Zeit als symbolischem Medium der Außerzeitlichkeit, aber zugleich ist sie selbst Medium für die Artikulation von Zeit. Sprache ordnet Vergangenheit, entwirft Zukunft, führt Vergangenheit und Zukunft zusammen in der Disposition der Gegenwart. Sprache reflektiert sich selbst in einem zeitenthobenen Raum des reinen Konzepts, und sie entwirft imaginäre Äquivalente ihres Zeitbezugs. Wie auch immer sie die Zeit in ihren Manifestationen als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zur Darstellung bringt, es ist immer eine syntaktisch ,gekörnte‘ Zeit, die unter dem Gesetz der Gleichzeitigkeit von Subjekt, Prädikat und Objekt steht.“ Karlheinz Stierle, Zeit und Syntax. Eine medientheoretische Perspektive, in: Andreas Kablitz u. a. (Hgg.), Zeit und Text, München 2003, S. 71–88, hier S. 77. 31 Käte Hamburger, Die Logik der Dichtung, 2. Aufl. München 1987. Einen Versuch, Hamburgers zentrale Thesen aus der Perspektive der modernen Narratologie zu würdigen, hat Michael Scheffel vorgelegt in: Käte Hamburgers Logik der Dichtung – ein ,Grundbuch‘ der Fiktionalitäts- und Erzähltheorie? Versuch einer Re-Lektüre, in: Johanna Bossinade (Hg.), Käte Hamburger – Zur Aktualität einer Klassikerin, Göttingen 2003, S. 140–155. 32 Käte Hamburger, Das epische Präteritum, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 27 (1953), S. 329–357, hier S. 329. 33 Monika Fludernik, Narratology and Literary Linguistics, in: Robert I. Binnick (Hg.), The Handbook of Tense and Aspect, Oxford 2012, S. 75–101, hier S. 84. 34 Armen Avanessian, Heike Hennig, Tempus – Fiktion – Narration (Anm. 7) und Der Präsensroman (Anm. 7). 35 Fludernik (Anm. 33), S. 83.

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Fiktionalität wird in aller Regel am Beispiel von und in Hinsicht auf Texte untersucht und diskutiert, die im Präteritum abgefasst sind. Das dürfte damit zusammenhängen, dass Fiktionalität zumeist am Gegenstand narrativer Texte diskutiert wird, und diese sind bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in aller Regel im Präteritum abgefasst, wenn auch – wie oben geschrieben – seit den 30er Jahren die Zahl der Präsensromane stets zunimmt. Deutlich ist, dass Fiktionalität und Narrativität in der Erzählforschung als regelrecht ineinander übergehende Kategorien verstanden oder gebraucht werden – wer erzählt, nutzt Formen der Fiktionalisierung im Sinne sprachlicher Ausgestaltung, und umgekehrt scheint (oft stillschweigend) vorausgesetzt zu werden, dass ein fiktionaler Text notwendigerweise ein narrativer sein müsse: However, as noted above, White (1973, 1978, 1981) has encouraged not just a slippage but a conflation of narrativity, fictionality, and history. Historical narratives are ,verbal fictions the contents of which are as much invented as found and the forms of which have more in common with their counterparts in literature than they have with those in science‘ (1978: 82).³⁶

Damit ergibt sich jedoch die Frage nach der generellen Beziehung zwischen Tempus und Fiktionalität:³⁷ Können auch nicht-narrative, diskursive, lyrische Texte im Präsens fiktional sein? Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die zurückhaltende Einschätzung Glauchs zur Fiktionalität mittelhochdeutscher Lyrik: „Obwohl auch nicht-erzählende Texte möglicherweise als fiktional gelten können (nicht nur anhand der Lyrik ist die Frage erörtert worden), sind hier die Kriterien des Wirklichkeitsbezugs unklarer.“³⁸ Diese Zurückhaltung ist symptomatisch, insofern sie darauf hindeutet, dass bei der Untersuchung des Zusammenhangs von Fiktionalität, Tempus und Narrati-

36 H. Porter Abbott, Narrativity, in: Peter Hühn u. a. (Hgg.), Handbook of Narratology. 2nd Edition revised and expanded (De Gruyter Handbook), Berlin, Boston 2014, S. 587–607, hier S. 600. Vgl. dort auch den Artikel von Jean-Marie Schaeffer zu Fictional vs. Factual Narration (Anm. 40), besonders S. 180f.: „The relationship between narratology [. . . ] and theory of fiction long remained non-existent, in part because classical narratology rarely addressed the question of the fact/fiction difference. The theory was intended to be valid for all narratives, although in reality the classical narratologists drew only on fictional texts.“ 37 Zur umgekehrten Frage nach der Fiktionalität nicht-narrativer Texte vgl. weiter unten. 38 Sonja Glauch, Fiktionalität im Mittelalter; revisited, in: Poetica 46 (2014), Heft 1–2, S. 85–139, hier S. 98 f. mit Hinweis auf Aufsätze von Klaus Grubmüller, Was bedeutet Fiktionalität im Minnesang? in: Ursula Peters und Rainer Warning (Hgg.), Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Jan-Dirk Müller zum Geburtstag, München 2009, S. 269–287 und Timo Reuvekamp-Felber, Zur gegenwärtigen Situation mediävistischer Fiktionalitätsforschung. Eine kritische Bestandsaufnahme, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 132 (2013), S. 417–444. Vgl. auch: „Es ist generell eine Preisfrage der aktuellen narratologischen Diskussion, in welcher Form ,Erzählen‘ und ,Fiktion‘ voneinander abund miteinander zusammenhängen.“ Sonja Glauch, Ich-Erzähler ohne Stimme. Zur Andersartigkeit mittelalterlichen Erzählens zwischen Narratologie und Mediengeschichte, in: Harald Haferland, Matthias Meyer (Hgg.), Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven (Trends in Medieval Philology 19), Berlin, New York 2010, S. 149–185, hier S. 154.

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vität noch viele offene Fragen bestehen: Die Altgermanistik hat diesen Zusammenhang vor allem im Bereich der Minnesangforschung behandelt und die Möglichkeit von Fiktionalität vorrangig in Bezug auf die Frage diskutiert, ob und in welcher Form die Aussagen eines Liedes dem Vortragenden zugerechnet werden (können), also hinsichtlich der Möglichkeiten der „Identifizierung des Sängers mit dem Aussage-Ich.“³⁹ Die Minnelieder wurden so stets unter der Maßgabe ihrer Situativität betrachtet, kaum je als schriftliterarische Texte im Präsens. Allerdings könnte die komplizierte Frage nach der Fiktionalität von Minneliedern auch damit zusammenhängen, dass diese – von Erzählliedern einmal abgesehen – im Präsens gehalten sind und folglich auch andere Formen der Deixis aufweisen als Erzähltexte im Präteritum. Die große Fülle von Narrativitätsdefinitionen, die u. a. Abbott in seinem Artikel zu Narrativität erfasst und die mindestens ebenso umfangreiche Zahl von Fiktionalitätsdefinitionen, die Jean-Marie Schaeffer in seinem Artikel zu fiktionalem und faktualem Erzähler erwähnt,⁴⁰ machen jedoch wenig Hoffnung darauf, die Interdependenz von Fiktionalität und Narrativität (und Deixis) in absehbarer Zeit konsensfähig bestimmen und damit eine Antwort auf die Frage geben zu können, ob auch diskursive Texte fiktional sein können. Unbestritten ist aber, dass Narrativität ihrerseits auf Zeitlichkeit basiert:⁴¹ Texttypologische Überlegungen, die Zeit als Charakteristikum von Narrativität ins Zentrum stellen, finden sich in der russischen Kompositionstheorie der 1920er Jahre ebenso wie in neueren Theorieentwürfen der kognitiven Narratologie. ,Diegetische Zeit‘ (Etienne Souriau) – also die Zeit der erzählten Welt, die Günther Müller ,erzählte Zeit‘ nennt – ist grundlegend für die Konzeption von Narrativität.⁴²

Zeit oder Zeitlichkeit meint hier im eigentlichen Sinne Chronologie, also eine spezifische zeitliche Ordnung: „In discussions about sequentiality and eventfulness, time, along with causality, is considered by some theoreticians to be a necessary condition for narrativity [. . . ]. The temporal dimension is thus used to differentiate between narrative and nonnarrative types of text.“⁴³ Ohne Chronologie, ohne zeitliche Ordnung

39 Klaus Grubmüller, Ich als Rolle. ,Subjektivität‘ als höfische Kategorie im Minnesang?, in: Gert Kaiser, Jan-Dirk Müller (Hgg.), Höfische Literatur – Hofgesellschaft – Höfische Lebensformen um 1200, Düsseldorf 1986, S. 387–408 und Grubmüller (Anm. 38), S. 287. 40 Jean-Marie Schaeffer, Fictional vs. Factual Narration, in: Handbook of Narratology (Anm. 36), S. 179–196. 41 „Im Darstellungsschema der Narrativität [. . . ] wird ein Zusammenhang von Geschehen und Handlung in eine nach Relevanzgesichtspunkten geordnete und unter einer temporalen Anschauungsform stehende Geschichte überführt.“ Karlheinz Stierle, Art. Narrativ, Narrativität, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 6 (1984), Sp. 398. 42 Lukas Werner, Zeit, in: Matías Martínez (Hg.), Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart, Weimar 2011, S. 150–158, hier S. 150. 43 Michael Scheffel, Antonius Weixler und Lukas Werner, Time, in: Handbook of Narratology (Anm. 36), S. 868–886, hier S. 869.

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keine Narrativität.⁴⁴ Umgekehrt kann gerade die Zeitlosigkeit, das Fehlen einer konkreten zeitlichen Situierung von Aussagen (beispielsweise lyrischer Texte) als Ursache dafür verstanden werden, dass diese keine Narrativität aufweisen: „One of the reasons why poetry is not usually regarded as a narrative genre is precisely its preference for atemporal scenarios that describe universal, recurrent, or timeless situations, or moments of time that are not anchored in a specific chronology or a specific point on a calendar.“⁴⁵ Ist aber Chronologie – also die Ordnung von Ereignissen innerhalb der Zeit – die Voraussetzung für Narrativität, oder erschafft umgekehrt jede Form von Chronologie bereits eine narrative Struktur? Letzteres legen aktuelle Überlegungen zur kulturellen beziehungsweise kognitiven Funktion von Narrativität nahe. Erzählen wird hier als Ergebnis von Ordnungsstiftung verstanden, das die Welt überhaupt erst erfahrbar mache.⁴⁶ Jede Form der sinnhaften Ordnung wäre so immer schon Narrativierung,⁴⁷ und diese wiederum ist in ihrer „Mittlerrolle [. . . ] an der Stabilisierung der gesellschaftlichen Zeichenordnung beteiligt.“⁴⁸ In der intensiven und interdisziplinären Auseinandersetzung mit Narrativität als mentaler und kultureller Leistung, die in den vergangenen Jahren stattgefunden hat, haben Präsenserzählungen allerdings den Status von Stiefkindern, weshalb die Frage, ob auch ihnen das Vermögen zukommt, Erfahrung zu strukturieren und sinnhaft zu ordnen, weitgehend unbeantwortet, ja, kaum je gestellt ist. Diese Frage vermag ich hier nicht zu beantworten. Ich möchte stattdessen auf den Aspekt der Fiktionalität zurückkommen und die Frage aufwerfen, ob – und wenn ja, in welcher Weise – narrative Texte im Präsens fiktional sein können.

44 „Time, or the progression of time, axiomatically defines narrative in many definitions of narrativity, i. e., that which constitutes a narrative. Conversely, the successive sentences on the page, constituting the surface structure of narrative texts, represent the passing of time in the reading process [. . . ].“ Fludernik (Anm. 33), S. 76. 45 Fludernik (Anm. 33), S. 72. 46 „Das Erzählen trägt demnach Sinn in die Welt, versieht ihren Lauf mit Absichten und Zielen, bevölkert sie mit anthropologischen Akteuren, bringt sie überhaupt erst in eine intelligible Form und verwandelt sie so den Menschen an, die sich in ihr nicht nur praktisch, sondern auch symbolisch einrichten müssen.“ Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a. M. 2012, S. 11, Hervorhebung im Original. 47 „The infusion of cognitive research has invigorated research on narrative competence. Notable in this regard is the work of Fludernik, for whom narrativity is quite explicitly ,not a quality inhering in a text, but rather an attribute imposed on the text by the reader who interprets the text as narrative, thus narrativizing the text (2003: 244). Fludernik derives the essential quality of narrativity from what she calls ,human experientiality‘, building on pre-cognitive work by Hamburger ([1957] 1993) and Cohn (1978) that had keyed narrative to its unique capability of portraying consciousness.“ Abbot (Anm. 36), S. 598. 48 Koschorke (Anm. 46), S. 397.

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2 Narrative Texte im Präsens Die Erzähltheorie weist in der Frage der Beziehung zwischen Tempus und Fiktionalität keinen Konsens auf. Frank Zipfel hält Erzählungen⁴⁹ im Präsens fiktionalitätstheoretisch für unproblematisch. Er behandelt sie als „Sonderformen fiktionalen Erzählens“ und setzt damit ihre Fiktionalität bereits voraus. Folgendermaßen wird sie begründet: Zusammenfassend kann man also sagen, daß Erzählen im Präsens nur dann eine sprachhandlungsbzw. erzähllogische und damit eine fiktionstheoretisch relevante Besonderheit darstellt, wenn damit die Illusion eines dem Erleben (Homodiegese) bzw. dem Beobachten (Heterodiegese) simultanen Erzählens erzeugt werden soll.⁵⁰

Das heißt: Wenn das Präsens nur abschnittsweise in einen narrativen Text im Präteritum eingefügt wird, kann es als stilistische Besonderheit gelten, die keine weitreichenden Auswirkungen auf die Frage nach der Fiktionalität hat – die Fiktionalität des Textes im Präteritum überträgt sich dann gleichsam auch auf jene seiner Passagen, die im Präsens stehen. Wenn sich das Präsens auf den gesamten Text ausdehnt, entsteht für Zipfel ein gravierender Widerspruch gegenüber den Grundprinzipien des Erzählens, denn „Erzählen ist Erzählen von Vergangenem.“⁵¹ Zipfel, der bestrebt ist, das Erzählen im Präsens seiner Fiktionalitätstheorie zu subsumieren, löst diesen Widerspruch, indem er ein durchgängiges Erzählen im Präsens als Sonderform betrachtet, die sich durch ihre Phantastik sui generis als fiktional ausweist: In diesem Fall [wenn also durch den durchgängigen Gebrauch des Präsens die Illusion eines dem Erleben (Homodiegese) bzw. dem Beobachten (Heterodiegese) simultanen Erzählens erzeugt werden soll] kann der Text dadurch, daß er eine unmögliche Erzähl-Situation voraussetzt, als erzähllogisch phantastisch und damit offensichtlich fiktional angesehen werden.⁵²

Erzählen im Präsens ist also entweder fiktional, weil es in der Fiktionalität des kontextualisierenden Erzählens im Präteritum aufgeht, oder es ist fiktional, weil es phantastisch ist. So praktisch dieser Vorschlag auch sein mag, so beantwortet er doch die entscheidende Frage nicht, welche faktischen Verschiebungen hinsichtlich der Deixis sich durch das Präsens ergeben und wozu ein Autor es überhaupt nutzt beziehungsweise nutzen kann. Sie soll exemplarisch am Beispiel eines mittelhochdeutschen Textes diskutiert und in Hinsicht auf die mittelalterliche Aufführungspraxis spezifiziert werden.

49 Im Sinne von ,eine Ereignisfolge schildernde‘ Texte. 50 Zipfel (Anm. 2), S. 163. 51 Zipfel (Anm. 2), S. 159. 52 Zipfel (Anm. 2), S. 163.

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Ich ziehe dazu eine ,Serena‘, also ein Einlasslied, von Johannes Hadlaub aus der Zeit um 1300 heran.⁵³ Hier zunächst der Text: Sich vröit ûf die edlen nacht ein geslacht minnaere harte, des sîn vrouwe ruochen wil. So der tag sîn liecht verlât, secht, sô gât sî an die warte, als si hânt geleit ir zil. Sô kumt er gegangen tougenlîche unde rüert daz tor sô lîse iesâ; sô sî daz erhoert, diu minnenklîche, sô spricht sî: ,mîn herre, bist dû dâ?‘ er spricht: ,edliu vrouwe, jâ! tuo mir ûf, vil wunnenrîche, daz ich dich al umbevâ.‘ Im wont wilde vröide bî swanne sî daz tor entsliuzet, und daz hoert der werde man, Und sî engegen im danne ûf tuot. dast ein guot, des nicht verdriuzet beider lîb sô lobesan. Sî vüert in mit ir sô wîzen hende vür ir bette dur der huote bant alsô stille, dâz echt nieman wende. wie schier sî sich danne enkleidet hânt! sî gênt zemene: lieb bewant wirt da wol mit liebem ende; in wirt beiden minne erkant. Wer möchte bezzer vröide hân, des enkan ich nicht volspehen, als sî hânt die nacht sô gar. Dâ wirt manig umbevang lieblîch lang, dâ mag geschehen manig kus sô valsches bar. Dâ wirt brust an brust sô wol gedruket, daz dâ sorgen mag belîben nicht, beider lîb zesemene nâch gesmuket, dâvon dâ daz liebste lieb geschicht. doch hânt sî die zuoversicht,

53 Nähere Informationen zu Überlieferung und Stellung des Textes im Oeuvre Hadlaubs in: Johannes Hadlaub, Lieder und Leichs, hrsg. und komm. v. Rena Leppin, Stuttgart, Leipzig 1995 und Max Schiendorfer (Hg.), Johannes Hadlaub. Die Gedichte des Zürcher Minnesängers, München 1986.

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daz in vröide wirt verzuket, sô der wachter tages gicht.⁵⁴

Dass hier erzählt wird, scheint zunächst unstrittig zu sein, denn es wird ein geordnetes Geschehen, also eine Ereignisfolge, mit Beginn (der Ankunft des Geliebten) und Ende (Ausblick auf Trennung und Leid der Liebenden) geschildert, das zu einer eindeutigen Zustandsveränderung führt. Konventionell vollzieht der Erzähler den Weg des Geliebten vom Eintritt in den Garten bis zum Ende der Liebesbegegnung nach und beschreibt dabei die Hindernisse, Gefahren, aber vor allem auch die Freuden, die diese heimliche Begegnung für das Paar bereithält. Andererseits kann das Aussagesubjekt mit gleichem Recht auch als Sprecher, und das, was er tut, aufgrund der fehlenden Mittelbarkeit als Rede oder Beschreibung bezeichnet werden. Für Zipfel wäre die vorliegende Darstellungsweise jedoch keine diskursive, sondern eine narrative, und zwar eine phantastische, weil sie die „Illusion eines dem Erleben (Homodiegese) bzw. dem Beobachten (Heterodiegese) simultanen Erzählens erzeugt.“⁵⁵ Der Erzähler scheint im Moment der Wahrnehmung dessen, was sich zwischen den Liebenden ereignet, davon zu erzählen, also wie ein Live-Berichterstatter das Ereignis im Moment des Geschehens mitzuteilen und gerade die dem Präsens implizite Behauptung, das Erzählte finde ,jetzt‘ statt, weist dieses als – wie Zipfel sagt – Illusion aus. Als ein solcher Live-Bericht wäre der Text jedoch gerade keine Erzählung. Genau so sehen es Teile der Erzähltheorie, denen zufolge die zeitliche Abgeschlossenheit eines Geschehens Voraussetzung dafür ist, dass es Erzählung werden kann:

54 Text aus Rena Leppin, Johannes Hadlaubs ,Nachtlied‘, in: Jahrbuch der Oswald von WolkensteinGesellschaft 3 (1984/84) S. 203–231. Übersetzung unter Verwendung der Übersetzung Leppins (ebd.) und Schiendorfer (Anm. 53) von mir. ,1. Ein edler Liebender, den seine Herrin erhören will, freut sich von ganzem Herzen auf eine vollkommene Nacht. Wenn des Tages Licht erloschen ist, seht, so tritt sie auf die Warte hinaus, wie sie es verabredet haben. Dann kommt er heimlich angeschlichen und berührt / öffnet ganz behutsam das Tor. Wenn das die schöne Frau vernimmt, dann spricht sie: „Bist du da, mein Herr?“ Er antwortet: „Ja, edle Herrin! Schließ mir auf, du Freudenquell, auf dass ich dich umarme.“ 2. Eine unbändige Freude überfällt ihn, wenn sie das Tor aufschließt und der würdige Mann das hört und sie ihm dann öffnet. Das ist ein Gut, dessen die zwei Lobwürdigen gewiss nicht überdrüssig werden. Sie führt ihn mit ihrer schneeweißen Hand vor ihr Bett vorbei an den Fallstricken der Aufpasser, so leise, damit es bloß niemand verhindert. Wie schnell sie sich dann entkleidet haben! Sie kommen zueinander, der Hingabe an die Liebe wird ein süßes Ende beschieden. Beide erleben die Liebe. 3. Wer könnte größeres Glück erfahren? – ich kann es nicht ermessen – als sie die ganze Nacht lang erleben! Da wird es zahllose Umarmungen geben, auf zärtliche Weise andauernd, da dürfte mancher Kuss ganz ohne Falsch geküsst werden. Da wird Brust an Brust so innig gedrückt, dass von Sorgen da nichts übrigbleiben kann, und beider Leiber werden so eng aneinander geschmiegt, dass das Wonnevollste dadurch entstehen mag. Allerdings haben sie die Gewissheit, dass ihnen ihr Glück entrissen wird, sobald der Wächter den Tag ankündigt.‘ 55 Zipfel (Anm. 2), S. 163.

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Life tells us we cannot tell it while we live it or live it while we tell it. Live now, tell later. [. . . ] Shlomith Rimmon-Kenan: „Common sense tells us that events may be narrated only after they happen.“ Paul Ricoeur: „Every story is told in the past for the voice that tells it.“ And Robert Scholes: „It is a formal feature of narrative texts – a part of their grammar – that the events are always presented in the past tense, as having already happened [. . . ] narrative is past, always past.⁵⁶

Dafür, dass hier keine Erzählung vorliegt, spricht auch, dass das Präsens die Entstehung einer Diegese verhindert und mit dieser die Herausbildung jener zwei Ebenen, die als histoire und discours erst gemeinsam Erzählung konstituieren. Denn Narrativität setzt – wie oben bereits dargelegt – eine Differenz zwischen der Erzählzeit und der Zeit des Erzählten voraus. Wo diese fehlt, entstehen keine ,narrating instances‘, entsteht keine Erzählung: On the one hand, every narrative, embedded or not, exists by virtue of a narrative act which is necessarily external to the spatiotemporal universe within which the events of that narrative take place, thus situating it in a web of narrating instances. On the other hand, narrative levels come into play only with a shift of voice, which is not always taken into account by the traditional notions.⁵⁷

Auch Fludernik weist darauf hin, dass Texte im Präsens keine Differenzierung in die Ebenen von story und discourse herausbilden können, die als fundamentale Voraussetzung für Narrativität angesehen werden: The loss of the deictic distinction between present-tense nows and past-tense thens is therefore implicated in the loss of even more crucial narratological distinctions: that of story and discourse – i. e. the narrator’s commentary is no longer temporally distinguished from reportative narrative – and that of narration vs. speech (interior monologue) or ,shifted‘ forms of present-tense free indirect discourse. Present-tense narrative therefore also radically blurs the line between external and internal events.⁵⁸

Das Mitgeteilte ist deshalb zeitlich nicht distanziert, sondern ,jetzt‘ gegenwärtig:⁵⁹ „Dabei ist ,Vergegenwärtigung‘ als dominierendes pragmatisches Merkmal zu verstehen, das den entsprechenden Transpositionsmechanismus auslöst: die Kontextzeit wird zur

56 Dorrit Cohn, ,I doze and I wake‘: The Deviance of Simultaneous Narration, in: Herbert Foltinek u. a (Hgg.), Tales and ,their telling difference‘. Zur Theorie und Geschichte der Narrativik. FS zum 70. Geburtstag von Franz K. Stanzel, Heidelberg 1993, S. 9–23, hier S. 9, mit Hinweis auf: S. RimmonKenan, Narrative Fiction. Contemporary Poetics, London, New York 1983, S. 89, Paul Ricoeur, Time and Narrative, 3 Bd., Chicago 1984–88, Bd. II, S. 98 und Robert Scholes, Language, Narrative, and Anti-Narrative, in: Critical Inquiry 7 (1980), S. 204–212, hier S. 209 f. 57 Didier Coste, John Pier, Narrative Levels, in: Peter Hühn u. a. (Hgg.), Handbook of Narratology (Narratologia 19), Berlin, Boston 2009, S. 295–308, hier S. 297. 58 Monika Fludernik, Towards a ,Natural‘ Narratology, London, New York 2002, S. 254. 59 In diesem Sinne auch Margolin: „Concurrent narrations of more than a single, punctual event, on the other hand, cannot by definition be temporally dimensionless. It consists of a sequence of NOW

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Jetztzeit. Anders ausgedrückt: die Gegenwart eines vergangenen Zeitraums wird zur Gegenwart der Sprechsituation gemacht.“⁶⁰ Mit dieser Gegenwart des Ausgesagten ist auch die Sprechsituation konkretisiert. Wann ein Erzähler in einem Text im Präteritum erzählt, bleibt immer in der Schwebe, nicht nur hinsichtlich des Bezuges zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit, sondern auch hinsichtlich des Bezuges zwischen der Erzählzeit und der konkreten Zeit der Rezeption. Ich wähle als ein beliebiges Beispiel das ,Nibelungenlied‘ nach C. Die zweite Strophe lautet: Ez wuohs in Buregonden ein vil edel magedîn, daz in allen landen niht schoeners mohte sîn, Kriemhilt geheizen: diu wart ein schoene wîp. dar umbe muosen degene vil verliesen den lîp.⁶¹

Zu welchem Zeitpunkt wird diese Aussage des Erzählers getroffen, welches ist der Zeitpunkt der Aussage?⁶² Während das in der Lektüre völlig offen bleibt, wird die Erzählzeit im Vortrag zur suggerierten Gegenwart – der Vortragende erzählt ,jetzt‘ von Kriemhild. Doch andererseits steht die Erzählung des Erzählers im Präteritum und präsentiert sich so auch innerhalb der face-to-face-Situation als Wiedergebrauchsrede und als Sprache der Distanz. Der Vortragende mag seine Erzählung zwar jetzt und hier in einer geteilten Situation unter Anwesenden vortragen, doch das, was er vorträgt, ist dennoch keine Kommunikation mit dem Publikum, sondern eine in sich abgeschlossene Geschichte, die in der Vergangenheit spielt und deren Mitteilung für eine zerdehnte Kommunikationssituation⁶³ konzipiert ist.

intervals, stages, or phases that, put together, make up the durative or ongoing narrational process. The object of this process too is an unfolding sequence of concurrent temporal stages, phases, or intervals that, put together, make up the course of events being reported. By definition, the two sequences run in parallel and are coterminous (= possess the same initial and terminal temporal points). Stages of the narration are matched with stages of the narrated, and these matched pairs jointly define the overlapping NOWs of discourse and of reported situations.“ Uri Margolin, Of What Is Past, Is Passing, or to Come: Temporality, Aspectuality, Modality, and the Nature of Literary Narrative, in: David Herman (Hg.), Narratologies: New Perspectives on Narrative Analysis, Columbus, Ohio 1999, S. 142–166, hier S. 151. 60 Dieter Wunderlich, Tempus und Zeitreferenz im Deutschen, München 1970, S. 135. 61 Ursula Hennig (Hg.), Das Nibelungenlied nach der Handschrift C (ATB 83), Tübingen 1977. 62 „[. . . ] der Zeitpunkt des ,Sprechens‘ bleibt jedoch bis auf den Briefroman meist ausgespart und kann sowohl als gleichzeitig mit dem historischen Zeitpunkt der Veröffentlichung angenommen, wie auch generell und allgemeiner im Zeitraum seiner Produktion lokalisiert werden.“ Fludernik (Anm. 7), S. 22. 63 Begriff nach Konrad Ehlich, z. B. in: Zur Genese von Textformen. Prolegomena zu einer pragmatischen Texttypologie, in: Gerd Antos, Hans P. Krings (Hgg.), Textproduktion. Ein interdisziplinärer Forschungsüberblick (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 48), Tübingen 1989, S. 84–99, 91 u. ö.

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3 Tempus und Deixis Koch/Oesterreicher weisen im Rahmen ihres Modells von Sprache der Distanz darauf hin, dass eines ihrer Merkmale Situationsentbindung sei, während die Sprache der Nähe von Situationsverschränkung charakterisiert sei.⁶⁴ Eine solche Situationsverschränkung vermag aber nur das Präsens vorzunehmen, während das Präteritum aufgrund seiner diegetischen Struktur stets von etwas erzählt, das nicht gegenwärtig ist. Koch/Oesterreicher stellen folgerichtig auch fest, dass „häufig [. . . ] das Präsens als Erzähltempus“⁶⁵ der Sprache der Nähe diene. Denn ein Sprecher, dessen Rede im Präsens abgefasst ist, spricht immer und auch in einem schriftlichen Text ,jetzt‘. Das bedeutet, dass der Zeitpunkt mit der Gegenwart eindeutig zeitlich situiert ist: Das ,jetzt‘ erschafft ein ,hier‘. Mit dieser Situiertheit suggeriert das Präsens auch eine mit dem oder den Rezipienten geteilte Kommunikation. Diese erzeugt den Rahmen, innerhalb dessen eine Deixis stattfinden kann. Es ist diese Deixis, die für einige, die sich mit dem Präsens auseinandergesetzt haben, die Fiktionalität von Präsenstexten in Frage stellt: Ein Fiktionseffekt setzt allerdings voraus, dass das vorliegende Medium überhaupt eine zeitdeiktische Verschiebung erlaubt: Eine zeitdeiktisch induzierte Fiktion kann nur mittels einer elementaren Tempusstruktur in Kraft treten, die es ermöglicht, von der Aktualität der Rezeption abzurücken und das ,jetzt‘ [. . . ] negieren zu können.⁶⁶

Ich verstehe diese Aussage so, dass ein Fiktionalitätseffekt die Möglichkeit voraussetzt, ein ,jetzt‘ auf eine andere Gegenwart als die der Rezeption zu beziehen. Liegt in einem Text keine diegetische Struktur vor, bezieht sich sein ,jetzt‘ jedoch immer auf die Gegenwart der Rezeption, immer auf das ,hier‘, in dem sie stattfindet. Dieser zeitdeiktische Effekt wird besonders unterstrichen, wo Literatur vorgetragen wird. Meiner Auffassung nach hat das Präsens meines ersten Beispieltextes die Funktion, genau diesen Effekt auszuspielen: Weil er ebenso Rede wie Erzählung ist, vermag er das geschilderte Geschehen nicht in eine fiktionale Vergangenheit und Abgeschlossenheit zu verweisen, sondern präsentiert es als im Moment der Aussage gegenwärtig, wenn auch gegenwärtig nur in der Imagination des Rezipienten – gerade darin besteht die Besonderheit des Erzählens im Präsens. Ob Hadlaubs ,Serena‘ als ein fiktionaler Text verstanden wird oder nicht, hängt folglich maßgeblich davon ab, wie man seine Deixis beurteilt. Mit dieser Frage wird der Rezipient – vor allem, wenn man den Text als für den Vortrag konzipiert begreift – explizit konfrontiert, indem er aufgefordert wird anzusehen, was

64 Peter Koch, Wulf Oesterreicher, Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte, in: Romanistisches Jahrbuch 36 (1985), S. 15–43, hier S. 23 (Schaubild). 65 Koch, Oesterreicher (Anm. 64), S. 27. 66 Avanessian, Hennig (Anm. 25), S. 173.

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der Vortragende beschreibt. Ist die beschriebene Handlung zu sehen? Wird sie nicht imaginiert, indem sie beschrieben wird? Ist Imagination anschaulich? Fludernik verknüpft die Deixis eines fiktionalen Erzähltextes im Präteritum mit dessen Fiktionalität im Sinne einer „temporal deixis“, die zu einer „fictional reference“ wird. Denn in dem Maße, in dem ein Text fiktional ist, hört er auf, sich mit seinen Deiktika auf ein textexternes ,hier‘ und ,jetzt‘ zu beziehen. Ich führe hier nochmals das entsprechende Zitat an: To the extent that a narrative is a fiction, it is not deictically anchored in the here and now of the author and reader, and as a result its temporal deixis becomes unmoored from real life. It is under these frame conditions that the past tense of narrative acquires a qualitiy of fictional reference that may be read as a marker of (fictional) narrative. More precisely, perhaps, one could argue that the past tense of narrative preserves its distality in relation to the present of reading.⁶⁷

Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob dies nicht einfach mit dem Präteritum und der zeitlich darin Ein- und Abgeschlossenheit des Erzählten zusammenhängt. Könnte man nämlich nicht auch (umgekehrt) formulieren: „To the extent that a narrative is i n t h e p a s t t e n s e, it is not deictically anchored in the here and now of the author and reader, and as a result its temporal deixis becomes unmoored from real life“? Am Beispiel von Hadlaubs ,Serena‘ lässt sich präzise zeigen, was es für einen Text bedeutet, wenn er nicht im Präteritum erzählt und dadurch nicht „unmoored from real life“ ist, sondern beansprucht, das, was er sagt, auch zeigen zu können, weil es jetzt geschieht. Dieser Anspruch, diese Geltungsbehauptung, läuft auf eine deiktische Suggestion hinaus, auf die Suggestion, dass das, was der Erzähler beschreibt, da ist⁶⁸ – und das ist es ja auch: Nicht faktisch, aber imaginär. Die Behauptung, dass der Geliebte eintrifft, von der Dame ans Bett geführt wird und beide sich ihrer Liebe hingeben, lässt den Rezipienten genau das imaginieren. In seiner Vorstellung vollzieht sich, was

67 Fludernik (Anm. 33), S. 84. 68 Margolin spricht hinsichtlich des Erzählens im Präsens von einer szenischen Unmittelbarkeit, einer „scenic immediacy.“ Margolin (Anm. 59), S. 162. Das Vermögen, Imagination anzuregen, wird Texten primär aufgrund ihrer Narrativität zugesprochen: „Cognitive science also has shown that simulation and immersive processes are not limited to fictional narratives. Every narrative induces varying degrees of immersive experience. As Ryan has convincingly shown, both fictional and non-fictional narrative texts invite readers to imagine a world (2001: 93): this ,recreative‘ imagination (Currie & Ravenscroft 2002) is a process of immersive simulation. Of course, contrary to referentially oriented representing devices, fictional devices are generally (but not always and not necessarily) constructed so as to maximize their immersion-inducing power. Nevertheless, narrative immersion is not limited to fiction.“ Schaeffer (Anm. 40), S. 192 f. Das allerdings dürfte auch damit zusammen hängen, dass sich die Narratologie für andere als narrative Texte kaum interessiert. Ein Blick in den Bereich der Rhetorik dürfte jedenfalls dazu einladen, auch diskursiven, nicht-narrativen Texten die Befähigung zur Imaginationsanregung, zu ,simulation and immersive processes‘ zuzugestehen.

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Gegenstand des Liedes ist, und zwar j e t z t: im Moment der Beschreibung und der Aussage.⁶⁹ Das Präsens fungiert als Imaginationsanleitung. Ich möchte an dieser Stelle nicht die altgermanistische Kontroverse um die Frage aufrollen, wie lange Minnesang aufgeführt wurde, ob er überhaupt aufgeführt wurde und was es für seine Poetik und Ästhetik bedeutet, wenn er nicht gehört, sondern gelesen wurde. Weil diese Frage nach wie vor eine offene ist, werde ich kurz zwei mögliche Rezeptionsszenarien der ,Serena‘ durchspielen: das der Vortragssituation und das der Lektüre. Wenn sie vorgetragen wird, erzeugt das Präsens des Liedes die Suggestion einer Deixis, die mit den Aufforderungen secht ganz explizit gemacht wird und von der ans textinterne Publikum gerichteten rhetorischen Frage Wer möchte bezzer vröide hân, [. . . ] als sî hânt die nacht sô gar bekräftigt wird. Auch der Vers wie schier sî sich danne enkleidet hânt! erzeugt aufgrund seiner Nähe zu einem Ausruf den Eindruck von Lebendigkeit und Unmittelbarkeit der Mitteilung. Im Mittelhochdeutschen kann das Perfekt nicht narrativ verwendet werden⁷⁰ und hat auch hier eher die Funktion einer Interjektion, einer überraschten Feststellung, mit der ein bemerkenswerter Sachverhalt markiert wird. Damit bestätigt sich eine Bestimmung, die Fludernik für den Gebrauch des Präsens in englischen Texten des Mittelalters gegeben hat: Neben dem prototypischen historischen Präsens existieren bereits in mittelalterlichen Erzähltexten weitere Präsens-Passagen, die meist zwei andere Funktionen abdecken. Einerseits kann z. B. in Kampfszenen ein Erzählstillstand evoziert werden, indem die vielen Ereignisse im Präsens aneinandergereiht werden und so der Eindruck von zeitlicher Dehnung entsteht. Man befindet sich vor einem Bild und kann sozusagen alle Kampfhandlungen gleichzeitig sehen. Zweitens wird das Präsens auch häufig für deskriptive Passagen eingesetzt, wobei dort indirekt auch eine Bewusstseinsbeschreibung der Beobachterin gegeben wird.⁷¹

69 Den Begriff des ,Imaginären Präsens‘ verwenden Armen Avanessian, Heike Hennig in Tempus – Fiktion – Narration (Anm. 7), S. 324, allerdings in Bezug auf den Roman des 19. Jahrhunderts: „Lange bevor sich ab ca. 1900 eine klare Systematik abzeichnet, findet sich schon ein Imaginäres Präsens, das einer Vorgeschichte des fiktionalen und narrativen Präsens zuzurechnen ist. Da es sich – neben den immer schon bekannten autobiographischen Dokumentarismen, Briefen etc. – bei den Präsenstexten im 19. Jahrhundert in hohem Maße um Traumsequenzen, Halluzinationen und Wahnsinnsszenen handelt, kann die Geschichte der Abstandnahme vom Präteritum auch als eine Passionsgeschichte, als eine mit Pathologien erkaufte Entwicklung des Präsens geschrieben werden.“ 70 „Während das Präteritum dadurch charakterisiert ist, dass der temporale Perspektivenpunkt verlagert wird und daher nicht mit der Sprechzeit bzw. dem deiktischen Standort des Sprechers zusammenfällt, fallen für das Perfekt Sprechzeit und Referenzzeit zusammen. Der Bezug des Perfekts zur Sprechzeit und damit zum ,Hier und Jetzt‘ des Sprechers der jeweiligen Kommunikationssituation [. . . ] plausibilisiert insofern die Affinität der Perfektkategorie zur gesprochenen Sprache, deren kanonische Kommunikationssituation ebenfalls durch die Situationsgebundenheit an das ,Hier und Jetzt‘ des Sprechers charakterisiert worden war.“ Zeman (Anm. 1), S. 50. 71 Fludernik (Anm. 7), S. 27 f. Fludernik setzt sich hier jedoch mit dem Wechsel von Erzähltempora auseinander und nicht mit einem durchgängigen Gebrauch des Präsens.

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Dem Publikum wird so ein Text vorgetragen, der sich aufgrund der fehlenden Diegese weniger als Erzählung präsentiert, sondern, auch aufgrund der suggerierten deiktischen Qualität, als Beschreibung gegenwärtiger Sachverhalte, ähnlich einem beliebigen Jahreszeiteneingang wie diesem: I. Diu zît ist hie: ine gesachs vor mangen jâren schoener nie. ende hât der winder kalt; des vreut sich manc herze, daz sîn sêre enkalt. aber geloubet stât der walt. II. Des meien zil bringet vogele sanc und schoener bluomen vil. wartet, wie diu heide stât schône in liehter varwe und wünneclîcher wât! leides sî vergezzen hât.⁷²

Die Frage danach, wie die Referentialisierung dieser Aussagen in der Aufführungspraxis gehandhabt wurde, ob also von den Eiszapfen an den Bäumen nur gesungen wurde, wenn wirklich welche sichtbar waren, oder nicht, ist kaum zu beantworten.⁷³ Man wird es sich vielleicht vorstellen dürfen wie bei unsereins mit Weihnachtsliedern, die in der Weihnachtszeit gesungen werden. Wie eng die Verknüpfung zwischen der Singpraxis und der entsprechenden Jahreszeit ist, ist ins Dafürhalten derer gestellt, die sie singen: Natürlich kann man auch zu Ostern Weihnachtslieder singen, aber kaum jemand dürfte das tun. Üblicherweise liegen also erkennbare und vernünftige Entsprechungen

72 Edmund Wiessner, Die Lieder Neidharts, fortgef. v. Hanns Fischer. 5., verb. Aufl. hrsg. v. Paul Sappler. Mit einem Melodieanhang v. Helmut Lomnitzer (ATB 44), Tübingen 1999, Sommerlied 10, Str. I–II (R1, c1; R1, c2). Übersetzung (von mir): ,1. Die Zeit ist da: Schon viele Jahre habe ich keine schönere mehr gesehen. Der kalte Winter ist vorbei, darüber freut sich so manches Herz, das sehr unter ihm zu leiden hatte. Der Wald hat sie wieder belaubt. 2. Die Ankunft des Mais beschert Vogelgesang und viel schöne Blumen. Seht, wie die Wiese wunderschön dasteht in strahlender Farbe und herrlicher Kleidung! Alle Last und Entbehrung liegt hinter ihr.‘ 73 Vgl. hierzu Jan-Dirk Müller, Jahreszeitenrhythmus als Kunstprinzip, in: Peter Dilg, Gundolf Keil, Dietz-Rüdiger Moser (Hgg.), Rhythmus und Saisonalität. Kongreßakten des 5. Symposions des Mediävistenverbandes in Göttingen 1993, Sigmaringen 1995, S. 29–47; Thomas Bein, Jahreszeiten – Beobachtungen zur Pragmatik, kommunikativen Funktion und strukturellen Typologie eines Topos, in: Rhythmus und Saisonalität, S. 215–237; Ludger Lieb, Die Eigenzeit der Minne. Zur Funktion des Jahreszeitentopos im Hohen Minnesang, in: Beate Kellner, Ludger Lieb und Peter Strohschneider (Hgg.), Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur (Mikrokosmos 64), Frankfurt a. M. 2001, S. 183–206; Katharina Philipowski, ,die werlt ist uf den herbest komen.‘ Vom Natureingang zur Jahreszeiten-Allegorie in der Lyrik des 13. bis 15. Jahrhunderts, in: Sonja Glauch, Susanne Köbele (Hgg.), Projektion – Reflexion – Ferne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter, Berlin, New York 2011, S. 85–119.

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zwischen der Weihnachtszeit und dem Singen von Weihnachtsliedern vor. Wenn wir dies auch für den Vortrag von mittelhochdeutschen Jahreszeitenliedern unterstellen dürfen (was mir naheliegend erscheint), ist die Liedaussage in eine entsprechende Situation eingebettet und folglich weitgehend referentialisierbar,⁷⁴ der Vortrag kann mit der Möglichkeit der Übertragung von Liedaussagen auf die konkrete Vortragssituation rechnen und dann mit ihr spielen: Die Vögel sind womöglich tatsächlich zu hören, die Bäume sind wirklich frisch belaubt, die Blumen blühen auch in Wirklichkeit oder die Bäume sind tatsächlich kahl, wirklich liegt der Schnee auf den Feldern und die Eiszapfen an den Dächern sind de facto zu sehen. Im Falle von Hadlaubs ,Serena‘ wird eine solche Referentialisierungsmöglichkeit durch den deiktischen Ausruf behauptet, aber nicht eingelöst. Nur der Sänger ,sieht‘ das Paar, das Publikum hört ihm beim Sehen zu. Sehen kann es nur das, was es sich vorstellt, vorstellen kann es sich nur, was der Sänger beschreibt. Denn faktisch zu sehen gibt es beim Vortrag der ,Serena‘, anders als beim Jahreszeitenlied, eben gerade nichts. Andererseits wird die Imagination dadurch auch erhöht, denn dem Publikum wird durch die ins Leere laufende Referentialisierung bewusst gemacht, dass es selbst entscheidet, es dem Vortragenden gleich zu tun und das Paar zu sehen, oder das Angebot der Imagination abzuweisen und sich aufs Zuhören zurückzuziehen. Vielleicht ist das nicht unähnlich den Effekten, die beim Vortrag von Walthers von der Vogelweide ,Lindenlied‘ wirksam sind. Fordert die textinterne Sprecherin mit der Einladung: seht, wie rôt mir ist der munt⁷⁵ die Rezipienten auf, die Röte ihres Mundes zu betrachten, wird jeder Zuhörer wohl etwas anderes ,sehen‘:⁷⁶ Die einen sehen tatsächlich die rotgeküssten Lippen der Frau, die gerade vom Stelldichein mit ihrem Geliebten kommt, andere den Mund des Vortragenden, der nicht rot ist, ein Dritter sieht gar nichts, weil er nur dem Lied lauscht und dabei gar nichts sehen will.

74 Wobei Autoren wie Neidhart oder Tannhäuser, z. B. in Tanzliedern, mit dieser Referenz spielen. 75 Zitiert nach Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche, 14., völlig neubearb. Aufl. der Ausg. Karl Lachmanns, mit Beiträgen v. Thomas Bein u. Horst Brunner hrsg. v. Christoph Cormeau, Berlin, New York 1996, hier Nr. XVI (L 39,28). 76 In diesem Sinne auch Kern, der den Begriff einer ,imaginativen Theatralität‘ vorschlägt: „Zeigen und Schauen wären demnach als generelle ästhetische Verfahren zu begreifen. Das imaginative Vermögen, das ein nicht-theatralisches Bild, ein nicht-theatralischer Text evoziert, könnte – um dies weiterzudenken – in einen Akt der theoría münden, die im etymologischen Sinne als Anschauungsprozess zu begreifen wäre, in den das von Bild oder Text Gezeigte imaginativ übergeführt werde. Anschauung in diesem Sinn fände im präsentischen Akt der kreativen Betrachtung und nicht im diskursiven oder argumentativen Modus des Erfassens statt. Eine solche theoría wäre im Sinne des philosophischen Theoriebegriffs gerade vortheoretisch, sie brächte aber ein in der ästhetischen Imagination begründetes spezifisch produktives Moment am Rezeptionsakt zum Ausdruck bzw. würde das kommunikative Relais zwischen produktionsästhetischem Zeigen und rezeptionsästhetischem Schauen bilden [. . . ].“ Manfred Kern, Theater der Eitelkeit in Text und Bild. Frau Welt und Herr Mundus, in: ders. (Hg.), Imaginative Theatralität. Szenische Verfahren und kulturelle Potenziale in mittelalterlicher Dichtung, Kunst und Historiographie (Interdisziplinäre Beiträge zu Mittelalter und Früher Neuzeit 1), Heidelberg 2013, S. 367–385, hier S. 370.

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Wird Hadlaubs ,Serena‘ gelesen, dann nimmt das Präsens einen anderen Charakter an, denn seine Präsenzbehauptung konfligiert dann mit dem Medium der Schrift, das sui generis die Aussagen des Textes, den sie überliefert, für die Lektüre im Rahmen einer zeitlich und räumlich zerdehnten Kommunikationssituation verdauert und mit dieser Verdauerung gegenüber einer Situation, innerhalb derer er eine Deixis haben konnte oder könnte, dieser Deixis beraubt: Angesichts der Verwendung der Tempora in schriftlich fixierten Texten erweist sich jedoch als offensichtlich, dass die reale Sprechzeit zwar als prototypischer Bezugspunkt für die temporale Situierung einer Verbalhandlung dient, die Sprechzeit innerhalb geschriebener Texte jedoch in einem weiteren Sinn als deiktischer Nullpunkt innerhalb eines abstrakt gesehenen Referenzsystems zu verstehen ist.⁷⁷

Mit dieser Deixis, die in der Schrift ins Leere laufen muss, ist zwar durchaus noch kein Fiktionalitätshinweis gegeben – auch eine Festrede mit konkreten Bezüge zur aktuellen Situation, in der sie gehalten worden ist, würde in der Verschriftlichung dieser Bezüge beraubt, ohne deshalb fiktional zu werden. Doch der Text muss als schriftlicher seine Deixis anders organisieren als ein mündlicher. Das kann geschehen, indem in einen Text, der bereits für die schriftliche Überlieferung geschrieben wird, ein textueller Referenzpunkt eingesetzt wird: „Die Tempora sind damit [mit der Einführung eines Referenzpunktes] nicht ausschließlich durch ihren Bezug zur deiktischen Origo charakterisiert, sondern können ebenfalls auf eine Referenzzeit bezogen sein, die durch den Kontext bzw. den vorausgehenden Satz gesetzt ist.“⁷⁸ Einen solchen Referenzpunkt kann ich in Handlaubs ,Serena‘ allerdings nicht erkennen. Entweder ist sie tatsächlich für den Vortrag geschrieben oder sie inszeniert ganz bewusst den Bezug auf eine Vortragssituation – womöglich, um den Rezipienten, in diesem Fall den Leser, dazu zu ermuntern, nicht nur das Paar zu imaginieren, sondern darüber hinaus auch die Vortragssituation, in der von diesem die Rede ist. Man könnte dieses Argument jedoch auch umdrehen und die Deixis innerhalb des schriftlichen Textes nicht als einen Irrläufer, sondern als Imaginationsverstärker auffassen, der umso ungehinderter wirken kann, je weniger konkurrierende Referenzpunkte vorhanden sind. Gerade wenn es also keine Vortragssituation gibt, die sich im Vortrag als Bezugspunkt für die temporale Situierung anbietet, kann die Imagination umso freier den inneren Blick auf das beschriebene Paar richten.⁷⁹

77 Zeman (Anm.1), S. 51 f. 78 Zeman (Anm.1), S. 54. 79 Ausführlicher setze ich mich mit dieser Überlegung in einer weiteren Arbeit auseinander (Anm. 29).

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4 Nicht-narrative, diskursive Texte im Präsens Seit einiger Zeit ist in der Narratologie ein Bewusstsein dafür zu erkennen, dass diese zwar oftmals einen unausgesprochenen Universalitätsanspruch behauptet, sich aber weitgehend aus der Auseinandersetzung mit rein fiktionalen Texten heraus entwickelt hat: The relationship between narratology [. . . ] and theory of fiction long remained non-existent, in part because classical narratology rarely addressed the question of the fact/fiction difference. The theory was intended to be valid for all narratives, although in reality the classical narratologists drew only on fictional texts. The classical models by Genette [. . . ] and Stanzel [. . . ], for example, were general narratologies whose sole input was fictional texts. It was only at a later stage that narratologists explicitly investigated the relationship between narrative technique and the fictionality/factuality distinction.⁸⁰

Aus dieser Erkenntnis heraus wird nun verstärkt nach der Narrativität auch nichtfiktionaler, also zumeist faktualer, Texte gefragt.⁸¹ Doch damit ist nur eine Seite der Beziehung zwischen Narrativität und Fiktionalität angesprochen: Die Frage nach der Fiktionalität nicht-narrativer Texte ist bislang kaum ins Blickfeld der Narratologie getreten – auch deshalb, weil Nicht-Narrativität den blinden Fleck der Erzähltheorie bildet, die nicht einmal über einen Konsens darüber verfügt, wie das Merkmal von Texten, die nicht erzählen, begrifflich adressiert werden könnte. Weinrich hat sich bekanntlich für die Gegenüberstellung von ,Erzählen‘ und ,Besprechen‘ entschieden. Doch Texte, die nicht erzählen, können sehr viel mehr tun als nur zu besprechen: Sie belehren, beschwören, lobpreisen, klagen, verfluchen oder beschreiben. Was sie aber auch immer tun – sie tun es im Präsens. Nun neigt die neuere Narratologie stellenweise dazu, den Begriff von Narrativität so großzügig auszulegen, dass auch Lyrik und Drama unter ihn zu subsumieren sind, was dann möglich wird, wenn eine Minimaldefinition im Sinne Scheffels (Anm. 14) zugrunde gelegt wird, die Narrativität über die Darstellung einer (kohärenten) Ereignisfolge bestimmt. Dieses Bestreben, Narrativität in literarischen Formen aufzuspüren, deren Tempus nicht das Präteritum ist, verbindet sich mit dem Begriff der transgenerischen Narratologie und u. a. mit den Namen Eva Müller-Zettelmann und Peter Hühn. Letzterer begründet diese Subsumption folgendermaßen: Narration as a communicative act in which a chain of happenings is meaningfully structured and transmitted in a particular medium and from a particular point of view underlies not only narrative fiction proper but also poems and plays in that they, too, represent temporally organized

80 Schaeffer (Anm. 40), S. 180f. 81 Vgl. dazu aktuell Stefan Haas, Fiktionalität in den Geschichtswissenschaften, in: Tilmann Köppe, Tobias Klauk (Hgg.), Fiktionalität (Revisionen 4), Berlin, New York 2013, S. 516–532.

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sequences and thus relate ,stories‘, albeit with certain genre-specific differences, necessarily mediating them in the manner of presentation.⁸²

Narrativität wird folgerichtig von Teilen der Forschung als eine Zuschreibung an Texte, Musikstücke, Bilder oder Ähnliches verstanden, die es ihren Rezipienten erlaubt, sie narrativ zu verstehen.⁸³ So fruchtbar es in Bezug auf einzelne Beispiele auch sein mag, diskursive oder lyrische Texte mit dem Instrumentarium und den Modellen der Narratologie zu analysieren, so sehr übergeht eine transgenerische Narratologie doch weitgehend den Aspekt des Tempus.⁸⁴ Und dieses etabliert in diskursiven Texten – wie oben gezeigt – ein situatives Zeigfeld, das heißt, es lokalisiert seine Aussage in der Gegenwart, die nicht zeitlos ist, sondern eindeutig der Zeitpunkt der Mitteilung: Reden werden abgegrenzt von narrativen Texten einerseits, szenischen andererseits [. . . ]. Sie sind so stilisiert, als wende sich im Hier und Jetzt ein Sprecher an einen oder mehrere Adressaten; dabei ist die Differenz von implizitem, literarischem Publikum und explizitem Adressaten selten strikt markiert. [. . . ] ,Welt‘ wird nicht ,erzählt‘, sondern ,besprochen‘ [. . . ].⁸⁵

82 Peter Hühn, Roy Sommer, Narration in Poetry and Drama, in: Handbook of Narratology (Anm. 36), S. 419–434, hier S. 419. Vgl. auch: „Transgeneric narratology proceeds from the assumption that narratology’s highly differentiated system of categories can be applied to the analysis of both poems and plays, possibly opening the way to a more precise definition of their respective generic specificity, even though (lyric) poems do not seem to tell stories and stories in dramas do not seem to be mediated (but presented directly).“ Ebd., S. 419. 83 „Nelles goes even further in the direction of readerly control when he defines narrativity as ,the product of a tropological operation by which the metaphor of narration is applied to a series of words on a page. To read a text by means of the trope of narration is to read out of it a narrator and its voice, and a narratee and its ear.‘ (Nelles 1997: 116) Narrativity is at work, in other words, when a reader frames, or reframes, a text as narrative, an operation that can be applied even to texts commonly designated as something else (a lyric poem, an argument, a piece of music).“ Abbott (Anm. 36), S. 598, mit Hinweis auf William Nelles, Frameworks: Narrative Levels and Embedded Narrative, New York 1997. 84 Und dessen Poetik: „In seiner Affinität zum Gesang weicht das Lyrische jeder pragmatisch ausgerichteten Redeweise aus und bestimmt sich gerade aus dem Gegensatz dazu, wie an der abweichenden Syntax (Inversion), der konsistenten Metrik und gegebenenfalls auch am Reim deutlich wird. Lyrisch meint insofern immer einen gehobenen Ton, dessen musikalische Qualität größeres Gewicht besitzt als die Semantik. In solchen Ausdrucksweisen herrscht eine einzige Perspektive vor: das lyrische Ich, das seine individuelle Empfindung äußert und dadurch eine Stimmung hervorbringt, die sich als einheitliche vermittelt. Als Gefühlsausdruck eines Individuums kann das Lyrische die Zeitlichkeit transzendieren: Es zeigt sich als Simultaneität, in der die einzelnen Elemente nur als integraler Teil des Ganzen fungieren, nicht jedoch in ihrer Abfolge (idealiter verlangt das Lyrische im Interesse von Zeitlosigkeit auch Kürze oder suggeriert diese zumindest). [. . . ] Diese Dominanz der Ausdrucksweise über das Gesagte bezeichnet die essentielle Referenzlosigkeit des Lyrischen: Es übt zwar seine Wirkung aus, richtet sich aber weder an bestimmte Adressaten, noch hat es einen Gegenstand außerhalb des lyrischen Ich.“ Albert Meier, Lyrisch – episch – dramatisch, in: Ästhetische Grundbegriffe 3 (2001), S. 709–723, hier S. 710. 85 Hans-Joachim Ziegeler, Art. Rede3 , in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 3 (2003), S. 235–237, hier S. 235.

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Am Beispiel der Serena war zu beobachten, dass sie ein Geschehen beschreibt und präsentiert, das geordnet und sukzessive vor den imaginären Augen des Publikums abläuft und damit zumindest eine Minimalanforderung von Narrativität erfüllt. Ich möchte nun in einem weiteren Schritt die Wirkung des Präsens in einem Text untersuchen, der diese Minimalanforderung nicht erfüllt, also diskursiv ist. Ziehen wir dazu eine anonym überlieferte Rede mit dem Titel ,Sekte der Minner‘ als konkretes Beispiel heran. Das ,Handbuch Minnereden‘ beschreibt ihren Inhalt folgendermaßen: „Verkündigung von Minneregeln für eine Gemeinschaft der Liebenden und Entwurf eines Minneklosters, mit stark parodistischen Elementen (ohne narrativen Rahmen).“⁸⁶ Der Text ist unikal in der Pergamenthandschrift Straßburg, Stadtbibliothek Cod. A 94 [1870 verbrannt], Mitte 14. Jahrhundert, niederalemannisch/elsässisch überliefert und 248 Verse lang.⁸⁷ Er ist durchgängig im Redemodus abgefasst, verzichtet also auf eine narrative Rahmung und sonstige Formen von Narrativität. Ein Ich spricht darin ein textinternes Publikum an, erteilt ihm Ratschläge für eine hedonistische und alle Regeln von Moral und Sitte suspendierende Lebensführung, ruft es dazu auf, sich seiner Minne-Religion anzuschließen und ab V. 124 f. (Ich wil ein kloster machen/dar sullent ir uwer opfer bringen)⁸⁸ auch dazu, seinem Kloster der Minne, des Weintrinkens und der erotischen Ausschweifung beizutreten. Das Ich nimmt dabei gleich im ersten Vers die Rolle eines Predigers und Priesters ein: Ich bredie unde lere An froeiden michel ere Von einre nuwen secta Die heisset vides recta Die ist nuweling zu komen (V. 1–5),

der die Regeln des promiskuitiven Zusammenlebens im Dienste eines minnen Got (V. 64) propagiert und entsprechende Verbote verhängt (z. B. sich einer geheimen Liebschaft zu rühmen) und über die Sakramente von Taufe (so enphahent su den touf , V. 20) und Vergebung leichtfertig Absolution für alle Anzüglichkeiten erteilt, wenn nur das Streben nach Vergnügen und Ausschweifung erkennbar sei. Anders als in der Serena gibt es hier jedoch kein Geschehen, keine Handlung und folglich auch keine Figuren, die eine kohärente Handlung ausführen. An keiner Stelle des Textes entsteht ein narratives Syntagma, Welt wird hier eindeutig besprochen, nicht erzählt: Das Minnekloster, das das Ich gründen will, besteht nur in Form von Aufforderungen an das Publikum. Anders als in der Serena entstehen keine Bilder, die

86 Jacob Klingner und Ludger Lieb (Hgg.), Handbuch Minnereden, Berlin, Boston 2013, Bd. 1, S. 471. 87 Angaben aus: Handbuch Minnereden (Anm. 86), Bd. 2, S. 124. 88 W. Maurice Sprague, The Lost Strasbourg St. John’s Manuscript A 94 (,Strassburger JohanniterHandschrift A 94‘). Reconstruction and Historical Introduction (GAG 742), Göppingen 2007, jetzt auch in: Iulia-Emilia Dorobanţu, Jacob Klingner, Ludger Lieb (Hgg.), Minnereden – Auswahledition, Berlin, Boston 2017, Nr. 50: Sekte der Minner (B302), S. 457–565.

Die deiktische Poetik des Präsens | 191

– unter der Voraussetzung, dass der Rezipient sich auf sie einlässt – eine Verbindung zwischen Vortragendem und Publikum schaffen. Da keine Handlungen beschrieben werden, sondern nur Forderungen und Behauptungen wie: Steln ist nirgend so wert Als in der minner lere Er hat sin michel ere Der es gefuegelichen kan (V. 88–91),

vergeht im Rahmen der Rede auch keine (diegetische) Zeit, die Aussagen stehen in einem Raum der Zeitenthobenheit. Weil sich keine geteilte und gemeinsame Aufmerksamkeit auf eine dargestellte, virtuelle Handlung richten kann, ergibt sich ein direkter, unvermittelter Bezug des Ausgesagten auf die Rezipienten – sie werden und sie sind direkt angesprochen. Immer wieder wird das textinterne Publikum mit der Aufforderung Nu sprechent ich geloube (V. 42 und 74) ermuntert, sich rituell zu dieser Sekte zu bekennen, durch die Aufforderung Nu sprechent ich versache (V. 100) dazu, einem lustfeindlichen Leben abzuschwören, und mit Nu sprechent alle amen (V. 232) dazu, die erteilte Lehre zu achten. Dass das textexterne Publikum damit zu einer tatsächlichen Handlung oder Äußerung aufgefordert werden sollte, ist denkbar, aber nicht zu beweisen. Mag diese regelrecht performativ-kultische Ebene des Textes auch eine Ausnahmeerscheinung sein, so ist sie in ihrem insistierenden Partizipationscharakter doch auch nur eine Steigerung des Apellcharakters, den diskursive Texte im Präsens immer alleine schon dadurch haben, dass die Deixis des Präsens Sprecher und Rezipienten nicht in einer Weise separiert, die dem Rezipienten eine komfortable Rückzugsmöglichkeit gewährt. Wohl in genau diesem Sinne schreibt Weinrich über das Präsens, dass es ,gefährlich‘ sei. Denn in Äußerungen dieser Art ist der Sprecher gespannt und seine Rede geschärft, weil es für ihn um Dinge geht, die ihn unmittelbar betreffen und die daher auch der Hörer im Modus der Betroffenheit aufnehmen soll. Sprecher und Hörer sind engagiert; sie haben zu agieren und zu reagieren, und die Rede ist ein Stück Handlung, das die Situation beider um ein Stück verändert, sie beide daher auch um ein Stück verpflichtet. Daher ist nicht-erzählende Rede prinzipiell gefährlich.⁸⁹

Das Präsens der Rede meint nicht eine unbestimmte Zeit, sondern lokalisiert die Aussagen in der konkreten Gegenwart der Zuhörer. Was gesagt wird, findet in ihrer Gegenwart, findet ,jetzt‘ statt und betrifft nicht irgendwen oder niemanden, sondern den oder die Angesprochenen, und zwar unmittelbar. Und das gilt meiner Auffassung nach unabhängig von der medialen Präsentation: Auch in der Lektüre werden die Behauptungen noch in der Gegenwart des Lesers

89 Weinrich (Anm. 2), S. 50.

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angesiedelt. Und auch ,Die Sekte der Minner‘ arbeitet mit diesem Effekt. Denn die Frivolität und Anzüglichkeit des schwankhaften Textes stellt durch ihr unmittelbares Eingreifen in die Rezeptionssituation eine Komik her, die er nicht haben könnte, wenn er seine Aussagen durch das Präteritum aus der Vortragssituation distanzieren würde. Erst die Unmittelbarkeit der Anrede, die Anzüglichkeit, die die Zuhörer durch das Präsens involviert, erschafft hier die Pointe. Die Verwendung des Imperativs ist als Intensivierung dieses Effektes zu beschreiben, insofern er nicht nur Aussagen über die Gegenwart trifft, sondern die Rezipienten durch eine explizite Aufforderung ins Geschehen involviert. Hier ist der Unterschied zwischen der ,Sekte der Minner‘ und der ,Serena‘ zu erkennen. Denn durch die Handlung, die Hadlaub darin erzählt, nimmt sie eine Zwischenstellung zwischen Rede und Erzählung ein: Was der Erzähler erzählt, wird als gegenwärtig geschildert, doch da es im Rahmen der ,Serena‘ um das Liebespaar geht, ist der Rezipient nur insofern gefordert, als er dessen Handlungen imaginieren soll, nicht – wie in der ,Sekte der Minner‘ – durch Aufforderungen zur regelrechten Partizipation. Hadlaub verknüpft in seiner ,Serena‘ durch den Gebrauch des Präsens die Merkmale von Erzählen mit denen des Beschreibens: Er erzählt eine Geschichte, die das Publikum aufgrund der deiktischen Struktur des Präsens unmittelbar betrifft, involviert und fordert, obwohl es die Geschichte einer Dame und ihres Geliebten ist. Deren erotische Begegnung findet ,jetzt‘, findet ,hier‘ statt, und es ist dem Rezipienten überlassen, wie nah er sich diese Begegnung kommen lassen will. ⁹⁰

90 Für Kritik und Anregung danke ich Sonja Zeman.

Christian Schneider

Welt ir nu gerne schowen, so hoeret vil bereit Raumwahrnehmung und Wahrnehmungsräume in der frühen höfischen Epik Zusammenfassung: This essay examines the reciprocal relationship between the representation of space and spatial perception in medieval German epics of the early courtly period (ca. 1150–1190). My starting point is a pragmalinguistic understanding of ,text‘ that defines text as a speech act that is transmitted from the primary situation of immediate perception, shared by everyone participating in face-to-face communication, to a distended, or secondary, speech situation. I argue that the representation of narrative space in epics such as the Middle High German ,Song of Roland‘, ,König Rother‘, ,Herzog Ernst‘, and others, is fundamentally influenced by the perceptual conditions of the audio-visual performance as a situation in which primary and secondary speech situations are being merged. Specifically, I look at the seemingly amorphic representation of the story world in medieval narratives, at the use of deictic markers, at traces of a stage-like representation of narrative space, and at narrated spatial perception to underscore my argument. Phenomena of alterity in the way space is represented in medieval narratives can thus be explained in terms of their being performed orally and acted out by a reciter. My essay contributes, from the perspective of space in narrative, to our understanding of vernacular epics of the second half of the twelfth century as texts in the ,unfolding‘ of literature—texts that assume an intermediary status between performance-oriented and book-oriented mediality. Schlagwörter: Alterität, Deixis, Höfische Epik, Kognition, Medialität, Mündlichkeit, Performativität, Raum, Schriftlichkeit, Textualität, Wahrnehmung Wenn uns jemand eine Geschichte erzählt, dann entwirft sich uns das Erzählte als ein Bild.¹ Für dieses Bild, das vor dem ,inneren‘ oder ,geistigen‘ Auge entsteht, ist charakteristisch, dass es als ein räumlicher Entwurf erscheint. Das ist besonders dann der

Die Arbeit an diesem Beitrag wurde ermöglicht durch ein Marie S. Curie FRIAS COFUND Fellowship am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) im Herbst 2016. 1 Die bildgebende Wirkung nicht nur von Erzählung, sondern von Sprache allgemein muss hier nicht näher ausgeführt werden. Sie galt gerade dem Mittelalter als Allgemeingut und wurde in der auf die griechische Medizin der Antike, vor allem Galen, zurückgehenden Ventrikellehre auch sinnesphysiologisch erklärt und begründet; siehe dazu, mit Quellen- und Forschungshinweisen, Björn Reich, Name AssProf. Dr. Christian Schneider, Washington University in St. Louis, Department of Germanic Languages and Literatures, One Brookings Drive, St. Louis, MO 63130, USA, e-mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110566536-009

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Fall, wenn die Geschichte selbst räumliche Informationen enthält. Aber auch, wenn sie uns konkrete Raumangaben vorenthält, stellt sich bei uns ein Bild ein, dem räumliche Plastizität eignet. Je weniger objektiv Räumliches das Erzählte zur Anschauung bringt, desto subjektiver wird die Raumvorstellung sein, gespeist aus dem je individuellen Vorstellungsvermögen ebenso wie aus dem Fundus von Raumbildern und Raumerlebnissen, tatsächlichen oder durch Kunst (Bücher, Filme, Fotografien etc.) vermittelten, die in unserem Gedächtnis gespeichert sind. Dieser vorgestellte Raum ist im Hinblick auf die erzählte Geschichte der Raum der Wahrnehmung. Es ist der Raum, in dem wir das erzählte Geschehen sich abspielen sehen und in Bezug auf den die räumlichen Orientierungsprozesse statthaben, die die Erzählung uns abverlangt. Dieser Wahrnehmungsraum ist ein vorgestellter, aber ein vorgestellter konkreter Raum. So helfen denn auch konkrete Raumangaben, ihn in unserer Vorstellung entstehen zu lassen.² Raumwahrnehmung und Wahrnehmungsraum hängen dementsprechend eng miteinander zusammen, lassen sich aber doch unterscheiden. Wenn Raumwahrnehmung die prozesshafte Verarbeitung raumbezogener Daten ist – Daten aus der Umwelt oder auch durch sprachliche Handlungen vermittelte –, dann ist der Wahrnehmungsraum, zusammen mit anderen, subjektiven Faktoren, das Ergebnis dieses Vorgangs.³ Er ist der „dem Menschen durch seine Sinnestätigkeit gegebene, aber nicht vollständig bestimmte Raum“, da Wahrnehmung auch noch durch andere Faktoren als die Funktion der verschiedenen Sinnesorgane, zum Beispiel durch Erwartungshaltungen, beeinflusst wird.⁴ In einem funktional-pragmatischen Textverständnis, das, wie Konrad Ehlich es im Anschluss an Karl Bühler vorgeschlagen hat, den Textbegriff von einer Theorie des sprachlichen Handelns her bestimmt, nimmt der Begriff des Wahrnehmungsraums eine zentrale Stelle ein, und zwar zunächst im Hinblick auf die unmittelbare Sprechsituation.⁵ Sprechsituationen im hier gemeinten Sinne sind Situationen physischer Kopräsenz von mindestens zwei Aktanten, Sprecher und Hörer. Sie sind gekennzeichnet durch „Gleichzeitigkeit“ und „Gleichräumlichkeit“,⁶ und es ist diese Situation der Kopräsenz, die einen, zumindest weitgehend, gemeinsamen Wahrnehmungsraum von Sprecher und Hörer schafft. Als Raum „poten-

und maere. Eigennamen als narrative Zentren mittelalterlicher Epik. Mit exemplarischen Einzeluntersuchungen zum ,Meleranz‘ des Pleier, ,Göttweiger Trojanerkrieg‘ und ,Wolfdietrich D‘ (Studien zur historischen Poetik 8), Heidelberg 2011, S. 47–51. 2 Vgl. zu einer solchen Charakterisierung des Wahrnehmungsraums Michael Dück, Der Raum und seine Wahrnehmung (Epistemata. Reihe Philosophie 252), Würzburg 2001, S. 44–46. 3 Ebd., S. 45. 4 Ebd., S. 44. 5 Das Folgende nach Konrad Ehlich, Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung, in: Aleida Assmann, Jan Assmann u. Christof Hardmeier (Hgg.), Schrift und Gedächtnis (Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation 1), München 1983, S. 24–43. 6 Ebd., S. 30.

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tieller sinnlicher Gewißheit“, wie Ehlich ihn auch beschreibt,⁷ ist er Voraussetzung für gelingende sprachliche Kommunikation: Er wird sowohl für die Äußerungsdimension der sprachlichen Handlung – die Kommunikation von Lauten und nonverbalen Zeichen – als auch für die Konstitution des Zeigfeldes und die Verwendung deiktischer Ausdrücke genutzt.⁸ Auf dieser Analyse der unmittelbaren Sprechsituation baut der funktional-pragmatische Textbegriff auf. ,Text‘ ist in dieser Sicht eine „aus ihrer primären unmittelbaren Sprechsituation herausgelöste Sprechhandlung, die für eine zweite Sprechsituation gespeichert wird“. Mit anderen Worten: Texte sind nicht „quasi naturwüchsig vorfindliche Objekte“, sondern sie sind auf die Vermittlung zweier diachroner und/oder diatopischer Sprechsituationen gerichtet, auf das, was Ehlich eine „zerdehnte Sprechsituation“ nennt. Zum Kriterium für Textualität wird damit die über die einzelne Sprechsituation hinaus fortdauernde Stabilität, und das heißt: „die Überlieferungsqualität einer sprachlichen Handlung“.⁹ Was bedeutet das für den Wahrnehmungsraum? Es heißt zunächst, dass ein gemeinsamer Wahrnehmungsraum, im Sinne eines durch Gleichzeitigkeit und Gleichräumlichkeit geschaffenen Raums möglicher sinnlicher Gewissheit, nicht vorab als gemeinsame Umgebung der an der Sprachhandlung Beteiligten, des Urhebers oder ,Autors‘ der sprachlichen Äußerung und ihres Adressaten, bereits gegeben ist. Mit dem Wegfall der Kopräsenz entfällt aber auch das gemeinsame Zeigfeld als Bezugsfeld sinnlicher Gewissheit. An die Stelle der unmittelbaren Wahrnehmung treten nun, in der eingangs beschriebenen Weise, mentale Vorgänge des Erinnerns und Imaginierens, durch die der Hörer oder Leser bei der sprachlichen Aktualisierung des Textes den Wahrnehmungsraum allererst herstellen muss. Die Orientierung der Aufmerksamkeit des Textrezipienten findet jetzt am Textund Vorstellungsraum statt, mit dem Ausdruck Bühlers: am Phantasma, nicht mehr am Sprechzeitraum und Rederaum. Die vier Begriffe – Sprechzeitraum, Rederaum, Textraum, Vorstellungsraum – führte Ehlich zur Unterscheidung von vier „Verweisräumen“ ein, worunter er diejenigen Räume versteht, auf die beim sprachlichen Handeln deiktische Operationen angewandt werden können. Der Sprechzeitraum ist der durch Kopräsenz von Sprecher und Hörer ermöglichte, gemeinsame Wahrnehmungsraum;

7 Konrad Ehlich, Deiktische und phorische Prozeduren beim literarischen Erzählen, in: Eberhard Lämmert (Hg.), Erzählforschung. Ein Symposion (Germanistische Symposien. Berichtsbände 4), Stuttgart 1982, S. 112–129, hier S. 118; vgl. auch Ehlich (Anm. 5), S. 29. 8 Zur Theorie der sprachlichen Felder, wie sie von Bühler 1934 begründet und im Rahmen der funktional-pragmatischen Kommunikationsanalyse weiterentwickelt wurde, Karl Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, 2. Aufl., mit einem Geleitwort v. Friedrich Kainz, Stuttgart 1965, sowie Konrad Ehlich, Funktional-pragmatische Kommunikationsanalyse. Ziele und Verfahren, in: Dieter Flader (Hg.), Verbale Interaktion. Studien zu Empirie und Methodologie der Pragmatik, Stuttgart 1991, S. 127–143; einen knappen Forschungsüberblick bietet Jochen Rehbein, Das Konzept der Diskursanalyse, in: Klaus Brinker u. a. (Hgg.), Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, Halbbd. 2 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 16), Berlin, New York 2001, S. 927–945, bes. S. 937 f. 9 All das, auch die Hervorhebung, bei Ehlich (Anm. 5), S. 32.

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er entspricht der Bühler’schen demonstratio ad oculos. Der Begriff des Vorstellungsraums, bei Bühler die Deixis am Phantasma, bezieht sich auf deiktische Prozeduren am imaginativ Entworfenen.¹⁰ Demgegenüber betreffen die beiden anderen Termini nicht den Gegenstand der sprachlichen Äußerung, sondern, in metaphorischer Wortverwendung, den Raum der sprachlichen Äußerung selbst, erzähltheoretisch gefasst, die Darstellung oder den discours. Im Fall der unmittelbaren, primären Sprechsituation stellt sich dieser als Rede dar, im Fall der der unmittelbaren Sprechsituation enthobenen, für den Wiedergebrauch konservierten Sprachhandlung als Text.¹¹ Wie Bühler gezeigt hat, erfolgt auch im Phantasma die Orientierung in derselben Weise räumlich und es wird dasselbe Orientierungsfeld ausgewertet wie in einer gegenwärtigen Wahrnehmungssituation, mit der Folge, dass das „vor dem geistigen Auge auftauchende Vorstellungsding einen Platz vor, hinter oder neben mir, und direkt unter den Dingen, die ich teilweise wahrnehme, teilweise vorstelle, erhalten kann.“¹² Die Unterscheidung von Sprechzeitraum und Vorstellungsraum, Rederaum und Textraum leuchtet unmittelbar dort ein, wo wir es mit verschriftlichten Texten und, wichtiger noch, mit Leserezeption zu tun haben, sprachpragmatisch formuliert: mit einer Sprechhandlung, die von vornherein und vollständig aus der unmittelbaren Sprechsituation herausgelöst und in diesem Sinne situationsabstrakt ist. Das ist immer dann der Fall, wenn, wie heute in der Regel, Texte gelesen werden, und zwar nicht laut und gemeinsam, sondern still und einsam. Doch wie verhält es sich bei Texten, die zwar schriftlich überliefert sind, doch vorgelesen, vorgesungen oder vorgetragen wurden, die also auf eine Rezeption im Hören angelegt und damit aus der unmittelbaren Sprechsituation mündlicher Kommunikation gerade nicht herausgelöst, sondern in sie eingebunden waren? Die Vortragssituation selbst ist, als direkte, unmittelbare, unvermittelte Kommunikation von Angesicht zu Angesicht, durch Gleichzeitigkeit und Gleichräumlichkeit gekennzeichnet; sie ist eine Situation der Kopräsenz, und sie schafft für den Vortragenden und die Zuhörer einen unmittelbaren, gemeinsamen Wahrnehmungsraum, der sich im Hinblick auf die räumliche Orientierung und die Möglichkeiten der Deixis als Sprechzeitraum ebenso wie als Rederaum darstellt. Zugleich

10 Dabei ist unerheblich, ob das Phantasma sich auf die wirkliche oder aber auf eine fiktive Welt bezieht. 11 Schon Bühler wies auf das Phänomen hin, dass in etwa dieselben Zeigwörter, die wir für die Deixis im Wahrnehmungsraum verwenden, bei anaphorischer oder kataphorischer Verwendung auch für das Zeigen auf Plätze in der Rede gebraucht werden; siehe zum Ganzen Bühler (Anm. 8), S. 121–140, Ehlich (Anm. 7) und ders., Literarische Landschaft und deiktische Prozedur: Eichendorff, in: Harro Schweizer (Hg.), Sprache und Raum. Psychologische und linguistische Aspekte der Aneignung und Verarbeitung von Räumlichkeit. Ein Arbeitsbuch für das Lehren von Forschung, Stuttgart 1985, S. 246–261, bes. S. 250f., sowie Ellen Fricke, Origo, Geste und Raum. Lokaldeixis im Deutschen (Linguistik – Impulse und Tendenzen 24), Berlin, New York 2007, S. 18–27. Zur Bestimmung von Text als „Wiedergebrauchsrede“ Peter Strohschneider, Höfische Textgeschichten. Über Selbstentwürfe vormoderner Literatur (GRMBeiheft 55), Heidelberg 2014, S. 15. 12 Bühler (Anm. 8), S. 134, vgl. auch S. 140.

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freilich ist Gegenstand der Darbietung ein Text im Sinn einer Wiedergebrauchsrede, und im Hinblick auf sie finden die Raumorientierung und Zeigeprozeduren an der durch die Sprache evozierten „optischen Phantasieszene“¹³ (dem Phantasma oder Vorstellungsraum) ebenso statt wie am Ganzen der Textrede selbst (dem Textraum), deren propositionaler Gehalt sich der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung von Sprecher und Hörer entzieht. Man hätte es also mit einer Situation zu tun, in der sich verschiedene Wahrnehmungsräume und Raumwahrnehmungen kreuzen und überlagern, mit der Folge, dass das, was sich theoretisch-terminologisch säuberlich trennen lässt, in der Praxis zu Vermischung und wechselseitiger Ausbeutung geradezu einlädt: Vortragserzähler können durch Gestik und Mimik, durch Hand-, Kopf- und Zeigebewegungen, ebenso wie durch stimmliche (Tonlage) und andere akustische Mittel (Geräusche) den Raum der gemeinsamen Wahrnehmung zur Vergegenwärtigung des vorgestellten Wahrnehmungsraums und zur Raumreferenz nutzen.¹⁴ Dass sie das auch tun, hat etwa Harold Scheub für das mündlich-performative Erzählen in den oralen Kulturen Afrikas in eindrucksvoller Weise demonstriert (womit keine vorschnellen, anachronistischen Parallelen zur medialen Pragmatik mittelalterlicher Texte suggeriert seien).¹⁵ So zeigt sich also, dass in einem Textualitätskonzept, das im Schnittpunkt von kategorial Diskursivem und kategorial Performativem angesiedelt ist und in dem der Körper des Vortragenden als Instanz der (Erzähl-)Rede fungiert,¹⁶ auch im Hinblick auf Räumliches Interferenzpotentiale gegeben sind. Im Folgenden möchte ich herausarbeiten, dass und wie in der Zeit eines Übergangs zwischen vokal kommunizierter und skriptural rezipierter Textualität die Überschneidung von Rederaum und Textraum, Sprechzeitraum und Vorstellungsraum in der Situation des Vortrags sowohl die Raumwahrnehmung und -gestaltung mittelalterlicher Erzähltexte vor 1200 als auch die Art ihrer Raumreferenz beeinflussen konnten. Dabei soll deutlich werden, dass sich einige auffällige Phänomene, die diese Texte im Hinblick auf die Darstellung von und die Bezugnahme auf Räumliches aufweisen, erklären, wenn man sie vor dem Hintergrund der medialen Pragmatik mittelalterlicher Dichtung sieht. Leichter erklären jedenfalls, als wenn man sie, wie es in der mediävistisch-germanistischen Raumforschung tendenziell geschieht, als Epiphänomene einer historisch alteritären Raumsemantik betrachtet, deren Wurzeln wiederum in den spezifischen anthropologischen, epistemologischen und lebensweltlichen Bedingungen der mittelalterlichen Kultur gefunden werden. Es geht mir dabei nicht darum, den einen Erklärungsansatz gegen den anderen auszuspielen, sondern durch die systematische Einbeziehung der medialen Pragmatik der Texte zu ei-

13 Bühler (Anm. 8), S. 137. 14 Mit ,Raumreferenz‘ ist gemeint die „Bezugnahme unseres Sprechens auf Räumliches“: Theo Herrmann u. Joachim Grabowski, Sprechen. Psychologie der Sprachproduktion (Spektrum Psychologie), Heidelberg u. a. 1994, S. 107. 15 Harold Scheub, Body and Image in Oral Narrative Performance, in: New Literary History 8 (1977), S. 345–367. 16 So Strohschneider (Anm. 11), S. 17.

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nem differenzierteren Verständnis von Wahrnehmungs- und Darstellungsräumlichem in der frühen höfischen Literatur zu kommen. Dass das stumme Lesen in der Volkssprache noch im späten Mittelalter, wie in der Antike, die Ausnahme war, darin scheint sich die Forschung einig.¹⁷ Darüber hinaus aber ist, was die Medialität und Pragmatik mittelalterlicher Literatur betrifft, vieles umstritten. Sonja Glauch hat in ihrer Studie zur Poetik höfischen Erzählens die Frage für die volkssprachige Dichtung um 1200 noch einmal aufgenommen und gegen eine in der Germanistik der letzten Jahrzehnte zunehmende „Tendenz zur ,Literarisierung‘“ den performativen Charakter der Texte betont.¹⁸ Ein guter Teil der volkssprachigen Erzählliteratur vor 1200 ist Vortragsdichtung, und sie enthält die Performanz als Möglichkeit selbst dort, wo sie ihrer Entstehung nach auf die Buchform angewiesen ist.¹⁹ Dieser Befund darf, mit Differenzierungen im Einzelnen,²⁰ sowohl für die anonym überlieferte, aus mündlicher Tradition stammende, aber in die Schriftlichkeit überführte Abenteuer-, Brautwerbungs- und Heldenepik als auch für die mit Autornamen versehene, überwiegend auf historische und legendarische Stoffe zurückgreifende Buchepik der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts Geltung beanspruchen. Zwar ist mit der medialen Bestimmung der Texte als im Hören rezipierte Vortragsdichtung noch nichts darüber ausgesagt, inwieweit diese Medialität sich auch auf die Textkonstitution selbst auswirkte. Auch Texte, die nicht genuin Vortragsdichtung sind, die also nicht für einen realen Vortrag geschrieben wurden, können selbstverständlich vorgetragen werden; das Format der modernen Autorenlesung ist ein klassisches Beispiel dafür. Doch ist es das Beispiel einer literaten Kultur, während es umgekehrt für eine semiorale Kultur, wie es diejenige des Mittelalters anerkanntermaßen war,²¹ erstaunlich wäre, wenn der Zwischenstatus der Texte zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit Spuren nicht auch in ihrer textuellen Verfasstheit hinterlassen hätte.²² Solchen Spuren

17 Manfred Günter Scholz, Hören und Lesen. Studien zur primären Rezeption der Literatur im 12. und 13. Jahrhundert, Wiesbaden 1980, S. 103–111, bes. S. 109. 18 Sonja Glauch, An der Schwelle zur Literatur. Elemente einer Poetik des höfischen Erzählens (Studien zur historischen Poetik 1), Heidelberg 2009, S. 35–76. 19 Vgl. ebd., S. 10. 20 Für den ,Herzog Ernst‘ z. B. mit seiner Mischung aus Reichsgeschichte einerseits, orientalischer und lateinisch-ethnographischer Märchenwelt andererseits ist nicht ganz klar – und wird sich wohl auch nicht mehr klären lassen –, zu welchen Teilen er sich aus schriftliterarischen oder aber mündlichen Quellen speist; vgl. Michael Curschmann, „Spielmannsepik“. Wege und Ergebnisse der Forschung von 1907–1965. Mit Ergänzungen und Nachträgen bis 1967 (Überlieferung und mündliche Kompositionsform) (Referate aus der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte), Stuttgart 1968, S. 34–41; Markus Stock, Kombinationssinn. Narrative Strukturexperimente im ,Straßburger Alexander‘, im ,Herzog Ernst B‘ und im ,König Rother‘ (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 123), Tübingen 2002, S. 154–157. 21 So etwa Jan-Dirk Müller, Medieval German Literature: Literacy, Orality and Semi-Orality, in: Karl Reichl (Hg.), Medieval Oral Literature, Berlin, Boston 2012, S. 295–334, bes. S. 328. 22 Vorläufig ausgeklammert werden soll dabei an dieser Stelle die Frage, ob die solchermaßen postulierte Mündlichkeit in den Texten als eine ,fiktive‘, ,gespielte‘ anzusprechen wäre.

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soll im Folgenden an drei Erscheinungen nachgegangen werden, die in raum- und wahrnehmungslogischer Hinsicht auffällig sind, auffällig auch in dem Sinne, dass sie neuzeitlichen Maßstäben zuwiderlaufen und daher bei einer Lektüre im Stillen, wie sie heute der Normalfall ist, irritierend wirken. Diese Phänomene sind: narrative Aussparungen, die den Eindruck der Gestaltlosigkeit und Unanschaulichkeit des Raums der erzählten Welt hervorrufen; die Tendenz zu deiktischen statt nicht-deiktischen Arten des Verweisens bei der Erzeugung von Raum; erzählte Raumwahrnehmung, bei der die Positionen und Perspektiven verschiedener räumlicher Wahrnehmungsinstanzen überblendet werden.

1 Amorphe Räume Raum wird hergestellt und strukturiert durch Nähe- und Distanzverhältnisse: durch Richtungen, Bewegungen und Dinge im Sinne materieller räumlicher Gegebenheiten. Rechts oder links, ein Spaziergang, die Flugbahn eines Stöckchens, dem ein Hund nachjagt, die Bank in einem Park – all das schafft Raum. In einem narrativen Text helfen derlei raumkonstitutive Angaben dem Rezipienten dabei, sich von dem dargestellten Raum ein Bild zu machen, ihn als mentales Modell zu entwerfen.²³ Neuzeitliche Leser sind daran gewöhnt, dass Erzähltexte ihnen eine erhebliche Menge an Informationen zur Verfügung stellen, die im Prozess der Lektüre für den Aufbau der räumlichen Verhältnisse der dargestellten Welt ausgewertet werden können. Mittelalterliche Texte verfahren, wie die Forschung der letzten Jahre und Jahrzehnte herausgearbeitet hat, in dieser Hinsicht anders.²⁴ Sie gehen mit Hinweisen, die dem

23 Systematisch als „mentales Modell eines Modell-Lesers“ (S. 8 u. ö.) konzeptualisiert Katrin Dennerlein, Narratologie des Raumes (Narratologia 22), Berlin, New York 2009, bes. S. 99–114, den erzählten Raum. 24 Für einen Überblick über Aspekte und Tendenzen der mediävistisch-germanistischen Raumforschung seit den 1950er Jahren siehe etwa Erwin Kobel, Untersuchungen zum gelebten Raum in der mittelhochdeutschen Dichtung (Zürcher Beiträge zur deutschen Sprach- und Stilgeschichte 4), Zürich o. J. [1951]; Uwe Ruberg, Raum und Zeit im Prosa-Lancelot (Medium aevum 9), München 1965; Bernhard Jahn, Raumkonzepte in der Frühen Neuzeit. Zur Konstruktion von Wirklichkeit in Pilgerberichten, Amerikareisebeschreibungen und Prosaerzählungen (Mikrokosmos 34), Frankfurt a. M. u. a. 1993; Hartmut Beck, Raum und Bewegung. Untersuchungen zu Richtungskonstruktion und vorgestellter Bewegung in der Sprache Wolframs von Eschenbach (Erlanger Studien 103), Erlangen, Jena 1994; Jan A. Aertsen u. Andreas Speer (Hgg.), Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter (Miscellanea mediaevalia 25), Berlin, New York 1998; Andrea Glaser, Der Held und sein Raum. Die Konstruktion der erzählten Welt im mittelhochdeutschen Artusroman des 12. und 13. Jahrhunderts (Europäische Hochschulschriften I 1888), Frankfurt a. M. u. a. 2004; Elisabeth Vavra (Hg.), Virtuelle Räume. Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter. Akten des 10. Symposiums des Mediävistenverbandes, Krems, 24.–26. März 2003, Berlin 2005; Uta Störmer-Caysa, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin, New York 2007; Sonja Glauch, Susanne Köbele u. Uta

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Rezipienten die räumliche Imagination des Dargestellten erleichtern könnten, wesentlich sparsamer um. Der Raum, in dem die handelnden Figuren sich bewegen, erscheint oft merkwürdig ungeformt und gestaltlos. Auf die Schilderung von objektiv Räumlichem wird gerne verzichtet, Wege, Ziele, räumliche Verhältnisse und Gegebenheiten nur dann objektiviert und näher beschrieben, wenn sie etwas zu bedeuten haben und/ oder für die Handlung zwingend erforderlich sind. Auch die Geographie der Texte erscheint selten wirklichkeitsförmig. Das gilt besonders für den höfischen Roman des 12. und beginnenden 13. Jahrhunderts mit seiner, wenn auch historisch teilweise erklärbaren, Märchengeographie.²⁵ In anderen Textgattungen, wie dem Heldenepos, verhält es sich etwas anders: Im ,Nibelungenlied‘ etwa lässt sich Kriemhilds und der Burgonden Weg an den Etzelhof bekanntlich – und zur Freude der heutigen Tourismusindustrie – über weite Strecken mit dem Finger auf der Landkarte nachwandern. Aber erstens ist solcher geographischer Realismus auch dem Heldenepos nur punktuell zu eigen,²⁶ und zweitens betreffen geographische Angaben und Wirklichkeitsanspielungen räumliche Makrostrukturen, die auf einer anderen Ebene anzusiedeln sind als Raumstrukturen kleinerer Ordnung, wie sie für die mentale Modellierung einzelner Szenen oder anderer eher kleinräumiger Arrangements von Bedeutung sind. Was diese betrifft, scheint sich

Störmer-Caysa (Hgg.), Projektion – Reflexion – Ferne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter, Berlin, Boston 2011; Markus Stock u. Nicola Vöhringer (Hgg.), Spatial Practices. Medieval/ Modern (Transatlantische Studien zu Mittelalter und Früher Neuzeit 6), Göttingen 2014; Armin Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, hrsg. v. Manuel Braun, Alexandra Dunkel u. Jan-Dirk Müller, Berlin, Boston 2012, S. 292–321; Silvan Wagner, Erzählen im Raum. Die Erzeugung virtueller Räume im Erzählakt höfischer Epik (Trends in Medieval Philology 28), Berlin, Boston 2015. 25 Dazu Störmer-Caysa (Anm. 24), S. 43–47. Die Situation ändert sich im Lauf des 13. Jahrhunderts: So hat Mathias Herweg, Wege zur Verbindlichkeit. Studien zum deutschen Roman um 1300 (Imagines medii aevi 25), Wiesbaden 2010, S. 246–267, gezeigt, wie im Zusammenhang mit dem, was er die „(Re-)Historisierung“ (S. 432) des späthöfischen Versromans nennt, das Anliegen einer geographischen Verortung und Systematisierung der epischen Raumbezüge sowie ihre Anbindung an die Erfahrungswelt der Rezipienten zum textreihenkonstitutiven Merkmal des Romans um 1300 wird. 26 So konzentrieren sich beispielsweise die Angaben im ,Nibelungenlied‘ in auffälliger Weise auf den Donauraum zwischen Passau und Wien, was die ältere Forschung zu weitreichenden Hypothesen über die Entstehung des Textes veranlasst hat: siehe Heinrich Hempel, Pilgerin und die Altersschichten des Nibelungenliedes, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 69 (1932), S. 1–16. Gleichzeitig stehen den präzise lokalisierbaren Räumen solche gegenüber, die sich im geographischen Irgendwo einer mythischen Sagenwelt verlieren (das Land Nibelungs, Isenstein); dazu George T. Gillespie, Das Mythische und das Reale in der Zeit- und Ortsauffassung des ,Nibelungenliedes‘, in: Fritz Peter Knapp (Hg.), Nibelungenlied und Klage. Sage und Geschichte, Struktur und Gattung. Passauer Nibelungengespräche 1985, Heidelberg 1987, S. 43–60, sowie, zur struktur- und sinnkonstitutiven Funktion von Raum im ,Nibelungenlied‘, Elisabeth Lienert, Raumstrukturen im ,Nibelungenlied‘, in: Klaus Zatloukal (Hg.), Heldendichtung in Österreich – Österreich in der Heldendichtung. 4. Pöchlarner Heldenliedgespräch (Philologica Germanica 20), Wien 1997, S. 103–122. Dessen ungeachtet ist die Heldenepik im Ganzen sicherlich in stärkerer Weise als der Roman um eine geographisch-topographische Verortung des dargestellten Geschehens bemüht.

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die Raumgestaltung in der Heldenepik von der des höfischen Romans nicht wesentlich zu unterscheiden. Die Forschung hat angesichts dieses Befundes davon gesprochen, dass die Raumdarstellung in mittelalterlichen Texten nicht mimetisch sei, nicht abziele auf „die wertfreie Abbildung irgendwelcher Wirklichkeiten“.²⁷ Stattdessen seien Raum und Bewegung im mittelalterlichen Roman, wie vor allem Uta Störmer-Caysa hervorgehoben hat, radikal subjektiv und figurbezogen. So wie in mittelalterlichen Itineraren und Reisebeschreibungen Raum nicht als objektiv vorhanden aufgefasst werde, so erscheine auch in der Literatur Raum als „Raum-für-mich“, gebunden an die Raumwahrnehmung und -erfahrung des gehenden oder reitenden Menschen.²⁸ Zur Veranschaulichung dieses Zusammenhangs wurde und wird gerne auf die von Erwin Panofsky, in seinem berühmten Aufsatz zur Entwicklung der Zentralperspektive, eingeführte und als Erstem von Peter Czerwinski für die Mediävistik genutzte Unterscheidung zwischen Aggregatund Systemräumen verwiesen.²⁹ Meint Systemraum einen Raum, der den Dingen vorgängig ist und in dem die Dinge einander nach bestimmten, allgemeingültigen Regeln relational zugeordnet sind, so bezieht sich der Begriff des Aggregatraums auf einen Raum, der sich als ein mehr oder weniger unverbundenes, perspektivisch nicht aufeinander abgestimmtes Neben- oder Hintereinander der Dinge darstellt.³⁰ Der Raum wird hier nicht von außen, sondern von innen her bestimmt, durch die Dinge oder – im Fall menschlicher oder menschenähnlicher Protagonisten – von den Figuren her.³¹ Dementsprechend hat man gesagt, dass Raum sich in den Texten als Funktion der Figuren präsentiere; er sei funktional an der Bewegung und dem Handeln der Figuren ausgerichtet.³² Räumliches trete nur dann in Erscheinung, wenn es für die Protagonisten von Bedeutung sei, unvermittelt ,knospend‘, dann aber in mitunter erstaunlich stabilen Arrangements.³³ Bernhard Jahn hat dafür den Begriff

27 Schulz (Anm. 24), S. 304. 28 Störmer-Caysa (Anm. 24), S. 64, 76. 29 Erwin Panofsky, Die Perspektive als „symbolische Form“, in: ders., Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, hrsg. v. Hariolf Oberer u. Egon Verheyen, 3. Aufl. Berlin 1980, S. 99–167; Peter Czerwinski, Gegenwärtigkeit. Simultane Räume und zyklische Zeiten, Formen von Regeneration und Genealogie im Mittelalter (Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung 2), München 1993, bes. S. 89–109. 30 Panofsky (Anm. 29), S. 108–111. 31 Im Sinne eines aggregativen, d. h. von den Figuren ausgehenden Raumverständnisses ist auch die Unterscheidung zwischen Bewegungsräumen und Schwellenräumen zu verstehen, die Glaser (Anm. 24) für die Raumdarstellung im höfischen Roman trifft: Räume, die durch die „visualisierte Bewegung“ von Figuren oder als Bewegung von Räumen selbst entstehen, sind ,Bewegungsräume‘; ,Schwellenräume‘ solche, die sich beim Übertritt einer Figur von einer Sphäre in eine andere bilden (S. 19–21). 32 So, unter Bezug auf Störmer-Caysa, Schulz (Anm. 24), S. 304. 33 Von ,räumlicher Knospung‘ und ,Sprossräumen‘ hat Uta Störmer-Caysa (Anm. 24), S. 70f., 240,

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des ,Inselraums‘ verwendet.³⁴ Auf heutige Leser wirkt das so, als ob, hervorgerufen durch die „raumschaffenden Potenzen“ der Protagonisten,³⁵ die Raumverhältnisse, derer die Handlung gerade bedarf, ad hoc aus dem Boden der erzählten Welt schössen, ohne dabei notwendig in sich stimmig oder auch nur widerspruchsfrei zu sein. Als Figurenfunktion erscheint Räumliches auch dort, wo es, wie in Richtungs- und anderen Angaben der Raumorientierung, auf die Bewegung der Figuren abgestimmt und von ihnen aus gedacht ist. Besonders hier hat sich gezeigt, dass Raumstrukturen im mittelalterlichen Erzählen semantisch besetzt und einem topologischen Verständnis zugänglich sein können. Bekannte Beispiele sind – eine schon biblische Wegemetaphorik aufgreifend, aber bisweilen auch in einer nicht leicht zu entwirrenden Weise mit ihr spielend – die Wege zur Linken und zur Rechten des arturischen Aventiureritters;³⁶ oder auch die, im Sinne Lotmans, sujetkonstitutive Überschreitung einer an sich nicht überschreitbaren Grenze im Raum der erzählten Welt, die zugleich eine topologische Grenze darstellt: eine Grenze zwischen zwei ,semantischen Feldern‘, das heißt, unterschiedlichen Normbereichen oder ,Welten‘ – zwischen Höfischem und Nicht-Höfischem, Diesseitigem und Jenseitigem etc.³⁷ Gestaltlosigkeit und Diskontinuität – man hat auch von ,räumlicher Unbestimmtheit‘ und ,Anschauungslosigkeit‘ gesprochen –³⁸ stellen sich so, neben Momenten einer ausgeprägten Plastizität, als Kennzeichen der Raumdarstellung im volkssprachigen Erzählen vor und um 1200 dar. Die frühen höfischen Erzähltexte bieten dafür viele Beispiele. Ich will mich auf einige wenige, besonders aussagekräftige beschränken. Sie sollen das Spektrum dessen veranschaulichen, was ich mit ,amorphen Räumen‘ meine und was mir im Hinblick auf eine mediale Raumpragmatik bemerkenswert erscheint. Wenn die Beispiele dabei aus Texten unterschiedlicher Reihenzugehörigkeit stammen, dann ist das nicht einer eklektizistischen Auswahl geschuldet, sondern spiegelt den Umstand, dass die

gesprochen und als Beispiel das sogenannte Torverlies aus dem ,Iwein‘-Roman Hartmanns von Aue herangezogen. 34 Jahn unterscheidet dabei zwei Fälle: erstens, dass der Raum für den ihn durchquerenden Helden zur Gefahr wird, zweitens, dass die Lage einer Stadt oder Burg, als Kulturorte inmitten des Niemandslandes einer ansonsten indifferent erscheinenden Natur, näher bestimmt wird; siehe, zusammenfassend, Jahn (Anm. 24), S. 346–355. 35 Störmer-Caysa (Anm. 24), S. 71. 36 Siehe dazu Erich Auerbachs klassisches Kapitel zum ,Yvain‘ des Chrétien de Troyes: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (Sammlung Dalp), 9. Aufl. Tübingen, Basel 1994, S. 120–138, bes. S. 125 f.; außerdem Störmer-Caysa (Anm. 24), S. 53–57, sowie Elisabeth Schmid, Lechts und rinks. . . Kulturelle Semantik von Naturtatsachen im höfischen Roman, in: Glauch, Köbele u. Störmer-Caysa (Hgg.) (Anm. 24), S. 121–136. 37 Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte (Uni-Taschenbücher 103), 4., unveränd. Aufl. München 1993, S. 327–329 (zum Begriff der Grenze), 329–340 (zum Konzept des Sujets). 38 So Hugo Kuhn, Über nordische und deutsche Szenenregie in der Nibelungendichtung, in: Hermann Schneider (Hg.), Edda, Skalden, Saga. Festschrift zum 70. Geburtstag von Felix Genzmer, Heidelberg 1952, S. 279–306, hier S. 283, 285, in Bezug auf die Aventiuren 1–13 des ,Nibelungenliedes‘.

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Phänomene tatsächlich, in wechselnder Dichte, in allen der hier untersuchten Texte vorkommen. Sie betreffen – die (mangelnde) Wirklichkeitsförmigkeit in der Darstellung räumlicher Verhältnisse, genauer: eine auffällige Unbekümmertheit um die räumlichen Bedingungen, die der Handlung realistischerweise gesetzt sind; – die (mangelnde) Binnenkonsistenz räumlicher Arrangements; – die (fehlende) Darstellung von Bewegung. Ein Beispiel für das Erste entnehme ich dem ,Rolandslied‘, der um 1170 von einem Kleriker namens Konrad auf Deutsch bearbeiteten altfranzösischen ,Chanson de Roland‘: Die Nachhut des kaiserlichen Heeres, unter Führung Rolands, Oliviers, Bischof Turpins und der anderen Paladine Karls, ist im Tal von Ronceval in den Pyrenäen in einen Hinterhalt der Heiden geraten. Erst als das kleine Heer, trotz heroischer Gegenwehr, nahezu aufgerieben ist, entscheidet sich Roland, das zuvor verweigerte (vgl. V. 3845– 3898, 5995–6018) Notsignal zu geben.³⁹ Sein Horn Olifant blasend, bis ihm der Schädel zu platzen droht, ruft er das kaiserliche Hauptheer zu Hilfe. Karl kehrt um und besiegt die Heiden in einer gewaltigen Racheschlacht. Ein lakonischer Doppelvers berichtet die Reaktion Marsilies auf die Niederlage und Flucht der Heiden: Marsilie ersach der haiden nôt, / vor laide viel er tôt (V. 8595 f.). Aber wie kann Marsilie die Not seiner Leute ersehen? Er hat den Ort des Geschehens zu diesem Zeitpunkt schon längst geflohen, liegt in der Stadt Sarraguz auf dem Krankenlager (V. 7128–7130). Roland hat Marsilie in der Schlacht einen Arm abgeschlagen (V. 6306); sein Heer führt inzwischen der heidnische Großkönig Paligan. Die Schlacht findet zweifellos in der Nähe von Ronceval statt (V. 7485), Saragossa ist mehr als 150 Kilometer entfernt. Doch spielen die tatsächlichen Raumverhältnisse an dieser Stelle erkennbar keine Rolle; suggeriert wird vielmehr eine, in die Figurenperspektive hineinverlegte, unmittelbare Wahrnehmbarkeit des Geschehens ad oculos.⁴⁰ Räumliche Wirklichkeitsförmigkeit spielt vor allem bei der Darstellung von Figurenkommunikation oft keine Rolle. Die Figuren sehen sich, hören sich oder sprechen

39 Die zitierte Ausgabe: Pfaffe Konrad, Das Rolandslied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hrsg., übers. u. komm. v. Dieter Kartschoke (Reclams Universal-Bibliothek 2745), Stuttgart 1993. 40 Man könnte zwar daran denken, mhd. ersehen im Sinne eines allgemeineren, nicht auf visuelle Sinneseindrücke beschränkten Wahrnehmens zu verstehen, doch sprechen die Gebrauchszusammenhänge, in denen das Verb im Mittelhochdeutschen belegt ist, eher gegen ein solches Verständnis. Die in den Wörterbüchern gelisteten Belegstellen zeigen, dass ersehen fast immer tatsächliches Sehen meinte; siehe Georg Friedrich Benecke, Wilhelm Müller u. Friedrich Zarncke, Mittelhochdeutsches Wörterbuch, ND der Ausg. Leipzig 1854–1866 mit einem Vorwort und einem zusammengefaßten Quellenverzeichnis v. Eberhard Nellmann sowie einem Alphabetischen Index v. Erwin Koller, Werner Wegstein u. Norbert Richard Wolf, Bd. II,2, Stuttgart 1990, Sp. 276b –277b ; Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. 1, Leipzig 1872, Sp. 670f. Einen zusätzlichen Beleg, dass das auch für Konrads ,Rolandslied‘ gilt, bietet die Parallelstelle aus dem ,Karl‘ des Strickers; siehe unten bei Anm. 98.

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miteinander, ohne dass dies raumrealistisch nachvollziehbar wäre. In dem legendenhaften Abenteuerroman ,Orendel‘ (ca. 1190) um den ungenähten Grauen Rock Christi etwa wird erzählt, wie die Riesen Liberian und Pelian jeweils von Bride, der Herrscherin über Jerusalem, die Herausgabe Orendels verlangen, der seit seiner Ankunft in der Stadt nur noch ,Der graue Rock‘ heißt: der [Liberian, C. S.] leinte sich mit druwen zu Jerusaleme an die burgmuren, er sprach: ,sint ir din, frouw Bride, die schonste ob allen wiben? so gebent uns den Grawen Roc her uz uf den tempelhof! oder daz heilige grap wil ich verbrennen, die kristenlude quellen dar inne.‘ do frouw Bride die rede vernam, uf stunt die maget lobesam [. . . ]. (V. 1570–1579)⁴¹

Liberian ,spricht‘, an die Stadtmauern Jerusalems gelehnt. Bride vernimmt die an sie gerichteten Worte des Riesen, obwohl sie sich zu dieser Zeit – es ist Nacht – in ihrem Schlafgemach befindet.⁴² Rationalisierende Erklärungsversuche wie die, dass Riesen eben so laut sprechen, dass man sie überall hört, führen hier nicht weiter. Es geht um eine grundsätzliche Unbekümmertheit um die räumlichen Bedingungen der erzählten Handlung, eine Unbekümmertheit, die überall dort herrscht, wo nicht Räumliches selbst im Fokus der Handlungsdarstellung liegt. Auch Beispiele für eine mangelnde Binnenkonsistenz räumlicher Arrangements finden sich immer wieder. Hier erscheinen die erzählten Raumverhältnisse und Bewegungen zwar für sich genommen nicht wirklichkeitsinadäquat, formen sich aber im Ganzen doch nicht zu einem in sich stimmigen Raumbild. So an dieser Stelle aus dem um 1160/70 entstandenen Brautwerbungsepos ,König Rother‘: Nachdem Rother, alias Dietrich, und seine Mannen vor Konstantinopel gelandet und von König Konstantin empfangen worden sind, nehmen sie Quartier; es ist ihr erster Aufenthalt in Konstantinopel: sich herbergetin Thiederichis man / der porten also nahe, / daz si sich wol undersagen (V. 1031–1033).⁴³ Das ist die Version von H, die nicht nur Leithandschrift, sondern quasi-unikales Manuskript ist. Porte könnte hier den ,Hafeneingang‘, aber auch den ,Stadteingang‘ meinen oder schlicht ,Hafen‘ beziehungsweise ,(Stadt-)Tor‘.⁴⁴

41 Orendel, hrsg. v. Hans Steinger (Altdeutsche Textbibliothek 36), Halle a. d. Saale 1935; ebenso V. 1873–1882. 42 Dass die Szene nachts spielt, ist V. 1598 (des morgens do ez dagete) zu entnehmen. 43 Zitiert nach König Rother. Mittelhochdeutscher Text und neuhochdeutsche Übers. v. Peter K. Stein, hrsg. v. Ingrid Bennewitz unter Mitarbeit v. Beatrix Koll u. Ruth Weichselbaumer (Reclams UniversalBibliothek 18047), Stuttgart 2000. 44 Für ,Hafen‘ entschieden sich in ihren Ausgaben bzw. Übersetzungen Rückert (König Rother, hrsg. v. Heinrich Rückert [Deutsche Dichtungen des Mittelalters 1], Leipzig 1872, S. 62), Kramer (König Rother.

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Doch ist das Problem ein anderes. Wenig später, als Rother und seine Gefährten ihren Auftritt an Konstantins Hof haben, heißt es nämlich: Die recken stalletin ir ros / unde geherbergetin uffe dene hof (V. 1092 f.). Jetzt ist die Herberge offenbar der Hof. Wenn Berchter, Rothers ältester Ratgeber, V. 1237 f. seinem Herrn dann empfiehlt, sich in die Quartiere zurückzuziehen (unde var zo den herrebergen), fragt man sich, wo diese nun sind: in der Nähe des Hafens/Stadttors oder aber an Konstantins Hof? Die Situation klärt sich V. 1261–1267: Rother/Dietrich bittet Konstantin, zusammen mit seinen Gefolgsleuten in seinen, Rothers, Quartieren wohnen zu dürfen; sie seien zu viele, um alle an den Hof ziehen zu können. Diese Aussage kann nur auf ein Quartier am Hafen/beim Stadttor bezogen sein. Schon die Handschriften, H und die fragmentarische Überlieferung BE, verhalten sich an dieser Stelle nicht eindeutig.⁴⁵ Die Überlieferung reagiert offenbar auf drei Situationen mit je eigenen räumlichen Anforderungen: erstens das Löschen der kostbaren Fracht, des Goldes und der anderen Schätze, die Rothers Schiffe mit nach Konstantinopel gebracht haben – das legt ein Quartier am Hafen nahe, wo Sichtkontakt zu den Bewachern der Schiffe besteht; auf diese Situation zielt H in V. 1031–1033. Zweitens: das Beisammensein (und Zusammenhalten) von Rothers Mannen in der feindlichen Umgebung – in H, V. 1267 (da wir al samen sin), Rothers Begründung gegenüber Konstantin und in der Überlieferung von BE schon an der ersten Stelle (H 1031–1033) als Ersatzvers eingespielt: sich herbergten Dietriches man / zv der porte nahen (hin zv), / da si allesampt warn (nv) (BE 32–34).⁴⁶ Drittens schließlich: die gastliche Aufnahme in der Fremde, an Konstantins Hof – das der Handlung zugrundeliegende ,Script‘ wäre hier: Wer in nicht-feindlicher Absicht an einen fremden Hof kommt, findet dort auch gastliche Aufnahme, Herberge also. Doch werden diese drei Handlungssituationen mit ihren jeweiligen Raumerfordernissen nicht vollkommen konsistent zueinander vermittelt, sondern wie drei Raumbilder übereinandergelegt; auf einen heutigen Leser wirkt das irritierend. Im ,Tristrant‘ Eilharts von Oberg (um 1170) stellt Kehenis, der Bruder der zweiten Isalde und, seit Tristrants Heirat mit seiner Schwester, dessen Schwager, Tristrant zur Rede, weil dieser sich weigert, mit seiner Schwester die Ehe zu vollziehen. Tristrant erklärt darauf, von Isalde auch nicht gut behandelt worden zu sein. Eine edle Frau gebe es, die um seinetwillen einen Hund besser behandele als Kehenis’ Schwester ihn: jo vuret ouch eine vrauwe baß ein hundelin dorch mynen willen

Geschichte einer Brautwerbung aus alter Zeit, übertr. u. eingel. v. Günter Kramer, Berlin 1961, zu V. 1018–1054) und Stein (Anm. 43), S. 97; Vries (Rother, hrsg. v. Jan de Vries [Germanische Bibliothek. Abteilung 2, Untersuchungen und Texte 13], Heidelberg 1922, S. 107) hat wohl ,(Stadt-)Tor‘ im Auge. 45 BE, die Baden-Nürnberger Fragmente, finden sich in der Stein’schen Ausgabe (Anm. 43) S. 394–426 abgedruckt. 46 Vgl. dazu Walter Johannes Schröder, Zur Textgestaltung des ,König Rother‘, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (Halle) 79 (1957), S. 204–233, hier S. 207 f.

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beide vorholin und stille, den uwir swestir mir hat getan. (V. 6244–6247)⁴⁷

Das gilt es zu bewähren. Tristrant und Kehenis machen sich auf nach Tintanjol. Dort, während einer Jagdpartie im Blankenwalt (V. 6619), beobachten sie aus einem Dornbusch, wie die erste Isalde – die Tristrant freilich vorher durch einen Boten vorbereitet hat – Tristrants Hündchen so zärtlich streichelt, dass Kehenis zugesteht, dass seine Schwester so gut Tristrant nicht behandelt haben könne (V. 6595–6601). Am Abend suchen Tristrant und Kehenis Isalde auf. Isalde behält Tristrant bei sich und fordert Kehenis auf, zu ihrer Gefährtin Gymele zu gehen, damit sie mit ihm schlafe (V. 6654– 6664). Offenbar will Isalde mit Tristrant ihre Ruhe haben, aber Gymele weist Kehenis ab. Einige Verse weiter schickt Isalde Kehenis wahlweise zu Brangene oder Gymele (V. 6708–6718). Das wirkt widersprüchlich, denn mit keinem Wort wird erwähnt, dass Isalde Kehenis bereits einmal aufgefordert hat, zu Gymele zu gehen. Ebenso wenig erfahren wir, dass Kehenis in der Zwischenzeit wieder zu Tristrant und Isalde zurückgekehrt ist. Hingegen sind die darauffolgenden Verse 6731–6733 wieder konsistent: Kehenis fühlt sich verspottet, weil er doch schon einmal bei Gymele gewesen sei. Wieder einige Verse weiter spricht dann Gymele mit Isalde (V. 6742–6756), ohne dass die räumlichen Umstände der Szene deutlich wären. Offenbar spricht Gymele von ihrem Bettlager aus. Aber haben wir uns Gymeles Lager im selben Zelt wie dasjenige Isaldes vorzustellen? Dafür spräche vielleicht V. 6665, wo zuletzt von einem Innen die Rede ist (Do en waz dar nymant inne) – offenbar dem Inneren eines Zeltes (V. 6554–6559, 6579) –, in dem sich zu diesem Zeitpunkt niemand außer Isalde, Gymele und dem Kämmerer Perenis befinden. Aber das liegt fast einhundert Verse zurück, und selbst wenn dem so wäre, bliebe die Lokalität der Szene im Ganzen unanschaulich, weil auf die Explikation der räumlichen Verhältnisse und der Figurenbewegungen verzichtet wird. Der Raum bleibt, zumindest für moderne Leser, amorph. Beispiele für fehlende Bewegungsdarstellung finden sich in den Texten allenthalben. Noch einmal aus dem ,Orendel‘: In V. 2175–2180 spricht Bride Orendel direkt an, die beiden sind also in unmittelbarer räumlicher Nähe zueinander vorzustellen. Fünfundzwanzig Verse später dann, in V. 2205 f., lässt er zu ihr in ihre kemenade schicken; kein Wort davon, dass sie sich in der Zwischenzeit entfernt hat. Die Verse 3095–3098

47 Die Eilhart-Zitate folgen der Ausgabe Eilhart von Oberg, Tristrant. Edition diplomatique des manuscrits et traduction en français moderne avec introduction, notes et index, hrsg v. Danielle Buschinger (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 202), Göppingen 1976. Dabei zitiere ich nach der Dresdener Handschrift D (Sächsische Landesbibliothek Ms. M 42, 1433), da diese gegenüber der Heidelberger Handschrift H (Cod. Pal. germ. 346, zwischen 1460 und 1475) zwar nicht den Vorteil größerer Textvollständigkeit, aber dafür den der besseren Textqualität hat, was sich u. a. in der konservativeren Bewahrung alter Reime, Formen und Fügungen zeigt; dazu die Bemerkungen zur Beurteilung der Handschriften in Bussmanns synoptischer Edition der alten Fragmente: Eilhart von Oberg, Tristrant. Synoptischer Druck der ergänzten Fragmente mit der gesamten Parallelüberlieferung, hrsg. v. Hadumod Bussmann (Altdeutsche Textbibliothek 70), Tübingen 1969, S. XLVI–IL.

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wiederum erzählen, wie Bride zwei Herzögen in Bari je fünfzig Pferde überschreibt, die der, inzwischen ebenfalls zum Herzog erhobene, Fischer Ise für Bride und Orendel eingefangen hat, tatkräftig unterstützt von den beiden Herzögen. Die Szene ereignet sich während der Seereise nach Trier; sie setzt voraus, dass Bride, die sich zuletzt noch auf ihren Schiffen befand (vgl. V. 3006–3011), an Land gegangen ist. Doch wurde davon nicht nur nichts erzählt, sondern es scheint auch V. 3029–3036 zu widersprechen, aus denen sich ergibt, dass Ise allein an Land gerudert ist, um Pferde zu beschaffen. Phänomene dieser Art – und die Beispiele ließen sich ohne Weiteres vermehren – können auch als ,räumliche Abbreviaturen‘ beschrieben werden. Es handelt sich um Verkürzungen, die sich aus der Nicht-Explikation oder Unabgestimmtheit solcher räumlicher Bedingungen der dargestellten Handlung ergeben, wie sie, zumindest nach heutigen Maßstäben, für ein kohärentes Raumbild erforderlich wären. Nach den Maßstäben der volkssprachigen Textkultur des 12. Jahrhunderts waren sie es offensichtlich nicht. Die zeitgenössischen Rezipientinnen und Rezipienten, so darf man wohl annehmen, haben sich daran nicht gestört. Manche der Beispiele lassen sich als Fälle eines aggregativen – statt systemischen – oder auch eines entschieden figur- und handlungsbezogenen Raumverständnisses interpretieren: Ersteres ließe sich etwa für den ,König Rother‘ geltend machen, wo mehrere räumliche Konstellationen übereinandergelegt zu sein scheinen (Herberge in Hafen- oder Stadttornähe in Bezug auf den Schatztransport und eine gemeinsame Unterbringung, am Hof in Bezug auf die Beherbergung durch Konstantin), Letzteres für die zweite ,Orendel‘-Stelle, wo die vorauszusetzende Räumlichkeit sprunghaft wechselt, sobald eine neue Handlungssituation dies erfordert (Bride auf den Schiffen/an Land). Die Grenzen zwischen beiden Modellen erscheinen fließend, vor allem aber sind sie eigentlich auf die Bewegung der Figuren im Raum der erzählten Welt sowie auf solche Stellen berechnet, an denen man es mit relativ ausgearbeiteten Raumarrangements zu tun hat, diese aber nur sehr vorübergehend, bezogen auf eine bestimmte Handlungssequenz, Bestand haben (z. B. die Minnegrotte im ,Tristan‘). Die hier vorgestellten Beispiele, wie zahllose andere Stellen auch, sind demgegenüber gerade dadurch gekennzeichnet, dass Räumliches sehr weitgehend herausgekürzt erscheint. Dabei wird man von Fall zu Fall darüber streiten können, ob eine Stelle, die, nach heutigen Maßstäben, raumlogisch unvollständig oder gar defizient wirkt, vielleicht auch die Folge einer schwierigen Textüberlieferung sein könnte. Besonders bei einigen Vertretern jener Textreihe, die man früher als ,Spielmannsepik‘ bezeichnet hat (,König Rother‘, ,Herzog Ernst‘, ,Oswald‘, ,Orendel‘, ,Salman und Morolf‘) und heute so nicht mehr bezeichnen möchte, weil wir inzwischen wissen, dass auch die Verfasser dieser Texte überwiegend Kleriker waren, liegt dieser Gedanke nahe. Und wenn man nur die einzelne Stelle im Blick hat, so wird man bei Werken wie etwa dem ,Orendel‘, die spät, spärlich oder in mehr oder weniger verwilderter Weise überliefert sind, nicht immer ausschließen können, dass Textverderbnis eine gewisse Rolle gespielt haben könnte. Doch treten die beobachteten Phänomene textreihenübergreifend und in einer solchen

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Häufigkeit auf, dass es zu kurz greifen würde, sie mit dem Verweis auf die qualitativ schlechte Überlieferung des Einzeltextes hinwegzuerklären. Wir müssen also fragen, warum die frühen volkssprachigen Texte im Hinblick auf Räumliches so verfahren können, und diese Frage scheint mir auch mit dem Hinweis darauf, dass dieses Erzählen an einer raumrealistischen Geschehensdarstellung eben grundsätzlich nicht interessiert sei, noch nicht hinreichend beantwortet. Man müsste dann nämlich weiterfragen, was die Gründe für dieses Desinteresse sein könnten. Ebenso wenig lassen sich die Phänomene erklären mit dem besonderen Verhältnis des vorneuzeitlichen Menschen zum Raum, einem Verhältnis, das, wie Störmer-Caysa bemerkt hat, ebenso archaisch wie radikal subjektiv ist, insofern es das räumliche Weltabbild an die Wahrnehmung des gehenden oder reitenden Menschen bindet.⁴⁸ So richtig das sein dürfte, macht es doch vor allem die Wegeschilderungen der Texte verständlich, in denen Wege nicht als ,Wege an sich‘, sondern als ,Wege für den Helden‘ in Erscheinung treten.⁴⁹ Nicht aber erklärt es in einer allgemeineren Weise die vielfach mangelnde Plastizität der Raumdarstellung und die Sprunghaftigkeit, mit der in diesem Erzählen Raumwechsel vollzogen werden. Ich schlage vor, die Erklärung in seinem medial-pragmatischen Kontext zu suchen, das heißt in dem Umstand, dass die Texte primär für den Vortrag verfasst und hörend rezipiert wurden. Wie ich plausibel zu machen versucht habe, fallen in der performativen Situation der Aufführung der unmittelbare Wahrnehmungsraum, der als gemeinsames kognitives Umfeld durch die Kopräsenz von Sprecher und Hörer im sprachlichen Handlungsraum gegeben ist, und der in und durch die Rede eröffnete Vorstellungsraum, der Raum des Phantasmas, tendenziell zusammen. Und es scheint diese potentielle Konvergenz von Sprechzeitraum und Vorstellungsraum, von Rederaum und Textraum zu sein, die Auslassungen in der Raumdarstellung erlaubt, die in der Aufführung entweder aufgefüllt waren oder der Auffüllung entbehren konnten, bei zunehmender (Lese-)Schriftlichkeit aber durch den Text selbst aufgefüllt, das heißt expliziert werden müssen. Das wird deutlicher, wenn man die Situation mit Erzähltexten vergleicht, die in und für ein Buch geschrieben sind und lesend rezipiert werden. Solche Texte besitzen aufgrund ihrer Bindung an das Buch als materialem, (drei-)dimensionalem Gegenstand ein räumliches Potential, das sich auch auf die Wahrnehmung der erzählten Welt auswirkt. Christine Putzo hat im Hinblick darauf von einer „Strukturdoppelung“ gesprochen:⁵⁰ Sowohl in Bezug auf die Handlungsebene, die histoire, als auch in Bezug

48 Störmer-Caysa (Anm. 24), S. 64. 49 Ebd., S. 63–65. Richtig ist freilich auch, dass die Feststellung Störmer-Caysas, der Mensch denke von den Erfahrungen seines Körpers aus, die er auch auf das Hören von Geschichten übertrage (S. 53), nicht nur für den mittelalterlichen, sondern ebenso für den neuzeitlichen Menschen gilt. Interessanter für die historische Differenzierung scheint mir daher der, von Störmer-Caysa nicht weiter verfolgte, Hinweis auf das ,Hören‘ von Geschichten zu sein. 50 Christine Putzo, Das implizite Buch. Zu einem überlesenen Faktor vormoderner Narrativität. Am

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auf die Darstellungsebene, den discours, zeichnen narrative Texte im Medium des Buchs sich durch eine charakteristische Gleichzeitigkeit von Linearität und Dimensionalität, von Zeitlichem und Räumlichem aus. Was bedeutet das? Es heißt, dass die Handlung sich einerseits sukzessive entwickelt und diesbezüglich einer zeitlichlinearen Ordnung folgt, andererseits jedoch durch die buchschriftliche Niederlegung jedem ihrer Momente prinzipiell Jederzeitigkeit verliehen ist – bei diskontinuierlicher Lektüre nämlich kann auf jeden dieser Momente jederzeit zugegriffen werden.⁵¹ Man könnte auch sagen: Dem Bewusstein für die Räumlichkeit des fortlaufenden Textes im Buch entspricht ein Bewusstsein für die Jederzeitigkeit und räumliche Kontinuität der erzählten Welt. Das Buch simultanisiert insofern Linearität und Dimensionalität,⁵² und es erscheint, indem es die Wahrnehmung der erzählten Welt unabhängig macht von der visuell-auditiven, transitorischen Vermittlung durch einen Rezitator, als das Medium par excellence des Systemraums. Demgegenüber ist mündlich Vorgetragenes durch seine rein lineare Struktur und die Flüchtigkeit des gesprochenen Worts gekennzeichnet. Nun heißt das nicht, dass in der Hörerinnerung die Raumverhältnisse der erzählten Welt von derselben Flüchtigkeit wären wie die Laute, durch die sie evoziert werden. Es dürfte aber doch so sein, dass in Abwesenheit jener buchmedial vermittelten jederzeitigen Präsenz der Geschehensmomente, einschließlich ihrer räumlichen Dimensionen, auch die konkreten räumlichen Bedingungen der erzählten Welt, wofern sie nicht erzähltechnisch (z. B. durch Wiederverwendung) oder anderweitig stabilisiert werden, einer höheren Flüchtigkeit unterliegen und aggregative Raumarrangements begünstigen. Der Grund dafür liegt indes weniger in einer gegenüber der schriftgestützten Textaufnahme verkürzten Merkfähigkeit des Hörgedächtnisses – im Gegenteil nimmt man allgemein an, dass die Gedächtniskapazitäten oraler oder semi-oraler Kulturen diejenigen vorwiegend literaler Kulturen bei weitem übersteigen –,⁵³ sondern darin, dass bei Hörrezeption die mentale Modellierung der erzählten Welt und ihrer räumlichen Verhältnisse durch ebenjene

Beispiel von Wolframs ,Parzival‘, Wittenwilers ,Ring‘ und Prosaromanen Wickrams, in: WolframStudien 22 (2012), S. 279–330, hier S. 289. 51 Ebd., S. 286–289. An anderer Stelle beschreibt Putzo den „Gegensatz einer sukzessive sich entfaltenden Handlung und der prinzipiellen Jederzeitigkeit ihrer Momente“ als den „Gegensatz zwischen der zeitlichen und der räumlichen, der linearen und der (drei-)dimensionalen Ordnung, die durch die Fixierung von Erzählung im Buch entsteht“ (S. 324). Siehe auch Christine Putzo, The Implied Book and the Narrative Text: On a Blind Spot in Narratological Theory – from a Media Studies Perspective, in: Journal of Literary Theory 6 (2012), S. 383–415. 52 Vgl. Putzo (Anm. 50), S. 325. 53 So hat etwa Kurt Ranke, Orale und literale Kontinuität, in: Hermann Bausinger u. Wolfgang Brückner (Hgg.), Kontinuität? Geschichtlichkeit und Dauer als volkskundliches Problem, Berlin 1969, S. 103–116, hier S. 110, im Hinblick auf die Aufnahmefähigkeit des Gedächtnisses von Angehörigen vorneuzeitlicher Kulturen von einer psychomentalen Funktion gesprochen, „die dem Menschen der Jetztzeit nicht mehr eigen ist“; siehe auch Harald Haferland, Mündlichkeit, Gedächtnis und Medialität. Heldendichtung im deutschen Mittelalter, Göttingen 2004, S. 21 f.

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Faktoren mitbestimmt wird, die der buchmedialen Textvermittlung fremd sind: die gemeinsam erlebte Räumlichkeit in der Vortragssituation und, im Zusammenhang damit, die nicht nur akustische, sondern auch visuelle Bindung der Publikumsaufmerksamkeit an den Körper des Vortragserzählers. Der durch die Kopräsenz von Vortragendem und Publikum konstituierte gemeinsame Wahrnehmungsraum kann der eines Innen- oder auch eines abgezirkelten Außenraums sein: ein Festsaal, ein Kaminzimmer, das Innere eines Zeltes oder auch ein Platz, ein Burghof, ein Garten. Wie immer man ihn sich konkret vorzustellen hat, er ist kein räumlich tief gegliederter. Hier ist alles nah beisammen; hier gibt es zwar Nah und Fern, aber doch nur in beschränktem Ausmaß. Es gibt keine trennenden räumlichen Gegebenheiten oder unüberwindlichen Distanzen, sondern alles ist in Hör- und Sichtweite, der sinnlichen Wahrnehmung unmittelbar zugänglich. Indem der Raum der erzählten Welt in einer solchen Situation durch den Auftritt des Vortragenden heraufbeschworen und vergegenwärtigt wird, besteht jederzeit die Möglichkeit, dass erzählter Raum und tatsächlicher Raum sich einander annähern. Auf die Raumkognition der Zuhörer wirkt sich diese potentielle Verschmelzung von Sprechzeitraum und Vorstellungsraum so aus, dass die räumlichen Bedingungen der unmittelbaren Sprechsituation die Wahrnehmung des erzählten Raums beeinflussen können. Es wirkt so, als ob die Raumverhältnisse der Sprechsituation auch für den Vorstellungsraum gälten, als ob auch hier keine oder kaum räumliche Grenzen bestünden und als ob Figuren- und Rezipientenwahrnehmung in einer Weise gekoppelt seien, als sei, je nach Bedarf, allen jederzeit alles unmittelbar zugänglich und wahrnehmbar.⁵⁴ Mit anderen Worten: Die unscharfe Trennung zwischen dem unmittelbaren, gemeinsamen Wahrnehmungsraum in der Situation der Aufführung (dem Sprechzeitraum) und dem in der Erzählung entworfenen Vorstellungsraum macht es möglich, dass die raumzeitlichen Bedingungen, die für den imaginierten Raum (den Raum der dargestellten Welt) realistischerweise gelten müssten, außer Acht bleiben können. Beschreiben ließe sich das als eine, stellenweise, bühnenförmige Inszenierung des dargestellten Raums, bei der Abwesendes in den Präsenzraum hineinzitiert werden kann wie etwa im Drama. An dieser Stelle muss noch etwas zur Rolle des Rezitators gesagt werden. Denn dass in der Vortragssituation Sprechzeitraum und Vorstellungsraum konvergieren können, hat entscheidend mit der nicht nur akustisch-vokalen, sondern zugleich visuellen Bindung des Dargestellten an den Körper des Vortragenden zu tun. Der Vortragende ist ja nicht nur Medium, über das die Erzählung vermittelt würde, sondern er repräsentiert

54 Man könnte hinzusetzen: weil es in der Wirklichkeit der durch Gleichzeitigkeit und Gleichräumlichkeit gekennzeichneten unmittelbaren Sprechsituation Diatopie bzw. Diachronie auch tatsächlich nicht gibt. Mangelnde Wirklichkeitsförmigkeit lässt sich dem mittelalterlichen Erzählen so gesehen nur dann zuschreiben, wenn man seine Textualität ausschließlich im Hinblick auf die Kategorie der relativen Situationsabstraktheit bestimmt und dabei von seiner Einbindung in eine primäre, unmittelbare Sprechsituation absieht, mit anderen Worten: wenn man dieses Erzählen vorrangig als buchmediale Erscheinung beschreibt.

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und verkörpert sie in ihren einzelnen personalen Instanzen, seien sie auch kategorial voneinander zu scheiden. Er verkörpert den Erzähler und die Figuren, manchmal auch den Autor als Urheber der Rede oder eine Autorenrolle. Das bedeutet aber wohl auch, dass Präsenz – im Sinne von tatsächlicher Vorhandenheit – vor allem dem zukommt, wovon jeweils gerade die Rede ist, was im Hier und Jetzt durch den Vortragenden verkörpert wird, während alles andere in den Hintergrund, aus den Augen und damit buchstäblich auch aus dem Sinn rückt. Auch dies hat die Vortragssituation mit der Situation der Theateraufführung gemeinsam, und in dieser Präsenzlogik des performativen Akts scheint mir eine wesentliche Voraussetzung für die Sprunghaftigkeit von Raumwechseln zu liegen, wie sie sich an dem zitierten ,Orendel‘-Beispiel (Bride auf den Schiffen/an Land) beobachten lässt, oder auch für die Möglichkeit eines raschen ,Übersprechens‘ von Raumverhältnissen, je nachdem, wie es die Handlung erfordert. Beispiele dafür wären nicht nur die genannte Überlagerung verschiedener räumlicher Konfigurationen im ,König Rother‘, sondern auch das plötzliche und logisch nicht aufeinander abgestimmte Hervortreten immer neuer Raumelemente in den Torraum-Szenen des ,Iwein‘. Auch raumrealistisch fragwürdige Konstellationen wie in dem ,Tristrant‘-Beispiel, wo unklar ist, wie die Figuren sich räumlich zueinander verhalten, sich bewegen, als an- oder abwesend vorzustellen sind, funktionieren als Szenen wohl besser in der Vortragssituation, in der Präsenz je das hat, was Gegenstand der Rede des Rezitators ist und durch ihn hör- und sichtbar verkörpert wird. Die Präsenzlogik der Aufführungssituation dürfte hier stets die objektive Raumlogik überlagern, das heißt die mentale Modellierung der erzählten Welt als eines Systemraums, mit Raumverhältnissen, die objektiv gegeben, wirklichkeitsförmig und in sich stabil wirken. Die potentielle Verschmelzung von gemeinsamem, unmittelbarem Wahrnehmungsraum und vorgestelltem, erzähltem Wahrnehmungsraum, gebunden an und bedingt durch die performative Präsenz des Vortragenden, kann auch solche Fälle in den Texten erklären, bei denen Distanzen oder Grenzen im Raum der erzählten Welt keine Rolle zu spielen scheinen. Beispiele dafür gaben das ,Rolandslied‘ und der ,Orendel‘. Wenn Marsilie sieht, was er eigentlich nicht sehen, und Bride hört, was sie eigentlich nicht hören kann, dann wird auch hier eine räumliche Als-ob-Fiktion erstellt; es wird dann so erzählt, als sei der Vorstellungsraum ein gemeinsamer Wahrnehmungsraum, als hätten Sprecher, Hörer und Figuren, unabhängig von irgendwelchen raumzeitlichen oder begriffskategorialen Grenzen, Zugang zu ihm als einem allgemein zugänglichen Raum der gemeinsamen Welt.⁵⁵ Diese Fiktion ist nicht allein handlungsfunktional bedingt, sondern sie entspricht einer Rezeptionspraxis, die durch die Gemeinsamkeit des Wahrnehmungsraums in der Aufführungssituation und die verlebendigende Ver-

55 Raumzeitliche Grenzen wären solche innerhalb der erzählten Welt, aber auch zwischen primärer und sekundärer Sprechsituation (vgl. Ehlich [Anm. 5], S. 32), begriffskategoriale solche zwischen histoire und discours, Publikum, (Autor-)Erzähler und Figuren.

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körperung des Erzählten durch den Rezitator darin gekennzeichnet ist. Es zeigt sich daran einmal mehr, wie sich die uns gewohnten erzähltheoretischen Kategorien in historischer Perspektive als nicht trennscharf erweisen, sondern unter dem Druck der medialen und pragmatischen Voraussetzungen einer semi-oralen Textkultur gewissermaßen kollabieren. Die genannten Phänomene werden denn auch im Hören viel weniger auffällig gewesen oder gar als störend empfunden worden sein, als das beim Lesen der Fall ist und, möglicherweise, schon für mittelalterliche Rezipienten der Fall gewesen wäre.

2 Bühnenraum und Raumdeixis Was sich hier in Spuren greifen lässt, ist – eine Formulierung Michael Curschmanns aufnehmend – die Situation mündlicher Kommunikation, die der Schriftlichkeit der Texte mit eingeschrieben ist.⁵⁶ Mit eingeschrieben, denn selbstverständlich erscheinen die Räume, in denen das Geschehen zu situieren ist, schon in den frühen höfischen Erzähltexten keineswegs durchweg amorph und wenig plastisch. Räumliche Abbreviaturen der geschilderten Art lassen sich vor allem an solchen Stellen beobachten, wo die räumlichen Verhältnisse den Erfordernissen der Handlung funktional nachgeordnet zu sein scheinen, und sie stehen neben Passagen relativ konkreter und wirklichkeitsförmiger Raumdarstellung, insbesondere dann, wenn es um räumliche Mikrostrukturen geht. Sind die Phänomene also keineswegs immer dominant, sondern zeigen sich in unterschiedlicher Dichte und Ausprägung, so wirken sie doch andererseits nicht zufällig oder gar fehlerhaft. Wenn man davon ausgeht, dass systematisch entfaltete, situationsübergreifend stabile und in sich stimmige Raumverhältnisse eher ein Kennzeichen buchmedialen Erzählens sind, dann fügen sie sich ein in das Bild einer Textualität, die kein Entweder-oder ist – entweder Vortrags- oder Lesedichtung –, sondern sich als ein nicht immer leicht zu entwirrendes Ineineinander von Mündlichkeit und Schriftlichkeit darstellt. Spuren der Bindung an eine mündlich-performative Kommunikationssituation können dabei nicht nur dort zutage treten, wo auf die Explikation der räumlichen Bedingungen der dargestellten Handlung verzichtet wird; sie zeigen sich, wie mir scheint, auch in einer stellenweise bühnenförmigen Szenengestaltung und in der Tendenz zu deiktischer Raumreferenz, die sich in den Texten beobachten lässt. Insbesondere Redeszenen sind es – Passagen also, in denen die Darstellung von einem diegetisch-erzählenden in einen mimetisch-dramatischen Modus überwechselt

56 Vgl. Michael Curschmann, Höfische Laienkultur zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Das Zeugnis Lamberts von Ardres, in: Jan-Dirk Müller (Hg.), ,Aufführung‘ und ,Schrift‘ in Mittelalter und Früher Neuzeit (Germanistische Symposien. Berichtsbände 17), Stuttgart, Weimar 1996, S. 149–169, hier S. 149.

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–, die wiederholt den Eindruck eines bühnenräumlichen Vor-Augen-Stehens des Erzählten hervorrufen. So etwa an der folgenden Stelle aus dem ,Rolandslied‘: Erzählt wird, wie Genelun, der Schwager Karls und Stiefvater Rolands, in Begleitung der heidnischen Gesandtschaft nach Saragossa an den Hof des Königs Marsilie kommt, um Marsilie die Antwort des Kaisers auf sein vorgebliches Friedens- und Unterwerfungsangebot zu überbringen. Auf der Reise haben Genelun und der Anführer der Gesandtschaft, Marsilies alter Ratgeber Blanscandiz, die Tötung Rolands und seiner Gefährten beschlossen. Nun erreichen sie Marsilies Hof, und es geht darum, dass Genelun die Botschaft Karls übermittelt (V. 1992 ff.). Zuerst spricht Blanscandiz. Er nennt Genelun nicht beim Namen, fordert Marsilie nur auf, dem Boten sein Ohr zu leihen, und sagt: ,nû vernim dû, hêrre, selbe, waz die bote rede welle.‘ ,ich hoere ez allez vile wole, swaz er hie reden scol‘, sprach der künic Marsilie. ,nû rede dû selbe.‘ (V. 2012–2017)

An wen ist die Du-Anrede des letzten Verses gerichtet: an Blanscandiz, an Genelun, an einen Dritten? Die Referenz der Zeigegeste, die in der Verwendung des Personalpronomens der 2. Person enthalten ist, erscheint, vom Text her, zunächst unbestimmt. Erst der unmittelbar folgende Vers klärt: der bote sprach ze Marsilie (V. 2018), und dann folgt, in wörtlicher Rede, was Genelun Marsilie zu sagen hat. Etwas anders, aber nicht unähnlich gelagert sind Fälle, in denen Figuren ad hoc, wie Pilze gleichsam, aus dem Boden der erzählten Welt zu schießen scheinen. Figuren können andere Figuren ansprechen, ohne dass diese zuvor in irgendeiner Weise genannt sein müssten, weder von der Erzählerstimme noch von einer anderen Figur, so dass erst mit der direkten Anrede klar wird, dass die angesprochene Figur in der geschilderten Situation, und damit im Raum der erzählten Welt, als anwesend vorzustellen ist: In V. 5195–5206 des ,Rolandsliedes‘ berichtet ein Bote, der mit abgehauenem Fuß dem Schlachtfeld entronnen ist,⁵⁷ Marsilie von der Niederlage der Heiden in der ersten Schlacht gegen Rolands Heer bei Ronceval und fordert ihn auf, umgehend in den Kampf einzugreifen. Der Erzähler berichtet in einem Vers die Reaktion Marsilies auf die Botenrede: Marsilie erzurnte harte (V. 5207). Der Inquit-Formel im nächsten Vers schließt sich die wörtliche Rede an (er [Marsilie, C. S.] sprach: ,Karl mit sînem grawen barte / hât menigiu rîche betwungen [. . . ]‘, V. 5208 f.), die wenige Verse später folgende direkte Anrede enthält: jâ du herzoge Grandon, ich wil dich an mînes sunes stete haben.

57 Nimmt man V. 5631–5635 hinzu, muss es sich um Margariz, König von Sevilla und Taceria, handeln.

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nim du, helt, mînen vanen. daz her lâ dir bevolhen sîn. (V. 5220–5223)⁵⁸

Das szenische Arrangement, und das heißt insbesondere: wer hier anwesend ist, ist nicht entfaltet. Lediglich V. 5194 hatte vermeldet: der [der Bote, C. S.] kom an den künc gevarn. Keine Rede davon, wer sonst noch zugegen sein könnte, und ein ,Herzog Grandon‘ wird an dieser Stelle überhaupt zum ersten Mal im Text erwähnt. Nun mag zwar impliziert sein, dass ,zum König kommen‘ soviel wie ,an den königlichen Hof kommen‘ heißt und zeitgenössische Rezipienten die Szene stillschweigend als eine Gruppenszene imaginierten. Dennoch bleibt die Möglichkeit des plötzlichen Hervorrufens von Figuren durch die in wörtliche Figurenrede eingelassene Du-Deixis ein auffälliger und erklärungsbedürftiger Befund. Dass es sich dabei nicht um einen autoroder überlieferungsbedingten ,Fehler‘ handelt, bestätigt etwa die folgende Stelle aus dem ,Orendel‘, wo genau dasselbe passiert: In Jerusalem hat Orendel vor den Augen Brides einen Heiden nach dem anderen im ritterlichen Wettstreit besiegt, und nun will Bride den Fremden in dem grauen Gewand kennenlernen. Auch hier wird die Szene nicht auserzählt. Wir wissen, wo Bride sich ungefähr befindet (an der zinnen, V. 876), umgeben von elf jungen Frauen; doch ist das alles und insbesondere von männlicher Gesellschaft keine Rede. Nun, V. 1134, spricht (zu wem?) frouw Bride die kuniginne: ,mohte ich einen boden gehaben, der mir den helt gedorste laden, e daz in die helde gude bestundent mit zorneclichem mude! sie renten ime alle an den lip, er must mich ummer ruwen‘, sprach daz wip. ,vil druder degen Schiltwin, zu ime saltu min bode sin. erfar mir, uzerwelter man, ob er si wilde oder zam.‘ (V. 1135–1144)

Wie Grandon im ,Rolandslied‘ wird auch Schiltwin hier zum ersten Mal im Text genannt, und wie jener ist auch er ganz unvermittelt da. Herbert Kolb hat seinerzeit ganz Ähnliches für den ,Meier Helmbrecht‘ festgestellt: ein unvermitteltes Auf-der-Szene-Stehen der Personen, die einfach da seien, ohne dass ihr Kommen besonders angezeigt worden wäre, und das als eine dramatische Technik beschrieben, bei der die Anwesenheit der handelnden Personen, ihre Auf- und Abtritte sich durch direkte Rede unmittelbar

58 Außen vor kann hier bleiben, dass auch von einem Tod des Sohnes von Marsilie (vgl. V. 5221) bisher nichts erzählt wurde; siehe zu diesem Problem den Kommentar von Kartschoke (Anm. 39), S. 714, zur Stelle.

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kundgeben.⁵⁹ So ist es auch hier: Der Auftritt der Figuren wird nicht narrativ vorbereitet, sondern sie erscheinen auf der Bildfläche der Rezipientenimagination schlicht, indem sie sprechen oder angesprochen werden. Handelt es sich um ,Sprossfiguren‘, wie man in Analogie zu Störmer-Caysas Begriff der ,Sprossräume‘ sagen könnte, um Fälle einer figürlichen ,Knospung‘, wo Figuren wie Raumelemente je nach Bedarf plötzlich aus dem Text schnellen? Das zweite ,Rolandslied‘- und das ,Orendel‘-Beispiel ließen sich so beschreiben. An der ersten Stelle aus dem ,Rolandslied‘ hingegen schießt eine Figur nicht unvermittelt aus dem Text, sie ist in der Szene schon eingeführt und nur die Referenz der Du-Anrede momenthaft uneindeutig, weil sie keinen Namen enthält und vom Wortlaut des Textes her mehrere Referenzfiguren zur Auswahl stehen. Dennoch scheint es mir richtig, die drei Passagen im Zusammenhang zu sehen, als Beispiele einer quasi-bühnenräumlichen Inszenierung der erzählten Welt und ihrer Figuren. Das Darstellungsverfahren nämlich ist in allen drei Fällen dasselbe: eine Du-Deixis, die sich als demonstratio ad oculos gibt; die nicht Deixis am Text oder an der Rede ist, sondern die so tut, als sei sie Zeigegeste in einem gemeinsamen Wahrnehmungsraum. In einem Raum, in dem die Dinge und Figuren der erzählten Welt vorhanden sind, als seien sie den beiden Aktanten der Sprachhandlung – Sprecher und Hörer – wirklich gemeinsam und unmittelbar sinnlich wahrnehmbar und als könnte daher auf sie Bezug genommen werden, ohne dass sie zuvor diskursiv expliziert werden müssten. Die hier im Modus des Als-ob vorausgesetzten wahrnehmungsräumlichen Bedingungen sind am ehesten denen einer Bühne vergleichbar. Die Erzählung verhält sich so, als bewegten sich die handelnden Figuren in einem Bühnenraum; als müsste ihre Anwesenheit, und welche Figur zu welcher spricht, nicht erzählt werden, weil das Publikum all das ja sehen kann. Selbstverständlich kann eine solche Theaterhaftigkeit in der Situation des Textvortrags nur simuliert werden: durch den Einsatz von Gesten und Gebärden, durch Körperdrehungen, durch Blick- und Zeigebewegungen in die eine oder andere Richtung. Oder auch durch die Einbeziehung einzelner Zuhörer/ Zuschauer oder der Gesamtheit des Publikums in die Aufführung: Warum etwa sollte ein Rezitator bei den Worten vil druder degen Schiltwin, / zu ime saltu min bode sin nicht auf einen der im Publikum Anwesenden gezeigt haben – ihn solchermaßen zum Schiltwin werden lassend – oder bei Versammlungsszenen so agiert haben, als stellten die anwesenden Hörerinnen und Hörer einen Teil des Handlungspersonals dar? Der gemeinsame Wahrnehmungsraum in der Vortragssituation und der im Akt des Erzählens evozierte Vorstellungsraum (der imaginativ entworfene Raum der erzählten Welt) würden so auf sinnfällige Weise ineinander geblendet. Daher dürften deiktische Verfahren, bei denen das Vorgestellte wie in einer theatralischen Szene im unmittelbaren

59 Herbert Kolb, Der ,Meier Helmbrecht‘ zwischen Epos und Drama, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 81 (1962), S. 1–23, bes. S. 8 f. Kolb hat an Phänomenen wie diesen den Zwischenstatus des ,Meier Helmbrecht‘ zwischen Epos und Drama zu erweisen gesucht.

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Verweisraum verortet wird, bei mündlich-performativer Darbietung auch wesentlich weniger überraschend oder gar störend wirken als bei stiller Lektüre.⁶⁰ Natürlich ist an Stellen wie den zitierten die performative Dimension der Deixis nicht unabhängig vom dramatischen Modus, dem Umstand also, dass es sich um Redeszenen handelt. Interessant ist aber, dass die performative Raumdeixis in diesem frühen epischen Erzählen – wie übrigens auch später noch – nicht auf wörtliche Figurenrede beschränkt bleibt, sondern in einem weiteren Sinne charakteristisch dafür ist, wie Raum narrativ erzeugt und wie auf ihn Bezug genommen wird. Dazu sei kurz an einige grundsätzliche Unterscheidungen erinnert, die sich im Hinblick auf die sprachliche Bezeichnung von Raum im Deutschen treffen lassen.⁶¹ Da ist zunächst die Unterscheidung zwischen statischer und dynamischer Raumreferenz bzw. zwischen Positionierung und Direktionalisierung, die Heinz Vater in die linguistische Raumdiskussion eingeführt hat.⁶² Statisch ist die Raumreferenz, wenn sie auf die Beschreibung der Position von Objekten und Personen ausgerichtet ist, dynamisch, wenn sie die Richtung oder Bewegung eines Objekts oder einer Person von einem Ort zu einem anderen bezeichnet. Für beides müssen im Deutschen, anders als etwa im Lateinischen, lexikalische Mittel verwendet werden, weil rein grammatische wie der lateinische Ablativ oder der Lokativ zur Raumerzeugung nicht zur Verfügung stehen.⁶³ Aus linguistischer Perspektive zentral ist dabei die Frage, welches Referenzsystem zur Bezeichnung räumlicher Relationen verwendet wird. Zur Auswahl stehen zwei Ausdrucksklassen: die der deiktischen und die der nicht-deiktischen Ausdrücke. Nicht-deiktische Ausdrücke bezeichnen Orte oder Räume – hier greife ich die Zusammenstellung Dennerleins auf – durch Toponymika (,Asien‘, ,England‘, ,Jerusalem‘), Eigennamen (,Munsalvaesche‘), Gattungsbezeichnungen (,Palas‘, ,Kemenate‘) und andere Konkreta. Deiktische Raumreferenz hingegen erfolgt durch Ausdrücke wie ,hier‘, ,da‘, ,dort‘, ,oben‘, ,unten‘, ,vorne‘ oder, wenn es nicht um Positionierung, sondern um Direktionalisierung geht, durch Ausdrücke wie ,hierher‘, ,dahin‘, ,dorthin‘, ,nach oben‘, ,rechts‘, ,links‘, ,hinauf‘, ,heran‘. Deiktische Ausdrücke sind, nach der gängigen Definition Karl Bühlers, solche, die sich nur dann erschließen, wenn man den Standort, die zeitliche Situierung und die Identität – das Hier, Jetzt und Ich – des Sprechers kennt.⁶⁴ Im Hinblick auf den Raum stellt sich die Unterscheidung zwischen deiktischen und nicht-deiktischen Ausdrücken also als eine solche zwischen standortabhängigen und standortunabhängigen Ausdrücken dar. Nur das deiktische Referenzsystem ist

60 Vgl. dazu auch die Beiträge in Manfred Kern (Hg.), Imaginative Theatralität. Szenische Verfahren und kulturelle Potenziale in mittelalterlicher Dichtung, Kunst und Historiographie (Interdisziplinäre Beiträge zu Mittelalter und Früher Neuzeit 1), Heidelberg 2013. 61 Das Folgende nach Heinz Vater, Einführung in die Raum-Linguistik (Kölner linguistische Arbeiten – Germanistik 24), 2. Aufl. Hürth-Efferen 1991, sowie Dennerlein (Anm. 23), S. 73–84. 62 Siehe Vater (Anm. 61), S. 42–47. 63 Vgl. ebd., S. 4. 64 Bühler (Anm. 8), S. 102–120.

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von der Origo des Sprechers oder der Wahrnehmungsinstanz abhängig und in diesem Sinne subjektiv;⁶⁵ nicht-deiktische (oder absolute) Referenzsysteme dagegen sind an den Standpunkt der Wahrnehmungsinstanz nicht gebunden. Das mittelalterliche Erzählen vor und um 1200 hat eine Vorliebe für die Verwendung deiktischer (oder relativer) Referenzsysteme, wenn es um die narrative Erzeugung von Raum geht. Gelegentlich nutzen die Dichter sie für die einmal mehr, einmal weniger komplexe Semantisierung der Bewegungen der Protagonisten im Raum der erzählten Welt. Einige dieser Semantisierungen gehen auf Bedeutungszuschreibungen zurück, die sich in verschiedenen Kulturen der Menschheitsgeschichte finden. Dazu gehört etwa die Metaphorik der Erhöhung und Erniedrigung, in der das, was oben ist, für das Gute, Erstrebenswerte, buchstäblich Erhabene steht, während Unteres mit Schlechtem und Abzulehnendem gleichgesetzt wird.⁶⁶ Andere Semantisierungen von Deiktika haben ihre Wurzeln in kulturspezifischen Denk- und Deutungstraditionen: etwa die schon genannte Identifikation von rechts mit dem Rechten und Guten, von links mit dem Bösen und Schlechten, die ihr Vorbild in biblischer Metaphorik hat.⁶⁷ Wie die mittelalterlichen Dichter diese unterschiedlichen kulturellen Sinn- und Bedeutungszuschreibungen aufnehmen, wenn sie die Bewegungen ihrer Figuren im Raum darstellen, ist vielfach beschrieben worden.⁶⁸ Dabei hat sich gezeigt, dass sie die Traditionen symbolischer Raumorientierung und -bewegung nicht immer eins zu eins als hermeneutische Straßenschilder im Handlungsraum placieren, sondern zu ambivalenten Semantisierungen nutzen können, die es dem Hörer oder Leser anheimstellen, wie bestimmte Bewegungen im Raum zu deuten sind. Allerdings geht die Vorliebe der Texte für deiktische Formen der Positionierung und Direktionalisierung weit über ihre topologische Nutzung hinaus. Selbstverständlich finden sich auch absolute Orts- und Raumangaben häufig, und es ist daher keineswegs so, dass die Darstellung von Raum in den Texten grundsätzlich auf einem relationalen Raumverständnis aufruhen würde. Vergleicht man sie jedoch mit neuzeitlichen Erzähltexten, dann fällt auf, dass sie vielfach relative Raumangaben verwenden, wo wir absolute bevorzugen würden. Ein guter Indikator dafür sind moderne Übersetzungen. Es gibt zahlreiche Stellen, an denen die Übersetzungen aus dem Mittel- ins Neuhochdeutsche den Eindruck räumlicher oder topographisch-geographischer Unterbestimmtheit, der sich für uns mit relativen, deiktischen Ausdrücken der Raumreferenz einstellt, kommentarlos durch absolute Referenz auszugleichen suchen. Wo der anonym überlieferte ,Herzog Ernst‘ in der Fassung B (die auf die älteste, auf etwa 1170/

65 Dennerlein (Anm. 23), S. 81. 66 Vgl. Störmer-Caysa (Anm. 24), S. 53. 67 Siehe z. B. Mt 26,64, Apg 7,55, Eph 1,20. 68 Siehe u. a. die in Anm. 36 genannte Literatur; zudem Ernst Trachsler, Der Weg im mittelhochdeutschen Artusroman (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 50), Bonn 1979, S. 155–163; Gert Hübner, Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im ,Eneas‘, im ,Iwein‘ und im ,Tristan‘ (Bibliotheca Germanica 44), Tübingen, Basel 2003, S. 1.

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80 zu datierende Fassung A zurückgeht) im Zusammenhang einer Beratung am Hof Ottos lediglich hat: die vürsten vür giengen (V. 302), da übersetzt Bernhard Sowinski: ,Die Fürsten gingen nun zum König.‘⁶⁹ Und wo Wolfram von Eschenbach in seinem ,Willehalm‘ (um 1210/20) dichtet: vürsten, grâven, dise unt die, und swen man vür den barûn sach und al die, den man rotte jach, die wâren ze velde gar gevarn. Gîburc dort inne wil bewarn ir liebisten vater Heimrîch (278,10–15),

da übersetzt Joachim Heinzle die beiden letzten Verse, das dort inne räumlich konkretisierend: ,In der Burg will Giburg / ihren hochgeliebten Vater Heimrich pflegen.‘⁷⁰ Er macht das, weil aus den vorangehenden Versen die Lokalität ,Burg‘ nicht ohne Weiteres ersichtlich ist, und ersetzt dabei die deiktische, standortabhängige durch eine nichtdeiktische, standortunabhängige Referenz. Die beiden Beispiele zeigen zugleich, dass die Origo, an die die deiktischen Ausdrücke gekoppelt sind, variieren kann: Im ,Herzog Ernst‘ ist das Präpositionaladverb vür (im Sinne von ,nach vorne‘, ,vor etwas hin‘) von den Fürsten aus gesehen, also vom Figurenstandpunkt abhängig; im ,Willehalm‘ ist die Origo des dort inne, das die deiktische Qualität des ,dort‘ mit der nicht-deiktischen

69 Die Ausgabe: Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch, in der mittelhochdeutschen Fassung B nach der Ausg. v. Karl Bartsch mit den Bruchstücken der Fassung A hrsg., übers., mit Anmerkungen u. einem Nachwort versehen v. Bernhard Sowinski (Reclams Universal-Bibliothek 8352), Stuttgart 1970. Eine parallele Stelle findet sich in dem Saganer Bruchstück Iv der ältesten Fassung A des ,Herzog Ernst‘ (wiederabgedruckt bei Sowinski, S. 352; eine synoptische Gegenüberstellung von B und den Fragmenten der Fassung A bietet Cornelia Weber, Untersuchung und überlieferungskritische Edition des ,Herzog Ernst B‘. Mit einem Abdruck der Fragmente von Fassung A [Göppinger Arbeiten zur Germanistik 611], Göppingen 1994). Hier heißt es über das Ende des Hochzeitsfests Kaiser Ottos: Do o ˙ diu˙ brutloft was getan / die herren begonden vur gan / Und namen urlop (V. 42–44). Auffällig ist das, weil die Fassung B an der entsprechenden Stelle anders lautet, nämlich die adverbiale Richtungsangabe (schon?) durch einen nicht-deiktischen Präpositionalausdruck ersetzt hat: Do diu hôchgezît ein ende nam, / vür den keiser lobesam / die fürsten sunder kâmen, / dâ se urloup von im nâmen (V. 511–514). Das könnte darauf hinweisen, dass die deiktische Form der Raumreferenz die ursprünglichere ist; der Verfasser der Anfang des 13. Jahrhunderts entstandenen Fassung B hätte sie dann konkretisiert. 70 Wolfram von Eschenbach, Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übers., Komm., hrsg. v. Joachim Heinzle (Bibliothek des Mittelalters 9; Bibliothek deutscher Klassiker 69), Frankfurt a. M. 1991, S. 475; vgl. dazu auch die Übersetzung von Kartschoke, der ebenfalls, aber anders konkretisiert: ,Gyburc bemühte sich unterdessen in der Stadt [. . . ]‘ (Wolfram von Eschenbach, Willehalm, Text der Ausg. v. Werner Schröder, Übersetzung, Vorwort und Register v. Dieter Kartschoke, 3. Aufl. Berlin, New York 2003, S. 180; ein ähnlicher Fall: 146,14 u. 22). Unnötig hinzuzufügen, dass darin keine Kritik an den modernen Übersetzungen liegt. Sie müssen so verfahren, wenn sie heutigen Lesern eingängig sein wollen, und gerade Heinzle bemüht sich in seiner Übertragung um ein äußerstes Maß an Worttreue, die aber von Fall zu Fall eben nicht gewahrt werden kann.

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des ,innen‘ (oder ,drinnen‘) mischt, ebenfalls im Raum der erzählten Welt placiert, entspricht aber nicht der Wahrnehmungsposition einer bestimmten Figur, sondern der eines relativ nah an die jeweils handlungsdominante Figur – hier Giburg – heranrückenden Erzählerauges.⁷¹ Indem die Übersetzer deiktische Lokalisationen durch nicht-deiktische, absolute ersetzen, tragen sie Bedürfnissen Rechnung – Bedürfnissen im Hinblick auf die kognitive Verarbeitung erzählter Räume –, die sich gegenüber der ursprünglichen Umgebung der Texte offenbar verändert haben. Das dürfte auch für die folgende, ebenfalls dem ,Herzog Ernst B‘ entnommene Stelle gelten. Gegen Ende des Textes – Ernst ist inzwischen in Jerusalem und hat dort schon über ein Jahr erfolgreich gegen die Heiden gekämpft – erfahren wir, Pilger aus deutschen Landen seien übers Meer gekommen und hätten dem Herzog wahrheitsgemäß berichtet, wie man sîn dishalp gedâhte (V. 5709). Dishalp heißt ,auf dieser Seite‘, aber so wörtlich kann man das kaum übersetzen. Gemeint ist ,auf dieser Seite des Meeres‘ im Gegensatz zu den outre mer – ,jenseits des Meeres‘ – gelegenen Ländern der Levante, doch bevorzugt der Text den deiktischen Adverbialausdruck gegenüber der absoluten Referenz und markiert so die Position der Instanz, von der aus wahrgenommen wird: Es ist die der Heimat, aus der auch die Pilger kommen, die Ernst von dem berichten, was in diutschem lande (V. 5705) über ihn gesagt wird, und damit die eines deutschsprachigen Publikums.⁷² Die Tendenz dieses Erzählens zu relativer, vom Hier, Jetzt und Ich einer Wahrnehmungsinstanz aus gedachter Raumreferenz ist die andere Seite einer Raum- und Bewegungsregie, wie Störmer-Caysa sie für den höfischen Roman ausgemacht hat: einer Raumauffassung, die primär an der Wahrnehmung des gehenden oder reitenden Subjekts und damit der Figurenbewegung ausgerichtet ist, weniger an Raum als etwas objektiv Vorhandenem, in konkreten Ortsangaben und absoluten Referenzsystemen Fassbarem. Dementsprechend unbestimmt, manchmal nachgerade inhaltsleer oder sogar tautologisch scheinen – zumindest für unsere Begriffe – Raum-, Bewegungs- oder Richtungsangaben, auch dort, wo sie nicht durch Deiktika im eigentlichen Sinne ausgedrückt werden: dannen reit der künic dô mit der frouwen wol getân. im volgte nâch vil manic man, unz er si dar brâhte da er blîben gedâhte. (,Herzog Ernst B‘, V. 520–524)

Wohin Kaiser Otto mit seiner neuen Gemahlin, der bayerischen Herzogin Adelheid, reitet, wird nicht gesagt. Entscheidend ist die Richtungsbewegung der Figuren: ,weg‘

71 Darin bestätigt sich das, was Hartmut Beck (Anm. 24) als den „Grundgedanke[n]“ (S. 241) der Raumdarstellung bei Wolfram herausgearbeitet hat: das Prinzip einer deiktischen Räumlichkeit, die sich an den Bewegungen der Figuren entwickelt, durch sie entsteht und vergeht; siehe Becks zusammenfassende Bemerkungen S. 241–243. 72 Dementsprechend übersetzt Sowinski mit ,wie man zu Hause über ihn dachte.‘

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(dannen) vom Hochzeitsfest, ,dorthin‘ (dar), wo der Kaiser sich aufzuhalten gedenkt. Dô leite sie der wîgant / vil manlîche von dan (V. 2302 f.): ,weg‘ führt Graf Wetzel, mit einer roten Fahne in der Hand, Ernst und seine Getreuen, weg von der Stelle, an der sie soeben, nach dreimonatigem Seesturm, angelandet sind (es handelt sich um Grippia, das Land der Kranichschnäbler); wohin, spielt vorerst keine Rolle.⁷³ Insbesondere Formulierungen des Typs unz er sie dar brâhte / da er blîben gedâhte finden sich häufig.⁷⁴ In Eilharts ,Tristrant‘ entdeckt Marke das Liebespaar in seiner Waldhütte aus Holz und Laub, schlafend und mit dem entblößten Schwert zwischen sich, und legt einen Handschuh auf Isalde; dann entfernt er sich: und ging zcu dem rosse sin / und reit, wo he wolde, / alß he zcu rechte solde (V. 4644–4646). Auffällig ist, dass solche Unbestimmheitsangaben, wo die jeweils handelnde Figur oder Figurengruppe sich im räumlichen Irgendwo der erzählten Welt zu verlieren scheint, regelmäßig mit kleineren oder größeren Zäsuren in der Erzählsequenz zusammenfallen. An der ersten ,Herzog Ernst‘-Stelle (B, V. 520–524) wechselt das Erzählregister mit dem nächsten Vers 525 von der Handlungsdarstellung zur resümierenden Kommentierung der Verbindung zwischen Otto und Adelheid durch die Erzählerstimme: sie kunde im freude mêren. er phlac mit grôzen êren der edelen küniginne. durch ir vil edelen minne sô liebte im ir vil schoener lîp. (V. 525–529)

Die zweite Stelle (,Herzog Ernst B‘, V. 2302 f.) weist keinen solchen Registerwechsel auf, stattdessen scheint es um die mikrostrukturelle Gliederung der Handlung in kleinere Situationen oder Szenen zu gehen: Wetzel und Ernst führen ihre Leute von der Landungsstelle fort; damit ist die Handlungseinheit ,Landung auf Grippia‘ abgeschlossen. Nach einer kurzen Beschreibung des äußeren Erscheinungsbildes der Gruppe (sie hâten ir wâfen an, / dar zuo helme und schilde, V. 2304 f.) gelten die folgenden Verse 2306–2310 dann dem Marsch vor das Stadttor von Grippia; jetzt also wird erzählt, wohin Ernsts Mannen geführt werden. An der ,Tristrant‘-Stelle ist die kleinteilige Handlungsstrukturierung ebenfalls deutlich: V. 4647 schließt an – und in der Dresdener Handschrift D ist die Zäsurierung sogar durch Absatz gestützt:

73 Ganz am Sinn des Mittelhochdeutschen vorbei geht an dieser Stelle die Übersetzung Sowinskis: ,Dann führte dieser Held / sie alle mutig an.‘ 74 Vgl. auch, als ein späteres Beispiel, folgende Stelle aus der in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts zu datierenden ,Rabenschlacht‘: Si [Hildebrand und das Heer Dietrichs, C. S.] gahten uber gevilde / alle die naht. / Si riten niwan die wilde. / Da si da heten hin gedaht, / dar chomens ane sorgen / reht do in louhte der morgen (584,1–6); Rabenschlacht. Textgeschichtliche Ausg., hrsg. v. Elisabeth Lienert u. Dorit Wolter (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 2), Tübingen 2005.

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Do Tristrant irwachete und sich uff gemachete, do gesach he den hantschu. (V. 4647–4649)

Marke ist buchstäblich von der Bildfläche verschwunden, nun geht es um Tristrants und Isaldes Reaktion auf ihre Entdeckung. Der Verzicht auf konkrete Orts- und objektive Raumangaben kann also auch die Funktion haben, Erzählsequenzen abzubinden. Wo Unbestimmtheitsangaben in dieser Weise als ,Abbinder‘ fungieren, unterstützen sie eine Strukturierung des Erzählgeschehens in kleinere Handlungs- oder Erzählschritte – mehr Situationen, Bilder oder kurze Szenen als ganze Handlungsabschnitte. Wahrnehmungspsychologisch bedeutet das: Indem Orte und Ziele – vorübergehend oder ganz – unbestimmt bleiben (wo der Kaiser mit seiner Gemahlin verbleibt, wohin Wetzel und Ernst ihre Leute führen, wohin Marke zu reiten beabsichtigt) und nicht durch Konkreta sogleich ein neues Raumbild im Rezipienten aufgerufen wird, rückt das, was eben noch Gegenstand des Erzählens war, schneller in den Hintergrund und wird die Aufmerksamkeit des Rezipienten in effizienter Weise auf das unmittelbar Folgende fokussiert. Präsenz hat in dieser Art des Erzählens je das, wovon die Rede ist und was im Erzählakt flüchtige Festigkeit und vorübergehende Gestalt gewinnt. Alles andere entschwindet momentan ins Ungefähre einer erzählten Welt, die keinen materiell-physischen Widerpart hat als Körper und Stimme des Vortragenden. Unbestimmtheit im Räumlichen an Stellen, wo sie heutigen Leserinnen und Lesern befremdlich vorkommen mag, wäre dann erzählfunktional bedingt, und zwar im Hinblick auf die Pragmatik eines Erzählens in der Mündlichkeit des Vortrags. Dasselbe scheint mir für die Tendenz der Texte zu deiktischer Raumreferenz und/oder an der Figurenbewegung orientierter Raumdarstellung zu gelten. Auch sie dürfte mehr mit der gegenüber neuzeitlichem Erzählen veränderten medialen Umgebung der Texte zu tun haben als mit einer grundsätzlich, etwa anthropologisch, anderen Art der Raumkognition der Menschen des 12. oder 13. Jahrhunderts. Dafür spricht nicht zuletzt der schon angedeutete Zusammenhang zwischen Raumwahrnehmung und Aktantenstruktur. Gemeint ist damit, dass in der volkssprachlichen Epik vor und um 1200 die Raumdarstellung in der Erzählung (die Auswahl der Schauplätze, das Kommen und Gehen der anderen Figuren) regelmäßig an der jeweils dominant handelnden Figur oder Figurengruppe ausgerichtet ist. Gert Hübner hat in diesem Zusammenhang von der raumfilternden Funktion der Figur gesprochen.⁷⁵ Im Fall der deiktischen Raumreferenz rückt die Origo der Raumwahrnehmung dabei relativ nah an die jeweils handlungsbestimmende Figur heran. Diese Figurengebundenheit der Raumdarstellung kann eine beträchtliche Mobilität der Wahrnehmungsinstanz zur Folge haben; Wolframs

75 Siehe Hübner (Anm. 68), S. 122 f. Hübner schreibt: „Der Raumfilter hat die Konsequenz, daß eine Figur über eine Textpartie hin präsent bleibt, während andere Figuren auf- und abtreten. Die Erzählung orientiert ihre Schauplätze in diesem Fall an der Filterfigur und macht sie auf diese Weise zu einem Kompositionsprinzip“ (S. 123).

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,Willehalm‘ bietet dafür zahlreiche Beispiele. Vor allem aber ist sie nicht unabhängig von den Bedingungen einer Visualisierung des erzählten Geschehens im Hören. Während, wie man annimmt, die visuelle Aufmerksamkeit auf die Buchseite die Visualisierung des Gelesenen eher behindert, kommt das Hören einer Visualisierung von Erzählinhalten eher entgegen.⁷⁶ Allerdings bedarf es dazu räumlich-bildlicher Anhaltspunkte, an denen sich das Gedächtnis orientieren kann. Harald Haferland hat, mit Blick auf die Produktionsseite, gezeigt, wie die Sänger von Heldendichtung sich für den Abruf der Erzählinhalte und das Weitererzählen auf ein ,Sehen‘ aus dem Gedächtnis verlassen, das an der Figur und der Handlungssituation, in die sie eingebunden ist, ausgerichtet ist.⁷⁷ Das Erzählen aus dem Gedächtnis bedient sich, neben der Speicherung des Wortlauts, eines „Erinnerungsbild[es] der erzählten Situation“, bei dem die abzurufende Erzählhandlung über die Figur und den situativen Hintergrund, in dem sie sich bewegt, visualisiert wird.⁷⁸ Wolfgang Dinkelacker hat das in seinen Studien zum ,Ortnit‘ in der Weise zusammengefasst, dass der Erzähler über seine Figuren spreche, als ob er sie reden und handeln sähe.⁷⁹ Dazu passt, dass es beim Abruf heldenepischer Texte aus dem Gedächtnis offenbar kaum je zu einer Verwechslung von Figuren gekommen ist, und dies, obwohl die Figuren in den Texten nur selten eine Beschreibung erhalten und im Allgemeinen ohne jede Anschaulichkeit bleiben.⁸⁰ Nicht anschauliche Beschreibung, nicht einmal der Name ist es, dessen der Sänger bedarf, um die Figur im Gedächtnis aufzurufen, sondern ihr imaginatives Vor-Augen-Stehen in der Handlungssituation, in die sie eingebunden ist. Diese Beobachtungen sind, selbstverständlich, auf die mündliche Reproduktion heldenepischer Texte aus dem Gedächtnis bezogen und damit auf eine Textgattung, die, wenn sie auch vielleicht unter Zuhilfenahme der Schrift entstand, ohne Rückgriff auf den geschriebenen Buchstaben zum Vortrag kam. Texte wie der ,Herzog Ernst‘, ,Tristrant‘ oder auch Wolframs ,Willehalm‘, die der Buchdichtung näherstehen (im Sinne von erzählender Dichtung, die zum Vorlesen aufgeschrieben wurde), wurden demgegenüber kaum aus dem Gedächtnis vorgetragen, und sie wurden auch nicht gesungen, sondern rezitiert.⁸¹ Auch für solche Dichtung interessant und anschlussfähig erscheint mir aber, welche kognitiven Strategien bei der nicht-schriftgestützten Visualisierung von Erzählinhalten zum Tragen kommen. So wie der Sänger von Heldendich76 So Harald Haferland, Vokale Kultur, Hörgedächtnis und Textgrammatik. Zur Pronominalisierung in mittelhochdeutschen Texten, in: Ingrid Bennewitz u. William Layher (Hgg.), der âventiuren dôn. Klang, Hören und Hörgemeinschaften in der deutschen Literatur des Mittelalters (Imagines medii aevi 31), Wiesbaden 2013, S. 45–62, hier S. 62. 77 Siehe Haferland (Anm. 53), bes. S. 298–301. 78 Ebd., S. 300. 79 Wolfgang Dinkelacker, Ortnit-Studien. Vergleichende Interpretation der Fassungen (Philologische Studien und Quellen 67), Berlin 1972, S. 220. 80 Haferland (Anm. 53), S. 299 f. 81 Vgl. Dennis H. Green, Medieval Listening and Reading. The Primary Reception of German Literature 800–1300, Cambridge 1994, bes. S. 107–110.

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tung muss auch der auf das bloße Hören angewiesene Rezipient Handlungssituationen so vergegenwärtigen und für den weiteren Erzählablauf parat halten können, dass es der Textaufnahme förderlich ist. Und so wie der Sänger, der aus dem Gedächtnis singt, dürfte auch der Hörer für die Visualisierung des Gehörten auf anschauliche, objektivierende Beschreibung weniger angewiesen sein als auf die Verbindung von Figur und Handlungssituation. Die Orientierung der Raum- und Bewegungsregie an der oder den je handlungsbestimmenden Figuren kommt dem ebenso entgegen – und stützt damit die Visualisierung gehörter Erzählinhalte – wie der Gebrauch deiktischer statt nicht-deiktischer Arten des Referierens oder, im Fall einer quasi-bühnenräumlichen Darstellung, die Suggestion unmittelbarer Wahrnehmbarkeit des Erzählten durch Körper und Stimme des performativ agierenden Rezitators. Eine Darstellung hingegen, die die Gegenstände und Figuren in den erzählten Raum hineinstellt wie in einen Systemraum, dürfte die Visualisierung im Hören nicht in der gleichen Weise befördern, weil der Raum hier nicht mehr gleichsam vom Inneren eines Körpers her bestimmt wird: der Figuren bzw. ihrer Vergegenwärtigung durch die somatische Präsenz des Vortragserzählers im performativen Akt. Wir würden dann in der Figurbezogenheit der Raumdarstellung in den Texten, in der Biegung lokaler Angaben auf den Protagonisten hin, in der Situativität und Bewegungsgebundenheit der Räume Spuren einer Raumkognition antreffen, die mit dem Übergang zu buchmedialer Rezeption allmählich obsolet wurde, mittelalterlichen Hörerinnen und Hörern aber die Erfassung und Visualisierung der Erzählinhalte und die Orientierung im Text und in der Handlung zu erleichtern vermochte.

3 Erzählte Raumwahrnehmung Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass in mittelalterlichen Erzähltexten die Visualität der dargestellten Ereignisse nun wiederholt auch selbst zum Gegenstand der Rede wird. Damit ist gemeint, dass das, was erzählt wird, häufig auch wahrgenommen, genauer: mit der Erzählung von Wahrnehmung verbunden wird. Zwar wird in der narratologischen Diskussion über den Raum gelegentlich die Position vertreten, dass der in einer Geschichte erzählte Raum immer und ausschließlich als wahrgenommener Raum zu begreifen ist,⁸² aber dieser Standpunkt ist nicht sehr überzeugend, weil er Differenzierungsmöglichkeiten ignoriert, die – nicht nur, aber auch – in historischer Perspektive wichtig erscheinen. So sollte man unterscheiden zwischen Fällen, in denen Ereignisse und mit ihnen verbundene Räume vom Erzähler schlicht erzählt werden,

82 So etwa, im Einzelnen unterschiedlich ansetzend, Seymour Chatman, Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film, Ithaca, London 1978, S. 101–107; Gabriel Zoran, Towards a Theory of Space in Narrative, in: Poetics Today 5 (1984), S. 309–335; Mieke Bal, Narratology. Introduction to the Theory of Narrative, 2. Aufl. Toronto, Buffalo, London 1997, S. 133–135.

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und solchen, in denen ein Wahrnehmungsakt angezeigt wird. Nur in dem Fall, wo ein Wahrnehmungsakt indiziert ist, sei es durch den Gebrauch von Wahrnehmungsverben oder dadurch, dass er durch das Erzählte impliziert ist, sollte man von erzählter Raumwahrnehmung sprechen.⁸³ Auch mit dem, was in der Erzähltheorie unter den Begriffen ,Fokalisierung‘ oder ,Perspektive‘ verhandelt wird, darf die explizite oder implizite Erzählung von Raumwahrnehmung nicht verwechselt werden. Diese Verwechslung liegt vielleicht nahe, da Gérard Genette den von ihm geprägten Begriff der Fokalisierung mit der Frage ,Wer sieht?‘ paraphrasierte.⁸⁴ Doch geht es bei erzählter Raumwahrnehmung weder um das Verhältnis zwischen dem Wissen eines Erzählers und dem einer Figur (das wäre Fokalisierung) noch um die Beschreibung des Standpunkts oder der subjektiven Erfahrung einer Figur (dem wären die Begriffe ,Perspektive‘ und point of view vorbehalten),⁸⁵ sondern um die Beschreibung von Raumwahrnehmung nach ihren verschiedenen Ausgangspunkten. Grundsätzlich kann die Wahrnehmung des erzählten Raums im Text einer Figur, einer unpersönlichen Instanz – einem nicht weiter bestimmten ,man‘ – oder einem in der erzählten Geschichte nicht selbst vorkommenden, heterodiegetischen Erzähler zugeteilt sein.⁸⁶ An Erzähltexten des 12. und 13. Jahrhunderts fällt im Hinblick darauf zweierlei auf: zum einen, wie oft der Raum der erzählten Welt und die in ihm situierten Ereignisse an visuelle Wahrnehmung angebunden werden. Deutlich zeigt sich das etwa in den zahlreichen man sach-Konstruktionen des höfischen Romans, die in dieser Massierung modernem Erzählen fremd sind.⁸⁷ Zum andern ist auffällig, dass die visuelle Wahrnehmung sich in solchen Fällen vertexteter Perzeption oft nicht konsistent einem bestimmten Akteur oder einer bestimmten Wahrnehmungsinstanz zuordnen lässt. Stattdessen können die Instanzen erzählter Raumwahrnehmung in einer Weise überblendet werden, die bei heutigen Lesern den Eindruck eines verwirrenden Ineinanders von Figurensehen, Erzählersehen oder dem Sehen einer allgemein-überpersönlichen Instanz hervorruft. Genette würde hier von ,Paralepsen‘ sprechen, denn stets geht es darum, dass Informationen gegeben werden, die, wenn die Wahrnehmungsinstanzen

83 Vgl. Dennerlein (Anm. 23), S. 143–146, die Beispiele für explizit und implizit erzählte Raumwahrnehmung aus Erzähltexten des 16. bis 20. Jahrhunderts anführt. Räume, die vermittels eines Akts der Wahrnehmung erzählt werden, bezeichnet Dennerlein als ,wahrgenommene Räume‘ und unterscheidet sie von ,Ereignisregionen‘ als denjenigen Bereichen „in, an oder bei einer räumlichen Gegebenheit, in denen sich ein Ereignis abspielt“ (S. 144, 237). 84 Gérard Genette, Die Erzählung, 2. Aufl. München 1998, S. 132–134. 85 Diesen, wie mir scheint, sinnvollen Vorschlag zur Abgrenzung der Konzepte ,Fokalisierung‘ einerseits, ,Perspektive/point of view‘ andererseits unterbreitet Burkhard Niederhoff, Focalization, in: Peter Hühn u. a. (Hgg.), Handbook of Narratology, Bd. 1, 2. Aufl. Berlin, Boston 2014, S. 197–205, hier S. 203 f.; vgl. dazu auch Burkhard Niederhoff, Perspective – Point of View, in: Peter Hühn u. a. (Hgg.), Handbook of Narratology, Bd. 2, 2. Aufl. Berlin, Boston 2014, S. 692–705. 86 Vgl. Dennerlein (Anm. 23), S. 145–147. 87 Schulz (Anm. 24), S. 384.

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kohärent modelliert wären, eigentlich weggelassen werden müssten.⁸⁸ Die folgende Passage aus dem ,Herzog Ernst B‘ bietet für solche Informationsüberschüssigkeit ein Beispiel: Ernst und Wetzel durchstreifen die Burganlage von Grippia ein zweites Mal, um sie sich genauer anzusehen. Ernst sieht (gesach, V. 2568) ein kemenâten wol getân: diu was gezieret innen von meisterlîchen sinnen von edelem gesteine. (V. 2570–2573)

Die Innenausstattung des Zimmers können Ernst und Wetzel aber eigentlich gerade nicht sehen, weil sie das Gemach noch gar nicht betreten haben (vgl. V. 2577). Zugunsten einer konsistenten Vermittlung der Raumwahrnehmung ist man geneigt anzunehmen, dass die Darstellung hier unmerklich von der Figurenwahrnehmung zum Erzählerbericht wechselt. Aber ganz sicher ist das nicht, der Wahrnehmungseindruck könnte auch Ernst und Wetzel zuzurechnen sein, denn schon V. 2577 f. zeigt eindeutig (wieder) die Figuren als Instanzen der Wahrnehmung an: dô si dar în begunden gân, / ein spanbette sie sâhen stân. Dieselbe Unsicherheit stellt sich einige Verse weiter ein, immer noch befinden Ernst und Wetzel sich in dem Edelsteinzimmer: zwên guldîn köphe tiure bî dem bette nâhen sie dô stên sâhen, dar inne was der beste wîn der in dem lande mohte sîn oder immer man enbîze. (V. 2634–2639)

Dass die beiden goldenen Becher den besten Wein, ,den man jemals trinken könnte‘, enthalten, muss sich der visuellen Wahrnehmung der Figuren (sâhen) entziehen. Dann, während Ernst und Wetzel noch die Wunder und Seltsamkeiten der wie verwaist daliegenden Stadt betrachten, kehrt überraschend der Herr der Burg, der König mit dem Schwanenkopf, mit seinen Leuten zurück (V. 2817 ff.). Ernst und Wetzel verstecken sich in einem hochgelegenen dunklen Gewölbe, dar ûz gienc ein venster (V. 2834). Durch das gewelbe vinster (V. 2833) und den Hinweis auf das Fenster ist die Wahrnehmungsinstanz lokalisiert und derjenige Ausschnitt des Raums der erzählten Welt, der wahrgenommen wird, umrissen. Demgemäß wird die Ankunft der Kranichmenschen zunächst im Hinblick darauf erzählt, was Ernst und Wetzel vom Fenster ihres Verstecks aus beobachten können; durch Verben der visuellen Wahrnehmung wie sehen (V. 2847, 2860) und gewar werden (V. 2848 f.) wird dies auch explizit angezeigt. Ab V. 2879 dann werden in Form einer Analepse Hintergrundinformationen zum Volk der Kranichschnäbler gegeben: ihrem Stolz, ihrem Reichtum, ihrem König, und wie

88 Vgl. Genette (Anm. 84), S. 138–140.

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dieser nach India gefahren ist, den König des Landes getötet und seine Tochter entführt hat, um sie jetzt in Grippia zu heiraten. Das sind Dinge, die die beiden Eindringlinge unmöglich sehen oder wissen können, und folgerichtig beginnt die Analepse mit einer markierten Einschaltung des Ichs der Erzählerstimme: Noch wil ich iu baz betiuten / von den seltsaenen liuten (V. 2879 f.). Doch deutet das baz, insofern es eine Fortsetzung des zuvor Erzählten ankündigt, zugleich die potentielle Überblendung verschiedener Wahrnehmungsinstanzen an, denn das zuvor Erzählte war das von Ernst und Wetzel Wahrgenommene. Dem entspricht, dass auch im Folgenden nicht immer klar ist, wem das Erzählte wahrnehmungslogisch zuzurechnen ist. Einerseits wird das Erzählte immer wieder als Wahrnehmung Ernsts und Wetzels dargestellt; es erscheint dann als Ausschnitt des Raums der erzählten Welt, den die beiden Eindringlinge aus ihrem Versteck heraus wahrnehmen können. Gemessen an der Länge der etwa 550 Verse umfassenden Passage (V. 2845–3400), geschieht dies mit beachtlicher Konstanz. Der wiederholte Gebrauch entsprechender Verben hält das Figurenduo als Instanz der Wahrnehmung stabil: dô dise recken [Ernst und Wetzel, C. S.] vil balt disiu wunder vernâmen und rehte war genâmen dieser seltsaenen diet, dô envorhten sie in niet. (V. 2930–2934) dô sâhens zuo dem tor în gên neben ein ander zwêne man. die sâhen sie tragen an zwei vil rîcher hemde [. . . ]. (V. 2996–2999) ir zuht und ir gebaere die herren [Ernst und Wetzel, C. S.] dûht vil lobelîch. (V. 3054 f.)⁸⁹

Andererseits werden in diesem Rahmen nicht nur Dinge und Ereignisse erzählt, die sich der Wahrnehmung der Protagonisten entziehen, sondern die erzählte Raumwahrnehmung der Figuren, Ernsts und Wetzels, kann auch beständig in die visuelle und auditive Wahrnehmung, das Sehen und Hören, eines nicht weiter bestimmten ,man‘ hinüberspielen: den selben sach man tragen an / wât diu vil verre schein (V. 3062 f.), heißt es, als der König von Grippia in die Stadt eintritt; dâ mohte man jâmer schouwen (V. 3140), als die unglückliche indische Königstochter in den Festsaal hineingeführt wird; man sach sie zeigen mit der hant (V. 3158) über die sich mit Gesten verständigenden Kranichmenschen. Wie der Wahrnehmungsbereich der Figuren und derjenige des indefiniten ,man‘ enggeführt werden können, zeigt vor allem diese Stelle:

89 Weitere Stellen: V. 3034, 3082, 3106; jedes Mal ist das Wahrnehmungsverb sehen.

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Man muost der edelen frouwen [der indischen Prinzessin, C. S.] ir liehten ougen schouwen von weinen trüebe unde rôt. diu enmohte ir starken nôt leider nieman dâ gesagen. do vernam ir weinen und ir klagen Ernst der fürste hêre. [. . . ] dô der herzoge ir jâmer sach, wider den grâven er dô sprach [. . . ]. (V. 3251–3266)

Zunächst, V. 3251 f., wird das schouwen mit einem allgemeinen man verknüpft, bevor es vier Verse weiter, V. 3256, und V. 3265 wieder Herzog Ernst ist, der die Schmerzensäußerungen der Prinzessin hört und ihr Leid sieht. Was ,man‘ schouwen, vernemen oder sehen kann, was also der allgemeinen Wahrnehmung zugänglich ist, das kann auch Ernst aus dem Gewölbe heraus wahrnehmen. Wenn V. 3410–3413 dann der Herzog und der Graf von einem Diener des Kranichkönigs in ihrem Versteck entdeckt werden, so ist daran interessant, dass es nicht Ernst und Wetzel sind, die den Diener bemerken, sondern die Position der Wahrnehmungsinstanz wechselt und nun bei des küniges holde lokalisiert erscheint: einer des küniges holde kam in den winkel hin gegân und sach dise zwêne stân in ir halsbergen gar. (V. 3410–3413)

Die lange Passage lässt einiges, das für die Raumdarstellung in dieser Art des Erzählens charakteristisch ist, noch einmal deutlich werden. Da ist zunächst der enge Zusammenhang zwischen Raumwahrnehmung und Aktantenstruktur: Der Raum der erzählten Welt erscheint von der oder den jeweils handlungsbestimmenden Figuren her entworfen. Sind das zuerst Ernst und Wetzel, die aus dem Fenster ihres Gewölbes heraus beobachten, was in der Stadt geschieht, so zuletzt, bei ihrer Entdeckung, der Diener des Königs. Entsprechend eng schmiegt sich die Darstellung den Wahrnehmungen der jeweiligen Figuren an, erst der beiden Gefährten, dann des Dieners.⁹⁰ Dabei erscheint die Warte, von der aus wahrgenommen wird, im Raum der erzählten Welt selbst situiert, relativ nah am dargestellten Geschehen und der handelnden Figur. Sprachlich findet das seinen Ausdruck in der deiktischen Raumreferenz, die der Wahrnehmung der handlungsdominanten Figur gemäß ist und ihr entspricht: ,diese beiden‘ sieht der Diener stehen, als würden er und der Erzähler förmlich auf Ernst und Wetzel zeigen.⁹¹ Dass die-

90 Vgl. Schulz (Anm. 24), S. 383. 91 Sowinskis Übersetzung von V. 3412 lässt das deiktische Moment der Formulierung demgegenüber verblassen: ,und sah die beiden Ritter‘ statt ,und sah diese beiden in ihrer Rüstung dort stehen‘, wie es wörtlich heißen müsste.

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ses Erzählen sehr an den Wahrnehmungen der einzelnen Figur ausgerichtet ist, heißt aber offensichtlich nicht, dass die figurenorientierte Raumwahrnehmung nicht immer wieder überschritten, dass erzählt werden könnte, was die Figur – nach Maßgabe der räumlichen Bedingungen der erzählten Welt – gerade nicht wahrnehmen kann, und dass die Wahrnehmung der Figur und die einer unbestimmt-überfigürlichen Instanz nicht enggeführt werden könnten. Figurensehen und das Sehen eines allgemeinen ,man‘ können sich ohne Weiteres überblenden. Oder anders gesagt: Weil ,man‘ etwas sehen kann, können es auch Ernst und Wetzel sehen, selbst wenn sie es eigentlich nicht sehen (oder hören) können. Die Dinge scheinen in einem allgemein zugänglichen Bereich der Wahrnehmung beisammenzustehen, und genau diese Situation drückt sich in den zahlreichen man sach-Konstruktionen aus. Gert Hübner und Armin Schulz haben im Hinblick auf dieses man von einem „leere[n] Zentrum“, einem „kognitive[n] Zentrum“ gesprochen, das nicht mit einer Figur gleichgesetzt werden könne, weil es nicht darum gehe, was ein einzelner, sondern was a l l e hätten sehen können; es gehe hier um die Wahrnehmung eines Kollektivs.⁹² Wer aber ist dieses Kollektiv? Sowohl die man sach-Formulierung selbst als auch der Umstand, dass sie zwar nicht mit der Figur identifiziert, wohl aber mit ihr enggeführt werden kann, deuten darauf hin, dass es sich hier um eine Vertextung jener wahrnehmungsräumlichen Verhältnisse handelt, wie sie für die unmittelbare Sprechsituation kennzeichnend sind, also jener Kopräsenz der an einer Sprachhandlung Beteiligten in einem gemeinsamen Wahrnehmungsraum. Narrativiert und im epischen Präteritum des man sach konserviert wird die Gleichzeitigkeit und Gleichräumlichkeit einer Ordnung, in der alle und alles beisammen und der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung ad oculos verfügbar ist: die Gegenstände und Figuren der erzählten Welt ebenso wie Sender und Empfänger, Sprecher und Zuhörer/Zuschauer, die sich sehend, schauend, zeigend auf sie beziehen. Es ist der authentifizierende und Historizität verbürgende Rekurs auf die Wahrnehmungsräumlichkeit einer primären, unmittelbaren Sprechsituation, die für eine zweite Sprechsituation gespeichert, und das heißt eben: ,vertextet‘ wird. Hinter dem man der Konstruktion steht insofern kein leeres Zentrum, sondern die Fiktion eines Kollektivs der Sprecher, Hörer und Charaktere, die in der Situation mündlicher Kommunikation eine gemeinsame Umgebung teilen. Die man sach- und verwandte Konstruktionen behaupten so einerseits eine primäre unmittelbare Wahrnehmungssituation, die im performativen Akt in eine zweite näherungsweise überführt wird, und sind mithin auf eine Situation medialer Unmittelbarkeit transparent (mit den beschriebenen Konsequenzen für die Raumdarstellung und das Verhältnis von Figuren, Erzählerstimme und Rezipienten zur erzählten Welt). Andererseits sind sie zugleich Textualitätssignale. Als solche markieren sie, nicht zuletzt durch den grammatischen Ausdruck zeitlicher Distanz, einen unendlichen,

92 Gert Hübner, Fokalisierung im höfischen Roman, in: Wolfram-Studien 18 (2004), S. 127–150, hier S. 131; Schulz (Anm. 24), S. 384 f.

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nicht einholbaren Abstand zu jeder unmittelbaren Wahrnehmungsräumlichkeit. Man könnte sie daher als mediale Zwittererscheinungen bezeichnen und von ,semi-oralen Paralepsen‘ sprechen, die Zeugnis ablegen von einer Textualität, die auch im Hinblick auf die narrative Raumgestaltung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit steht.

4 Räumlichkeit, Medialität, Alterität Dies zu zeigen, an raumnarrativen Aussparungen in den Texten, an ihrer Tendenz zu deiktischer Raumreferenz, den Spuren einer szenischen Raumdarstellung und dem Wechselverhältnis von Raumwahrnehmung und Wahrnehmungsraum in der Vortragssituation mit ihrer performativen Unmittelbarkeit, war das Anliegen dieses Aufsatzes. Ich behaupte also, dass es sich bei den Spezifika der narrativen Raumgestaltung in diesem Erzählen zwischen etwa 1150 und 1190, zum Teil aber auch noch viel später, um Erscheinungen einer noch stark von der Mündlichkeit geprägten Medialität der literarischen Kommunikation handelt, das heißt eher um Phänomene medialer als kognitiver oder anthropologischer Alterität. Das wirft freilich die Frage auf, ob das, was Ausdruck der Bestimmtheit der Texte für eine mündlich-performative Kommunikationssituation zu sein scheint, nicht Resultat einer ,sekundären‘ oder ,fingierten‘ Mündlichkeit ist.⁹³ Gemeint ist damit die Simulation von Mündlichkeit in einem schriftlich konzipierten Text. Vor allem mit den Arbeiten von Franz H. Bäuml und Michael Curschmann hat sich in der germanistischen Medävistik die Auffassung verbreitet, Mündlichkeitsspuren in den Texten seien vornehmlich als literarisches Kunstmittel zu interpretieren, als eine den Texten reflektiert eingeschriebene, fiktive Mündlichkeit.⁹⁴ Demgegenüber hat Sonja Glauch sich um eine Differenzierung des Konzepts sekundärer Mündlichkeit bemüht. Am Beispiel der Entwicklung der Erzählerstimme im höfischen Roman um 1200 legt sie nahe, dass Oralität und Performativität zwar in die Texte hineingeschrieben waren, aber nicht als Fiktionen, sondern als „die virtuelle Mündlichkeit eines Redemanuskripts, die Performativität eines Drehbuchs.“⁹⁵ Der Begriff der ,virtuellen

93 Der erste Begriff geht auf Paul Zumthor, Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 18), München 1994, S. 44, zurück, der zweite auf Paul Goetsch, Fingierte Mündlichkeit in der Erzählkunst entwickelter Schriftkulturen, in: Poetica 17 (1985), S. 202–218. 94 Vgl. Franz H. Bäuml, Medieval Texts and the Two Theories of Oral-Formulaic Composition. A Proposal for a Third Theory, in: New Literary History 16 (1984/85), S. 31–49; ders., The Theory of OralFormulaic Composition and the Written Medieval Text, in: John M. Foley (Hg.), Comparative Research on Oral Traditions. A Memorial for Milman Parry, Columbus 1987, S. 29–45; Michael Curschmann, Nibelungenlied und Nibelungenklage. Über Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Prozeß der Episierung, in: Christoph Cormeau (Hg.), Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken, Stuttgart 1979, S. 85–119. 95 Glauch (Anm. 18), S. 72.

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Mündlichkeit‘ scheint mir auch für die hier beschriebenen raumnarrativen Phänomene der passendere zu sei. Selbstverständlich handelt es sich bei den Texten um schriftlich konzipierte. Aber ihre Mündlichkeitsspuren sollen keine Mündlichkeit simulieren – das wäre bei vorgetragenen Texten auch ein tautologisches Unterfangen: fingierte Mündlichkeit kann nur bei nicht-mündlicher Rezeption als solche wahrgenommen werden –,⁹⁶ sondern sie verweisen auf die Verfasstheit der Texte für künftigen Vortrag. Diese Eigenschaft teilen die Texte mit Skripten und Drehbüchern (ohne freilich solche zu sein): Sie fingieren nicht, sondern sie antizipieren, stellenweise, jene Mündlichkeit und Performativität, die in der Situation des Vortrags aus der Virtualität in die Realität überführt wird. Charakteristisch erscheint dabei, dass in diesem vor- oder frühen höfischen Erzählen Züge einer mündlich-performativen, audiovisuellen Räumlichkeit neben solchen einer stärker schriftliterarischen Räumlichkeit stehen. Die Texte wirken, von Differenzierungen im Einzelnen abgesehen, weder auf das eine noch auf das andere hin stringent durchgearbeitet. Auch das spricht im Übrigen gegen die Annahme einer intentional fingierten Mündlichkeit, die sich Oralitäts- und Performativitätsspuren als eines literarischen Kunstmittels bedienen würde. Natürlich kann dieser Eindruck auch Folge der je besonderen Überlieferungssituation der Werke sein: Bei später und/ oder teilweise schon stilistisch überarbeiteter Überlieferung eines Großteil des Textbestands, wie im Fall des ,Herzog Ernst‘ oder des ,Tristrant‘, lässt sich nicht immer sicher entscheiden, was alte oder schon neuen, veränderten Bedürfnissen angepasste Textgestalt ist. Insgesamt aber fügt sich die Art der Raumgestaltung in den Texten dem Bild einer Literatur im Werden, „an der Schwelle“ (Sonja Glauch). Es wirkt, als schüttele sich da eine Textualität zurecht, die allmählich ,Literatur‘ (im Sinne einer an die littera gebundenen, dem Buchmedium verpflichteten Kulturpraxis) werden will, noch tastet und sucht, zwischen Performativität und Buchmedialität, Mündlichkeitsund Schriftlichkeitskultur steht,⁹⁷ aber doch in eine Richtung strebt, die durch die mediale Entwicklung bedingt und durch sie vorgezeichnet erscheint. Welche Richtung diese Entwicklung nimmt, ohne dabei geradlinig oder teleologisch zu verlaufen, mag ein Beispiel aus dem Karlsroman des Strickers verdeutlichen.

96 Dezidiert schreibt Glauch ebd., S. 41: „Fingierte Mündlichkeit schließt reale Mündlichkeit aus, und umgekehrt.“ 97 Hugo Kuhn, Aspekte des 13. Jahrhunderts in der deutschen Literatur, in: ders., Entwürfe zu einer Literatursystematik des Spätmittelalters, Tübingen 1980, S. 1–18, hat in Bezug darauf von einer „Zwischenkultur“ gesprochen (S. 5), Hans Fromm, Der oder die Dichter des Nibelungenliedes?, in: Colloquio italo-germanico sul tema: I Nibelunghi (Atti dei convegni Lincei 1), Rom 1974, S. 63–74, von einer „symbiotischen Mischkultur“ (S. 66). Ursula Schaefer bevorzugt dagegen den von Paul Zumthor geprägten Begriff der ,Vokalität‘ (Ursula Schaefer, Vokalität. Altenglische Dichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit [ScriptOralia 39], Tübingen 1992; dies., Die Funktion des Erzählers zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, in: Wolfram-Studien 18 [2004], S. 83–97, hier S. 85), etwas missverständlich, weil der Begriff bei Schaefer einen Kulturzustand bezeichnen soll, dem Wort nach aber eine mediale Eigenschaft, nämlich Stimmlichkeit, beschreibt.

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Es betrifft jene schon zitierte Stelle aus dem ,Rolandslied‘ des Pfaffen Konrad, an der der heidnische König Marsilie von der Niederlage seines Heeres gegen den zurückgekehrten Karl erfährt: Marsilie ersach der haiden nôt, / vor laide viel er tôt (V. 8595 f.), hieß es da und erschien raumlogisch widersprüchlich, weil Marsilie sich zu diesem Zeitpunkt bereits wieder in Saragossa befindet und die Not seiner Leute gewiss nicht ,sehen‘ oder ,erblicken‘ kann. Auf der Grundlage des Konrad’schen ,Rolandsliedes‘ verfasst etwa fünfzig Jahre später, um 1220, der Stricker seinen ,Karl‘.⁹⁸ Bei ihm ist an die Stelle des ersehen nun ein sagen hoeren getreten, also eine Formulierung, die den realen Raumverhältnissen gerecht wird. Jemand, vermutlich ein Bote, ist zu Marsilie an den Hof gereist und hat ihm die Nachricht von der Niederlage, mündlich, überbracht: Dô Marsilies hôrte sagen, daz sîn herre was erslagen, dô schuof sîn grôziu swaere und ouch diz boese maere, daz er sô grôzlîche erschrac, daz er vor leide tôt lac. (V. 10333–10338)

Die Änderung ist sicher nicht zufällig. Offenbar hat der Stricker die räumlichen Bedingungen der erzählten Ereignisse stärker auf ihre Wirklichkeitsförmigkeit hin beurteilt und den Wortlaut entsprechend angepasst. Aufgegeben ist damit die Konzeptualisierung des Raums der erzählten Welt als eines transgressiven, bühnenförmigen Raums, in dem (potentiell) alles beisammen und alles jederzeit allen zugänglich und wahrnehmbar ist, eine Konzeptualisierung, die in der Audiovisualität des performativen Textvortrags funktioniert, aber eben nur dort. Daraus zu schließen, der Stricker habe bei der Abfassung des Textes primär an ein Lesepublikum gedacht, wäre vorschnell und würde wohl auch nicht zutreffen. Doch spiegelt sich in solch einer Änderung eine mentale Modellierung von Raum, die der Leserezeption gemäßer ist und demgemäß beim Lesen auch nicht störend auffällt. Sie entspricht einem buchmedialen Entwurf von narrativem Raum, der für seine Realisierung auf den performativen Akt, auf Körper und Stimme des Vortragenden und die Unmittelbarkeit eines gemeinsamen Wahrnehmungsraums nicht angewiesen ist, während für die Raumdarstellung und -wahrnehmung in der weltlichen, volkssprachlichen Dichtung zwischen 1150 und 1200 das Gegenteil gilt. Sie gewinnt imaginative Evidenz und raumlogische Plausibilität, wenn sie vorgetragen und vorgespielt wird.⁹⁹ Auf sie trifft zu, was der anonyme Dichter

98 Der Stricker, Karl der Große, hrsg. v. Karl Bartsch (Bibliothek der gesammten deutschen NationalLiteratur von der ältesten bis auf die neuere Zeit 35), Quedlinburg, Leipzig 1857. 99 Beispiele aus jüngerer Zeit, die diesen Zusammenhang untermauern könnten, ließen sich in Kulturen finden, in denen mündliches Erzählen bis heute einen hohen Stellenwert besitzt. So weisen etwa die Transkriptionen mündlicher Erzählungen, die Zenani und Scheub aus der oralen Tradition der Xhosa zusammengetragen haben, im Hinblick auf die performative Gestaltung des erzählten Raums ganz ähnliche Phänomene auf wie die – unter historisch und kulturell anderen, aber doch

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der ,Rabenschlacht‘ viele Jahrzehnte später in die imperativische Formel fasste: Welt ir nu gerne schowen, / so hoeret vil bereit (103,1 f.).

nicht ganz unvergleichbaren Bedingungen entstandenen – mittelalterlichen Erzähltexte: Nongenile Masithathu Zenani, The World and the Word. Tales and Observations from the Xhosa Oral Tradition, hrsg. v. Harold Scheub, Madison 1992; dazu Isidore Okpewho, The Epic in Africa. Toward a Poetics of the Oral Performance, New York 1979; ders. (Hg.), The Oral Performance in Africa, Ibadan, St. Helier 1990; Harold Scheub, Story, Madison 1998. Dasselbe gilt übrigens für mündliches, konversationelles Alltagserzählen: Auch hier zeigen sich, etwa in den Mitteln der szenischen Darstellung, der Verwendung deiktischer Referenzsysteme oder auch der Kleinschrittigkeit der Handlungsdarstellung (,Atomisierung‘ bei Uta M. Quasthoff, Erzählen in Gesprächen. Linguistische Untersuchungen zu Strukturen und Funktionen am Beispiel einer Kommunikationsform des Alltags [Kommunikation und Institution 1], Tübingen 1980), interessante Parallen zu einigen raumnarrativen Phänomenen des mittelalterlichen Erzählens; vgl. etwa Elisabeth Gülich, Alltägliches erzählen und alltägliches Erzählen, in: Zeitschrift für germanistische Linguistik 36 (2008), S. 403–426, aber auch Monika Fludernik, Towards a ,Natural‘ Narratology, London, New York 1996, bes. S. 53–91.

Dominik Streit

Von Soltane nach Munsalvaesche Raum und Zeit im ,Parzival‘ Wolframs von Eschenbach Zusammenfassung: Analysing the relevant temporal and local stations in the Parzivaland Gawan-plot in Wolfram of Eschenbach’s ,Parzival‘, this contribution demonstrates to what extent Wolfram both takes over and adapts typical narrative techniques of courtly epics. The topography of ,Parzival‘ turns out to be remarkably exact, both on the macro-level (the ,world‘ consisting of Orient and Occident) and on the micro-level and its ramifications (the area around the Grail-castle, Trevrizent’s cell as a spatial ,anchor‘). Similarly, ,time‘ in ,Parzival‘ can often be precisely measured so that certain moments of the plot are set in exact chronometric relation to one another. Yet overall this comparatively high precision of the spatio-temporal layout does not become dominant. Space in particular is tied to the protagonists’ itinerary, and cyclical concepts of time such as that of the ecclesiastical year mask questions of before and after. Schlagwörter: Heterotopie, Raum, Utopie, Zeit

1 Einführung Fasst man Karl Bertaus gleichermaßen provokante wie programmatische Frage „Wo sind denn da die Räume?“¹ als Arbeitsauftrag auf, so erweist sich die Antwort im Hinblick auf Wolframs ,Parzival‘, der über „besonders markante und außergewöhnliche Raumvorstellungen“² verfügt, als ausgesprochen schwierig. Auf der einen Seite nämlich stehen – legt man einen sehr engen Raumbegriff zugrunde – nur wenige konkrete Räume wie die Gralsburg Munsalvaesche, das Zauberschloss Schastel marveil, Sigunes und Trevrizents Klausen und andere, zumeist artifizielle Räume. Geht man hingegen von einem sehr breiten Raumbegriff aus, so erweist sich die gesamte epische Welt als ein Makroraum, der sich – wenigstens heuristisch – in eine Vielzahl von Mikroräumen zerlegen lässt, wobei die Teilung – theoretisch zumindest – beliebig weit fortgesetzt

1 Karl Bertau, Wo sind denn da die Räume?, in: Sonja Glauch, Susanne Köbele, Uta Störmer-Caysa (Hgg.), Projektion – Reflexion – Ferne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter, Berlin 2011, S. 175–192. 2 Andrea Glaser, Der Held und sein Raum. Die Konstruktion der erzählten Welt im mittelhochdeutschen Artusroman des 12. und 13. Jahrhunderts (Europäische Hochschulschriften I 1988), Frankfurt a. M. 2004, S. 15. Dominik Streit, Ludwig-Maximilians-Universität, Deutsche Philologie, Schellingstr. 3 RG, 80799 München, e-mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110566536-010

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werden kann.³ Die analoge Frage nach der Zeit erweist sich als nicht minder einfach. So gibt es im Text zwar zahlreiche Zeitangaben, doch stehen erzählte Zeit und Erzählzeit in einem diskrepanten Verhältnis zueinander.⁴ Prolepsen⁵ finden sich zu Hauf, nicht nur Stunden, Tage und Monate vergehen wie im Flug, ganze Jahre verstreichen innerhalb weniger Verse.⁶ Zugleich aber legt Wolfram seinem ,Parzival‘ eine strenge Chronologie zugrunde, die bis auf Tag und Stunde genau berechnet scheint. Individuelle Lebenszeit, genealogische Zeit,⁷ universelle Heilszeit und kosmisch-astrologische Zeit⁸: In diesem Spannungsverhältnis steht die erzählte Zeit und entzieht sich – wie der Raum – mehrfach der Wahrnehmung des Rezipienten. Wenn also im Folgenden Bertaus Frage als Leitfrage fungieren soll, so kann es nicht darum gehen, jede einzelne Zeit- oder Raumangabe zu katalogisieren und auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen. Vielmehr soll einerseits die Frage nach dem ,Wie‘ untersucht werden: Wie werden Raum und Zeit überhaupt erzählt? Andererseits soll die Grundstruktur des Raum-Zeit-Gefüges im ,Parzival‘ herausgearbeitet und auf seine Funktion hin befragt werden. Wann also werden Raum und Zeit thematisiert und welche Funktion haben (vermeintlich) konkrete Raum- und Zeitangaben? Zuletzt stellt sich die Frage, wie Raum- und Zeitstrukturen dazu beitragen, den ,Sinn der Erzählung‘ zu erhellen. Ausgehend von der Elternvorgeschichte, soll im Folgenden zunächst der Horizont abgesteckt werden, innerhalb dessen der ,Parzival‘ erzählt (2). Im Anschluss daran wird – vorwiegend textchronologisch – Parzivals Weg durch die erzählte Welt verfolgt (3,

3 Vgl. Wolfgang Spiewok, Reale und fiktionale Geographie im ,Parzival‘ Wolframs von Eschenbach, in: Danielle Buschinger, Wolfgang Spiewok (Hgg.), Die Geographie in der mittelalterlichen Epik (Greifswalder Beiträge zum Mittelalter III 38), Greifswald 1996, S. 139–152. Vgl. dagegen Julia Richter, Spiegelungen: Paradigmatisches Erzählen in Wolframs ,Parzival‘ (Münchner Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 144), Berlin, Boston 2015, die „(vereinfacht!) fünf Raumentwürfe [unterscheidet], denen unterschiedliche Semantiken eignen: der Orient, die höfische Sphäre, die Gralssphäre, Terre marveile sowie die Grenze als Raum des Imaginären, in dem sowohl das Sakrale (z. B. in Gestalt Trevrizents) als auch das Deviante (z. B. in Gestalt von Urjanz) situiert sind.“ (S. 55), andererseits aber die „komplexen Raumaufteilungen, die den ,Parzival‘ bestimmen“ (S. 108), betont. 4 Zu den Begrifflichkeiten vgl. Günther Müller, Die Bedeutung der Zeit in der Erzählkunst. Bonner Antrittsvorlesung 1946, Bonn 1947. 5 Vgl. Gérard Genette, Die Erzählung, Übers. v. Andreas Knop (UTB 8083), Paderborn 3 2010, S. 39–47. 6 Vgl. Uta Störmer-Caysa, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin, New York 2007: „Daß in einer Geschichte für Bewohner der fiktionalen Welt Zeit vergeht oder vergangen ist, bemerkt der Hörer oder Leser, wo explizite Zeitangaben fehlen, daran, daß in der Erzählung etwas geschehen ist: Handlungen sind im Erfahrungsbereich des Menschen immer in Zeitabläufe eingebettet, und so werden sie auch künstlerisch modelliert.“ (S. 79) Umgekehrt aber bedeutet dies: wo gerade keine Handlung stattfindet, muss eine Zeitangabe fehlende Zeit überbrücken, wie dies bspw. bei Parzivals Einkehr bei Trevrizent der Fall ist. Vgl. dazu auch Dieter Lohr, Die Erlebnisgeschichte der Zeit in literarischen Texten, Bad Iburg 1999, speziell zum ,Parzival‘ S. 46–64. 7 Vgl. Lohr (Anm. 6), S. 46. 8 Vgl. Lohr (Anm. 6), S. 53–60.

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4),⁹ bevor das Verhältnis von Gawan- und Parzival-Handlung untersucht wird (5). Dem Untersuchungsgegenstand geschuldet, werden sich dabei mikro- und makroskopische Perspektiven abwechseln. In einem Fazit (6) werden die Ergebnisse der Analysen systematisch zusammengefasst.

2 Gahmuret zwischen West und Ost: Die weltumspannende Dimension des ,Parzival‘ Mit Beginn der Erzählung von Parzivals Vater Gahmuret wird die Handlung zunächst in jenem französischen Gebiet verortet, in dem das Erbrecht der Primogenitur gilt.¹⁰ Mit der Nennung Anschouwes wird der Handlungsort auch historisch greifbar, die Erzählung nimmt ihren Ausgangspunkt im westlichen Europa. Nur wenig später jedoch wird dieser Raum der Herkunft verlassen, Gahmuret reitet in fremdiu lant (,in fremde Länder‘, 11,7).¹¹ Auf der Suche nach rîterschaft tritt er in Bagdad in den Dienst des Baruc, um im fernen Osten êre zu erwerben.¹² Nachdem ihm dies in zahlreichen Kämpfen gelungen

9 Dass das Unterwegssein des Helden konstitutiv für den Artusroman ist, hat schon Ernst Trachsler, Der Weg im mittelhochdeutschen Artusroman (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 50), Bonn 1979 gezeigt, wobei Trachsler sehr stark auf die symbolische Bedeutung des Weges abzielt. Grundlegend zum Weg beider Protagonisten vgl. Richter (Anm. 3), S. 99–133, speziell zur Bewegung der Figuren und der daraus resultierenden Bewegungsräume im ,Parzival‘ vgl. Glaser (Anm. 2), S. 129–172. 10 Vgl. 4,28–30. Ich zitiere im Folgenden Text und Übersetzung unter Angabe der Verse aus der Ausg.: Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausg. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausg. v. Karl Lachmann. Übers. v. Peter Knecht. Mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausg. und in die Probleme der ,Parzival‘-Interpretation v. Bernd Schirok, Berlin, New York 2 2003. Vgl. zum Erbrecht der Primogenitur Holger Noltze: Gahmurets Orientfahrt. Kommentar zum ersten Buch von Wolframs ,Parzival‘ (4,27 - 58,26). Würzburg 1995 (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie Bd. 13), S. 217–228, sowie Wolfram von Eschenbach, Parzival. 2 Bde. Nach der Ausg. Karl Lachmanns revid. und komm. v. Eberhard Nellmann. Übertragen v. Dieter Kühn (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 7), Frankfurt a. M. 2006, S. 454. [Im Folgenden zitiert als Nellmann (Anm. 10)]. 11 Auf die Parallelität von Gahmuret und Parzival als „vaterloser und erbeloser Held“ weist Joachim Bumke, Wolfram von Eschenbach (Sammlung Metzler 36), Stuttgart, Weimar 8 2004, S. 45, hin, ergänzt jedoch (vgl. ebd. S. 156), dass Parzival zudem namenlos bleibt, bis er erstmals auf seine Cousine Sigune trifft. 12 Vgl. 13,16–14,11. Die Reise zum Baruc jedoch wird gerade ausgespart, „Gahmuret erreicht Bagdad, ohne daß etwas über seine Reiseroute erwähnt wird.“ (Noltze [Anm. 10], S. 78). Vgl. dazu auch Franziska Hammer, wer oder wannen ist diz kint, des site sô rehte schœne sint? Die räumliche Multiplikation der Herkunft im höfischen Roman am Beispiel von Wolframs von Eschenbach ,Parzival‘ und Gottfrieds von Straßburg ,Tristan‘, in: Maximilian Benz, Katrin Dennerlein (Hg.), Literarische Räume der Herkunft. Fallstudien zu einer historischen Narratologie (Narratologia 51), Berlin, Boston 2016, S. 147–185, hier S. 153–156, sowie Spiewok (Anm. 3), S. 141 f. Grundlegend zum fernen Orient im ,Parzival‘ vgl. Hartmut Kugler, Zur literarischen Geographie des fernen Ostens im ,Parzival‘ und ,Jüngeren Titurel‘, in: Wolfgang Dinkelacker, Ludger Grenzmann, Werner Höver (Hgg.), Ja muz ich sunder riuwe

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und er im exotischen Zazamanc¹³ der Erotik der schwarzen Königin Belakane verfallen war,¹⁴ reist er – unter Vorgabe fadenscheiniger Gründe¹⁵ – zurück in die christliche, d. h. westliche Welt:¹⁶ über Sevilla und Toledo gelangt Gahmuret nach Waleis.¹⁷ Wurde also mit seiner Reise in den fernen Orient ein Netz aufgespannt, das vom äußersten Westen Europas bis in den fernen Osten der islamischen, d. h. heidnischen Welt reicht,¹⁸ so findet nun eine Rückkehr in die gleichermaßen kulturell wie geographisch bekannte Welt statt. Mit dem zweifelhaften Sieg im Turnier von Kanvoleiz wird Gahmuret an der Seite Herzeloydes König von Waleis,¹⁹ macht es jedoch zur Bedingung, auch zukünftig an Turnieren teilnehmen zu dürfen. Nach achtzehn erfolgreichen Turnieren zieht es

sin. FS Karl Stackmann, Göttingen 1990, S. 107–147; Ina Karg, Bilder von Fremde in Wolframs von Eschenbach ,Parzival‘. Das Erzählen von Welt und Gegenwelt, in: Günter Berger, Stephan Kohl (Hgg.), Fremderfahrungen in Texten des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit (LIR – Literatur, Imagination, Realität 7), Trier 1993, S. 23–43; Paul Kunitzsch, Die Arabica im ,Parzival‘ Wolframs von Eschenbach, in: Wolfram-Studien 2 (1974), S. 9–35; ders., Erneut: Der Orient in Wolframs ,Parzival‘, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 113 (1984), S. 79–111; ders., Der Orient bei Wolfram von Eschenbach. Phantasie und Wirklichkeit, in: Albert Zimmermann, Ingrid Craemer-Ruegenberg (Hgg.), Orientalische Kultur und europäisches Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 17), Berlin, New York 1958, S. 112–122. 13 Zur Forschungsdiskussion um Zazamanc vgl. Nellmann (Anm. 10), S. 465, sowie Noltze (Anm. 10), S. 87–89, 230. Auch in den Kämpfen um Zazamanc zeigt sich einmal mehr die weltumspannende Dimension des ,Parzival‘: zu den Belagerern Patelamunts, die den Tod Isenharts rächen wollen, gehören auch zahlreiche westeuropäische Fürsten wie Gaschier aus der Normandie, der Schottenkönig Vridebant, zwei namenlose Könige aus Grönland sowie Gahmurets Vetter Kaylet, der König von Spanien. Vgl. dazu Nellmann (Anm. 10), S. 480, Bumke (Anm. 11), S. 46, sowie Karg (Anm. 12), S. 25. 14 Vgl. 28,27–29,8, 34,7–35,4 und 35,18–26. 15 Vgl. Gahmurets Abschiedsbrief an Belakane (55,21–56,26). Dass es sich bei Gahmurets Argument, er müsse Belakane verlassen, weil sie keine Christin sei, lediglich um eine vorgeschobene Begründung handelt, zeigt ihre Reaktion auf seinen Brief: [,]sîme got ze eren,‘ sprach daz wîp, / ,ich mich gerne toufen solte / unde leben swie er wollte.‘ (,[„S]einem Gott zu Ehren“, sprach die Frau, „will ich mich gerne taufen lassen und so leben, wie immer er es wünschen könnte.‘“, 57,6–8). 16 Vgl. zu dieser Reise Nellmann (Anm. 10) S. 487, sowie Kugler (Anm. 12), S. 125. 17 Zur Diskussion um die Frage, ob es sich bei Wâleis um Wales oder Valois handelt, vgl. Nellmann (Anm. 10), S. 488. Fest steht jedenfalls, dass Gahmuret zurück ins christlich-westliche Europa kehrt. 18 Vgl. dazu Nellmann (Anm. 10), S. 464. Dass man dabei freilich „keine kartographische Genauigkeit erwarten [kann]“, betont Noltze (Anm. 10), S. 230, völlig zu Recht. Zur fehlenden „Tiefenstaffelung des Näheren und Ferneren Ostens“ bei Wolfram vgl. Kugler (Anm. 12), S. 119. Vgl. dazu auch Hammer (Anm. 12), die betont, dass sich der Orient dem Rezipienten als „Inselraum“ (S. 154) präsentiert, der „durch die fehlende Verknüpfung der Raumelemente charakterisiert [ist].“ (S. 154) Vgl. dazu Katrin Dennerlein, Narratologie des Raumes (Narratologia 22), Berlin, New York 2009. 19 Dass Gahmuret, obgleich siegreich im Kampf, durch einen Richterspruch zur Ehe mit Herzeloyde gezwungen werden muss (vgl. 95,27–96,6) bezeichnet Bumke (Anm. 11) treffend als „groteske[n] Vorgang im Licht der höfischen Gesellschaftskonventionen“ (S. 51). Zu den intra- und intertextuellen Bezügen im Umfeld des Turniers vgl. Ulrike Draesner, Wege durch erzählte Welten. Intertextuelle Verweise als Mittel der Bedeutungskonstitution in Wolframs ,Parzival‘ (Mikrokosmos 36), Frankfurt a. M. u. a. 1993, S. 177–184.

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ihn abermals in den Orient, wo er im erneuten Dienst für den Baruc den Tod findet und in Bagdad begraben wird. Auf der Suche nach âventiure²⁰ und der damit verbundenen êre pendelt Gahmuret zwischen Europa und dem fernen Orient, eine endgültige Rückkehr in den Raum seiner Herkunft aber findet gerade nicht statt, beginnt doch sein Weg in Europa und endet im Orient.²¹ Schon in der Gahmuret-Erzählung wird damit jenes „Weltgewebe“²² skizziert, innerhalb dessen der ,Parzival‘ erzählt: vom Westen Frankreichs bis in den tiefen Osten reicht die Spannweite und erweitert damit deutlich jenen ritterlichen Aktionsradius, der aus den Artusromanen Hartmanns von Aue oder auch Gottfrieds von Straßburg ,Tristan‘ bekannt ist. Welche Funktion aber kommt der Elternvorgeschichte zu, abgesehen von einem bloß panoramahaften Überblick über die Exotik des Orients? Neben der genealogischen Verbindung Parzivals und Feirefiz’ durch den gemeinsamen Vater gibt Franziska Hammer im Hinblick auf die hier zu untersuchende Fragestellung eine mögliche Antwort: Gahmurets Orientreisen lassen sich als paradigmatisch für die Raumdarstellung Wolframs lesen: Der Text quillt geradezu über von Benennungen sowohl realweltlich referentialisierbarer wie auch fiktiver, teilweise intertextuell referentialisierbarer Länder, welche unverbunden nebeneinander stehen und in der Summe keinen kontinuierlichen Raum erzeugen.²³

In einem paradigmatischen Verhältnis stehen aber auch Gahmurets und Parzivals späteres Verhalten: So wie Gahmuret den Raum seiner Herkunft verlässt und nie mehr nach Anschouwe zurückkehrt, so wird auch Parzival weder dorthin noch in seinen eigenen Raum der Herkunft zurückkehren.²⁴ Und so wie sein Vater als Pendler zwischen den Welten des Orients und des Okzidents beschrieben werden kann, so wird auch Parzival zum Pendler zwischen zwei Welten: der Artus- und der Gralswelt. Die Elternvorgeschichte erweist sich damit in mehrfacher Hinsicht als programmatisch. Obwohl Parzival seinen Vater nie kennenlernt, schlägt dessen art trotz der von der Mutter verweigerten höfisch-ritterlichen Erziehung durch. Nicht nur treten bei Parzival vom Vater ererbte ritterliche Tugenden zu Tage, darüber hinaus zeigt Parzival die gleiche Rastlosigkeit wie sein Vater. Auch er wird in in den Armen seiner Frau sein Glück nicht finden, auch er verlässt seine Frau durch âventiure zil (,um Abenteuer zu bestehen‘, 223,23).

20 Kritisch zum Begriff der Aventiurefahrt Bumke (Anm. 11), S. 46. 21 Vgl. dazu Kugler (Anm. 12), S. 116, sowie Karg (Anm. 12), S. 25. 22 Kugler (Anm. 12), S. 126. 23 Hammer (Anm. 12), S. 154. Vgl. auch Draesner (Anm. 19), S. 177. Grundlegend zu den paradigmatischen Bezügen im ,Parzival‘ vgl. Richter (Anm. 3). 24 Vgl. 12,15–18. Vgl. dazu auch Störmer-Caysa (Anm. 6), S. 65: „Für den Ritter im höfischen Roman ist das Unterwegssein eine Lebensform; er ist auf programmatische Weise landlos und heimatlos“.

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3 Parzival I – Von Soltane bis zur ersten Einkehr in Munsalvaesche: Lineare Raum-Zeit-Strukturen Für Parzival hat das Schicksal seines Vaters weitreichende Folgen: Herzeloyde, die aus Trauer um den geliebten Ehemann beinahe selbst das Leben verliert, zieht sich in die Einöde Soltanes zurück, um ihren Sohn vor ritterschaft zu schützen.²⁵ Das Bemerkenswerte daran ist aber nicht nur, dass sie Parzival damit um seine königliche Erziehung bringt, sondern auch, wie und wo sie es tut: Sich zôch diu frouwe jâmers balt ûz ir lande in einen walt, zer waste in Soltâne; niht durch bluomen ûf die plâne. ir herzen jâmer was sô ganz, sine kêrte sich an keinen kranz, er wære rôt oder val. si brâhte dar durch flühtesal des werden Gahmuretes kint. liute, die bî ir dâ sint, müezen bûwn und riuten. si kunde wol getriuten ir sun. ê daz sich der versan, ir volc si gar für sich gewan: ez wære man oder wîp, den gebôt si allen an den lîp, daz se immer ritters wurden lût. ,wan friesche daz mîns herzen trût, welch ritters leben wære,

25 Vgl. 112,19 f. Ob man Herzeloydes Rückzug tatsächlich als ein „religiös motiviertes Bekenntnis zur Armut“ (Bumke [Anm. 11], S. 55) bezeichnen darf, scheint mir angesichts ihrer Aussage ,wan friesche daz mîns herzen trût, / welch ritters leben wære, / daz wurde mir vil swære.[‘] (,„Denn wenn mein liebster Schatz erführe, was es mit dem ritterlichen Leben auf sich hat, so wäre das ein großes Unglück für mich.[“]‘ 117,24–26, Hvhbg. D. S.) zumindest fraglich. Markus Stock, Herkunftsraum und Identität: Heterotopien der Herkunft im mittelhochdeutschen Roman. ,Lanzelet‘, ,Tristan‘, ,Parzival‘, ,Trojanerkrieg‘, in: Maximilian Benz, Katrin Dennerlein (Hg.), Literarische Räume der Herkunft. Fallstudien zu einer historischen Narratologie (Narratologia 51), Berlin, Boston 2016, S. 187–204, bezeichnet Soltane als „narrative Pause nach den tumultreichen ersten Büchern, welche das Reise-, Kampf-, Liebes- und Turnierleben von Parzivals Vater Gahmuret zum Inhalt haben.“ (S. 194) Dass allerdings Herzeloyde durch ihr Verhalten einen „künstlich hergestellte[n] Zustand des Nicht-Wissens und Nicht-Verstehens“ (Bumke [Anm. 11], S. 56) erzeugt, kommentiert der Erzähler eindeutig als Betrug an Parzival: der knappe alsus verborgen wart / zer waste in Soltâne erzogn, / an küneclîcher fuore betrogn (,So wurde der Knabe verborgen im wilden Wald von Soltâne erzogen und um königliche Lebensart gebracht‘, 117,30–118,2). Zu Parzivals fehlender Erziehung und der daraus resultierenden tumpheit vgl. grundlegend Joachim Bumke, Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im ,Parzival‘ Wolframs von Eschenbach (Hermaea, N. F. 94), Tübingen 2001, hier S. 77–109.

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daz wurd mir vil swære. nu habt iuch an der witze kraft, und helt in alle rîterschaft.‘ der site fuor angestlîche vart. (117,7–29)²⁶ Zum Jammer trieb es diese Dame hin: Sie zog fort aus ihrem Land in einen Wald, in die öde Wildnis von Soltâne. Es waren nicht die Blumen auf der Wiese, die sie lockten; Jammer füllte ihr Herz ganz aus, da lag ihr nichts an Blütenkränzen, seien sie nun rot oder in hellen Farben. Vielmehr hatte sie hierher das Kind des edlen Gahmuret in Sicherheit bringen wollen. Leute sind da auch bei ihr, die müssen Ackerbau treiben und roden. Für ihren Sohn sorgte sie klug mit Zärtlichkeit: Bevor der noch vernünftig denken konnte, ließ sie alle ihre Leute kommen, und zwar die Männer wie die Frauen. Und sie verbot da allen bei Todesstrafe, von Rittertum und Rittern auch nur einen Ton zu sprechen. „Denn wenn mein liebster Schatz erführe, was es mit dem ritterlichen Leben auf sich hat, so wäre das ein großes Unglück für mich. Drum seid vernünftig und haltet vor ihm alles geheim, was mit Ritterschaft zu tun hat.“ Nach dieser Regel fuhr man bang auf enger Bahn.

Betrachtet man die Beschreibung der Einöde genau, so weist sie alle jene Merkmale auf, die Michel Foucault in seinem berühmten Aufsatz „Von anderen Räumen“²⁷ für die Heterotopie vorgelegt hat. Heterotopien sind demnach reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörend Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden. Es sind gleichsam Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen.²⁸

Diese Definition lässt sich meines Erachtens auch für die Einöde von Soltane in Anschlag bringen. Es handelt sich hierbei um einen wirklichen Ort, der sich innerhalb der epischen Welt orten lässt und sich als nachhaltig wirksam erweist, haben doch die speziellen Regeln, die Herzeloyde unter Androhung von Todesstrafe aufgestellt hat, gravierenden Einfluss auf Parzivals weiteren Lebensweg. Im Sinne Herzeloydes handelt es sich dabei um einen idealisierten Zustand, um eine höfische Gesellschaft nämlich (die Regeln sind nicht völlig außer Kraft gesetzt, Herzeloyde tritt weiterhin

26 In der Soltane-Episode, mit der Chrétiens ,Le Conte du Graal‘ überhaupt erst einsetzt, hat Wolfram gegenüber seiner Vorlage gravierende Veränderungen vorgenommen: ist der Raum des Rückzugs dort als locus amoenus mit allen dazugehörenden Assoziationen skizziert, so betont Wolfram, dass Herzeloyde sich gerade niht durch bluomen ûf der plâne (117,10), sondern ausschließlich durch flühtesal (117,14) dorthin zurückgezogen hat. 27 Michel Foucault, Von anderen Räumen, in: Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hgg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften (stw 1800), Frankfurt a. M. 2006, S. 317–327. 28 Ebd., S. 320.

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als Königin gegenüber ihren liuten auf), die frei von Ritterschaft ist.²⁹ In diesem Sinne negiert die Gesellschaft von Soltane die Regeln der ritterlichen Welt und reflektiert die Gefahren des höfischen Lebens, welche Parzival aufgrund seiner ritterlichen Abstammung bevorstehen.³⁰ Die „wirklichen Plätze“ finden also durchaus Einzug in Soltane, werden dort aber zugleich bestritten und gewendet, die Einöde wird zum Gegenraum, zum vollkommen anderen Raum.³¹ Soltane erweist sich zudem in doppelter Hinsicht als Krisenheterotopie. Einerseits ist Herzeloyde – ausgelöst vom Tod des Ehemannes – getrieben von der Furcht vor dem Verlust des einzigen Kindes. Der Rückzug in die Einöde dient damit zur Krisenbewältigung, Parzival soll an die Stelle des Vaters rücken,³² ohne freilich dessen Schicksal erleiden zu müssen. War Herzeloyde schon nach der Nachricht vom Tod des Ehemannes dem eigenen Tod näher als dem Leben,³³ so erlebt sie andererseits ausgerechnet in Soltane eine weitere, nun todbringende Krise:³⁴ Als auch Parzival, gleichsam der ,zweite Gahmuret‘, die Mutter verlässt, um bei Artus rîterschaft zu finden,³⁵ bricht die Königin tot zusammen.³⁶ Dem Knaben aber gelingt es, dauerhaft zurückzukehren in die arthurisch-höfische Welt und Soltane für immer hinter sich zu lassen, wenngleich das Aufwachsen jenseits der ritterlichen Welt weitreichende Konsequenzen für Parzival nach sich zieht. Jenseits der „sozialen Isolation“³⁷ Soltanes scheitert er mehrfach an den basalen Regeln ritterlichen, das heißt: menschlichen Miteinanders, die in Soltane negiert wurden: Weder weiß er mit Damen umzugehen, noch kennt er die Regeln des ritterlichen Kampfes.

29 Vgl. dazu auch Stock (Anm. 25), der feststellt, „dass Herkunftsräume in diesen [mittelhochdeutschen, D. S.] Romanen als krisenhaft semantisiert sind“ (S. 189) und die Einöde als „markierte Abweichung“ (S. 194) bezeichnet. 30 Vgl. dazu auch Karg (Anm. 12), S. 24, sowie Markus Stock, Das Zelt als Zeichen und Handlungsraum in der hochhöfischen deutschen Epik. Mit einer Studie zu Isenharts Zelt in Wolframs ,Parzival‘, in: Burkhard Hasebrink u. a. (Hgg.), Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters. XIX. AngloGerman Colloquium Oxford 2005, Tübingen 2008, S. 67–85, hier S. 72. 31 Vgl. Michel Foucault, Die Heterotopien = Les hétérotopies/Der utopische Körper = Le corps utopique. Zweisprachige Ausg. Übers. v. Michael Bischoff. Mit einem Nachwort v. Daniel Defert, Frankfurt a. M. 2005, S. 11. 32 In dieser Hinsicht kann Herzeloydes Aussage, sie sei sîn muoter und sîn wîp (,seine [Gahmurets, D. S.] Mutter und sein Weib‘, 109,25) zwar als marianisch-trinitarisches Motiv gedeutet, zugleich aber im Hinblick auf Parzival als potentiell inzestuös problematisiert werden. 33 Vgl. 105,6 f., 109,6. 34 Soltane steht damit als jener Ort, an dem Herzeloyde stirbt, seinerseits in paradigmatischem Bezug zum fernen Orient, wo Gahmuret den Tod findet. Und so wie Parzival nie an den Ort zurückkehrt, an dem seine Mutter gestorben ist, so kehren weder er noch sein Halbbruder Feirefiz an jenen Ort zurück, an dem der gemeinsame Vater den Tod gefunden hat. Beide Orte erweisen sich damit für die Söhne als unverfügbar und können daher auch in dieser Hinsicht als heterotop bezeichnet werden. 35 Vgl. 123,3–11. Der Artushof wird damit, anders als bei Hartmann von Aue, nicht zum Ausgangspunkt der âventiure, sondern gleichsam zu deren primärem Ziel. 36 Vgl. 128,18–22. 37 Hammer (Anm. 12), S. 148.

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Zuletzt aber ist es vor allem die Lehre der Mutter, dem Rat grauer, weiser Männer zu folgen, die in Parzivals buchstäblicher Auslegung seinen weiteren Lebensweg wohl am entscheidendsten prägen wird.³⁸ Kaum nämlich hat Parzival Soltane hinter sich gelassen, offenbaren sich bereits die fatalen Konsequenzen, die aus dem heterotopen Status Soltanes und dessen spezifischen Regeln resultieren. Parzivals Weg führt nicht zu Artus, sondern zunächst zur schlafenden Herzogin Jeschute, in deren Zelt er gewaltsam eindringt.³⁹ Er raubt der Herzogin einen Ring, eine Spange und einen Kuss, bevor er auf seinem anschließenden Weg zu Artus vor eines velses orte (138,12) erstmals seiner Cousine Sigune begegnet. Im Gespräch mit Sigune erhält Parzival von ihr drei identitätsstiftende Informationen (seinen Namen, die gemeinsame mütterliche Verwandtschaft und die Abstammung von seinem Vater, dem Anschevîn), wodurch die Begegnung mit Sigune einen „erste[n] Schritt der Selbsterkenntnis“⁴⁰ Parzivals markiert. Obgleich also die Begegnung mit Sigune sowohl im metaphorischen wie auch im konkreten Sinne Parzivals Aufbruch in eine neue Welt markiert, wird seine Cousine gerade nicht zum räumlichen Fix- oder Orientierungspunkt, finden diese und die weiteren Begegnungen der beiden doch an je unterschiedlichen Orten statt.⁴¹ Sigune, die sich gleichsam als Pendlerin zwischen Artus- und Gralswelt beschreiben lässt, stellt vielmehr einen personalen Fixpunkt in der Erzählwelt dar, spiegelt doch ihr Schicksal dasjenige Parzivals: Dieser findet zunächst aus der Einöde Soltanes heraus den Weg ins Zentrum der höfischen Welt, den Artushof, verlässt diesen jedoch wieder, gerät mehrfach in den Umkreis der Gralsburg, kehrt zurück an den Artushof und wird letztlich als Gralskönig endgültig Teil der Gralswelt. Jene hingegen, durch Geburt Mitglied der Gralsfamilie, in Liebe zu Schionatulander verbunden mit der Artuswelt, hält sich jeweils am Rande einer jeden Gesellschaft auf:⁴² bei ihrer ersten Begegnung am Rande der Artuswelt, bei der zweiten Begegnung in unbestimmter Entfernung zur Gralsburg und auch ihre Klause, in der sie letztlich die ersehnte Wiedervereinigung mit Schionatulander im Tod findet, ist zumindest so weit von Munsalvaesche entfernt,

38 Vgl. zu Herzeloydes rudimentären Lehren 127,13–128,2. 39 Zu Parzivals Eindringen in das Zelt Jeschutes und der damit verbundenen Grenzüberschreitung vgl. Stock (Anm. 30), S. 72 f. 40 Bumke (Anm. 11), S. 58. 41 Zunächst vor der Felswand (vgl. 138,12), dann auf einer Linde sitzend (vgl. 249,14) und zuletzt eingemauert in einer Klause (vgl. 435,7 und 804,10), Vgl. dazu Christine Putzo, Das implizite Buch. Zu einem überlesenen Faktor vormoderner Narrativität. Am Beispiel von Wolframs ,Parzival‘, Wittenwilers ,Ring‘ und Prosaromanen Wickrams. in: Wolfram-Studien 22 (2012), S. 279–330, die Sigune einerseits als „Inbegriff einer statischen Figur“ (S. 299) bezeichnet, zugleich aber betont, dass sie sich bei jeder Begegnung mit Parzival an unterschiedlichen Orten befindet, ihre Bewegung im Raum damit gleichsam aber nur „resultathaft“ (S. 300) sichtbar wird. 42 Vgl. Richter (Anm. 3), S. 93, 107, Anm. 281.

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dass Parzival diese schon vor der Erlösung der Gralsgesellschaft erreichen kann.⁴³ Zudem ist der endgültige Rückzug an den Rand allen irdischen Daseins durch den Rückzug in die Klause auch räumlich-architektonisch deutlich markiert. Sigune ist somit weder Teil der Artus- noch der Gralsgesellschaft, ihre einzige geselleschaft (253,6) ist der Leichnam ihres Geliebten. Von ihrem Platz vor eines velses orte aus weist Sigune Parzival den falschen Weg,⁴⁴ in bester Absicht, den Knaben vor Unheil zu bewahren. Dennoch gelangt Parzival letztlich zu Artus’ Residenz in Nantes, wo es ihm trotz chaotischer Zustände am Hof gelingt, dem König sein Anliegen vorzutragen.⁴⁵ Durch die Tötung Ithers und den anschließenden rêroup erhält Parzival Rüstung, Schild und Schwert und hat damit sein primäres Ziel erreicht: Er ist nun ein Ritter – wenngleich die Umstände, die dazu geführt haben, freilich wenig mit rîterschaft gemein haben, Parzivals Verhalten vielmehr von fehlendem Unrechtsbewusstsein und mangelnder Urteilsfähigkeit zeugt.⁴⁶ Doch kaum hat Parzival die ritterlichen Insignien angelegt, zieht es ihn schon wieder fort.⁴⁷ Noch am selben Abend gelangt er nach Graharz, das geradezu als höfischer Gegenraum zu Soltane und zum Artushof inszeniert wird. Waren die Regeln ritterlichen Zusammenlebens in Soltane völlig negiert und am Artushof zumindest vorläufig aus den Fugen geraten, so rückt bei Gurnemanz idealisierte rîterschaft ins Zentrum der Erzählung: in nur fünfzehn Tagen erhält Parzival jene theoretischen und praktischen Lehren, welche ihm ein ritterliches Leben ermöglichen sollen. Neben den äußeren Zeichen des Ritters verfügt er jetzt auch über die notwendige Ausbildung, die ihm seine Mutter vorenthalten hatte.

43 Grundlegend zur Sigune-Figur vgl. Robert Braunagel, Wolframs Sigune: eine vergleichende Betrachtung der Sigune-Figur und ihrer Ausarbeitung im ,Parzival‘ und ,Titurel‘ des Wolfram von Eschenbach (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 662), Göppingen 1999, sowie Draesner (Anm. 19), S. 265–287, Störmer-Caysa (Anm. 6), S. 68 f., Richter (Anm. 3), S. 95 f. 44 Vgl. 141,29–142,5. 45 Die Artusgesellschaft erweist sich damit, wie W. Günther Rohr, Ich sihe hie mangen Artûs. Der Artûshof im ,Parzival‘ Wolframs von Eschenbach, in: Helga Arend (Hg.), „Und wer bist du, der mich betrachtet?“. Populäre Literatur und Kultur als ästhetische Phänomene. FS Helmut Schmied, Bielefeld 2010, S. 297–311, formuliert, gerade nicht als „eine funktionierende Gesellschaft, deren Funktionieren durch Verhandlungen und Rituale, durch Besonnenheit, Kompromissbereitschaft und Verzicht gesichert werden kann“ (S. 309). Vgl. Bumke (Anm. 11), der betont, dass die Artusgesellschaft „deformiert ist und der Reintegration bedarf.“ (S. 183). Richter (Anm. 3) stellt den Artushof daher auch konsequenterweise in eine Reihe mit Munsalvaesche und Schastel marveil, insofern alle drei Höfe ein „in sich gestörte[s], ja gelähmte[s] Gesellschaftssystem [präsentieren]“ (S. 64). Während Schastel marveil jedoch durch âventiure, die Gralsburg durch Parzivals Frage erlöst werden, kann die Artusgesellschaft nur durch die Tötung Ithers „vom Zustand gesellschaftlicher Lähmung in den der höfischen vröude überführt [werden].“ (S. 71). 46 Vgl. Bumke (Anm. 11), S. 60, 156. 47 Bumke (Anm. 11) spekuliert, „[e]s ist wohl diu Gahmuretes art (174,24), die ihn [Parzival, D. S.] nirgends länger als ein paar Tage verweilen läßt.“ (S. 155).

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Aber auch bei Gurnemanz verweilt Parzival nicht länger als nötig. Auf der Suche nach Kämpfen und den wärmenden Armen einer Dame macht er sich sobald als möglich auf den Weg,⁴⁸ welcher ihn direkt in das Königreich Brobarz führt, dessen Hauptstadt Belrapeire er in einem bedauernswerten Zustand vorfindet. Parzival, der noch am selben Abend von der Königin Condwiramurs selbst erfährt, wie es zu diesem beklagenswerten Zustand ihres Hofes kam, will am nächsten Morgen das Leid der Königin rächen. Im Zweikampf besiegt er den Seneschall Kingrun, den Belagerer Belrapeires, den er anschließend zu Gurnemanz schicken will, um diesem sein Ehrenwort zu bringen. Zwar lehnt Kingrun dies ab, da er einen der Söhne Gurnemanz’ getötet hat, doch wird auf diese Weise ein intratextueller Verweis hergestellt, der auf Parzivals konkreten wie metaphorischen Weg verweist: Von Gurnemanz war Parzival aufgebrochen, um âventiure zu suchen, von ihm hat er die Regeln des höfischen Kampfes erlernt, die er nun gegen Kingrun erstmals anwendet. Nachdem Kingrun auch ablehnt, sich Condwiramurs zu ergeben, weil er dabei um sein Leben fürchtet, sendet Parzival den Unterlegenen letztlich an den Artushof, wo er Cunneware sein Ehrenwort leisten muss.⁴⁹ Nicht nur wird dadurch deutlich, dass bei Parzival zumindest eine rudimentäre Form der Einsicht stattgefunden hat, der Erzähler beginnt hier auch, Handlungsorte durch verschieden Figuren miteinander zu verbinden. Mithilfe dieser „Verknüpfungstechnik“⁵⁰, deren Funktionsweise im unmittelbaren Anschluss ein zweites Mal demonstriert wird,⁵¹ organisiert „[d]ie Erzählwelt des ,Parzival‘ [. . . ] ein filigranes Netz textimmanenter Bezüge [. . . ] zwischen Schauplätzen, Szenentypen, Themen oder abstrakten Momenten der Handlung.“⁵² Parzival aber verlässt auch Condwiramurs und macht sich auf den Weg nach Soltane, um zu erfahren, wie es seiner Mutter zwischenzeitlich ergangen ist.⁵³ Parzival deutet damit eine Rückkehr in den Raum seiner Herkunft an,⁵⁴ ohne dass sich dies jedoch erfüllen wird. Denn nicht

48 Vgl. 176,27–177,8. 49 Parzival leistet damit einen ersten Beitrag zur Wiedergutmachung an Cunneware, die seinetwegen das erste Mal in ihrem Leben gelacht hatte und daraufhin von Keye kräftige Hiebe erleiden musste. Vgl. 151,11–152,22. 50 Bumke (Anm. 11), S. 210. 51 Nach Parzivals Sieg über Kingrun greift Clamide Belrapeire an. Doch auch er unterliegt im Kampf und soll nun ebenfalls zu Gurnemanz gesandt werden. Auch er aber lehnt – unter Hinweis auf das große Leid, dass er Gurnemanz angetan habe – ab, und Parzival schickt daraufhin auch ihn zu Cunneware. Der Faden, der die beiden Schauplätze Belrapeire und Artushof miteinander verbindet, wird – um das Bild des gewebten Netzes weiterzuspinnen – verstärkt, nicht nur einmal, sondern zweimal werden die beiden Orte durch einen Boten miteinander verbunden. 52 Putzo (Anm. 41), S. 297 f. 53 Vgl. 223,17–23. 54 Hammer (Anm. 12) unterscheidet für den ,Parzival‘ einen primären, genealogisch geprägten von einem sekundären Herkunftsraum, in den der Protagonist von seiner Mutter versetzt wird. Primärer Herkunftsraum ist Kanvoleis bzw. Waleis, sekundärer Herkunftsraum dagegen ist die Einöde Soltane, die „als sekundärer Herkunftsraum durch räumliche Konkreta wie Bäume, Hänge, Lichtungen, Fluss

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Parzvial bestimmt den Weg, sondern er überlässt seinem Pferd die Zügel,⁵⁵ welches ihn an einen See bringt, an dem er auf einen Fischer trifft.⁵⁶ Dass es sich dabei um den kranken Gralskönig Anfortas handelt, kann Parzival nicht wissen,⁵⁷ doch verhält er sich gegenüber dem Fremden äußerst höflich und fragt ihn nach einer Herberge. Der Fischer weist Parzival den Weg zum einzigen Haus,⁵⁸ das sich im Umkreis von dreißig Meilen befindet, und erläutert ihm, wie er Zugang zu dieser Herberge erhalten kann. Als Parzival die Burg erreicht – ein wahres Bollwerk,⁵⁹ dessen Namen Protagonist und Rezipient erst von Sigune erfahren⁶⁰ –, wird er geradezu königlich empfangen. Parzival jedoch, als er den Fischer als seinen Gastgeber erkennt, besinnt sich trotz seiner Verwunderung über die Geschehnisse auf der Burg gerade im falschen Moment der Lehren Gurnemanz’ und fragt nicht, wie es um den König bestellt sei.⁶¹ Die Konsequenzen der verpassten Frage sind gravierend: Wurde Parzival am Abend noch mit allem Pomp, zu dem auch der Gral selbst als Zentrum einer wohlchoreographierten

und Bach skizziert [wird]; von Behausungen erfahren wir nichts aus dem Text. Mit der Fokussierung der Defizienz in der mühsamen Feldarbeit, der inadäquaten Kleidung und den primitiven Waffen Parzivals wird Soltâne dem primären Herkunftsraum gegenüber nicht nur synchron, sondern auch diachron als unhöfisch semantisiert im Sinne einer Primitivstufe des Kulturationsprozesses, der mit dem Aufwachsen und letztendlich mit dem Aufbruch Parzivals in den primären Herkunftsraum verschaltet und erst mit der Ausbildung bei Gurnemanz abgeschlossen sein wird.“ (S. 159 f.). Als topologische Grenze zwischen den beiden Herkunftsräumen versteht Hammer den Bach, den Parzival auf dem Weg zum Artushof überschreitet, womit Parzival, „ohne es zu wissen, in das umfassende Bezugsnetz genealogischer Beziehungen und die arthurische Welt mit ihren Gesetzmäßigkeiten ein[tritt].“ (S. 160). Vgl. relativierend zur Kopplung von Herkunft und Raum im mittelhochdeutschen Roman Stock (Anm. 25), S. 188. 55 Vgl. 224,19 f. Vgl. dazu Glaser (Anm. 2), S. 72–74. 56 Zu diesem Schwellenraum vgl. Glaser (Anm. 2), S. 71–77. 57 Wie Parzival nicht weiß, dass es sich bei dem Fischer um seinen Onkel Anfortas handelt, so weiß dieser nicht, dass der Ritter sein Neffe Parzival ist. Der Gralskönig aber weiß, dass es sich um jenen Ritter handeln muss, der ihn erlösen kann, denn nur diesem ist es möglich, in die Nähe der Gralsburg vorzudringen. Vgl. Bumke (Anm. 11), S. 65, sowie Bernd Schirok, Die Inszenierung von Munsalvaesche: Parzivals erster Besuch auf der Gralburg, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 46 (2005), S. 39–78, hier S. 48–50. 58 Eine – im Hinblick auf die Raumregie – bemerkenswerte Abweichung Wolframs gegenüber seiner Vorlage hebt Störmer-Caysa (Anm. 6), S. 57, hervor: Der Fischer weist Parzival explizit zer zeswen hende (,nach rechts‘, 225,26) während Perceval bei Chrétien nach oben gewiesen wird. Zur Semantik von links und rechts bzw. oben und unten vgl. ebd, S. 53–63. Zum Weg Parzivals auf die Burg vgl. Christa-Maria Kordt, Parzival in Munsalvaesche. Kommentar zu Buch V/1 von Wolframs ,Parzival‘ (224,1–248,30), Herne 1997, S. 15–33, bes. S. 27. 59 Vgl. 226,10–22. Die Größe der Burg wird auch durch ihre opulente Ausstattung unterstrichen: Nicht weniger als einhundert Sitzbetten befinden sich dort, vor denen einhundert Tische aufgestellt werden. Die Größe der Burg vermittelt damit auch einen Eindruck von der Größe der Gralsherrschaft. Alles ist üppiger und größer als am Artushof. 60 Vgl. 251,2. 61 Im Rahmen des vorliegenden Beitrages kann und soll die Forschungsliteratur zur verpassten Frage Parzivals nicht aufgearbeitet werden. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Gralsburg, nicht das Verhalten Parzivals dort.

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Prozession gehört, bewirtet,⁶² findet er die Burg am nächsten Morgen menschenleer vor und muss sich beim Verlassen von einem Knappen gar als gans (247,27) beschimpfen lassen. Für Parzival aber endet damit der erste âventiure-Weg, der sich vom Aufbruch aus Soltane bis zur ersten Einkehr in Munsalvaesche zusammenfassend als linear bezeichnen lässt: Soltane, Jeschute, Sigune, Artushof, Gurnemanz, Belrapeire/Condwiramurs, Gralsburg – an alle diese Orte, zu all diesen Figuren kommt Parzival auf seinem Weg genau ein einziges Mal. Betrachtet man diesen Weg genauer, so fällt vor allem die Gemeinsamkeit zwischen dem Ausgangs- und dem Endpunkt ins Auge: Nicht nur Soltane weist die Merkmale einer Heterotopie auf, auch Munsalvaesche lässt sich als eine solche beschreiben.⁶³ So wie in Soltane die Regeln Herzeloydes gelten, die nicht mit den Regeln der höfischen Welt identisch sind, so gelten auf der Gralsburg die Regeln des Grals. Zwar weisen diese grundlegende Merkmale der (arthurisch-)höfischen Welt auf, doch lebt die Gralsgesellschaft nach sehr speziellen Regeln: Die Frauen auf der Gralsburg haben den Gral in ihrer Obhut, die Ritter verteidigen ihn gegen alle Unberufenen und nehmen von den Gegnern des Grals keine Sicherheit, sie töten diese. Die Damen und die Ritter auf der Burg müssen unverheiratet bleiben, es sei denn, der Gral erlaubt eine Ehe außerhalb der Gralswelt. Der Gralskönig selbst darf nur jene zur Frau nehmen, die der Gral ihm als Königin auswählt. Allen anderen Rittern ist während des Dienstes für den Gral minne versagt.⁶⁴ Neben den zahlreichen magischen Fähigkeiten, über die der Gral verfügt, offenbaren vor allem diese Regeln des Zusammenlebens die Andersartigkeit der Gralsgesellschaft. Es handelt sich also auch bei Munsalvaesche um einen „reale[n], wirkliche[n], zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige[n] Ort[]“⁶⁵ und damit um eine „tatsächlich verwirklichte Utopie[], in de[r] die realen Orte [. . . ], die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden“⁶⁶. Darüber hinaus kann die Gralsburg nur von dejenigen gefunden werden, die dazu erwählt sind, ihr Leben im Dienst des Grals zu verbringen.⁶⁷ Sie erfüllt damit auch jenes Merkmal, das Foucault in seinem sogenannten fünften Grundsatz formuliert hat:

62 Zum szenischen Raum des palas vgl. Glaser (Anm. 2), S. 182–194. 63 Ein solches Verständnis legt auch die Formulierung Schiroks (Anm. 57) nahe, der feststellt, dass „[d]ie zentralen Begriffe der Artuswelt, minne und âventiure, [. . . ] in der Gralwelt negiert oder pervertiert [sind].“ (S. 77). 64 Vgl. zusammenfassend Bumke (Anm. 11), S. 136 f. 65 Foucault (Anm. 27), S. 320. 66 Ebd. 67 Im Gegensatz zu Gesine Mierke, Architektur im Buch. Die Gralsburg in Wolframs von Eschenbach ,Parzival‘: Schauplatz oder Gedächtnispalast?, in: Martin Huber u. a. (Hgg.), Literarische Räume. Architekturen – Ordnungen – Medien. Berlin 2012, S. 75–91, verstehe ich die Gralsburg allerdings nicht als „außerhalb der realen Welt“ (S. 82) liegend. Parzival kann die Burg reitend erreichen, Cundrie versorgt Sigune von der Gralsburg aus mit Speisen, nach seiner Erwählung zum Gralskönig reitet

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Heterotopien setzen stets ein System der Öffnung und Abschließung voraus, das sie isoliert und zugleich den Zugang zu ihnen ermöglicht. Einen heterotopen Ort betritt man nicht wie eine Mühle. Entweder man wird dazu gezwungen [. . . ] oder man muss Eingangs- und Reinigungsrituale absolvieren. Man darf sie nur mit Erlaubnis betreten und nachdem man eine Reihe von Gesten ausgeführt hat.“⁶⁸

Betrachtet man nochmal Parzivals Ankunft auf der Gralsburg, so erweist sich auch diese Bedingung als erfüllt: Er kann die Gralsburg nur betreten, weil er derjenige ist, dessen Kommen der Gral angekündigt hat. Nachdem der Fischer ihm den Weg gewiesen hat, erklärt er Parzival noch, wie er Zugang zur Burg erhält: bit die brüke iu nider lâzen / und offen iu die strâzen. (,Bittet dann, daß man Euch die Brücke niederlassen und die Straßen öffnen möge‘, 225,29 f.) Parzival befolgt den Rat des Fischers und bittet – mit Hinweis auf seinen Gastgeber – um Einlass: [. . . ] ,der vischære hât mich von im her gesant. ich hân genigen sîner hant niwan durch der herberge wân. er bat die brükken nider lân, und hiez mich zuo ziu rîten în.‘ (226,26–227,1) „Der Fischer hat mich hergeschickt. Ich habe seiner Hand gedankt, ich dachte doch, sie gäbe mir Quartier. Er hat befohlen, Ihr möchtet die Brücke niederlassen; ich solle zu euch hineinreiten.“

Die Reaktion der Burgbewohner daraufhin ist eindeutig: ,hêrre, ir sult willekomen sîn. sît es der vischære verjach,

Parzival mit seinem Begleiter Feirefiz – geführt von Cundrie – auf die Gralsburg. Die Gralsburg ist also – wenn auch nicht für jeden erreichbar – sehr wohl Bestandteil der ,realen‘, d. h. irdischen Welt, es findet keine Entrückung o. Ä. dorthin statt. Vgl. zu dieser Diskussion auch Karg (Anm. 12), S. 30, Stock (Anm. 30), S. 69, sowie Joachim Bumke, Die Utopie des Grals. Eine Gesellschaft ohne Liebe?, in: Hiltrud Gnüg (Hg.), Literarische Utopie-Entwürfe, Frankfurt a. M. 1982, S. 70–79, der die Gralswelt als „merkwürdig entrückt“ (S. 72) von der fiktiven Welt, in der die Romanhandlung spielt, bezeichnet, sowie Störmer-Caysa (Anm. 6), die vorsichtig formuliert, dass die Gralsburg „ab und an aus dem objektiven räumlichen Koordinatensystem der fiktionalen Welt verschwindet.“ (S. 205). Vgl. dagegen Konstantin Pratelidis, Tafelrunde und Gral. Die Artuswelt und ihr Verhältnis zur Gralswelt im ,Parzival‘ Wolframs von Eschenbach (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 12), Würzburg 1994, der betont, dass die Gralsburg – im Gegensatz zum Artushof – „über einen festen Residenzort [verfügt]“ (S. 93), sich gleichzeitig aber „einer exakten Lokalisierung [. . . ] innerhalb des epischen Weltgefüges des ,Parzival‘“ (ebd.) entzieht. 68 Foucault (Anm. 27), S. 325 f. Vgl. dazu Richter (Anm. 3), die bemerkt, dass die Gralssphäre sich der Artussphäre gegenüber zwar als hermetisch abgeschlossener Raum präsentiert, „allerdings nicht vermittels statischer Grenzen wie Ummauerung oder einem reißenden, nicht überquerbaren Fluss, sondern durch eine Verschiebung des Raum-Zeit-Kontinuums, die den Übergang von der Artussphäre in die Gralssphäre als besonders prekär erscheinen lässt.“ (S. 90)

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man biut iu êre unt gemach durch in der iuch sande widr,‘ sprach der knappe und lie die brükke nidr. (227,2–6) „Mein Herr, Ihr seid willkommen. Da es der Fischer so gesagt hat, wird man Euch ehren, und Ihr sollt es so gut haben hier, um seinetwillen, der Euch schickte.“ So sprach der Knappe und ließ die Zugbrücke hinunter.

Parzival hat damit ein Eingangsritual vollzogen, ein Reinigungsritual folgt auf dem Fuße: man zieht ihm seine Rüstung aus, wäscht ihn und kleidet ihn in den Mantel der Repanse de Schoye. Erst jetzt wird Parzival Richtung palas geführt, wo er der Gralsprozession beiwohnt. Für Soltane dagegen gilt, was Foucault im zweiten Teil des fünften Grundsatzes ausführt: Andere Heterotopien wirken dagegen vollkommen offen, sind aber in Wirklichkeit auf seltsame Weise verschlossen. Jeder hat Zutritt zu diesen heterotopen Orten, aber das ist letztlich nur Illusion.⁶⁹

So gelangen die Ritter, denen Parzival im Wald begegnet, gar nicht bis in die nunmehr bewohnte Einöde Soltanes, vielmehr hat Parzival sich auf einem seiner Jagdausflüge an eine langgestreckte Anhöhe begeben, wo er auf die Ritter trifft. Es wirkt also nur so, als ob die Ritter Soltane erreichen, der Zugang bleibt Illusion.⁷⁰ Sowohl Soltane als auch Mansalvaesche also schaffen „einen anderen Raum, einen anderen realen Raum, der im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raums eine vollkommene Ordnung aufweist.“⁷¹ Während in Soltane Herzeloydes Regeln Ordnung stiften, so ist es auf Munsalvaesche der Gral, der normativ wirkt. Beide Räume erweisen sich damit eben nicht als Utopien im Wortsinne eines Nicht-Ortes,⁷² sondern sind tatsächlich verwirklichte Utopien und damit im Sinne Foucaults „kompensatorische Heterotopien“⁷³.

69 Foucault (Anm. 27) S. 326. 70 Vgl. Draesner (Anm. 19), S. 199. 71 Foucault (Anm. 27), S. 326. 72 Zu den utopischen Merkmalen der Gralsgesellschaft vgl. Karg (Anm. 12), S. 30, sowie Bumke (Anm. 67). 73 Foucault (Anm. 27), S. 326.

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4 Parzival II – Vom Verlassen Munsalvaesches bis zur Rückkehr auf die Gralsburg: Zyklische Raum-Zeit-Strukturen Nachdem Parzival Munsalvaesche verlassen hat, beginnt für ihn der zweite Teil seines Weges,⁷⁴ der in doppelter Hinsicht als zyklisch bezeichnet werden soll. Erstens verlässt Parzival Munsalvaesche, kehrt letztlich aber dorthin zurück. Zyklisch also aus einer makroskopischen Perspektive.⁷⁵ Zyklisch aber auch in einem mikroskopischen Sinne, insofern Parzival nun mehrfach Figuren wiederbegegnet, denen er zuvor bereits begegnet ist, bzw. an Orte gelangt, die er bis zu seiner Rückkehr nach Munsalvaesche mehrfach erreichen wird. Parzivâl der huop sich nâch vast ûf die slâ dier dâ sach. [. . . ] do begunde krenken sich ir spor: sich schieden die dâ riten vor. ir slâ wart smal, diu ê was breit: er verlôs se gar: daz was im leit. (248,17–249,8) Parzivâl machte sich in Eile auf den Weg, immer der Spur nach, die er da eingetrampelt sah. [. . . ] Ihre Spur wurde immer schwächer: Sie hatten sich getrennt, die dort vor ihm geritten waren. Ihre Fährte, die zuerst breit gewesen war, wurde schmal, und schließlich verlor er sie ganz. Das tat ihm leid.

So setzt der Erzähler fort, als Parzival die Gralsburg verlässt und erfolglos versucht, den Spuren der ausgerittenen Ritter zu folgen.⁷⁶ Stattdessen begegnet er ein zweites Mal Sigune. Als Parzival ihr von den abendlichen Ereignissen auf der Gralsburg erzählt, wirft sie ihm ob seines Verhaltens mangelndes Erbarmen vor und verweigert ihm gegenüber jedes weitere Wort, woraufhin Parzival sie kommentarlos verlässt.⁷⁷ Unmittelbar danach trifft Parzival ein zweites Mal auf die Herzogin Jeschute.⁷⁸ Diese lebt, seit Parzival von ihr fortgeritten war, in einem erbarmenswerten Zustand:

74 Glaser (Anm. 2), S. 159–161, beschreibt den Weg Parzivals als dreiteilig. Die Zyklizität jedoch ergibt sich erst mit der Rückkehr nach Munsalvaesche, weshalb die zweite und dritte Phase im Modell Glasers zusammenzufassen sind. Vgl. dazu auch Richter (Anm. 3), S. 101, die ebenfalls eine Dreiteilung sieht, dabei jedoch den metaphorischen Weg Parzivals in den Vordergrund rückt: Parzivals Weg zum Artusritter und Parzivals Suche nach dem Gral vor und nach der Einkehr bei Trevrizent. 75 Vgl. dazu Richter (Anm. 3), S. 42. 76 Vgl. dazu Glaser (Anm. 2), S. 144–146. 77 Zum Gespräch Sigunes mit Parzival vgl. Schirok (Anm. 57), S. 65–67. 78 Susanna Backes, Von Munsalvaesche zum Artushof. Stellenkommentar zum fünften Buch von Wolframs ,Parzival‘ (249,1 – 279,30), Herne 1999, betont die „Klammerfunktion“ der beiden Siguneund Jeschute-Episoden und weist darauf hin, dass sie „dem Beginn des ersten Aventiure-Kursus

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Ihr Pferd ist abgemagert und zerschunden, die Herzogin selbst trägt ein zerrissenes Kleid, zwischen den Stoffresten blitzt die blanke Haut hindurch. Kurzum, das Äußere der Herzogin ist ihrer absolut unwürdig. Parzival bemerkt zwar den Zustand, ist sich selbst aber keiner Schuld bewusst und bietet seine Hilfe an. Jeschute, die ihn freilich erkennt, lehnt dies aus Sorge um Parzival ab, doch kehrt ihr Ehemann, Herzog Orilus, bereits zurück und es kommt zum Kampf, aus dem Parzival siegreich hervorgeht. Parzival fordert nun vom unterlegenen Herzog das Versprechen ein, Jeschute wieder in die Ehegemeinschaft aufzunehmen, was dieser jedoch mit der Begründung ablehnt, Jeschute sei es gewesen, die ihn seiner Ehre beraubt und ihn ins Elend gestürzt habe. Auch hier wiederholt sich die Geschichte: Parzival lehnt Orlius’ Krone als Sicherheit ab und schickt ihn stattdessen an den Artushof, um bei Cunneware Wiedergutmachung zu leisten; wieder wird durch einen Boten die Verbindung zwischen Parzival und dem Artushof bestärkt und das intratextuelle Netz weitergesponnen. Parzival will aber auch die Situation mit Jeschute zu einem guten Ende bringen: si bêde und ouch diu frouwe ritn für ein klôsen in eins velses want. eine kefsen Parzivâl dâ vant: ein gemâlet sper derbî dâ lent. der einsidel hiez Trevrizent. (268,26–269,30) [D]ie beiden Männer und die Dame ritten, bis sie vor eine Klause kamen in einer Felsenwand. Parzivâl sah dort ein Reliquienkästchen, daneben lehnt ein bunt angemalter Speer. Der Einsiedler hieß Trevrizent.

Vor der Klause schwört Parzival einen Eid auf die Reliquie, dass er Jeschute nie bewusst Schaden zufügen wollte und sie selbst völlig unschuldig sei. Der Herzog nimmt seine Frau daraufhin wieder in die eheliche Gemeinschaft auf und sie machen sich gemeinsam auf den Weg zum Artushof, wo Jeschute in die höfische Gemeinschaft reintegriert wird. Die beschriebene Szene ist gerade auch im Hinblick auf die Raum-Zeit-Struktur des ,Parzival‘ beachtenswert. Traf Parzival nach seinem Aufbruch aus Soltane zunächst auf Jeschute und dann auf Sigune, so geht er nun den umgekehrten Weg: Zuerst trifft er seine Cousine, danach die Herzogin. Auffällig dabei ist, dass sich sowohl Sigune als auch Jeschute zwischenzeitlich ihrerseits innerhalb der erzählten Welt bewegt haben: Sigune sitzt nun auf einer Linde, Jeschute zieht mit ihrem Ehemann umher. Während also die Begegnungen mit den beiden Frauen wichtige Wegmarken im Erkenntnisprozess

voran [gehen] und [. . . ] andererseits – mit der jeweils zweiten Begegnung – den Abschluß des Zyklus ein[leiten].“ (S. 2). Ausführlich zu den beiden Szenen vgl. ebd. S. 5–51 und 52–160.

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Parzivals markieren,⁷⁹ können die Orte der Begegnungen gerade nicht zur Gliederung der epischen Welt herangezogen werden; eine eindeutige, geographisch bzw. topographisch nachvollziehbare Struktur, die sich auf einer Landkarte darstellen ließe, wird immer weniger erkennbar.⁸⁰ Vielmehr werden zunehmend mehr Schauplätze in einem Netz miteinander verwoben. Durch das sich wiederholende Verhalten Parzivals, unterlegene Gegner an den Artushof zu senden,⁸¹ werden zunehmend neue Fäden geknüpft, unterhalb der Oberfläche der Erzählung entsteht ein immer dichter werdendes Gewebe.⁸² Die Knotenpunkte allerdings lassen sich vorläufig noch nicht als Fixpunkte innerhalb der epischen Welt lokalisieren, das Netz scheint sich vielmehr mit Parzival zu bewegen. Gleichzeitig wird die beschriebene Episode aber später zu einem wichtigen Referenzpunkt, stiftet also nicht nur anaphorische, sondern ebenso kataphorische Bezüge. Nachdem Parzival, gleichermaßen außerhalb des Blickfelds des Erzählers, viereinhalb Jahre lang auf der Suche nach dem Gral umhergeritten ist, begegnet er im IX. Buch zum dritten Mal Sigune, von der aus er Cundrie auf die Gralsburg folgen will.⁸³ Er verliert jedoch erneut die Spur und trifft im Wald auf einen Gralsritter. Parzival hat sich, ohne es zu bemerken, der Gralsburg so weit angenähert, dass ein Templeise sich ihm in den Weg stellt. Im Kampf gegen den Ritter siegt Parzival und irrt anschließend erneut einige Wochen umher, bevor er am Karfreitag auf den pilgernden Fürsten Kahenis trifft, dem gegenüber Parzival seine Orientierungslosigkeit in Raum und Zeit bekennt.⁸⁴ Das Angebot des Pilgers, den Tag mit ihm und seiner Familie zu verbringen, lehnt Parzival ab. Vielmehr überlässt er einmal mehr seinem Pferd die Zügel und legt sein Schicksal explizit in Gottes Hand:⁸⁵ gein Fontân la salvâtsche ez gienc, dâ Orilus den eit enpfienc. der kiusche Trevrizent dâ saz, der manegen mântac übel gaz: als tet er gar die wochen. (452,13–17)

79 Putzo (Anm. 41) spricht von Sigune und Jeschute als „Ankerpunkt[e] im Gedächtnis des Rezipienten“ (S. 301), die „andere Teile der Erzählung in Erinnerung [rufen], [. . . ] zu denen die aktuelle Handlungsstelle in Bezug gesetzt werden soll.“ (ebd.). 80 Zu den als gescheitert zu bezeichnenden Versuchen, eine Landkarte des ,Parzival‘ zu entwerfen, vgl. Spiewok (Anm. 3). Gleichwohl markieren freilich die Figuren selbst enge Bezüge zwischen räumlich und zeitlich weit entfernten Handlungssequenzen. Vgl. Putzo (Anm. 41), S. 302. 81 Vgl. dazu Putzo (Anm. 41), S. 303–305. 82 Vgl. Putzo (Anm. 41), S. 304: „Handlungsintern zumeist schwach begründet, ist eine strukturierende Funktion solcher Bewegungen im Raum der Erzählwelt sofort erkennbar: Sie ziehen Linien durch den Roman und vernetzen so einzelne Punkte seiner Raumzeit.“ 83 Vgl. 438,29–439,5 und 442,25–30. 84 Vgl. 447,20–30. Vgl. dazu auch Bumke (Anm. 11), S. 89, sowie Lohr (Anm. 6), S. 55, 64. 85 Vgl. 452,1–12.

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Zu der Fontâne la salvâtsche ging es hin, wo Orilus den Eid empfangen hatte. Dort lebte in keuscher Entsagung Trevrizent; dessen Tisch war manchen Montag schlecht gedeckt und so den Rest der Woche.

Parzival also gelangt an jenen Ort, an dem er Orilus gegenüber den Reinigungseid geschworen hatte. Mehr als fünfeinhalbtausend Verse später rekurriert der Erzähler auf die oben beschriebene Episode, die Handlung des V. Buches wird unmittelbar mit der des IX. Buches verknüpft. Bedenkt man dabei, was zwischenzeitlich alles erzählt wurde – Parzivals zweite Einkehr am Artushof, die Verfluchung durch Cundrie, Parzivals Suche nach dem Gral und die ersten Abenteuer Gawans –, so mag dieser unmittelbare raumzeitliche Bezug zunächst überraschen. Warum aber wird gerade jener Ort, an dem Parzival den Reinigungseid geschworen hat, zum „Fixpunkt[] der Orientierung“⁸⁶? Auf den zweiten Blick wird dies deutlich: Während die Gralsburg sich der Wahrnehmung entzieht, der Artushof sich ständig auf Reisen befindet und auch Sigune und Jeschute durch ihre Bewegung in der Erzählwelt gerade keinen festen Ort markieren, stellt Trevrizents Klause den ersten Ort dar, der von jedermann wahrnehmbar und erreichbar, sowie innerhalb der epischen Welt topographisch fixiert ist. Dreimal kommt Parzival an genau diesen Ort an der Fontâne la salvâtsche: zum Reinigungseid für Jeschute, bei seiner ersten Einkehr bei Trevrizent und bei einem letzten Besuch seines Onkels nach der Erlösung des kranken Gralskönigs Anfortas. Die Klause Trevrizents, in deren Innerem sich die Reliquie befindet, wird damit zum (vorläufigen) Zentrum der epischen Welt, um sie herum entspinnt sich das Netz der Schauplätze, die durch die Bewegung der Figuren miteinander verbunden sind.⁸⁷ Zugleich wird die Klause damit zum „innertextlich definierte[n] Merkort“⁸⁸. Dies allerdings nicht nur für den Rezipienten, der die Episode innerhalb der Erzählung einordnen kann.⁸⁹ Auch auf Figurenebene markieren die Reliquie bzw. Parzivals Eid einen wichtigen Orientierungspunkt innerhalb des epischen Raum-Zeit-Gefüges: Parzival erkennt in der Höhle die Reliquienkapsel und berichtet dem Einsiedler, wie viele Tjosten er mit der Lanze geritten ist, die er vor der Höhle an sich genommen hatte.⁹⁰ Auch Trevrizent kann sich an das Fehlen der Lanze erinnern und die seitdem vergangene Zeit mithilfe seines Psalters auf genau viereinhalb Jahre und drei Tage berechnen.⁹¹ Musste Parzival gegenüber Kahenis noch

86 Störmer-Caysa (Anm. 6), S. 51. 87 Als vorläufiges Zentrum der epischen Welt erweist sich Trevrizents Klause insofern, als sie mit Parzivals Rückkehr auf die Gralsburg durch diese, zumindest für bestimmte Figuren, abgelöst wird. Da die Gralsburg jedoch nicht für jeden zugänglich ist, bleibt die Klause zugleich das Zentrum, welches auf Figurenebene für jedermann erreichbar ist. 88 Störmer-Caysa (Anm. 6), S. 50. 89 Störmer-Caysa (Anm. 6) bezeichnet die Klause als „memoriale[n] Ort für den Hörer oder Leser“ (S. 52). 90 Vgl. dazu Bertau (Anm. 1), S. 182. 91 Vgl. 460,22. Vgl. dazu Alfred Büchler, Psalter und Zeitrechnung in Wolframs ,Parzival‘, in: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 50 (1998), S. 95–109.

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seine völlige Orientierungslosigkeit bekennen, so ist er jetzt an einen „Rückkehrort“⁹² gelangt, der ihm eine Wiedereingliederung in Zeit und Raum ermöglicht: Damit erhält die Parzival-Handlung ein festes Zeitgerüst, und zugleich wird klar, daß Zeit im ,Parzival‘ Heilszeit ist; durch das wiedergewonnene Zeitgefühl wird Parzival wieder in das Kirchenjahr und damit in die Gemeinschaft der Gläubigen ein[ge]gliedert.⁹³

Deutlich tritt, so zeigt es auch der mehrfache Bezug auf die Klause, die zyklische Raumstruktur hervor, die die Erzählung seit Parzivals Ausritt aus Munsalvaesche prägt: Zweimal traf er danach seine Cousine Sigune, ein zweites Mal die Herzogin Jeschute. Zum zweiten Mal war er zwischenzeitlich am Artushof und zum zweiten Mal kommt er an jenen Ort, an dem er Orilus den Eid geschworen hat.⁹⁴ Nach vierzehn Tagen in Buße verlässt Parzival die Höhle des Einsiedlers, um sich erneut auf die Suche nach dem Gral zu begeben. Abermals verschwindet der Protagonist aus der Erzählung, und erst im XIV. Buch, mehr als 5300 Verse später, erscheint Parzival wieder auf der Bühne der Erzählung:⁹⁵ Unerkannt treten Gawan und er im Kampf gegeneinander an. Erst als Gawan von Artus’ Boten beim Namen genannt wird, lassen die beiden von ihrem Kampf ab und auch Parzival gibt sich zu erkennen.⁹⁶ Beide kehren zu Artus zurück und Parzival wird wieder in die Tafelrunde aufgenommen, die er nach der Verfluchung durch die Gralsbotin verlassen hatte. Doch Parzival, dessen Ziel nicht die Wiederaufnahme in die Tafelrunde, sondern die Erlösung der Gralsgesellschaft ist, verlässt am nächsten Morgen ein letztes Mal in aller Heimlichkeit den Artushof, um Condwiramurs und den Gral zu finden.⁹⁷ Auf seinem Weg nun trifft Parzival auf einen fremdartigen Ritter, dessen Macht und orientalischer Reichtum alles bisher Bekannte übertreffen. Es passiert das Unvermeidbare: die beiden kämpfen gegeneinander, und letztlich ist es Gott selbst, der in den Kampf eingreift und Parzivals Schwert zerbrechen lässt.⁹⁸ Erst danach sprechen die beiden Kontrahenten miteinander und geben sich dem jeweils anderen zu erkennen. Der Heide offenbart sich als Feirefîz Anschevîn und damit als Parzivals Halbbruder aus dem fernen Orient, der Sohn Belakanes aus ihrer Ehe mit Gahmuret. Damit nun bricht, so kann man im Hinblick auf die raumzeitliche Struktur

92 Störmer-Caysa (Anm. 6), S. 52. 93 Bumke (Anm. 11), S. 90. Vgl. dazu Glaser (Anm. 2), S. 161. 94 Vgl. Störmer-Caysa (Anm. 6), die betont, dass der Ort bereits ein „semantisches Vorzeichen“ (S. 52) trägt, als Parzival zum zweiten Mal dorthin gelangt, da er inzwischen von seinem Versagen auf der Gralsburg weiß. Nur unter diesem Vorzeichen kann Trevrizents Klause zum „geeignete[n] Ort der Umkehr und Selbstsicherheit“ (ebd.) werden. 95 Dies kommentiert auch der Erzähler, wenn er bemerkt, dass an den rehten stam diz mære ist komn (,Die Geschichte ist jetzt wieder an ihren rechten Stamm gekommen.‘, 678,30) und damit die Aufmerksamkeit zurück auf Parzival lenkt. 96 Vgl. 689,22–24. 97 Parzivals primäre Motivation ist die Sehnsucht nach Condwiramurs (vgl. 732,15–733,20), doch überlässt er es dem gelücke (732,28), ob es ihn zu seiner Frau oder zum Gral führt. 98 Vgl. 744,10–18.

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des ,Parzival‘ konstatieren, die Elternvorgeschichte unmittelbar in die Erzählung ein und weitere zyklische Dimensionen treten zutage. Zum einen nämlich wird damit eine zeitliche Dimension eröffnet: Parzivals älterer Halbbruder Feirefiz entstammt der Verbindung Gahmurets mit Belakane und ist somit das Kind einer Beziehung, die zeitlich noch vor der Geburt Parzivals angesiedelt ist. Die Erzählung wird damit bis auf die Elternvorgeschichte Parzivals geöffnet und durch die Begegnung der beiden Brüder gleichermaßen ins Hier und Jetzt der Erzählung geholt, Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen im Moment der Begegnung.⁹⁹ Zugleich aber wird auch die räumliche Dimension des ,Parzival‘ wieder geöffnet: Feirefiz stammt aus Zazamanc, mit ihm zieht der ferne Orient in die arthurische Welt ein.¹⁰⁰ Brach Gahmuret auf der Suche nach âventiure in den fernen Orient auf, so bringt Feirefiz’ Suche nach seinem Vater den Orient zurück in die westliche, bekannte Welt.¹⁰¹ Auch hier also offenbart sich eine zyklische Raum-Zeit-Struktur, die auf Gahmurets Abenteuer im fernen Orient zurückverweist, individuelle Lebenszeit mit genealogischer Überzeitlichkeit überschreibt und so Parzivals Weg in einen makroskopischen, generationenübergreifenden Konnex von Orient und Okzident einbettet. Nach ihrem Kampf kehren die beiden zur Tafelrunde zurück, doch ihr Ziel haben sie damit noch nicht erreicht. Parzival hat weder den Gral gefunden, noch seine Frau Condwiramurs wiedergetroffen, Feirefiz konnte seinem Vater nicht mehr begegnen.¹⁰² Vorläufig jedoch haben beide Brüder den höchsten weltlichen Ruhm erlangt, sie werden in feierlicher Zeremonie in die Tafelrunde aufgenommen, als unerwartet die Gralsbotin Cundrie am Hof erscheint und Parzival eine Botschaft überbringt: ,nu wis kiusche unt dâ bî vrô. wol dich des hôhen teiles, du krône menschen heiles!

99 Dies wird umso deutlicher markiert, als dass Feirefiz sich auf der Suche nach seinem Vater und damit gleichwohl in einer überzeitlichen Zeit befindet: Gahmuret, der schon vor vielen Jahren im Dienst des Baruc gestorben ist, ist für Feirefiz aufgrund seiner Unkenntnis das verbindende Glied zwischen der (seiner) Vergangenheit und der Gegenwart. Erst mit der Nachricht vom Tod des Vaters wird dieses Zeitfenster geschlossen; relevant, d. h. erzählenswert ist nur noch, was in der Gegenwart passiert. 100 Vgl. dazu auch Bumke (Anm. 11), S. 116, sowie Horst Brunner, Von Munsalvæsche wart gesant / der den der swane brahte. Überlegungen zur Gestaltung des Schlusses von Wolframs ,Parzival‘, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, N. F. 41 (1991), S. 369–384, hier S. 376–379. 101 Deutlich wird dies auch am Namen des Feirefiz: Er versteht sich – mit größter Selbstverständlichkeit – als Anschewîn und definiert sich damit genauso als Teil der westlichen Welt, der sein väterliches Erbe entstammt, wie als Teil des Orients, der den mütterlichen Teil seines Erbes darstellt. Vgl. Kugler (Anm. 12), der Feirefiz als „Gravitationszentrum“ (S. 119) bezeichnet, „von dem aus und auf das hin die über den Roman verteilten Hinweise auf Orientalisches sich zu einem filigranen Muster zusammenschließen.“ (ebd.) 102 Auch Feirefiz’ Weg erweist sich letztlich als zyklisch, wird er doch, aus dem fernen Orient kommend, zusammen mit Repanse de Schoye dorthin zurückkehren und dort das Christentum verbreiten lassen. Vgl. 822,28–30.

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daz epitafjum ist gelesen: du solt des grâles hêrre wesen. Condwîr âmûrs daz wîp dîn und dîn sun Loherangrîn sint beidiu mit dir dar benant. dô du rûmdes Brôbarz daz lant, zwên süne si lebendec dô truoc. Kardeiz hât och dort genuoc. wær dir nicht mêr sælden kunt, wan daz dîn wârhafter munt den werden unt den süezen mit rede nu sol grüezen: den künec Anfortas nu nert dîns mundes vrâge, diu im wert siufzebæren jâmer grôz: wâ wart an sælde ie dîn genôz?‘ (781,12–30) „Gelassen sollst du dein Glück genießen. Wohl dir, ein hohes Ding wird dir zuteil, du Krone menschlichen Heils. Das Epitafium ist gelesen: du sollst der Herr des Grâls sein. Condwîr âmûrs, deine Frau, und dein Sohn Loherangrîn sind beide mit dir dahin berufen. Als du das Land Brôbarz verließest, da trug sie in ihrem Leib zwei lebendige Söhne. Kardeiz wird – auch ohne den Grâl – ein großer Herr dort sein. Selbst dann, wenn du sonst gar kein Glück erleben dürftest, als daß dein Mund, der Wahrheit spricht, den Edlen, Lieben nun anredet und die Frage deines Mundes den König Anfortas nun erlöst, großes Unglück, jämmerliches Leiden fortjagt – wo hätte jemals einer gleiches Glück erfahren?“

Parzival wählt auf Cundries Aufforderung hin seinen Halbbruder Feirefiz als Gefährten,¹⁰³ und unter Führung der Gralsbotin machen sich beide auf den Weg nach Munsalvaesche.¹⁰⁴ Nachdem Parzival seinem Onkel die erlösende Frage gestellt hat, verlässt er die Gralsburg ein letztes Mal. Zunächst sucht er Trevrizent auf, kehrt also ein weiteres Mal an jenen Ort zurück, an dem er Orilus den Eid geschworen hatte. Der innertextliche Merkort wird ein letztes Mal aufgerufen. Anschließend reitet Parzival weiter, um Condwiramurs zu treffen. Er findet sie an genau jenem Ort, an dem es zur ersten Begegnung mit Gawan kam,¹⁰⁵ wodurch dieser Ort ebenfalls als Merkort markiert wird. Zuletzt sucht Parzival ein letztes Mal Sigune auf, die allerdings zwischenzeitlich über dem Sarg ihres Geliebten verstorben ist.¹⁰⁶ Parzival erreicht damit den dritten innertextlichen

103 Vgl. 783,27–30, 784,24 f. 104 Dies ist insofern bemerkenswert, als Parzival, obwohl zum Gralskönig erwählt, erst die Frage stellen und seinen Onkel erlösen muss, bevor er zum König auf Munsalvaesche wird. Bis dahin zeigt sich die Gralsburg immer noch als verschlossen gegenüber der Außenwelt, der heterotope Status wird einmal mehr betont, kann Parzival doch nur unter Führung Cundries nach Munsalvaesche gelangen. Vgl. 792,19–793,30. 105 Vgl. dazu Störmer-Caysa (Anm. 6), S. 111, 113–115, sowie Richter (Anm. 3), S. 97 f. 106 Der Tod Sigunes soll, so mutmaßt Bumke (Anm. 11), wahrscheinlich auf den Tag genau „mit

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Merkort.¹⁰⁷ Noch einmal wird dadurch die räumliche und genealogische Nähe Sigunes zur Gralsfamilie deutlich. Um die Gralsburg herum verdichten sich jene Orte, an denen Parzival zuvor bereits gewesen ist, ohne dass er sich damit freilich dem Gral angenähert hätte. Mit der endgültigen Rückkehr nach Munsalvaesche aber endet für Parzival sein Weg, er selbst wird die Gralsburg nicht mehr verlassen. Der Kreis hat sich endgültig geschlossen.¹⁰⁸ Raum und Zeit also, so lässt sich pointieren, kulminieren in der Gralsburg. Einerseits kennt auch die Gralsgesellschaft eine messbare Zeit, die einem kalendarischen Rhythmus unterliegt: Jeden Samstag bringt Cundrie Speisen zu Sigune, Parzivals Abwesenheit kann durch Trevrizent auf den Tag genau ermittelt werden, und der Gral wird nur zu besonderen Gelegenheiten präsentiert.¹⁰⁹ Andererseits aber unterliegt die Gralsgesellschaft einer überzeitlichen Ewigkeit: Seit die Gralsherrschaft auf die Titurel-Familie übergegangen ist, wird der Gral in der Sukzession der Blutslinie vererbt. In der Generationenfolge aber lösen sich individuelle Amtszeiten auf, der Gral obliegt ,schon immer‘ Titurel und seinen Nachkommen. Seit der Gral sich auf der Erde befindet, erscheint an jedem Karfreitag eine Taube vom Himmel auf der Gralsburg und erneuert den göttlichen Bund. Zudem besitzt der Gral eine lebenserhaltende Kraft: Wer immer ihn anblickt, kann in den folgenden sieben Tagen nicht sterben. Irdische Zeitlichkeit wird dadurch verwischt, immanente, messbare Zeit wird überlagert von der transzendenten Ewigkeit.¹¹⁰ Gleiches gilt auch für den Raum: Als konkreter Raum existiert die Gralsburg innerhalb der epischen Welt, wird von Templeisen beschützt, zeichnet sich durch eine spezifische Architektur aus und entspricht in ihrer Ausstattung höfischen Maßstäben. Für Parzival markiert die Gralsburg den Anfang und das Ende seiner Suche nach dem Gral. Nachdem er einmal auf Munsalvaesche war, ist sie das Ziel seines Strebens. Mit der Rückkehr dorthin endet die räumliche Bewegung Parzivals durch die epische Welt.¹¹¹ Neben dieser horizontalen Raumachse steht die Gralsburg aber auch in einer vertikalen Raumachse: In ihr treffen sich Immanenz und

Parzivals Erhebung zum Gralkönig zusammenfallen.“ (S. 120). Auch hier also hat Wolfram peinlich genau auf die Synchronität einzelner Handlungsstränge geachtet. 107 Parzival erinnert sich explizit an diesen Ort und sucht ihn bewusst auf, während er seine Cousine zuvor immer zufällig traf. Vgl. 804,8–12. 108 Vgl. Störmer-Caysa (Anm. 6): „Der Doppelweg ist ein Kreis. Wenn man die zwei Anläufe von Wolframs Parzival zur Erlösung das Anfortas vor dieser Folie lesen will, dann handelt es sich gleichfalls um eine genaue zeitliche Rückversetzung in den Moment unmittelbar vor dem Fehler: Parzival darf die Frage noch einmal stellen“ (S. 175). 109 Vgl. 807,18. 110 Vgl. Lohr (Anm. 6), S. 62 f. 111 Vgl. Mierke (Anm. 67): „Die Burg erscheint zu Beginn des Textes, verschwindet wieder und wird gleichsam zum Ziel des Textes“ (S. 84), sie ist „Ausgangspunkt für die Motivation der Handlung als auch gleichsam Ziel“ (S. 87).

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Transzendenz, Himmel und Erde,¹¹² verbunden durch die Taube, symbolisiert durch die Oblate. Der Gralsburg kommt damit innerhalb der erzählten Welt eine Bedeutung zu, die kein anderer Raum aufweist: In ihr überlagern sich Zeitlichkeit und Ewigkeit¹¹³ mit horizontaler und vertikaler Räumlichkeit. Munsalvaesche wird damit zum Nullpunkt eines Koordinatensystems, zum Mittelpunkt des Netzes, das sich räumlich und zeitlich im ,Parzival‘ aufspannt.¹¹⁴ Während Parzival als tumber Knabe Soltane verließ, um am Artushof rîterschaft zu erlangen, setzt die Erzählung mit der ersten Ankunft Parzivals auf Munsalvaesche neu ein: Nun ist die Gralsburg Ausgangspunkt und zugleich Fluchtpunkt seiner âventiuren,¹¹⁵ die Gralsburg wird für Parzival zum Merkort schlechthin. Die beiden Heterotopien, Soltane und Munsalvaesche, stehen somit in einem engen Verhältnis zueinander, Parzivals Weg erweist sich als die zentrale Achse, entlang derer Raum und Zeit im ,Parzival‘ organisiert sind. Doch auch das weltumspannende Panorama des ,Parzival‘ wird ein letztes Mal skizzenhaft angedeutet: Mit der Reise Loherangrins nach Brabant wird noch einmal der Blick auf die westliche, höfische Welt geöffnet.¹¹⁶ Die Rückkehr Feirefiz’ und Repanses in den Orient öffnet das Panorama gen Osten, bis ins ferne Indien erstreckt sich die Geschichte des Priesterkönigs Johannes.¹¹⁷ Wo also Gahmurets Reise in Zazamanc endete, wird das Panorama der epischen Welt des ,Parzival‘ nun in seiner maximalen Ausdehnung skizziert: vom westlichen Ende Europas in Brabant bis zum Ende der (bekannten) Welt im fernen Indien.

112 Nicht folgen jedoch kann ich Mierke (Anm. 67), wenn sie für die Gralsburg feststellt, dass diese „in ihrer transzendierenden Funktion alle anderen Orte übersteigt.“ (S. 90). Die Artusgesellschaft steht – sozusagen als weltliche Alternative – gleichberechtigt neben der Gralsgesellschaft, eine Hierarchie scheint mir gerade nicht erkennbar. Deutlich wird dies auch an den beiden Befreiungsaufgaben, die Parzival und Gawan zu bestehen haben: In beiden Fällen muss eine Gesellschaft, die aufgrund Verfehlungen einzelner (Anfortas bzw. Clinschor) in Trauer auf einer Burg gefangen ist, befreit werden, doch dies auf je unterschiedliche Weise (fragend vs. kämpfend). Allerdings lässt dies einen Rückschluss auf eine hierarchische Ordnung der Orte meines Erachtens nicht zu. Grundlegend zum Verhältnis von Artuswelt und Gralswelt vgl. Pratelidis (Anm. 67). 113 Insofern erfüllt die Gralsburg auch den sog. vierten Grundsatz Foucaults (Anm. 27), S. 324 f., als es sich gleichsam um eine Heterochronie handelt, die ihrer eigenen Zeitlichkeit folgt: Zeit vergeht, scheint aber gleichermaßen in der überzeitlichen Ewigkeit stillzustehen. Vgl. dazu Richter (Anm. 3), die „auf Munsalvæsche eine eigenartige Inszenierung zyklischer Zeitsemantiken“ (S. 75) beobachtet, die sich „im Ritual der Gralsprozession [als] die Wiederkehr des Immer-Gleichen“ (ebd.) offenbart. 114 Die Gralsburg zeichnet sich also gerade nicht durch „räumliche Instabilität“ (Hammer [Anm. 12], S. 155) aus, sie ist vielmehr überzeitlicher und räumlicher Fixpunkt innerhalb der epischen Welt. Vgl. Störmer-Caysa (Anm. 6), die vorsichtig formuliert, dass die Gralsburg „ab und an aus dem objektiven räumlichen Koordinatensystem der fiktionalen Welt verschwindet.“ (S. 205). 115 Stock (Anm. 25) bezeichnet die Gralsburg daher auch folgerichtig als „eine Art Ursprung“ (S. 195). 116 Vgl. dazu auch Karg (Anm. 12), die betont, dass durch die Loherangrin-Episode, das Gralsreich „doch wieder in die Realgeographie und die gängigen Herrschaftsmuster hereingeholt [ist].“ (S. 32). 117 Vgl. Kugler (Anm. 12), S. 119–121. Zum Schluss des ,Parzival‘ vgl. Brunner (Anm. 100).

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5 Raum und Zeit in der Gawan-Handlung: Parallelisierte Raum-Zeit-Strukturen Da Wolframs ,Parzival‘ nicht nur über den einen Helden verfügt, sondern neben ihm ein zweiter Protagonist weite Teile der Erzählung prägt, ist für die Analyse von Raum und Zeit im ,Parzival‘ gerade auch das Verhältnis der beiden Erzählstränge von Parzival und Gawan von besonderem Interesse und soll im Folgenden Gegenstand der Analyse sein.¹¹⁸ Nachdem Parzival den Reinigungseid auf die Reliquie geschworen hat, nimmt er Abschied von Jeschute und Orilus und reitet davon: Der Held verschwindet erstmals aus dem Blick des Erzählers. Erzählt wird stattdessen, wie der Herzog und seine Frau an den Artushof gelangen und sich der Hof auf die Suche nach dem Roten Ritter macht. Erst danach blendet der Erzähler wieder auf Parzival und berichtet, wie dieser die Nacht im verschneiten Wald in der Nähe der Artusgesellschaft verbracht hat. Am nächsten Morgen kommt es zu einer folgenschweren Begegnung: Parzival betrachtet wie in Trance drei Blutstropfen im Schnee, die ihn an seine Frau Condwiramurs erinnern.¹¹⁹ Gefangen von der minne bemerkt er nicht, dass er seine Lanze in provokanter Pose aufrichtet und so die Ritter der Artusgesellschaft herausfordert. Erst als Gawan die Tropfen abdeckt, erwacht Parzival aus seinem tranceartigen Zustand und Gawan führt ihn zurück in die Artusgesellschaft, wo Parzival in die Tafelrunde aufgenommen wird. Mitten in die höfische Freude hinein aber kommt die Gralsbotin Cundrie an den Artushof, verflucht Parzival wegen seines Verhaltens auf Munsalvaesche und erhebt auch gegenüber der Hofgesellschaft schwere Vorwürfe: [. . . ] ,ist hie kein rîter wert, des ellen prîses hât gegert, unt dar zu hôher minne?

118 Vgl. Bumke (Anm. 11): „Wie sehr die Komposition des Doppelromans den deutschen Dichter beschäftigt hat, ist daran abzulesen, daß er die beiden Handlungsstränge zeitlich und räumlich synchronisiert hat.“ (S. 144) Vgl. dazu auch Manfred Eikelmann, Schanpfanzun. Zur Entstehung einer offenen Erzählwelt im ,Parzival‘ Wolframs von Eschenbach, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 125 (1996), S. 245–263, der von der „kompositorische[n] Integration ihrer Wege“ (S. 245) spricht, Natascha Würzbach, Erzählter Raum. Fiktionaler Baustein, kultureller Sinnträger, Ausdruck der Geschlechterordnung, in: Jörg Helbig (Hg.), Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert, FS Wilhelm Füger, Heidelberg 2001, S. 105–129, die betont, dass in der „Verknüpfung von Raumdarstellung und Handlungsverlauf [. . . ] auch die zeitliche Dimension hinsichtlich Zeitpunkt, Dauer und Simultaneität von Ereignissen deutlichen [wird]“ (S. 122), sowie Draesner (Anm. 19), die die Gawan-Bücher auch auf intratextuelle Verweise auf die Parzival-Bücher hin untersucht, passim sowie bes. S. 376–380. 119 Dies ist auch über eine rein räumliche Perspektive hinaus bemerkenswert. Parzival wird seine Frau Condwiramurs genau an jenem Ort wiedertreffen, an dem er jetzt ihr Antlitz im Schnee erblickt. Der Ort aber wird damit gleichermaßen in umgekehrter Reihenfolge symbolisch besetzt. Nicht das reale Ereignis führt zur symbolischen Raumbesetzung, diese geht vielmehr dem realen Ereignis, der Wiederbegegnung voraus und wird damit erst ex post ,real‘ eingelöst.

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ich weiz vier küneginne unt vier hundert juncfrouwen, die man gerne möhte schouwen. ze Schastel marveil die sint: al âventiure ist ein wint, wan die man dâ bezalen mac, hôher minne wert bejac. al hab ich der reise pîn, ich wil doch hînte drûffe sîn.‘ (318,13–24) „Gibt es denn hier keinen Ritter, der etwas taugt und dessen Kraft nach Ehre gierig ist und nach der Liebe hoher Damen? Ich weiß vier Königinnen und vierhundert Edelfräulein, die man wohl mit Vergnügen anschauen kann. Die sind in Schastel marveil. Alle anderen Abenteuer sind Luft, verglichen mit dem, das man dort bestehen kann: Reiche Beute an hoher Liebe ist da zu holen. Auf diese Burg will ich heute abend noch kommen, mag mich die Reise noch so viel Mühe kosten.“

Nicht nur Parzival also hat bei seiner Aufgabe auf der Gralsburg versagt, der ganzen höfischen Gesellschaft ist im Hinblick auf das Abenteuer von Schastel marveil Versagen vorzuwerfen:¹²⁰ Damit ist beiden Helden der Weg gewiesen. Ihre Aufgabe geht jedoch weit über das persönliche Ziel, sich von dem Makel der gegen sie erhobenen Vorwürfe zu befreien, hinaus: Parzival ist es aufgegeben, den Gralskönig und die Gralgesellschaft zu erlösen; für Gawan stellt sich eine Erlösungsaufgabe in Schastel marveil.¹²¹

Weder Parzival noch Gawan jedoch können unmittelbar auf Cundries Vorwürfe reagieren, denn weitere schlechte Nachrichten gelangen an den Hof: Der Ritter Kingrimursel aus Schanpfanzun überbringt eine Aufforderung zum Gerichtskampf an Gawan, der beschuldigt wird, den König von Ascalun erschlagen zu haben. Mit dem Verlassen des Hofes aber verlaufen die beiden Handlungsstränge parallel. Parzival macht sich auf die Suche nach dem Gral, wie viel Zeit ihn dies auch kosten möge,¹²² Gawan will zunächst den Gerichtskampf bestehen, um dann die Gefangenen auf Schastel marveil zu befreien.¹²³ Auf dem Weg nach Schanpfanzun jedoch wird Gawan in eine lehnsrecht-

120 Cundries Vorwurf gegenüber der Artusgesellschaft ist jedoch insofern nicht ganz korrekt, als in der Vergangenheit sehr wohl versucht wurde, das Abenteuer von Schastel marveil zu bestehen und die gefangenen Damen zu befreien. Artus selbst nämlich fehlt beim Turnier von Kanvoleiz, weil er sich auf der Suche nach seinen weiblichen Verwandten befindet (vgl. 66,1–8). 121 Bumke (Anm. 11), S. 77. 122 Vgl. 329,25–30. 123 Erst hier wird der Artushof in jene Position gerückt, in der wie ihn aus Hartmanns ,Erec‘ und ,Iwein‘ kennen: „Der Artushof ist im Zustand der Harmonie und Festesfreude [. . . ] ist Ausgangs- und Zielort der âventiure. Die Romanhandlung beginnt mit einer Störung der Ordnung der höfischen Welt.“ (Hilkert Weddige, Einführung in die germanistische Mediävistik, München 6 2006, S. 195) Motiviert von der Störung, zieht der Protagonist los, um die êre des Hofes zu restituieren. Erfüllt wird dieses Schema

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liche Auseinandersetzung verwickelt und kämpft auf Seiten des Fürsten Lippaut gegen dessen Lehnsherren König Meljanz, wobei Gawan die Schlacht zugunsten Lippauts entscheiden kann. Zu den Gegnern Gawans gehört auch der Rote Ritter, der allein Gawan im Hinblick auf die Kampfkunst gleicht. Ohne sich zu erkennen, gehören Parzival und Gawan also gegnerischen Truppen an, wobei ein direktes Aufeinandertreffen ausbleibt.¹²⁴ Die „narrative Spiegeltechnik“¹²⁵ aber, die Wolfram hier verwendet, führt dazu, dass Raum und Zeit der beiden Handlungsstränge synchronisiert¹²⁶ und parallelisiert werden und Parzivals Suche nach dem Gral trotz seiner Abwesenheit im Gedächtnis des Rezipienten präsent bleibt. Aber nicht nur bei der Schilderung der Schlacht um Bearosche setzt Wolfram die narrative Spiegeltechnik ein, auch die Darstellung der Ereignisse in Schanpfanzun ist nach diesem Erzählprinzip organisiert. Aufgrund von Gawans Verhalten gegenüber der Schwester des Königs wird der Gerichtskampf um ein Jahr verschoben und Gawan stattdessen mit der Aufgabe betraut, im Auftrag König Vergulahts nach dem Gral zu suchen. Er selbst hatte diesen Auftrag erst kürzlich von einem Ritter annehmen müssen, dem er im Kampf unterlegen war. Bei dem Ritter handelt es sich freilich um niemand anderen als Parzival. Auch hier also scheint im Hintergrund Parzivals Suche nach dem Gral durch, Gawan- und Parzival-Handlung werden unmittelbar miteinander verknüpft: Gawan wird verpflichtet, Parzivals Aufgabe auszuführen. Der Kampf Vergulahts gegen Parzival offenbart damit die sich kreuzenden Wege der beiden Helden und die vom Erzähler präzise choreographierten Raum-Zeit-Strukturen treten deutlich hervor. Unterbrochen von der Einkehr Parzivals bei Trevrizent,¹²⁷ knüpft der Erzähler mit Beginn des X. Buches unmittelbar an die vorhergegangene Erzählung von Gawan an, auch wenn seitdem ein ganzes Jahr vergangen ist: nu wasez ouch über des jâres zît. gescheiden was des kampfes strît, den der lantgrâve zem Plimizœl erwarp. der was ze Barbigœl von Tschanfanzûn gesprochen: da beleip ungerochen

letztlich auch im ,Parzival‘, Gawan befreit Schastel marveil, Parzival erlöst die Gralsgesellschaft. Doch steht die Störung der höfischen Ordnung eben nicht am Anfang, sondern erst nach etwa 9300 Versen, der ,Parzival‘ sprengt das einfache Schema von Auszug und Wiederkehr des Helden. Dass allerdings auch im ,Erec‘ und ,Iwein‘ Hartmanns der Artushof nur Durchgangsstation ist, es sich also „eher an einen Dreischritt als an zwei Räume [den Artushof und das Außerhalb, D. S.] denken ließe“, betont zu Recht Störmer-Caysa (Anm. 6), S. 40f. 124 Bumke (Anm. 11), S. 82, betont in diesem Zusammenhang Parzivals „Blindheit für die spezifischen Probleme, um die es in den Gawan-Büchern geht.“ 125 Richter (Anm. 3), S. 127. 126 Zur präzisen Zeitregie in den Gawan-Büchern vgl. Störmer-Caysa (Anm. 6), S. 90–92, sowie Richter (Anm. 3), S. 134. 127 Vgl. 433,1–502,30.

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der künec Kingrisîn. Vergulaht der sun sîn kom gein Gâwâne dar: dôn nam diu werlt ir sippe war, und schiet den kampf ir sippe maht; wand ouch der grâve Ehcunaht ûf im die grôzen schulde truoc, der man Gâwân zêch genuoc. des verkôs Kingrimursel ûf Gâwân den degen snel. (503,5–20) Jetzt war auch jene Frist von einem Jahr vorüber, ausgestanden war die Sache, um derentwillen der Landgraf am Plimizoel zum Gerichtskampf geladen hatte. Der sollte, so hatte man entschieden, nicht in Tschanfanzûn, sondern in Barbigoel stattfinden. Auch dort blieb der König Kingrisîn ohne Rache: Vergulaht, sein Sohn, kam dahin gegen Gâwân. Da erkannten alle Leute, daß die zwei verwandt waren, und die Macht der Verwandtschaft trennte die Kämpfer. Es zeigte sich nämlich auch, daß der Graf Ehcunaht jene große Schuld auf sich geladen hatte, die man Gâwân büßen lassen wollte. So versöhnte sich denn Kingrimursel mit Gâwân, dem gewaltigen Ritter.

Der Gerichtskampf ist damit aufgehoben, Vergulaht und Gawan ziehen beide ihres Weges, durch vorschen nâch dem grâle (,um sich auf die Suche nach dem Gral zu machen‘, 503,24). Es folgt daraufhin jedoch nicht ein zeitlich kontinuierliches Weitererzählen, vielmehr wird durch die Formulierung eins morgens (504,7) eine Unterbrechung im Ablauf der erzählten Zeit markiert, die die Erzählung von Gawan gleichsam zeitentrückt neu beginnen lässt. Erst später wird deutlich werden, dass seit Gawans Aufbruch vom Artushof mehr als viereinhalb Jahre vergangen sind.¹²⁸ Mit der Formulierung eins morgens jedoch beginnt der zweite Erzählkomplex der Gawanhandlung, der von seinen Minneabenteuern mit der Herzogin Orgeluse und der Befreiung Schastel marveils erzählt. Und auch dort wird im Hintergrund immer wieder Parzivals Suche nach dem Gral thematisiert: Nachdem Gawan sich in Orgeluses Dienst begeben hat, gelangen beide zu einer Burg, die sich als das zu erlösende Zauberschloss entpuppt. Nach einem siegreichen Zweikampf gegen Lischoys Gweljus, der ebenfalls um Orgeluse buhlt, verbringt Gawan zunächst die Nacht in der Obhut des ritterlichen Fährmanns Plippalinot. Am nächsten Morgen will Gawan sich sofort aufmachen, das Abenteuer der Burg zu bestehen. Als Plippalinot ihm von den Abenteuern um Schastel marveil berichtet, erzählt er auch, dass er gestern einen anderen Ritter übergesetzt habe: [,]der Ithêrn vor Nantes sluoc, mîn schif in gestern über truoc. er hât mir fünf ors gegebn

128 Wolfram verändert damit die Raum-Zeit-Struktur gegenüber seiner Vorlage signifikant: Während bei Chrétien Gawan schon am dritten Tag nach seiner Abreise vom Artushof auf Orgeluse trifft, wird die Begegnung Parzivals mit Trevrizent hier vorverlegt. Parzival- und Gawan-Handlung werden damit stärker miteinander verknüpft und parallelisiert. Vgl. dazu Nellmann (Anm. 10), S. 703 f.

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(got in mit sælde lâze lebn), diu herzogen und künige riten. swaz er hât ab in erstriten, daz wirt ze Pelrapeire gesagt: ir sicherheit hât er bejagt. sîn schilt treit maneger tjoste mâl. er reit hie vorschen umben grâl.‘ (559,9–18) „Den Ritter, der den Ithêr vor Nantes erschlug, hat mein Schiff gestern hinübergetragen. Fünf Pferde hat er mir geschenkt – Gott lasse ihn glücklich leben –, die vorher Herzögen gehört hatten und Königen. Was er von ihnen im Kampf erlangt hat, das wird in Pelrapeire hergesagt: ihr Sicherheitsgelöbnis, das hat er ihnen abgejagt. Sein Schild trägt die Zeichen vieler Tjosten. Er ist hierhergeritten, um den Grâl zu suchen.“

Hatte der Kampf Vergulahts mit Parzival eine Woche vor Gawans Begegnung mit dem König von Ascalun stattgefunden,¹²⁹ so war Parzival nun nur einen Tag vor Gawan bei Schastel marveil gewesen, die räumliche Ferne der beiden wird durch zeitliche Nähe relativiert. Die Nähe der beiden jedoch wird an einem anderen Punkt noch deutlicher sichtbar. Nachdem Gawan nicht nur die Gesellschaft auf Schastel marveil erlöst,¹³⁰ sondern auch die ihm von Orgeluse gestellten Aufgaben erfolgreich gemeistert hat, bittet diese ihn um Vergebung. Darüber hinaus erzählt sie ihm von ihrer Begegnung mit dem Roten Ritter, dem sie bereit war, ihr lant und ihren lîp zu schenken. Der Rote Ritter also, seit der Tötung Ithers niemand anderes als Parzival selbst, war nicht nur bis nach Schastel marveil vorgedrungen, sondern auch Orgeluse begegnet. Das Abenteuer der Zauberburg aber hat Parzival ebensowenig begehrt wie die minne Orgeluses, beides bleibt exklusiv Gawan vorbehalten. Parzivals Streben gilt dem Gral, seine minne seiner Frau Condwiramurs. Der Bericht Orgeluses von ihrer Begegung mit dem Roten Ritter aber holt nach, was bisher nicht erzählt wurde: Parzival befindet sich noch immer auf der Suche nach dem Gral. Durch diese Erzähltechnik aber wird Parzival auch in Absenz präsent gehalten, in den mehr als 8000 Versen, die nahezu ausschließlich von Gawan erzählen, verschwindet er nie völlig; vor Bearosche, in Schanpfanzun und auch bei Orgeluse

129 Vgl. 424,19. 130 Zu den Gemeinsamkeiten der Erlösunsaufgaben von Schastel marveil und Munsalvaesche vgl. Karg (Anm. 12), S. 35. Störmer-Caysa (Anm. 6) arbeitet die Überzeitlichkeit Schastel marveils heraus: „Diese Anderwelt [Terre marveile, D. S.] widersteht der progressiven Zeitrechnung der fiktionalen Außenwelt. In Schastel marveil werden bei Wolfram – wie bei Chrétien – die Mütter der Artus-GaweinSippe festgehalten, anscheinend so, daß sie ihr Eintrittsalter bewahren, daß ihnen Zeit und Alter nichts mehr anhaben können.“ (S. 203 f.) Auch hierin gleichen sich Schastel marveil und Munsalvaesche, verleiht doch auch der Gral immerwährendes jugendliches Aussehen und konserviert so das Äußere desjenigen, der seiner ansichtig wird (vgl. 469,14–27). Richter (Anm. 3), S. 80, betont die Bindung beider Burgen an die Sphäre des Transzendenten: Munsalvaesche über den Gral an Gott, Schastel marveil über Clinschor an den Teufel. Vgl. ausführlich zu weiteren Gemeinsamkeiten ebd., S. 80–88. Unterschiede der beiden Burgen hebt Glaser (Anm. 2), S. 105, hervor.

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taucht Parzival auf seiner Suche nach dem Gral immer wieder auf. Die parallelisierten Raum-Zeit-Strukturen betonen damit den Charakter des ,Parzival‘ als Doppelepos: Gawan wird gerade nicht zum Helden einer eigenen Geschichte, sondern agiert vielmehr immer vor der Folie Parzivals. Sein Handeln wird durch die ständige Präsenz Parzivals ins Verhältnis zu dessen Handeln gesetzt, zielgerichtetes Problemlösen wird mit zielloser Suche kontrastiert.¹³¹ Raum und Zeit aber, so ließe sich pointieren, stellen damit nicht nur den Rahmen einer Erzählung, sind nicht nur dessen äußeres Gerüst, sondern vielmehr streng funktionalisiert. Denn Raum, Zeit, Figuren und Handlung stehen in einem intrikaten Verhältnis zueinander. Handlung findet nicht jenseits von Raum und Zeit statt, Figuren bewegen sich im Raum, der seinerseits wiederum das Handeln von Figuren determinieren kann. Die strenge Raum-Zeit-Choreographie Wolframs, die sich in der Gawan-Erzählung offenbart, steht damit auch exemplarisch für die Bedeutung von Raum und Zeit in Erzähltexten überhaupt. Gerade das enge Verhältnis des Raums zu den Figuren zeigt sich zuletzt auch im Verschwinden Gawans aus der Erzählung. Nachdem es im XIII. Buch zum Aufeinandertreffen Gawans und Parzivals kommt, kehrt das maere wieder an den rehten stam (678,30) zurück. Die parallele Raum-Zeit-Struktur wird aufgehoben, beide Handlungsstränge werden in einen Erzählstrang zusammengeführt, der eingegliedert wird in den zyklischen Weg Parzivals. Mit dem Verschwinden Gawans aus der Erzählung aber verschwinden auch Schastel marveil, Schanpfanzun und alle anderen arthurisch-höfischen Räume aus der Erzählung.¹³² Parzivals Reise zur Gralsburg rückt den Fokus weg von der arthurischen hin auf die Sphäre des Grals. Die Gralsburg wird zum neuen Zentrum der erzählten Welt, von ihr aus wird Loherangrin nach Brabant gesandt, von Munsalvaesche aus reisen Feirefiz und Repanse de Schoye zurück in den Orient. Pluralisitsche Raum- und Zeitstrukturen gipfeln damit am Ende der Erzählung von Parzival und Gawan in der monozentristischen Struktur der Gralswelt, die ausgerichtet ist auf die Gralsburg, jene Heterotopie, die nicht nur am Ende der Erzählung von Parzival, sondern am Ende des Romans als der Ort, an den auch Loherangrin zurückkehrt, zum zentralen Fluchtpunkt des ,Parzival‘ wird.

6 Exkurs: Zur Funktion des Artushofs Einerseits ist der Artushof das Epizentrum höfischen Lebens:¹³³ Dort versammeln sich die besten Ritter an der egalitären Tafelrunde, dorthin strebt Parzival, um rîterschaft zu erlangen. Von dort aus ziehen Gawan und Parzival los, um die Störung der höfischen

131 Freilich hat auch Parzivals Suche ein Ziel: den Gral. Doch im Gegensatz zu Gawan kennt Parzival keinen Weg, sein Ziel zu erreichen. 132 Die letzte Erwähnung Gawans findet sich in 785,5, kurz bevor Parzival und Feirefiz den Artushof in Richtung Gralsburg verlassen. 133 Vgl. Pratelidis (Anm. 67), S. 105–120.

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Ordnung wiedergutzumachen. Artus wird damit als „personale[r] Fixpunkt“¹³⁴ der höfischen Welt inszeniert. Zugleich jedoch verfügt der Artushof über keinen festen Sitz. Artus lebt vielmehr als „Wanderkönig“¹³⁵, der immer dort anzutreffen ist, wo es strukturell bzw. handlungslogisch notwendig ist.¹³⁶ Eine räumliche fixierte Ortung ist allerdings auch insofern nicht notwendig, als die Erzählung – anders als bei Hartmann von Aue – gerade nicht exklusiv auf den Artushof hin ausgerichtet ist. Gawans Abenteuer zwar steht in engem Bezug zur Artusgesellschaft, doch hängt Parzivals Erlösungsaufgabe gerade nicht an dieser, sie ist auf die Gralsburg resp. die Gralsgesellschaft hin ausgerichtet. Der Artushof stellt also insofern einen Fixpunkt innerhalb der epischen Welt dar, als er als Zentrum höfischen Lebens sowohl für Gawan als auch für Parzivals ersten âventiure-Zyklus als Fluchtpunkt dient, zugleich wird aber durch seine ständige Wanderbewegung eine jede räumliche Orientierung geradehin veruneindeutigt. Im Zentrum stehen nicht die Aufenthaltsorte des Königs, sondern vielmehr dieser selbst und die Tafelrunde.

7 Fazit Dass Zeit und Raum wichtige Kompositionselemente sind, die dazu beitragen, den Sinn des Erzählten zu erschließen,¹³⁷ gehört spätestens seit dem spatial turn auch zum sensus communis der Narratolgie. Der vorliegende Beitrag versteht sich in diesem Kontext als ein Versuch, anhand eines konkreten literarischen Textes Sinnzusammenhänge durch eine detaillierte Analyse der Raum-Zeit-Strukturen zu erhellen. Im Zentrum stehen dabei vier verschiedene Raum-Zeit-Konzepte: eine weltumspannende, makroskopische Struktur, die in der Elternvorgeschichte eröffnet und mit Feirefiz’ Rückkehr in den Orient abgeschlossen wird; eine lineare, die Parzivals Weg von Soltane nach Munsalvaesche prägt; eine zyklische, die die Erzählung von Parzivals Verlassen der Gralsburg bis zu seiner Rückkehr dorthin strukturiert, und eine parallelisierte Raum-Zeit-Struktur, die den Gawan-Büchern zugrunde liegt. Alle vier Konzepte geben dem Erzählten seinen

134 Störmer-Caysa (Anm. 6), S. 50. 135 Ebd., S. 51. 136 Bei seiner ersten Begegnung mit dem Hof trifft Parzival diesen in Nantes an, später befindet sich Artus u. a. in Brizljan (vgl. 206,8), wo Kingrun auf die Artusgesellschaft trifft, in Dianazdrun im Land Löver, wohin Clamide gelangt (vgl. 216,3–8), sowie am Plimizoel (vgl. 281,24), wo Parzival in die Tafelrunde aufgenommen wird. Zuletzt reist der gesamte Hof auf Einladung Gawans hin nach Terre marveile, wo es vor Joflanze zur großen Versöhnungsszene kommt. Dorthin dann kommt auch Cundrie, um Parzival von seiner Erwählung zum Gral zu berichten, und von dort brechen Parzival und Feirefiz nach Munsalvaesche auf. Vgl. dazu auch Hammer (Anm. 12), S. 162. 137 Vgl. Bumke (Anm. 11), S. 200.

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je eigenen Sinn. Der Sinn des ,Parzival‘ lässt sich – wenn überhaupt – erst in der Zusammenschau aller vier Konzepte und ihrer Wechselwirkungen erschließen. Die Elternvorgeschichte eröffnet zunächst ein Panorama vielfältiger Schauplätze vom Westen Europas bis in den tiefen Orient hinein. Die ersten beiden Bücher stecken damit ebenso den Erzählhorizont ab, wie sie sich als paradigmatisch für die Raumdarstellung bei Wolfram lesen lassen. Durch die Reise Feirefiz’ in die westliche Welt und seine anschließende Rückkehr in den fernen Orient wird zudem die generationenübergreifende Verbindung Gahmurets mit seinen beiden Söhnen markiert, individuelle Lebenszeiten lösen sich auf. Am Anfang und am Ende des ,Parzival‘ stehend, umschließt der Orient gleichermaßen die Erzählung und lässt sich – so kann man vielleicht auch mit Ausblick auf Wolframs ,Willehalm‘ sagen – als räumliche Manifestation der allumfassenden Weltverwandtschaft von Heiden und Christen lesen, deren Paradoxien und Aporien Wolfram in zahlreichen Variationen ebenso präsentiert wie problematisiert. Mit dem Rückzug Herzeloydes in die Wildnis dagegen verdichtet sich die Raumstruktur zunächst auf Soltane, die Einöde wird zum Nullpunkt in Parzivals Leben. In dieser Heterotopie ,erzieht‘ die Königin ihren Sohn, doch verhindert die Negation aller ritterlichen Verhaltensweisen ein angemessenes Heranwachsen des Knaben. Parzivals Weg aber nimmt seinen Ausgangspunkt von jenem sekundären Herkunftsraum. Von dort aus zieht es ihn an den Artushof, von hier aus beginnt der Protagonist, jene Fäden zu spinnen, die sich letztlich zum Weltgewebe des ,Parzival‘ zusammenfügen. Auf seinem Weg begegnet er Jeschute und Sigune, er wird bei Artus zum Ritter, lernt bei Gurnemanz ritterliches Verhalten, findet in Condwiramurs seine Gefährtin und erreicht letztlich die Gralsburg. Dieser lineare Weg Parzivals ließe sich als ein Aufstieg lesen, der ihn von der tumpheit zum Gralskönigtum führt.¹³⁸ Flankiert würde diese Entwicklung von den beiden Heterotopien, die am Anfang und am Ende seines Weges stehen: Soltane und Munsalvaesche. Von der einen (Soltane) arbeitet er sich auf direktem Wege bis zur anderen (Munsalvaesche) hinauf. Eine Entwicklung aber lässt sich gerade nicht feststellen. Parzival setzt die Lehren Gurnemanz’ ebenso wörtlich um wie die seiner Mutter und verpasst deswegen, den Gralskönig von seinem Leiden zu erlösen. So wirkt die eine Heterotopie (Soltane) unmittelbar in die andere (Munsalvaesche) hinein. Selbst Parzivals fünfzehntägiger Aufenthalt im ritterlich-höfischen Gegenraum Graharz kann daran nichts ändern, der tumbe Knabe verhält sich auch auf der Gralsburg tump. Mit dem Verlassen der Gralsburg aber wird eine Rückkehr nach Soltane unmöglich, ein ,Zurück auf Los‘ ist ausgeschlossen. Vielmehr wird die Gralsburg selbst zum neuen Nullpunkt, von dem aus Parzival sich auf den Weg macht. Die eine Heterotopie (Mun-

138 Eine derartige Lesart deuten diejenigen Publikationen an, die den ,Parzival‘ als einen mittelalterlichen Entwicklungsroman verstanden wissen wollen. Vgl. z. B. Ruth Sassenhausen, Wolframs von Eschenbach ,Parzival‘ als Entwicklungsroman. Gattungstheoretischer Ansatz und literarpsychologische Deutung (Ordo 10), Köln, Weimar, Wien 2007.

Raum und Zeit im ,Parzival‘ Wolframs von Eschenbach |

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salvaesche) substituiert damit die andere (Soltane), die Gralsburg wird für Parzival gleichermaßen zu einem tertiären Raum der Herkunft. Verlief der Weg von Soltane aus linear auf Munsalvaesche hin, so offenbart die zyklische Raum-Zeit-Struktur nun Parzivals Kreisen um den Gral. Mehrfach kehrt er in dessen Nähe zurück, nie jedoch gelingt es ihm, die Gralsburg zu erreichen. Parzival selbst kann diesen immerwährenden Zyklus nicht durchbrechen. Immer wieder muss er sich auf den Weg machen, immer wieder kehrt er an bereits bekannte Orte zurück, ohne seinem Ziel auch nur einen Schritt näher gekommen zu sein. Nur der Gral selbst vermag diesen Kreislauf zu durchbrechen. Parzival erhält eine zweite Chance, den Onkel fragend zu erlösen, und mit Hilfe der Gralsbotin Cundrie erreicht er das Ziel, dem er mehr als viereinhalb Jahre hinterhergejagt hat. Einmal mehr zeigt sich darin die Allmacht Gottes, offenbart doch der Gral dessen Willen. Parzival also wird nicht nur als instrumentum Dei zum Erlöser, sondern gleichermaßen selbst zum Erlösten seiner andauernden Suche. Parallel zu Parzivals Suche nach dem Gral verläuft Gawans Suche nach seiner Erlösungsaufgabe. Während Parzival um seine Aufgabe kreist, stellen die Schlacht um Bearosche und der Gerichtskampf in Schanpfanzun aber lediglich Verzögerungen auf Gawans Weg dar. Sein Ziel hat er stets fest im Blick. Die wohlchoreographierte Raum-Zeit-Regie, die Wolfram seiner Erzählung zugrunde legt, markiert diese Unterschiede umso deutlicher: Während Parzival umherirrt, verläuft Gawans Weg linear. Immer wieder allerdings kreuzen sich ihre Wege,¹³⁹ die „Raumzeit der fiktionalen Welt [schmiegt sich]“¹⁴⁰ eben nicht nur an den einen, sondern an beide Helden an. Mit dem Aufeinandertreffen der beiden Protagonisten und dem damit verbundenen Wiedereintritt Parzivals in die Erzählung aber wird die Parallelität aufgehoben und geht auf in der zyklischen Bewegung Parzivals. Er (und nur er) ist der rehte stam, dessen âventiure schon im Prolog angekündigt wurde.¹⁴¹ Zeigte ein Blick auf makro- und mikroskopische Raumstrukturen des ,Parzival‘, wie vielfältig Wolfram mit dem Raum als Erzählmittel arbeitet, so offenbart sich seine präzise Kompositionstechnik auch im Umgang mit der erzählten Zeit. Angefangen bei Angaben wie eins morgens bis hin zur exakt berechneten Abwesenheit Parzivals von viereinhalb Jahren und drei Tagen finden sich zahlreiche Zeitangaben, die sich zu einer erzählten Zeit von etwa sechseinhalb Jahren summieren.¹⁴² Gleichzeitig jedoch wird dies überlagert von zyklisch wiederkehrenden

139 Ob durch Parzivals immerwährende Sichtbarkeit im Hintergrund allerdings, wie Bumke (Anm. 11) formuliert, „die Einzigartigkeit von Gawans ritterlichen Leistungen [. . . ] relativiert wird“ (S. 145), muss meines Erachtens jedoch bezweifelt werden. Vielmehr offenbart sich doch erst vor der Folie Parzivals, dass Gawan sich eben nicht in Raum und Zeit verloren hat, sondern seine Ziele planvoll verfolgt und Aufgaben fristgerecht erfüllt. Gawan erweist sich damit einmal mehr als der besonnenere Ritter, der höfische Konventionen kennt und korrektes ritterliches Verhalten an den Tag legt. 140 Störmer-Caysa (Anm. 6), S. 238. 141 Vgl. 4,9–26. 142 Vgl. Lohr (Anm. 6), S. 47.

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Ereignissen wie dem Pfingstfest bei Artus oder der jährlich wiederkehrenden Taube am Karfreitag. Lineare Zeit geht so gleichermaßen in zyklischer Heilszeit auf, individuelle Lebenszeit und kosmische Universalzeit verschwimmen miteinander,¹⁴³ Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden eins.¹⁴⁴ Im Hier und Jetzt der Erzählung aber haben Raum und Zeit sehr viel weitreichendere Funktionen, als nur die Handlung zu gliedern. Im Wechselspiel von mikro- und makroskopischen Raum-Zeit-Strukturen offenbart sich vielmehr ein ,Sinn der Erzählung‘ darin, den ,Parzival‘ als einen Text zu verstehen, der entlang des Syntagmas von Soltane nach Munsalvaesche demonstriert,¹⁴⁵ wie basale Erzählkategorien paradigmatisch Sinn stiften können.

143 Vgl. dazu Störmer-Caysa (Anm. 6), S. 238, sowie Lohr (Anm. 6), S 64. 144 Vgl. dazu vor allem den Schluss des ,Parzival‘, der den Blick auf die folgenden Generationen und damit gleichermaßen in die Zukunft hinein öffnet. 145 Vgl. dazu auch Putzo (Anm. 41), die hervorhebt, dass das räumliche Geflecht des Parzival „bei einer linearen Rezeption des Textes mit dem Ablauf der Handlung erst sukzessive und gewissermaßen stillschweigend [entsteht].“ (S. 299).

Sonja Zeman

Dimensions of Tense and Temporality in Middle High German Narratives Zusammenfassung: Ausgehend von einer generellen Diskussion der zeitlichen Eigenschaften des Erzählens unterscheidet dieser Beitrag zwischen verschiedenen Zeitlichkeits-Dimensionen, die als Grundlage einer deskriptiven Taxonomie dienen können, und zwar sowohl in übereinzelsprachlicher wie in diachroner Perspektive. Dazu werden drei Fallstudien des Tempusgebrauchs in mittelhochdeutschen Texten vorgestellt. Diese machen deutlich, wie linguistische Differenzierungen der Tempora im Kontext der spezifischen mittelhochdeutschen Konstellationen narrative Zeitdimensionen erhellen können. Die Unterscheidung, die der Beitrag vornimmt, erweitert bisherige narratologische Theorien der ,Zeit‘ und bietet einen systematischen Zugang zu temporalen Strukturen des Erzählens. Schlagwörter: Erzähler, Fokalisierung, histoire/discours, Historisches Präsens, Oralität, Perfekt, Präsens, Präteritum, Simultanität, Tempus, Vergegenwärtigung, Zeit I take temporality to be that structure of existence that reaches language in narrativity, and narrativity to be the language structure that has temporality as its ultimate reference. Their relationship is therefore reciprocal.¹

1 Temporality and Narration Since the beginning of narratological studies, narration and temporality have been seen as categories that are intricately linked together. For some narratologists, temporality is even regarded as the foundational source of narration in general,² so that it would suffice to say that a text is a narrative if it contains temporal connections.³ This intricate link is also reflected within minimal definitions of narration as the representation of a (temporal) sequence of events.⁴ Diachronic narrativity should thus say something about time and temporality in the narratives of older stages of language. On the other hand, 1 Paul Ricoeur, Narrative time, in: Critical Inquiry 7.1 (1980), pp. 169–190, here p. 165. 2 E. g. Ricoeur (note 1). 3 Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, Berlin, New York 2008. 4 Gérard Genette, Frontiers of Narrative, in: Gérard Genette, Figures of Literary Discourse, trans. Alan Sheridan. New York 1982, pp. 127–144, here p. 127; Gerald Prince, A Grammar of Stories: An Dr. Sonja Zeman, Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für deutsche Philologie, 80799 München, e-mail: [email protected]/Prof. Dr. Sonja Zeman, Universität Bamberg, Professur für Germanistische Sprachwissenschaft, 96047 Bamberg, e-mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110566536-011

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the close link pointed out by Paul Ricoeur and others is seen as a universal aspect of narrativity.⁵ One might hence ask what medieval narratology has to say about narrative time and temporality in particular. In other words: which aspects of temporality are specific to the linguistic-literary conventions of older texts and cultural-historical contexts, and hence potential subject for change? In order to approach this question, the chapter aims at a differentiation between different dimensions of temporality that will provide a tertium comparationis of temporal structures in narrative texts across time. With this aim in mind, the chapter starts with a discussion of two common hypotheses concerning the interplay between temporality and narration that are often taken for granted in definitions of narrativity, namely the pastness of the story and the temporal sequence of events. Section 2 will show that both presuppositions have to be modified by taking into account the multiplicity of temporal dimensions of narration. In particular, it is claimed that narration is based on the interaction between two temporal relations: an absolute earlier-later relation and a viewpoint-dependent ,past-present-future‘ relation. This differentiation supplements previous narratological models and allows for a systematic way to analyze temporal structures in narratives beyond time as a thematic content – as illustrated in Section 3 by an examination of tense usage in Middle High German epic poems. Section 4 argues that such a view on tense and narration is the prerequisite for addressing questions of the teller frame and effects of immediacy and their different conceptualizations through the centuries. With respect to the question above, it will thus be argued that the dissection of the different dimensions of temporality (i) supplements previous narratological accounts of narrativity and focalization and their relationship to ,time‘ and (ii) is the prerequisite for the investigation of temporal constellations in diachronic comparison. In this way, the article also illustrates how a linguistic perspective can contribute to narratology in general and diachronic narratology in particular. As the micro-linguistic analyses in the following will show, the perspectival effects of grammatical means are comparable to the focalization patterns on the macro-level. The linguistic view can thus contribute to the debate both by explaining how surface phenomena like focalization are induced by grammatical means and by specifying the characteristic perspectival structure of narratives. Micro- and macrostructure of narratives should thus not be seen as isolated but as levels that are intricately dependent on each other. A diachronic narratology would thus be incomplete if we neglect either the linguistic or the literary perspective.

Introduction, The Hague 1973; Brian Richardson, Recent Concepts of Narrative and the Narratives of Narrative Theory, in: Style 34.2 (2000), pp. 168–175, here p. 170; H. Porter Abbott, The Cambridge Introduction to Narrative, Cambridge 2 2008. 5 Cf. Mark Currie, About Time. Narrative, Fiction and the Philosophy of Time, Edinburgh 2007, here p. 2.

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2 The Multiple Temporalities of Narration It is a rather uncontroversial claim that narration and temporality are intricately intertwined: there is no narration without temporal structure, while, in turn, temporal sequence evokes narrative connections. Yet, as pointed out prominently in literature on the topic, this reciprocal relationship is not single-lined but comprises more than one dimension of temporality. The aim of the following section is to disentangle these dimensions by taking a look at two common hypotheses – the pastness of the story and the sequence of events – with respect to their temporal aspects.

2.1 The Sequence of Events Despite some controversy about what are the features that classify a text as a narrative,⁶ almost every definition of narration holds that narratives represent a sequence of events.⁷ Such definitions rely on temporality as a core concept since, naturally, sequentiality implies temporal succession. In consequence, it is thus the temporal order of events which constitutes a narrative. What is also taken for granted in most definitions of narrativity is furthermore that a narration is not simply a sequence of events, but a representation thereof (cf. the definitions by Genette and Abbott). As such, they presuppose at least two different timelines, i. e. the chronological order of events in the story world as well as their representation in the text. The temporal structure of narration thus comprises two levels: the actual chronology of the story and its representation in discourse – which might iconically reflect the actual chronology, or not. Taking into account this „double temporality“⁸ , narratological investigations on temporal structure have focused predominantly on emplotment, as made explicit by Ricoeur:

6 See for an overview Sonja Zeman, Introduction: Perspectives on Narrativity and Narrative Perspectivization, in: Natalia Igl and Sonja Zeman (eds.), Perspectives on Narrativity and Narrative Perspectivization (Linguistic Approaches to Literature 21), Amsterdam, Philadelphia 2016, pp. 1–14. 7 See the definitions by Genette (note 4), p. 127; Prince (note 4); Richardson (note 4), p. 170 for narratology; similarly for linguistic studies e. g. Suzanne Fleischman, Tense and Narrativity. From Medieval Performance to Modern Fiction, London 1990, and Carlota Smith, Modes of Discourse. The Local Structure of Texts. Cambridge 2003. 8 Ricoeur (note 1), p. 178; William C. Dowling, Ricoeur on Time and Narrative. An Introduction to ,Temps et récit‘, Notre Dame IN 2011, p. 6. Shlomith Rimmon-Kenan, Concepts of Narrative, in: Matti Hyvärinen, Anu Korhonen, and Juri Mykkänen (eds.), The Travelling Concept of Narrative (Studies across Disciplines in the Humanities and Social Sciences 1), Helsinki 2006, pp. 10–19.

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The narrative structure that I have chosen as the most relevant for an investigation of the temporal implications of narrativity is that of the ,plot.‘ By plot I mean the intelligible whole that governs a succession of events in any story.⁹

Other studies are relying on this premise more implicitly (cf. the fundamental studies of time and temporal structure in medieval storytelling).¹⁰ A major research interest of these investigations has been the order, duration, and frequency of the events and their functional meaning within the story, such as prolepses, analepses, and asynchronies, that is, aspects that are classified within Genette’s category of ,Time‘. Yet, the conception of ,time‘ underlying these investigations refers to a very specific one, namely the temporal order in terms of sequentiality as the organization of events in relation to each other. The concept of time is thus present as a linear order based on earlier-later relations: A precedes B precedes C and so on. In this view, temporal events are ordered along a temporal timeline and linked to each other in an observerindependent way: Percival’s birth is always prior to his knightly adventures – as the representation of the events in the story is based on the fact that they are ordered with respect to each other. In this sense, the concept is independent from the common differentiation between ,past‘, ,present‘ and ,future‘. As such, the investigation of the sequence of events as well as their representational correlate have to be distinguished from the conception of time that relates to the ,pastness of the story‘.

2.2 The Pastness of the Story Another common hypothesis with reference to the temporal structure of narration is the dictum that narrativity inherently requires a retrospect view since the narration of events presupposes a knowledge about events that have happened before. As such, narrating is generally understood „as a retrospective act of sense-making“¹¹. Although

9 Ricoeur (note 1), p. 171. 10 See Katharina Philipowski, Vergangene Gegenwart, vergegenwärtigte Vergangenheit: Zeit und Präsenz in der mediävistischen Alteritätsdebatte, in: Manuel Braun (ed.), Wie anders war das Mittelalter? Fragen an das Konzept der Alterität (Aventiuren 9), Göttingen 2013, pp. 127–159, referring e. g. to Hugo-Hans Steinhoff, Die Darstellung gleichzeitiger Geschehnisse im mittelhochdeutschen Epos. Studien zur Entfaltung der poetischen Technik vom Rolandslied bis zum ,Willehalm‘ (Medium Aevum. Philologische Studien 4), München 1964; Dieter Kartschoke, Erzählte Zeit in Versepen und Prosaromanen des Mittelalters und in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Germanistik 10.3 (2000), pp. 477–492; Barbara Nitsche, Die Signifikanz der Zeit im höfischen Roman. Frankfurt am Main 2006; Uta Störmer-Caysa, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen: Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin, New York 2007. 11 Michael Scheffel, Antonius Weixler, and Lukas Werner, Time, in: Peter Hühn et al. (eds.), The Living Handbook of Narratology. Hamburg 2013, sect. 16. URL: http://www.lhn.uni-hamburg.de/article/ time (date of access: 29 Dec 2016).

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this view has been called into question by studies on multiple future narratives¹² and present tense novels¹³, it is still a very common view¹⁴ and seems in particular natural for medieval epic poems. Yet, such a retrospect concept refers to a different conception of time since it is relies on the distinction between ,past‘, ,present‘ and ,future‘ and is, as such, dependent on an observing point of view: In order to classify an event as ,past‘, ,present‘, or ,future‘, one always has to ask: ,past‘, ,present‘, or ,future‘ in relation to what? Thus the localization of Percival’s knightly adventures in time is dependent on a temporal anchor point: They are ,past‘ as seen from the 21st century, but were ,future‘ as seen from a fortune teller before his birth. This is in particular relevant with respect to the temporal structure of narratives, which, due to their complex structure, involve more than one ,now‘: A fight of Percival is commonly ,past‘ in relation to the ,now‘ of the narration, but it can be conceptualized as ,present‘, ,past‘ or ,future‘ in relation to the ,now‘ of the story or discourse. As will be seen in the following, this distinction is crucial in order to dissect, for example, the different effects of immediacy that are seen as characteristic for medieval texts.

2.3 Looking Back and Forth: Multiple Temporalities In sum, a narration comprises more than one dimension of temporality. (i) There is a crucial difference between the plain sequentiality of events and their localization in relation to a speaker’s viewpoint. With respect to the investigation of temporal structure, a distinction is necessary between the sequential order between the particular events in terms of earlier–later and relations between the events and an observer’s viewpoint. Only the latter allows for a localization according to the dimension of ,future‘, ,past‘, and ,present‘, see Fig. 1. (ii) In addition, the temporal structure of narration is not only characterized by the sequential order but dependent on a viewpoint that constitutes an anchor for the temporal localization of the sequence of an event. In consequence, narrations are not simply ,retrospect‘ but comprise several timelines, so that the anchoring of the narrative ,now‘ becomes relevant. If we factor in the different communicative layers of narration, several anchor points can function as ,now‘: the narrator’s ,now‘, the 12 Christoph Bode (ed.), Narrating Futures. 5 vols, Berlin, New York 2013. 13 Cf. the studies in the tradition of Käte Hamburger, Die Logik der Dichtung, Stuttgart [1957] 1987. 14 Cf. e. g. Wolfdietrich Rasch, Zur Frage des epischen Präteritums, Wirkendes Wort. Special issue 3 (1961), pp. 68–81; Matías Martínez and Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, Munich 1999, p. 72; Dorrit Cohn, ,I doze and I wake‘: The Deviance of Simultaneous Narration, in: Herbert Foltinek, Wolfgang Riehle, and Waldemar Zacharasiewicz (eds.), Tales and ,their Telling Difference‘. Zur Theorie und Geschichte der Narrativik. Festschrift zum 70. Geburtstag von Franz K. Stanzel, Heidelberg 1993, pp. 9–23, here p. 9; Monika Fludernik, Towards a ,Natural‘ Narratology, London 1996, here p. 240; Monika Fludernik, Erzähltheorie. Eine Einführung. Darmstadt 3 2010, here p. 63.

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Abb. 1: Sequential vs. viewpoint-dependent conceptualization of ,time‘ (e = event).

discourse ,now‘, and the story ,now‘. As each narrative layer allows for its own order, any narrative can comprise opposite directionalities. In line with Ricoeur, a story is thus „in an important sense told forward and backward (,d’avant en arrière et d’arrière en avant‘) at the same time“.¹⁵ Relying on this view, Mark Currie has argued that the symptomatic tense of narration is not the preterite, but the future anterior since it combines the retrospect and futurity of narration.¹⁶

Abb. 2: Retrospective and prospective directionality.

This is important for two reasons. First, the interplay between histoire and discourse, and, as such, the temporal relations between the different communicative levels in the narrating process have often remained a blind spot in literary investigations on temporal structure, as shown by Philipowski with respect to the effects of immediacy in medieval texts.¹⁷ Furthermore, the focus on the interplay between the different layers allows for (i) a comparison of temporal aspects which go beyond the sequentiality of events and studies on time as a thematic content of the story, as well as (ii) a more fine-grained analysis of the peculiarities of medieval storytelling. Both aspects will be demonstrated in the next section for Middle High German epic poems.

15 Dowling (note 8), p. 10. 16 Currie (note 5); Mark Currie, The Unexpected. Narrative Temporality and the Philosophy of Surprise, Edinburgh 2013. 17 See Philipowski (note 10), p. 150.

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3 The Grammar of Temporality: The Function of Tense in MHG The dissection of different dimensions of temporality is intricately linked to the general properties of narrative communication. But what can be said about the specific historical constellations of narrative communication in medieval texts in particular? In the following section, I shall demonstrate that the distinctions drawn so far allow for (i) a more fine-grained modification of literary effects in the older texts, and (ii) a comparison of aspects that are subject to historical change. The linguistic structure of Middle High German epic poems and, in particular, their tense usage provides a useful starting point for the discussion. As Fludernik has argued, „temporality, in its complex combination of sequentiality, duration and frequency, has little direct impact on the linguistic choice of tense markers deployed in the narrative discourse“ but is most commonly expressed by aspectual distinctions.¹⁸ This is due to the fact that tense does not primarily refer to the sequential order of events, but to the relations between the event and an observing origo. As such, tense usage is closely linked to the constellation of communicative levels of narration. In order to illustrate this point, the next section will focus on the ,past‘, ,present‘ and ,future‘ dimension of tense usage both with respect to its general properties of narration and its particularities within the historical constellation. For reasons of space, only selected representative Middle High German examples can be discussed in the following. Yet, the results are based on a systematic corpus study.¹⁹

3.1 The ,Past‘ Tenses and the Narrative Frame Commonly, the prototypical narrative tenses are considered to be ,past tenses‘. This is based on the presupposition laid out in Section 2.2 that a story is past at the time of telling, and the common view that tenses serve the function to indicate ,present‘, ,past‘, and ,future‘. In linguistics, it is yet taken for granted that the relation between tense and time is not a straightforward one,²⁰ as seen in the fact that present tenses, too, can refer to ,past‘ events as in the case of the ,historical present‘ or the narrative present

18 Monika Fludernik, Chronology, Time, Tense and Experientiality in Narrative, in: Language and Literature 12.2 (2003), pp. 117–134, here p. 119. 19 Sonja Zeman, Tempus und Mündlichkeit im Mittelhochdeutschen. Zur Interdependenz grammatischer Perspektivensetzung und ,Historischer Mündlichkeit‘ im mittelhochdeutschen Tempussystem (Studia Linguistica Germanica 102), Berlin, New York 2010. 20 With respect to narrative tenses, see in particular Uri Margolin, Of What Is Past, Is Passing, or to Come: Temporality, Aspectuality, Modality and the Nature of Literary Narrative, in: David Herman (ed.), Narratologies, Columbus 1999, pp. 142–166 and Currie (note 5), p. 138 ff.

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in present tense novels.²¹ On the other hand, ,past‘ tenses like the epic preterite can also trigger effects of immediacy.²² In order to specify what the properties of a narrative tense are, a look at the difference between the Middle High German periphrastic perfect and the preterite is insightful: both forms can be classified as ,past tenses‘ since both the perfect and the preterite denote an event that has taken place before the point of speech.²³ With respect to the Middle High German examples, it has been controversially discussed whether preterite and the periphrastic perfect can thus be substituted by each other.²⁴ Empirical analyses reveal that the difference between the two tenses refers to different ways how they conceptualize past events. While the preterite serves as the prototypical narrative tense in denoting specific events on the narrative chain, i. e. ,on-plot‘ in the sense of Fludernik,²⁵ the perfect is excluded from narrative contexts. That does not mean that there are no perfect forms in narrative texts. Yet, within an epic poem, the perfect is restricted to dialogical contexts and the voice of the narrator, whereas the narrative sequence of events is reserved for the preterite, consider (1) for a prototypical example.²⁶ (1) des wurden sie dô vil frô. this.gen become.3pl.pret they then much happy ,So they then became very happy. des endes kêrten the.gen end.gen tack.3pl.pret In this direction they tacked then

sie dô they then

unde sigelten in ein habe. and sail.3pl.pret in a harbour and sailed in a harbour. ir anker sie dô wurfen abe: their anchor they then drop.3pl.pret Then they dropped their anchor.

21 Dorrit Cohn, The Distinction of Fiction, Baltimore, London 1999. 22 Hamburger (note 13). 23 For reasons of simplicity, I shall not discuss exceptional uses like the future perfect; see Zeman (note 19). 24 Cf. Zeman (note 19), pp. 274–286. 25 Monika Fludernik, The Historical Present Tense in English Literature: an Oral Pattern and its Literary Adaptation, in: Language and Literature 17 (1992), pp. 77–107. 26 Abbreviations used in the transcription: GEN = genitive, PFV = perfective, PL = plural, PRET = preterite, PTCP = participle, SG = singular.

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guoten grunt sie funden. good ground they find.3pl.pret They found good ground. do ge-sâhen sie an den stunden then pfv-see.3pl.pret they straightaway Then, straightaway, they caught sight ein hêrlîche burc stân, a beautiful castle stand of a beautiful castle. diu was al umbevân mit einer guoten miure. this be.3sg.pret all sourround.ptcp by a good wall It was all surrounded by a powerful wall.‘ [,Herzog Ernst‘, ca. 1200, ll. 2207 ff.]²⁷ In (1), specific events on the plot-line are narrated which are linked to each other by temporal connections. This is particularly clear by the use of the particle do (,then‘) which indicates the next action step within the story world (,then/next‘). At the same time, the particle localizes the events in a world that is temporally distant from the reference system of the speaker (,then, at that time‘). The relation between the particular events is furthermore supported by aspectual values, as seen in the fact that achievements (,became happy‘, ,sailed in a harbour‘, ,drop the anchor‘ etc.) progress the action while stative constructions (,was surrounded‘) indicate temporal overlapping. In contrast, the MHG perfect is excluded from such narrative passages. This is seen in the fact that the perfect is not used in combination with the particle do and is not able to indicate a sequence of temporal order²⁸ , cf. (2): (2) du hâst dich selben geaffet you have.aux.2sg.pres yourself make.a.monkey.ptcp ,You have made a fool of yourself daz du sô vil hâst geklaffet that you so much have.aux.2sg.pres yep.ptcp by having yapped so much

28 See in detail Zeman (note 19), p. 218.

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und hâst mit worten getobet, and have.aux.2sg.pres with words rage.ptcp and having raged with words daz du dich hôher hâst gelobet that you yourself higher have.aux.2sg.pres praise.ptcp that you have praised you higher denne iht in der werlde sî. than something in the world be.3sg.sbjv than anything in the world.‘ [Der Stricker, ,Der Kater als Freier‘, ca 1220–1250, ll. 135 ff.]²⁹ Although used in succession, the temporal relations between the particular events are left underspecified. The perfect denotes that someone has made a fool of himself and that this event has taken place in some indefinite past prior to speech time. Yet, the temporal relation with respect to the yapping and raging remains open. The example thus constitutes an opposite case in which the context is non-narrative.³⁰ What the comparison between preterite and perfect thus shows is that narrative passages are based on two different properties: the temporal succession of specific events and the temporal localization of the events in a time interval that excludes the speaker. As a result, a denotation of both forms as ,past‘ tenses does not adequately capture their semantics and their function in the discourse. Rather, the temporal distinction is linked to the difference between an origo-exclusive vs. origo-inclusive reference system: in example (1), the specific events are localized in a narrative world that is distinct from the narrating world of the poet. In (2), the events are not specified by a spatiotemporal index but are located within the conceptual frame of a reference system that includes the speaker. As such, the perfect is not able to function as a narrative tense in the same way as the preterite. This is not only characteristic of the MHG perfect, but attested crosslinguistically for many perfect tenses.³¹ With respect to the temporal dimensions, we can conclude that sequentiality and temporal localization – though they are intricately intertwined in narration – are primarily independent categories. Cross-linguistically, this is also seen in the fact that consecutive and temporal relations can be marked morphologically differently. Thus the whole story is located in the past by a morphological past marker while the temporal organization of the events with respect to each other is marked by a consecutive marker that indicates that the events

30 Abbreviations used in the transcription: AUX = auxiliary, PRES = present tense, PTCP = participle, SBJV = subjunctive, SG = singular. 31 Cf. Bernard Comrie, Aspect, Cambridge 1976, pp. 52 ff.; Östen Dahl, Tense and Aspect Systems, Oxford, New York 1985, pp. 138 f. and Jouko Lindstedt, The Perfect: Aspectual, Temporal and Evidential, in: Östen Dahl (ed.), Tense and Aspect in the Languages of Europe, Berlin, New York 2000, pp. 365–383.

Dimensions of Tense and Temporality in Middle High German Narratives | 277

have to be conceptualized as one following the other in a narrative sequence.³² For diachronic narratology, this has important implications since the difference between perfect and preterite is not only linked to the difference between narrative and nonnarrative passages, but also to a systematic distinction between the reference system that includes the ,now‘ of the narrator and the audience, indicated by tenses like the present and the perfect, and the reference system of the past story world, indicated by the use of the preterite and the past perfect. Such a view on tense and narration is the prerequisite for addressing questions of the teller frame and effects of immediacy and their different conceptualizations through the centuries. Tense usage is thus not only linked to the temporal dimension, but also to the interaction between the narrative levels of communication – as will be seen in the following with respect to the use of the present tense.

3.2 The Present Tense and the Effects of Immediacy A property which is commonly attributed to narrative epic poems in the 12th and 13th centuries in particular is the notion of ,literary presentness‘ and ,immediacy‘.³³ Within the alterity debate, this concept is seen in strong connection to the conditions of production and reception in oral storytelling. It has been argued that the oral character of the poems manifests itself in the fact that past events are presented in a way that makes them appear as if they were happening simultaneous to the act of performance and create the effect of the narrator as an eyewitness.³⁴ But what does literary ,presence‘ actually mean? Recalling Fig. 1B, one can conclude that the ,present‘ is a relation of simultaneity between an observer’s now and a temporal situation of an event. Due to the complex structure of narratives, the different ,nows‘ of the story allow for different temporal relations of ,presence‘ and evoke different kinds of effects of immediacy. This is best seen in the different meanings of the present tense. One prominent literary effect of immediacy is linked to the Historical Present (HP) that is traditionally described as „visualizing and representing what happened in the past as if it were present before his [i. e. the narrator’s] eyes“.³⁵ Commonly, this visual effect of the HP is considered to dramatize the story „by making the audience feel as if

32 See, e. g. Benji Wald, Cross-clause Relations and Temporal Sequence in Narrative and Beyond, in: Russell S. Tomlin (ed.), Coherence and Grounding in Discourse: Outcome of a Symposium, Eugene, Oregon, June 1984 (Typological Studies in Language 11), Amsterdam, Philadelphia 1987, pp. 481–512 for Swahili and Hausa. 33 See Philipowski (note 10) for an overview. 34 Fleischman (note 7), p. 265; Egbert J. Bakker, Pointing at the Past. From Formula to Performance in Homeric Poetics, Cambridge MA 2005, p. 63. 35 Otto Jespersen, The Philosophy of Grammar, Chicago 1924, p. 258.

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they were present at the time of the experience, witnessing events as they occurred“.³⁶ Although this present tense usage is mostly ascribed to the usage in alternation with a past tense by indicating events on the story level, which has often been described as an „oral pattern“³⁷ , this effect is more obvious within the usage of the present tense in Middle High German, which lacks (like Homeric epic poems³⁸ , Old English³⁹ , Old High German⁴⁰) the Historical Present tense in its narrow sense (i.e. it lacks the alternation pattern Then a knight entered, looked around and speaks).⁴¹ In Middle High German, the present tense does usually not indicate events on the story level, but can be used in a metanarrative function. This evokes an effect of immediacy that has to be distinguished from the simulated simultaneity of the event and its representation, see (3). The passage is taken from Gottfried von Straßburg’s ,Tristan‘ and refers to the accolade of the protagonist. After a description of Tristan’s friends and their vestments they are wearing in expectation for the important event, the narrator pauses and expresses concerns about the ekphrastic representation of Tristan. At this point, the present tense is used,⁴² consider (3):⁴³ (3) wie gevâhe ich nû mîn sprechen an, how pfv-begin-1sg.pres I now my speaking verb-ptcl daz ich den werden houbetman / Tristanden sô bereite that I the dignified protagonist Tristan so prepare-1sg.pres

36 Suzanne Fleischman, Evaluation in Narrative: The Present Tense in Medieval ,Performed Stories‘, in: Yale French Studies 70 (1986), pp. 199–251, here p. 203. 37 Monika Fludernik, The Historical Present Tense Yet Again. Tense Switching and Narrative Dynamics in Oral and Quasi-Oral Storytelling, in: Text 11 (1991), pp. 365–398; Fludernik (note 24); Nessa Wolfson, The Conversational Historical Present in American English Narrative, Dordrecht 1982. 38 Bakker (note 33), p. 96. 39 J. M. Steadman, The Origin of the Historical Present in English, in: Studies in Philology 14 (1917), pp. 1–45, here p. 12. 40 Hugo Herchenbach, Das Präsens historicum im Mittelhochdeutschen (Palaestra CIV), Berlin 1911. 41 This is shown by Herchenbach (note 40). See for a detailed discussion and differentiation of uses of the present tense in Middle High German Sonja ZEMAN, Vergangenheit als Gegenwart? Zur Diachronie des Historischen Präsens, in: Petra Maria Vogel (ed.), Sprachwandel und seine Reflexe im Neuhochdeutschen. Berlin, New York 2013 (Jahrbuch der Gesellschaft für Germanistische Sprachgeschichte 4), pp. 236–256. 42 In MHG, instances of present tense and perfect regularly indicate a break within the narrative sequence of events. By doing so, they also serve as markers that segment and organize the textual structure; see in detail Sonja Zeman, Textuelle Schnittstellen als Grammatikalisierungskatalysatoren für Vergangenheitslesarten?, in: Patrizia Noel, Barbara Sonnenhauer und Caroline Trautmann (eds.), Diskussionsforum Linguistik in Bayern/Bavarian Working Papers in Linguistics 1, Schnittstellen 2012, pp. 74–88. 43 Abbreviations used in the transcription: PFV = perfective, PRES = present tense, PTCL = particle, SBJV = subjunctive, SG = singular.

Dimensions of Tense and Temporality in Middle High German Narratives | 279

ze sîner swertleite, / daz for his knightly accolade that

man ez gerne verneme?“ one it willingly hear-3sg.pres.sbjv

,How do I now begin my speaking that I prepare the dignified protagonist Tristan in such a way for his knightly accolade that one would like to hear it willingly?‘ [Gottfried von Straßburg, ,Tristan‘, ca. 1210, ll. 4591–4595]⁴⁴ In (3), the narrator does not narrate the upcoming events, but comments on the representation of the story. This representation is conceptualized as originating from a dynamic on-line production process where the story evolves while speaking, also taking into account the perception of the listeners (daz man ez gerne verneme). The rhetorical question leads to an excessive excursus on the capabilities of poetic ekphrasis in general, referring to several examples of particular poets while the actual story is interrupted. This metatextual reference is linked to the narrator’s stance and its role in the actual performance, as well as the presupposition with respect to the conceptualization of knowledge and truth. According to Franz Josef Worstbrock, the medieval narrator is not an author, but an artifex who gives the story its form.⁴⁵ In this sense, narrating is re-narrating, whereby the uncertainty does not concern the what, but the how of the plot. This is supported by the fact that the narrator iteratively draws attention to the difficulties of representation that affect the present ,now‘ of discourse: (4) Ine weiz, wie in bereite (,Tristan‘, l. 4826) ,I do not know how to prepare him‘ (5) Nune weiz ich, wie ich’s beginne. (,Tristan‘, l. 4853) ,I do not know now how to begin.‘ (6) Hiezu enweiz ich, waz getuo. (,Tristan‘, l. 4859) ,I do not know here what to do.‘ In (4–6), nu (,now‘) and hie (,here‘) refers to the ,now‘ of the narrating process. Yet, ,now‘ does also have a future implication referring to the following lines of the poem. Furthermore, the whole excursus is future-oriented as it aims at the preparation of the event to come, i. e. the accolade: The plot line does not continue until l. 5010 so that the actual event is postponed for about 420 lines. Nevertheless, the story as a whole (including the accolade) is situated in a past world which is conceptualized as distal from the narrating world of the narrator and his audience. What is at stake is hence not simply ,immediacy‘ but the interplay between ,presence‘ and ,absence‘ of the plotline.

45 Franz Josef Worstbrock, Wiedererzählen und Übersetzen, in: Walter Haug (ed.), Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, Tübingen 1999, pp. 128–142, here p. 139.

280 | Sonja Zeman

In other words: the effect of immediacy here refers to the relationship between the creative process and hence the simulated simultaneity of production and performance in oral story telling (,simultaneity I‘). A similar, yet different effect is provided by the ,present of perception‘, cf. (7).⁴⁶ (7) nu seht, dô nâht ir herzeleit. now look-imp there approaches-3sg.pres their distress ,Now look, there approaches distress to them.‘ [Wolfram von Eschenbach, ,Parzival‘, ca. 1200–1210, ll. 407,10]⁴⁷ In (7), the audience is directly addressed by the imperative. The deictic nû (,now‘) and the verb of perception (seht; ,look‘) indicate that the narrator and his recipients are conceptualized as situated in a shared communicative situation and are simultaneously looking upon the narrated events. The temporality does not refer to the relation between the narrator and his narrating process, but the link between the audience and the story world (,simultaneity II‘). At the same time, the particle dô establishes a temporal reference frame of a story world that is distinct from the speaker’s. Once again, the example illustrates the different temporal relations by combining the present tense and ,now‘ with a distance marker that locates the story within an origo-exclusive reference frame. As such, the story is present and past at the same time. In sum, the use of the present tense thus shows that narrative communication is based on a double simultaneity: the conceptualized cotemporality between the composition of the poem and its performance that refers to the relation between the narrator and the ,told‘ (,simultaneity I‘), and the conceptualized simultaneity of performance and reception which refers to the relation between the poet and his audience (,simultaneity II‘). The effects of immediacy are thus dependent on the viewpoint in relation to which the events resp. the discourse are seen as ,now‘. As a result the simultaneity relations are not so much ,temporal‘ or time-relational but refer to the relation between the communicative levels of narration and are hence phenomena of discourse.

3.3 The Future of Fate and the Knowledge of the Narrator Another example which shows the intricate link between the temporal dimensions of narration is the ,future of fate‘, a proleptic reading which gives an outlook on the events to come. In MHG, this reading can be expressed in narrative settings by the modal verb suln (,shall‘) + inf. in the past tense, cf. (8):⁴⁸

46 Abbreviations used in the transcription: IMP = imperative, PRES = present tense, SG = singular. 48 Abbreviations used in the transcription: INF = infinitive, PFV = perfective, PRES = present tense, PRET = preterite, SBJV = subjunctive, SG = singular.

Dimensions of Tense and Temporality in Middle High German Narratives | 281

(8) nû solte now shall-3sg.pret

er [i. e. Hector] leider niht gesigen, he unfortunately not pfv-win-inf

wan ez was gotes wille, / daz er sît von Achille / because it was god’s will / that he later on by Achilles sîn werdez leben dâ verlüre / und ein ze snellez ende küre. his dignified life there lose-3sg.sbjv / and a too fast end choose-3sg.sbjv ,Unfortunately, he was not about to win at this time, because it was god’s will that later on he lost his dignified life there and chose too fast an end.‘ [Konrad von Würzburg, ,Trojanerkrieg‘, 1281/87, ll. 37580ff.]⁴⁹ The example is noteworthy with respect to the temporal dimensions in narratives for two respects. On the one hand, the form combines two different timelines. The first one is linked to the story now, i. e. the acting of the protagonist. From his perspective, the events to come are ,future‘. The second one is the narrator’s viewpoint from which the events to follow are already ,past‘. This is linked to the interaction of different temporal reference points, i. e. the present moment of discourse and the ,story now‘ on the event level that are ambiguously indicated by the particle nû (,now‘). In this sense, the future of fate reflects the conjunction of temporal structure in narration in general. Furthermore, it mirrors the modal dimension of tense by referring to two different knowledge systems: while the narrator knows what will happen next, Hector on the story level is unaware. This constellation is thus linked to an omniscient narrator who knows the further story, as already seen with respect to the present tense of the medieval artifex. The temporal dimension is thus intricately linked to the modal dimension of knowledge and certainty of the narrator. As such, the investigation of tense usage can also offer insights with respect to the microstructural mechanisms of focalization patterns.

4 Conclusion: The Modal Dimension of Time The retrospect view on the examples above thus shows that it would be too simplistic to describe the function of tense in categories such as ,past‘, ,present‘, and ,future‘. Instead, we have seen that the complex structure of narratives allows for different temporal relations between these layers which evoke different literary effects that are linked to the communicative levels of discourse. Furthermore, we have seen that the sequence of events requires the level of an observer and hence a modal dimension. In this way, narration combines the concept of sequentiality and viewpoint depen-

282 | Sonja Zeman

dency.⁵⁰ Against this backdrop, both presumptions laid out in Section 2 have to be modified: (1) The sequence of events: With respect to the sequence of events, two aspects have to be taken into account: the double temporality of story and discourse and a modal dimension from which the sequence of events is represented. Thus it is not sufficient to see a story as a sequence of events. Rather, stories are characterized by a superordinated level from which the events are represented as organized. (2) The pastness of the story: Instead of a retrospect view, narratives combine backward and forward directionality of time. Stories include various ,nows‘, as we have seen in the different effects of immediacy linked to the present tense. It would thus be too simplistic to say that these are retrospect stories. Their temporal structure comprises both ,future‘, ,past‘ and ,present‘ aspects. This has consequences with regard to the evaluation of ,presence‘ and ,immediacy‘ in medieval narratives. On the one hand, the presentness is not just temporal ,presence‘ as it cannot be separated from the modal dimension, i. e. the speaker’s knowledge and, linked with that, the evidential source. See also Currie: It seems necessary, in particular, that the question of now is restored to an account of the distribution of knowledge, actuality and certainty that structures a narrative, and so to understand the perspectival structures of focalisation in terms of temporal position: of what is certain, what is expected and what is unexpected.⁵¹

Both modifications are relevant for narratology in general and diachronic narratology in particular. On the one hand, the view presented here has consequences with respect to narratological models. As is well known, Genette’s model, for example, is based on three categories: ,time‘ (temps), ,mode‘ (mode) and ,voice‘ (voix).⁵² The category ,time‘ comprises the subcategories ,order‘, ,duration‘ and ,frequency‘ of events. Yet, these categories are not primarily temporal but refer to the order of the events and their representations, i. e. to the relations between each other (1A). What is actually time specific in terms of 1B in the model of Genette is the „time of narration“ in his category ,voice‘, and ,distance‘ in his category ,mode‘. This means that the temporal dimensions are spread over all three categories, while the category of ,time‘ is not temporal in the strict sense of the term. On the other hand, the dissection of the different dimensions of temporality allows for comparisons of different narrative constellations in diachrony. The view proposed on temporality goes beyond time as the content of the story and provides a basis for investigation with respect to the changes of the teller frame as one of the aspects that is

50 This is also in line with the concept of ,experientiality‘ as the most basic feature of narration, as argued by Fludernik (note 18). 51 Currie (note 16), p. 113. 52 Gérard Genette, Discours du récit. Essai de méthode, Paris [1972] 2007.

Dimensions of Tense and Temporality in Middle High German Narratives | 283

believed to underlie language change, and the relationship between narrator and his audience, which is commonly seen in dependency of the medial context of a (semi-)oral tradition.⁵³ In sum, the chapter has thus shown that if we want to explore what is specific to certain stages of language and literature in general and to medieval narratology in particular, we have to take into account the general principles of narrativity. It is only in contrast to these general principles that we are able to see its specific realizations in historical contexts. Diachronic narratology can thus contribute to the narratological debate in a twofold manner: by approaching the dynamic dimension of changes of narrative patterns in relation to their socio-cultural contexts – and by examining previous assumptions on narrative universals.

53 See Sonja Zeman, Orality, Visualization, and the Historical Mind. The ,Visual Present‘ in (Semi-)Oral Epic Poems and its Implications for a Theory of Cognitive Oral Poetics, in: Mihailo Antović and Cristóbal Pagán Cánovas (eds.), Oral Poetics and Cognitive Science, Berlin, New York 2016 (Linguae & Litterae 56), pp. 168–196, and Sonja Zeman, What is a Narration – and Why Does It Matter?, in: Markus Steinbach and Annika Hübl (eds.), Linguistic Foundations of Narration in Spoken and Sign Language, Amsterdam, Philadelphia (forthcoming).

Schlagwortregister A Abenteuerroman 125–164 Abgeschlossenheit 165–192 Alterität 193–232 Artusroman 125–164 Autor-Erzähler-Unterscheidung B Binnenerzählung C Christianisierung

I Ich, erlebendes 9–41 Ich, erzählendes 9–41 Ich-Erzähler 61–79 Imagination 165–192 61–79 J Japanische Literatur

9–41

81–99

81–99

D Deixis 165–232 discours indirect libre 43–60 E Erfahrung 61–79 Erfahrungsmodell 61–79 Erzähler 267–283 Erzählerfigur 81–99 Erzähllänge 101–123 Erzählsequenzen 101–123 Erzählstimme 9–41 Erzählte Erfahrung 61–79 Erzählzeit und erzählte Zeit 165–192 Exemplum 81–99 F Fabula 81–99 Figurengedanken 43–60 Figurenperspektive 43–60 Figurenrede 43–60 Fiktionalität 81–99, 165–192 Fokalisierung 9–41, 43–60, 267–283 Fokalsierungswechsel 43–60 H Heiligendichtung 101–123 Heterotopie 233–266 histoire/discours 267–283 Historisches Präsens 267–283 Historisierung 81–99 Höfische Epik 193–232 Höfischer Roman 125–164 https://doi.org/10.1515/9783110566536-012

K Karte 125–164 Kognition 193–232 Kognitive Literaturwissenschaft 61–79 Kommunikationsmodell 61–79 Kymrische Literatur 101–123 L Lyrik

9–41

M Märchen 81–99 Medialität 125–164, 193–232 Metalepse 61–79 Mittelkymrisch 101–123 Moralisierung 81–99 Mündlichkeit 125–164, 193–232 N Narrative Teilsätze 101–123 Narrativität 165–192 O Oralität

267–283

P Paralepse 9–41 Paralipse 43–60 Paratext 9–41 Perfekt 267–283 Performativität 193–232 Person 9–41 Perspektive 9–41 Präsens 267–283 Präteritum 267–283 R Rahmenerzählung

81–99

286 | Schlagwortregister

Raum 193–266 Raumdarstellung 125–164 Raumgeographie 125–164 Referentialisierung 165–192 Referenz 165–192 Rezeption 61–79 S Schriftlichkeit 193–232 Simultanität 267–283 Statistik 101–123 T Tagebuchliteratur 9–41 Tempus 267–283 Textualität 193–232 Topographie 125–164

U Utopie

233–266

V Vergegenwärtigung 267–283 Vortrag 125–164 Vortragssituation 165–192 W Wahrheit 81–99 Wahrnehmung 193–232 Wunderbares 81–99 Z Zeit 233–283 Zeitliche Abgeschlossenheit 165–192 Zeitlichkeit 165–192 Zisterzienserliteratur 81–99

Autoren- und Werkregister A Aelred von Rievaulx – ,Speculum caritatis‘ 89 ,Alexanderroman‘ 132 ,Alf laila wa laila‘ 91 Andersen, Hans Christian 88 Anderson, Sherwood – ,The Egg‘ 34 ,Armes Dydd Brawd‘ 108 Augustin – ,Confessiones‘ 89 – ,De civitate Dei‘ 96

– ,Lancelot‘ 46, 57, 58, 132, 144 – ,Perceval‘ 49–52, 147, 239, 244, 260 – ,Yvain‘ 52–56, 58, 59, 144 Cooper, James F. 126 – ,Der Wildtöter‘ 125, 134–139, 147, 149, 154, 160, 162 D Dafydd ap Gwilym – ,Galw ar Ddwynwen‘ 121 – ,Merched Llanbadarn‘ 107, 110 E ,Ecbasis cuiusdam captivi‘ 83, 95 Eilhart – ,Tristrant‘ 205, 211, 220, 222, 230 Ennin ¯ – ,Nitto¯ guho¯ junrei koki‘ 22

B Baudri de Bourgeuil 98 Bernhard von Clairvaux – ,Apologia ad Guillelmum‘ 89 ,Bevis of Hampton‘ 65 ,Bibel‘ 96 – ,Exodus‘ 96 – ,Ezekiel‘ 79 – ,I Timotheus‘ 89 – ,Samuel‘ 96 Boccaccio, Giovanni – ,Decameron‘ 91 Bokenham, Osbern 66, 73 – ,Legendys of hooly wummen‘ 66 ,Buch von Sindibad‘ 96, 97 C Caesarius von Heisterbach – ,Dialogus miraculorum‘ 89 Capgrave, John 66 Caroll, Lewis – ,Alice in Wonderland‘ 131, 132 ,Chanson de Roland‘ 203 Chaucer, Geoffrey 76 – ,Book of the Duchess‘ 74, 75 – ,Dream visions‘ 67, 73 – ,Knight’s Tale‘ 75, 76 – ,Sir Gawain and the Green Knight‘ – ,The Book of the Duchess‘ 67 – ,The Canterbury Tales‘ 67, 76 – ,Troilus and Criseyde‘ 66 Chrétien de Troyes 43–60 – ,Erec et Enide‘ 45–49

F Flaubert, Gustave – ,Madame Bovary‘ 131 Fujiwara no Michitsuna no haha – ,Kagero¯ nikki‘ 13–18, 20, 22–24, 26, 31, 34, 35 G ,Gawain and the Green Knight‘ 65 Genette, Gérard 43, 44 ,Gesta Romanorum‘ 90 ,Gilgamesch-Epos‘ 160 Giraldus Cambrensis – ,Topographia Hibernica‘ 96 Gottfried von Straßburg – ,Tristan‘ 207, 237, 278–280 ,Göttweiger Trojanerkrieg‘ 194 ,Gramadegau’r Penceirddiaid‘ 121 Gwynfardd Brycheiniog – ,Canu i Ddewi‘ 107, 119

61, 72

https://doi.org/10.1515/9783110566536-013

H Hadlaub, Johannes – ,Serena‘ 169, 172, 178, 179, 182–187, 192 Hartmann von Aue 237, 240, 263 – ,Erec‘ 147, 258, 259 – ,Iwein‘ 144, 162, 202, 211, 258, 259 ,Heike monogatari‘ 10

288 | Autoren- und Werkregister

Heinrich von dem Türlin – ,Krone‘ 163 Heinrich von Veldeke – ,Eneasroman‘ 164 ,Herzog Ernst‘ 198, 207, 217–220, 222, 225, 230, 274, 275 ,Historia septem sapientum‘ 92 Hoccleve, Thomas – ,Complaint‘ 66 Homer 160 Hugo von Montfort – ,Ich fröw mich gen des abentz kunft‘ 169 Hywel Dafi – ,Cynog‘ 103–105, 110, 113, 121 I ,Iesu a Mair a’r Cynhaeaf Gwyrthiol‘ Ieuan ap Rhydderch – ,Cywydd Dewi‘ 109 ¯ hoshi ¯ ¯ ,Ionushi‘ siehe ,Zoki shu‘ ,Ise monogatari‘ 21, 22 Isidor von Sevilla – ,Etymologiae‘ 81–83, 93–96 ,Izumi Shikibu nikki‘ 30

109

J Jacobus de Voragine – ,Legenda aurea‘ 90 Johannes de Alta Silva – ,Dolopathos‘ 85–99 K Kafka, Franz 160 Kempe, Margery 66 Ki no Tsurayuki – ,Tosa nikki‘ 9–41 ¯ 32, 34 ,Kokin waka shu‘ ,König Rother‘ 204, 207, 211 Konrad von Würzburg – ,Trojanerkrieg‘ 280, 281 Konrad, Pfaffe – ,Rolandslied‘ 203, 211, 213–215, 231 L London, Jack

126

M Madog Dwygraig – ,Ystoria Deicyn‘

103

Mandeville, John – ,Travels‘ 66 Marbod von Rennes 98 Matthäus von Vendôme – ,Ars versificatoria‘ 93 May, Karl 126–128, 131 ,Minneburg‘ 160 Moers, Walter – ,Rumo‘ 126 Murasaki Shikibu – ,Genji monogatari‘ 19 – ,Murasaki Shikibu nikki‘

27

N ,Nibelungenlied‘ 132, 181, 200, 202 Nigellus de Longchamp – ,Speculum stultorum‘ 83, 84 O ,Orendel‘ 204, 206, 207, 211, 214, 215 ,Ortnit‘ 222 ,Oswald‘ 207 Ovid 89, 98 – ,Metamorphoses‘ 96 P Petrus Alfonsi – ,Disciplina clericalis‘ Pleier, Der – ,Meleranz‘ 194 ,Prosa-Lancelot‘ 160

88

R ,Rabenschlacht‘ 220, 232 Robbe-Grillet, Alain – ,La Jalousie‘ 28, 29 Rudolf von Ems – ,Wilhelm von Orlens‘ 125, 133, 147, 155–159, 162, 163 S ,Salman und Morolf‘ 207 ,Scottish Legendary‘ 66 ,Sekte der Minner‘ 190–192 ,Septem sapientes‘ 96, 97 Shakespeare, William – ,The Merchant of Venice‘ 87 Sieben weise Meister siehe Septem sapientes ,Sonpi bunmyaku‘ 14

Autoren- und Werkregister | 289

Stricker, Der – ,Daniel‘ 163 – ,Der Kater als Freier‘ 275, 276 – ,Karl‘ 203, 231 Sugawara no Takasue no musume – ,Sarashina nikki‘ 16, 24, 25 T Tausendundeine Nacht siehe Alf laila wa laila Tolkien, J. R. R. – ,Lord of the Rings‘ 126 Tudur Aled – ,Gwenfrewi‘ 103 U Ulrich von Zatzikhoven – ,Lanzelet‘ 125, 133, 139–147, 149, 154, 157, 159, 160 ,Utsuho monogatari‘ 34 V Vergil – ,Aeneis‘

89, 164

Vulgata

siehe Bibel

W Walther von der Vogelweide – ,Lindenlied‘ 186, 187 Wernher der Gartenaere – ,Meier Helmbrecht‘ 214, 215 Wickram, Jörg 209 Wirnt von Gravenberg – ,Wigalois‘ 125, 133, 147–155, 157–159, 162–164 Wittenwiler, Heinrich – ,Ring‘ 209 ,Wolfdietrich‘ 194 Wolfram von Eschenbach 161 – ,Parzival‘ 147, 159, 209, 233–266, 280 – ,Willehalm‘ 146, 218, 222, 264 Z ¯ o¯ no nikki‘ siehe ,Ise monogatari‘ ,Zaigo chuj ¯ Zoki ¯ hoshi ¯ ¯ 18–21, 23, 26, 35 – ,Zoki shu‘