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German Pages [365] Year 2022
TRANSitions. Transdisciplinary, Transmedial and Transnational Cultural Studies Transdisziplinäre, transmediale und transnationale Studien zur Kultur
Volume / Band 1
Edited by / Herausgegeben von Renata Dampc-Jarosz and / und Jadwiga Kita-Huber
Advisory Board / Wissenschaftlicher Beirat: Lorella Bosco (University of Bari, Italy), Leszek Drong (University of Silesia, Poland), Elizabeth Duclos-Orsello (Salem State University, USA), Frank Ferguson (University of Ulster, Ireland), Odile Richard-Pauchet (University of Limoges, France), Monika Schmitz-Emans (University of Bochum, Germany), Władysław Witalisz (Jagiellonian University in Kraków, Poland) The volumes of this series are peer-reviewed. Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.
Renata Dampc-Jarosz / Anna Kałuz˙a (Hg.)
Narrative des Wandels Transformationsprozesse nach 1989 in den mittel- und osteuropäischen Literaturen
Mit 3 Abbildungen
V&R unipress
Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available online: https://dnb.de. This publication was co-financed by the University of Silesia in Katowice. © 2022 by Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen, Germany, an imprint of the Brill-Group (Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Germany; Brill Österreich GmbH, Vienna, Austria) Koninklijke Brill NV incorporates the imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau and V&R unipress. All rights reserved. No part of this work may be reproduced or utilized in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording, or any information storage and retrieval system, without prior written permission from the publisher. Cover image: In der Dichte. © Jakub Pszoniak Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2751-8345 ISBN 978-3-7370-1517-2
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I Polen in den Zeiten der Transformation und danach Małgorzata Krakowiak Das neue Fabulieren in den Werken polnischer Reporter (Wszystkie wojny Lary von Wojciech Jagielski und Synapsy Marii H. von Hanna Krall) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Monika Wiszniowska Polens Transformation nach 1989 und die polnische Reportage . . . . . .
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Elz˙bieta Dutka “The Carpathian State”: Dense Description of the Post-Transformation World in Andrzej Stasiuk’s Fiction (a Reading from the Perspective of Geopoetics) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Paweł Tomczok Literatur des polnischen Gore-Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ilona Copik American Dream or an Existential Nightmare? Polish Cinema in the Times of Transformation on the Myth of the West . . . . . . . . . . . . .
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Jerzy Gorzelik / Wiktoria Tombarkiewicz Das katholische Narrativ über die Nation und das nationale Narrativ über die Kirche. Zur Wechselwirkung der symbolischen Universen in Polen nach 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
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Inhalt
Adam Warzecha Die Säkularisierung der Religiosität, oder wie Religion zur Ideologie wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Mariusz Jakosz Wandel der polnischen Erinnerungspolitik nach 1989
. . . . . . . . . . . 151
Magdalena Popławska Im Spagat zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Polenbild mit den Augen der Enkelgeneration in Sabrina Janeschs Roman Katzenberge . . . 167 Małgorzata Wójcik-Dudek Schule im Umbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
II Transformationen in Russland Grair Magakian Русский мир and… Other Nations . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Jakub Bober Shock Effect. Vladimir Sorokin as a Symbol of Russian Literary Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Jolanta Lubocha-Kruglik Victor Pelevin’s Postmodern Plays and Their Reflection in Translation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Magdalena Kempna-Pienia˛z˙ek In Exile. Ideological and Social Contexts of Andrey Zvyagintsev’s Films . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
III Im Kreise der Balkanländer Mateusz Sokulski Die nicht-nationalistische Anti-Regime-Elite in Serbien angesichts des sich zwischen 1976 und 1984 in Jugoslawien vollziehenden Wandels . . . 263 Katarzyna Majdzik Papic´ Zwischen den Welten. Postjugoslawische Literatur im Spannungsfeld der Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
Inhalt
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Leszek Małczak Verwestlichung – Deslawisierung – Atomisierung. Über polnische Übersetzungen süd- und westslawischer Literaturen nach 1989 . . . . . . 303
IV Im Zwischenraum von Kulturen Aleksandra Kunce Europa als ein Haus der Unterschiede. Die Erneuerung der Idee der Regionalität nach 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Monika Blidy Im Dazwischen. Rózˇa Domasˇcynas Dichten in der „Drittsprache“ . . . . . 353
Einleitung
Die Wende der 1980er und 1990er Jahre war in Europa von Transformationsprozessen geprägt. Obwohl sie in den einzelnen Ländern unterschiedlich verliefen, wurden sie in der Regel als Sieg der demokratischen Ordnung über autoritäre Machtformen interpretiert. Der Fall der Berliner Mauer, der Zusammenbruch der Sowjetunion und die damit verbundene Neugestaltung der politischen Systeme in den Ländern Mittel- und Osteuropas sollten der Beweis für den schwierigen, aber möglichen Weg zur Demokratie sein. Heute, wo wir Populismen verschiedener Art erleben, lohnt es sich, erneut einen Blick auf die Transformationsprozesse der europäischen Gesellschaften zu werfen, die seit Anfang der 1990er Jahre in Mittel- und Osteuropa stattgefunden haben, und ihre literarischen, historischen und kulturellen Zeugnisse zu analysieren, die in den verschiedenen Sprachen der betroffenen Länder des sozialistischen Blocks entstanden sind. Der Schwerpunkt dieses Bandes liegt daher auf Erzählweisen über die Darstellung von Gesellschaften im Wandel und in der Zeit nach der Transformation, auf der kulturellen Symbolik der Zeit des Wandels, auf dem Weg zur Demokratisierung der Kultur, des öffentlichen Lebens und der Institutionen. Im Zentrum des Interesses stehen ebenfalls die Formen der Regionalisierung von Kulturen, der Emanzipation von Sprachen und kleineren Kulturen oder neu entstehende Identitätsdiskurse und ihr Einfluss auf Gesellschaften nach der Transformation. Um den Charakter der Transformationen besser zu verstehen, werden die Beiträge des Bandes in nationalen Konstellationen zusammengestellt. Die Mehrheit der Texte bezieht sich auf Polen, Russland und die Balkanländer; zwei Beiträge greifen das Phänomen des nach 1989/1990 neu definierten Heimatbegriffs sowie der Mehrsprachigkeit auf, die damals aus ideologischen Zwängen befreit wurde. Ein charakteristisches Merkmal der neuen Erzählweise über die Transformationszeit in Polen ist die Verwendung eines konkreten, von den Autoren bevorzugten Genres – der Reportage. Es ist daher kein Zufall, dass die Sprache der Transformation und die mit ihrer Hilfe zum Ausdruck gebrachten Probleme der polnischen Gesellschaft nach 1989 in drei Beiträgen dieses Bandes
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Einleitung
vorgestellt werden. Małgorzata Krakowiak charakterisiert die Reportage der Transformationszeit vor dem Hintergrund der Entwicklung dieses Genres und stellt eine Diagnose ihrer Entwicklung, ihrer thematischen Schwerpunkte und ihrer späteren Rezeption. Aus der dichten Beschreibung polnischer Reportagen hebt sie jedoch ein Thema hervor, das in der damaligen Realität noch wenig Beachtung fand und mit einer gewissen Distanz behandelt wurde – das des islamischen Terrorismus. Monika Wiszniowska vergleicht dagegen das Bild der sog. ‚Helden der Transformation‘ in ausgewählten Reportagen aus den 1990er Jahren anhand der Texte des damals meistgelesenen Pressemediums – der Zeitung „Gazeta Wyborcza“. Paweł Tomczok schreibt über die aufgeschobene Transformation und ihre Opfer, wobei er vom Konzept des Gore-Kapitalismus ausgeht und das Schicksal der von einer neuen Denkweise über den Arbeitsmarkt betroffenen Polen aufzeigt, die sich in den neuen Lebensbedingungen nicht vollständig zurechtfinden können. Elz˙bieta Dutka macht den Leser mit der Prosa von Andrzej Stasiuk bekannt, dessen Gedanken über das Europa nach der Wende 1989/1990 in den Bildern der Karpaten, die Mittel- und Osteuropa miteinander verbinden, festgehalten werden. So verstanden sind die Karpaten eine Brücke zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart dieses Teils von Europa, eine Brücke, die ebenfalls neue Entwicklungsmöglichkeiten für die Zukunft eröffnet. Wenn man über die Transformationsprozesse in Polen nachdenkt, ist es unmöglich, die Integration von westlichen Kulturmodellen zu ignorieren. Für das polnische Kino war ein solcher Bezugspunkt Amerika, über dessen Verherrlichung Ilona Copik schreibt. Im Mittelpunkt ihrer Überlegungen steht nicht nur der Mythos Amerika, sondern auch die Polen und ihre Begegnung mit dem Neuen, die schnell in Abneigung einerseits und Bejahung der eigenen Kultur andererseits umschlägt. In der Monographie wird dem Diskurs über die Probleme mit der neuen / alten polnischen Identität ebenfalls viel Aufmerksamkeit gewidmet. An erster Stelle steht hier die Kategorie der Religiosität versus Nationalität, deren Verflechtungen, Symbole und nationale Kommunikationsformen von Jerzy Gorzelik und Wiktoria Tombarkiewicz analysiert werden. Der Beitrag von Adam Warzecha, der den öffentlichen Diskurs der katholischen Kirche nach 1989, ihre Überzeugungskraft und ihren Einfluss auf die öffentliche Meinung ins Blickfeld rückt, erweitert die von Gorzelik und Tombarkiewicz präsentierten Forschungsergebnisse um eine soziolinguistische Perspektive. Mariusz Jakosz befasst sich dagegen mit dem für die polnischen Transformationsnarrative neuen Erinnerungsdiskurs und verweist auf dessen historisch bedingten Charakter und Befangenheit in stereotypen Vorstellungen. Erinnerung und Gedächtnis beschäftigen ebenfalls Magdalena Popławska, die die Bilder Polens am Beispiel von Sabrina Janeschs Roman Katzenberge aus der Sicht zweier Generationen und Kulturen darstellt. Den Abschluss der polnischen Thematik bildet im Band der
Einleitung
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Beitrag von Małgorzata Wójcik-Dudek, in dem sie den Polnischunterricht an polnischen Schulen nach 1989, seine allmähliche ‚Verarmung‘ und den bewussten (?) Verzicht auf die Vermittlung kritischen Denkens analysiert. Die Zeit des Wandels in Russland veranschaulicht der Beitrag von Grair Magakian, der die politische Doktrin und den propagandistisch ausgerichteten Regierungsstil von Wladimir Putin gründlich analysiert und dabei die ‚kolonisierenden‘ Tendenzen des ehemaligen Sowjetimperiums hervorhebt, die besonders nach dem Überfall auf die Ukraine 2022 wieder manifest wurden. Die darauffolgenden beiden Beiträge stellen Modelle postmodernen Erzählens vor, die einerseits am Beispiel von Wladimir Sorokins Werk der Tradition der realistischen Prosa entstammen (der Beitrag von Jakub Bober), und andererseits bei Wiktor Pelewin sich durch Ironie, Sprachspiel und Intertextualität auszeichnen, was eine Herausforderung für den Übersetzer – Jolanta Lubocha-Kruglik zufolge – darstellt. Am Beispiel ausgewählter Filme von Andrei Swjaginzew zeigt Magdalena Kempna-Pienia˛z˙ek das sowjetische Russland, gemessen an der Grenzenlosigkeit des unbegrenzten Raums, und das Russland nach der Transformation, das in kulturellen und wirtschaftlichen Spannungen seinen Niederschlag findet. Die Veränderungen in den Balkanländern aus der Sicht von emigrierten Schriftstellern sind das Thema des Beitrags von Katarzyna Majdzik Papic´, dessen Fokus sich von Problemen auf deren Ausdruck in den Übersetzungssprachen verlagert, da das Erzählen der Geschichte der postjugoslawischen Länder erst durch den Akt der Translation veranschaulicht wird. Die Frage der Übersetzung und ihre Bedeutung für die Literaturen kleinerer Länder steht ebenfalls im Mittelpunkt des Beitrags von Leszek Małczak, der Werke, die während der kommunistischen Zeit ins Polnische übertragen wurden, einander gegenüberstellt und dabei über die Entstehungsgeschichte, die Schwierigkeiten des Übersetzungsprozesses und die Rezeption nach 1989 reflektiert. Mateusz Sokulski hingegen erinnert uns an die Lebensumstände im ehemaligen Jugoslawien, an die Formen des Widerstands der nichtnationalistischen serbischen intellektuellen Elite und an die neuen Entwicklungsmöglichkeiten, die sich aus diesen Protestformen ergeben. Der Band schließt mit zwei Beiträgen ab, in deren Mittelpunkt die lokale Gemeinschaft steht, die die in den Ländern des ehemaligen sozialistischen Blocks propagierte zentralistische Vorstellung einer ideologisch und sprachlich homogenen Gemeinschaft ablöst. Das Konzept der Lokalität, die Suche nach Verwurzelung und nach neuen Bedeutungen und Symbolen werden von Aleksandra Kunce diskutiert. Das Entstehen einer neuen Gemeinschaft auf der Grundlage einer Minderheitensprache wird in Monika Blidys Analyse von Gedichten der sorbischen Dichterin Rózˇa Domasˇcyna erörtert.
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Einleitung
Die in diesem Band vorgestellten Beiträge stellen natürlich keine umfassende Behandlung des Problems der literarischen, kulturellen und historischen Aufzeichnungen der Transformationsprozesse von mittel- und osteuropäischen Gesellschaften dar, sondern weisen nur auf ausgewählte Themen hin, die das Ergebnis von Forschungsarbeiten sind, die an den Instituten für Literatur-, Kultur- und Religionswissenschaft, Kunstgeschichte und Geschichte der Fakultät für Geisteswissenschaften der Schlesischen Universität in Katowice / Polen durchgeführt wurden. Die Dynamik der Ereignisse in den letzten Jahren lässt vermuten, dass die Reflexion über die Veränderungen der 1980er und 1990er Jahre sowohl im öffentlichen Diskurs als auch in der wissenschaftlichen Forschung weiterhin präsent sein wird und der vorliegende Band zum Impuls für weitere wissenschaftliche Untersuchungen werden kann. Renata Dampc-Jarosz und Anna Kałuz˙a
I Polen in den Zeiten der Transformation und danach
Małgorzata Krakowiak (Schlesische Universität in Katowice)
Das neue Fabulieren in den Werken polnischer Reporter (Wszystkie wojny Lary von Wojciech Jagielski und Synapsy Marii H. von Hanna Krall) Weihte mich in alles ein und gäbe mir mit dem Blick doch zu verstehen, daß ich das Allerwichtigste nie begreifen würde. […] Ich käme nicht auf den Gedanken, daß der Relativismus, der die Wahrheit wie Rost dort zerfrißt, wo ihr die eine tödliche Gefahr nicht droht, in den totalitären Ländern ganz verschwindet.1 Adam Zagajewski
1 Wie soll man über den Krieg, über den Totalitarismus schreiben? Welche Mittel sollte man gebrauchen, um eine traumatische Erfahrung adäquat auszudrücken? Diesen Fragen auf den Grund zu gehen, wurde nicht einmal versucht; und sie wurden gerade dann intensiv verhandelt, wenn sich die Wirklichkeit dramatisch zuspitzte. In den 1990er Jahren bezeichnete Sigmund Zia˛tek das damals ausgehende Jahrhundert als das „Zeitalter des Dokuments“. Dabei ging er auf das Wechselverhältnis von Dokumentarizität und Literarizität ein: Der Prozess des Verschwindens der Opposition von „Dokument“ und „Literatur“ kann wahrscheinlich als abgeschlossen angesehen werden. Schließlich ist es an der Tagesordnung, den Sinn literarischer Werke als unwillkürliche Dokumente ihrer Zeit zu entschlüsseln und Dokumente jeglicher Art als unwillkürliche Literatur zu lesen […]. Die Dynamik der Opposition von „Dokument“ und „Literatur“ hat sich erschöpft; dies schließt und grenzt auf eine natürliche Art und Weise diese Periode des Dokumentarismus ab, die mit dem Auftauchen jener Opposition im Programm der französischen Naturalisten eingesetzt hat. Deren Lebendigkeit erwies sich als ein gemeinsames
1 A. Zagajewski: Die hohe Mauer. In: Ders.: Solidarität und Einsamkeit. Essays, aus dem Poln. übers. v. O. Kühn. München / Wien 1986, S. 39–86, hier S. 40f.
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Małgorzata Krakowiak
Merkmal aller Phänomene, die den Dokumentarismus des 20. Jahrhunderts ausmachen; daher regt ihr Verschwinden dazu an, Bilanz zu ziehen.2
Die von Zia˛tek gemachten Überlegungen beziehen sich sowohl auf die Bedeutung, die das 20. Jahrhundert für die Entwicklung der dokumentarischen Schreibweise hatte, als auch auf die Richtung der Evolution jener Schreibweise selbst. Jene Evolution steuerte der Literatur zu, oder, um es anders auszudrücken, der Aufhebung der Differenzen zwischen dem Literarischen und Dokumentarischen. Hat sich diese Dynamik aber tatsächlich erschöpft? Dies scheint nicht der Fall zu sein, zumal es in den letzten Jahren immer mehr interessante Beispiele dafür gibt, dass Reportagetexte erneut romanhafte Formen annehmen. Als Beleg sind die Werke ausgezeichneter polnischer Reporter Synapsy Marii H. von Hanna Krall (2020) und Wszystkie wojny Lary von Wojciech Jagielski (2015) zu nennen. Ausschlaggebend ist für sie die folgende These von Dorota Heck: Ein Schlüsselphänomen der zeitgenössischen Literatur ist die Synergie zwischen der breit aufgefassten Ästhetik und der Belletristik. Es kommt vor, dass Publizisten, Reporter, Journalisten sich dafür entscheiden, die Form belletristisch zu verarbeiten, in der sie ihre Hypothesen, Diagnosen und Beobachtungen ausdrücken. […] Heute ist es an der Zeit, den Synergieeffekt zwischen den Spuren der umstrittenen genologischen Abgrenzungen zu akzentuieren.3
Bevor man die erwähnte Synergie – in diesem Fall geht es um eine Synergie der literarischen Reportage und des realistischen Romans – herauszuarbeiten beginnt, lohnt es jedoch, kurz auf die Tendenzen einzugehen, die die Gestalt der genannten Werke geprägt haben. Welche Transformationen lassen sich hiermit diagnostizieren? Zia˛tek hat die Bedeutung des Programms der Naturalisten für die Entwicklung des modernen Dokumentarismus richtig erkannt. Es muss jedoch angemerkt werden, dass AutorInnen „seit Menschengedenken“ vorhandenes thematisches Material verwendet haben, darunter all das, was sie selber erdachten, aber auch das Erlebte und Gesehene. Entscheidend war die (ausgebliebene) Verarbeitung dieses Materials. Solange ein klassifizierendes und normatives Denken die Literatur beherrschte, hatten die nicht der Konvention gemäß zugeschliffenen „Dokumente“ kein Recht, in das Reich der Literatur einzutreten. Sie wurden nun an den Rand der Kultur gedrängt und nahmen einen Platz neben „Gelegenheitsgedichten“ ein, die weder eine klare Thematik noch eine bestimmte Form hatten.
2 Z. Zia˛tek: Wiek dokumentu. Inspiracje dokumentarne w polskiej prozie współczesnej. Warszawa 1999, S. 6f. 3 D. Heck: Genologiczne synergie. O eseistyce i beletrystyce w drugim dziesie˛cioleciu XXI wieku. Lublin 2020, S. 5f.
Das neue Fabulieren in den Werken polnischer Reporter
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Die Menschen waren immer schon an der Welt interessiert, und je weiter entfernt diese lag, desto interessanter war sie; man schrieb und las gern darüber, ohne sich bloß nach einem ästhetischen Bedürfnis zu richten. Es ist allgemein bekannt, dass bereits in der grauen Vorzeit Werke verfasst wurden, die aus dem Erkenntnisdrang heraus entstanden sind. Es reicht hier auf das Werk Ambasada do Tamerlana hinzuweisen, das eine detailreiche Chronik der Reise kastilischer Botschafter nach Asien Anfang des 15. Jahrhunderts darstellt.4 In nationalen Literaturen gab es epochenübergreifend eine Vielzahl unterschiedlich gearteter Reiseliteratur, um hier nur die romantische Reise in Andalusien von Teofil Gautier oder Briefe aus Amerika des Positivisten Henryk Sienkiewicz zu nennen. Für wissbegierige Leser sowohl von damals als auch von heute waren und sind diese Werke eine äußerst interessante Lektüre. Und immer noch stoßen sie auf ein Interesse seitens der Forschung. Dorota Kozicka stellt dazu Folgendes fest: Die Reiseerzählung funktioniert ja als eine literarische Form mit einer langen Tradition und sie wird als solche im gesamten europäischen Raum anerkannt. […] Die Gattungsunschärfe dieser Texte, die sich aus der Überschreitung der Gattungsgrenzen ergibt – beibehalten wird dabei das Thema als ein explizites, gattungskonstitutives Merkmal, das sich auf die Reise als ein dem Text äußerliches Faktum sowie die anschließende Aufzeichnung eigener Erfahrungen fokussiert – hat die Flexibilität dieser Form geprägt und verursacht, dass sie immer noch trag- und modifikationsfähig ist.5
Die Digression über die Wechselbeziehung zwischen dem Dokumentarischen und Fiktionalen in der Literatur sowie über deren Wertung hatte zum Ziel, in die Reportage-Literatur einzuführen. Ich habe hier die Formulierung „ReportageLiteratur“ verwendet, die heute wohl erst dann – wenn überhaupt – auffallen wird, wenn man den stilistischen Zusatz, die unnötige Redundanz, bemerken wird. Vor einem Jahrhundert, als die Reportage sich zu etablieren begann, wäre diese Bezeichnung aus einem anderen Grund umstritten gewesen. Es gibt hier keinen Platz für die Rekonstruktion der Anfänge und der Entwicklung der Reportage; dies hat übrigens Monika Wiszniowska in einer umfassenden Arbeit über die polnischen Beispiele dieser Literaturgattung getan.6 Erwähnenswert sind nur noch die bereits 1934 formulierten Vorbehalte von Ignacy Fik, einem programmatischen Literaturkritiker:
4 Vgl. im deutschsprachigen Raum: Clavijos Reise nach Samarkand 1403–1406. Aus dem Altkastilischen übersetzt und mit Einleitung und Erläuterungen versehen, übers. u. hrsg. v. U. Lindgren. München 1993 [Anm. der Übers.]. 5 D. Kozicka: We˛drowcy ´swiatów prawdziwych. Dwudziestowieczne relacje z podróz˙y. Kraków 2003, S. 14f. 6 Siehe: M. Wiszniowska: Zobaczyc´ – opisac´ – zrozumiec´. Polskie reportaz˙e literackie o rosyjskim imperium. Katowice 2017. Vgl. meine Besprechung: M. Krakowiak: Rosja widziana przez pryzmat polskiego reportaz˙u literackiego. In: „Studia Rossica Gedanensia“ 6 (2019), S. 261–264.
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Małgorzata Krakowiak
Die Reportage ist keine eigentliche Literatur […]. Die Reportage entsteht als Ausdruck der Ohnmacht an der Stelle einer konstruktiven Literatur, einer Literatur mit These und Tendenz. Die Reportage ist ein Ersatz. Sie ersetzt die Literatur. Bevorzugt wird die Reportage von Schriftstellern, welche nichts von sich zu sagen haben, die auf das Schaffen, den Bau, die Mühe der Gestaltung, des Kampfes, verzichtet haben. […] Als eine unmittelbare Darstellung eines Lebensabschnitts schließt die Reportage, entsprechend ihrer Natur, die Vermittlung des Künstlers aus.7
Es versteht sich von selbst, dass heutige Reportage-Kenner gegen eine solche Auffassung der Reportage vehement polemisieren würden. Fik bezog sich nämlich auf Äußerungen, die gleichsam direkt, wie es Zia˛tek in dem angeführten Zitat darstellte, „aus dem Programm der französischen Naturalisten“ stammten; es waren nämlich Aufnahmen einer texttranszendenten Realität, deren künstlerische Bearbeitung ausgeblieben war. Hier gab es keinen Platz für eine Reflexion über das „Literarische“ und „Dokumentarische“. Mehr noch: die Literatur als solche kam überhaupt nicht in Erwägung! Was also schrieben und publizierten Melchior Wan´kowicz, Arkady Fiedler oder Ksawery Pruszyn´ski? Eine theoretische Lösung dieses Dilemmas stellte das Konzept von Stefania Skwarczyn´ska dar, die den Mut hatte, explizit zu behaupten, dass es neben der schöngeistigen Literatur eine angewandte Literatur gebe, die in erster Linie ein praktisches Ziel verfolge und eben diesem Ziel das Künstlerische untergeordnet werden solle. Auf diese Weise erlangten Memoiren, Tagebücher, Essays, Feuilletons und Reportagen Anfang der 30er Jahre endlich literarische „Bürgerrechte“, obzwar sie nicht fiktional waren.8 Es lohnt auch, noch an eine, heute leider längst vergessene, Tatsache zu erinnern. Schon während der Okkupation Polens durch Hitlertruppen prognostizierte nämlich der Literaturkritiker Kazimierz Wyka (nach dem Krieg war er Erzieher und Lehrer vieler Generationen von Polonisten), dass angesichts eines ungeheuerlichen Kulturwandels, der durch den Krieg verursacht wurde, die literarische Zukunft der Lyrik und der Erzählung, aber auch der Reportage angehören wird. Warum? Denn mit diesen Formen lassen sich authentische Zeugnisse ablegen und Versuche unternehmen, die Welt aufs Neue zu verstehen und nach dem Ort des Menschen in dieser Welt zu fragen. Im Jahre 1942 machte Wyka eine interessante Bemerkung: Eine gute Reportage, und an solchen hat es in Polen nicht gefehlt, übernahm bereits vor dem Krieg die Funktion eines heiß geschmiedeten Realismus, dem der Roman nicht gewachsen war. Sie übernahm diese Funktion und wird sie sicher angesichts des Kriegserlebnisses mit einem ähnlichen Erfolg übernehmen, denn hier ist der Realismus 7 I. Fik: O reportaz˙u. In: Ders.: Wybór pism krytycznych. Warszawa 1961, S. 4f. 8 Siehe: S. Skwarczyn´ska: Szkice z zakresu teorii literatury. Lwów 1932. Vgl. M. Krakowiak: Mierzenie sie˛ z esejem. Studia nad polskimi badaniami eseju literackiego. Katowice 2012, S. 172, 177.
Das neue Fabulieren in den Werken polnischer Reporter
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kein Schein, keine Staffage und keine Romanfiktion, welche einen unbestimmten Kern verhüllt, sondern ein Stoff, an dem momentan die Aufmerksamkeit und die Persönlichkeit des Schreibenden geprüft wird. Ja, es geht um die Persönlichkeit. Eine gute Reportage verlangt nach einer vollkommenen Persönlichkeit; sie ist da näher der Oberfläche der Dinge, ist leichter für den Leser zu spüren, zu überprüfen und unbarmherzig zu entblößen als in den Verwicklungen des Romans. Eine wahre Reportage ist im künstlerischen Sinne ein ehrliches Phänomen, weil sich der Schreibende und Lesende – mittels der Realität – auf eine schlichte Art und Weise treffen können.9
Dieser umfassende Auszug aus einem Text des Vertreters der Generation 1910 ist hier nicht bloß dazu angeführt worden, um Fiks Urteil mit einem anderen zu kontrastieren. Wykas Erkenntnisse sollen nämlich den Bezugspunkt für die Werke von Wojciech Jagielski und Hanna Krall bilden, welche ebenfalls Grenzund Kriegserfahrungen problematisieren. Es müssen hier aber einige Aspekte unterstrichen werden: Wyka verfasste seinen Aufsatz mitten im Krieg, welcher bereits seit drei Jahren wütete, immer noch eskalierte und immer mehr unfassbare menschliche Eigenschaften ans Licht brachte. Wenn er darüber reflektierte, was für eine Literatur den neu entstehenden Themen gerecht sein würde, kam er zu der Erkenntnis, dass solch eine Literatur ehrlich – im künstlerischen Sinne – sein müsse: Sie habe von Tatsachen zu berichten und ein persönliches Zeugnis abzulegen – und dazu sind gerade Lyrik, Erzählung und Reportage fähig. Und unter einer „guten Reportage“ verstand er wohl eine solche, die man heute als eine literarische (so etwa in der Dissertation von Wiszniowska) oder eine essayistische bezeichnet. Denn er betonte ausdrücklich die Rolle der schöpferischen Persönlichkeit: den individuellen, weltanschaulichen und künstlerischen Stempel, den der Autor seinem Werk aufdrückt. Aus heutiger Perspektive kann man hier noch etwas hinzufügen: Wykas Prognose über die Karriere der Reportage nach dem Krieg hat sich nämlich bewahrheitet und dies im Übermaß. Diese populäre Gattung hat sich weiterentwickelt, und es gibt sie heute in diversen Subgattungen, die entweder einen literarischen oder genuin publizistischen Charakter haben. In Nachschlagewerken zur Gattungstheorie findet man diesbezüglich klare Hinweise: „[…] im Journalismus dominieren sparsame, einfache Formen, die sowohl durch die Ausdrucksmittel determiniert sind, in denen sie funktionieren, als auch durch ökonomische Faktoren selbst.“ Oder: „Das charakteristische Merkmal der Reportage ist die Darstellung einer objektiven Wirklichkeit: Ein beobachtender Erzähler beschreibt die Wirklichkeit mit Distanz, wobei sein Ziel darin besteht,
9 K. Wyka: Pies´n´ i dzieje. „Teksty“ 6 (1976), S. 145–154, hier S. 150f. Der Artikel wurde nach Wykas Tod (1910–1975) in der Monatsschrift „Teksty“ publiziert; in dieser Fassung wurde dieser früher nicht veröffentlicht. Einige Auszüge wurden von dem Autor nur der Skizze O ´swicie hinzugefügt, an der er damals (im August 1942) arbeitete.
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Małgorzata Krakowiak
eine zuverlässige Auskunft zu vermitteln.“10 Und in einer anderen Quelle heißt es: „Hauptmerkmale der klassischen Gattung (die dem Fünf-GrundfragenSchema: wer?, wo?, wann?, wie? und warum? folgt) sind: Dokumentarismus, Authentizität, Glaubwürdigkeit, und, am häufigsten, die Aktualität der dargestellten Inhalte.“11 Wenn man solche Hinweise gelesen hat, kann man versuchen, Reporter zu werden. Hat diese scheinbare Leichtigkeit und Zugänglichkeit der Form dazu beigetragen, dass sich Wykas Prognosen erfüllt haben? Selbstverständlich ist dies eine falsch formulierte Frage. Die Reportagen, die Wyka im Sinn hatte, sollten ja das Ergebnis der Mühe sein, die man sich gab, um jene Fragmente einer früher nicht vollstellbaren Wirklichkeit12 richtig zu diagnostizieren, deren Zeuge und/oder Teilnehmer der Autor und Reporter zugleich war. Wie sollte man diese Krise der europäischen Kultur verstehen, wie sie der Zweite Weltkrieg darstellte, deren Ursachen, Folgen und Konsequenzen? Auf welches Werteparadigma und wie sollte hier zurückgegriffen werden? Dies waren eben Grund- und „Ausgangsfragen“, die sich die Künstler damals stellten. Es wäre in der Tat unangebracht gewesen, mit epischen Großformen zu prahlen. Man sollte hier eher zurückhaltend sein. Das genau war Wykas Gedankengang. Er hat es nicht erklärt, wie man Reportagen schreiben soll. Er mutmaßte vielmehr, dass eine behaviorale Prosa und das persönliche Zeugnis eine angemessene Antwort auf den Krieg und die Okkupation liefern würden. Es war ihm nicht unbehaglich, wie etwa früher Fik, dass die Reportage „die Vermittlung des Künstlers ausschließt“ und lediglich ein ungeschliffener Stoff sei. Andere äußere Bedingungen verlangten nach einer anderen Schreibweise. Da ich Wykas Erkenntnisse in Bezug auf die Reportage genügend gewürdigt habe, will ich diese nun um einige Überlegungen zu seinem Konzept des Realismus ergänzen. Es fragt sich, warum ein Literaturkritiker, der vor dem Krieg die realistische Prosa befürwortete und ein Programm einer breit verstandenen realistischen Literatur13 für seine literarische Generation aufstellte, das nach dem Krieg in Kraft treten sollte, die künstlerische Wirkungskraft des Realismus in Zweifel zog, und dies gerade in dem Moment, als sich ein weltanschaulicher Kritizismus herauszukristallisieren begann. Die Antwort lautet: Falschen Fuffzigern fällt es am leichtesten, die Maske des Realismus aufzusetzen. Und solche Leute setzen sie am liebsten dann auf, wenn ein unerwartetes Thema – bei einer kleinen Dosis an Beobachtungsgabe, welche am häufigsten und am fälschlichsten als 10 P. Potrykus-Woz´niak: Słownik nowych gatunków i zjawisk literackich. Bielsko-Biała 2010, S. 220, 215. 11 M. Bernacki, M. Pawlus: Słownik gatunków literackich. Bielsko-Biała 2002, S. 611. 12 Hier paraphrasierte ich eine Aussage von Timothy Snyder. Siehe: Ders.: O tyranii. Dwadzies´cia lekcji z dwudziestego wieku, übers. v. B. Pietrzyk. Kraków 2017, S. 103. 13 Siehe: M. Krakowiak: Katastrofizm – personalizm – realizm. O krytyce literackiej Kazimierza Wyki w latach 1932–1948. Kraków 2001, S. 280–305.
Das neue Fabulieren in den Werken polnischer Reporter
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Realismus aufgefasst wird –, das eigene künstlerische Verdienst zu mystifizieren erlaubt, indem es dazu das Verdienst des Stoffes selbst missbraucht.14
Das Problem waren also nicht die Voraussetzungen der künstlerischen Methode selbst, sondern die Vermutung, dass es parallel mit dem Wandel der Weltbeschaffenheit nicht möglich sein wird, repräsentative Figuren zu kreieren, welche im Rahmen einer umfassenden Romanhandlung agieren würden. Das Dokumentieren sollte vor der Fiktionsbildung Vorrang haben. Die Kriegskatastrophe hat die Entwicklung der Reportage nicht verhindert. Es war tatsächlich, wie Zia˛tek das 20. Jahrhundert nannte, das „Zeitalter des Dokuments“. Es sind publizistische Texte entstanden sowie solche, die mehr universelle Ambitionen hatten. Die Reportage wurde wohl das wichtigste polymediale Genre: Den Reportern stand ja nicht nur das Wort zur Verfügung, sondern auch alle zugänglichen audiovisuellen Kommunikationsmittel. Angesichts u. a. dieser qualitativen Veränderungen schlug Ende des 20. Jahrhunderts Edward Balcerzan vor, die bestehende Gattungsordnung als ungenügend zu revidieren, wobei er forderte, dass gerade die „Intention des Reporters“ als eine der drei Kategorien der kulturellen Kommunikation gelten sollte.15 Dabei führte er aus, dass sich jene Intention zwischen zwei widersprechenden Grundsätzen verorten lässt: Der eine Grundsatz setzt voraus, dass es eine unumstritten objektive, faktische Wirklichkeit gibt, welche eine mitteilbare Wahrheit (über sich selbst) enthält […], der andere ist durch den Verdacht verseucht, dass die Wahrheit diversen Deformierungen unterliegt, wenn sie den Weg von der Tatsache zum Text durchläuft […]. Daraus ergibt sich, dass die „Reportage“ (oder der „Bericht“) der Entropie entgegenwirken muss.16
2 Dieses Übermaß an literaturgeschichtlichen und -theoretischen Informationen muss geordnet werden. Den Gegenstand des vorliegenden Artikels bildet die geschriebene Reportage, die als eine spezifische wandelbare literarische Gattung betrachtet wird. Es soll hier an die anfangs zitierte These von Zia˛tek erinnert werden: Gegenwärtig seien die theoretischen Diskussionen über die Opposition von Dokument und Literatur nicht mehr gültig. Tatsächlich lässt sich heute kaum noch von solch einer Opposition sprechen, zumal es seit Ende der 1970er Jahre 14 Wyka, Pies´n´ i dzieje, (Anm. 9), S. 149. 15 Siehe: E. Balcerzan: W strone˛ genologii multimedialnej. In: „Teksty Drugie“ 6 (1999), S. 7–24. Bei den zwei anderen „Intentionen“ handelt es sich um die essayistische und die feuilletonistische. 16 Ebd., S. 21.
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ein umfassendes Konzept der Literarizität von Stanisław Da˛browski gibt.17 Ich schlage vor, hier nur einen Aspekt dieser Fragenstellung zu verfolgen: die Variabilität des Wechselverhältnisses von Reportage und fiktionaler Prosa. Im ersten Teil des vorliegenden Aufsatzes habe ich an die Etappen der Verfestigung der Reportage im Bewusstsein der Kritiker und Forscher erinnert. Mit der Zeit gewannen die Texte der Reporter immer mehr an Popularität. Relativ kurze, klar formulierte Aussagen über die Welt und die Menschen, die in der Presse gedruckt wurden (ich vereinfache hier diese Definition bewusst) befriedigten die Bedürfnisse der Leser. Lag der einzige Grund dafür wohl darin, dass sie nicht elitär waren? Es mag eher eine der Ursachen sein. Wenn man aber die Entwicklung der Reportage im 20. Jahrhundert vor einem breiteren literarischen Kontext betrachtet, und zwar vor dem Kontext der Tendenzen innerhalb der Prosagattungen selbst, wird man noch eines anderen Grundes gewahr. Zur Darstellung dieser Tendenzen will ich nun ein stark vereinfachtes Schema verwenden. Erstens. Gleich nach dem Krieg wurden Erzählungen veröffentlicht, welche oft lapidar, emotionsarm und zurückhaltend waren. Mit viel Sympathie äußerte sich der bereits erwähnte Wyka über die Werke von Kornel Filipowicz: Die Prosagattung, der Filipowicz treu ist, ist sehr nahe an einer damals nur noch zu erahnenden Prosaform situiert, wie sie sich der Realismus wünscht, und welche sich in den Postulaten und Bedürfnissen der individuellen Stile der Nachkriegszeit bemerkbar machte und nur schwer an einem konkreten Stoff nachweisbar war. Diese Gattung zeigt sich den Nebenaufgaben der Romanprosa – der Beschreibung, dem Lyrischen und Poetischen – am wenigsten dienlich. Wohl aber deren Hauptaufgaben: der Wahrheit über den Menschen als einer Wahrheit über seine Epoche.18
Das Zitat entstammt der literaturkritischen Abhandlung Wszystkie lata okupacji [Alle Jahre der Okkupation], die zuerst in der Wochenschrift „Odrodzenie“ und anschließend in dem literaturkritischen Werk unter dem vielsprechenden Titel Pogranicze powies´ci [Grenzland des Romans] publiziert wurde. Die im Titel erwähnten Begrifflichkeiten verdienen besondere Beachtung: Die Literaturlandschaft soll zunächst nun nicht mehr von epischen Großformen, sondern von Werken bevölkert werden, die sich an der Grenze zur erzählenden Prosa, zum Dokumentarbericht, vielleicht auch zu irgendwelchem axiologischen Parergon situieren ließen. Wyka führt hierfür Filipowicz an: Was nutzt es, wenn ich Menschen beschreibe: Frauen, Männer und Kinder oder auch deren kleinliche Reflexe kurz vor ihrem Tod; oder die Hass- und Neidausbrüche, die es nicht mehr miterleben konnten, verachtet zu werden; oder die Selbstbeherrschung und
17 Siehe: S. Da˛browski: Literatura i literackos´c´. Zagadnienia, spory, wnioski. Kraków 1977. 18 K. Wyka: Pogranicze powies´ci. Kraków 1948, S. 143.
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das Heldentum, die nur deswegen das Selbstloseste in der Welt waren, weil sie bald mit diesen sterben sollten, welche sie erlebten, sowie mit jenen, die sie zeigten.19
Diese Passage, in der auf eine detailreiche Darstellungsweise verzichtet wird, soll bei der Lektüre von Wszystkie wojny Lary und Synapsy Marii H. im Auge behalten werden. In den nachfolgenden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entwickelten sich zweitens auch noch andere Genres der angewandten Literatur, darunter das Feuilleton und der Essay.20 Es handelt sich um Ausdrucksformen, die mit der Reportage wesensverwandt sind: Die Erste zeichnet sich (selbstverständlich im Sinne eines Modells) durch größere Flüchtigkeit und Zufälligkeit aus als die Reportage, die Zweite dagegen ist aufgrund der anvisierten Thematik und deren anspruchsvolleren Umsetzung elitärer. Die dritte Tendenz stellt gleichermaßen die Fortsetzung und das Ergebnis der früheren Tendenzen dar: Die Kritik verzeichnete nämlich bereits Jahre zuvor eine „Krise des Romans“21: gemeint war ein Wandel, von dem die längeren erzählenden Formen betroffen waren. Tomasz Burek eruierte dieses Problem bereits 1973 in einem in der Monatsschrift „Odra“ veröffentlichten Artikel unter dem vielsagenden Titel Powies´´c utajona [Der verborgene Roman]. Er wies darauf hin, dass sich die traditionellen Erzählformen erschöpft und die Autoren selbst sie satt hätten; dafür drangen verstärkt der Intimismus und Essayismus, das Poetische und gesellschaftlicher Kritizismus in den Roman ein.22 Diese neuen „Überromane“ stellten für die Leser eine neue Herausforderung dar, sie luden zuweilen zu einer – meist intellektuellen – Reise ein. Viertens. Seit einem halben Jahrhundert (in Polen ist diese Periode um zwei Jahrzehnte kürzer) wird den Literaturrezipienten ein postmodernes Spiel mit/ von Konventionen vorgeschlagen. Literaturkritische Abhandlungen wollen in den Lesern die Überzeugung von der Fluktuation und Relativität der Welt bekräftigen, sie machen ihnen bewusst, dass alles konventionell und unwirklich ist. Ereignisse, Geschichte, Regeln. Clifford Geertz spricht in diesem Zusammenhang von „verwischten Gattungen“ (blurred genres), und verkündet dabei (zehn Jahre dem Artikel von Burke über den „verborgenen Roman“) das Folgende: […] die Position des Humanisten als Kettenhund der hohen Kultur ist ins Wanken geraten. Es zieht sich sowohl der gefühllose Fachmann zurück, der Wundermittel gegen 19 K. Filipowicz: Z kraju milczenia. Zit. nach: ebd., S. 142. 20 Diese Frage, die sich wegen der ein halbes Jahrhundert andauernden Einteilung der polnischen Nachkriegsliteratur in eine Literatur der Dagebliebenen und der Emigranten verkompliziert, analysierte ich eingehender in Mierzenie sie˛ z esejem sowie in der Anthologie Antologia polskiego eseju literackiego (Katowice 1998). 21 Siehe: M. Krakowiak: O obowia˛zku szukania. Wybory ´swiatopogla˛dowe polskich pisarzy z XX stulecia. Łomianki 2018, S. 56–79. 22 Siehe: T. Burek: Powies´c´ utajona. In: Ders.: Z˙adnych marzen´. Warszawa 1989, S. 131–142.
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politische Schmerzen verteilte, als auch der Weise auf der Kanzel, welcher abgedroschene Wahrheiten mitteilt. Es fällt heute nicht gerade leichter, die Relation von Gedanke und Tat in den Kategorien der Weisheit zu ergründen als in den Kategorien einer Expertise.23
Fünftens. Um das Schema der Tendenzen bzw. der Strömungen in der Prosa des 20. Jahrhunderts zu vervollständigen, muss man auch das Folgende konstatieren: Der Markt füllt sich mit populärer Literatur. Es handelt sich hierbei um extrem formatierte Romanzen, Kriminalgeschichten und eine neue Inkarnation der Gespenstergeschichten, Fantasy also, die heute erfolgreich mit Science-Fiction konkurriert. Auch wenn der Leser so viele unterschiedliche Angebote erhält, nicht selten mit der Information, er selbst sei de facto ihr (Mit-)Schöpfer, so scheint es doch, dass eine seiner Erwartungen doch nicht völlig befriedigt wird. Die modernen Prosagattungen stellten nämlich keine Erklärungs- und Verständnismodelle der Welt sowie der Realität dar, denen der Mensch zugehörig ist und die ihn betreffen. Diese paradoxerweise leere (angesichts der Fülle anderer Texte) Stelle füllen eben die Autoren von Reportagen. Sie tun dies auf vielfache Art und Weise. Die erste Variante einer Reportage lässt sich wie folgt charakterisieren: Man beschreibt, wo man war, was man sah und was einen überraschte. Die zweite Variante: Man beschreibt, wo man war und was man sah, aber lakonisch, ohne dem Leser seine nicht verifizierbaren Eindrücke aufzuzwingen. Die dritte Variante: Man beschreibt, wo man war und was man sah und versucht dabei, soweit möglich, die Ursache und die Folge des Beobachteten zu erklären, eine eigene Interpretation wichtiger Ereignisse vorzuschlagen, an denen man gleichermaßen mit dem Leser beteiligt ist. Es ist nicht verwunderlich, dass die so konzipierte Reportage nicht nur bei den „gewöhnlichen“ Lesern und damit auch bei Autoren und Verlegern an Beliebtheit gewinnt, sondern auch mit prestigeträchtigen Preisen, darunter dem Literaturnobelpreis 201524, geehrt wird. Während sich im 20. Jahrhundert die schöngeistige Literatur dokumentarischen Ausdrucksformen annäherte, ist bereits zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine umgekehrte Tendenz zu beobachten – die Reportage wird wieder zur Literatur (aber nicht mehr in der angewandten Variante). Dies gilt natürlich nicht in jedem Falle. Oft handelt es sich dabei um eine wiederbelebte Reiseliteratur von mittlerer Qualität. Es kommt jedoch vor, dass herausragende Reporter beschließen, den Rahmen der bisher praktizierten 23 C. Geertz: O gatunkach zma˛conych (Nowe konfiguracje mys´li społecznej), übers. v. Z. Łapin´ski. In: Postmodernizm. Antologia przekładów, hrsg. v. R. Nycz. Kraków 1997, S. 214–235, hier S. 235. 24 Die Trägerin dieses Preises ist die auf Russisch schreibende Belarussin Swetlana Alexijewitsch.
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Schreibpraxis zu sprengen und neue Genreformen der Reportage zu praktizieren, die einem mehrsträngigen Roman immer näher kommen. An dieser Stelle sei an Ireneusz Opackis polytypisches Modell der Gattung erinnert. Diesem Konzept zufolge nimmt eine Gattung im Laufe der Zeit die Merkmale der emblematischen Gattung einer bestimmten literarischen Strömung an und wird ihr ähnlich; es entsteht eine neue Gattungsform, die sich von den früheren unterscheidet.25 Dieser Gedanke erweist sich in seiner grundlegenden, modellhaften Bedeutung auch für die Analyse der Reportage als nützlich: Galt nun der literarische Essay als die dominante Gattung, so konnte man auch eine Essayisierung der Reportage beobachten; dies kam u. a. in Ryszard Kapus´cin´skis Imperium: sowjetische Streifzüge und Afrikanisches Fieber: Erfahrungen aus vierzig Jahren zum Ausdruck. In der jüngsten Literaturproduktion spielen Biografien eine große Rolle – und gerade biographische Merkmale durchdringen Werke, die einer eingehenderen Betrachtung wert sind, selbstredend nicht bloß aus diesem einen Grund. Es handelt sich um Wszystkie wojny Lary von Jagielski (nota bene aus der „Kapus´cin´ski-Schule“ stammend), und Synapsy Marii H. von Hanna Krall.
3 Die Analyse der Bücher von Jagielski und Krall muss mit einer Rekapitulation des bisher Gesagten beginnen. Weltreisen und Begegnungen mit Menschen stellen seit langem eine Quelle von Nachrichten dar, die Autoren weitergeben wollen und für die sie ein bereitwilliges Publikum finden. Angesichts unvorstellbarer Katastrophen (wie der Zweite Weltkrieg) werden Künstler mit einem ethischen und künstlerischen Dilemma konfrontiert, mit der Frage nach einer angemessenen Ausdrucksweise; oft greifen sie dabei auf die Form eines dokumentierten Berichts, d. h. auf die Reportage oder aber auf die behavioristische Erzählung zurück; die Reportage hat sich im Laufe der Jahre verändert und Merkmale der gerade in der Literaturproduktion dominanten Gattungen angenommen, wie der literarische Essay und in jüngerer Zeit auch die Biographie. Dies betrifft natürlich hauptsächlich literarische bzw. essayistische Reportagen. Wszystkie wojny Lary und Synapsy Marii H. sind Bücher von hervorragender Qualität, verfasst von Meistern der polnischen Reportage. Es sind jedoch keine Reportagen, oder besser gesagt: Es sind keine Reportagen mehr. Hanna Krall leitet nämlich Synapsy Marii H. mit einem autothematischen Kommentar ein: „Es ist eine Erzählung [Hervor. von M.K.] über das Erinnern und Nicht-Erinnern 25 Siehe: I. Opacki: Krzyz˙owanie sie˛ postaci gatunkowych jako wyznacznik ewolucji poezji. In: Polska genologia literacka, hrsg. v. D. Ostaszewska, R. Cudak. Warszawa 2007, S. 92–114.
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von Maria Twardoke˛s-Hrabowska (auf der Grundlage von Hunderten, vielleicht Tausenden ihrer Briefe an mich und an Maria Hrabowska (auf der Grundlage ihrer Memoiren).“26 „Reportagetypisch“ ist hingegen in beiden Fällen die Ausgangsposition: Die Reporter finden ein Thema, sammeln Material, dokumentieren und verfassen Texte. Was sind das für Texte? Was verbindet sie? In gewisser Weise ist ihnen ein Thema (genauer gesagt: eines der Themen) gemeinsam, und zwar das tagesaktuelle, aussagekräftige und umfassend dargestellte Problem des islamischen Terrorismus. Die beiden Bücher verbindet auch das Anliegen, sich nicht bloß auf das Dokumentieren einer Erzählung zu beschränken (auch wenn es durch eine Charakterisierung des Hintergrundes ergänzt wird). Die Autoren behandeln die Biografien realer Protagonistinnen als Vorlage für mehrsträngige Geschichten über komplexe Probleme der heutigen Welt, über Ereignisse, die für uns, für unseren historischen Moment, konstitutiv zu sein scheinen. Wszystkie wojny Lary und Synapsy Marii H. sind einerseits von „Biografien durchtränkt“ und stellen andererseits – ähnlich wie der vergangene realistische Roman – sowohl ein breites Panorama der Wirklichkeit als auch eine vertiefte Reflexion über die Welt dar. Sie laden auch dazu ein, über den Zustand der Kultur nachzudenken, über das (fehlende) Bewusstsein der Paradigmen, die unserem Beisammen-Sein zugrunde gelegt werden. In seinem 2017 erschienenen Buch konstatiert Zygmunt Baumann, dass wir in einer Zeit leben, in der „die Atmosphäre des Unbehagens, der Verwirrung und Angst“ vorprogrammiert sei.27 Die Geschichten von Lara, der Mutter von Schamil und Raschid, die als ISISKämpfer in Syrien umkamen, von den beiden Maria-Figuren, einer polnischen Immigrantin in den USA, einst Solidarnos´c´-Aktivistin und daher inhaftiert, heute Mutter eines autistischen Jungen, sowie ihrer 93-jährigen Schwiegermutter, die in ihrer Jugend das Ghetto überlebte und vom Umschlagplatz im besetzten Warschau nicht in ein Vernichtungslager kam, um viele Jahre später den Anschlag auf das WTC in New York zu überleben, zeugen nur allzu deutlich von der Richtigkeit von Baumanns Urteil. Das 21. Jahrhundert ist, wie das vorherige, eine Zeit der Verwirrung. Krall und Jagielski diagnostizieren und analysieren diese Verwirrung, indem sie den Einzelschicksalen der Protagonistinnen das Repräsentative ihrer Geschichten entnehmen. Wszystkie wojny Lary beginnen wie eine Erzählung: „Lara sehnte sich nach den Tagen, als der Gedanke, wer sie eigentlich sind, die Kisten aus dem grünen Pankissi-Tal noch nicht beschäftigte.“28 Alles, was den Leser neugierig machen sollte, taucht hier auf – der Name der Protagonistin, Emotionen, die Ankündi26 H. Krall: Synapsy Marii H. Kraków 2020, S. 5. Weitere Zitate aus dieser Ausgabe werde ich im Haupttext mit der Sigle MH und Seitenangabe kenntlich machen. 27 Z. Bauman: Retrotopia, aus dem Eng. übers. v. F. Jakubzik. Berlin 2017, S. 187f. 28 W. Jagielski: Wszystkie wojny Lary. Kraków 2015, S. 5. Weitere Zitate aus dieser Ausgabe werde ich im Haupttext mit der Sigle L kenntlich machen.
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gung eines Geheimnisses, ein faszinierender, vermutlich attraktiver Handlungsort… Auf den ersten Dutzend Seiten spinnt ein distanzierter, auktorialer Erzähler die Geschichte einer kleinen kaukasischen Gemeinde. Die Geschichte mutet wie ein Märchen oder Mythos an, der bis in die Urzeit zurückreicht, bis sich herausstellt, dass die jungen Kisten, zunächst unsicher über ihre eigene Identität, auf der Suche nach Zugehörigkeit und ein wenig aus einem Gefühl von Marasmus und Armut heraus, den heiligen Krieg wählen, genau wie Laras Cousin Ali. Später werden die Söhne der Titelfigur das gleiche Schicksal wählen. Laras Söhne gingen ebenfalls nach Syrien, um ihre religiöse Pflicht im Heiligen Krieg zu erfüllen und als Mudschaheddin das Heil zu verdienen. Lara selbst ist ihnen auf ihrer Reise gefolgt, um sie vor Unglück und Tod zu bewahren, auch wenn es ein Märtyrertod sein sollte, der die Pforten des Paradieses öffnen könnte. Sie glaubte, sie würde sie davon überzeugen, zu leben und nicht zu sterben (L, S. 22).
Das Ende der Einleitung scheint zu suggerieren, dass sich der nachfolgende Teil der Geschichte mit der Reise der Titelfigur auseinandersetzen wird. Es stellt sich jedoch heraus, dass wir es mit einem Vorspiel zu einem fast historiosophischen Werk zu tun haben, das allerdings durch das Prisma der Schicksale von Schamil, Raschid und ihrer Mutter Lara (der Autor gibt an, die Namen der Protagonisten verändert zu haben) dargestellt (und glaubwürdig gemacht) wird. Auf Seite 23 ändert sich die Erzählsituation geringfügig, was grafisch durch drei Sternchen angezeigt wird. Ein ähnliches Begrenzungszeichen wird noch einmal erscheinen, um einen kurzen Epilog zu signalisieren. Der längste, zweihundertseitige Teil des Buches beginnt mit einer Strophe in direkter Rede: „Ich bin Lara. Und ich weiß nicht, was ich sonst noch über mich sagen kann“ (L, S. 23). Anschließend wird die Situation geschildert, in der diese Worte fallen: die Begegnung zwischen dem Autor-Erzähler und seiner Gesprächspartnerin in einem McDonald’s-Restaurant in Tiflis – und damit endet die „Handlung“. Es beginnt nun Laras Erzählung, die aber nur stellenweise eine Ich-Erzählung ist – es überwiegt nämlich die erlebte Rede, welche von einigen wenigen Beschreibungen des Autors sowie Passagen in indirekter Rede begleitet wird. Gekonnt operiert Jagielski mit diversen Darbietungsformen des Erzählens. Die Geschichte ist interessant, auch wenn relativ schnell klar wird, dass nicht Laras Reise nach Syrien, um ihre Söhne zu retten, das Hauptmotiv sein wird. Wie ich jedes Mal feststelle, wenn ich Wszystkie wojny Lary mit meinen Studierenden lese, gibt es hierzu viele Interpretationsmöglichkeiten: Pazifismus, Freiheit, Emanzipation, Geschichte aus der Sicht der Frau… All diese Themen bilden ein breites Panorama der heutigen Welt. An dieser Stelle möchte ich auf ein Problem hinweisen, das hier anscheinend eine Schlüsselrolle spielt, zumal es einen reichhaltigen Diskussionsstoff darbietet. Es geht nämlich um die Reflexion über die Grundlagen von Kultur sowie über die Konsequenzen, mit denen dann
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zu rechnen ist, wenn man die Menschenwürde außer Acht lässt, und dies in individueller und kollektiver Hinsicht. Wszystkie wojny Lary können nämlich als eine universelle Beschreibung der Welt gelesen werden, obwohl hier solche Orte wie der Kaukasus, Europa und Syrien als aufeinander folgende Etappen des Dramas stellvertretend für jene Welt stehen. Wählen wir aus dem Text die Elemente aus, die für die Rekonstruktion dieser Welt erforderlich sind. Schauen wir uns den Anfang an, so liest er sich wie ein Mythos: „Die Unveränderlichkeit der Dinge gab den Menschen im Tal ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit“ (L, S. 32). Dieser Zustand endet aber endgültig mit dem Fall des sowjetischen Imperiums. Was bleibt, sind nachaufklärerische Dogmen folgender Art: „Die Religion ist ein Relikt, und ein moderner, aufgeschlossener Mensch, der sich um die Entwicklung kümmert, kann doch nicht an Gott glauben!“ (L, S. 62); aber auch die Unabhängigkeitskriege und damit eine neue Aufteilung der Welt in „Einheimische“ und „Fremde“, sowie ein ständiges Gefühl der Bedrohung. Aus diesem Grund wandern zunächst Laras Ehemann und dann ihre jugendlichen Söhne ins sichere und wohlhabende Europa aus. Hier beginnt der zweite „Akt des Dramas“. Europa weckt zunächst ihre Begeisterung, enttäuscht sie jedoch wenig später und wird zur Quelle von – nun ja, von was? Für Lara ist Europa die Quelle eines unvermeidlichen Unglücks. Dies zeigt sich aber nicht bloß als ein Problem des Einzelmenschen. Schamil und Raschid sind zunächst „von Europa begeistert […]. Hier ist es wie im Paradies! – sagten sie einer nach dem anderen“ (L, S. 118). Sie schmieden auch Pläne: Schamil will Linguistik studieren, Raschid besucht eine Oberschule und interessiert sich für Computer. Nur vorübergehend, so denken sie, arbeitet Schamil in einem Versandhaus und Raschid in einem Geschäft mit Computer-Hardware und -Software. Bald wird aber klar, dass Europa ihnen nichts mehr zu bieten haben würde. Jagielski verwendet die erlebte Rede und flicht geschickt Fragmente von Laras Dialogen mit ihren Söhnen, hauptsächlich mit Schamil, in die Erzählung ein. Aus den Gesprächsfetzen ergibt sich das Bild einer kulturellen Krise, in der sich Europa befindet, die umso anschaulicher ist, als sie aus der Perspektive eines außenstehenden Ankommenden geschildert wird: Er sagte, Freundschaft sei in Europa schwer zu finden, die Menschen hätten keine Zeit dafür. Sie arbeiten vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang, und wenn sie nur könnten, würden sie nun ununterbrochen arbeiten. Erstens, um ihre Überlegenheit gegenüber anderen zu beweisen, und zweitens, um Angriffe von Rivalen abzuwehren. – Das ist alles, was hier zählt. Was du alles hast und welche Position du im Wettlauf einnimmst; nun versucht jeder, um jeden Preis so viel wie möglich zu bekommen, man läuft ständig um die Wette. – Er sagte dies mit Zorn, was sie überraschte und ein wenig beunruhigte. – Nur so können sie dich beurteilen und messen. Wenn man ein wohlhabender Mensch ist, dann bedeutet man etwas, man wird respektiert, bewundert und
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das, was man sagt, wird für wichtig gehalten. Und wenn du nichts hast, bist du nichts und niemand interessiert sich für deine Meinung (L, S. 123).
Was steckt hinter dieser Hektik? Das erfährt man nicht. Es geht wohl nur um den Wettbewerb selbst. Die eher primitiven Prinzipien der gesellschaftlichen Ordnung schienen nicht attraktiv zu sein. Es gibt nichts zu bedauern. Kein Wunder, dass der Ankömmling aus dem Kaukasus woanders nach Gemeinschaft sucht und sie in der Moschee findet. Er selbst sagte übrigens, dass der Besuch der Moschee ihm sehr helfe und ihn beruhige, und dass er sich nach dem Gebet gereinigt fühle. […] „Menschen wie wir gibt es immer mehr“, sagte er oft, um uns einmal mit einer spöttischen Stimme zu erzählen, dass in einem Gästehaus, wo er übernachtete, die Bibel und der Koran auf dem Nachttisch lagen. – Und die beten dort in Europa nicht? – fragte Lara. – Sie wollen es nur am Sonntag tun, aber selbst an diesem Tag sind ihre Kirchen leer, antwortete er (L, S. 129).
Jagielski rekonstruiert nicht nur den Prozess, sondern auch die Gründe und Methoden der Rekrutierung von Mudschahedin unter den Menschen, die auf der Suche nach Identität und dem Sinn des Lebens sind. Er enthüllt die Ursachen für die Fragilität der europäischen Kultur, die im Namen der neu geförderten Ideen aufgehört hat, ihr eigenes geistiges Erbe zu respektieren. Dadurch wurde sie doppelt verwundbar. Es ist schwierig, für Werte einzutreten, die man nicht schätzt; es ist schwierig, von anderen Respekt zu erwarten, wenn man sie oder sein eigenes Erbe nicht respektiert. Nach dem Terroranschlag auf das WTC erfasste eine Diskussionswelle unseren Kulturkreis. In diesem Zusammenhang schrieb der französische Politikwissenschaftler Alain Besançon in der Monatszeitschrift „Znak“: „Dies ist eine konstante historische Regelmäßigkeit: Wenn eine Kirche nicht mehr genau weiß, was sie glaubt oder warum sie es glaubt, besteht die Gefahr, dass die Herde sich dem Islam zuwendet.“29 Islam und Terrorismus werden auf diese Weise gleichgesetzt. Nur wenige sind an der Komplexität der Doktrin interessiert. Wichtig ist der Konflikt. Umso mehr Resonanz finden Stellungnahmen wie diese hier: „Vielleicht ist das eigentliche Problem des Islams nicht so sehr seine Tradition, sondern vielmehr sein absoluter Bruch mit dieser Tradition, sein Verlust des kulturellen Gedächtnisses, seine zivilisatorische Amnesie“,30 und von da an führt ein gerader Weg dahin, die Glaubenswahrheiten als Anweisungen für den Krieg gegen Ungläubige wörtlich zu nehmen. Einen Krieg, in dem der Tod ein begehrter Preis ist – wie im Fall von Laras Söhnen. 29 Muzułmanie w Europie. In: „Znak“ 1 (2002), S. 108–116, hier S. 109. 30 N. Kermani: Jacques Mourad i miłos´c´ w Syrii, übers. v. M. Je˛drzejczyk. In: „Znak“ 1 (2016), S. 29–39, hier S. 35.
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Hanna Krall hat ihre Geschichte erzähltechnisch anders konzipiert. Synapsy Marii H. entstanden als eine Art thematische Summierung ihrer eigenen, zuvor geschriebenen Bücher mit Reportagen über Maria Twardoke˛s-Hrabowska und ihrer reichen Korrespondenz. Die Autorin bekennt dies in den autothematischen Bemerkungen, die den Erzählrahmen bilden. Durch das Prisma der hier verwendeten Biographien wird der Leser mit einem breiten Panorama von Ereignissen konfrontiert, die Geschichte gemacht haben: mit dem Holocaust auf polnischem Boden während des Zweiten Weltkriegs, der Solidarnos´c´-Revolution von 1980 und dem anschließenden Kriegsrecht in Polen, der Zerstörung der WTC-Türme im Jahr 2001. Es gibt genug Stoff für einen groß angelegten Roman, aber man bekommt nur etwas mehr als 100 Seiten mit Mikro-Kapiteln. Traumatische Ereignisse werden lediglich angedeutet und aus der Sicht eines Individuums geschildert (natürlich in erlebter Rede), wie etwa hier: Immer mehr Menschen kamen in die nächsten Stockwerke, und die Treppe war mehr und mehr überfüllt. Sie bildeten eine Art Kolonne, die ordentlich und diszipliniert Schritt für Schritt vorrückte. Der Mutter ihres Mannes fiel ein, sie war schon einmal in der Kolonne gegangen – und hatte überlebt. Würde sie nun nicht mehr überleben? Dann dachte sie, wenn sie es damals geschafft habe, schafft sie es vielleicht beim zweiten Mal nicht mehr (MH, S. 80).
An einer anderen Stelle wird in den Erzählprozess eine Reminiszenz der Hauptfigur eingeflochten, die sich über die Tatsache wundert, dass „die Vergangenheit Spuren in den Synapsen, den Verbindungen zwischen den Nervenzellen, hinterlassen hat. Synapsen… Sehr interessant“ (MH, S. 118). Halten wir also fest: individuelle Erinnerung, Erinnerungsfetzen, Bruchstücke von Ereignissen – und nur das. Warum hat sich Krall für solch eine Erzählstrategie entschieden? Einerseits stellte sie damit ihr Werk in den Kontext des immer noch aktuellen Erinnerungsdiskurses. Sie entwickelte in Synapsy ein Konzept, das Pierre Nora wie folgt auslegt: „Gedächtnis, Geschichte: keineswegs sind dies Synonyme, sondern, wie uns heute bewusst wird, in jeder Hinsicht Gegensätze. […] Das Gedächtnis ist ein stets aktuelles Phänomen, eine in ewiger Gegenwart erlebte Bindung.“31 Andererseits stellen Textfetzen, Erinnerungen an Orte und Objekte die einzige Möglichkeit dar, sowohl über Grenzerfahrungen32 konkreter Menschen zu berichten als auch darüber, wer diese Menschen sind. Hanna Krall und Wojciech Jagielski gehen über die poetischen Konstruktionsprinzipien einer Reportage hinaus. Sie schlagen den Weg der Rückbesinnung 31 P. Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Les Lieux de Memoire, aus dem Franz. übers. v. W. Kaiser. Berlin 1990, S. 12f. 32 Vgl. J. Leociak: Dos´wiadczenia graniczne. Studia o dwudziestowiecznych formach reprezentacji. Warszawa 2018, S. 245.
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auf das Fabulieren, auf das Verfassen repräsentativer Geschichten ein, mit denen sie die Wahrheit über die Welt vermitteln wollen. Sie repräsentieren hier jene Autoren, die – aufs Neue und ganz ernsthaft – versuchen, die Wirklichkeit zu verstehen und zu erklären. Ihre Werke markieren damit vielleicht einen gar nicht zufälligen Wandel, in welchem die Gegenwartsliteratur momentan begriffen ist. Übersetzt von Nina Nowara-Matusik
Bibliografie Antologia polskiego eseju literackiego, hrsg. v. M. Krakowiak. Katowice 1998. Balcerzan E.: W strone˛ genologii multimedialnej. In: „Teksty Drugie“ 6 (1999), S. 7–24. Bauman Z.: Retrotopia, aus dem Eng. übers. v. F. Jakubzik. Berlin 2017. Bauman Z.: Retrotopia. Jak rza˛dzi nami przeszłos´´c, übers. v. K. Lebek. Warszawa 2018. Bernacki M., Pawlus M.: Słownik gatunków literackich. Bielsko-Biała 2002. Burek T.: Z˙adnych marzen´. Warszawa 1989. Burkiewicz Ł.: Z˙ycie codzienne w podróz˙y na przykładzie „Ambasady do Tamerlana“ (1403–1406). Z badan´ nad relacjami mie˛dzykulturowymi. Kraków 2019. Clavijos Reise nach Samarkand 1403–1406. Aus dem Altkastilischen übersetzt und mit Einleitung und Erläuterungen versehen, übers. u. hrsg. v. U. Lindgren. München 1993. Da˛browski S.: Literatura i literackos´c´. Zagadnienia, spory, wnioski. Kraków 1977. Fik I.: Wybór pism krytycznych. Warszawa 1961. Geertz G.: O gatunkach zma˛conych (Nowe konfiguracje mys´li społecznej), übers. v. Z. Łapin´ski. In: Postmodernizm. Antologia przekładów, hrsg. v. R. Nycz. Kraków 1997, S. 214– 235. Heck D.: Genologiczne synergie. O eseistyce i beletrystyce w drugim dziesie˛cioleciu XXI wieku. Lublin 2020. Jagielski W.: Wszystkie wojny Lary. Kraków 2015. Kermani N.: Jacques Mourad i miłos´c´ w Syrii, übers. v. M. Je˛drzejczyk. In: „Znak“ 1 (2016), S. 29–39. Kozicka D.: We˛drowcy ´swiatów prawdziwych. Dwudziestowieczne relacje z podróz˙y. Kraków 2003. Krakowiak M.: Katastrofizm – personalizm – realizm. O krytyce literackiej Kazimierza Wyki w latach 1932–1948. Kraków 2001. Krakowiak M.: Mierzenie sie˛ z esejem. Studia nad polskimi badaniami eseju literackiego. Katowice 2012. Krakowiak M.: O obowia˛zku szukania. Wybory ´swiatopogla˛dowe polskich pisarzy z XX stulecia. Łomianki 2018. Krakowiak M.: Rosja widziana przez pryzmat polskiego reportaz˙u literackiego. In: „Studia Rossica Gedanensia“ 6 (2019), S. 261–264. Krall H.: Synapsy Marii H. Kraków 2020. Leociak J.: Dos´wiadczenia graniczne. Studia o dwudziestowiecznych formach reprezentacji. Warszawa 2018, S. 245. Muzułmanie w Europie. In: „Znak“ 1 (2002), S. 108–116.
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Monika Wiszniowska (Schlesische Universität in Katowice)
Polens Transformation nach 1989 und die polnische Reportage
Im Jahr 2018 publiziert Jacek Hugo-Bader, einer der interessantesten polnischen Reportageautoren, ein Buch unter dem Titel Audyt1 [Audit], in dem er eine beachtenswerte Schreibstrategie entwickelt: Er lässt nämlich noch einmal die Figuren auftreten, über die er in seinen Reportagen schrieb, die in den 90er Jahren in der „Gazeta Wyborcza“ veröffentlicht wurden. Und bereits auf der zehnten Seite dieses Buches schreit er den Leser an: Denn ihr denkt wohl zu wissen, was uns, den Bewohnern dieses Landes, in dem letzten Vierteljahrhundert widerfahren ist? Ihr glaubt zu verstehen, was um euch herum vor sich ging? Quatsch mit Soße, ihr versteht nichts (AT. S. 10).
Es sei dahingestellt, ob wir dem Autor Recht geben oder nicht; eines steht doch außer Frage: Nach zweiundzwanzig Jahren, wenn man also berechtigterweise schon von einer gewissen zeitlichen Distanz aus sprechen kann, lohnt es sich, auf Reportagetexte aus der Transformationszeit zurückzugreifen, und sich dabei die Frage zu stellen, inwieweit sich die damals von den Autoren aufgeworfenen Probleme, ihre Ängste und Sorgen um die Richtung der Transformation bewahrheitet haben. Haben denn die damaligen Autoren bemerkt, dass schon damals ein soziales Gespenst sein beunruhigendes Unwesen trieb, das im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts als Nationalismus und Populismus Realität werden sollte? Ryszard Kapus´cin´ski betonte mehrmals, dass ihn an der Arbeit eines Reporters gerade das am meisten fasziniert, dass er „Augenzeuge“ der sich gerade zutragenden Geschichte werden kann. Er unterstrich dabei wiederholt, dass ja „jeder Journalist ein Historiker ist. Seine Arbeit besteht darin, zu studieren, nachzuforschen, die Geschichte in dem Moment zu beschreiben, in dem sie entsteht.“2 Nicht völlig verkehrt sind daher die Worte von Paweł Dunin-Wa˛so1 J. Hugo-Bader: Audyt. Warszawa 2018. Im laufenden Text wird bei Zitaten aus dieser Ausgabe die Sigle AT mit der Seitennummer angegeben. 2 Ismaeli continua a navigare. Z Ryszardem Kapus´cin´skim rozmawia Maria Nadotti, übers. v. J. Mikołajewski. In: R. Kapus´cin´ski: Il cinico non è adatto a questo mestiere. Conversazioni sul
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wicz, die auf dem Cover des Buches Niedziela, która zdarzyła sie˛ w ´srode˛ [Sonntag, der am Mittwoch passiert ist] von Mariusz Szczygieł stehen, einer in den 90er Jahren veröffentlichten Sammlung von Reportagen: Sollten die Historiker in Zukunft den Wunsch äußern, etwas von dem Polen der 90er Jahre zu erfahren, so wird ihnen die schöngeistige Literatur der Gegenwart nicht viel sagen, wohl aber das Buch von Szczygieł.3
Als 2011 die zweite Ausgabe des Buches auf den Markt kommt, konstatiert der Reportageautor selbst: „Wir einigten uns darin, dass es schon damals ein Geschichtsbuch geworden ist.“4 Ein Vierteljahrhundert mag zwar eine zu kurze Zeitspanne sein, um das Wort Geschichte zu verwenden – laut manchen Politikwissenschaftlern sei sogar die Transformation selbst noch nicht ganz abgeschlossen5 –, so soll es doch betont werden, dass wir seit Juni 1989 einen langen Weg zurückgelegt haben, wobei gerade die 90er Jahre im Zeichen extrem schneller und geradezu blitzartiger Transformationen stehen. Bedeutung und Einzigartigkeit dieses Zeitraums zeigen sich auch darin, dass die Reporter selbst und ihre Verleger das Bedürfnis haben, auf die Texte jener Jahre zurückzugreifen. Neben der bereits erwähnten Sammlung von Mariusz Szczygieł und dem „auf der Stelle“ veröffentlichten Mehrautorenbuch Kraj raj. Pisza˛ reporterzy „Gazety“ [Schlaraffenland. Reporter der „Gazeta Wyborcza“ berichten], das 1993 von Adam Michnik herausgebracht wurde, sollen hierzu folgende Titel gezählt werden: Było piekło, teraz be˛dzie niebo [Es war die Hölle, jetzt wird es der Himmel sein] von Irena Morawska (1999), Ws´ciekły pies [Der tollwütige Hund] von Wojciech Tochman (2007), 20 lat nowej Polski w reportaz˙ach [Zum zwanzigjährigen Bestehen des neuen Polen: Reportagen] von Mariusz Szczygieł (2009), Z˙yletka [Rasierklinge] von Katarzyna Surmiak-Doman´ska (2011), Bolało jeszcze bardziej [Es tat noch tiefer weh] von Lidia Ostałowska (2012), Tu mówi Polska. Reportaz˙e z Pomorza [Hier spricht Polen. Reportagen aus Pommern] von Cezary Łazarewicz (2017), Audyt [Audit] von Jacek HugoBader (2018) und Niepowtarzalny urok likwidacji. Reportaz˙e z Polski lat 90. [Der einzigartige Reiz der Liquidation. Reportagen aus dem Polen der 90er Jahre] von Piotr Lipin´ski und Michał Matys (2018). Alle hier genannten Autoren veröffentlichten ihre Reportagen in den 1990er Jahren in der „Gazeta Wyborcza“. Es lohnt hier die Bemerkung zu machen, dass es in der ersten Transformationsbuon giornalismo, hrsg. v. M. Nadotti. Roma 2002. Zit. nach: Ders.: Rwa˛cy nurt historii. Zapiski o XX i XXI wieku. Kraków 2007. 3 P. Dunin-Wa˛sowicz In: M. Szczygieł: Niedziela, która zdarzyła sie˛ w ´srode˛. Wołowiec 2011, Umschlagseite, S. 3. 4 Ebd. 5 Siehe: Słodko-gorzki smak wolnos´ci. Młodzi intelektualis´ci o 25 latach przemian w Polsce, hrsg. v. M. Król. Warszawa 2014.
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phase gerade die „Gazeta Wyborcza“ war, die den Reporten als Publikationsplattform eine enorme Freiheit gab und viele bedeutende Reportagetexte veröffentlichte. Meines Erachtens ist es gerade dieses redaktionelle Umfeld, das die besten und sicherlich modernsten polnischen Autoren der literarischen Reportage „aufgezogen“ hat. Bei den oben genannten Büchern handelt es sich um Sammlungen von Einzeltexten, die nur sehr lose miteinander verbunden sind. Das Prinzip, nach dem sie verfasst wurden, lautet: Man kann über Politik schreiben, indem man über Menschen spricht.6 Die Reporter stellen menschliche Einzelschicksale dar, um an ihrem Beispiel von einer im Wandel begriffenen Realität zu erzählen. An exemplarischen Einzelfällen werden die Mentalität und die Lebensgewohnheiten der Polen sowie die wirtschaftlichen Gegebenheiten in einer neuen gesellschaftspolitischen Wirklichkeit gezeigt. Keiner der Autoren versucht jedoch, eine Art Synthese dieser schwierigen Zeit vorzulegen, auch wenn sie ihre Bücher Jahre später verfasst haben. Weder Hugo-Bader, der seine Protagonisten im 21. Jahrhundert besucht, um zu erzählen, was sich bei ihnen verändert hat, noch Piotr Lipin´ski und Michał Matys streben einen synthetisierenden Blick an; jedoch fügen die beiden jedem Text immerhin eine Art „Kommentar im Nachhinein“ hinzu, wie etwa: „Die Polen haben sich in die Fernsehwerbung verliebt. Und ihr sogar Glauben geschenkt.“7 Nicht einmal Mariusz Szczygieł hat seine Anthologie mit einem übergreifenden Kommentar versehen; einige wenige Metaphern, die das neue Polen charakterisieren sollten, sind eher eine Digression.8 Auch wenn man bemerken kann, dass die Autoren der genannten Sammlungen die Reportagen nach einem Prinzip zu ordnen versuchen, so hat der Leser doch das Gefühl, dass die thematische Bandbreite sehr weit gespannt ist und insgesamt hier eher Chaos herrscht. Es scheint aber, dass die fehlende Ordnung die Beschleunigung der Geschichte und den vibrierenden Zeitgeist widerspiegeln soll. Im Polen der 90er Jahre passiert damals sehr viel, so dass es kaum verwunderlich ist, dass sich die Reporter im Grunde für alles interessieren. Ein Auszug aus dem Tagebuch, das von August 1989 bis Januar 1992 von Mariusz Szczygieł geführt wurde, und welchen der Reporter als Einleitung zu seiner Anthologie
6 Vgl. Najwaz˙niejsze pytanie ´swiata. Z Dariuszem Rosiakiem rozmawiał Marcin Z˙yła. In: „Tygodnik Powszechny“ 9 (2021) [online]. https://www.tygodnikpowszechny.pl/najwazniejsze-py tanie-swiata-166605 [1. 03. 2021]. 7 Vgl. P. Lipin´ski, M. Matys: Niepowtarzalny urok likwidacji. Reportaz˙e z Polski lat 90. Wołowiec 2018, S. 237. Bei Zitaten aus dieser Ausgabe werde ich später im Text die Sigle NL mit der entsprechenden Seitennummer verwenden. 8 Eine der interessantesten Metaphern, die Mariusz Szczygieł anführt, stammt von Tadeusz Konwicki. Auf die Frage nach einer Metapher für das neue Polen antwortete er nämlich, dass es ihn an einen Teig erinnere, einen frischen Teig, der noch nicht fest genug sei. Siehe: 20 lat nowej Polski w reportaz˙ach według Mariusza Szczygła, hrsg. v. M. Szczygieł. Wołowiec 2009, S. 35.
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verwendete, veranschaulicht dies treffend.9 Es überschneiden sich darin die Ereignisse der großen Geschichte und des sich erstaunlich immer schneller verändernden Alltags. Informationen wie „Gestern hat Litauen seine Unabhängigkeit erklärt“ (AN, S. 10) oder „Helle Aufregung in der Redaktion: Ruscy10 bekennen sich zu Katyn´“ (AN, S. 11), sind mit enthusiastischen Hinweisen auf die Zugänglichkeit von pole˛dwica sopocka [Schweinsrücken Sopoter Art], die bei einer Toilettenfrau gekaufte Kaffeesahne oder Kiwi durchsetzt. „Aber das Toilettenpapier gibt’s überall“ (AN, S. 13), konstatiert Szczygieł, um nach einigen Tagen über die Eröffnung des Fernsehwerks Otake, den Zusammenbruch der Młodziez˙owa Agencja Wydawnicza [Jugendverlagsagentur] oder über den Bau des ersten Ikea zu berichten. Sowohl die Erzählweise in den Tagebuchaufzeichnungen als auch in den genannten Reportage-Sammlungen ist dabei hervorragend auf die Fieberhaftigkeit der laufenden Transformationsprozesse zugeschnitten. Diese Geschwindigkeit des sich gerade vollziehenden Wandels wird von allen Autoren der erwähnten Reportagen registriert. „Der Kapitalismus in Wółczanka begann am Montagmorgen“ (NL, S. 94), heißt es in einer Reportage von Piotr Lipin´ski. Schon damals, in den 90er Jahren, sehen die Reporter das, was die Forscher dieser Epoche erst nach einem Vierteljahrhundert wie folgt zusammenfassen werden: „[…] der größte Fehler der ersten ‚Solidarität‘ war gerade die Annahme, dass das Land auf Schlag hätte verändert werden können.“11 Nach Jahren wird auch Szczygieł in seiner Anthologie verzeichnen, dass es sich um solch ein Polen handelte, das „sich von einem Tag auf den anderen seine Mentalität zulegen musste.“12 Eines der größten Probleme, das von allen damals publizierenden Reportern registriert wurde, ist die Asymmetrie zwischen dem durch den Systemwechsel bewirkten zivilisatorischen, sozialen und wirtschaftlichen Wandel und dem gesellschaftlichen Prozess des Umdenkens. Der Protagonist einer Reportage von Cezary Łazarewicz, ein Gemeindevorsteher in einem ehemaligen PGR13-Dorf, charakterisiert seine Landsleute so: […] den Leuten aus Smołdzin fehlt es an Aktivität. Und das ist ja auch nicht verwunderlich, denn der PGR hat immer für sie entschieden: Wo man eine Wohnung zugewiesen bekommt und in welchen Film man ins Kino gefahren wird. Es hat gereicht, 9 20 lat nowej Polski w reportaz˙ach, (Anm. 8). Bei Zitaten aus dieser Ausgabe werde ich später im Text die Sigle AN mit der entsprechenden Seitennummer verwenden. 10 „Ruscy“ ist eine abwertende polnische Bezeichnung für die Russen [Anm. der Übers.]. 11 J. Kuisz, K. Wigura: Liberalizm po komunizmie. In: Słodko-gorzki smak wolnos´ci, (Anm. 5), S. 31–62, hier S. 37. 12 M. Szczygieł: Zamiast wste˛pu. Jak Jadz´ka miała wstawic´ ze˛by. In: 20 lat nowej Polski w reportaz˙ach, (Anm. 8), S. 21. 13 „PGR“ war ein staatlicher Landwirtschaftsbetrieb [Anm. der Übers.].
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wenn man eine Arbeit hatte, den Rest erledigte das Kombinat. Und als alles zusammengebrochen war, dann sagte man ihnen: Ihr seid frei und sollt nun über sich selbst entscheiden. Soll man sich denn jetzt wundern, dass sie heute so hilflos dastehen.14
Und eine der Protagonistinnen in Niepowtarzalny urok likwidacji macht das folgende Bekenntnis: „Wir verändern uns nicht, wir haben zu lange in diesem System gelebt, jemand hat sich um uns gekümmert. Wir finden uns nicht zurecht in diesem neuen Leben“ (NL, S. 100). Im Mai 1990 veröffentlichte der Pfarrer Joseph Tischner in „Tygodnik Powszechny“ einen Text, der mehrere, bisweilen sehr kritische Reaktionen hervorrief. Er benutzte den Begriff Homo Sovieticus, der ursprünglich von Alexander Sinowjew stammte, um darauf hinzuweisen, dass ein revolutionärer Systemwechsel nicht gleichzeitig einen ebenso revolutionären Mentalitätswandel herbeiführe, und dass die Welt, die gerade verabschiedet wurde, bald mythologisiert werden würde.15 Tischners Urteil war weithin bekannt, zumal es im November 1990 noch in einer Fernsehsendung präsentiert wurde.16 Daher ist es schwer zu entscheiden, ob es die Reporter waren, die sich von dem Philosophen inspirieren ließen oder ob sie das Problem einfach selbst erkannt haben. Entscheidend ist, dass gerade dieses Problem in den Reportagen immer wieder auftaucht. Bei Lidia Ostałowska äußert sich einer der Protagonisten so: „Ich wünschte mir, dass es diese menschliche Solidarität doch noch gibt. Als es noch die alten Kommunisten gab, da konnte ich zumindest in den Urlaub fahren und meine Tochter ins Ferienlager schicken. Die neuen Kommunisten denken sich ja, wir seien Dummköpfe.“17 Ähnlich denkt die Protagonistin einer Reportage von Paweł Smolen´ski, eine Textilarbeiterin aus Lodz: „Als Gierek regierte, habe ich 45.000 Zloty für meine künftige Wohnung eingelegt. Ich war gekleidet und aß Wurst. Jetzt stehe ich nun da wie ein Almosensammler.“18 Die Sehnsucht nach der Volkrepublik Polen macht sich sowohl in den Aussagen von Bewohnern größerer und kleinerer Städte als auch in den Äußerungen 14 C. Łazarewicz: Tu mówi Polska. Reportaz˙e z Pomorza. Wołowiec 2018, S. 41. Bei Zitaten aus dieser Ausgabe werde ich später im Text die Sigle TM mit der entsprechenden Seitennummer verwenden. 15 Vgl. J. Tischner: Homo sovieticus. In: „Gazeta Wyborcza“ 10 (1991), S. 5. Der Text wurde später im folgenden Buch publiziert: Ders.: Etyka solidarnos´ci i Homo sovieticus. Kraków 1992. Ein Streitpunkt war gewissermaßen der Begriff Homo Sovieticus selbst. Laut Autor handle es sich hierbei nicht um ein Merkmalbündel, das man einer beliebigen Person zuschreiben kann, sondern vielmehr um ein Phänomen, eine postkommunistische Form der „Flucht vor der Freiheit“. 16 Siehe: R. Wos´: Homo sovieticus po latach. In: „Tygodnik Powszechny“ 22 (2019). 17 L. Ostałowska: Bolało jeszcze bardziej. Wołowiec 2012, S. 39. Bei Zitaten aus dieser Ausgabe werde ich später im Text die Sigle BB mit der entsprechenden Seitennummer verwenden. 18 P. Smolen´ski: Łódzkie klocki. In: Kraj Raj. Pisza˛ reporterzy „Gazety“, hrsg. v. A. Michnik. Warszawa 1993, S. 257.
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der Landbewohner bemerkbar: Bogusław Podolski, der Protagonist einer Reportage von Cezary Łazarewicz, „träumt von einer Reise in die Vergangenheit, die es möglich machen würde, dass die alte gute Zeit zurückkommt“ (TM, S. 274), um sich anschließend mit folgenden Worten zu beklagen: Es ist ja unerhört, dass der Bauer mit seinem Schwein hinfahren und bitten muss, dass man es beim Ankauf akzeptiert! Es waren ja immer die Leute aus der Stadt, die nach Lasocin gekommen sind, nicht umgekehrt! Sie gingen von Haus zu Haus und baten, dass man ihnen etwas Schlachttier verkauft. – Wen hat es denn wohl gestört? (TM, S. 274).
Diese Art von Nostalgie, die sich selbst als Wahrheit und Tradition versteht, wird von der Forscherin Svietlana Boym, im Gegensatz zur reflektierenden Nostalgie, als restaurativ bezeichnet. „Sie erscheint als ein Verteidigungsmechanismus in einer Zeit der unumgänglichen Beschleunigung des Lebensrhythmus und historischer Verwirrung.“19 Die Forscherin unterstreicht auch die Gefahr, die darin liegt, dass sich die realistische Vision von Heimat mit dem Imaginären vermischt und in ihrer unreflektierten Version die Macht besitze, Ungeheuer zu erzeugen.20 Die restaurative Nostalgie stehe oft „im substanziellen Kern nationaler oder religiöser Wiedergeburten“21, wobei die durch sie geprägte Sicht auf die Wirklichkeit darauf hinziele, „aus einem mythischen Feind einen Sündenbock“22 zu machen. Haben die Reporter diese von der Forscherin diagnostizierte Gefahr damals wahrgenommen? Zweifelsohne nicht, aber die Vielzahl der Beispiele, die an dieser Stelle angeführt werden könnten, zeigt deutlich, dass sie dem Phänomen nachgingen, und dass sie dessen beunruhigenden Symptome erkannt hatten. Die Suche nach dem mythischen Feind, den Svietlana Boym erwähnt, gehört dazu. In einer Reportage über die Sendung Noc z Radiem dla Ciebie fasst Mariusz Szczygieł einige Rückmeldungen der Hörer zusammen, die sich über unterdrückte Menschen äußerten: Es hieß, dass wir von dem kommunistischen Regime und der Solidarität, den Russen und den Deutschen, den Eltern, dem Chef am Arbeitsplatz und dem Präsidenten verletzt werden. Die einen sagten, wir würden von den Reichen verletzt, die anderen dagegen, von den Armen, die nicht arbeiten wollen, und für welche man die Steuern zahlen muss.23
19 S. Boym: Nostalgia jako z´ródło cierpien´, übers. v. I. Boruszkowska. In: „Ruch Literacki“ 1 (2019), S. 99–110, hier S. 102. 20 Vgl. ebd. 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Szczygieł, Niedziela, która zdarzyła sie˛ w ´srode˛, (Anm. 3), S. 69. Bei Zitaten aus dieser Ausgabe werde ich später im Text die Sigle NZ mit der entsprechenden Seitennummer verwenden.
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Und der Reportage Na Bałutach jeszcze Polska [Immer noch Polen im Bezirk Bałuty] von Lidia Ostałowska ist es zu entnehmen, dass das Unbehagen an den eingetretenen Veränderungen gerade junge Menschen dazu bringt, dass sie sich auf die Suche nach einem Feind begeben. Alle sollen nun Schuld sein am Elend der Jungs aus der Rysownicza-Straße: die Polizei, der Kapitalismus, die Juden, das fremde Kapital und vor allem die Politiker. Ein Achtklässler ruft aus: Und die Politiker? Diese schwindeln ja gerade gewaltig! Polen ist ihnen egal, alles um der Kohle willen, sie klauen in Massen. Und gerade ich soll der Bösewicht sein? Weil ich ein Flüssigbrot vom Supermarkt mitgehen ließ? (BB, S. 42).
Das angeführte Zitat versprachlicht ein weiteres Problem, das sich in den Reportage-Texten aus den 90er Jahren andeutet und welche Jahre später von Politikwissenschaftlern analysiert werden wird: Es geht nämlich um den Mangel an sozialem Vertrauen. Es ist ein Erbe der Volksrepublik Polen, das die Reporter schon damals registrieren: Den Polen fehlt es an Vertrauen in alles, was mit Politik verbunden ist; die Folge davon ist gegenwärtig die gesellschaftliche Apathie. Aus heutiger Sicht können wir zweifellos feststellen, dass die restaurative Version der Nostalgie, wie sie von einigen Protagonisten der Reportagen präsentiert wird, und welche schließlich eine nicht geringe Gruppe von Menschen betraf, durchaus auch Auswirkungen auf ihr Verhalten oder ihre Entscheidungen hatte. Dieses affektive Gedächtnis, wie Przemysław Czaplin´ski es nennt, kam in einer mutierten Form zustande. „Es ist mutiert, weil sich Hoffnung mit Frustration, Scham mit Wut und Demütigung mit Wut vermischt haben.“24 Jacek Hugo-Bader charakterisiert seine Protagonisten in einer Reportage über Anarchisten folgendermaßen: Er war verbittert, traurig, frustriert. Und wütend. Zusammen mit seinen vier 20jährigen Freunden, von denen kein einziger einen Job, einen Beruf oder eine Lebensidee hatte, von einer Freundin, die es leichtnehmen würde, ganz zu schweigen, steuerten sie mit einem großen schwarzen Banner in der Hand der Gewalt zu. Fünf angepisste Besatzungsmitglieder aus einem Kaff, in einem Land, das gerade einen Anlauf zur Transformation nahm (AT, S. 145).
Diese extrem emotionale Darstellungsweise der Protagonisten gibt nicht nur ausgezeichnet ihr Verhaftet-Sein in negativen Emotionen wieder, sondern zeigt auch die Auswirkungen dieser Frustration selbst. Audyt ist ein Buch, das noch aus einem anderen Grund wichtig ist für die Art und Weise, wie man heute über die Jahre der Transformation denkt. Wie bereits angedeutet, kommt hier eine 24 P. Czaplin´ski: Widma transformacji. In: „Dwutygodnik“ 9 (2016) [online]. https://www.d wutygodnik.com/artykul/6758-widma-transformacji.html [1. 03. 2021].
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interessante Erzählstrategie zum Vorschein, die darin besteht, dass der Reporter seine Protagonisten noch einmal auftreten lässt. Autorenkommentare, wie der oben erwähnte, in den Hugo-Bader einige Auszüge aus den Reportagen aus den 90er Jahren einfließen lässt, werden durch Passagen ergänzt, welche nicht nur dabei helfen, die Reportagen in den Archiven der „Gazeta Wyborcza“ zu lokalisieren, sondern den Leser auch auf eine Zeitreise nehmen und ihn noch einmal den Tag erleben lassen, an dem der Reporter zum ersten Mal seinen Protagonisten auftreten ließ. Dieses interessante Verfahren, das auf die Vergänglichkeit aufmerksam macht und dem Buch von Hugo-Bader einen historischen Zug verleiht, hebt ebenfalls deutlich die Unveränderlichkeit, manchmal sogar eine tragische mentale Beharrlichkeit der meisten Protagonisten hervor. Wenn heute Soziologen und Politikwissenschaftler eine Bilanz der Transformationsjahre ziehen, betrifft der von ihnen am häufigsten erhobene Einspruch die Existenz einer Gruppe von ausgeschlossenen Menschen, die unfähig sind, sich in der neuen Realität zurechtzufinden.25 Es ist leicht zu erkennen, dass dies, zumindest zu einem großen Teil, die Protagonisten dieser Bücher sind. Auf thematischer Ebene registrieren die Reporter die wirtschaftliche Benachteiligung der Provinzen und der Peripherie, die fortschreitende Verarmung der Gesellschaft und die Verschärfung der sozialen Ungleichheiten, was dazu führt, dass der hohe Preis des Wandels umso deutlicher und schmerzhafter empfunden wird. Wie bereits erwähnt, werden diese Probleme auf der Mikroebene dargestellt, die sich wiederum auf bestimmte „Zeichen des Zeitgeistes“ der Transformation fokussiert: bei Lidia Ostałowska liest man neben der bereits genannten Reportage über die Armut in dem Lodzer Stadtviertel Bałuty von Menschen aus den bankrotten Staatsbetrieben (PGR-y) oder von jungen Arbeitslosen ohne Anspruch auf Sozialleistungen. Piotr Lipin´ski und Michał Matys veröffentlichen erneut u. a. Geschichten von Menschen aus liquidierten Fabriken sowie von Bauern, die sich in der freien Marktwirtschaft nicht behaupten können. Eine ähnliche Thematik wird von Cezary Łazarewicz aufgegriffen. Auch Hugo-Bader erzählt in der Mehrheit von Menschen, die den „symbolischen Zug“ verpasst haben. Zusammen mit dem Autor besuchen wir „Gebiete, die für den Kapitalismus keine Bedeutung haben“ (AT, S. 298), lesen von Schicksalen pensionierter Funktionäre der polnischen Stasi, sowie eine beinahe unglaubliche Geschichte einer Frau, die in Ostrowiec S´wie˛tokrzyski ein Kind entführt hat: Es ist eine wahrhaft außergewöhnliche Geschichte: So etwas wie ein Fluch lag auf den beiden Familien, und alles begann mit dem Systemwechsel, dem Frau Wiesia nicht gewachsen war. Sie war ein Opfer der Balcerowicz-Reform, ihr Geschäft florierte im kommunistischen Polen, doch nach dem Systemwechsel brach es zusammen. Und das
25 Siehe: Słodko-gorzki smak wolnos´ci, (Anm. 5); M. Król: Bylis´my głupi. Warszawa 2015.
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Einzige, was dieser provinziellen, armen und verwirrten Frau einfiel, war, das Kind des reichsten Stadtbewohners zu entführen.26
Viel wichtiger als die Tatsache, dass die Protagonisten dieser Reportagen oft frustriert sind und mit der sich dynamisch verändernden Realität nicht zurechtkommen, ist aus heutiger Sicht das Gefühl des erlittenen Unrechts und der erfahrenen Erniedrigung, welches fast jede Reportage durchzieht. „Sie sollen mal in unsere Schuhe schlüpfen“, sagt Alina, eine der Figuren in Mariusz Szczygiełs Reportage, eine ehemalige Mitarbeiterin von Elwro S.A. „Jahre später stellt sich heraus, dass man nichts bedeutet. Es ist schwer vorstellbar, dass man für den Rest des Lebens keine Freude mehr haben wird“ (NZ, S. 10). Przemysław Czaplin´ski hatte bereits 2009 in seinem Buch Polska do wymiany [Polen zum Auswechseln] richtig diagnostiziert, dass dieser Teil der Gesellschaft, der sich nicht an den „Wettlauf um die Trophäen des Marktes“ anpassen konnte, wohl das Gefühl hatte, dass „er nicht nur um seine Identität gebracht wurde, sondern auch, was noch schwerwiegender war, um die gesellschaftliche Anerkennung.“27 Eine ähnliche These formuliert fünf Jahre später Andrzej Leder, wenn er sich über den Konditionszustand der polnischen Linken äußert. Der Kulturphilosoph ist ebenso wie der Literaturwissenschaftler Czaplin´ski der Meinung, dass „der Zusammenbruch der Industrie Anfang der 90er Jahre nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine symbolische Katastrophe war.“28 In Przes´niona rewolucja [Die verträumte Revolution] heißt es: Und dann gibt es noch den „Liberalismus“. Die Logik dieses Entschlusses verhinderte 1989 jede ernsthafte Diskussion über das verfolgte Wirtschaftsprogramm. Sie verhinderte auch den Versuch, die Schwächsten, jene homines sovietici, in Schutz zu nehmen, oder zumindest ihre Würde oder symbolische Position zu wahren [Unterstreichung – M.W.].29
Dieses Gefühl, dass man „nichts bedeutet“, wird dabei von den Protagonisten der Reportagen von Mariusz Szczygieł am treffendsten zum Ausdruck gebracht. Es reicht hier auf die Titelreportage aus der Sammlung Niedziela, która zdarzyła sie˛ w ´srode˛ oder eine andere u. d. T. Poczet pokrzywdzonych w III RP [Liste von Menschen, die in der 3. Polnischen Republik Unrecht erlitten haben] hinzuweisen. Paradigmatisch wird dieses Problem in einer mit viel Elan verfassten,
26 [ohne Titel] Z Jackiem Hugo-Baderem rozmawia Anna Soban´da [online]. https://kultura.d ziennik.pl/ksiazki/artykuly/575508,jacek-hugo-bader-polska-to-ruina-z-tektury-i-dykty-nic -podobnego-tak-moze-bredzic-tylko-polityk-ktory-nie-wychyla-nosa-z-hotelu-sejmowego. html [2. 06. 2018]. 27 P. Czaplin´ski: Polska do wymiany. Póz´na nowoczesnos´c´ i nasze wielkie narracje. Warszawa 2009, S. 246. ´ wiczenia z logiki historycznej. Warszawa 2014, S. 194. 28 A. Leder: Przes´niona rewolucja. C 29 Ebd., S. 188–189.
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parabelhaften Reportage angegangen, die von Jan handelt, „einem Menschen, der sich von den Gleisen erhob“ und – aufgrund einiger nicht vollständig erklärter Umstände – sein Gedächtnis verloren hat. Obwohl der Text 2003 erschienen ist, zeigt er wohl am besten das Bild der Polen nach dem Systemwechsel. Szczygieł liest nach Jahren seine eigene Reportage so: Ein Mann, der eines Tages auf einem Bahndamm erwacht, weiß nicht mehr, wer er ist. Er kennt übrigens das Wort Bahn nicht, er kennt nicht einmal seinen Vornamen. […] Auch wir wachten nach 1989 in einer Welt auf, wo alles neu war und verlangte, dass wir uns anpassen. Der Laden wollte Shop genannt werden, gebratene Kartoffeln sollten nun Chips heißen. Janek, der sich von den Gleisen erhob, konnte neue Wörter lernen, und wir auch. […] Heute ist für mich der Janek mit der amputierten Identität und ausgelöschten Erinnerung, der auf den leeren Gleisen erwacht, die Metapher für einen postkommunistischen Polen. Zumal eines der ersten Worte, die er in seinem neuen Leben gelernt hat, „verpiss dich“ war.30
Mit dem Verlust der Bedeutung und der symbolischen Position in der neuen Welt geht zusätzlich eine große Enttäuschung über die neue Wirklichkeit einher. In einer Reportage von Cezary Łazarewicz über verärgerte Bauern, die im Rahmen der Selbstverteidigung Straßen blockierten, beklagt sich der vor Gericht bestellte Protagonist so: Papa hat so lange auf diese Freiheit gewartet, er war so froh, dass der Kommunismus gefallen ist. Erst kurz vor seinem Tod fing er an zu zweifeln und sagte mir: „Hier stimmt etwas nicht.“ (TM, S. 267).
Noch ausdrücklicher bringt dies eine arbeitslose Frau, eine ehemalige Arbeiterin der Centrala Materiałów Budowlanych [Baustoffzentrum] in Szczecin, zum Ausdruck. Lucyna Plaugo hat „bis heute in ihrem Kleiderschrank Kassetten mit Postulaten aufbewahrt, die von Arbeitern aus anderen Stettiner Betrieben zur Werft gebracht wurden“ (TM, S. 293): – Ach du lieber Gott, wir wollten ja nicht viel…, sagt sie, als sie die Kassetten anschaut […]. Wir wollten, dass unsere Träume wahr werden, aber niemand wollte ja seine Privilegien verlieren (TM, S. 293).
Diese Worte haben einen bitteren Beigeschmack: Als die neue Ordnung eingeführt wurde, war sie nicht gerade das, was man früher von ihr erwartet hätte. Sie nahm nun eine andere Form und eine andere Gestalt an. Das damalige Gefühl des Unrechts hat aber viele Folgen, die bis in die Gegenwart hineinreichen: Erstens sind es die gesellschaftliche Vereinsamung und die Unmöglichkeit, sich an der politischen Gemeinschaft zu beteiligen, was die Reportage von Lidia Ostałowska
30 M. Szczygieł: Człowiek metafora. In: 20 lat nowej Polski w reportaz˙ach, (Anm. 8), S. 34f.
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über die Jungs aus Bałuty bestens illustriert.31 Zweitens – um hier wieder auf Andrzej Leder zu rekurrieren – zeigt sich der Mensch, der lange das Gefühl des Unrechts hegte und sich demütigt fühlte, nicht selten dazu fähig, sich zu rächen oder eine dunkle Befriedung zu empfinden, wenn er dem Untergang seines bisherigen Unterdrückers zusieht.32 Man kann sich nur schwer des Eindrucks erwehren, dass gerade diese Menschen und später ihre Kinder sich einem aggressiven Nationalismus zuwenden werden, zumal die nationale oder patriotische Ideologie ein unglaublich starkes Gruppengefühl von Einfluss, Bedeutung und Zugehörigkeit vermittelt.33 Auch wenn die Reporter im besten Glauben, mit viel Wissen und Mitgefühl Menschen beschrieben haben, die sich in der neuen Realität völlig bedeutungslos fühlten, so konnten sie gerade dies in den 1990er Jahren nicht voraussehen. Das Zeitalter des Wandels, wie es sich aus den Texten der Reportageautoren jener Jahre ergibt, stellt sich nicht nur als eine Zeit enttäuschter Hoffnungen, Desillusionierung, kleiner oder großer menschlicher Dramen dar, sondern es ist auch eine Zeit der kleinen Wunder, kleinerer und größerer Erfolge. Vor allem aber zeigen die Reportageautoren das Kolorit Polens jener Jahre. So erzählt z. B. Mariusz Szczygieł von einem „neuen Kapitalisten“, Besitzer einer Nudelfabrik, oder auch von der schlagartig zunehmenden Popularität der neuen Straßenmusik namens „Disco Polo“34, verschiedenen Interpretationen des Masturbationsbedürfnisses, dem Ehrgeiz, Polens größte Basilika in Lichen´ zu errichten oder von der Kontroverse um das Unternehmen Amway. Und bei Cezary Łazarewicz treten neben einem Gerichtsvollzieher aus Słupsk die sog. neuen Händler auf, Verkäufer also, die wundersame Wolldecken an der Haustür verkaufen wollen. Piotr Lipin´ski und Michał Matys berichten dagegen von einem betrügerischen Wundertäter, der Plage von Autodiebstählen, oder darüber, wie sich die Polen an den vielen Fernsehprogrammen nicht sattsehen können und der Werbung glauben, die ihnen aus ihren neuen, immer größer werdenden Fernsehgeräten zuströmt. Verallgemeinernd lässt sich sagen, dass die polnische Lebenswelt, wie sie sich in den Reportagen der 1990er Jahre zeigt, den Geschichten in „Fakt“ oder „Super Express“ nähersteht als solchen, die in seriösen gesellschaftspolitischen Zeitschriften publiziert werden.
31 Siehe: Leder, Przes´niona rewolucja, (Anm. 28), S. 35. Laut Marcin Król hätten diejenigen, die das neue Polen kreiert haben, die Armut zwar bemerkt, nicht aber den sozialen Ausschluss der Bürger. Vgl. Król, Bylis´my głupi, (Anm. 25). 32 Vgl. Leder, Przes´niona rewolucja, (Anm. 28), S. 35–39. 33 Vgl. ebd., S. 195. 34 In Bezug auf das Phänomen des Disco Polo wird in einer Reportage treffend konstatiert, dass es zwar eine Musikgattung ist, die den Geschmack (ver)bildet, zugleich aber auch die Menschen zu vereinen vermag (NK, S. 121–141).
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Wenn man diese Reportagen Jahre später liest, so fühlt man sich an eine Zeit erinnert, welche sich zwar als schimmernd hervortut, im Grunde aber grob und nicht-genug-westlich war. Dies wird von Lipin´ski und Matys bestätigt, die das erste Jahrzehnt der Transformationszeit so charakterisieren: „Man schrieb das Jahr 1989. An diesem Tag wurde in Polen eine (partielle) Demokratie geboren und mit ihr der Kapitalismus. Zunächst in einer Version, die an den Wilden Westen erinnert“ (NL, S. 5). Die Themenvielfalt ergab sich sicherlich nicht nur aus der „Berauschung“ an der sich schlagartig verändernden Realität, sondern auch aus dem Wandel, dem der Reporterstatus unterlag. Endlich gab es nämlich keine verbotenen oder tabuisierten Themen mehr, es war möglich, Problemen nachzugehen, von denen ein Reporter einige Jahre vor dem politischen Systemwechsel nur noch träumen konnte. Gehen wir noch einmal auf Niepowtarzalny urok likwidacji ein: Im Vorwort zu dieser Reportage wird nämlich eine sehr wichtige Frage berührt, welche man allen hier behandelten Reportagen als Motto voranstellen könnte: Diesmal handelt es sich also auch um eine Erzählung über uns, die Autoren dieser Texte. Über unser Heranreifen an den Kapitalismus und die Demokratie. Lesen wir heute diese Texte, so sehen wir, wie wir alles, was neu war, mit jugendlicher Naivität begrüßt haben (NL, S. 6).
Jene Naivität, die von den Reportern angesprochen wurde, war das Ergebnis einer damals ziemlich weit verbreiteten Euphorie, die aus der Überzeugung vom Ende der Geschichte und dem endgültigen Triumph der liberalen Demokratie resultierte. „Wir haben uns an der Freiheit berauscht“35, konstatiert nicht ganz falsch eine Forscherin, die sich mit den Mythen der Dritten Polnischen Republik beschäftigt. Diese Freude ist den Reportage-Texten aus dieser Zeit herauszuhören. Es wurden ja schließlich auch Geschichten über unternehmungslustige Polen verfasst, begleitet von Neugier und einer Prise Ironie. Bei Łazarewicz gibt es da beispielsweise den Leiter des Sanatoriums Kielczanka in Kołobrzeg, der westlichorientierte Neuerungen mit Mut einführt: Es kam zu ihm ein kommerzieller Kunde aus Deutschland, der ihm 400 Mark auf den Schreibtisch hinlegte und den Wunsch äußerte, dass man ihm eine Geburtstagsparty mache. Der Janczarski machte seine Küche einsatzbereit und bestellte ein Orchester. Als die Geburtstagstorte in den Saal kam, spielte ein angeheuerter Geigenspieler dem Jubilar vor. Der Deutsche sagte dann dem Vorsitzenden, dass er seit vierundachtzig Jahren kein solches Bankett mehr erlebt habe. – Hauptsache, man kann sich an neue Umstände anpassen (TP, S. 121).
35 E. Ciz˙ewska-Martyn´ska: „Solidarnos´c´“. III Rzeczpospolita i mity. In: Słodko-gorzki smak wolnos´ci, (Anm. 5), S. 122.
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Auch wenn es hier nicht an Ironie fehlt, so überwiegt doch das Gefühl, dass wir auf der Suche nach der Richtung, in die sich die Dritte Republik entwickeln soll, zwar in der Kluft zwischen Ost und West stehen und ein wenig im Dunkeln tappen, die Richtung aber im Grunde richtig ist. Es wird heutzutage oft behauptet, dass der individuelle Erfolg in den Mittelpunkt der imaginierten Welt der Transformation gerückt ist: höherer Lebensstandard, schöneres Outfit, luxuriöse Erfüllung. Es handelte sich dabei weder um die Bürgerlichkeit, Solidarität und eine neue (um Europa erweiterte) Identität, noch um die Arbeit an dem gesellschaftlichen Vertrauen und politischen Aktivismus, sondern lediglich um den Erfolg des Einzelnen.36
Dieser Aussage lässt sich kaum widersprechen. So findet sich bei Szczygieł ein Satz, den der Autor selbst 1991 als repräsentativ bezeichnete. Als er nämlich nach Mława kam, um das dortige „Wirtschaftswunder“, eine Montagewerkstatt von Fernsehern, zu besuchen, schrieb er sich den angeblichen Rat einer Arbeiterin auf: „Hör mal zu Jadzia, hier ist es so schön, dass du dir ein Gebiss einsetzen lassen musst!“ (AR, S. 21). Diese in ihrem ironischen Unterton sehr treffende Aufforderung macht deutlich, dass die polnische Transformation und Privatisierung ein Denken erforderten, das sich auf die individuelle Identität fokussieren musste. Solch einer Denkweise huldigten die Autoren der Reportagen; von höchster Bedeutung war für sie die individuelle Anstrengung und Selbstverantwortung. Ein von Szczygieł verfasster Kommentar mutet daher heute noch besonders gnadenlos an: „In Polen ist das Unrecht moralisch richtig, nur die Opfer sind über jeden Verdacht erhaben. Die Schuld für die Misserfolge der eigenen Familie schieben wir immer anderen zu“ (NK, S. 69). Der auf die Individualität setzende Ansatz der Reporter ging mit einer lauten Kampagne einher, die zu Beginn der Transformation entwickelt und deren Parole von Ernest Bryll erfunden wurde: „Wir sind endlich in unserem eigenen Haus. Steh nicht still, warte nicht. Was ist zu tun? Hilf.“37 Es war ein Aufruf, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, einfallsreich zu sein und aufzuhören, auf den Staat zu rechnen.38 In einer Rezension des Buches Duchologia polska [Die polnische Geisterkunde] von Olga Drenda stellt Przemysław Czaplin´ski die folgende These auf: „[…] indem man die sozialen Wurzeln des Habitus modifizierte, versuchte man [den Polen] eine individualistische, zivilisatorische Vorstellung einzuimpfen.“39 36 Czaplin´ski, Widma transformacji, (Anm. 24). 37 Es geht hier um den Slogan einer populären Fernsehkampagne, die zur Regierungszeit von Tadeusz Mazowiecki ausgestrahlt wurde und an welcher sich viele Künstler und berühmte Persönlichkeiten der Kulturwelt beteiligten. 38 Vgl. Neoliberalizm udaje, z˙e nie jest ideologia˛. Z Rafałem Wosiem rozmawiaja˛ Marta Karpin´ska i Dorota Les´niak-Rychlak. In: „Autoportret“ 3 (2016) [online]. https://autoportret.pl /artykuly/neoliberalizm-udaje-ze-nie-jest-ideologia/ [1. 03. 2021]. 39 P. Czaplin´ski, Widma transformacji, (Anm. 24).
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Auch wenn dies richtig ist, so scheint es doch, dass der Mangel an kollektivem Denken und Handeln nicht lediglich die Folge jener „Impfung“ war. Es ist eher Ann Applebaum zuzustimmen, wenn sie in ihrem letzten Buch Zmierzch demokracji [Der Untergang der Demokratie] behauptet, dass „autoritäre Ideen gerade diese Menschen oft anziehen, die an Komplexität Anstoß nehmen. Solche Menschen mögen keine Spaltungen und bevorzugen die Einigkeit. Sie regen sich auf, wenn sie mit einer Vielfalt von Meinungen und Erfahrungen bombardiert werden.“40 Von solch einer Unfähigkeit, eine andere Meinung zu haben, berichtet die Reportage Kot gadac´ nie umie [Die Katze kann nicht reden] von Cezary Łazarewicz, in der der Reporter auf den damaligen sozialen Status ehemaliger Mitglieder des Präsidiums des Überbetrieblichen Streikkomitees vom August 1980 eingeht: Vor zwanzig Jahren hätten sie sich füreinander in Stücke reißen lassen. Heute reden sie nicht miteinander. Sie treffen sich nicht. „Wir waren zusammen, weil wir unsere Träume verwirklichen wollten. Nur dass jeder von uns von etwas anderem träumte“, sagt der Geschäftsmann und zugleich Taoist (TM, S. 283).
Es lohnt sich auch, den historischen Kontext zu bedenken. Die individualistische Haltung, der die Reporter huldigten, war weltanschaulich eindeutig profiliert. Die Freiheit, der Individualismus und vor allem die Auszeichnung des Einzelmenschen, Prinzipien also, die den Autoren wichtig waren, sind allerdings westliche Werte, die im Gegensatz zu den östlichen stehen, die den Polen in der Zeit des Kommunismus aufgezwungen wurden. Gemeint ist hier vor allem der Kollektivismus, der sich ja durch eine Missachtung des Einzelmenschen auszeichnet. An dieser Stelle muss nachdrücklich hervorgehoben werden, dass in den ersten Jahren der Transformation die ursprünglich mit der „Gazeta Wyborcza“ verbundenen Reporter die Disponenten eines von den meisten Polen respektierten Narrativs über die Freiheit, den Kapitalismus, die Rolle Europas und die Toleranz waren; auf diese Weise repräsentierten sie den ideologischen Mainstream und prägten den Diskurs der liberalen Intelligenz. So ist es kaum verwunderlich, dass sie sich begeistert eingeschaltet haben, als es darum ging, die Öffentlichkeit von den Modernisierungsprozessen zu überzeugen, einerseits durch die Aufwertung des Unternehmungsgeistes (ein ausgezeichnetes Beispiel stellt die Reportage Bardotka na Polenmarkt von Michał Matys und Piotr Lipin´ski über die „Bazar-Republik“ dar), andererseits durch den Verweis auf die Schattenseiten des politischen Strukturwandels.
40 A. Applebaum: Zmierzch demokracji. Zwodniczy powab autokratyzmu, übers. v. P. Tarczyn´ski. Warszawa 2020, S. 130f.
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Es scheint an dieser Stelle angebracht zu sein, die Frage aufzuwerfen, ob die Autoren der genannten Texte auf irgendwelche Weise, wenn auch unbeabsichtigt, an der Erzeugung jenes Bewohners von Krähwinkel beteiligt waren, von dem Agata Bielik-Robson 2002 in „Krytyka Polityczna“ schrieb. Sie warf den Autoren der „Gazeta Wyborcza“ damals vor, sie hätten, um ihre aufklärerische Mission zu legitimieren, einen Hinterwäldler kreiert.41 Diese Frage muss mit „Ja“ beantwortet werden. Als Beispiel sollen hier einige Auszüge aus drei Reportagen angeführt werden. In der ersten Reportage von Cezary Łazarewicz werden Reaktionen der Bewohner von Moz˙dz˙anow, einem Dorf in Pommern, auf die Nachricht dargestellt, dass ein namensloser Ertrunkener auf ihrem Friedhof bestattet werden soll. Zuerst äußert seinen Unmut der Dorfvorsteher, dem sich dann ein Einwohner anschließt: „Sie legen uns ein Kuckucksei ins Nest“, antwortete der Dorfvorsteher. Und dann fügte er hinzu: „Mensch, lass ihn nicht bei uns zurück, denn woher sollen wir denn wissen, dass er nicht irgendein Kommunist war? Wir sind hier ja alle ausnahmslos katholisch.“ (TM, S.126). „Ist das in Ordnung?“, Herr Paweł läuft bei der bloßen Erinnerung blau an. „Mit welchem Recht? Das hier ist ein katholisches Dorf. Wir halten alle zusammen. Und diese dort schaffen uns einen Fremden auf den Friedhof. Sollen sie mir meinen Platz wegnehmen, dann werde ich den selbst ausgraben, so wahr ich hier stehe.“ (TM, S.127).
Und in einer Reportage über einen geplanten Streik in der Lastkraftwagenfabrik Star überlegt eine der Protagonistinnen das Folgende: Wenn ein Hund einen Hasen erwischt, frisst er ihn doch nicht ganz auf. Er wird Eingeweide und Knochen hinterlassen. Ihm folgt eine Krähe und frisst sich ebenfalls satt. Und das restliche Ungeziefer auch. So hat das früher funktioniert, zur Giereks Zeit. Man konnte in der Aktentasche einen Nagel oder einen Ziegelstein mitgehen lassen. Wie viele Autos fahren denn in der Stadt herum und sind aus Teilen zusammengesetzt, die aus dem Betrieb kommen? Und jetzt, wenn ein Hund einen Hasen erwischt, dann frisst er ihn ganz auf, bis auf die Knochen. Heute wird dem Arbeiter alles vor der Nase weggewischt, wie mit einem Staubsauger.42
Und in der bereits erwähnten Reportage von Mariusz Szczygieł über Disco Polo heißt es:
41 Siehe: A. Bielik-Robson, Obrona kołtuna? In: „Krytyka Polityczna“ 1 (2002). Die Autorin schrieb: „Kolejne artykuły w ‚Gazecie Wyborczej‘ uz˙alaja˛ce sie˛ nad stanem polskiego ciemnogrodu, natychmiast znajduja˛ swoje wdzie˛czne pendant w pyskówkach ‚Naszego Dziennika‘, który chwali dokładnie to i tylko to, co ‚Gazeta‘ uprzednio zaatakowała. […] ‚Gazeta Wyborcza‘ wymys´liła kołtuna, ‚Nasz Dziennik‘ skwapliwie bierze go w obrone˛ […].“ 42 A. Bikont: Kobieta i me˛z˙czyzna w Starachowicach. In: Kraj Raj. Pisza˛ reporterzy „Gazety“, (Anm. 18), S. 15.
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„Diese Worte sind so richtig“, sagt Bernadetta. „Ich höre sie und es ist mir, als würde ich alle meine Freunde aus unserem Dorf sehen. Ich hasse diese Dichter, über die sie uns auf der Schule unterrichten. Kapierst du?“ (NK, S. 129).
In allen drei Beispielen verzichtet der Erzähler auf einen Kommentar, und die Protagonisten stellen sich selbst vor. Auf diese Weise wird die grenzenlose Naivität der Figuren entblößt; man hat den Eindruck, als wären sie jenes falschen Untertons, der Doppeldeutigkeit ihrer Urteile, nicht bewusst. Mühelos erkennen wir aber die Distanz des Reporters und die beabsichtigte Ironie; dies ist möglich, weil die Reporter ihre Texte an Leser richten, die über ein kulturelles Kapital und ein ähnliches Wertesystem wie sie selbst verfügen. Einerseits beschreiben die Autoren dieser Reportagen mit Sachkenntnis und Sensibilität Menschen, die es nicht geschafft haben, in den Zug mit der Aufschrift „Neues Polen“ einzusteigen; andererseits zwingen die textimmanente Distanz und Ironie dazu, über die eigene Welt hinauszugehen und ein tiefes Staunen über das Polen zu erleben, dass man nicht kennt. Geschichten über „Außenseiter, Randfiguren, Menschen, die hinausgestoßen wurden und am Straßenrand oder auf der Ersatzbank sitzen“ (AT, S. 317), wie sie von Hugo-Bader beschrieben werden, verwundern und befremden zugleich. Dies trägt (wenn auch unbeabsichtigt) wiederum dazu bei, dass das Narrativ von Polen „B“ oder „C“ verstärkt wird, ein Narrativ von Menschen mit einer Mentalität, die nicht der Vision oder vielmehr dem Traum von einem konfliktlosen Miteinander aller Bürger in einem sich modernisierenden, liberal-demokratischen Staat entspricht. Eines steht jedoch außer Frage: Die Reporter, die sich mit dem gesellschaftlichen Wandel nach 1989 befassen, haben weder eine einheitliche Erzählung noch ein solches Bild der Transformation kreiert, das als ein Mythos von kollektivem Erfolg und erfolgreicher Zusammenarbeit in der Erinnerung weiterleben könnte. Ganz im Gegenteil. Die bereits zitierte Ann Applebaum, die den Gründen für den Untergang demokratischer Werte sowohl hierzulande als auch im Ausland nachspürte, macht folgende Bemerkung: „Vor zwei Jahrzehnten muss es unterschiedliche Auffassungen von ‚Polen‘ gegeben haben, die nur darauf warteten, dass der Zufall, die Umstände oder persönliche Ambitionen sie ans Licht bringen.“43 Die Lektüre der erwähnten Reportagen aus den 90er Jahren zeigt Polen als ein Land, das bereits damals – das muss hier betont werden – geteilt war. Die angeführten Zitate belegen deutlich, dass es damals schon zwei Teile von Polen gab. Dabei handelt es sich nicht um eine geografische, sondern um eine zivilisatorische Spaltung. Die Zugehörigen dieser beiden Teile von Polen (die Nutznießer des Wandels, zu denen die Reportageautoren und ihre Leser gehören, im Ge43 Applebaum, Zmierzch demokracji, (Anm. 40), S. 214.
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gensatz zu den verlassenen, in gewisser Weise verlorenen und ihrer sozialen Bedeutung beraubten Figuren) sprechen eine grundsätzlich andere Sprache und berufen sich auf andere Werte. Dies sieht man in einer Reportage von Irena Morawska: Das nächste Thema, das das Dorf nach dem Einschlag des Wirbelsturms beschäftigt, ist die Frage: Wer hat den Wirbelstürm herbeigeführt? Gott oder Teufel? Dieser Streit hat Rakowo gespalten. Nur der Sohn des Dorfschulzen nahm eine Enzyklopädie heraus und fokussierte sich auf das Lemma „Windsturm“. Das Dorf hat jedoch den Sohn des Schulzen ignoriert. Es einigte sich darin, dass es zu wissenschaftlich sei für ein Dorf wie Rakowo.44
Jene Trennung gab es schon damals, aber niemand, auch nicht einmal die Autoren dieser Reportagen, ahnte, dass sie politisch instrumentalisiert werden würde. Zweifellos erweisen sich jedoch die Reportagen aus dieser Zeit, die heute nach vielen Jahren gelesen werden, nicht nur als eine schmerzhafte Erinnerung an die verdrängte Realität der Transformationsjahre, sondern auch als ein guter Stoff zur Diskussion über die Ursachen der heutigen gesellschaftspolitischen Situation in Polen. Übersetzt von Nina Nowara-Matusik
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Elz˙bieta Dutka (University of Silesia in Katowice)
“The Carpathian State”: Dense Description of the Post-Transformation World in Andrzej Stasiuk’s Fiction (a Reading from the Perspective of Geopoetics)
“The Carpathian State” In 2019, during the 5th edition of the Zygmunt Haupt Festival, a meeting was held entitled The State of the Carpathians. The invitation to this event stated: In Ukraine, there is a strong Carpathian identity; but in Poland, there is no such thing. In Ukraine, you live in the Carpathians; you go to the Carpathians; you are a Carpathian patriot; people write books about the Carpathians. In Poland, on the other hand, identity has no solid relation to a particular mountain range. We go walking in the Tatras; we live in the Bieszczady Mountains; we extol the beauties of the Low Beskids. The Carpathians are poorly represented in our consciousness. Also as a space of original and now endangered, unique, wild nature, the ancient Carpathian Forest is dying before our eyes. Why the difference? What prevented Poles from creating our own Carpathian myth? And can we even talk about the Carpathians as a truly separate (in terms of geography, nature, and culture) phenomenon on our real and mental map? Or is it just an artificial mental construct?1
The discussion was chaired by Andrzej Stasiuk, the originator and artistic director of the festival. In the intriguing title of the meeting is found a phrase which he also used in an essay published in 2006: “I have lived in the Carpathians for seventeen years and I have learned to think of them as a separate state or even a continent”.2 The phrase “The Carpathian State” signals interactions between space and literature which define the area of geopoetics research.3 On the one hand, important here is the place that can be found on a map. On the other hand, the comparison to a state emphasizes symbolic meanings which refer to both collective (social) and individual experiences. In Stasiuk’s fiction, specific loca1 The meeting took place on 28. 09. 2019; Pan´stwo Karpaty [online]. https://www.festiwalhaup ta.pl/wydarzenia-2019#sekcja-6786-26 [31. 01. 2020]. 2 A. Stasiuk: Karpaty. In: Id.: Fado. Wołowiec. 2006, p. 63. Quotations from this essay are marked in the main text with the abbreviation KF. 3 E. Rybicka: Geopoetyka. Miejsce i przestrzen´ we współczesnych teoriach i praktykach literackich. Kraków 2014, p. 10.
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tions and recognizable landscapes are of great importance. This author tells his stories from a specific point of view, emphasizing his location on the geographical periphery. And by consistently writing “in his own way”, he locates himself on the outskirts of the dominant discourses. In this sense, Stasiuk invariably remains a literary and an existential outsider,4 who years ago settled in a small village in the Low Beskids. The mountain spaces and foothills are the setting for the plot of Biały kruk5 [White Raven] and for Opowies´ci galicyjskie6 [Tales of Galicia]. This is the geographical background for the reflections carried out in Dukla7 and the destination of many journeys depicted, among other works, in Jada˛c do Babadag8 [On the Road to Babadag]. In his latest works, such as Wschód9 [The East], Kucaja˛c10 [Crouching], Kroniki beskidzkie i ´swiatowe11 [Beskidy and World Chronicles], the Carpathian landscape is contemplated and captured in “freeze-frames” which are almost lyrical. Initially, Stasiuk wrote mainly about the Low Beskids, a region that is closest to him (often confused with and identified as the Bieszczady Mountains), but in later works he came to perceive “his mountains” as part of a wider geomorphological formation – the Carpathian arch: “Because in fact my native region, my Low Beskids, [is] the most humble, the lowest range in the entire main ridge of the Carpathians”.12 Stasiuk’s chairing of the discussion on “The Carpathian State” was therefore both justified and provocative. Unfortunately, I did not participate in this festival event, and I do not know in what directions the discussion went. However, on the basis of my analysis of his fiction, I want to argue that the Carpathians in Andrzej 4 “In 1986 he left his hometown of Warsaw and settled in the Beskids, a mountainous province along Poland’s southeastern boundary, close to the border with Slovakia and Ukraine. The author’s biographical trials and tribulations, his decision to settle far from the centres of literary life, and his unceasing travels have all inscribed themselves onto his literary selfcreation as a rebel, an outsider, and an alcohol-inclined author of strong, masculine prose”. M. Marszałek: Alternative Cartographies (Andrzej Stasiuk). In: Being Poland: A New History of Polish Literature and Culture since 1918, eds. T. Trojanowska, J. Niz˙yn´ska, P. Czaplin´ski. Toronto 2018, p. 423–427, here p. 423. 5 A. Stasiuk: Biały kruk. Poznan´ 1995. 6 A. Stasiuk: Opowies´ci galicyjskie. Kraków 1995. 7 A. Stasiuk: Dukla, drawings by K. Targosz. Gładyszów 1997. Quotes from this work will be marked with the abbreviation D. 8 A. Stasiuk: Jada˛c do Babadag. Wołowiec 2004. 9 A. Stasiuk: Wschód. Wołowiec 2014. Quotes from this work will be marked with the abbreviation W. 10 A. Stasiuk: Kucaja˛c. Wołowiec 2015. Quotes from this work will be marked with the abbreviation K. 11 A. Stasiuk: Kroniki beskidzkie i ´swiatowe. Wołowiec 2018. Quotes from this work will be marked with the abbreviation Kbis´. 12 A. Stasiuk: Nie ma ekspresów przy z˙ółtych drogach. Wołowiec 2013, p. 58. Quotes from this work will be marked with the abbreviation Nm; S. Iwasiów: (Trans)national Journeys. A Case Study Using the Example of Selected Prose Works of Andrzej Stasiuk. In: “Forum of Poetics” 2 (2015), pp. 32–43.
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Stasiuk’s work, besides being a theme and an element of the represented world, also constitute a framework for a narrative about the social changes from the turn of the eighties and nineties to the present day, and, above all, are a problem that can be studied from the perspective of geopoetics.13 In this article, I will synthetically describe the connection between sociopolitical issues and the Carpathian space in Stasiuk’s early fiction. I will highlight the role of the Carpathians in stories about Poland’s Transformation as well as in the author’s idea of “my Europe”. I will devote more attention to Stasiuk’s latest fiction, in which the observation of changes in the cultural landscape of “The Carpathian State” is accompanied by a critical reflection on transformations in social life and by the affirmation of changes in the world of nature.
The settling of the Carpathians at the time of the Transformation The action of Andrzej Stasiuk’s first novel, Biały kruk, takes place in a mountain scenery. However, there are no sentimental or atmospheric views of the peaks. The mountain space has been represented in a surprising way, which one reviewer called “an escape from the mountains”: For Stasiuk, the mountains are not a mythical or an ideal place at the edges of Poland, where man feels his life more deeply and intensely. They do not provide breathtaking aesthetic impressions. They do not induce states of exaltation or enthusiasm. They do not unite man with the stars and the wind or any other element. They do not bring people closer together through a joint effort, through responsibility for every step taken, let alone through shared victories or defeats. They do not purify or calm down. They do not bring order into the chaos and hustle and bustle of everyday emotions. None of the protagonists of Biały kruk stares at the mountains as though they were an icon in which to see God.14.
Stasiuk describes the mountains as a place which is cursed and amorphous. He compares them to a tomb, a dissecting room, a prison.15 What is the reason for such images? The plot of Biały kruk is woven around an expedition undertaken by five men (former school friends) in the winter of 1993. The protagonists, for various reasons, have abandoned the familiar and safe world. Their mountain odyssey was supposed to be a remedy for the boredom and sterility of everyday 13 See: Rybicka, Geopoetyka, (note 3 above), p. 12. This researcher also notes that Stasiuk can be included in the group of “geographical” writers, who analyze the “density” and “texture” of places, their multidimensionality, their openness to other spaces. Ibid. p. 111. 14 M. Nalepa: Andrzeja Stasiuka ucieczka od gór. In: Miejsca, ludzie, opowies´ci. O twórczos´ci Andrzeja Stasiuka, eds. M. Rabizo-Birek, M. Zatorska, D. Niezgoda. Rzeszów 2018, pp. 179– 182, here p. 179. 15 Ibid., p. 179–182.
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life. However, it turned out into pointless wandering, an escape from a seeming pursuit by others, but in fact an escape from themselves and the inevitable passing of time. According to Przemysław Czaplin´ski, Biały kruk is a generational work, which “flawlessly identifies that generation’s experience of the world”.16 The novel captures such features of the generation as a protest-like refusal to participate in politics, the embracing of freedom to the point of chocking, a sense of being condemned in the existential dimension. This generational experience consists not in history and politics, but in “youth suspended in timelessness, invalidating history, returning in memories as a short-lived eternity”.17 Mountains are primarily a visualization of a vision of life, a value always and everywhere threatened by externality (which also includes time).18 In the works that followed, Opowies´ci galicyjskie, Dukla, Zima,19 and Taksim,20 Stasiuk consistently rejects the traditional topoi associated with the mountains. At the same time, thanks to the use of toponyms, he clearly marks the places: the vicinity of the Dukla Pass and the Łupkowska Pass, and Gorlice. In this setting, he shows the time after the Transformation: the collapse of collective agriculture, the civilizational changes in the countryside, and the inhabitants’ accelerated education in capitalism, which included the development of free trade and entrepreneurship. In Opowies´ci galicyjskie, the landscape of the mountains is stagnant, subjected only to the natural seasonal cycles. Similarly stagnant is the life of the people who live here; cultivating ancient rituals, they seem to be lost in the new reality. As Czaplin´ski has noted: The subversive character of Stasiuk’s prose consists in him describing the period following the 1989 Transformation in the Bieszczady Mountains in the language of biblical narrative. Through the metaphor of the deluge and the birth of a new world, he shows the clash of the Bieszczady’s timelessness with the moment of “another” creation of the world.21 16 P. Czaplin´ski: Wyprawa po wzniosłos´c´. In: Id.: Wzniosłe te˛sknoty. Nostalgie w prozie lat dziewie˛´cdziesia˛tych. Kraków 2001, p. 88. M. Marszałek writes: “Andrzej Stasiuk (b. 1960) is one of the most interesting Polish authors among those who debuted after the political watershed of 1989. His characteristic style of prose, which oscillates around three main themes – masculine identity, travel and Central European space – makes his writing easily recognizable after only a few sentences. At the same time, his work is representative of generation of Polish writers who came of age in the waning phase of postwar socialism. These weriters stood at a distance from both the one-time communist regime and its patriotic opposition, and – during the period of democratic transformation – were critical of neoliberal capitalism’s victorious march through the former Eastern Blog countries”. Marszałek, Alternative Cartographies (Andrzej Stasiuk), (note 4 above), p. 423. 17 Czaplin´ski, Wyprawa po wzniosłos´c´, (note 16 above), p. 89. 18 Ibid., p. 89. 19 A. Stasiuk: Zima. Wołowiec 2001. 20 A. Stasiuk: Taksim. Wołowiec 2009. 21 P. Czaplin´ski: Zamieszkac´ w krajobrazie. In: Id., Wzniosłe te˛sknoty, (note 16 above), p. 131.
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In Taksim, on the other hand, the provincial regions become the “Carpathian Benelux”, a “second hand” land.22 The window of a village shop filled with the colorful packaging of foreign washing powders and a bazaar stand with used clothing become, in Stasiuk’s depictions, a metaphor for the times of the transformation. Stasiuk observes both those who have been marginalized as a result of the Transformation and at the same time those who have tried to take advantage of the Transformation by undertaking various, not always legal, interesy, i. e., business deals. The represented areas are an anachronistic space and an arena for human dramas. Particularly interesting is Stasiuk’s story about one of the “most attractive tourist towns of the Low Beskids”.23 The eponymous Dukla, lying at the foot of Cergowa, has been depicted with the use of a very poetic convention; however, in this story we also encounter problems and emotions associated with the times after the Transformation (e. g., John Paul II’s pilgrimage to Poland). The sensual experience of the Beskidy microworld is evident in Zima [Winter], in which realistic pictures from the life of the province make up a narrative about the impoverished existence of the inhabitants of the Low Beskids. In this story, the foothill areas are not a place of undisturbed communion with nature, but a margin of modernity featuring a bus stop, a bazaar, and a garbage dump. Stasiuk exposes the contrast between the order of nature and the chaos created by people. Snow masks the ugliness of a rural world undergoing a hasty transformation. In contrast to it, the white ridges of the mountains are a natural harmony. In these stories, Andrzej Stasiuk “settled the Low Beskids, because it was there that he felt like an inhabitant”.24 The peripheral mountain range “responded” to the creative and readerly needs of the transformation times. It was a place of escape from the center associated with the previous system; it was a borderland in the process of being discovered; it was the edge of the map. The multicultural region of the Low Beskids satisfied the readers’ curiosity for otherness and their need for the exotic.
22 M. Zaleski: Taksim jak fatum. In: “Dwutygodnik.com” 14 (2009) [online]. https://www.d wutygodnik.com/artykul/486-taksim-jak-fatum.html [13. 12. 2020]. 23 Beskid Niski. Przewodnik, idea, cartographic description, ed. P. Lubon´ski. Pruszków 2012, p. 283. 24 P. Czaplin´ski: Mapa, córka nostalgii. In: Id., Wzniosłe te˛sknoty, (note 16 above), p. 117.
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Central European geographical metaphor In Dziennik okre˛towy25 [Ship’s Logbook], Stasiuk writes not only about particular mountain ranges, but about the entire Carpathian arch. At the beginning of the essay, the Carpathians are contrasted with the Danube, regarded as a geographical metaphor of Europe.26 This “father of rivers” is distant, while only ten kilometers from the author’s house runs the Carpathian watershed. Standing “astride the Carpathian ridge”, the essayist reflexively descends towards the sunny slopes, heading east (Dzo, pp. 78–79). It is a symbolic gesture. With his essay, published in the volume Moja Europa [My Europe], Stasiuk referred to the discussion on the cultural specificity of this part of the continent, which the political and economic transformation has put in a new situation.27 In Dziennik okre˛towy, but also in Jada˛c do Babadag and Fado, Stasiuk shows the “disappearing” Europe.28 He declares his aversion towards big cities and cultural centers. The routes of his wanderings lead primarily through the Carpathian countries (Romania and Slovakia, for example). He is interested in the part of Europe that has always been “in the shadows”29 and which struggles with the complex of its own peripherality.30 Czaplin´ski sees in Stasiuk’s writing a gesture that aims at reorienting the map, which involves “perforating” the myths of Europe’s unification and contrasting them with his own counter-myth.31 Stasiuk has not only turned away from the West, but also “shifted the center (of gravity) to the bottom of the map” and directed his attention to the South.32 He shows places less known or even absent from the European consciousness. He draws attention to serious unresolved problems on the Balkan Peninsula and undertakes an expedition to the post-Soviet East and crosses the border of the continent, thus discovering surprisingly many similarities between “his” Europe and Asia.33 In the face of the popular push towards the West, Stasiuk remains dis25 A. Stasiuk: Dziennik okre˛towy. In: J. Andruchowycz, A. Stasiuk: Moja Europa. Dwa eseje o Europie zwanej S´rodkowa˛. Wołowiec 2001, pp. 77–140. Quotes from this work will be marked with the abbreviation Dzo. 26 See: “Herito” 31 (2018). The topic of this issue is Dunaj – rzeka pamie˛ci [Danube – a River of Memory]. 27 See, for example: A. Glen´: Stasiuk. Istnienie. Łódz´ 2019, pp. 27–33. 28 This phrase comes from the collection of essays Znikaja˛ca Europa, ed. K. Raabe, M. Sznajderman. Wołowiec 2006. 29 A. Stasiuk: W cieniu. In: Sarmackie krajobrazy. Głosy z Litwy, Białorusi, Ukrainy, Niemiec i Polski, ed. M. Pollack. Wołowiec 2006, pp. 449–462. 30 A. Fiut: Byc´ (albo nie byc´) S´rodkowoeuropejczykiem. Kraków 1999, p. 24. 31 P. Czaplin´ski: Poruszona mapa. Wyobraz´nia geograficzno-kulturowa polskiej literatury przełomu XX i XXI wieku. Kraków 2016, p. 253. 32 Ibid. pp. 254–255. See also: J. Wierzejska: Mit Południa jako kontrapunkt dla opozycji Wschód – Zachód i podstawa mitu Europy S´rodkowej. In: “Porównania” 11 (2012), pp. 71–85. 33 Glen´, Stasiuk. Istnienie, (note 27 above), p. 51.
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trustful, fearing globalization, which for him is a new form of colonialism.34 He argues that “if there is a ‘truth’ of Central Europe, then it can be seen, not in the capitals, but in the provinces”.35 He drags out into the open the hidden complexes of Central Europeans, which he locates in their sense of their own “spiritual” and metaphysical superiority over the West. This, however, is essentially what the modern part of Europe refuses to accept – the acceptance of the passing of time and of the failure of human efforts.36 Czaplin´ski calls Stasiuk “an anti-Kundera of the Central-European discourse”, one who does not occidentalize Central Europe, but orientalizes it. “Cumulative signs of inferiority” are a form of selfdefense, an attempt to save one’s otherness.37 Stasiuk opts for critical thinking; he raises questions and provokes a deeper reflection on the period of the Transformation. The Carpathians are the geographical symbol of Stasiuk’s ideas about “my Europe”. Even though Stasiuk does not construct an erudite, elaborate image of the region in the manner of Czesław Miłosz,38 Milan Kundera39 and Claudio Magris,40 he consistently promotes the idea of the Carpathians as a Central European metaphor. This is an important element in his depictions of the changes related to the European transformation. “The Carpathian State” is a matter of feelings and everyday experiences, common to all people “living somewhere inside these amazing mountains, which on the map look as the backbone of Central Europe” (KF, p. 63). “The Carpathians resemble a wall, and maybe even a safe corner, a refuge” (Dzo, pp. 81–82). The mountains unite people and give them a sense of security, although the community founded on it has only an imaginary and a strongly conventional character: “To live in the Carpathians is to live in solitude, and at the same time [to live] with the sense of a distant community” (KF, p. 63). The Carpathian motifs in Stasiuk’s writing have been identified by Slovak literary scholar Radoslav Passia, who puts forth the term of the literature of the Eastern Carpathians.41 Passia also considers this mountain range (next to the Danube and Galicia) as a Central European geographical metaphor, one that 34 See, for example: S. Iwasiów: Postkolonializm wobec podróz˙y: niektóre przypadki Andrzeja Stasiuka. In: “Rocznik Komparatystyczny” 3 (2012), pp. 51–70; D. Kołodziejczyk: “The Slavic on the Road” – Eastern European Negative Nativism in Andrzej Stasiuk’s Travelogues. In: “Kultura – Historia – Globalizacja” 9 (2010), pp. 97–108. 35 Czaplin´ski, Poruszona mapa, (note 31 above), p. 257. 36 Ibid., p. 258. 37 Ibid., p. 260. 38 C. Miłosz: Rodzinna Europa. Warszawa 1990. The first edition was published in Paris in 1959. 39 M. Kundera: Zachód porwany albo tragedia Europy S´rodkowej, trans. M.L. In: “Zeszyty Literackie” 5 (1984), pp. 14–31. 40 C. Magris: Dunaj, trans. J. Ugniewska, A. Osmólska-Me˛trak. Warszawa 1999. 41 R. Passia: Na granicy. Literatura wschodnich Karpat. In: “Herito” 36 (2019), pp. 66–77.
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prompts comparative reflection.42 In this circle of East Carpathian literature, Passia has included the works of such writers as Bruno Schulz, Joseph Roth and ˇ apek, and contemporary authors: Ádám Bodor, Yuri Andruchovych, Karel C Marosˇ Krajnˇak, and others. Stasiuk has also been included in this group. In terms of themes, the literature of the Eastern Carpathians is distinguished by the characteristic sense of freedom, sketchiness, the openness of borders, and a tendency to create closed worlds functioning according to their own rules. It is a type of regional literature of a supranational and multilingual character,43 which can also be regarded as a “borderline aspect in individual national literatures”.44 Passia distinguishes two crucial periods in Eastern Carpathian literature: the first marks the collapse of the Habsburg monarchy and the year 1918; the other – the Transformation of 1989, when non-literary circumstances, i. e., a change in the geopolitical situation, led to “a paradigmatic change in the treatment of the border of the Carpathians, which, from a closed-off area, inaccessible and turbulent, transformed into an area of open communication between the native and the alien”.45 In Stasiuk’s works we can find a dense description of these transformations.
“A land of ghosts, a kingdom of the past, and a cosmopolitan republic of cemeteries” While accepting the inclusion of Stasiuk among the circle of Eastern Carpathian writers, one finds it hard to ignore that in his work the thought of the Carpathians as a Central European geographical metaphor does not lead to in-depth analysis in historical, social or political contexts. For example, there is no mention of the idea of a Europe of the Carpathians (which has been discussed by European politicians for years),46 even though his articles published in Kroniki beskidzkie i ´swiatowe are largely journalistic in nature. Instead, with characteristic nonchalance, Stasiuk merely states: “The Carpathians belong to four, even five countries; at the same time, they do not belong to any single one of these. They have an archaic life of their own” (KF, p. 65). This characterization sounds like a provocation and seems to demand verification. The Carpathians stretch through the territories of, not four or five, but as many as eight countries: Austria, the Czech Republic, Poland, Slovakia, Hungary, Ukraine, Romania, and Serbia. In 42 43 44 45 46
Ibid., p. 72. Ibid., p. 68. Ibid., p. 72. Ibid., p. 71–72. W. Paruch: Europa Karpat. Warszawa 2016 [online]. http://www.sejm.gov.pl/media8.nsf/file s/ASEA-ADMCYQ/%24File/EuropaKarpat-pl-scren.pdf [10. 01. 2021].
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terms of geography, these mountains actually connect the central, eastern and southern parts of the continent. They constitute one of the two largest mountain ranges in Europe, located in its central part, about 1300 km in length and 120– 350 km in width. The Carpathians mark climatic boundaries; they are a European watershed between the catchments of the Baltic Sea and the Black Sea.47 The plant and animal world of these mountains is rich. Man appeared here as early as the Neolithic period. The economic importance of the Carpathians is considerable, although it varies from country to country and has changed throughout history. The geographical conditions and the cultural history of these mountains encourages comparisons with the arc of the Alps,48 which binds Western Europe. Jacek Purchla, writing about the symbolic significance of the Carpathians, has noted that “not only do they unite more often than they divide, but, in addition, in their stubborn stillness, they remain an ideal point of reference in discussions about history, heritage, and culture”.49 Stasiuk, however, primarily focuses on anachronism as a characteristic feature of the Carpathians. This can be regarded as another literary provocation, thickening the description of reality. In her interpretation of Stasiuk’s idea of Central Europe, Dorota Siwor combines archaicism and the unchanging persistence of this region with its lack of “historically motivated belonging”.50 It is separated from the West, but also different from the East; moreover, “[i]t is not subject to the laws set by modern societies guided by such concepts as borders, nations, and citizenship. Instead, its reality is determined by an eternal, unshakable order, repetitive behavior […] [and] a fixed system of values”.51 We can add that the archaic nature of the Carpathian spaces is related to changes – both in the past and in the present; the immutability of the region is a counterpoint to descriptions of its transformation. Stasiuk perceives the Carpathians as a place shaped and changed by different cultures, of which only traces remain. Like an archaeologist, he brings to light the subsequent layers of the past. However, he does not offer a systematic lecture on the history of the Carpathians, but rather a kind of selective introduction, inasmuch as he draws attention primarily to two historical layers. Set deepest in the past are remarks about the dead cultures which had an impact on the cultural landscape of the Carpathians. Stasiuk repeatedly draws 47 J. Kondracki: Karpaty. In: “Encyklopedia PWN” [online]. https://encyklopedia.pwn.pl/haslo /Karpaty;3920698.html [11. 12. 2020]. 48 See, for instance: A. Beattie: The Alps: A Cultural History. Oxford 2006; S. O’Shea: The Alps: A Human History from Hannibal to “Heidi” and Beyond. New York / London 2017. 49 J. Purchla: Od Redakcji. In: “Herito” 36 (2019), p. 1. The topic of this issue is Karpaty [Carpathians]. 50 D. Siwor: Na peryferiach…, czyli czego moz˙na szukac´, jada˛c do Babadag? Mityczne tropy w prozie Andrzeja Stasiuka. In: Id.: Tropy mitu i rytuału. O polskiej prozie współczesnej – nie tylko najnowszej. Kraków 2019, pp. 70–87, here p. 76. 51 Ibid.
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attention to the traces of the migrations of ancient pastoral peoples imprinted in the landscape and in the local names: “Not far from home I have these peaks: Magura, Dziamera, Kornuta – these names traveled here along the Carpathian range from as far off as the Balkans, perhaps from ancient Macedonia or from ancient Albania” (KF, pp. 63–64). He mentions the Carpathian valleys inhabited by newcomers from the Balkans (W, p. 30); he devotes a lot of attention to the Lemkos (Nm, p. 138): The area where I live is beautiful and empty. With a bit of luck, you can wander all day without meeting a single person. However, it is impossible to walk two or three kilometers without encountering traces of past life. There were once villages here inhabited by the Lemkos. […] Wandering in wild meadows, you can come across figures of the Crucified Christ carved in brittle gray sandstone. Sometimes in the midst of a young forest you can see a representation of the Holy Family or a statue of the Virgin Mary with the features and shapes of a work-weary peasant woman. In glades in the woods stand tombstones made of rock. The inscriptions are in Cyrillic (Nm, p. 57).
The migrations undertaken a thousand years ago in the Balkans ended in April 1947, when the last Lemkos were displaced as part of Operation Vistula52 (W, p. 31). The mountains, however, seem to be silent about the tragedy that happened here: “As if the landscape one day simply shook off all this with the absolute, monumental indifference of nature. But of course it was different. There were screams, running, dragging people out of the huts, cursing, beatings” (V, p. 15). The other layer of the past, which Stasiuk exposes with particular determination in his fiction, is connected with the First World War. In the vicinity of the Low Beskids, there were battles, after which there remained many soldiers’ cemeteries. The writer visits them, performing a kind of rite for the fallen of all nationalities. He reminds us that “their blood flows down” the ridges of the Carpathians (Kbis´, p. 26). For this reason, the Carpathians “are a land of ghosts, a kingdom of the past and a cosmopolitan republic of cemeteries” (Nm, p. 58). However, these are not only layers of the past, revealed by the author, but also an element that significantly shapes the genius loci: Dead villagers, buried inhabitants, dead soldiers of non-existent armies – all this within a half-hour walk. And at the same time, the emptiness of the mountains, the greenery, the heat, the silence, and birds of prey suspended motionless in the hot air above the valleys. In moments like this, the world resembles a large, peaceful cemetery completely devoid of the horror of death. Then you can almost feel under your feet the successive 52 “Operation Vistula […] was a codename for the 1947 forced resettlement of the Ukrainian minority including Boykos and Lemkos from the south-eastern provinces of post-war Poland, to the Recovered Territories in the west of the country”. https://en.wikipedia.org/wiki/Opera tion_Vistula [2. 05. 2021]. See: G. Motyka: Tak było w Bieszczadach. Walki polsko-ukrain´skie 1943–1948. Warszawa 1999.
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layers of history, ruins, and bones. It is very possible, however, that this is the specificity of this region, of this strange crossroads between the East, which communes with death even more intimately, and the West, which tries not to believe in death (Nm, p. 59).
The thought of past life, of dead cultures, and of absent inhabitants makes us aware of emptiness. Referring to Martin Pollack’s essay,53 we can say that Stasiuk does not idealize the mountains close to him, but writes about them as one of “contaminated landscapes” – a place of crime and human tragedies. Traces of the past are a constant memento mori. They remind us of changes brought about by history, but they also make us aware of the inevitability of change and transience: I go up to the pass and, as usual, I stop to look at the accumulating layers of time. At the Vlachs, Ruthenians, communists, and capitalists. At the traces they left behind. When I moved here, it seemed to me that the air was full of ghosts and voices. It probably was. I wonder if the present will also leave some ghosts behind it. […] Will anyone stop here to look at the past? (W, pp. 299–300).
“My country”, or chronicles of changes Andrzej Stasiuk recalls that he first came to the Low Beskids in 1983, during the Orthodox Easter. He still remembers the village of Rozstajne, which does not exist any longer: “all that is left is the name and a brick chapel by the bridge” (W, p. 31). He also remembers the view of the Orthodox church in the village of Bartne on Holy Saturday. The illuminated temple seemed to him then to resemble a sailing ship and brought to mind Chagall’s paintings (Kbis´, pp. 321– 322). After several decades of living in the Low Beskids, the author notices changes. Modern churches – “boats of concrete” (Kbis´, pp. 55–59) – now obscure the old wooden temples, many of which have disappeared altogether or are used as decorations in wedding photos. Deserted villages have become even more empty or have taken on a modern look. These changes are primarily external: I simply want to say that my homeland has changed. And the scale is not that of cities, towns, roads, infrastructure, investments – all this is already a cliché and boring. The homeland has changed privately. It has changed beyond recognition. I have a good memory of my homeland and I know what it looked like twenty years ago and what it looked like thirty years ago. Two weeks ago I visited the Bieszczady Mountains. The Bieszczady of hunger, wolves, and the shadow of Bandera – and not much else. But now there are hedges, manicured gardens, local Louvres and Wilanóws, statues made of plaster, root artworks, exhibitions of agricultural monuments on iron wheels with a coat of shiny conservation
53 M. Pollack: Skaz˙one krajobrazy, trans. K. Niedenthal. Wołowiec 2014.
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paint, “nikifory”54 hewn out of wood, and figures of the pope cast in epoxy. And these neon-bright paints: yellow, cinnabar, purple, cyclamen and burgundy, and pistachios, and pictobello. And tin roof tiles, and bitumen on the roads. And full-size trampolines for kids, and blue above-ground pools. And evergreen hedges and rhododendrons. Sometimes teeth hurt from looking. But I respect and admire it. Because people have the energy to organize their world according to their will and taste. And you can tell that they have the strength and the means. And it is like that anywhere you go. Everywhere in the homeland (Kbis´, p. 135).
Stasiuk observes the changes in a critical way. He denounces the blind imitation of richer countries, the forgetting of local culture, as well as a basic lack of a sense of beauty. However, Stasiuk detects deeper problems underneath the external changes. For example, when he writes about the first supermarket in the district, he describes not only the new consumption habits (excessive buying, flaunting one’s financial potential), but also the hidden longings (Kbis´, p. 196). Significant is the story of people going to shopping malls only to feel the warmth and just to be among others (Kbis´, p. 80). Under the phenomena that seem to be natural for a modern, developing society, such as the desire to change “for the better”, Stasiuk sees sources of many tragedies, such as the “fetish of constant growth” and the pursuit of “ever-increasing wealth” (Kbis´, pp. 138–139). The most important consequence of the European transformation was the restoration of freedom, but this has brought with it a number of questions, i. e., how freedom should be understood and what it leads to (Kbis´, pp. 57–58). Stasiuk tends to be skeptical on this issue. It seems that the inhabitants of the “The Carpathian State” cannot handle freedom very well; they go astray when making choices and pursuing opportunities. The observation of socio-political life confirms this: the successive scandals and pathologies, the echoes of which appear in the articles published in Kroniki ´swiatowe i beskidzkie. Stasiuk also poses the question of what has become of religion; he takes a critical stand towards the church authorities; he writes about the increasing secularization and the materialism of young people. He touches on issues related to pop culture, which “has gnawed us to the bone. Like cancer, [pop culture] eats away our identity and memory” (Kbis´, p. 16). He writes about the compulsive indulgence in play: “in order to have fun, we will give away everything, including memory, because boredom is worse than death” (Kbis´, p. 17). “For there is nothing that perturbs the contemporary man more than the boredom of everyday life, the climate, and the place of birth” (Kbis´, p. 46). Such remarks are usually formulated in a playful, 54 “Nikifory” – it is an ironic neologism derived from nickname Nikifor – Nikifor Krynicki, actually Epifaniusz Drowniak (1895–1968) – a primitive painter. See: M. Kitowska-Łysiak: Nikifor [online]. https://culture.pl/en/artist/nikifor [21. 09. 2021].
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ironic way; sometimes the tone is very emotional. In presenting a fairly negative picture of contemporary changes, Stasiuk does not want to sound like a moralist, but tends to adopt the attitude of a distanced observer who, from the vantage point of his Beskid village, is looking critically at the present times. A change that Stasiuk strongly emphasizes as one with practical and symbolic significance is the fact of Poland entering the Schengen area. Stasiuk recalls the joyful crossing of the open Polish-Slovak border, but also the distrust of the local residents, as if not fully convinced that the border would cease to have its former meaning. Stasiuk tries to explain their attitude by writing: “We were born and raised in the part of Europe and the world where borders were girded with barbed wire with guard towers standing over them” (Kbis´, p. 177); “The emblem of these lands is distrust” (Kbis´, p. 178). It seemed that the abolition of borders would end the old world order, and yet the entrenched divisions have remained. Stasiuk writes about a mountain border crossing where many of his trips began: “Driven by nostalgia, I sometimes go to my old border crossing in Konieczna. It is empty and abandoned. Gone is the notice bearing the announcement that it was for sale. Perhaps someone has already bought it and is now quietly waiting for it to fall into ruin” (Kbis´, p. 235). Nostalgia, however, soon gives way to the thought of the need for change: “After all, the world does not stand still and everything may change yet!” (Kbis´, p. 237). Thus, the movement on the border, which Radoslav Passia describes as a “poetological principle” of Eastern Carpathian literature,55 actually plays an important, albeit ambiguous, role in Stasiuk’s writing. A Beskid outsider, Stasiuk stresses the problematic and conventionality of borders: Besides, living in the Carpathians means remembering that citizenship and nationality have meant little in these parts. Sometimes, in extravagant and cosmopolitan dreams, I see the main Carpathian ridge. I leave the house and start walking east, and then I turn south, and I don’t cross any borders. I walk past flocks of sheep, huts, shepherds, dogs, and in winter time there is not even that. Across the ridge, through deep valleys, run several railway lines and several roads which connect foreign countries. The roads and the railway tracks look like some kind of prank, like extraterritorial corridors hollowed out to the other side of the mountains. A noisy, restless current of modernity flows through them, but the mountains themselves remain unmoved (KF, pp. 66–67).
In addition to the issue of borders, which remain present in the consciousness, even though they are constantly crossed, the above passage summons the topos of the unshakable mountains opposed to the restless current of modernity. Paradoxically, this topos not only emphasizes the immutability of the mountains, but also makes us aware of changes. And, similarly to the motif of the border, it is far from obvious and somewhat surprising. In his monograph on representations of nature in art, Jacek Woz´niakowski writes about various attitudes and about 55 Passia, Na granicy, (note 41 above), p. 72.
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changes expressed in successive mutations in culture: romantic and ecological.56 A similar paradox can also be seen in Stasiuk’s writing. On the one hand, this author notes that mountains remain unmoved, while on the other he also takes note of the significant changes in the approach to mountains. These transformations also seem to correspond to changes in culture, and especially in the humanities. Indeed, reading Stasiuk’s successive works convinces us that a significant change is associated with his increasing ecological awareness. Mountains are no longer just a geographical metaphor and a symbol, but also a delicate ecosystem. In the mountain space, closeness to nature and human-animal bonding are experienced with particular intensity. In Stasiuk’s more recent works, it is precisely these interspecies relationships that are increasingly coming to the fore. However, in the essay Karpaty one can already find this sentence: “The animal element entered the center of the human element, and this was fine, because in a natural and mundane way this evoked the memory of our beginnings” (KF, p. 66). Common to humans and animals is vulnerability, the fragility of life, and mortality. In the stories from the volume Kucaja˛c, but also in Kroniki beskidzkie i ´swiatowe, there is a frequent mentioning of “crouching”, i. e., getting closer to animals. The author is fond of observing birds and conducts semiphilosophical dialogues with sheep. He writes about his relationships with dogs and argues in favor of interspecies closeness: “For we are animals, even though we try hard to forget about this” (C, p. 122). The sense of community also extends to the landscape. Particularly expressive in this respect is the way in which Stasiuk anthropomorphizes and animizes Mount Cergowa, which rises above the town of Dukla and which “looked as if it were crawling northwards, dragging a heavy, sprawling body behind it, like some kind of a seal or a man crawling on his hands and knees” (D, p. 20). Another important change in Andrzej Stasiuk’s writing, which can be associated with socio-political changes, is the gradual departure from Central European discourses, and historiosophical considerations, in favor of direct observation of what is closest. Topographical sensitivity and mindfulness can result both from disappointment with current politics and social life and from anxiety about the future of a united Europe; they can be a consequence of inhabiting a specific place. Kroniki beskidzkie i ´swiatowe makes it clear that Stasiuk narrows his perspective down to “my country”, which is sometimes identified with “homeland”, but primarily refers to the area closest to home, stretching between two Beskid peaks: Mareszka and Uherc (Kbis´, pp. 273–276). “My country” becomes the point from which he observes changes, a place where he keeps records 56 J. Woz´niakowski: Góry niewzruszone. O róz˙nych wyobraz˙eniach przyrody w dziejach nowoz˙ytnej kultury europejskiej. In: Id.: Pisma wybrane. Vol. 2: Góry niewzruszone i pisma rozmaite o Tatrach, ed. N. Cies´lin´ska-Lobkowicz. Kraków 2011.
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in both his Beskidy and world chronicles. At the same time, world chronicles are to a lesser extent concerned with international relations or global problems (although such topics do appear in the articles); more often, they treat of the world of nature. Images of Carpathian nature become the hallmark of Stasiuk’s style: “The sun is just rising; it shines somewhere underground between Mareszka and Uherc. In my country” (Kbis´, p. 273). Stasiuk begins many of his articles with such observations, from looking at the world outside the window to observing cyclical changes in nature. In literary images of mountain landscapes, as in “freeze-frames”, he describes natural changes, to which everything is subjected (Kbis´, p. 188). Compared to the descriptions of mountains in Biały kruk, for instance, here perhaps lies the most important transformation in Stasiuk’s writing. From the dramatic “escape from the mountains” and the inevitable, he moves on to the contemplation of the view and the acceptance of the natural order, in which there is room for change. His descriptions of “my country” in the times after the political Transformation and in the time of constant “natural” transformation can be characterized in his own words: “no anthropocentrism. The same matter, the same coarse grain in the image, the same fragile existence on the brink of visibility” (Kbis´, pp. 329–330). This is Stasiuk’s comment on the photographs of Viktor Volkov, in which people seem to be part of the landscape. In my opinion, these words also may be taken to refer to the thickening descriptions of changes as seen from the Carpathian perspective.
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Paweł Tomczok (Schlesische Universität in Katowice)
Literatur des polnischen Gore-Kapitalismus
Ziel dieses Artikels ist es, die von der mexikanischen Forscherin Sayak Valencia vorgeschlagene Kategorie des „Gore-Kapitalismus“ auf die Analyse der polnischen Transformation anzuwenden, in deren Verlauf sich verschiedene Formen der illegalen Wirtschaft entwickelten. Als Beispiele für solche Organisationen illegaler Wirtschaft der Transformation können die so genannte Schwarzarbeit, illegale Arbeit (z. B. Drogenhandel), Bildung illegaler sozialer Gruppen (Banden, Mafias, oft auf der Grundlage von Fußballvereinen) oder Schmuggel dienen. Mit der illegalen Arbeit ist die Situation der Gesetzwidrigkeit verbunden – ohne Schutz vor Ausbeutung, vor Gewalt, und oft mit der Androhung von Gefängnis. Die Zeit der Transformationen war auch Zeit, in der die Zahl der Gefangenen in den überfüllten Gefängnissen stark anstieg. In diesem Beitrag werde ich ausgewählte Reportagen und Essays der letzten dreißig Jahre präsentieren, die die erwähnte Problematik widerspiegeln, aber auch versuchen, sich damit auseinanderzusetzen, indem sie beispielsweise eine Ideologie des bösen Menschen erzeugen, der bestraft werden muss, wenn er es verdient. Diese gnostischen Motive legitimieren und vervollständigen die Struktur der kapitalistischen Gewalt, bilden die offizielle Ideologie des Gore-Kapitalismus, auch wenn sie oft auf historischen Beispielen beruhen. Im ersten Teil des Artikels wird der Begriff des Gore-Kapitalismus erörtert sowie der polnische Kontext dieses Begriffs skizziert. Im zweiten Teil werde ich mich darauf fokussieren, extreme Armut anhand von Reportagen und wissenschaftlichen Essays darzustellen. Im dritten Teil werden Reportagen über das Gefängniswesen und die Kriminalität zum Gegenstand der Analyse. Im Abschluss des Artikels versuche ich, die ideologischen Grundlagen der Desensibilisierung gegenüber radikalen sozialen Problemen zu rekonstruieren, die während der Transformation vor allem aufgrund der so genannten dunklen Essayistik in Erscheinung getreten sind. Ich berücksichtige des Weiteren den Grund für das Entstehen einer großen Zahl von Reportagen, die das Thema der Transformation und ihrer sozialen Kosten aus einer neuen Perspektive behandeln.
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Gore-Kapitalismus Die offizielle Ideologie der polnischen Transformation war ein positives Bild des Kapitalismus, der auf Arbeit basiert, insbesondere auf der Tätigkeit von Familienunternehmen, die durch gemeinsame Anstrengungen die Grundlagen der kleinbürgerlichen Ethik schaffen. Im Geiste des guten Ethos des Kapitalismus von M. Weber wird die wirtschaftliche Tätigkeit oft als große Anstrengung, intensive Arbeit und Verzicht auf Freizeitaktivitäten dargestellt, um Kapital anhäufen zu können. Dieses positive Bild des Kapitalismus wird in der offiziellen Interpretation durch Visionen der Globalisierung ergänzt1, die als große Chance zur Erschließung ausländischer Märkte und zur Gewinnung ausländischer Investoren verstanden wird, die die polnische Wirtschaft modernisieren werden. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass diese beiden Teile der kapitalistischen Struktur – Familienunternehmen und internationale Konzerne – miteinander in Konflikt geraten mussten. Nach einigen Jahren der Entwicklung von kleinen Familienbetrieben mussten viele kleine Unternehmen im Wettbewerb mit internationalen Institutionen aufgeben, die eine Quasi-Monopolstellung innehatten und nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch viel mächtiger waren, so dass sie Steuerbefreiungen und Steuererleichterungen nutzen konnten, um ihre Position zu verbessern. Die Ende der 1980er Jahre begonnene Transformation Polens durchlief daher verschiedene Phasen, in denen sich einzelne Wirtschaftszweige entwickeln, aber auch zusammenbrechen konnten – durch Liquidation, Privatisierung oder Wettbewerb.2 Die offiziellen kapitalistischen Wirtschaftsmechanismen wurden jedoch stets von einer geheimen Seite begleitet, die zwar in den ideologischen Bildern nicht vorkam, in Texten der Populärkultur und in der Publizistik jedoch häufig zu Tage trat. Zu dieser dunklen Seite des Kapitalismus gehörten die Überzeugungen von der Allgegenwärtigkeit von Sonderdiensten und korrupten sowie mafiösen Geschäften. Insbesondere Filme und Fernsehserien vermittelten im letzten Jahrzehnt des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Überzeugung, dass „die erste Million gestohlen werden muss“ und dass der größte Erfolg in der neuen Wirtschaft von Menschen ohne ethische Skrupel erzielt wird.3 Die dunkle Seite des Kapitalismus eröffnet jedoch ein noch viel breiteres Feld illegaler und informeller wirtschaftlicher Aktivitäten, die sich von den bereits erwähnten unklaren Quellen großer Vermögen über rechtlich ungeregelte Arbeit 1 Die Sichtweise auf Globalisierung in den 1990er Jahren lässt sich z. B. anhand des Buches von Zygmunt Bauman: Globalizacja. I co z tego wynika dla ludzi rekonstruieren, übers. v. E. Klekot. Warszawa 2000. 2 Vgl. P. Lipin´ski, M. Matys: Niepowtarzalny urok likwidacji. Wołowiec 2018. 3 Vgl. R. Wos´: Zimna trzydziestoletnia. Nieautoryzowana biografia polskiego kapitalizmu. Kraków 2019.
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bis hin zu illegalen, oft mit Haftstrafen belegten Arbeiten, wie Drogenhandel, erstrecken. Unter den Bedingungen der Transformation werden auch verschiedene Formen der „schwarzen“ Arbeit von besonderer Bedeutung sein, ebenso wie Tätigkeiten wie der Kohlenabbau in einem primitiven Armenschacht, der für die ehemaligen Bergleute aus Wałbrzych [Waldenburg] die einzige Chance war, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Je weiter man in der Hierarchie der illegalen Arbeit nach unten geht, desto öfter stößt man auf Subjekte, deren Rechte eingeschränkt wurden – die Arbeit findet ohne Sicherheitsvorschriften statt, ist oft von polizeilicher und anderer Gewalt bedroht, nicht selten auch jeglichen Ansehens beraubt und oft mit Erniedrigung und Verachtung verbunden. Die auf brutaler Gewalt und Kriminalität, illegalen Waren und Dienstleistungen basierende Wirtschaft wurde von Sayak Valencia in ihrem Buch Gore Capitalism beschrieben. Das Paradigma dieses Kapitalismus ist die US-mexikanische Grenze geworden, ein Ort, an dem illegale Waren und Menschen geschmuggelt werden, ein Ort, der weitgehend von den Mafias kontrolliert wird. Es ist zu bemerken, dass man hier mit einem wirtschaftlichen Phänomen zu tun hat – einem intensiven Austausch von Waren und Geld, aber jenseits des Gesetzes. Dies ist ein wichtiger Moment, in dem die kapitalistische Wirtschaft den gesetzwidrigen Fluss und die Ausbeutung intensiviert. Sayak Valencia hat den Begriff „Gore-Kapitalismus“ Filmen entnommen, die extreme Gewalt, übertriebenes Blutvergießen oder die Zerstückelung von Körpern zeigen. Der Autorin zufolge ist der Gore-Kapitalismus „der Preis, den die Dritte Welt für die Unterordnung unter die immer anspruchsvollere Logik des globalen Kapitalismus zahlt.“4 In dieser neuen kapitalistischen Formation, die sich vor allem in den Übergangszonen zwischen der Ersten und der Dritten Welt entwickelt, verwandelt sich die Anhäufung von Waren in eine nekropolitische Anhäufung von Leichen, die oft durch brutalen Mord gekennzeichnet sind. Extreme Formen des Gore-Kapitalismus werden mit dem Drogenhandel, der einen großen Teil der globalen Wirtschaft ausmacht, und mit dem Investieren der auf diese Weise erzielten Erlöse in Verbindung gebracht. Die „Gore-Kultur“ bietet jedoch einen viel breiteren Katalog von Gewaltformen, die in vielen Gesellschaften zu erkennen sind, darunter in Polen, wo seit der Wende die Zahl der Inhaftierten, die in der illegalen und informellen Wirtschaft beschäftigt waren und brutaler, oft mit gefährlicher, auszehrender Arbeit verbundener Gewalt ausgesetzt waren, deutlich gestiegen ist. Die illegale Wirtschaft hat in der polnischen Geschichte eine lange Tradition. Es genügt, die zahlreichen Formen des Schmuggels und die Schmugglernetze zu erwähnen, die illegale, aber auch einfach billigere Waren lieferten, beispielsweise
4 S. Valencia: Gore Capitalism, übers. v. J. Pluecker. South Pasadena 2018, S. 19.
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während der Teilung Polens. Der Zweite Weltkrieg5 und die Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur in den Jahren 1939–1956, in denen Andrzej Leder ein revolutionäres Potenzial sieht und es als Wachtraum6 bezeichnet, waren sicherlich ein kulturelles Training für die illegale Wirtschaft. Während die Volksrepublik Polen versuchte, den illegalen Handel oft durch Propagandakampagnen gegen den Schwarzmarkt einzudämmen, kam es in den 1980er Jahren erneut zu einer Intensivierung des illegalen, halblegalen Handels und des Schmuggels. Der Transformationskapitalismus baute also auf kulturellen und sozialen Strukturen auf, die perfekt auf einen alternativen Austausch von Waren und Arbeit vorbereitet waren. Es ist daher nicht verwunderlich, dass nach 1989 verschiedene illegale Ökonomien aufblühten, die Polen und Polinnen oft halfen, den raschen Wandel, die Verarmung und die hohe Arbeitslosigkeit zu überleben.7
Slumwelten im Wandel Die Auflösung zahlreicher Industriebetriebe im ersten Jahrzehnt des Wandels sowie zu Beginn des 21. Jahrhunderts hatte zur Folge, dass viele Regionen8, Städte und Stadtteile Schlüsselarbeitgeber verloren haben und großer Teil der Bevölkerung von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen war.9 Der Verfall städtischer Räume hat dazu geführt, dass man diese als Slums zu bezeichnen begann – aus diesem Grund kann man für diesen Teil des vorliegenden Artikels auf den Titel eines Buches von Mike Davis10 verweisen. Der amerikanische Sozialwissenschaftler zeichnete Ende des 20. Jahrhunderts ein Bild des Wachstums von Orten, an denen sich ein Überschuss an Landbewohnern entwickelte, die aber keine Arbeit fanden, weil die Industrie mit dem Bevölkerungsanstieg nicht Schritt halten konnte oder weil das Phänomen der Deindustrialisierung einsetzte. Die polnischen Städte kämpften praktisch vom 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg mit diesem Problem. Die Peripheriewirtschaft war nicht in der Lage, eine ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen zu schaffen, deshalb wurden die 5 Vgl. M. Zaremba: Wielka trwoga. Polska 1944–1947. Ludowa reakcja na kryzys. Warszawa 2012. 6 Vgl. A. Leder: Polen im Wachtrau. Die Revolution 1939–1956 und ihre Folgen, übers. v. S. Ewers. Osnabrück 2019. 7 Der „Übergang“ wird als Paradigma der kapitalistischen Transformation und ihrer kulturellen Antworten in Boris Budens Strefa przejs´cia. O kon´cu postkomunizmu (Warszawa 2012) rekonstruiert. 8 Ein Beispiel für die essayistische Reportage über die Degradierung der Region Zagłe˛bie ist das Buch: M. Okraska: Ziemia jałowa. Opowies´c´ o Zagłe˛biu. Warszawa 2018. 9 Vgl. A. Karpin´ski, S. Paradysz, P. Soroka, W. Z˙ółtowski: Od uprzemysłowienia w PRL do deindustrializacji kraju. Losy zakładów przemysłowych po 1945 roku. Warszawa 2015. 10 Vgl. M. Davis: Planeta slumsów, übers. v. K. Bielin´ska. Warszawa 2009.
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Städte der Vorkriegszeit zu Räumen der Konzentration von Armut für die Außenseitern, deren Zahl durch Auswanderung reduziert werden konnte, was vor dem Krieg immer schwieriger wurde. Die Überbevölkerung der Städte, die in Zeiten der Wirtschaftskrisen besonders spürbar war, zeigte sich in den Wohnungsproblemen – in überfüllten Wohnungen ohne jegliche Grundausstattung und in provisorischem Bauwesen.11 Die Wohnungsbaupolitik der Nachkriegszeit kam diesen Problemen mit modernistischen Massenbauprojekten entgegen, insbesondere von Wohnblöcken, in denen breite Bevölkerungsschichten untergebracht werden konnten, vor allem die Arbeiter der neu entstehenden großen Industriebetriebe, die oft in Provinzstädten angesiedelt waren. Für diese Siedlungen, in denen vor allem die Beschäftigten des Hauptindustrieunternehmens lebten, stellte die Liquidation des wichtigsten und manchmal einzigen großen Arbeitgebers eine Bedrohung oder vielmehr die Ursache für den sozialen Abstieg dar. Aleksandra Leyk und Joanna Wawrzyniak, Autorinnen des Buches Cie˛cia. Mówiona historia transformacji [Kürzungen. Die gesprochene Geschichte der Transformation], in dem sie Erzählungen von Beschäftigten sozialistischer Betriebe gesammelt haben, definieren den Titelbegriff wie folgt: In den Geschichten, die sie bereit waren, mit uns zu teilen, bezogen sie sich jedoch alle auf Reduktion und Umstrukturierungen vor über 20 Jahren. Was ihre Geschichten verbindet, ist das Thema „Kürzungen“, das den Wandel begleitet. Der Abbau von Personal und Raum, die Abschaffung alter Handlungsmuster und die Auflösung zwischenmenschlicher Beziehungen waren Prozesse, die, wenn auch auf unterschiedliche Weise, alle betrafen: Arbeitnehmer, Leiter, Geschäftsführer, Gewerkschafter, in der Produktion, im Labor und im Büro. Um die Erfahrung von „Kürzungen“ drehen sich die komplexen und vielfältigen Erinnerungs-, Überzeugungsmuster, Werte und Emotionen, die das allgemeine Gedächtnis des Sozialismus und der Transformation ausmachen, was dieses Buch offenlegt.12
Die großen sozialistischen Betriebe boten natürlich Möglichkeiten für Verdienst und Lebensunterhalt. Aber ihre Rolle ging eindeutig über das Wirtschaftliche hinaus. Die Arbeit in einem Betrieb und das Leben im selben Stadt- oder Bezirksraum schufen zusätzliche nachbarschaftliche Bindungen, eine gemeinsame Kultur, die auf der Teilung desselben Ortes und der damit verbundenen Möglichkeiten oder Probleme beruhte. Die erwähnte „Auflösung zwischenmenschlicher Beziehungen“, die durch die „Titelkürzungen“ vollzogen wurde, kann als Konkretisierung der Metapher eines sozialen Organismus verstanden werden, der „zerschnitten“, desintegriert und in Teile zerlegt wird. Gerade diese Kür11 Über die ungelösten Wohnungsprobleme der Vorkriegszeit schreibt ausführlich Filip Springer. Siehe: Ders.: 13 pie˛ter. Wołowiec 2015. 12 A. Leyk, J. Wawrzyniak: Cie˛cia. Mówiona historia transformacji. Warszawa 2020, S. 9.
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zungen reduzieren die vom sozialistischen Betrieb organisierte Gemeinschaft auf die vom Neoliberalismus gewünschten Individuen und Familien, die mit der Verantwortung für ihre Situation selbständig umgehen müssen. Das Buch Łowcy, zbieracze, praktycy niemocy. Etnografia człowieka zdegradowanego [Jäger, Sammler, Praktiker der Kraftlosigkeit. Ethnographie des erniedrigten Menschen] von Tomasz Rakowski gehört zu ersten Erfassungen des Ausmaßes an sozialen Schäden in Transformationszeiten. Der Forscher bediente sich der Methode der teilnehmenden Beobachtung, um durch den degradierten Menschen dessen Kultur und die existenziellen Strategien zu beschreiben, die sie in einer äußerst schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Situation entwickelt haben. Der Autor geht von der Feststellung aus, dass sich die Jahre zwischen 2001 und 2006 „für viele als die Zeit des tiefsten Zusammenbruchs, der schlimmsten Krise erwiesen haben. Es waren die Jahre der sozialen Erfahrungen des großen Rückschritts, der Massenarbeitslosigkeit und oft der endgültigen Auflösung der bisherigen Existenzfähigkeiten“13, die durch die immer knapper werdende Sozialhilfe kaum gemildert wurden: begrenztes Arbeitslosengeld und der demütigende Versuch, Unterstützung von staatlichen Einrichtungen zu erhalten.14 Rakowski hat Wałbrzych zu einem seiner Forschungsgebiete gemacht, eine Stadt, in der alle Kohlebergwerke innerhalb weniger Jahre geschlossen wurden, was viele Jahre hoher Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit für die gesamte Region bedeutete. Ethnografische Methoden ermöglichten es ihm, die Kultur der Menschen zu beobachten, die in den Gruben des illegalen Kohlenabbaus arbeiten. Rakowski hat die Konstituierung von Ritualien erfasst, die es den vom Verfall betroffenen und zu illegaler und vor allem gefährlicher Arbeit gezwungenen Menschen ermöglichten, ihre Würde zu bewahren. Ein Beispiel für solche Handlungen war die strikte Einhaltung der Grenzen des Hauses, das man nicht in schmutziger Arbeitskleidung betrat. Das Thema der Armenschächte von Wałbrzych wurde auch von Katarzyna Duda in ihrem Buch Kiedys´ tu było z˙ycie, teraz jest tylko bieda. O ofiarach polskiej transformacji [Einst gab es hier Leben, nun herrscht nur noch Armut. Über die Opfer der polnischen Transformation] aufgegriffen, das aus Reportagen und Interviews mit Beschäftigten verschiedener geschlossener Betriebe besteht und die Situation derjenigen schildert, die gezwungen waren, auf dem Arbeitsmarkt verfügbare Jobs, als Wachleute oder Reinigungskräfte, anzunehmen. Hier soll ein Auszug über die Gefahren der Arbeit in den Armenschächten angeführt werden: „Auf die Armenschachtarbeiter lauerte die Gefahr aus mindestens drei Richtungen: Sie konnten in einem Loch verschüttet werden, sie liefen Gefahr, von der 13 T. Rakowski: Łowcy, zbieracze, praktycy niemocy. Etnografia człowieka zdegradowanego. Gdan´sk 2009, S. 5. 14 Ebd., S. 50.
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Polizei erwischt zu werden, oder sie konnten von der Kohlemafia und anderen Armenschachtarbeitern angegriffen werden.“15 Einer von Dudas Gesprächspartnern merkt an, dass die Armenschachtgebiete als „Todeszone von Wałbrzych“16 bezeichnet wurden. Diese Worte können auf den Gore-Kapitalismus verweisen, zumal die schmutzigen, mit Kohlenstoffablagerung bedeckten Bergleute aus den Armenschächten im Stadtraum eine Assoziation mit etwas Unheimlichem hervorrufen konnten, was sich den lebenden Toten annähert, die aus dem Untergrund auftauchten. Die Zähmung dieser Assoziation, die Verleihung ihrer Einzigartigkeit einer üblichen Form, kann von einer Etablierung von Gewaltbildern in der transformativen Realität zeugen. Die weniger phantasievolle, eher reale Bedeutung der zitierten Passage bezieht sich stattdessen auf die mehr formalen Aspekte des Gore-Kapitalismus. Die Arbeit ist extrem gefährlich, von Polizeigewalt bedroht, sie ist jedoch auch in verschiedene mafiöse Geschäfte verstrickt und muss den Banden untergeordnet werden, die den illegalen Arbeitern Hilfe und Schutz bieten. Duda beschreibt auch die Geschichten der Sicherheitsleute. In Sicherheitsunternehmen fanden viele ehemalige Industriebetriebsarbeiter eine Beschäftigung, die nach jahrelanger illegaler Arbeit, oft als Rentner oder Behinderte, auf dem sich entwickelnden Markt des Gebäudewachdienstes eine sehr billige Arbeitskraft darstellten. Durch das Outsourcing dieser Tätigkeiten waren die Pförtner und Hausmeister nicht mehr bei den Unternehmen beschäftigt, die sich in dem zu schützenden Gebäude befanden, sie wurden bei Sicherheitsfirmen angestellt, die ihnen Arbeit zu wesentlich schlechteren Bedingungen anboten. Die in Dudas Buch zitierte Aussage von Herrn Bogdan veranschaulicht die Probleme bei der Gewährleistung sicherer bzw. menschenwürdiger Arbeitsbedingungen: Leider befinden sich Pförtnerlogen, Wachposten und Dienststellen nicht immer in mit Marmor ausgekleideten Ämtern, modern riechenden Bürogebäuden, Krankenhäusern oder Schulen. Oft handelt es sich dabei um alte Kioske, Buden, Wohnwagen, Baustellenwagen oder sogar… das eigene Auto, wenn man selbstverständlich ein solches hat, das irgendwo unter einem Baum geparkt ist. Und all dies unabhängig von der Jahreszeit. Einrichtungen ohne Zugang zu Toiletten, ohne fließendes Wasser, undicht, schlecht beheizt, unbeleuchtet, verfault, dreckig, sind selbst für Gesunde schwer auszuhalten, ganz zu schweigen von kranken, älteren oder schwachen Menschen. Der 12-, 16- oder 24-Stundendienst macht die Sache nur noch schlimmer. Ich habe einmal auf einer solchen Baustelle gearbeitet, auf der es keine Toiletten gab. Der Chef zeigte mir ein solches Grashaufen und sagte, dass man dorthin mit dem Klopapier geht. Nach solchen Erfahrungen ist es traurig, dass die Leute froh sind, dass es ihnen nicht auf den Kopf 15 K. Duda: Kiedys´ tu było z˙ycie, teraz jest tylko bieda. O ofiarach polskiej transformacji. Warszawa 2019, S. 34. 16 Ebd., S. 35.
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tropft, dass sie eine Toilette haben, die 10 Meter und nicht zwei Kilometer entfernt ist, und dass sie einen Wasserhahn haben. Solche Dinge sind für diese Menschen im 21. Jahrhundert ein Luxus.17
Die unmenschliche Behandlung von Arbeitnehmern, die manchmal ihre Arbeit für staatliche Einrichtungen leisten, ist das Ergebnis von Kosteneinsparungen bei Dienstleistungen wie Sicherheit oder Reinigung. Die finanzielle Optimierung hat eine riesige Gruppe von Arbeitnehmern ihrer Arbeitsverträge beraubt, sie durch Aufträge oder Werkverträge ersetzt und ihnen die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes genommen. Diese Grundsicherungen, für die die Arbeiter im 19. Jahrhundert gekämpft haben, werden heute zunehmend verletzt, was die Arbeitnehmer in einen Zustand der Erniedrigung und Entwürdigung stürzt. Rakowski schreibt, dass seine Forschungen „einen Ausschnitt der geheimen, verborgenen Geschichte“ darstellen.18 Obwohl die Armut während der Transformation viel sichtbarer als in der Volksrepublik Polen war19, wurde ihre Sichtbarkeit sehr schnell abgeschwächt – die Armen wurden als Menschen dargestellt, die ihr Schicksal selbst verschuldet haben, vor allem aufgrund von Alkoholismus, Faulheit und Unfähigkeit. Über die Armen wurde in einer solchen Weise gesprochen, die ihre Seltsamkeit veranschaulichen sollte. In einem der interessantesten Auszüge aus dem Buch erwähnt Rakowski die Aussagen der Bergleute, in denen sie eine „gesellschaftliche Zerstörungsstimmung“20 zum Ausdruck brachten – reale Bilder von der „totalen Zerstörung“ von Industrieanlagen wurden durch Phantasien von der Sprengung der gesamten Umgebung, dem Anzünden oder dem Umpflügen des Geländes ergänzt. Der Ethnologe bemerkte in diesen Äußerungen unverständliche kollektive Zufriedenheit mit der Destruktion, die umso unverständlicher ist, als sie die Bergleute selbst betraf. Rakowski stellt die These auf, dass diese „imaginierte Selbstzerstörung“ aus dem alltäglichen Umgang mit Tod und Gefahr resultieren kann, obwohl er hinzufügt, dass die Zahl der registrierten Unfälle in Armenschächten geringer als in den ehemaligen Bergwerken war. Er bemerkt in diesen Parolen Akte der Selbstaggression, Ausdruck der alltäglichen wirtschaftlichen Hilflosigkeit, die auf die Schwierigkeit zurückzuführen sind, die eigene missliche Lage zu kommunizieren.
17 Ebd., S. 73. 18 Rakowski, Łowcy, zbieracze, (Anm. 13), S. 60. 19 Vgl. Zrozumiec´ biednego. O dawnej i obecnej biedzie w Polsce, hrsg. v. E. Tarkowska. Warszawa 2000, S. 11. 20 Rakowski, Łowcy, zbieracze, (Anm. 13), S. 145.
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Elend hinter Gittern Zu den wichtigsten Institutionen der illegalen Wirtschaft gehört das Gefängnis – das Risiko einer Verurteilung ist mit den gesetzwidrigen Arbeiten verbunden, und der Gore-Kapitalismus selbst bildet ein komplexes, mit dem Gefängnis gekoppeltes System. Die Verbindung zwischen Gefängnis, Neoliberalismus und dem Verwalten der armen Bevölkerungsgruppen wurde von Loïc Wacquant in seinem Buch Elend hinter Gittern systematisch dargestellt. Der Kontext seiner Geschichte ist der Übergang von einem Sozialstaat zu einem neoliberalen Strafrechtsstaat. Während der frühere Staat danach strebte, die unteren Schichten zu unterstützen und verschiedene Formen der Sozialhilfe sowie Chancen- und Einkommensgleichheit zu gewährleisten, verfolgt der neoliberale Staat ganz andere Ziele – er reduziert die Sozialhilfe in der Überzeugung, dass jeder für sein eigenes Leben verantwortlich ist und selbst zurechtkommen muss. Und der Begriff der Verantwortung selbst führt direkt zu immer härteren Strafen, oft für geringfügige Verbrechen. In Zusammenhang mit der Regierung von Ronald Reagan und Margaret Thatcher kann man daher von einer repressiven Wendung sprechen, die in Analogie zu einer großen Inhaftierung von Irren an der Schwelle zur Modernität als die „große Gefangenschaft der Armut“ bezeichnet werden kann. In Anlehnung an Michel Foucault, der nicht nur Wahnsinn und Gesellschaft: Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, sondern auch Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses21 verfasst hat, lässt sich auch an die von zahlreichen Wissenschaftlern und Politikern geäußerten Hoffnungen auf die Schließung der Gefängnisse erinnern, da diese nicht zur Resozialisierung der Verurteilten beitragen, sondern ihre Ausgrenzung eher noch verstärken. In den 1980er und 1990er Jahren gerieten diese Ideen fast völlig in Vergessenheit, und die Gefängniszellen füllten sich mit neuen Häftlingen – auch wenn dieser Trend durch den verzeichneten Anstieg der Kriminalität nicht bestätigt wurde.22 Wacquant rekonstruiert die ökonomische Seite dieses strafrechtlichen Unternehmens. Ohne Sozialhilfe und unter Androhung von Gefängnisstrafen sollten die Bürger eher damit einverstanden sein, schmutzige und schlecht bezahlte Arbeit zu verrichten, und die Arbeitslosigkeit selbst wurde als Folge der persönlichen Probleme von faulen und schwachen Individuen betrachtet, die durch starke Repressionen dazu gebracht werden müssen, Arbeit anzunehmen:
21 M. Foucault: Nadzorowac´ i karac´. Narodziny wie˛zienia, übers. v. T. Komendant. Warszawa 2009. 22 Zum Wandel der Theorie der Strafe siehe: J. Utrat-Milecki: Kara. Teoria i kultura penalna: perspektywa integralnokulturowa. Warszawa 2010; B. Stan´do-Kawecka: Polityka karna i penitencjarna mie˛dzy punitywizmem i menedz˙eryzmem. Warszawa 2020.
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Das Wachstum des amerikanischen Strafrechtsstaates, der fortschreitende Niedergang des öffentlichen Sektors und die Deregulierung stehen keineswegs im Widerspruch zum neoliberalen Projekt. Sie stellen vielmehr ein Negativ dar, das ihre wahre Natur offenbart – Politik der Kriminalisierung des Elends ist eine notwendige Ergänzung zur Einführung von Niedriglöhnen als Bürgerpflicht und zur Reform der Sozialprogramme in einer restriktiven und strafenden Richtung.23
Das Gefängnis beginnt eine Schlüsselrolle im System der Armutsverwaltung zu spielen. Erstens prägt es den Markt für unqualifizierte Arbeitskräfte und regelt die unteren Segmente des Arbeitsmarktes. Dadurch wird die Arbeitslosigkeit künstlich gesenkt – einerseits durch den Ausschluss der Gefangenen vom Arbeitsmarkt, andererseits durch die Schaffung von Arbeitsplätzen in der Gefängnisverwaltung. Die letztgenannten Stellen sind jedoch schlecht bezahlt, und die Voraussetzung für das Bestehen einer Art Gefängnispyramide ist das kontinuierliche Wachstum des Systems durch immer größere Gruppen von Häftlingen. Zweitens, was im Kontext der Vereinigten Staaten besonders wichtig ist, halten die Gefängnisse eine Rassenordnung aufrecht, die auf der Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung, insbesondere des schwarzen Subproletariats, beruht. Ein ähnlicher Prozess kann bei der Bestrafung von Einwanderern in europäischen Ländern beobachtet werden. Schließlich geht es darum, die Armen und Gefangenen wirtschaftlich und ideologisch rentabel zu machen, indem man sie zwingt, niedrig bezahlte Arbeit anzunehmen. Der Ausbau des Gefängnissystems in neoliberalen Strafrechtsstaaten ist somit ein zentrales Mittel zur Bestrafung von Armut und Arbeitslosigkeit und gleichzeitig zur Disziplinierung der Unterschichten. Wacquant zitiert einen norwegischen Soziologen und Kriminologen, um auf die Hauptgruppen zu verweisen, die von der neuen Strafrechtspolitik betroffen sind: Überall in Europa dient die Drogenbekämpfungspolitik als Vorwand für den „Krieg gegen den Teil der Gesellschaft, der als am wenigsten nützlich und potenziell am gefährlichsten gilt.“ Gemeint sind Arbeitslose, Obdachlose, Landstreicher, Bettler, illegale Einwanderer und andere ausgegrenzte Menschen.24
Laut Nils Christie bildet die neoliberale Strafrechtspolitik das westliche Pendant zum Gulag, dem sowjetischen System der Strafkolonien und der Zwangsarbeit. Während man in den letzten Jahren in polnischen Büchern sehr viel über das verbrecherische sowjetische System lesen konnte, beginnen erst in den letzten Jahren Reportagen über polnische Gefängnisse zu erscheinen, die das Ausmaß dieses Problems im polnischen Sozialsystem zu erkennen erlauben.
23 L. Wacquant: Wie˛zienia ne˛dzy, übers. v. M. Kozłowski. Warszawa 2009, S. 96. 24 Ebd., S. 113. Wacquant bezieht sich hier auf Nils Christies 1994 erstmals erschienenes Buch Crime Control as Industry: Towards Gulag Western Style.
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In den polnischen Gefängnissen ist die Zahl der Häftlinge nach der Transformation stark angestiegen und hat in den letzten Jahren 70.000 Insassen überschritten.25 Dieser Anstieg der Häftlingszahlen ist auf die Zunahme der Kriminalität im Zuge der wirtschaftlichen Umwandlung zurückzuführen, aber auch auf die strengere Bestrafung von Straftaten und die häufigere Anwendung von langer Haftstrafe. Die Autorin von Pudło [Knast] will „das Leben im Gefängnis“26, die mit ihm verbundenen Emotionen, Erinnerungen und Geschichten rekonstruieren, deshalb können ihrem Buch viele Erzählungen von Häftlingen selbst über ihre Versuche, sich an das Gefängnissystem anzupassen, entnommen werden. Ein besonderes Augenmerk richtet sie dabei auf Personen mit härteren Strafen und Rückfällige, denn, wie sie in der Einleitung erklärt, sie sind diejenigen, denen sie die Frage stellen wollte, warum laut Statistik so viele Häftlinge wieder ins Gefängnis kommen, nachdem sie weitere Straftaten begangen haben. Arbeit ist in den letzten Jahren zu einem wichtigen Bestandteil des Gefängnisaufenthalts geworden. In den Zeiten der niedrigen Arbeitslosigkeit und des Mangels an billigen Arbeitskräften erweist sich die Arbeit der Häftlinge als eine wichtige Ergänzung für einige Wirtschaftszweige, insbesondere bei Tätigkeiten, die keine Qualifikationen verlangen. Die niedrigen Kosten der Arbeit von Gefangenen bringen den Firmen, die bereit sind, das Risiko der Beschäftigung von Gefängnisinsassen einzugehen, hohe Gewinne, und für die Insassen bieten sie die Möglichkeit, einen Teil des erzielten Einkommens zu erhalten und das Gefängnis vorübergehend zu verlassen. Wie die Verfasserin der Reportage feststellt, „haben Häftlinge, die im Gefängnis arbeiten, praktisch keine gesetzlichen Rechte“27, was ermöglicht, sie zu langen Arbeitszeiten zu zwingen. Aus einer anderen Perspektive nähert sich Paweł Kapusta in seinem Buch Gad. Spowiedz´ klawisza [Luder. Bekenntnis eines Schließers] dem Problem des Gefängnissystems. Er erzählt nicht die Geschichte von Gefangenen, sondern von Gefängnismitarbeitern. Wirtschaftliche Aspekte kommen schon bei der Beschreibung der Motivation für die Aufnahme einer Arbeit im Strafvollzug zur Sprache – in der Wendezeit war die Arbeit in einer staatlichen Einrichtung eine der wenigen und oft die einzige Möglichkeit, eine dauerhafte Beschäftigung zu finden. Kapusta beschreibt ziemlich treffend die „Psyche eines Schließers“, der sich von der Welt seiner Arbeit distanzieren und sich gegenüber verschiedenen Gefühlen, die mit ständiger Spannung und Gefahr verbunden sind, desensibilisieren muss. Zu den wichtigsten Passagen des Buches gehören die Aussagen zur Resozialisierung. Die weithin kritisierte und unterminierte Idee, sich für die 25 Vgl. N. Olszewska: Pudło. Opowies´ci z polskich wie˛zien´. Poznan´ 2020, S. 55. 26 Ebd., S. 13. 27 Ebd., S. 106.
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moralische Verbesserung der Gefangenen einzusetzen, wird von einem der Spezialisten im Gefängnis auf die Gesellschaft verlagert: Wenn es bei der Resozialisierung darum geht, den Menschen das Leben in der Gesellschaft beizubringen, wo sollte dieser Prozess dann stattfinden? In der Gesellschaft. Die Gesellschaft würde den Kriminellen jedoch lieber hinter Gittern einsperren und nichts mit ihm zu tun haben wollen. So soll er dort sitzen. Die Gesellschaft, die in diesem Prozess eine wesentliche Rolle spielen sollte, ist leider widerspenstig und hat Vorurteile gegenüber Menschen, die das Gefängnis verlassen.28
Die Stigmatisierung der Gefangenen, die soziale Ablehnung derjenigen, die aus dem Gefängnis entlassen werden, funktioniert als soziale Produktion von Rückfälligen. Reportagebücher über Gefängnisse, die in einen Dialog mit Gefangenen oder Gefängnispersonal treten, bilden ein Beispiel für einen neuen Blick auf ein mythologisiertes Thema in unserer Kultur. Von besonderer Bedeutung waren in den letzten Jahren die Veröffentlichungen über Menschen, die zu Unrecht verurteilt wurden und denen es nach vielen Jahren gelungen ist, ihre Unschuld zu beweisen.29 Vielleicht eröffnen diese Geschichten die Chance, das Gefängnis anders sowie seine grundlegende Schädlichkeit für den menschlichen Körper, das Leben und die Psyche zu verstehen. Das Einsperren von Individuen in überfüllten Gefängnissen und die Unfähigkeit, eine angemessene Betreuung zu gewährleisten, führt zu einer zunehmenden Degradierung von meist wirtschaftlich und sozial schwachen Menschen.30 Ein Staat, der einen möglichst großen Teil der Gesellschaft bestrafen will, der über seine eigene Härte phantasiert, ist Teil des Gore-Kapitalismus, denn er nimmt illegale Brutalität in seine Institutionen auf, um weitere Bürger in die Erniedrigung zu stürzen.31
Schlusswort Literarische und vor allem reportagenartige Darstellungen des polnischen GoreKapitalismus sind erst in den letzten Jahren erschienen. Man kann daher die Frage stellen, warum die Kultur erst nach dreißig Jahren des Wandels versucht, 28 P. Kapusta: Gad. Spowiedz´ klawisza. Warszawa 2019, S. 226. 29 Vgl. V. Krasnowska: Be˛dziesz siedziec´. O polskim systemie niesprawiedliwos´ci. Wołowiec 2020. Nach dem Freispruch von Tomasz Komenda, der zu Unrecht wegen Mordes verurteilt worden war, wurde das Thema der Ungerechtigkeit zum Thema in den Medien. 30 Vgl. A. Nawój-S´leszyn´ski: Przeludnienie wie˛zien´ w Polsce – przyczyny, naste˛pstwa i moz˙liwos´ci przeciwdziałania. Łódz´ 2013. 31 Neben Büchern, die die Ökonomie der Gefängnisse beschreiben, erscheinen auch liberale Auffassungen von „Hassverbrechen“. Siehe: P. Niemczyk: Pogarda. Dlaczego ros´nie liczba przeste˛pstw z nienawis´ci w Polsce. Kraków 2019.
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die Problematik ernsthaft aufzugreifen, die sie zuvor auf ironische, spöttische und manchmal ideologische Weise präsentiert hat, um ein Gefühl der Bedrohung zu verstärken und die Gesellschaft dazu zu veranlassen, Kriminelle hart zu bestrafen und die Armen zu verachten. Vielleicht beginnt die Kultur der neoliberalen Gesellschaft erst nach drei Jahrzehnten der Transformation Abstand zu ihren eigenen Traumata zu gewinnen, um sie ernsthaft zu artikulieren, zu verarbeiten und Alternativen zu erwägen. Während der gesamten Wendezeit waren die wichtigsten Leistungen der Literatur auf die ferne Vergangenheit gerichtet – insbesondere auf den Zweiten Weltkrieg, den Warschauer Aufstand, den Holocaust und die „verfemten Soldaten“. In gewissem Maße artikulierten diese wichtigen Themen aktuelle Probleme in einem historischen Gewand, aber vielleicht versperrten sie vielmehr auch die Möglichkeit einer literarischen Erfassung zeitgenössischer Probleme, somit dienten sie oft als Ideologie, als falsches Bewusstsein, das die Realität verdeckte, die vielleicht noch zu schwierig war, um sie literarisch zu artikulieren, zu traumatisch, weil sie die Katastrophe vieler Menschen beinhaltete, deren Leben durch die Transformation verkürzt wurde, indem sie zu vielen vorzeitigen Todesfällen durch Krankheit und Selbstmord führte.32 Anstatt die Realität zu analysieren, hat ein Großteil der Kultur den Fokus darauf gerichtet, auf Beispiele für das extreme Böse zu verweisen, das mit dem Zweiten Weltkrieg, dem Holocaust, dem Gulag verbunden war. Viele Essayisten wie Cezary Wodzin´ski, Dariusz Czaja oder Zbigniew Mikołejko haben sich in ihren Werken engagiert mit den Phänomenen des Bösen auseinandergesetzt, ohne dabei die in der heutigen Realität steckenden wirtschaftlichen Quellen des Bösen zu sehen.33 Andere, wie Józef Tischer, entwarfen das fatale und verächtliche Konzept des Homo Sovieticus, das die soziale Degradierung der Arbeitslosen rechtfertigen sollte – durch ihre mangelhafte Erziehung im Sozialismus, der die Menschen zu auf Hilfe wartenden Sklaven machte, die aber unfähig waren, selbständig zu handeln. Diese Theorien stellten einen ideologischen Vorhang für die wirklichen Probleme dar, konnten aber gleichzeitig eine immer härtere Politik gegenüber den Armen und den Verbrechern legitimieren, denen man einfach einerseits die Bestialität, die bestraft werden muss, und andererseits ein Versagertum, dem nicht abgeholfen werden kann, zugeschrieben hat. Heute greifen viele Romane die Zeit der Transformation wieder auf; vor allem behandeln die Werke von Autoren, die in den 1980er Jahren geboren wurden, Themen, die lange Zeit verschwiegen oder stereotyp aufgefasst wurden. In den Büchern von Anna Cieplak34 und Wojciech Mucha35 wird die Geschichte des 32 Vgl. G. Therborn: Nierównos´c´, która zabija, übers. v. P. Tomanek. Warszawa 2015. 33 Dieses Thema wird ausführlich in meinem Beitrag geschildert: P. Tomczok: Polityki ciemnej eseistyki. In: „Jednak Ksia˛z˙ki. Gdan´skie Czasopismo Humanistyczne“ 11 (2020), S. 68–78. 34 A. Cieplak: Lata powyz˙ej zera. Kraków 2017. 35 W. Mucha: Miasto noz˙y. Warszawa 2019.
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Wandels durch das Prisma der jahrelang verachteten Provinzplattensiedlungen und der verschiedenen Formen der Handlungen jenseits des Gesetzes dargestellt. Insbesondere ist der Roman Miasto noz˙y [Die Stadt der Messer], der sich mit dem Milieu der Fußball-Hooligans auseinandersetzt, zu einem wichtigen Diskussionspunkt über die literarische Artikulation der plebejischen Wendeerfahrung36 geworden, die mit dem Gefühl der Erniedrigung, der Ungleichheit und der Kriminalität einhergeht. Vielleicht kommt nach den Reportagen Zeit für gelungene literarische Darstellungen des Wandels, vor allem seiner dunklen Seiten, die genau untersucht werden müssen, um gleichzeitig die Realität unter Einfluss der Ideologien zu erkennen, die diese Realität jahrelang verschleiert haben. Übersetzt von Magdalena Popławska
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36 Vgl. P. Kaszczyszyn: Bo my wszyscy z tych szarych bloków. Wokół „Miasta noz˙y“ Wojciecha Muchy [online]. https://klubjagiellonski.pl/2020/06/04/bo-my-wszyscy-z-tych-szarych-bloko w-wokol-miasta-nozy-wojciecha-muchy [14. 04. 2021].
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Niemczyk P.: Pogarda. Dlaczego ros´nie liczba przeste˛pstw z nienawis´ci w Polsce. Kraków 2019. Okraska M.: Ziemia jałowa. Opowies´c´ o Zagłe˛biu. Warszawa 2018. Olszewska N.: Pudło. Opowies´ci z polskich wie˛zien´. Poznan´ 2020, S. 55. Rakowski T.: Łowcy, zbieracze, praktycy niemocy. Etnografia człowieka zdegradowanego. Gdan´sk 2009. Springer F.: 13 pie˛ter. Wołowiec 2015. Stan´do-Kawecka B.: Polityka karna i penitencjarna mie˛dzy punitywizmem i menedz˙eryzmem. Warszawa 2020. Therborn G.: Nierównos´c´, która zabija, übers. v. P. Tomanek. Warszawa 2015. Tomczok P.: Polityki ciemnej eseistyki. In: „Jednak Ksia˛z˙ki. Gdan´skie Czasopismo Humanistyczne“ 11 (2020), S. 68–78. Utrat-Milecki J.: Kara. Teoria i kultura penalna: perspektywa integralnokulturowa. Warszawa 2010. Valencia S.: Gore Capitalism, übers. v. J. Pluecker. South Pasadena 2018. Wacquant L.: Wie˛zienia ne˛dzy, übers. v. M. Kozłowski. Warszawa 2009. Wos´ R.: Zimna trzydziestoletnia. Nieautoryzowana biografia polskiego kapitalizmu. Kraków 2019. Zaremba M.: Wielka trwoga. Polska 1944–1947. Ludowa reakcja na kryzys. Warszawa 2012. Zrozumiec´ biednego. O dawnej i obecnej biedzie w Polsce, hrsg. v. E. Tarkowska. Warszawa 2000. Summary Literature of Polish Gore Capitalism This article deals with representations of Polish poverty, slums and social decline during the transition period based on reportages and essays. Special attention was paid to the illegal and informal economy and to the penal system. These issues were captured using the term gore capitalism – a term proposed by Sayak Valencia to describe the brutal economy of the U.S.-Mexico borderlands. The notion of gore capitalism proves useful for analyzing neoliberal “zones of transition” (a term used by Boris Buden), such as Poland of the transition period. The article concludes with the thesis that the analyzed texts represent an attempt to articulate the trauma of transformation – an articulation that can only come to the fore after some time. Keywords: Poland in the transition years, illegal and informal economy, gore capitalism, poverty, prison in the post-transition time
Ilona Copik (University of Silesia in Katowice)
American Dream or an Existential Nightmare? Polish Cinema in the Times of Transformation on the Myth of the West
One of the pillars of the Polish transformation was the myth of the West, whose quintessence was America. From the first immigration wave at the turn of the 19th and 20th centuries,1 the United States of America were perceived in the Polish collective imagination as an economic Eldorado, a country of progress and modernity, of generally understood freedom and liberal economic law. As is commonly known, in the times of the Polish People’s Republic (PRL), the authorities tried to undermine the image, promoting the vision of America as a symbol of imperial evil. Paradoxically, anti-American propaganda only reinforced the American myth. This was the so-called mechanism of denial: the more the authorities criticized everything which is American and capitalist, the greater was the triumph of the American mass culture, and America itself was perceived as a desired but unattainable mythical symbol of freedom, democracy and prosperity.2 After 1989, when the communist indoctrination stopped, Poland radically opened to the influence of western markets, which until then was strictly regulated, this mainly concerned the American market. Jolanta SzymkowskaBartyzel writes about it in the following way: “What Poles, in the 1980s, with pleasure watched in the cultural underground on video, now, dominated: action movies, romantic comedies, pornographic movies, video clips or commercials – colorful, flickering and easy to understand”.3 Together with American pop culture, Poles assimilated the rules of free market and the mechanisms of cultural consumption. In films, advertisements, on covers of colorful magazines, in fashion and fast food restaurants, Polish consumers found representations of what is democracy and capitalism, learned what the rules of the new reality are,
1 Cf. B. Sakson: Po drugiej stronie oceanu. Nowi emigranci z Polski w metropolii chicagowskiej. In: “CMR Working Papers” 5 (63) (2005), pp. 1–70, here p. 4. 2 J. Szymkowska-Bartyzel: Amerykan´ski mit, polski konsument czyli reklamowe oblicza Ameryki. Kraków 2006, p. 82f. 3 J. Szymkowska-Bartyzel: Nasza Ameryka wyobraz˙ona. Polskie spotkania z kultura˛ popularna˛ po 1918 roku. Kraków 2015, p. 310.
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and acquired the mechanisms of competition and success and patterns of new consumer identity. Film symbolism accompanied the processes of the great change from the very beginning. During the first partially free Parliamentary Election Campaign in 1989, the “Solidarnos´c´” [Solidarity] Citizens’ Committee used Tomasz Sarnecki’s poster representing the American actor Gary Cooper acting as a brave Marshal holding in his hand a ballot paper instead of a revolver. The choice of High Noon (1952) directed by Fred Zinnemann clearly suggested that, like in the Wild West, in post-communist Poland the rule of law and order will be introduced. The American cowboy, who embodied all imagined values of the new capitalist system (freedom, law and social justice), had to symbolically “take Poland from the iconography characteristic of the socialist system, dominant in the previous years, and introduce it to the iconography of western culture, especially dominated by American mass culture”.4 He epitomized America as a mainstay of democracy and symbolized protest and resistance to any tyranny. According to Szymkowska-Bartyzel, “Gary Cooper in Sarnecki’s poster was one of the first symbolic leaders of the Autumntime of the Peoples”.5 As an American guardian of public order and a defender of the most important social values, he embodied the victory over the oppressive communist system, which may be referred both to the USA victory in the Cold War conflict and to the transformation in the Eastern Bloc countries initiated by the Polish opposition. By now, the representations of the West were analyzed only at the margines of the research on the Polish cinema during the political and economic transformation6 and the migration cinema7. The aim of the study is to focus on the myth of the West and to investigate the dynamics of the Polish attitude to America (which is the quintessence of the myth) in Polish feature films. I would like to answer the questions concerning the way contrasts are represented on screen (myth/realities, different faces of the metropolis, ideas of the West and the East, etc.), as well as civilization differences and differences in mentality and patterns of behavior. Through the prism of the relations with the mythologized and demythologized West, I want to analyze the specificity of the emerging Polish 4 Szymkowska-Bartyzel, Amerykan´ski mit, polski konsument, (note 2 above), p. 9. 5 Szymkowska-Bartyzel, Nasza Ameryka wyobraz˙ona, (note 3 above), p. 303. 6 Cf. especially: S. Jagielski: Kino polskie w czasach transformacji. In: Historia kina. Vol. 4: Kino kon´ca wieku, eds. T. Lubelski, I. Sowin´ska, R. Syska. Kraków 2019, pp. 985–1037; M. Piepiórka: Rockefellerowie i Marks nad Warszawa˛. Polskie filmy fabularne wobec transformacji gospodarczej. Wrocław 2019; E. Mazierska: Polish Postcommunist Cinema and the Neoliberal Order. In: “Images” 11 (20) (2012), pp. 53–63. 7 European Cinema after the Wall: Screening East-West Mobility, eds. L. Engelen, K. van Heuckelom. Plymouth, New York 2014; E. Mazierska: In Search of Freedom, Bread and Selffulfilment: A Short History of Polish Emigrants in Fictional Film. In: Polish Migration to the UK in the ‘New’ European Union, ed. K. Burrell. Farnham 2009, pp. 107–125.
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democracy, the subsequent phases of the transformation and the Polish society and culture during the time. In the film analyses, the following detailed questions will be addressed: What cultural codes have been used in the films to describe the western world? How has the Polish audience perceived America and Americanness, understood as a set of ideas, visions of civilization and culture, consisting not of real perceptions and experiences, but of cultural stereotypes and symbols? How did the popular myths (of distance, wealth, abundance, progress, freedom, democracy, individualism and success) function in the Polish society at different stages of the transformation?
America as capital In the films which were premiered at the turn of the 1980s and 1990s, such as Przekle˛ta Ameryka [Damn America] (directed by Krzysztof Tchórzewski, 1991) or Kapitał, czyli jak zrobic´ pienia˛dze w Polsce [The capital, or how to make money in Poland] (directed by Feliks Falk, 1989), the United States are presented, on the one hand, as a county of freedom and democracy, which supported political refugees, on the other – as a symbol of individualism and success, which provided them with an opportunity to make a substantial amount of money. The film characters are representatives of the “Solidarity” generation, of intelligentsia who managed to escape the oppressive system in the 1980s and seek the asylum in the West. They belonged to the immigration wave described as the “Solidarity” immigration (1981–1989) and identified as political, although the factors that initiated it were often also economical. “They were mainly young people, living in towns, usually with higher education, speaking foreign languages at an intermediate level […] – Barbara Sakson writes – They had a strong sense of the Solidarity ideological values and identification with their country of origin”.8 As she claims, most of them did not plan definite emigration, but, in spite of the political changes in Poland, they settled in the United States for good. However, some of them, who were driven by their sense of honor and longing for their families, returned to Poland. This is the situation represented in the abovementioned films. Ideas and values, knowledge and competences acquired by the film characters during their stay in the West for some years are used for the sake of their family and country and help them find themselves in the new democratic (referring to the political reforms) and capitalist (referring to the economy and social relations) reality. The plot of Tchórzewski’s film happens in the peak of “the transition” during the Polish transformation (in the first most revolutionary stage of changes) and 8 Sakson, Po drugiej stronie oceanu, (note 1 above), p. 5.
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describes over a dozen months crucial for the fall of the old political system: from the end of the Round Table Talks in spring 1989 to the Presidential Election in December 1990. The main character, Zbigniew Butryn, a former dissident, after eight years in the United States, returns home to join Solidarity and act as an expert in liberal democracies in the Gdynia election committee. The time spent overseas has visibly changed him – now he represents standards different from those of the past system, which he expresses in the following words: “To work means to think, you must understand it at last in this country.”9 What has not changed in his mentality since December 1981 when he left Poland is the unquestionable principle, the necessity to maintain one’s good name, which has to be complied with in public life and constitutes the foundation of the “Solidarity” political ethos. Unlike post-communists, who were motivated by particularism and greed, oppositionists manifest loudly: “we cannot break the law, we cannot start with that”.10 The film is enriched by the plot of an American journalist who makes the coverage of the Round Table Talks for FBC TV. In the background, she presents spectacular political events – street fights between the opposition and the ZOMO (the Motorized Reserves of the Citizens’ Militia) troops, the first partly free parliamentary elections and Lech Wałe˛sa taking office as President of the Polish Republic, all of which carry the traces of her own perspective. Thus Poland in the transition period appears on screen as a peculiarly fascinating country. In spite of the fact that people do not speak English here and generally foreigners have difficulty in understanding the logic of local actions, the latter are impressed with the euphoric state of national mobilization and belief in the ideas of the new system. Having observed that, the girl decides to settle with Budryk in Poland for good; his decision, however, is completely autonomous. Although he has a double citizenship, holds a prestigious position in IT industry and might go back to the USA if he wanted, he chooses Poland, where he sees his and his children’s future. Feliks Falk treated the meaning of the word “capital” more literally in the film Kapitał, czyli jak zrobic´ pienia˛dze w Polsce. The plot of the film revolves around the return home of Piotr Nowak, doctor of sociology, who spent several years as a visiting scholar in the United States. At first glance he sees the changes the Polish reality is undergoing. In front of the Palace of Culture and Science in Warsaw, the monument of Karl Marx is demolished. There are first billboards of the IT giants on the streets – visual symptoms of the socioeconomic changes coming from the West. Their fast pace is stressed by the dancing rhythm of the song Sukces [Success] joyfully sung by Andrzej Zaucha. “Zrób, graj, pchaj sie˛ w przód!” [Do it, play, push forward!] are the key words to the new reality, formed according to the 9 A quotation from the film Przekle˛ta Ameryka. 10 Ibid.
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western (American) patterns, in which money and enterprise count. The ideological message of the film changes the meaning of the word “capital”. In the former times, it was associated with Marxist economy; now, it has become a symbol of free-market freedom understood as the ability to confront privatization and to make and accumulate money. As Ewa Charkiewicz maintains, “A desire to be rich is the main principle organizing the transformation both at the level of political rationality and at the level of the life of particular individuals”.11 Beneath, however, there is a deeper desire – to join, at any cost, the well developed West and to catch up with the western social standards. The mythical West12 is understood as a liberal-democratic universal norm founded on the conviction that there is only one ready-made capitalism which is able to overcome the pathologies of the communist time and provide every society with similar opportunities of development and a high standard of living, irrespective of its geopolitical and sociocultural situation. The main character in Falk’s film who managed to save some dollars may feel a beneficiary of the new system, because a capital in foreign currency gives him an opportunity to easily enter the new economic reality (overcome by hyperinflation) and realize his own American Dream. As Michał Piepiórka claims, the film shows “the full of enthusiasm pioneering period of Polish capitalism”,13 the time in which one might climb the financial pyramid in an unprecedentedly short time, experience a local “gold rush”. A highly valued ability to make money goes together with a higher position in the social hierarchy; this also effects the place of residence of successful people, e. g., a terraced houses estate called “Beverly Hills”. Although Poland presented in Kapitał is a country of the economic miracle and the most desired model person is embodied in homo oeconomicus, the directly understood idea of becoming rich at any cost is treated in the film with skepticism, which makes the main character’s bankruptcy at the end more spectacular. Even though it does not change in principle the generally pro-capitalist meaning of the film, one may agree with Piepiórka that “the feeling of being lost similar to the one which was spread in the Polish society may be clearly noticed in it”.14
11 E. Charkiewicz: Od komunizmu do neoliberalizmu? Technologie transformacji. In: Zniewolony umysł 2, eds. E. Majewska, J. Sowa. Kraków 2007, pp. 22–84, here p. 64. 12 J. Szacki: Nauki społeczne wobec wielkiej zmiany. In: Zmiana społeczna. Teorie i dos´wiadczenia polskie, ed. J. Kurczewska. Warszawa 1999, pp. 123–133, here p. 128. 13 Piepiórka, Rockefellerowie i Marks nad Warszawa˛, p. 24. 14 Ibid., p. 25.
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“Here everything is the best, the greatest, the fastest…”15 – mythical America The vision of the United States in the films made at the beginning of the transformation did not change in principle from the times of the popular PRL film with America in the background, the third part of the saga of the Pawlaks and the Karguls, Kochaj albo rzuc´ [Love or leave] (directed by Sylwester Che˛cin´ski, 1977). The attractiveness of the image of America was in the distance which required going on an overseas journey and the exotic differentness of the social structure resulting from ethnic diversity and hybrid identities. Describing the specificity of the United States, the film makers presented the metropolis landscape, taking shots of Chicago and New York with their dense urban tissue, commercial flourish and skyscrapers. Both in the 1970s and two decades later, the Polish audience was fascinated by the progress of culture and civilization, seen at first glance, the development of services and international corporations, and the impact of the media, global consumption and entertainment.16 Although Che˛cin´ski’s cult film showed differences between the United States and Poland both in living standards (American television with ten channels, stereophony, aircondition and other conveniences not known in Poland), and in mores and mentality (Polish traditionalism and particularism versus western tolerance and progressiveness), it included the clear message that ordinary Poles from Lubomierz in Lower Silesia “can manage even beyond their home area, also in unequaled American civilizatio”.17 As Grzegorz Pełczyn´ski explains, “proving that […] was undoubtedly consistent with modernization plans of the then Polish authorities, who wanted to establish partnership relations with the West, and here they needed the thesis that Poland is an equal partner of the West”.18 As was typical of the PRL era, the western world in the American version could not be presented in an unequivocally positive way. The film presented it in the following way: the young generation approved of the West almost completely, while the older generation of Polish tourists were not enthusiastic. Pawlak, disgusted by the mores of Polish Catholic clergymen who, inter alia, did not comply with the principle of celibacy and generally led a free life, directly stated that “Devil only knows who ordered Columbus to discover America?”19
15 A quotation from the film Kochaj albo rzuc´. 16 Cf. B. Jałowiecki: Metropolizacja. In: Wokół socjologii przestrzeni, eds. A. Majer, P. Starosta. Łódz´ 2004, p. 53. 17 G. Pełczyn´ski: Trylogia Sylwestra Che˛cin´skiego. In: “Konteksty Kultury” 12 (3) 2015, p. 369– 381, here 379. 18 Ibid. 19 A quotation from the film Kochaj albo rzuc´.
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The films from the 1990s maintained the vision of the United States – the country of financiers and unrestrained possibilities, desired mainly by young people. The two films may be a good example, both with the plot happening in New York: the comedy by Barbara Sass Paje˛czarki [Spiderwomen] (1993) and the comedy-drama by Janusz Zaorski Szcze˛´sliwego Nowego Jorku [Happy New York] (1997). The former has been made on the basis of the screenplay by the director in cooperation with the cinematographer Wiesław Zdort, while the latter is a loose adaptation of the well known works of the prose writer and playwright Edward Redlin´ski, Szczuropolacy [Rat-Poles] (1994) and Cud na Greenpoincie [A miracle in Greenpoint] (1995). The films had in common the topic as well as the film set – both were shot on location in New York and to a large extent showed the city probably in the way Polish tourists saw it in the 1990s. However, the plot of Barbara Sass’ film is only episodically related to New York and happens on several streets there, in the vicinity of Times Square and Park Avenue; while Szcze˛´sliwego Nowego Jorku was made with a greater flourish and a greater amount of money, and penetrates more deeply the city tissue. The reportage from the film set published in the magazine “Film”, encouraging people to go to the movies, describes it in the following way: The helicopter with a camera made circles […] over true Manhattan day and night, and one of the chases was shot on one (specially closed) lane of the Brooklyn Bridge. Thanks to one and a half year preparations for shooting the film, the viewers will be able to see not only exotic corners of Chinatown or picturesque New York sights, but also New York neighborhoods less attractive for tourists, inter alia, Greenpoint, rarely presented […] suburbs and disreputable corners.20
In fact, in Zaorski’s film America was only seemingly a mythic promised land; for Polish immigrants it soon turned out to be a curse. A different situation was in the case of the film Paje˛czarki. Although Sass’ comedy did not attract a vast audience and did not get the approval of film critics, it is a good illustration of euphoric, uncritical fascination with America and the magic force of dollar, characteristic of the first phase of the transformation. The director herself treated it as an exceptional film in her career. “I wanted to make a modern comedy – she said in an interview – Modern not only in terms of the realities, but also in terms of the mood and the zeitgeist”.21 As far as the latter is concerned, it should be admitted that she succeeded in rendering in the film what was typical of the social life at that time. As Mirosław Przylipiak and Jerzy Szyłak wrote in Kino najnowsze, Apart form wealth, the Polish media at the beginning of the 1990s, the television in particular, propagated individual entrepreneurship. “Be enterprising” – they cried from
20 D. Mirska: Komedia na ´smierc´ i z˙ycie. In: “Film” 3 (1997), pp. 118–120, here p. 118. 21 Rozmowa z Barbara˛ Sass o filmie “Paje˛czarki”. In: “Kino” 10 (1992), p. 2.
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TV screens, clearly implying that if a person is not enterprising (which means that he is not rich), he has only himself to blame.22
An unshakeable trust in the universal possibilities of capitalism originated from American films, which may be best exemplified by the popular comedy Working girl (1988) by Mike Nichols. The main characters of Sass’ film, the Wis´niewski sisters – Magda and Ewa, beat enterprising Tess and other film characters at ingenuity to find new ways of earning money, at the same time confirming the motto: “Polak potrafi” [The Pole is able (to do it)]. To gain financial benefit, the Polish women are ready to set up an illicit business, they even do not hesitate to steal and live by their wits. Their physical fitness helps them in that – they perform acrobatic feats, climbing skyscrapers among them; it shows how far the collective imagination was overwhelmed by the popular comic strips on Spider-Man published by Marvel Comics. However, it may be assumed that “the skill to climb the walls is […] a kind of satirical commentary by means of which Sass adapts fantastic plots into the transformation realities. To live in the world of transformation requires supernatural abilities”.23 The aim to quickly “make a fortune”, although possible to achieve in Polish realities, which was proved by the position of some local businessmen, was made to a large extent realistic by the support of the western capital. According to Polish entrepreneurs, their property “is not a fortune, until Americans join us”.24 The girls take this maxim to heart and, not waiting for a commercial miracle, they gather money for a plane ticket to mythical America. New York, in which they finally arrive, although its architecture and sparkling neon lights take their breath away and its financial opportunities are tempting, turns out to be a complete disappointment. Doing business is rather difficult; American businessmen cannot be trusted, they are reckless and despicable. The myth of America being dispelled, the girls finally go home, where they succeed in changing their lives, although not in such a spectacular way as it happens in America. The message of the film remains clear: Poles should not migrate to earn money, as they will be most happy in their own country.
22 M. Przylipiak, J. Szyłak: Kino najnowsze. Kraków 1999, p. 184. 23 E. Hevelke: Transformacja. Katarzyna Figura i Adriann Biedrzyn´ska. In: “Dialog” 1 (758) (2020), pp. 189–225, here p. 1. 24 A quotation from the film Paje˛czarki.
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“Ratty” America As far as the demythologization of the West is concerned, it was Janusz Zaorski who performed it most eloquently in the film Szcze˛´sliwego Nowego Jorku [Happy New York]. It became a real box office hit, although it cannot be compared to the greatest hit Kiler [Killer] (directed by Juliusz Machulski; 1997), which “‘outclassed’ many hits of foreign cinema”,25 nonetheless it attracted a large Polish audience. Although the film was not a faithful adaptation of Szczuropolacy, the story of Polish immigrants in Greenpoint was enriched with several new ideas (inter alia, the motif of communication with fellow countrymen in Poland by means of recorded videos); it followed the original novel in expressing “skepticism and a negative attitude towards America”,26 and in its approach to the world it combined “fascination with disgust”.27 As the director stressed in various interviews, for him it was the most important to show “a story of a certain existential situation”.28 In this sense, the impressive thriller plot constitutes a background for more profound social-philosophical motifs. “Not theft and fight, but dilemmas and tragedies of people who have to participate in them”29 were important. Zaorski saw in Szczuropolacy “not only the exposition of Polish illusions, but a peculiar satire on America”,30 “especially a look at Poles and Poland from that emigrant perspective, which sharpens the picture of expectations, desires and attitudes”.31 It seems that in the film version this hyperbolic, derisive picture concealed what deserved more stress – the authentic tragedy of the situation of Polish immigrants. As Tomasz Jopkiewicz wrote on the film, “It lacks a true sympathy for the characters”.32 They found themselves in a situation typical of the majority of displaced persons from Eastern Europe – they had to constantly face risk staying in the country they considered as more promising than their own homeland, but which, in fact, gave up on them and negated their value.33 The plot takes place in New York at the turn of the 1980s and 1990s. “In dirty rooms, among drug smugglers and petty thieves, on Greenpoint streets covered 25 Przylipiak, Szyłak, Kino najnowsze, (note 22 above), p. 198. 26 I. Pisarek: Amerykan´ski sen czy amerykan´ski koszmar? Dwie wizje Stanów Zjednoczonych w “Szczurojorczykach” Edwarda Redlin´skiego. In: “Maska” 30 (2016), pp. 133–143, here p. 135. 27 Ibid. 28 Rozmowa z Januszem Zaorskim. In: “Film” 9 (1997), p. 40. 29 Mirska, Komedia na ´smierc´ i z˙ycie, (note 20 above), p. 120. 30 Rozmowa z Januszem Zaorskim, (note 28 above). 31 Ibid. 32 T. Jopkiewicz: Mordy zamiast twarzy. In: “Kino” 10 (1997), pp. 10–11, here p. 10. 33 Cf. More on the topic, with reference to the European migration cinema: L. Engelen, K. van Heuckelom: From the East to the West and Back: Screening Mobility in Post-1989 European Cinema. In: European Cinema after the Wall, (note 7 above), pp. vii–xxii, here p. vii.
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with Polish inscriptions, six Polish immigrants try to realize their American Dream […] Each of them has his own plan ‘to conquer America’, to make a fortune and go back home in fame”.34 The characters presented on screen, according to Marek Okólski, are typical “people on a seesaw”.35 Most of them treat their stay in the United States as temporary, they maintain a close contact with their families in Poland, they do not establish on principle any permanent social relations as immigrants. Admittedly, they do not have a chance, as the system puts them at the margin of the society. Immigration, in their case, is related to life degradation. They have to live crammed, for dollars they are ready to work several shifts on end and do the worst jobs. Using their lives as an example, Zaorski shows that the ethos of America as a country of ideas – democracy, freedom and equality – is streaked with falseness. Through his lens, the United States is a great simulacrum. The characters wrapped in a national flag, holding in their hands gadget representations of the Statue of Liberty, have their photos taken against New York streets and prestigious buildings, they make films, only to convince their families how great America is and how successful they are living there. In reality, they are paupers. One of the characters summarizes the essence of their immigration existence in the following way: “The greatest fraud of communism was the hope of the West, that there is happiness and justice, and by means of this fraud they broke up communism”.36 The characters in Szcze˛´sliwego Nowego Jorku talk bitterly about their country of residence, using the expression “zasrana Ameryka” [shitty America]. They arrived at the New World, having a dream – like in Artur Gadowski’s song, which became a leading motif of the film – “to reach the world’s summit”, but they had to struggle “to survive another day”. The dream land turned out to be divided into “‘true America’, a rich one, which is a topic of many stories, its center is Manhattan, and America—Greenpoint, the America of immigrants, extreme poverty and a ‘rat nest’, which nobody talks about”.37 Instead of achieving success, they were treated with contempt, they were exploited and humiliated. This resulted in the corruption of morals, weakened ethic order and deepened depression. The impression of hopelessness is increased by the incongruence between the two worlds: Polish and American. Polish mentality differs from the western one, it has been shaped by historical losses, wars and poverty. It cannot overcome resentment and a grudge against the reality, which does not make coping with immigrant existence easier. In general, the image of Poles in the film 34 Mirska, Komedia na ´smierc´ i z˙ycie, (note 20 above), p. 119. 35 M. Okólski: Ludzie na hus´tawce – mobilnos´c´ mie˛dzynarodowa ludnos´ci Polski w okresie transformacji. In: Emigracja z Polski po 1989 roku, ed. B. Klimaszewski. Kraków 2002, pp. 40– 69. 36 A quotation from the film Szcze˛´sliwego Nowego Jorku. 37 Pisarek, Amerykan´ski sen czy amerykan´ski koszmar?, (note 26 above), p. 141.
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is bitter. They have “pusses instead of faces”,38 i. e., they excessively express sincere but primitive emotions, and as a result they do not comply with the American rules of the game. They are obsessed with earning money, but they are unable to succeed in the rat race, having the sense of defeat, which they do not want to admit; they both miss their homeland and doubt the sense of going back home. Generally, Zaorski’s film, like the novel Szczuropolacy,39 does not criticize America as such, but exposes the myths of Polish emigration and is against the Polish ideas of the United States.
In Poland it is the best, though If the thesis is true, that the Polish cinema of the transformation “projected the reality (aim) of transformation and its subjects with their aspirations, dreams and fears, teaching the audience the rules of the game in the new reality”,40 it seems natural to show on screen the homecoming of emigrants who did not succeed in settling permanently in the West. One of the strategies frequently employed by the filmmakers was a contrast of emigrants’ miserable life with models of thriving Polish business. This scenario can be observed in the two, seemingly thematically different, films: Dzieci i ryby [Children and fish] (directed by Jacek Bromski, 1996) i Pułapka [The trap] (directed by Adek Drabin´ski, 1997). The former made in the thriller convention, with references to the “criminal” trend,41 told a story of an unsuccessful actor who comes back home after several-years emigration and gets involved in smuggling at the Baltic coast. The main character of the latter – a woman who was left by her husband who emigrated to the United States is a businesswoman now and establishes a prospering advertising agency in Warsaw. What makes these films related is the vision of emigration, which does not meet the expectations of the people, it does not bring fame, wealth and happiness; and the lot of the forty-years-old generation facing the new Polish reality. In Drabin´ski’s film, the main character, Maciek Adamski, in spite of many attempts to mark his existence in the American show business (he changed his name into Micky Adams), has not achieved success in the West. After many years of “working in asbestos”, he finally decides to return to Poland. As a result of the economic transformation, “the country has changed so much that it is difficult to recognize and Maciek has problems with getting 38 Jopkiewicz, Mordy zamiast twarzy, (note 32 above), p. 10. 39 Pisarek, Amerykan´ski sen czy amerykan´ski koszmar?, (note 26 above). 40 K. Puto: Film jako “chłopiec z Mariotta”. Ideologia kina polskiej transformacji (1987–2005). Kraków 2016, p. 5 [online] https://www.academia.edu/28430290/Film_jako_ch%C5%82opiec _z_Marriotta_._Ideologia_kina_polskiej_transformacji_1987_2005 [20. 02. 2020]. 41 Przylipiak, Szyłak, Kino najnowsze, (note 22 above), p. 179.
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used to a completely different reality. His former buddies are now very busy businessmen, and the women he meets do not feel like listening to his emigrant story”.42 Bromski’s film presents a similar situation: the main character’s former husband and former macho as a life bankrupt returns to Poland. His look (“jakis´ taki spsiały”43 [somewhat gone to the dogs / rundown]) speaks for itself – he has not made a fortune, he was a manual worker, and trying to establish his own business he has been cheated. Seeing the changes in Poland, he wants to start afresh here, however he does not know how to do so. He has not done the homework already done by Polish entrepreneurs, learning free market principles at home. They did not have to go overseas, Americans have come here. Both films clearly suggest that even if it is not visible yet, an epoch-making change will happen and living in Poland will be as good as in the West, or in some respects even better. A good example is the scene in which the main character of Pułapka, feeling like a looser, is boarding a plane flying to Warsaw. He is pondering what he will say to his family at home asked for the reasons for his reemigration. His friend, a musician, who has not achieved success in the United States either, gives him a piece of advice: “You must lie. This is your patriotic duty, they need the myth”.44 However, it turns out that Poles are not interested in America, as they are busy realizing their own American dream at home (upon the Vistula River). Apart from “portraying the results of the sudden appearance of wealth zones in Poland and material temptations related to them”45 and “presenting the emergent business class against the background of coarse and plebeian Poland”,46 both films present the change of gender roles. The fall of the former system has clearly changed gender relations, exposing the outdatedness of the patriarchal model. In Bromski’s film, the female role model is an enterprising businesswoman, achieving economic success, able – like her American friends – to make a fortune, working in a profession reserved by then only for men. As the reviewer claims, “[in] 1997, when the film was released, Bromski showed to women how professional fulfillment may be combined with being a good mother and friend”.47 The director contrasted emancipated femininity with masculinity in crisis.48 In Pułapka, the situation was a little different. In accordance with Drabin´ski’s intention, the film was to be “a kind of sentimental 42 43 44 45 46 47
M.S.: Life is full of zasadzkas. In: “Film” 11 (1997), p. 84. A quotation from the film Dzieci i ryby. A quotation from the film Pułapka. Przylipiak, Szyłak, Kino najnowsze, (note 22 above), p. 194. Ibid., p. 198. Ł. Muszyn´ski: Gdzie ci me˛z˙czyz´ni, prawdziwi tacy. Recenzja wyd. DVD filmu Dzieci i ryby (1996) [online]. https://www.filmweb.pl/reviews/recenzja-filmu-Dzieci+i+ryby-9920 [20. 02. 2020]. 48 Cf. E. Mazierska: Pogra˛z˙ony w kryzysie. Portret me˛z˙czyzny w polskim kinie postkomunistycznym. In: “Kwartalnik Filmowy” 43 (2003), pp. 182–195.
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journey in the world of the American ‘black film’, Humphrey Bogart, the books by Dashiell Hammett and Raymond Chandler”.49 In fact, the imitative character of the intertextual references could be seen. Sebastian Jagielski considered the tendency to imitate American “manly films”50 as typical of the 1990s, like creating an artificial “image of narcissistic masculinity in the free market reality”.51 Pułapka also realized this pattern, “drawing heavily and without restraint on”,52 as Lech Kurpiewski described it, American commercial film, which could be seen in the way of staging, in literal quotations as well as in transferring American detective plots to the realities of the type of “the Pruszków Mafia”.53 Moje pieczone kurczaki [My roast chicken] (directed by I. Siekierzyn´ska, 2002) is a completely different film, although America is also in the background. What makes this film different from those discussed above is that, first, it presented a different stage of the Polish transformation, and second, it was an expression of the voice of the younger generation of Polish artists. Realized in the Telewizja Polska project “Pokolenie 2000” [The 2000 generation], the initiative financially supporting Polish debuts, the young director’s film was well received by critics.54 Boz˙ena Janicka wrote in the magazine “Kino”: “The main asset of Moje pieczone kurczaki is […] realism going beyond sociological observation; behavior, reactions and the thirty-years-old’s way of thinking in everyday situations are converted into artistic truth”.55 The film, considered a portrait of the generation, tells a story of a young couple who returning from Canada settle in Łódz´. He is looking for a job, she wants to be a film director and registers in the film school. Both of them and their child do not have their own apartment and have to live with their mother. Siekierzyn´ska’s film shows the society’s disappointment with unsatisfactory changes generating new social divisions and putting out a challenge to people who have problems to meet it, especially the young intelligentsia. The vision of Poland at the turn of the 20th and 21st centuries resembles the perspective taken in critical discourses of transformation in which the space of postcommunism is described as much more complex, having its local determiners, characterized by differences in the acquisition of the rules of democracy and free market and a tendency to return to old socialist solutions.56 In spite of the fact that Poland is not a dream land, as it is shown in the film, there is a chance 49 50 51 52 53 54 55 56
Rozmowa z Adkiem Drabin´skim. In: “Film” 12 (1997), p. 7. Jagielski, Kino polskie w czasach transformacji, (note 6 above), p. 1008. Ibid. L. Kurpiewski: Gdzie jest kot pogrzebany? In: “Film” 12 (1997), p. 14–16, here p. 14. A. Kołodyn´ski: Kiler i inni. In: “Kino” 12 (1997), pp. 33–35, here p. 33. T. Sobolewski: Kłopotowski i pieczone kurczaki. In: “Kino” 12 (2002), p. 66. B. Janicka: Trzydziestoletni. In: “Kino” 11 (2002), p. 16. Cf. e. g., Ch. Hann, C. Humphrey, K. Verdery: Introduction. Postsocialism as a Topic of Anthropological Investigation. In: Postsocialism. Ideal, Ideologies, and Practices in Eurasia, ed. C.M. Hann. London / New York 2002, pp. 1–28, here pp. 12–15.
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for a dignified life, greater than in America, which is not mentioned here. The audience may only guess that during the five-year stay in Canada the couple did not experience anything good. They brought back neither spectacular impressions, nor new competences and money. Finally, one more original interpretation of Polishness and Americanness is worth mentioning, presented in the film U Pana Boga za miedza˛ [At God’s behind the balk] (directed by Jacek Bromski, 2009). The plot of the third part of the saga (following the film U Pana Boga za piecem [At God’s behind the stove ( jak u Pan Boga za piecem – “as snug as a bug in a rug”)], 1998, which received many awards and was well received by the audience, and its sequel: U Pana Boga w ogródku [At God’s in the garden], 2007), like the previous ones, is located in Królowy Most – a small village in Podlasie. It resembles a rustic tale, transferring the audience to the mythic world of a microcosm in the nostalgic Eastern Borderlands, where the time has stopped and everything is as it used to be. According to Boz˙ena Janicka, Bromski’s films are “comedy fairy tales or fairy-tale comedies which may be told only in the realities, the atmosphere and scenery of the Białystok villages”.57 It seems that by their mythic formula they directly refer to the trend, called by Przylipiak and Szyłak, “the paradisiac worlds of the Polish province”.58 The series U Pana Boga, like the films in this trend, includes praise of the bucolic tradition, the contact with nature, and shows the provinces as Arcadia, whose lazy rhythm makes the contact with the transcendence possible. The imagination directed towards this type of periphery suggests different images than the ones associated with the global world of American metropolises. In Bromski’s film, the vision of provincial, borderland Poland is contrasted with America: one of the inhabitants Stas´ Niemotko comes home after twenty years in America. Arriving at his patrimony in a white cabriolet, dressed in a T-shirt with the American flag, he seems to be a stranger belonging to a completely different world. The experience acquired overseas makes him a man of the world; for example, it enables him to become head of the mayor election campaign team of a local entrepreneur and organize the campaign in a truly American style. The stay in the United States could be considered a solid capital which he successfully used in post-transformation Poland, however the film message is the maxim: “East or West home is best”. Niemotko comes home as a rich man, aware of his own aims; he values the Polish tradition more than the homogenous culture of the West; he hopes to find in Poland home, wife and peace.
57 B. Janicka: U Pana Boga w ogródku. In: “Kino” 2007, no. 9, p. 67. 58 Przylipiak, Szyłak, Kino najnowsze, (note 22 above), p. 187.
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Conclusions As the author of Nasza Ameryka wyobraz˙ona [Our imagined America] claims, “In the 1990s, American popular culture played a key social role, performing the function of the buffer mitigating the transformational changes”.59 It might be added that she manipulated the audience, promoting the neoliberal trend of the Polish transformation, accepted both by the democratic “Solidarity” opposition and by the government. The Polish cinema during the postcommunist transformation to a large extent participated in maintaining the myth of the West, affirming the dominant pro-capitalist discourses. It showed the viewers what they wanted to see, making references to the schemas of action films and consumer culture, and using quotations from American popular culture (which was sharply criticized). Many films discussed above showed contempt for the values propagated in socialism, criticism of post-communist residues and reproduction of the traditional hierarchical relation between the dominant type of the man of the West (homo oeconomicus), whom we try to become, and the weak feminized Eastern European (homo sovieticus), who gets excluded. With the dynamics of transformation and its subsequent stages, the directors’ attitude to America was changing. The myth of freedom and democracy became out of date, which constitutes the foundation of the image of an ideal state – a symbol of the rule of law and order. Critical social discourses were intensified, followed by the criticism of the West, concerning Americanization, cultural homogenization and globalization. The last wave of economic migration (after 1989) and the disappointment with western capitalism had a significant impact on the demythologization of America in the Polish cinema.
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Summary American Dream or Existential Nightmare? Polish Cinema in the Times of Transformation on the Myth of the West One of the important points of reference for the countries of the so-called “Eastern Bloc” in their way to freedom and democracy was undoubtedly America. The economic and political transformations in Poland after 1989 were accompanied by an unshakeable belief in the sense of American Dream, which constituted the foundation of the postcommunist myth of the West. The myth involved a wonderful enigmatic vision of the land of equality, freedom and economic Eldorado. The iconography and pop culture at the turn of the 1980s and 1990s included the symbols of America, stimulating collective imagination. After the times of enslavement and poverty, they became an expression of longing for freedom and an effect of the conviction that there exists universal capitalism providing everyone with opportunities for development and affluent life. The cult image of the dream land was soon verified; it turned out that the better an individual knows America, the sooner its popular myth is devalued. The aim of the study is to investigate the dynamics of the Polish attitude to America and to the western world in general in the time of transformation, which may be observed in the Polish cinema of that time. I would like to answer the questions concerning the way contrasts (myth/realities, different faces of the metropolis, ideas of the West and the East, etc.), civilization differences and differences in mentality, patterns of behavior and cultural stereotypes are represented on screen. Through the prism of the relations with the mythologized and demythologized West, I want to analyze the specificity of the emerging Polish democracy, the subsequent phases of the transformation and the Polish society and culture during the time. The research material will be the films representing the mainstream of the Polish cinema, inter alia: Kapitał, czyli jak zrobic´ pienia˛dze w Polsce (1989), Przekle˛ta Ameryka (1991), Paje˛czarki (1993), Dzieci i ryby (1996), Szcze˛´sliwego Nowego Jorku (1997), Pułapka (1997), Moje pieczone kurczaki (2002) and U pana Boga za miedza˛ (2009). Keywords: Polish cinema, transformation, the myth of America
Jerzy Gorzelik (Schlesische Universität in Katowice) / Wiktoria Tombarkiewicz (Jagiellonen-Universität in Krakow)
Das katholische Narrativ über die Nation und das nationale Narrativ über die Kirche. Zur Wechselwirkung der symbolischen Universen in Polen nach 1989
Einführung Infolge des Systemwandels in Polen ist das staatlich-kirchliche Duopol, das den Diskurs über die nationale Identität bedeutend mitprägte, durch einen Pluralismus konkurrierender Narrative ersetzt worden. Die gegenseitige Durchdringung der symbolischen Universen – des religiösen und des nationalen – wurde aber dadurch nicht beendet. Trotz des Aufkommens von Narrativen, die den Sinn einer solchen Synthese in Frage stellen, wird diese Entwicklung sowohl im sakralen als auch im öffentlichen Raum fortgesetzt. Der Schwerpunkt des vorliegenden Beitrags liegt nun auf der Interpretation der Funktion von Symbolen, die eine in diesem Sinne doppelte Herkunft haben; sie treten in der Ausschmückung von Kirchen und staatlichen Gebäuden auf, aber auch in Lehrplänen und offiziellen Reden der Vertreter beider Institutionen. Folgende Fragen sollen dabei beantwortet werden: Welche Symbole haben in den letzten drei Jahrzehnten eine besondere Rolle für die polnische Gesellschaft gespielt? Was sagen die Beziehungen zwischen dem katholischen und dem nationalen symbolischen Universum über die Verteilung der Macht aus? Welchem Zweck dient die Verwendung der beschworenen Symbole? Mit welchen Visionen von Gemeinschaft sind diese Praktiken verbunden? Einige der in diesem Artikel aufgeworfenen Fragen wurden bereits von Geneviève Zubrzycki analysiert, die die Dynamik des Verhältnisses zwischen Nationalismus und Religion im postkommunistischen Polen anhand des Streits um die 1998–1999 in der Nähe des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz aufgestellten Kreuze erläuterte.1 In Anlehnung an die Theorie von Victor Turner entwickelte die Forscherin eine prozessuale Symbolanalyse dar, die sich auf die Veränderungen der Bedeutung von Symbolen in Bezug auf historische Narrative fokussiert. Eine Ergänzung von Zubrzyckis Erkenntnissen stellt die Publikation 1 Vgl. G. Zubrzycki: The Crosses of Auschwitz. Nationalism and Religion in Post-Communist Poland. Chicago / London 2006.
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von Brian Porter-Szu˝cs dar, die einen größeren zeitlichen Rahmen abdeckt und Analysen von Narrativen enthält, die an der Schnittstelle zwischen Katholizismus und polnischem Nationalismus entstehen und sich noch immer weiterentwickeln.2 Ausgeklammert wurden hier aber die visuellen Träger des Diskurses, darunter auch das weite Feld der sakralen Kunst. Deren Rolle bei der Reproduktion von Vorstellungen einer Gemeinschaft wurde wiederum zum Gegenstand einer Reihe von Teilstudien, die sich mit den Kirchen von Lichen´3 und Torun´4 sowie mit der Frage der „Pantheonisierung“ sakraler Räume befassen.5 Im vorliegenden Artikel werden Analysen von Kulturtexten unterschiedlicher Art vorgestellt. Drei Objekte werden bei der Darstellung des Narrativs der Kirche einen wichtigen Platz einnehmen: Die Basilika der Heiligen Jungfrau Maria in Lichen´, der Tempel der Göttlichen Vorsehung in Warschau und das Sanktuarium der Jungfrau Maria Stern der Neuevangelisierung und des hl. Johannes Paul II. in Torun´. Diese Wahl ist sowohl durch den Umfang dieser Objekte als auch durch ihre Bedeutung begründet. Die ersten beiden sind Votivgaben für das dritte Jahrtausend der Christenheit, während das dritte Objekt die Initiative des einflussreichen Umfelds von Radio Maryja und seines Leiters, Pater Tadeusz Rydzyk, darstellt. Gegenstand der Analyse werden auch Predigten sein, die von Kirchenhierarchen anlässlich des polnischen Unabhängigkeitstages (11. November) und des Tages Mariä Himmelfahrt (am 15. August; dieser ist zugleich der Tag der polnischen Armee) gehalten wurden, sowie Texte, hauptsächlich Musterpredigten, die in der kirchlichen Zeitschrift „Biblioteka Kaznodziejska“ [Bibliothek der Predigten] veröffentlicht wurden. Eine weitere Kategorie von Quellen bilden die Rahmenlehrpläne für den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, die aufgrund der möglicherweise weitreichenden Auswirkungen der darin enthaltenen Inhalte von Bedeutung sind. Anhand einer Analyse der Verwendung religiöser Symbole in öffentlichen Gebäuden, der Reden des Präsidenten der Republik Polen anlässlich des Tages der Polnischen Armee, der Weihnachtswünsche des Präsidentenpaares, die in der Regel im polnischen Fernsehen ausgestrahlt werden, sowie des Rahmenlehrplans für den Geschichtsunterricht, soll das Narrativ der Behörden des Nationalstaates rekonstruiert werden. Solch eine Quellenauswahl ermöglicht einen 2 Vgl. B. Porter-Szu˝cs: Faith and Fatherland. Catholicism, Modernity, and Poland. New York 2011. 3 Vgl. M. Omilanowska: Sanktuarium Maryjne w Licheniu: jego architektura i sztuka jako instrument identyfikacji historycznej, religijnej i narodowej w postkomunistycznej Polsce. In: „Konteksty: Polska Sztuka Ludowa“ 62, 2 (281) (2008), S. 129–139. 4 Vgl. W. Marchlewski, M. Zglin´ski: S´wia˛tynia Nowego Narodu Wybranego. Sanktuarium Najs´wie˛tszej Marii Panny Nowej Ewangelizacji i ´sw. Jana Pawła II w Toruniu. In: „Konteksty: Polska Sztuka Ludowa“ 74, 1–2 (328–329), (2020), S. 396–413. 5 Vgl. W. Tombarkiewicz: Renesans formuły panteonizacji wne˛trz sakralnych we współczesnej Polsce. In: „Konteksty: Polska Sztuka Ludowa“ 74, 3 (330) (2020), S. 86–97.
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Vergleich zwischen den beiden Narrativen und den Strategien der Verwendung der jeweiligen Symbole. Das vielfältige Quellenmaterial bestimmt die Wahl der Forschungsmethoden und -ansätze. Die prozessuale symbolische Analyse wird mit einer Diskursanalyse und einer ikonologischen Interpretation einhergehen. Bei der Untersuchung schriftlicher Texte werden qualitative Methoden angewandt, bei Predigten von Hierarchen und Reden des Präsidenten werden auch quantitative Verfahren Einsatz finden. Die Struktur des Beitrags ist durch den im Titel des Artikels angedeuteten Dualismus bestimmt. Die anschließende Analyse orientiert sich an den oben genannten Kategorien von Quellen, was den abschließenden Vergleich erleichtern soll.
Das kirchliche Narrativ über die Nation Das Bild der Nation in sakralen Räumen Die Praxis, nationale Motive in die Ausstattung katholischer Kirchen in Polen zu integrieren, geht auf die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zurück. Die zeitliche Korrelation mit der Herausbildung des ethnisch-religiösen Konzepts der Nation scheint nicht zufällig zu sein. Das nationale Repertoire an Szenen und Motiven, das in den Räumen des katholischen Kultes verwendet wurde, umfasste Szenen aus dem Leben polnischer Heiliger, Darstellungen historischer Ereignisse und Figuren, Bilder von Maria, der Königin der Polnischen Krone, volkstümliche Motive und schließlich nationale Symbole, wie etwa weiße Adler, die statt der Taube den Heiligen Geist versinnbildlichen. Dieses im Laufe der Jahrzehnte entwickelte Imaginarium stellte eine Ressource dar, auf die die sakrale Kunst nach 1989 zurückgreifen konnte, um mit künstlerischen Ausdrucksmitteln einen nationalen Diskurs auszutragen. Die Basilika Unserer Lieben Frau der Schmerzen, der Königin Polens in Lichen´ Stary, wurde in den Jahren 1993–2004 erbaut. Der Anlass zu ihrer Errichtung entstand im Zusammenhang mit dem Kult um das „wundertätige“ Bild Unserer Lieben Frau, dessen legendärer Ursprung mit Marienoffenbarungen verbunden ist.6 Die Mutter Christi, die einen weißen Adler an ihre Brust drückt, erschien zunächst einem Soldaten, der dank ihres Eingreifens während der Völkerschlacht bei Leipzig gerettet wurde, und dann auch einem Hirten. Dieser bekam den Auftrag, die Botschaft zu verbreiten, dass die Mutter Gottes die Polen, sollten sie in Not geraten, schützen werde.7 Von Anfang an erhielt die religiöse Vereh6 Vgl. Omilanowska, Sanktuarium Maryjne w Licheniu, (Anm. 3). 7 Vgl. K. Je˛drzejewski: Przewodnik po Sanktuarium Lichen´skim. Lichen´ 2019, S. 14–27.
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rung in Lichen´ eine nationale Dimension, die emblematisch durch das polnische Staatswappen auf der Brust der Madonna zum Ausdruck kommt. Die Architektur der Basilika, die in einem weitläufigen parkähnlichen Gelände gelegen ist, erinnert an die Peterskirche im Vatikan. Elemente des national-katholischen Narrativs sind darin allgegenwärtig. Unter dem Bild Unserer Lieben Frau von Lichen´ wurden im Hochaltar das Motto „Polen immer treu“ und ein Abguss des Adlers angebracht. Der Text von Bogurodzica, einem mittelalterlichen Marienlied, ist darüber eingraviert. Der Altar wird flankiert von zwei Säulen mit Adlerfiguren und jeweils zwei Elementen, sog. Lichtsäulen, die mit Motiven des Szczerbiec (Krönungsschwert der polnischen Könige) und historischen Szenen verziert sind, wie zum Beispiel die Verteidigung von Jasna Góra gegen die Schweden im Jahr 1655, die Befreiung Wiens 1683, die Schlacht mit den Bolschewiken bei Warschau 1920, der Warschauer Aufstand 1944 und die erste Pilgerreise von Johannes Paul II. nach Polen im Jahre 1979. Im Umgang hinter der Altarwand befinden sich Vitrinen für Votivgaben mit Bildern polnischer Heiliger und Seliger, meist Märtyrer des Zweiten Weltkriegs. Im westlichen Arm des Querschiffs sind triptychonartige Wandmalereien zu sehen, die die Taufe von Mieszko I. im Jahr 966 und die Krönung des Bildes der Muttergottes von Lichen´ im Jahr 1967 im Rahmen der Feierlichkeiten zum Millennium der Taufe Polens darstellen. Der östliche Arm zeigt in ähnlicher Weise Das Gelübde von Johannes Kasimir aus dem Jahr 1656, in dem der König das Land Maria anvertraute und sie zur Königin der Polnischen Krone ernannte, sowie den Besuch von Johannes Paul II. in der Basilika im Jahre 1999. Unter den beiden Triptychen befinden sich Medaillons mit Abbildungen polnischer Heiliger. Der Boden der Vierung ist mit einem Mosaik verziert, das die Umrisse des polnischen Staates mit den Silhouetten dreier Kirchen darstellt, die vom Episkopat als Votivgaben für das dritte Jahrtausend betrachtet werden, und einem rot-weißen Band mit der Aufschrift „POLONIA SEMPER FIDELIS“. Im Hauptschiff sind die Wangen der Kirchenbänke mit Motiven von stilisierten Flügeln der Hussaria verziert, und die Leuchter stellen eine Kombination aus den Zeichen des griechischen Kreuzes sowie des heraldischen Adlers dar. In der unteren Halle der Basilika sind die Deckenbalken mit Motiven des Piastenadlers und Bildern von Monarchen aus Jan Matejkos Poczet królów i ksia˛z˙a˛tów polskich [Polnische Könige und Fürsten] verziert. Auf den Steinwänden zwischen den Säulen sind Bilder mit erklärenden Inschriften zu sehen, die die Errungenschaften des polnischen Volkes illustrieren. Das Spektrum der Themen ist sehr breit – von militärischen Kämpfen bis hin zu Erfolgen in den Bereichen Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft –, was sich aus den Annahmen des Initiators des Baus der Basilika ergibt, der in den Polen ein von Gott mit „wunderbaren Eigenschaften des Geistes, des Verstandes und des Charakters“
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ausgestattetes Volk sah.8 Im Führer durch das Heiligtum werden die Verdienste der Familie Ulm hervorgehoben, die von den Nazis ermordet wurde, weil sie Juden geholfen hat, und als „Zeichen des Martyriums der polnischen Nation“9 dargestellt. Die Geschichte des nationalen Martyriums wird in der Kapelle der 108 Märtyrer weitergesponnen; hierbei handelt es sich um polnische Geistliche, die während des Krieges ermordet und 1999 von Papst Johannes Paul II. seliggesprochen wurden. Die Dankesworte für die Seligsprechung, die von einem der Hierarchen vorgetragen wurden, sind in der der Basilika gewidmeten Broschüre zitiert: „Polonia semper fidelis – Polen ist immer treu – es verdiente sich diesen Titel durch die größten Opfer, die im Namen Christi und im Namen der Mutter Christi gebracht wurden, als die Feinde des Kreuzes in Scharen auf Europa und auf uns zustürmten.“10 Der Leitspruch „Semper Fidelis“, umrahmt von den Umrissen Polens auf dem Hintergrund eines Herzens, das an ein Kreuz befestigt ist, findet sich in der Kapelle wieder, in der auch Urnen mit Erde von Schlachtfeldern, auf denen Polen gefallen sind, aufgestellt wurden. Die Ausstattung der Basilika ist ein mächtiger Akkord, der das Narrativ über die Nation krönt, das in den Räumen des Heiligtums in Lichen´ abgebildet wird. Während andere Elemente der Anlage von Themen dominiert werden, die das Ausmaß und den Wert des kollektiven Leidens betonen, ist das um die Jahrtausendwende errichtete Gotteshaus eine triumphale Hymne auf eine Nation, die in der Person von Johannes Paul II. endlich ihren rechtmäßigen Platz in der Kirche und in der westlichen Welt einnimmt, den sie jahrhundertelang mit großer Opferbereitschaft verteidigt hat. Eine Nation mit einer tausendjährigen Geschichte, die unter dem besonderen Schutz der Gottesmutter steht, mit außergewöhnlichen, durch Heerscharen von Heiligen versinnbildlichten Tugenden ausgestattet ist, und welche für ihre unerschütterliche Treue zu Gott belohnt wird, wobei sich diese wiederum im Martyrium ausdrückt. Der Optimismus der so formulierten Botschaft wurde maßgeblich von einem historischen Moment beeinflusst: dem Beitritt Polens zur Europäischen Union, für den sich der Papst eingesetzt hat. Mit dem Bau des Tempels der Göttlichen Vorsehung wird die Verpflichtung des Vierjährigen Sejms erfüllt, der 1791 beschloss, die Verabschiedung der Verfassung vom 3. Mai auf diese Weise zu feiern. Die Idee, die infolge der Teilungen Polens aufgegeben wurde, wurde 1920 und 1989 wieder aufgegriffen. Der Beschluss des polnischen Sejm vom 23. Oktober 1998 aktualisierte die ursprüngliche Idee und gab dem geplanten Objekt den Charakter eines Symbols der „Dankbarkeit der Nation für die Wiedererlangung der Freiheit im Jahr 1989, 8 Vgl. E. Makulski: Lichen´. Kronika Budowy Sanktuarium. Wrocław 2002, S. 21–22. 9 Je˛drzejewski, Przewodnik po Sanktuarium Lichen´skim, (Anm. 7), S. 245. 10 Lichen´ska Bazylika. Lichen´ 2020, S. 48.
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20 Jahre Pontifikat des Heiligen Vaters Johannes Paul II. und das Jubiläum 2000 Jahre der Christenheit.“11 Das imposante Gebäude wurde zwischen 2002 und 2016 im Warschauer Stadtteil Wilanów errichtet (die Arbeiten an der Inneneinrichtung sind noch nicht abgeschlossen).12 Im Umgang des kreisförmig angelegten Hauptraums werden Bilder und Reliquien polnischer Heiliger sowie Ausstellungen gezeigt, darunter eine mit dem Titel Polen in den Händen der Vorsehung. Auf den Tafeln werden historische Ereignisse, verbunden mit Auszügen aus der Bibel und individuellen Geschichten zeitgenössischer Polen, dargestellt. Alle Bestandteile sind durch das Wirken der göttlichen Vorsehung miteinander verbunden. In der Kirche befindet sich auch das Bild der Muttergottes von Tschenstochau, das auf dem Altar einer der Kapellen aufgestellt ist. Im Untergeschoss der Kirche wurde das Pantheon der großen Polen – die Grabstätte herausragender Vertreter der Nation – eingerichtet, während sich auf der Terrasse im Bereich der Kuppel das Museum von Johannes Paul II. und Stefan Wyszyn´ski befindet, das laut der offiziellen Website „den Einfluss der beiden Helden […] auf das Schicksal der Kirche und Polens, ihren Beitrag zur Bewahrung des Glaubens und der nationalen und kulturellen Identität der Polen sowie zum Sturz des Kommunismus“ zeigt.13 Das Programm wird durch das Ruchomy Teatr XXI wieku [das Mobile Theater des 21. Jahrhunderts] ergänzt – „ein interaktives pädagogisches Werkzeug, das für Kinder im Alter von 4 bis 12 Jahren entwickelt wurde“, das die polnische Geschichte „aus der Perspektive des Wirkens der göttlichen Vorsehung“ darstellt.14 Somit ist das Warschauer Bauwerk ein Denkmal für eine Nation, die sich vertrauensvoll dem Wirken der Vorsehung unterwirft und von einem aufrichtigen Glauben beseelt ist. Zugleich handelt es sich hier um einen Ort, an dem die nationale Identität mit einer Vielzahl von Mitteln reproduziert wird, die an die Bedürfnisse verschiedener Zielgruppen angepasst sind. Die Kirche war bereits vor ihrer Eröffnung am Unabhängigkeitstag ein Kristallisationspunkt für das katholische Narrativ über die Nation gewesen. Anlässlich der Seligsprechung von Johannes Paul II. im Jahr 2011 wurde an der Fassade ein monumentales Porträt des Papstes angebracht, das aus den Fotos von über hunderttausend Polen zusammengesetzt ist.15 Das Heiligtum der Jungfrau Maria Stern der Neuevangelisierung und Johannes Paul II. in Torun´ wurde zwischen 2012 und 2016 als Votivgabe für das Pontifikat des „polnischen Papstes“ errichtet. Das ideologische Programm wurde 11 12 13 14 15
http://orka.sejm.gov.pl/proc3.nsf/uchwaly/492_u.htm [23. 03. 2021]. Vgl. Historia budowy S´wia˛tyni Opatrznos´ci Boz˙ej 1791–2016. Warszawa 2016, S. 10f. https://mt514.pl/o-muzeum [23. 03. 2021]. Historia budowy, (Anm. 12), S. 53. https://warszawa.wyborcza.pl/warszawa/7,54420,9499847,wielki-portret-juz-gotowy-znajdzsiebie-na mozaice.html [30. 03. 2011].
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dem Narrativ über die Geschichte der polnischen Nation untergeordnet, die als ein Weg der geistigen Vervollkommnung dargestellt wurde. Dieser gipfelte im Pontifikat von Johannes Paul II., „dem größten der polnischen Familie, dessen Kommen […] von Dichtern und Heiligen vorhergesagt wurde.“16 Der Hauptakzent im Kirchenraum ist das Pantheon der Großen Polen, eine auf die Altarwand gemalte Prozession historischer Figuren: Man sieht Heilige, Soldaten, politische Führer, Künstler, die auf das Presbyterium zugehen. Es handelt sich hierbei um eine Kopie der päpstlichen Kapelle im Vatikan, in der eine hyperrealistische Figur des knieenden Karol Wojtyła dargestellt wird. Der Baukörper des Heiligtums ist von Relieftriptychen umgeben, die Szenen nach dem Vorbild bekannter Schlachtengemälde darstellen und von Inschriften begleitet werden, die den Sinn der Ereignisse „enthüllen“. Eine von ihnen – Antemurale Christianitatis – bringt die Leitidee des gesamten Zyklus zum Ausdruck. In der Unterkirche wurde eine Kapelle der Erinnerung eingerichtet, ein Ort des Gedenkens an die Polen, die während des Zweiten Weltkriegs mit ihrem Leben dafür zahlen mussten, dass sie Juden geholfen hatten. In der Nähe des Gotteshauses wird derzeit das Museum Pamie˛c´ i Toz˙samos´c´ im. s´w. Jana Pawła II [Das Museum der Erinnerung und Identität des Heiligen Johannes Paul II.] errichtet, das „die Geschichte Polens von den christlichen Anfängen seiner Staatlichkeit bis zur Gegenwart darstellen und dabei einfache chronologische Schemata vermeiden soll.“17 Der Raum der Verehrung Gottes in Torun´ zeigt sich also fast gleichermaßen als ein Raum der Verehrung einer Nation.18
Das Bild der Nation in der Homiletik Religiöse Feste, die mit staatlichen Feiertagen zusammenfallen, sowie religiöse Feiern, die am Tag staatlicher Feiertage organisiert werden, bieten die Gelegenheit, das kirchliche Narrativ über die Nation zu präsentieren. Die Predigttexte der geistlichen Würdeträger vom 15. August (Fest Mariä Himmelfahrt und zugleich Fest der polnischen Armee) und vom 11. November (Unabhängigkeitstag) wurden zur Untersuchung in Korpora zusammengetragen, die anschließend 16 Sanktuarium pw. Najs´wie˛tszej Maryi Panny Gwiazdy Nowej Ewangelizacji i ´sw. Jana Pawła II w Toruniu. Album Pamia˛tkowy. Szczecinek 2018, S. 4. 17 https://muzeumpit.pl [24. 03. 2021]. 18 Vgl. W. Tombarkiewicz: Katolicka opowies´´c o narodzie. Etnohistoria w przestrzeni sanktuarium Najs´wie˛tszej Maryi Panny Gwiazdy Nowej Ewangelizacji i ´sw. Jana Pawła II w Toruniu [unveröffentlichte Magisterarbeit; online] https://www.researchgate.net/publication /349979022_Katolicka_opowiesc_o_narodzie__etnohistoria_w_przestrzeni_sanktuarium_N ajswietszej_Maryi_Panny_Gwiazdy_Nowej_Ewangelizacji_i_sw_Jana_Pawla_II_w_Toruniu [24. 03. 2021].
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einer Okkurenzanalyse unterzogen wurden.19 Die so erzielten Ergebnisse werden mit einem zusätzlichen Kommentar zu ausgewählten Textpassagen versehen; in einer literarischen Aussage hängt die Hierarchie der aufgeworfenen Fragen nicht nur von der Häufigkeit des Vorkommens bestimmter Wörter und Phrasen ab. In der ersten Gruppe der Reden (15. August) dominieren unter den Substantiven Begriffe und Eigennamen, die sich auf die Religion beziehen (Maria – 199 Vorkommen, Gott – 193, Kirche – 131, Christus – 116, Glaube – 101), aber schon auf Platz 11 der Rangliste finden wir „Polen“ (100); das Wort „Nation“ kommt 60 Mal vor, „Vaterland“ 56. In der Liste des charakteristischen Wortschatzes finden sich nur wenige nationale Akzente, dafür aber wiederholen sich Begriffe, die sich auf militärische Ereignisse beziehen: „Polnische Armee“, „Rote Armee“, „Weltkrieg“ oder „Schlacht von Warschau“. Die Häufigkeitsanalyse des Auftretens von Lexemen und Phrasemen mit Bezug zur Nation im Korpus der Predigten zu dem 11. November zeigt eine Dominanz an solchen Inhalten. Unter den am häufigsten vorkommenden Substantiven belegt „Polen“ den 5. Platz mit 184 Nennungen, „Vaterland“ den 7. mit 160 Nennungen und „Nation“ den 9. mit 133 Nennungen. Von den 25 ersten Plätzen in der Rangliste des charakteristischen Wortschatzes (d. h. unter Berücksichtigung des Kriteriums des C-Werts) werden immerhin 10 Plätze von Ausdrücken wie „Vaterlandsliebe“, „christliche Form des Patriotismus“, „polnische Nation“, „polnische Heimat“ eingenommen. Ähnlich verhält es sich bei den Adjektiv-Nomen-Kollokationen: Von den 10 ersten Plätzen werden 5 durch Kollokationen belegt, die sich auf die polnische Geschichte beziehen: „Runder Tisch“, „Unbekannter Soldat“, „Unser Vaterland“, „Blaue Armee“ und „durchlauchtigste Republik“. Johannes Paul II. wurde in beiden Korpora insgesamt 68 Mal erwähnt, oft im Zusammenhang mit patriotischen Äußerungen z. B.: „Für dich, Polen, und zu deinem Ruhm muss ein echter Pole oft unpopuläre Entscheidungen treffen. Jeder Pole muss um das Wohl Polens besorgt sein. Unser Vaterland braucht immer noch Liebe. […] Wir alle müssen, wie es der Heilige Vater Johannes Paul II. anmahnte, die Zivilisation der Liebe Wirklichkeit werden lassen.“20 Häufiger als ein 19 Es wurden die Predigttexte für jeden der angegebenen Tage von 1989 bis 2020 gesammelt (mit einigen Ausnahmen). Einige wurden in „Wiadomos´ci Archidiezjalne Warszawskie“ veröffentlicht, andere wurden in einem Buch versammelt. Vgl. J. Glemp: Z jasnogórskiego szczytu. Homilie głoszone w uroczystos´ci Maryjne (3 maja – 15 sierpnia – 26 sierpnia) 1981–2003. Cze˛stochowa 2004. Die Analyse der Texte, die als audiovisuelles Material in elektronischen Medien zu finden sind, erforderte deren Transkription. Für die Weichenanalyse wurde das Tool Korpusomat verwendet. Siehe: W. Kieras´, Ł. Kobylinski, M. Ogrodniczuk: Korpusomat – a Tool for Creating Searchable Morphosyntactically Tagged Corpora. In: „Computational Methods in Science and Technology“ 24, 1 (2018), S. 21–27. 20 https://www.radiomaryja.pl/bez-kategorii/kazanie-biskupa-polowego-wp-wygloszone-w-ka tedrze-polowej-w-uroczystosc-wniebowziecia-najswietszej-maryi-panny [16. 04. 2021].
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Mann der Kirche erscheint der Papst als „unser großer Landsmann“, ein Nationalheld und eine Autorität in Sachen Dienst am Vaterland. So wurde etwa sein Kommentar über die Schlacht von Warschau (1920) zitiert, um die Interpretation dieses Gefechts als Wunder zu legitimieren: „Denn es war ein großer Sieg der polnischen Armee, betonte Johannes Paul II., so groß, dass er mit natürlichen Mitteln allein nicht erklärt werden konnte, und deshalb wurde er das Wunder an der Weichsel genannt. Er wurde dem Schutz der Königin von Polen zugeschrieben.“21 Die Autorität des Kirchenoberhaupts wird vor allem zur Legitimierung der historiosophischen Interpretation der polnischen Geschichte und der Vision von den Aufgaben der polnischen Gläubigen gegenüber der Nation herangezogen. Das Wort „Nation“ kommt insgesamt 193 Mal vor, wobei der Kontext darauf hinweist, dass Nation nicht als eine Ansammlung von Bürgern verstanden wird (das Wort „Bürger“ kommt nur 32 Mal vor), sondern als eine geistige Gemeinschaft. Die polnische Nation wird als edel, moralisch, „uns zugehörig“ beschrieben; sie habe eine Seele, eine stimmige Identität und ein Gedächtnis. Darüber hinaus werde sie von Feinden bedroht, die versuchen, „sie zu zerstören, sie ihrer Subjektivität zu berauben, sie von ihren Wurzeln zu lösen“,22 aber auch von Verrat oder „nationalem Egoismus“. Der eigentliche Existenzort einer Nation ist nicht der Staat (dieses Substantiv kommt nur 76 Mal vor), sondern das Vaterland, das in den Reden der Hierarchen insgesamt 216 Mal erwähnt wird. Ein ähnlicher Inhalt erscheint in der zweimonatlich erscheinenden „Biblioteka Kaznodziejska“, in der Skizzen veröffentlicht werden, die bei der Vorbereitung von Predigten helfen sollen. Im Jahr 2006 hatte die Zeitschrift mehr als 4000 Abonnenten, unter denen die Geistlichen bei weitem am zahlreichsten vertreten waren.23 Die meisten Texte enthalten keine Verweise auf die nationale Geschichte und Symbolik, aber sie erscheinen regelmäßig sowohl im Zusammenhang mit dem Fest der Heiligen Jungfrau Maria, der Königin Polens, das Pius XI. 1920 am 3. Mai, dem Jahrestag der Verabschiedung der ersten polnischen Verfassung, eingeführt hat, als auch mit dem Tag der Unabhängigkeit sowie mit dem Tag der Muttergottes von Tschenstochau und Mariä Himmelfahrt. Weitere Anlässe sind das Gedenken an polnische Heilige oder die vom Episkopat verkündeten Feierlichkeiten zum 1050. Jahrestag der Taufe Polens. Die Rolle der Nation wurde ebenfalls nach dem EU-Beitritt im Jahr 2004 und dem Tod von 21 Ebd. 22 Ebd. 23 https://www.bkaznodziejska.pl/O-nas/Sympozjum-homiletyczne/test/Biblioteka-Kaznodzie jska-100-lat-w-sluzbie-Kosciola-w-Polsce [30. 03. 2021]. Im Jahr 2006 gab es in Polen 28.976 Diözesanpriester. Vgl. Kos´ciół katolicki w Polsce 1991–2011, hrsg. v. Instytut Statystyki Kos´cioła Katolickiego SAC, Departament Badan´ Społecznych i Warunków Z˙ycia, Zakład Wydawnictw Statystycznych. Warszawa 2014, S. 26.
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Johannes Paul II. 2005 reflektiert. In dem analysierten Zeitraum wurde die Nation als eine kulturelle Gemeinschaft evoziert, die durch die Sprache, Bräuche und Traditionen sich konstituiert. Diese Standardbeschreibung findet sich u. a. in einem Text, der 1989 unter dem Titel W obronie narodu [Zur Verteidigung der Nation] publiziert wurde. Laut dem Autor statte Gott die Völker mit einer „einzigartigen geistigen Persönlichkeit“ aus, die aus „übernatürlichen und natürlichen Talenten“ bestehe. Aus dieser Persönlichkeit ergebe sich „die Fähigkeit, eine nur ihr selbst eigene Kultur herauszubilden.“24 Nach Ansicht eines anderen Autors könne man nicht losgelöst von einer Nation leben, da die Teilnahme an dem Nationalen es möglich mache, dass in das menschliche Leben „Kultur, Zivilisation und sogar Technologie“ eintreten würden. Die Pflicht einer Nation bestehe darin, „sich selbst treu zu sein“; im Falle der polnischen Nation bedeutet dies also, der spezifischen Kultur, die sie herausgebildet hat, treu zu bleiben. Diese Kultur entspringe dabei dem reinen, edlen Geist der Gemeinschaft, der sich in Freiheitsliebe, Opferbereitschaft und tiefer Religiosität verkörpert: „Wenn wir aufhören würden, so zu sein, würden wir aufhören, Polen zu sein.“25 Dieser Geist wolle in ein Territorium „gekleidet“ werden; Johannes Paul II. hat dieses Verlangen wie folgt formuliert: „Das Land, das der Nation gewaltsam entrissen wurde, wird gewissermaßen zu einem lauten Schrei in Richtung des ‚Geistes‘ der Nation. Der Geist der Nation erwacht, lebt ein neues Leben und kämpft seinerseits dafür, dass die Rechte des Landes wiederhergestellt werden.“26 Die mystische Verbindung zwischen Nation und Land lässt ein Vaterland entstehen, das „ein gemeinsames Erbe, eine gemeinsame Geschichte, Tradition, Kultur, Ethik, Glauben“27 darstellt. Die so verstandene Vaterlandsliebe wird als eine moralische oder sogar religiöse Pflicht verstanden als eine Notwendigkeit auf dem Wege in die himmlische Heimat. Die Zugehörigkeit zu einer anderen politischen Gemeinschaft, die sich als ein Resultat der Emigration zeigt, kann von dieser Verpflichtung nicht entbinden. In diesem Sinne mahnt ein Seelsorger die im Ausland lebenden Polen: „Respektiert dieses andere Vaterland, das euch aufgenommen hat […]. Aber ihr könnt nur ein Vaterland lieben, und zwar das polnische Vaterland, das eure Mutter ist.“28
24 M. Brzozowski: W obronie narodu. In: „Biblioteka Kaznodziejska“ 122, 6 (1989), S. 361–364, hier S. 361ff. 25 M. Brzozowski: Kochac´ Polske˛! In: „Biblioteka Kaznodziejska“ 122, 6 (1989), S. 371–374. 26 S. Szary: W kre˛gu nauczania Jana Pawła II. In: „Biblioteka Kaznodziejska“ 150, 6 (2006), S. 201–204, hier S. 202. 27 P. Mazurkiewicz: Ojczyzna to wielki zbiorowy obowia˛zek. In: „Biblioteka Kaznodziejska“ 136, 5–6 (1996), S. 332–335, hier S. 333. 28 B. Kozioł: Róz˙aniec z o. Ignacym Posadzym. In: „Biblioteka Kaznodziejska“ 153, 5 (2009), S. 37–38, hier S. 38.
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Viel Aufmerksamkeit wird der Einzigartigkeit der polnischen Nation gewidmet, wobei insbesondere ihre Beziehung zur Muttergottes hervorgehoben wird; Gott soll nämlich keine andere Nation so nahe an Maria gebracht haben. Die Tatsache, dass die Religion in die Substanz der Nation hineingewachsen sei, wird dabei wiederholt als ein polnisches Spezifikum akzentuiert. Die Überzeugung von der moralischen Überlegenheit der Polen wird manchmal explizit artikuliert; zitiert wird u. a. der selige Honorat Koz´min´ski, der die „geistigen Vorzüge [der polnischen] Nation“ preist, „die sie auszeichnen und über andere Nationen erheben.“29 Dieser besondere Status hängt mit einer besonderen, messianisch ausgelegten Mission der polnischen Nation zusammen, wobei auf die Bezeichnung Polens als „freudiger Messias der Nationen“, die in einem deutschen Periodikum genannt wurde, angespielt wird.30 Im Zusammenhang mit dem von der deutschen Presse positiv beurteilten Beitritt Polens zur EU wird diese Mission, im Einklang mit dem Standpunkt des Episkopats, als „das Einführen von Christus in Europa“ bezeichnet.31 Der Optimismus, der diese Herausforderung begleitete, weicht nach dem Tod von Johannes Paul II. allmählich einer Ernüchterung, die sich in zunehmend kritischen Stimmen gegenüber dem Westen äußert. Während des betreffenden Untersuchungszeitraums lassen sich immer wieder Aufrufe zur Verteidigung gegen Kräfte vernehmen, die die nationale Identität und die Kirche bedrohen. Nach 2005 werden diese Kräfte mit dem „Kosmopolitismus“ gleichgesetzt,32 dem „liberalen Europa“33 sowie einer Welt, die, „wenn sie sich über das Universelle ergeht, zuerst alle lokalen Werte zerstören muss.“34 „Der heldenhafte Widerstand der Nation gegen die rücksichtslosen und wütenden Angriffe der atheistisch-nihilistischen Hydra“35 ist Teil eines Geschichtsbildes, in dem das Schicksal Polens untrennbar mit dem der Kirche verbunden wird. Seinen Anfang – die Geburt der Gemeinschaft und der Staatlichkeit – markiert die Taufe von Mieszko I. im Jahr 966. Häufig erwähnt werden in diesem Zusammenhang folgende geschichtliche Ereignisse der Vormoderne: die Schlacht gegen den Deutschen Orden bei Tannenberg (meist wird dabei auf das mittelalterliche Lied Bogurodzica hingewiesen, das als die „erste National29 J. Korzeniowski: „Aby naród nie zatracił zwia˛zków z dziejami“. In: „Biblioteka Kaznodziejska“ 128, 3–4 (1992), S. 218–256, hier S. 225. 30 Vgl. I.S. Bruski: Radosny „Mesjasz Narodów“. In: „Biblioteka Kaznodziejska“ 145, 6 (2001), S. 60–63. 31 Vgl. ebd. 32 Vgl. M. Karbowski: Niech z˙yje Polska! In: „Biblioteka Kaznodziejska“ 160, 6 (2016), S. 146– 148, hier S. 148. 33 Vgl. Sugestie słuchacza. In: „Biblioteka Kaznodziejska“ 150, 3 (2006), S. 11. 34 S. Zatwardnicki: Kim be˛dzie drugi Jerzy? In: „Biblioteka Kaznodziejska“ 154, 5 (2010), S. 132– 139, hier S. 133. 35 K. Siemien´ski: Dostrzec plon posiewu Chrystusowego. In: „Biblioteka Kaznodziejska“ 160, 2 (2016), S. 156–158, hier S. 158.
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hymne“ bezeichnet wird), der Entsatz Wiens im Jahr 1683, die Verteidigung des Klosters Jasna Góra gegen die Schweden im Jahr 1655 und das Gelübde von Jan Kazimierz 1656. Ein wichtiges Motiv ist die Verfassung vom 3. Mai (1791). In diesem Kontext wird mehrfach betont, dass der Katholizismus zwar als die vorherrschende Religion angesehen wurde, die Rechte der Andersgläubigen aber gewährleistet waren. Das Hauptaugenmerk liegt jedoch auf der Zeit der Teilungen und nationalen Aufstände, der Wiedererlangung und Verteidigung der Unabhängigkeit, einschließlich der Schlacht von Warschau (1920) sowie dem anschließenden Widerstand gegen die deutschen und sowjetischen Besatzer. In Bezug auf die Nachkriegsgeschichte werden am häufigsten folgende Ereignisse erwähnt: die Nationalgelübde von Jasna Góra (die Erneuerung der Gelübde von Jan Kazimierz auf Initiative von Kardinal Wyszyn´ski im Jahr 1956), die Gründung der „Solidarnos´c´“ sowie die Pilgerfahrt von Johannes Paul II. Diese Ereignisse, an die hier erinnert wird, zeichnen ein Bild vergangenen Ruhms, welchem eine anhaltende Zeit des Leidens und heldenhafter Kämpfe für die Freiheit folgte, bei denen die Kirche stets die Hauptstütze der Nation war. Die Gründe für den Untergang der Adelsrepublik werden unterschiedlich interpretiert; meist wird auf die Gottesferne hingewiesen, nicht selten aber auch die Rücksichtslosigkeit und der Zynismus der Nachbarn betont.36 Die am häufigsten vorkommenden katholischen Symbole: das Kreuz, die Muttergottes von Tschenstochau, Jasna Góra, Johannes Paul II. werden in den analysierten Texten national konnotiert. Das erste Symbol „ist für immer mit der Geschichte unserer Nation zusammengewachsen“, es „war und bleibt das Zeichen und der Leitspruch der polnischen Nation und wird immer das Symbol Polens bleiben.“37 Die nationale Bedeutung des Kultes der Schwarzen Madonna wird mehrfach herausgestellt; das Gemälde wird beispielsweise als „Symbol der Religiosität und des Polentums zugleich“38 oder „Spiegel der Treue der Nation“39 bezeichnet. In Bezug auf Jasna Góra behauptet man u. a.: „Es versammelt uns alle nach dem Vorbild des Berges Zion […] für das auserwählte Volk.“40 Johannes Paul II., der standardmäßig „polnischer Papst“ genannt wird, wird als derjenige, der die Polen aus der Knechtschaft des Totalitarismus herausgeführt hat, mit
36 Vgl. Korzeniowski, „Aby naród nie zatracił zwia˛zków z dziejami“, (Anm. 29), S. 228–232. 37 T. Loska: Krzyz˙ Chrystusa naszym znakiem. In: „Biblioteka Kaznodziejska“ 122, 5 (1989), S. 283–285, hier S. 284. 38 K. Kasprzak: Otoczeni opieka˛ Matki. In: „Biblioteka Kaznodziejska“ 151, 4 (2007), S. 129–132, hier S. 130. 39 P. Cebula: Matka Boz˙a Cze˛stochowska zwierciadłem wiernos´ci narodu. In: „Biblioteka Kaznodziejska“ 160, 4 (2016), S. 112–114. 40 P. Wojnar: Poddani Królowej. In: „Biblioteka Kaznodziejska“ 153, 4 (2009), S. 138–140, hier S. 139.
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Moses verglichen41 und zur herausragendsten Figur der gesamten „Nationalgeschichte“ erhoben.42 Und an einer anderen Textstelle heißt es: „Er trägt in der Tat das ganze Polen und das, was es ausmacht, in sich.“43 Es wird ebenfalls wiederholt daran appelliert, die nationalen Symbole zu achten: das Staatswappen, die Nationalflagge und die Nationalhymne. An Kritik an der Gleichgültigkeit gegenüber diesen Sinnbildern mangelt es nicht. Besonders interessant sind die Ausführungen zum Verhältnis von religiösen und nationalen Symbolen; so heißt es u. a. in einem Gebet: „Dass das Kreuz und der Adler in unserem Leben bleiben, von der Taufe bis zum Tod.“44 Und bei einem anderen Autor liest man: „Der Weiße Adler und die weiß-rote Fahne neben dem Bildnis der Muttergottes von Tschenstochau, das irgendwo unten angebracht ist – das ist keine Verwechslung, das ist eine Verbindung, eine gesegnete Synthese, die seit Jahrhunderten besteht.“45
Das Bild der Nation in den Lehrplänen für den Religionsunterricht Der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen wurde 1990 wieder aufgenommen.46 Ausschlaggebend hierfür waren zuerst Ministerialbeschlüsse, wobei 1997 die Verpflichtung zur Durchführung von Religionsunterricht in das Grundgesetz aufgenommen wurde; entsprechende Regelungen fanden auch in das Konkordat mit dem Heiligen Stuhl Einzug.47 Das erste Rahmencurriculum wurde von der Komisja Wychowania Katolickiego przy Konferencji Episkopatu Polski [Kommission für das katholische Bildungswesen der polnischen Bischofskonferenz] 1999 entwickelt, weitere folgten 2009 und 2018. Ein Vergleich dieser Dokumente zeigt, dass sich die Inhalte, die das irdische Vaterland und die Nation betreffen, verändert haben. Die Autoren gingen dabei von einem allmählichen Aufbau der Identität eines jungen Christen aus, der an seine intellektuelle und emotionale Entwicklung angepasst werden soll. Nach dem Rahmencurriculum von 1999 soll das Kind in der Phase der frühkindlichen Erziehung (Klassen I–III) seine Zu41 Vgl. M. Pohl: Wydac´ owoce ´swiadectwa. In: „Biblioteka Kaznodziejska“ 154, 5 (2010), S. 126– 128, hier S. 128. 42 Vgl. K. Kubat: Słowian´ski papiez˙. In: „Biblioteka Kaznodziejska“ 162, 5 (2018), S. 134–136, hier S. 135. 43 J. Zie˛ba: Apostołowie Piotr i Paweł w słuz˙bie komunii kos´cioła z ojcem. In: „Biblioteka Kaznodziejska“ 142, 5–6 (1999), S. 426–429, hier S. 428. 44 Loska, Krzyz˙ Chrystusa naszym znakiem, (Anm. 37). 45 J. Michalec: Królowa Polski. In: „Biblioteka Kaznodziejska“ 146, 3 (2002), S. 34–38, hier S. 37. 46 Vgl. K. Wie˛cek: Nauczanie religii katolickiej w polskiej szkole publicznej w konteks´cie prawa rodziców do wychowywania religijnego dzieci – aspekty historyczne i wybrane aktualne problemy. In: „Studia z Prawa Wyznaniowego“ 16 (2013), S. 185–211, hier S. 195. 47 Vgl. ebd., S. 207.
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gehörigkeit zur Familie und zur Gruppe der Gleichaltrigen entdecken, wobei es erst in der vierten Klasse zur Identifikation mit der lokalen, regionalen und nationalen Gemeinschaft reifen kann. Nach dem Lehrplan für den Religionsunterricht 2001 für die Klassen IV–VI der polnischen Grundschule, der sich auf dieses Rahmencurriculum stützt, soll der Unterricht darauf abzielen, das Kind mit religiösen und nationalen Symbolen bekannt zu machen, sowie mit Figuren „großer Polen, die Gott und dem Vaterland treu sind“48; und die Aufgabe des Katecheten bestünde darin, den Schüler für „Aufgaben in der Familie, in der Peer-Gruppe, in der Kirchengemeinde […] und im Vaterland“ zu sensibilisieren.49 Durch die Erörterung von Ereignissen wie die Taufe Polens und die Mission des Heiligen Adalbert sowie durch den Hinweis auf die religiösen Wurzeln von Brauchtum, Sitten und Traditionen soll „die Beziehung des Glaubens und der Kirche zum Leben der polnischen Nation“ und ihrer Kultur aufgezeigt werden.50 In der Sekundarstufe I sollen diese Inhalte gefestigt und erweitert werden; in der ersten Klasse sollen die Schüler die Anfänge des Christentums in Polen, die Bedeutung der Hymne Bogurodzica, die Errungenschaften der nationalen Kunst und Musik kennen lernen, sowie die Begriffe Nation, Staat und nationale Identität mit Verständnis verwenden können.51 Nach einem Jahr Pause kehrt dieses Thema zurück, und zwar gleich zu Beginn des Lehrplans. Im Abschnitt über die Identitätsfrage werden diesbezüglich die Nation und der Staat als wichtige Faktoren erwähnt, während in den nachfolgenden Abschnitten die Rolle der Kirche in der Geschichte Polens dargestellt wird. Die letzte Phase der Ausbildung in der Sekundarstufe II beginnt, wie in den vorangegangenen Fällen, mit der Frage nach der Identität: In diesem Zusammenhang erscheinen die Begriffe Vaterland, polnisches Nationalbewusstsein und nationale und katholische Identität in der Kultur. Zu den Pflichten eines Katholiken gehöre es, dem Vaterland zu dienen (das Wort Vaterland wird stets großgeschrieben, was für das Polnische untypisch ist), wobei auf die Beziehung zwischen dem Christentum und der Geschichte der polnischen Nation sowie auf die integrierende Rolle der Kirche im gesellschaftlichen Leben hingewiesen wird.52 Die Vorgaben des Rahmenprogramms werden in den Lehrbüchern unterschiedlich umgesetzt. Zu den häufigsten Formen der Stärkung des Gefühls für die nationale Gemeinschaft gehören die Präsentation einer Karte oder des Umrisses des polnischen Territoriums, polnischer Nationalsymbole (die Nationalfahne, das Staatswappen), sowie Figuren von Heiligen und Seligen, die einen verdienstvollen Beitrag zur 48 Komisja Wychowania Katolickiego Konferencji Episkopatu Polski: Program nauczania religii. Kraków 2001, S. 49f. 49 Ebd., S. 63f. 50 Vgl. ebd., S. 66f. 51 Vgl. ebd., S. 83. 52 Vgl. ebd., S. 110, 123.
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Geschichte der Nation geleistet haben (Jerzy Popiełuszko, Stefan Wyszyn´ski, Johannes Paul II.). Häufig werden der Dienst am Vaterland und die Treue zu Polen erwähnt, die als christliche Pflicht beschworen werden (als Argumente werden am häufigsten Zitate des „polnischen Papstes“ angeführt), und es gibt zahlreiche Fotos von „heimischen“ Landschaften und Menschen in Volkstrachten. Einen besonderen Platz nimmt das 20. Jahrhundert ein, d. h. die Zeit der Totalitarismen, die Zeit des Zweiten Weltkriegs (Maximilian Kolbe, der sein Leben für einen Mitgefangenen opferte, oder Fälle von Judenrettung durch Ordensgemeinschaften), die Rolle der Kirche nach 1945 als die einzige Kraft, die in der Lage war, sich den kommunistischen Machthabern zu widersetzen (das Wirken von Primas Wyszyn´ski, das Nationale Gelöbnis von Jasna Góra, die Jahrtausendfeier der Taufe Polens), und schließlich die Wahl von Karol Wojtyła zum Papst und seine Pilgerreisen nach Polen, die als der entscheidende Faktor dargestellt werden, der den Fall des Kommunismus herbeiführte. Im Curriculum für den Religionsunterricht 2010 werden Inhalte, die sich auf die weltliche Heimat beziehen, weiterhin nur in den Klassen IV–VI behandelt.53 Ziel der Katechese ist es unter anderem, „eine Haltung der Liebe zur Kirche und zum Vaterland zu entwickeln.“54 Der Schüler soll über „Beispiele für Rechte und Pflichten der […] Bürger“ informiert werden, die Formen des Kampfes um die Unabhängigkeit und die Wiedergeburt des polnischen Staates in Analogie zur Geschichte der biblischen Israeliten interpretieren können.55 Nach Ansicht der Autoren des Dokuments erfordert das „Kennenlernen und Finden des eigenen Platzes und der eigenen Aufgaben im Leben der Nation […] die Kenntnis des christlichen Charakters“ dieser Nation.56 Erst wenn diese Bedingung erfüllt ist, wird der Schüler in der Lage sein, „spezifische Aufgaben […] in dem Vaterland zu übernehmen.“57 Er muss auch über die Bedeutung der wichtigsten Nationalfeiertage und die Rolle von Mieszkos Taufe für das Schicksal Polens unterrichtet werden.58 Wie im Falle des zuvor besprochenen Curriculums ist auch in der Sekundarstufe I der Inhalt wichtig, der auf den Beitrag der Kirche zur Entwicklung der Nation hinweist, welcher durch solche Beispiele wie die Taufe Polens, die Hymne Bogurodzica und die Figur des Heiligen Stanislaus dokumentiert wird. Die Notwendigkeit, das Vaterland zu lieben, wird auf das vierte Gebot zurückgeführt.59 Ein Schüler, der die Sekundarstufe I abschließt, soll die Bezie53 Vgl. Komisja Wychowania Katolickiego Konferencji Episkopatu Polski: Program nauczania religii rzymskokatolickiej w przedszkolach i szkołach. Kraków 2010. 54 Ebd., S. 68. 55 Vgl. ebd., S. 82f. 56 Ebd., S. 92. 57 Ebd., S. 98. 58 Vgl. ebd., S. 98. 59 Vgl. ebd., S. 122.
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hung zwischen der Kirche und dem Leben des polnischen Volkes beschreiben können.60 Der neueste Rahmenlehrplan 2018 enthält eine wichtige Änderung.61 Es wird nun verlangt, dass bereits im Kindergarten das Zugehörigkeitsgefühl des Kindes zur Nation vertieft wird.62 In den Klassenstufen I–IV, also eine Schulform früher als in den zuvor besprochenen Fällen, sollen die Schüler mit nationalen Symbolen vertraut gemacht werden und „das Wissen beherrschen, dass es Personen gibt, die sich um Polen und die Welt besonders verdient gemacht haben.“ In den nachfolgenden Unterrichtsjahren unterscheiden sich die nationalen Inhalte nicht wesentlich von den bisher genannten; eingegangen wird darin auf die Themen der Vaterlandsliebe, der Pflichten gegenüber der Nation und die Rolle der katholischen Kirche in der Geschichte Polens.63
Das nationale Narrativ über die Kirche Religiöse Symbole in öffentlichen Gebäuden In der Volksrepublik Polen galten das Kreuz, die Figuren von Johannes Paul II., Stefan Wyszyn´ski und das Bildnis der Muttergottes von Tschenstochau als Symbole der Nation und ihres Strebens nach Unabhängigkeit. Mit der Erlangung der Unabhängigkeit wurde das Kreuz in Schulen und andere öffentliche Einrichtungen eingeführt, was mehrfach Anlass zu Protesten und politischen Auseinandersetzungen gab. Diese wiederum boten die Gelegenheit, die Bedeutung dieses Symbols in der Rechtsprechung, in Rechtsakten, in Erklärungen von Politikern und Kirchenvertretern zu diskutieren. Im Jahr 1990 entschied ein Gericht in Lodz im Zusammenhang mit einer Beschwerde über das Vorhandensein eines Kreuzes im Sitzungssaal des Stadtrats, dass das Symbol des Kreuzes in der polnischen Gesellschaft, abgesehen von seiner religiösen Bedeutung, die moralische Ordnung ausdrückt, auf deren Grundlage die Idee von Staat und Gesellschaft verwirklicht wird. Im Laufe der Geschichte, angefangen mit der Zeit der Ersten Polnischen Republik, über die Zeit der Teilungen, bis hin zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit, war das Kreuz in der polnischen Tradition mit der Ausübung der gesetzgebenden und gerichtlichen Gewalt verbunden.64 60 Vgl. ebd., S. 133. 61 Vgl. Komisja Wychowania Katolickiego Konferencji Episkopatu Polski: Podstawa programowa katechezy Kos´cioła katolickiego w Polsce. Cze˛stochowa 2018. 62 Vgl. ebd., S. 24. 63 Vgl. ebd., S. 78, 108, 119. 64 https://sip.lex.pl/orzeczenia-i-pisma-urzedowe/orzeczenia-sadow/i-aca-612-98-wyrok-saduapelacyjnego-w-lodzi-520131073 [25. 03. 2021].
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Eine stürmische Debatte wurde ausgelöst, als am 19. Oktober 1997 eine Gruppe von Abgeordneten ein Kreuz, das zuvor vor dem Bild der Schwarzen Madonna in Tschenstochau geweiht worden war, in dem Sitzungssaal des polnischen Parlaments aufstellte. Das Thema wurde wieder Ende des ersten Jahrzehnts des neuen Millenniums virulent, als man von den Versuchen erfahren hat, Kruzifixe aus den Schulen in Italien zu entfernen. Anschließend ergriffen die Vertreter aller Fraktionen des polnischen Parlaments das Wort. Abgeordnete und Senatoren der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), der Polnischen Bauernpartei (PSL) und der Bürgerplattform (PO) sprachen sich gegen die weltanschauliche Neutralität staatlicher Gebäude aus und verwiesen auf die Rolle des Christentums als Grundlage der europäischen Kultur, die Meinungsfreiheit und die Bedeutung des Katholizismus sowie religiöser Symbole für die Wahrung der nationalen Identität der Polen, was in der Entschließung des polnischen Sejm vom 23. Dezember 200965 und der Entschließung des Senats vom 4. Februar 2010 zur Achtung des Kreuzes zum Ausdruck kam. In dem zweiten Text heißt es: Das Kreuz, das wichtigste Symbol des Christentums, […] hat Polen in allen wichtigen Momenten seiner Geschichte begleitet. In schwierigen Zeiten, während der Teilungen, Kriege und Besetzungen, half die katholische Kirche den Bedürftigen unabhängig von ihrer Religion und war ein Ort, an dem das nationale Gedächtnis lebendig gehalten wurde, während das Kreuz nicht nur ein Symbol für das Christentum und seine Werte, sondern auch für die Sehnsucht nach einem freien Vaterland wurde. Während des kommunistischen Regimes setzte sich die katholische Kirche unter der Führung des Primas des Jahrtausends, Kardinal Stefan Wyszyn´ski, das Ziel, die nationalen Werte in der polnischen Gesellschaft zu bewahren, wofür sie vom damaligen Staat institutionell bekämpft wurde. Dank der Kirche – und in der Kirche – konnten sich die Polen zumindest ein Mindestmaß an Freiheit bewahren, das Andenken an ihre Helden ehren, die Jahrestage großer Ereignisse ihrer Geschichte feiern und, als die Zeit reif war, unter den Bannern der „Solidarität“ für ihre Würde, Wahrheit und Freiheit eintreten. In den finsteren Stunden des Kriegsrechts öffnete die Kirche – wie schon immer in der Vergangenheit – ihre Türen weit für diejenigen, die Unterstützung brauchten, und für diejenigen, die für die Freiheit kämpften. Und es war nicht die Religion, die zählte, sondern die Not des Menschen oder sein Patriotismus und sein Engagement für die polnische Sache. Das Kreuz, das ein Zeichen des Christentums ist, ist für alle Polen, unabhängig von ihrer Religion, dauerhaft zu einem Symbol für allgemein anerkannte universelle Werte sowie für das Streben nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit unseres Vaterlandes geworden.66
65 http://isap.sejm.gov.pl/isap.nsf/download.xsp/WMP20090780962/O/M20090962.pdf [25. 03. 2021]. 66 http://isap.sejm.gov.pl/isap.nsf/download.xsp/WMP20100070057/O/M20100057.pdf [25. 03. 2021].
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Ein Jahr später kehrte das Thema durch Janusz Palikot in das Parlament zurück, der einen Antrag auf die Entfernung des Kruzifixes stellte.67 Diesmal verabschiedete der Sejm eine Resolution, die an die Werte erinnert, die durch die Präsenz des Kreuzes im Sejm-Saal der Polnischen Republik zum Ausdruck kommen: „In der Geschichte unseres Landes wurde der Kampf gegen die Religion und das Kreuz von den Feinden unserer Nation aufgenommen, die glaubten, nur auf diese Weise unsere Identität zerstören zu können.“68 Abgesehen von den religiösen Konnotationen des Symbols stellten die Verfasser der Resolution die Verteidigung des Kreuzes als eine Verteidigung der nationalen Tradition an sich dar. In den Erklärungen von Kirchenvertretern, einschließlich Papst Johannes Paul II., wurde vor allem auf eine andere Dimension des Problems hingewiesen: die Gewissens- und Religionsfreiheit.69
Kirche und Religion in den Reden des Präsidenten der Republik Polen Um die oben analysierten Predigten mit den Reden des polnischen Präsidenten zu vergleichen, sollen zwei Korpora öffentlicher Auftritte des Präsidenten herangezogen werden. Das erste Korpus beinhaltet die Wünsche des Präsidentenpaares anlässlich eines kirchlichen Feiertags (Weihnachten), das zweite die Reden des Präsidenten, die im Rahmen der Feierlichkeiten am 15. August, einem nationalen und kirchlichen Feiertag, gehalten wurden.70 Im ersten Fall ist das christliche Fest auf eine Tradition reduziert worden, auf eine Reihe von Ritualen, die die Familie und die Nation zusammenhalten sollen. Diese eher schematischen und kurzen Texte sind voll von Ausdrücken wie die „das polnische Vaterland“, die „schöne polnische Tradition“, „alle Polen“ oder „unsere Landsleute“. Neben typischen Wörtern oder am häufigsten auftretenden Kollokationen finden sich keine Ausdrücke, die sich auf die religiöse Dimension 67 https://www.gazetaprawna.pl/artykuly/747452,wniosek-palikota-o-usuniecie-krzyza-w-sadz ie-media-rydzyka-komentuja.html [24. 03. 2021]. 68 http://isap.sejm.gov.pl/isap.nsf/download.xsp/WMP20100070057/O/M20100057.pdf [25. 03. 2021]. 69 Vgl. A. Romanko: Symbol krzyz˙a w sferze publicznej w konteks´cie wybranych orzeczen´. In: „Kos´ciół i Prawo“ 13, 2 (2015), S. 207–226, hier S. 207ff. 70 Die Äußerungen stammen aus dem offiziellen Online-Archiv der Kanzlei des Präsidenten der Republik Polen sowie aus Artikeln, die in den elektronischen Medien veröffentlicht wurden, und aus der Publikationsreihe Wysta˛pienia – Listy – Wywiady [Reden – Briefe – Interviews], die jährlich von der Kanzlei des Präsidenten der Republik Polen herausgegeben wird. Die Gewinnung von Texten für die Korpora erforderte wiederholt die Transkription von audiovisuellem Material. Das Korpus ist nicht vollständig – für die meisten Jahre 1989–2000 fehlen Weihnachtswünsche, da sich der Brauch offenbar erst mit der Zeit etabliert hat und während der Präsidentschaft von Bronisław Komorowski eine Form erreichte, die der heutigen sehr nahe kommt.
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der Feierlichkeiten beziehen würden, klammert man allerdings den Begriff „Weihnachten“, der als Eigenname verwendet wird, aus. In den Reden des Präsidenten anlässlich des Tages der polnischen Armee (15. August) wird die Rolle der Kirche in der Geschichte Polens nur am Rande erwähnt. Unter den am häufigsten genannten Ausdrücken, die keinen religiösen Bezug haben, rangiert die „heilige Maria“ mit nur zwei Vorkommnissen auf Platz 28 der Liste der Adjektiv-Nomen-Kollokationen. Die Wörter „Kirche“, „Religion“ und „katholisch“ kommen nicht ein einziges Mal vor, „der Katholik“ einmal im Zusammenhang mit der Erinnerung daran, dass an diesem Tag auch das Fest der Himmelfahrt der seligen Jungfrau Maria in der Kirche begangen wird, obwohl es für die Polen wichtiger ist, dass es den Jahrestag des Sieges von 1920 darstellt. Diesbezüglich fügt Andrzej Duda 2017 hinzu: Dieser Durchbruch erfolgte genau am Fest Unserer Lieben Frauen Wurzelweihe, dem Fest der Himmelfahrt der Heiligen Jungfrau Maria. Schließlich sangen die polnischen Ritter schon viele Jahrhunderte zuvor „Bogurodzica, dziewica, Bogiem sławiena Maryja“, wenn sie sich zum Kampf erhoben. Denn sie glaubten von ganzem Herzen an den Schutz der Gottesmutter über sie und ihr Vaterland.71
Die Formulierung „Wunder an der Weichsel“ wird fünfmal verwendet, wobei Präsident Duda ihn ausschließlich 2018 gebrauchte, als er auf einen Eingriff Gottes als entscheidenden Faktor für den Ausgang der Schlacht um Warschau hinwies72, während Lech Kaczyn´ski 2006 argumentierte, dass diese Ereignisse heute nur deshalb als Wunder bezeichnet werden können, weil es die außergewöhnliche Entschlossenheit der Soldaten und Befehlshaber möglich gemacht hätte, die überwältigenden feindlichen Kräfte abzuwehren.73 Bei mehreren Anlässen (2014, 2018 und 2019) hat Präsident Duda eine Art Segen/Gebet am Ende seiner Reden formuliert, wie etwa: „Möge Gott alle Polen beschützen – in Polen und in der ganzen Welt! Möge Gott unsere wunderbare Republik Polen beschützen, unser wunderbares Vaterland! Ehre und Ruhm den Helden!“74
Kirche und Religion in den Lehrplänen für Geschichte an Schulen Das Fach Geschichte / Geschichte und Gesellschaft befasst sich insbesondere mit der Herausbildung nationaler Identität. Die Rahmenlehrpläne werden fast jedes Jahr aktualisiert; für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung wurden aber 71 72 73 74
A. Duda: Wysta˛pienia – Listy – Wywiady 2017. Wybór. Warszawa 2018, S. 137–140. Vgl. A. Duda: Wysta˛pienia – Listy – Wywiady 2018. Wybór. Warszawa 2019, S. 179–182. Vgl. L. Kaczyn´ski: Wysta˛pienia – Listy – Wywiady 2006. Wybór. Warszawa 2007, S. 87. A. Duda: Andrzej Duda Wysta˛pienia – Listy – Wywiady 2019. Wybór. Warszawa 2020, S. 172– 174.
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lediglich diejenigen ausgewählt, die chronologisch den bereits analysierten Religionscurricula für die Jahre 199975, 200876 und 2017/201877 entsprechen. Beim Vergleich der Dokumente zeigen sich erhebliche Unterschiede, wobei sich auch ein gewisses Repertoire an konstanten Elementen verzeichnen lässt, die in verschiedenen Phasen der Bildung auftreten. In keinem der Rahmenlehrpläne tauchen religiöse Aspekte auf, die sich auf die Ausbildung im Kindergarten beziehen (in dem ersten Lehrplan ist diese Stufe nicht enthalten). Es wird zwar auf die Entwicklung einer Wertehierarchie im Vorschul- und Schulkindalter hingewiesen, aber die Quelle dieser Werte ist nicht die Religion, sondern die Familie und die Nation. Das Kind soll die nationalen Symbole und die nationalen Feiertage kennenlernen. Religiöse Feiertage erscheinen erst in der nächsten Stufe und nur in der Verordnung von 1999. In der neuesten Fassung sollen die Schüler bereits in den Klassen I–IV die Namen großer polnischer Persönlichkeiten kennen, darunter auch Johannes Paul II. In den nachfolgenden Bildungsstufen ist eine deutliche Ausweitung der kirchenbezogenen Inhalte zu verzeichnen, die jedoch unterschiedlich interpretiert werden. In den Jahren 1999 und 2017/2018 werden die Taufe Polens und die Rolle von Johannes Paul II. bei der Überwindung des Kommunismus herausgestellt, wobei dem Christentum mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird als anderen Religionen. Der aktuelle Rahmenlehrplan geht jedoch noch viel weiter. Erörtert wird die kulturbildende Rolle der Christianisierung Polens, die Bedeutung der Kirche für die Wiedervereinigung des Staates nach dem sog. rozbicie dzielnicowe (Zerfall Polens in Teilherzogtümer in den Jahren 1138–1320), für die politischen und sozialen Beziehungen, die Entwicklung der polnischen Kultur und den Prozess der Herausbildung einer modernen polnischen nationalen Identität. Die Schüler sollen die Bedeutung des Glaubens für die Aufrechterhaltung des nationalen Bewusstseins während der Zeit der Teilung erkennen und die Verfolgung der Kirche durch die Behörden des Dritten Reiches und der UdSSR sowie die Verfolgung in Volkspolen während der stalinistischen Zeit beschreiben können. Schließlich wird die Rolle dieser Institution in den folgenden Jahrzehnten als Organisator des gesellschaftspolitischen Lebens und als ein von den kommunistischen Behörden unabhängiger Akteur gewürdigt, mit besonderem Augenmerk auf die Aktivitäten von Primas Wyszyn´ski, die Feierlichkeiten zum Millennium der Taufe Polens und die Wahl von Karol Wojtyła zum Papst. Das Rahmencurriculum 2008 erscheint als Kontra75 http://isap.sejm.gov.pl/isap.nsf/download.xsp/WDU19990140129/O/D19990129_01.pdf [6. 04. 2021]. 76 http://isap.sejm.gov.pl/isap.nsf/download.xsp/WDU20090040017/O/D20090017.pdf [6. 04. 2021]. 77 http://isap.sejm.gov.pl/isap.nsf/download.xsp/WDU20170000356/O/D20170356.pdf [6. 04. 2021]; http://isap.sejm.gov.pl/isap.nsf/download.xsp/WDU20180000467/O/D20180467.pdf [6. 04. 2021].
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punkt zu dieser Auffassung von Geschichte. Bis zur 4. Klasse wird die Religion nicht erwähnt, und in den nachfolgenden Jahren wird das Christentum als eine der Quellen der europäischen Kultur vorgestellt, gleichberechtigt mit den anderen: Es erhält genauso viel Aufmerksamkeit wie die anderen großen Religionen. Ereignisse religiöser Art, die die Entstehung und Entwicklung der polnischen Staatlichkeit beeinflussen, werden relativ spät und eher zurückhaltend behandelt. In den meisten historischen Perioden wird die Rolle der Kirche überhaupt nicht erwähnt; erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird auf ihre Bedeutung im gesellschaftlichen Leben und auf die Bedeutung des Pontifikats von Johannes Paul II. für den politischen Wandel in Polen hingewiesen. Die Inhalte der Verordnungen werden in den Lehrbüchern nicht einfach erweitert bzw. vertieft. Zwei Lehrpläne, die auf dem gleichen Kerncurriculum beruhen, zu einem ähnlichen Zeitpunkt herausgegeben wurden (und zur gleichen Zeit als aktuell gelten), können die Rolle der Kirche in der Geschichte des Landes völlig unterschiedlich darstellen, sie mit Ehrfurcht besprechen oder Distanz wahren. In fast allen Lehrbüchern treten jedoch bestimmte Schlüsseltopoi auf, und zwar: die Taufe Polens, die Verdienste der Kirche um die Erhaltung der nationalen Identität der Polen nach dem Novemberaufstand von 1830/1831, die integrierende Rolle dieser Institution in den Gebieten, die dem unabhängigen Polen einverleibt wurden, das Martyrium des Heiligen Maximilian Kolbe, die Verfolgung der Kirche in der Volksrepublik Polen und ihre Stellung als Verteidigerin der kulturellen Unabhängigkeit der Nation von Moskau, die Bedeutung der Millenniumsfeiern für die Unterwanderung des staatlichen Monopols im Bereich des kollektiven Gedächtnisses und schließlich das Pontifikat von Johannes Paul II. als Impulsgeber für politische und wirtschaftliche Veränderungen. Die Rolle der Kirche im Leben der Nation wird als dienlich angesehen; der Katholizismus und der Klerus verdienen nur insofern Beachtung, als sie zur Entwicklung oder zum Überleben der Nation beitragen.
Wie viel Nation in der Kirche, wie viel Kirche in der Nation? Die Analyse des gesammelten Materials zeigt erhebliche Unterschiede zwischen dem kirchlichen Narrativ über die Nation, das ganzheitlich und vielschichtig ist, und dem Narrativ über die Kirche, das von den Institutionen des Nationalstaates artikuliert wird. Das letztere wurde auf das Verhältnis zwischen Katholizismus und Nation und Staat reduziert. Die Bedeutung des Katholizismus für die nationale Identität wird im Kerncurriculum für den Geschichtsunterricht tendenziell besonders hervorgehoben, wobei die Intensität dieser Betrachtungen vom Anteil der Nationalkonservativen an der Macht abhängt, wie aus den Dokumenten von 1999 und 2017/2018 hervorgeht. Die stärkere Betonung der Rolle der
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Kirche an polnischen Schulen in den letzten Jahren fällt mit zunehmenden Verweisen auf Gott in den Reden des polnischen Präsidenten am 15. August zusammen. Das sichtbarste Zeichen der Beziehung zwischen Religion und Staat – die Präsenz des Kreuzes in öffentlichen Gebäuden – wird auf zweierlei Weise gerechtfertigt. Erstens wird das Kreuz als Symbol behandelt, das die Polen in ihrem Kampf um die Freiheit begleitet – sein „sensorischer“ Pol ist somit mit dem Narrativ von einer leidenden und wiedergeborenen Nation verbunden. Zweitens wird es als Zeichen einer auf universellen Werten beruhenden moralischen Ordnung dargestellt, was seinen „ideologischen“ Ausrichtung definiert. Johannes Paul II. hingegen erscheint in den Rahmencurricula vor allem als der „große Pole“, der den politischen Wandel in Mittel- und Osteuropa anregte. Das Narrativ der Kirche über die Nation stützt sich auf zwei grundlegende Paradigmen: die Passion und die Auferstehung sowie das auserwählte Volk, das von Gott entfremdet und von ihm an die Heiden ausgeliefert wird, um wieder auf den rechten Weg zu kommen und den Bund zu erneuern. Das erste Paradigma ist mit der Tradition des romantischen Messianismus und dem daraus resultierenden Glauben an die erlösende Dimension des kollektiven Leidens verbunden. In diese Matrix fließen die in den Predigten am häufigsten genannten historischen Ereignisse ein, aus denen der besondere moralische Status des polnischen Volkes im Sinne der Kategorie des sacrificium – des bewussten und freiwilligen Opfers – abgeleitet werden soll. Diese Aufgabe sollte im Namen der Gemeinschaft von den Märtyrern erfüllt werden, die in einer der Kapellen der Basilika in Lichen´ verehrt werden, sowie von den Polen, die die Juden gerettet haben und an die in der Gedächtniskapelle in Torun´ erinnert wird, wobei die Juden als passive und hilflose Opfer und somit als victima fungieren. Auch wenn die einzelnen Mitglieder der Nation ihr Schicksal nicht bewusst gewählt haben, nahm in diesem Narrativ die anthropomorphisierte Gemeinschaft das Leiden an wie Christus sein Kreuz. In der Aufbruchstimmung, die den Beitritt zur Europäischen Union begleitete, wurde die polnische Mission gelegentlich neu definiert: Die Nation wurde vom gekreuzigten Erlöser zum ‚Guten Hirten‘, der dem verwirrten Europa den Weg zu seinen christlichen Wurzeln weisen sollte. Zum Symbol dieser Mission wurde Johannes Paul II., der – zum Beispiel in seinem monumentalen Porträt auf dem Tempel der Göttlichen Vorsehung – als Sublimierung des edlen Geistes der Gemeinschaft oder – wie im Heiligtum in Torun´ – als Höhepunkt ihrer Geschichte dargestellt wird und ihre „messianische Zeit“ markiert, die den Jahren des irdischen Lebens Christi entspricht. Die Figur des Papstes – verglichen mit Moses – ist auch ein wichtiges Symbol innerhalb des zweiten Paradigmas, in dem sich das „Goldene Zeitalter“ mit Zeiten des Niedergangs abwechselt. In diesem Narrativ wurden die Polen zum christlichen Bollwerk auserkoren, und die Rolle des materiellen Symbols des Bundes, der neuen Arche, fällt der Schwarzen Ma-
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donna zu, deren schmerzliches, von Narben gezeichnetes Antlitz nicht nur den Kummer über das Schicksal ihres Sohnes, sondern auch die Sorge um ihr geliebtes Volk zum Ausdruck bringt. Jasna Góra wird zum Berg Zion und gleichzeitig – als Festung, die 1655 der Übermacht des Feindes widerstand – pars pro toto der Nation und des Vaterlandes. Im Sinne des historiosophischen Konzepts der antemurale werden die Schlacht von Wien und die Schlacht von Warschau interpretiert, die in den Predigten immer wieder erwähnt werden und auf den Reliefs in Torun´ und auf den Gemälden in Lichen´ dargestellt sind. Der Grundgedanke des Paradigmas besteht jedoch darin, den Verlust der politischen Unabhängigkeit als eine Folge der Distanzierung von Gott und der Kirche zu sehen. So erscheint die Sorge um die moralische Ordnung als eine patriotische Pflicht. Auf „exegetischer“ Ebene erhalten die religiösen Schlüsselsymbole das Kreuz, die Muttergottes von Tschenstochau und Johannes Paul II. eine nationale Dimension, die nicht nur von weltlichen Akteuren in der Gesellschaft, sondern auch vom Klerus vermittelt wird und in der Nähe des polnischen Adlers oder der weißroten Farben Eindeutigkeit erlangt. Die „operative“ Bedeutung dieser Zeichen, die mit dem national-katholischen Narrativ verbunden sind, hängt mit der Etablierung des Prototyps des Polen – eines traditionsbewussten Katholiken, der sich zu den als typisch polnisch geltenden Werten wie der Freiheitsliebe bekennt – und folglich mit der sozialen Hierarchie zusammen, in der der jeweilige Stellenwert durch die Entfernung von dem durch Johannes Paul II. personifizierten Ideal bestimmt wird. Auf diese Weise werden die Nicht-Katholiken an den Rand des substanziellen Polentums gedrängt, wenn auch nicht über dessen Grenzen, wie in der viel zitierten Verfassung vom 3. Mai, die den Katholizismus als vorherrschende Religion anerkennt, den Andersgläubigen jedoch ihre Rechte einräumt. Das Kreuz in öffentlichen Gebäuden dient der symbolischen Aufrechterhaltung der Hegemonie der kulturellen Nationalisten, die sich einer ethnoreligiösen Auffassung von Nation bedienen, sowie der Delegitimierung von Anhängern anderer Konzepte, welche als fremd stigmatisiert werden. Laut dem Narrativ der polnischen Kirche wird die Nation als eine ewige und moralische Gemeinschaft evoziert, die durch Kultur und Tradition gefestigt ist. Diese primordialistische Sichtweise wird von einer ekklesiologischen Interpretation begleitet. Die polnische Nation zeigt sich nicht nur als eine Gemeinschaft (welche dennoch heilig bleibt, obwohl sie aus sündigen Individuen besteht), sondern sie stellt auch den einzigen Realitätsbereich dar, in dem das Heil verwirklicht werden kann. Und obwohl darauf hingewiesen wird, dass die Nation und die mit ihr identifizierte irdische Heimat nur eine historische, nicht aber eine eschatologische Bedeutung haben, erscheinen gerade sie als ein zentraler Bezugspunkt, während die individuelle Beziehung zu Gott in den Hintergrund gerückt wird. Vergleicht man eine solche Auffassung von patriotischer Pflicht mit der Lehre der Weltkirche, wie sie im Katechismus zum Ausdruck kommt, so wird
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deutlich, dass hier der Schwerpunkt eindeutig verlagert wird. Die synchrone Perspektive, die sich aus dem Gebot der Nächstenliebe ergibt und mit dem Funktionieren einer politischen Gemeinschaft zusammenhängt, weicht einer diachronen Perspektive, die sich einer erweiterten Auslegung des vierten Gebots bedient, die die Treue zu den Traditionen der Vorfahren postuliert und die intergenerationelle Weitergabe der Kultur in den Mittelpunkt stellt. Die Furcht, dass dieser Prozess unterbrochen werden könnte, wurde u. a. mit folgenden Worten verbalisiert: „Denn es wird hier sicher ein Land geben… Vielleicht werden die Menschen weiterhin in die Kirche gehen, aber werden sie sich denn weiterhin dem heiligen Stanislaus, dem Pfarrer Piotr Skarga oder dem Pfarrer Jerzy Popiełuszko verbunden fühlen?“78 Das katholische Narrativ über die Nation, das zwar nicht das Werk der kirchlichen Eliten ist, von diesen jedoch unter bestimmten historischen Bedingungen übernommen wurde, kann mit Hilfe des Modells der symbolischen Kompensation der Peripherität interpretiert werden, das von Tomasz Zarycki auf der Grundlage der Theorie von Pierre Bourdieu entwickelt wurde.79 Nach Ansicht des Forschers reagiere die Peripherie (in diesem Fall handelt es sich um Mittelund Osteuropa) auf die sich aus der Vorherrschaft des Wirtschaftskapitals ergebende Dominanz des Zentrums mit der Mobilisierung der Ressourcen des sozialen und kulturellen Kapitals. Die lokalen Eliten, die zwischen den beiden Subbereichen vermitteln, werden nun vor ein Dilemma gestellt: entweder verwenden sie einen Code, der möglicherweise eine Quelle des Prestiges darstellt, um die Vertreter des Zentrums zu interagieren oder aber sie bedienen sich eines peripheren Codes, der ihnen in den Augen ihrer eigenen Gemeinschaft Glaubwürdigkeit verleihen wird.80 Die Analyse des gesammelten Materials zeigt eine deutliche Dominanz des peripheren Codes; diese Erscheinung wird dabei nicht nur durch die Adressierung der kulturellen Texte an das lokale Publikum begünstigt, sondern auch durch die zeitweilige „Kolonisierung“ des Zentrums seitens Johannes Paul II., der die sozialen Werte der Peripherie zu seinem Bezugsystem machte. Die analysierten Predigten bestätigen solche an diesen Subbereich gekoppelten Attribute wie Emotionalität, Spontaneität und Heimatverbundenheit, während sie das Kalkül und den Konsumstil ablehnen, die mit der Vorherrschaft des ökonomischen Kapitals verbunden sind. Allerdings gibt es auch solche Stimmen, die auf die Notwendigkeit hinweisen, die Werte des Zentrums zu übernehmen, um die nationalen Auswüchse zu beseitigen.
78 Mazurkiewicz, Ojczyzna to wielki zbiorowy obowia˛zek, (Anm. 27). 79 Vgl. T. Zarycki: Peryferie. Nowe uje˛cie zalez˙nos´ci centro-peryferyjnych. Warszawa 2009. 80 Vgl. ebd., S. 161–170.
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Schlussfolgerungen Nach G. Zubrzycki stelle das postkommunistische Polen einen besonderen Fall der Säkularisierung von Religion und ihren Symbolen dar: Zunächst politisch instrumentalisiert, wurden die religiösen Symbole erneut sakralisiert, diesmal aber als Symbole der Nation. Anders als José Casanova schlussfolgerte sie daher, dass die öffentliche Rolle der Kirche in Polen einen säkularisierenden Faktor darstellt.81 Im Lichte der oben dargelegten Analysen lässt sich festhalten, dass die von der Forscherin diagnostizierten Prozesse voranschreiten, und das Lager der katholischen „Puristen“, die die Trennung von Religion und Nation postulieren, in der Defensive ist. Wie Michał Wróblewski feststellt, sei die Kirche in Polen ein wichtiger Teilnehmer eines hegemonialen Spiels, bei dem es darum geht, die gesellschaftliche Zustimmung für die Politik der jeweils dominierenden Gruppen zu finden.82 Mit dem Aufstieg der Nationalkonservativen wurde die Kirche Teil des hegemonialen Bündnisses; sie erhielt folglich Unterstützung für ihre Interessen, darunter einen besseren Zugang zu öffentlichen Geldern83, im Gegenzug musste sie sich aber an der politischen Mobilisierung eines Teils der Gesellschaft beteiligen, der sich von einem populär-nationalistisch-katholischen „gesunden Menschenverstand“ (verstanden nach Gramsci als eine Ansammlung von landläufigen Vorstellungen über die Welt) leiten lässt. Dabei ist die Kirche vielmehr Objekt als Subjekt hegemonialer Praktiken. Indem die Kirche eine Interpretationsmatrix der Vergangenheit bereitstellt, mit der die von den nationalkonservativen Eliten gewünschten Vorstellungen von der Gemeinschaft reproduziert werden, und die diskursive Kontrolle über die eigenen Symbole mit eben diesen Eliten teilt, gewinnt sie aber im Gegenzug gerade nicht an gesellschaftlicher Akzeptanz für die in ihrer Lehre eingeschriebenen Werte. Mehr noch: Dadurch, dass sie eine gewagte Deutung der sozialen Lehre vorlegt, spielt sie eine aktive Rolle im Prozess der Nationalisierung, durch den „sich die nationale Deutung in allen Bereichen des Alltags auch gegenüber anderen konkurrierenden Deutungsmustern“ durchgesetzt habe.84 Andrzej Michalczyk stellt dazu fest: „Gleichzeitig duldet eine 81 Vgl. Zubrzycki, The Crosses of Auschwitz, (Anm. 1), S. 220. 82 Vgl. M. Wróblewski: Wierni jako zasób kontrhegemoniczny. Spór o krzyz˙ w konteks´cie teorii hegemonii. In: „Kultura Popularna“ 39, 1 (39) (2014), S. 14–35. 83 Bezeichnenderweise ist jedoch der größte Teil der an die Radio-Maryja-Gemeinschaft überwiesenen Mittel für Projekte bestimmt, die mit der Reproduktion der Ideologie des herrschenden Lagers zusammenhängen – vor allem für das Muzeum Pamie˛c´ i Toz˙samos´c´ [Museum für Erinnerung und Identität]. Siehe: https://wiadomosci.onet.pl/kujawsko-pomo rskie/finanse-o-rydzyka-otrzymal-az-325-zl-od-panstwa-od-poczatku-rzadow-pis/eye1w0q [1. 04. 2021]. 84 A. Michalczyk: Heimat, Kirche und Nation. Deutsche und polnische Nationalisierungsprozesse im geteilten Oberschlesien (1922–1939). Köln / Weimar / Wien 2010, S. 7.
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so konstruierte Nationszugehörigkeit keine andere vergleichbar enge und verpflichtende Zugehörigkeit und keine Bindungen wie beispielweise die an die engere Heimat, Region oder Konfession.“85 So gesehen stellt sich folglich das hegemoniale Spiel zwischen Nationalismus und Katholizismus als ein Nullsummenspiel dar. Übersetzt von Nina Nowara-Matusik
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Das katholische Narrativ über die Nation und das nationale Narrativ über die Kirche
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Adam Warzecha (Schlesische Universität in Katowice)
Die Säkularisierung der Religiosität, oder wie Religion zur Ideologie wird
Der zivilisatorische Wandel, der sich in Polen nach 1989 vollzog, blieb nicht ohne Einfluss auf die Prioritäten, die Lebenseinstellung und die Religiosität der Polen.1 Aus der mehrjährigen Perspektive wird immer deutlicher, dass eine besondere kulturelle Zäsur in dieser Hinsicht die Jahre 2004–2005 waren, eine Zeit der Identitätskrise im Zusammenhang mit der europäischen Integration sowie mit der Krankheit und dem Tod des polnischen Papstes. Seitdem haben sich nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Veränderungen in der polnischen Religiosität abgezeichnet. Auch die Situation der römisch-katholischen Kirche wird von Jahr zu Jahr komplexer. Die Wahrnehmung ihrer Rolle im gesellschaftlichen Leben verändert sich.
Schleichende Säkularisierung? Seit Jahren bekennen sich die Polen zu ihrem Glauben an Gott und zur Teilnahme an religiösen Praktiken, obwohl die Ergebnisse von Umfragen in den letzten Jahren eine gewisse Dynamik erkennen lassen.2 Seit Ende der 1990er Jahre bezeichnen sich mehr als 90 % der Befragten als gläubig oder tief religiös. Bis 2005 blieb dieser Index auf dem Niveau von 96 %, aber seit 2010 sinkt er sehr langsam, obgleich systematisch, um im Jahr 2020 sein bisher niedrigstes Ergebnis (91 %) zu erreichen. Gleichzeitig ist jedoch in dieser 1 Siehe u. a.: Wyznania religijne w Polsce w latach 2015–2018, hrsg. v. P. Cieciela˛g. Warszawa 2020; A. Warzecha: Kos´ciół w sferze publicznej: Natanek, Nergal, Boniecki. Wybrane studia przypadków. Katowice 2019; M. Boz˙ewicz: Religijnos´´c Polaków w ostatnich 20 latach. „Komunikat z Badan´ CBOS“ 63 (2020), S. 1–6; Przejawy religijnos´ci mieszkan´ców Polski. In: Jakos´c´ z˙ycia i kapitał społeczny w Polsce. Wyniki badania spójnos´ci społecznej 2018, hrsg. v. A. Bien´kun´ska, T. Piasecki. Warszawa 2020, S. 105–138; R. Boguszewski, M. Boz˙ewicz: Family, Religion, Homeland – the Traditional Values of Poles in the Process of Transformation. In: „Rocznik Lubuski“ 46, 2 (2020), S. 235–247; W. Sadłon´: Religijnos´c´ Polaków. In: Kos´ciół w Polsce. Raport, hrsg. v. M. Przeciszewski, R. Ła˛czny. Warszawa 2021, S. 13–20. 2 Boz˙ewicz, Religijnos´c´ Polaków w ostatnich 20 latach, (Anm. 1), S. 1.
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Abb. 1. Glaubensbekundungen und Religiosität der Polen in den Jahren 1997–2020. Quelle: Boz˙ewicz, Religijnos´c´ Polaków w ostatnich 20 latach, (Anm. 1), S. 4.
Gruppe die Gruppe der tief Gläubigen seit neun Jahren stabil geblieben (8 %). Auf der anderen Seite wächst der Anteil der Menschen, die eher oder gar nicht gläubig sind: von 4 % im Jahr 2007 auf 9 % im Jahr 2020. Auch die Zahl der Personen, die angeben, regelmäßig (einmal pro Woche oder öfter) religiöse Praktiken auszuüben, geht in ähnlichem Maße zurück. Zwischen 1997 und 2007 lag sie bei 57– 58 %, um sich nach fünf Jahren des Rückgangs sich zwischen 2013 und 2018 bei 49–60 % zu stabilisieren und in den letzten zwei Jahren auf 47 % zu fallen. Im Gegensatz dazu geht die Zahl der unregelmäßig praktizierenden langsamer zurück: zwischen 1997 und 2007 lag sie bei 33–34 %, um dann 2017 39 % zu erreichen und später auf dem Niveau von 38 % zu bleiben. Der Prozentsatz der Nicht-Praktizierenden lag zwölf Jahre lang (1997–2009) bei 9–10 %, schwankte dann zwischen 12–13 % und erreichte im Jahr 2020 sogar 15 %.3 Eine größere Dynamik zeigt sich in den Bewertungen für die römisch-katholische Kirche, die im Dezember 2020 die schlechtesten in Polen seit 1993 waren.4 Damals bewerteten zwei Fünftel der Polen (41 %) die Tätigkeit der Kirche als gut, während fast die Hälfte (47 %) sie als schlecht bewertete. Diejenigen, die regelmäßig praktizieren, sind potenzielle Wähler der Regierungspartei Prawo i Sprawiedliwos´c´ (PiS), vertreten rechtsgerichtete Ansichten, verfügen über eine Grundschulbildung, die sind älter, leben in ländlichen Gebieten und haben eine 3 Ebd., S. 2. 4 M. Feliksiak: Oceny działalnos´ci parlamentu, prezydenta, Trybunału Konstytucyjnego, policji i Kos´cioła. In: „Komunikat z Badan´ CBOS“ 7 (2021), S. 1–10.
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Abb. 2. Bewertung der Tätigkeit der römisch-katholischen Kirche 1997–2021. Quelle: Feliksiak, Oceny działalnos´ci parlamentu, (Anm. 4), S. 9.
positive Einstellung zur Kirche. Kritik an der Kirche wird am häufigsten von denjenigen geäußert, die nicht praktizieren, sich mit der politischen Mitte und der Linken identifizieren, Oppositionsparteien wie Polska 2050 von Szymon Hołownia oder die Bürgerkoalition KO unterstützen, gebildet sind, ein höheres Einkommen haben, in Großstädten (über 100.000 Einwohner) leben und jung sind, zwischen 18 und 34 Jahren. Als Ursache für den Rückgang dieser Werte, aber auch für die religiöse Krise, wird die Schwächung des Vertrauens in die Kirche auch im Zusammenhang mit der Verharmlosung oder dem ungeschickten Umgang mit aktuellen Problemen genannt, die die in den letzten Jahren aufgedeckten Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern durch Geistliche und die als unzureichend empfundene Reaktion des Episkopats betreffen, sowie die scharfe gesellschaftliche Reaktion, die durch die berühmten Filme von Wojciech Smarzowski und den Brüdern Sekielski ausgelöst wurde, die das Thema aufgriffen.5 Darüber hinaus wird die Kirche aufgrund ihrer „Einmischung in die Politik“ als einer der Hauptbrennpunkte für Spaltungen und Streitigkeiten unter den Polen genannt.6 Sie betreffen unter anderem das Verbot von Abtreibung, Empfängnisverhütung, das Handelsverbot an Sonntagen oder die Präsenz des Kreuzes im Sejm. Zu den Gründen, 5 Boz˙ewicz, Religijnos´c´ Polaków w ostatnich 20 latach, (Anm. 1); W. Smarzowski: Kler (aka Clergy). Polska 2018, 133 min.; T. Sekielski: Tylko nie mów nikomu (aka Tell No One). Polska 2019, 121 min.; Ders.: Zabawa w chowanego (aka Playing Hide and Seek). Polska 2020, 87 min.; R. Boguszewski: Od zinstytucjonalizowanej do zindywidualizowanej: religijnos´´c Polaków w procesie przemian. In: Globalny i lokalny wymiar religii. Polska w konteks´cie europejskim, hrsg. v. I. Borowik, A. Górny, W. S´wia˛tkiewicz. Kraków 2016, S. 135–147. 6 K. Pankowski: O polityce, która nie buduje wspólnoty. In: „Komunikat z Badan´ CBOS“ 160 (2017), S. 1–12, hier S. 10. Siehe auch: I. Borowik: The Roman Catholic Church in the Process of Democratic Transformation: The Case of Poland. In: „Compass“ 49, 2 (2002), S. 239–252.
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die eine Veränderung im Bereich der Religiosität begünstigen, gehören auch das gesellschaftliche Klima, das mit den Aktivitäten freidenkerischer, linker, feministischer und die Abtreibung befürwortender Organisationen und Bewegungen verbunden ist, die Anwesenheit von Personen im Parlament, die antiklerikale und antikirchliche Ansichten vertreten, „die Apostasie fördern und für die radikale Trennung von Kirche und Staat eintreten“, sowie unter anderem die vielen tausend öffentlichen Auftritte, die sich in letzter Zeit gegen die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes richteten.7 Die Anzeichen für diesen neuen Zustand gehen ganz langsam, aber stetig zurück, weshalb Religionssoziologen diese spürbare Tendenz (in Anlehnung an Pfr. Prof. Janusz Marian´ski) als „schleichende Säkularisierung“8 bezeichnen. Sie wird jedoch von einer anderen Tendenz begleitet, die qualitativer Natur ist. Der Anteil der Menschen, für die der Glaube ein wichtiger Bezugspunkt im Leben ist, bleibt konstant, während es immer mehr Menschen gibt, die den Glauben teilweise oder ganz aufgeben. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Zahl der religiös „lauwarmen“ Menschen abnimmt – die Zahl der „kalten“ zunimmt, während die Zahl der „heißen“ gleichbleibt.9
Dies zeigt sich beispielsweise an der Zahl derjenigen, die sonntags die heilige Kommunion empfangen (communicantes), bei gleichzeitigem Rückgang der Gesamtzahl der Teilnehmer an der Sonntagsmesse (dominicantes). Einige Forscher sehen in diesem Phänomen einen Beweis dafür, dass die polnische Religiosität an der Grenze zwischen Säkularisierung und Entsäkularisierung balanciert bzw. treibt.10 Abgesehen davon ist ein gewisses Maß an Übererklärung charakteristisch, die in Polen fortbesteht – immer noch erklären mehr Menschen ihren Glauben und ihre Religiosität, als tatsächlich Kirchen und Religionsgemeinschaften angehören. Nach Angaben des Zentralen Statistikamtes lebten Ende 2019 etwa 38,4 Millionen Menschen in Polen, von denen etwa 33,3 Millionen (86,8 %) verschiedenen Kirchen und religiösen Vereinigungen angehörten, davon etwa 32,4 Millionen oder 84,5 % Getaufte – Mitglieder der katholischen Kirche.11 In der bereits vorgestellten CBOS-Umfrage erklärten sich 91 % der Befragten als gläubig.12 Ein Vergleich dieser Zahlen zeigt eine Übererklärung von 4 % in Bezug 7 Boguszewski, Od zinstytucjonalizowanej do zindywidualizowanej, (Anm. 5), S. 146. 8 J. Marian´ski: Praktyki religijne w Polsce w procesie przemian. Studium socjologiczne. Sandomierz 2014; Boguszewski, Boz˙ewicz, Family, Religion, Homeland, (Anm. 1), S. 240; Sadłon´, Religijnos´´c Polaków, (Anm. 1), S. 13. 9 Sadłon´, Religijnos´c´ Polaków, (Anm. 1), S. 14. 10 Boguszewski, Boz˙ewicz, Family, Religion, Homeland, (Anm. 1), S. 236, 242. 11 Rocznik Statystyczny Rzeczypospolitej Polskiej 2020, hrsg. v. Główny Urza˛d Statystyczny, Departament Opracowan´ Statystycznych. Warszawa 2020, S. 198f, 208. 12 Boz˙ewicz, Religijnos´c´ Polaków w ostatnich 20 latach, (Anm. 1), S. 1.
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Abb. 3. Dominicantes und communicantes in den Jahren 1980–2018. Quelle: Annuarium Statisticum Ecclesiae in Polonia AD 2020, hrsg. v. W. Sadłon´, L. Organek. Warszawa 2020, S. 29.
auf Personen, die verschiedenen Religionsgemeinschaften in Polen angehören (4,2 %). Dies könnte darauf hindeuten, dass die Polen als Gesellschaft insgesamt die Religiosität als wichtig erachten. Dieser Überhang kann einerseits als Ausdruck von Konformismus erklärt werden, aber auch bis zu einem gewissen Grad als Ergebnis des qualitativen Wandels der Religiosität der Polen. Studien weisen auf die Privatisierung des religiösen Glaubens hin, auf eine Verlagerung hin zu subjektiver Religiosität. Nach einer Periode der religiösen Intensivierung im Zusammenhang mit der Krankheit und dem Tod von Johannes Paul II. im Jahr 2005 ist die Zahl der Menschen, die sich als gläubig betrachten und den Anweisungen der Kirche folgen, von 66 % auf 45 % im Jahr 2018 gesunken, während gleichzeitig die Zahl derer, die angeben, auf ihre eigene Weise zu glauben, gestiegen ist (Anstieg von 32 % auf 46 %).13 Seitdem ist der Glaube der polnischen Katholiken weitgehend selektiv und synkretistisch geworden. Dies äußert sich sowohl in der Akzeptanz der katholischen Lehre als auch in Elementen anderer religiöser Traditionen, auch außerchristlicher, wie dem Glauben an Magie, Astrologie, paranormale Wissenschaft und verschiedene Arten paranormaler Phänomene (Hellsehen, Zukunftsprophezeiung, Telepathie, böse Zauber, Talismane, Amulette, außerirdische Zivilisationen, UFOs usw.).14 So glaubten 2012 beispielsweise 71 % der Befragten an die Unsterblichkeit der Seele, das Jüngste Gericht und Wunder, 68 % an den Himmel, 66 % an das Leben nach dem Tod, 63 % an die Erbsünde und die Auferstehung und
13 R. Boguszewski: Religijnos´c´ Polaków i ocena sytuacji Kos´cioła katolickiego. In: „Komunikat z Badan´ CBOS“ 147 (2018), S. 1–6. 14 Boguszewski, Od zinstytucjonalizowanej do zindywidualizowanej, (Anm. 5), S. 139f.
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56 % an die Hölle. Gleichzeitig glaubten 66 % an die Prädestination, 36 % daran, dass Tiere eine Seele haben, und 29 % an die Reinkarnation.15 Das Phänomen, die katholische Orthodoxie mit außerchristlichen Elementen zu verbinden, nimmt manchmal auch die Form einer „magischen“, „schamanistischen“, „manichäischen“ oder „idolatrischen“ Religiosität an, was 2019 anlässlich der rituellen Verbrennung von Harry-Potter-Büchern durch Priester deutlich wurde.16 Pfr. Prof. Andrzej Kobylin´ski sieht hier die Manifestation eines sehr ernsten religiösen Prozesses17: Der Fall betrifft die Möglichkeit des Eindringens von bösen Geistern in das menschliche Leben durch Gegenstände. Seit mehr als zehn Jahren wird in Polen ein heftiger Lehrstreit über diese Frage geführt. […] Die Zerstörung von Gegenständen, die sog. Pfortenbeichte, die Pforten-Gewissenserforschung, die Pforten des bösen Geistes – das alles sind Elemente eines größeren Ganzen.
Auch private Organisationen, die lose mit der katholischen Orthodoxie verbunden sind, erfreuen sich einer gewissen Beliebtheit (z. B. der Verein „Róz˙a“ – „Rose“, der Jesus Christus als König Polens inthronisieren will, oder die Stiftung „SMS z Nieba“ – „SMS vom Himmel“, die u. a. einen Dienst namens „Geistiges Wachstum“ anbietet), aber auch seelsorgerische Aktivitäten von charismatischen, aber suspendierten Geistlichen, die entweder an der Grenze zur katholischen Orthodoxie balancieren oder sich ihr direkt widersetzen, z. B. von Pater Piotr Natanek und seiner „Niepokalanów-Einsiedelei“ oder von Pater Daniel Galus und seiner „Gemeinschaft der Liebe und Barmherzigkeit Jesu“.18 Die lehrmäßige Verwirrung wird auch durch die Tätigkeit vieler privater Internetportale oder Medien verursacht, die sich selbst als katholisch bezeichnen oder so bezeichnet werden, aber weder aus formalen Gründen (fehlendes Einverständnis durch die zuständigen kirchlichen Behörden) noch wegen des verkündeten Inhalts als solche anerkannt werden können (z. B. Telewizja Trwam,
15 Ebd., S. 138f. 16 A. Warzecha: Harry Potter na stosie. Skandal jako dyskursywny proces społecznego negocjowania znaczen´. In: The Power of Speech. A Critical Reading of Media and Political Texts, hrsg. v. J. Svobodová, O. Blaha, I Dobrotová, A. Warzecha. Wrocław 2020, S. 113–129. 17 P. Olejarczyk: Ks. prof. Kobylin´ski: w polskim Kos´ciele trwa brutalna wojna religijna [online]. https://wiadomosci.onet.pl/trojmiasto/wojna-religijna-w-polskim-kosciele-rozmowa-z-ks-p rof-andrzejem-kobylinskim/vbwr0d7 [9. 08. 2019]. 18 Stowarzyszenie „Róz˙a“: Intronizacja Jezusa Króla Polski [online]. http://intronizacja.pl [31. 03. 2021]; Statut Fundacji SMS z Nieba (Polska, 11. 06.2012) [online]. https://www.smsznieba.pl /o-nas/statut [18. 07.2019]; Warzecha, Kos´ciół w sferze publicznej, (Anm. 1), S. 106–126; M. Bakałarz: Os´wiadczenie dotycza˛ce działalnos´ci ks. Daniela Galusa i „Wspólnoty Miłos´c´ i Miłosierdzie Jezusa“ [online]. https://archiczest.pl/zapowiedzi,35/oswiadczenie-dotyczace-dzialalno sci-ks-daniela-galusa-i-wspolnoty-milosc-i-milosierdzie-jezusa,1605867710.html [31. 03.2021].
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„Nasz Dziennik“, Fronda.pl, Pch24.pl).19 Es ist möglich, dass das Phänomen des Synkretismus zumindest teilweise auf das niedrige Niveau des allgemeinen religiösen Wissens in Polen zurückzuführen ist, worauf die Ergebnisse der oben erwähnten Untersuchungen indirekt hindeuten. Die Kluft zwischen den hohen Indikatoren für Glauben und Religiosität und der geringen Akzeptanz der katholischen Moralprinzipien wird ebenfalls immer deutlicher. So halten nur etwa 20 % der Befragten Geschlechtsverkehr vor der Ehe für inakzeptabel, und 64 % sind der Meinung, dass eine Abtreibung erlaubt sein sollte, wenn bekannt ist, dass das Kind behindert zur Welt kommt.20 Dieses Phänomen wird von Forschern als „kultureller Katholizismus“21 oder „Säkularisierung der Moral“22 bezeichnet. Besonders deutlich wird dies in der Gruppe der jüngsten Befragten, die „ihr Verhalten immer seltener mit einem einzigen, streng definierten Wertesystem verbinden.“23 Wie man sieht, werden der Glaube und die Religiosität der Polen, sowohl in der symbolischen (doktrinären) als auch in der pragmatischen (moralischen) Dimension, zunehmend privatisiert, individualisiert, selektiv, subjektiv, synkretistisch und deinstitutionalisiert. Dies bedeutet nicht unbedingt eine Abkehr vom religiösen Glauben als solchem, aber es kann die Form einer Suche nach anderen, außerkirchlichen und weniger orthodoxen Wegen der spirituellen Erfahrung annehmen. Die sich quantitativ abzeichnenden Veränderungen können in geringem Maße mit einer Säkularisierung im traditionellen Sinne, d. h. mit einer Abkehr vom Glauben und von religiösen Praktiken, gleichgesetzt werden, wie 7 % der Befragten erklärten. In diesem Zusammenhang wird dieses Phänomen meist als „schleichende Säkularisierung“ oder als Balanceakt oder Treiben zwischen Säkularisierung und Entsäkularisierung dargestellt.24 Weitaus komplexere Prozesse finden jedoch in der qualitativen Dimension des Glaubens und der Religiosität der Polen statt, die sich selbst als gläubig und praktizierend bezeichnen (84 %),25 nämlich in Bezug auf Lehre und Ethik. Es scheint daher, dass diese Veränderungen für die katholische Kirche in Polen derzeit eine größere Herausforderung darstellen als die Säkularisierung, die traditionell als Bedrohung der polnischen Identität angesehen wird.
19 Zu den Kriterien für die Katholizität der Medien siehe: Warzecha, Kos´ciół w sferze publicznej, (Anm. 1), S. 90–93. 20 Sadłon´, Religijnos´c´ Polaków, (Anm. 1), S. 14. 21 Ibid. 22 R. Boguszewski, M. Boz˙ewicz: Religijnos´c´ i moralnos´c´ polskiej młodziez˙y – zalez˙nos´c´ czy autonomia? In: „Zeszyty Naukowe KUL“ 62, 4 (2020), S. 31–52, hier S. 36. 23 Ibid. 24 Boguszewski, Boz˙ewicz, Family, Religion, Homeland, (Anm. 1), S. 236. 25 Boz˙ewicz, Religijnos´c´ Polaków w ostatnich 20 latach, (Anm. 1), S. 4.
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Die vorgestellten Forschungsergebnisse zeigen, welcher Dynamik die Religiosität der Polen in den drei Jahrzehnten nach der politischen Wende unterworfen ist, wie sie sich anpasst und verändert, und wie sich folglich auch der Kontext, in dem die Kirche in Polen funktioniert, verändert. Der soziokulturelle Pluralismus hat eine sichtbare Verschiebung von der institutionalisierten zur individualisierten Religiosität, von der „Kirche des Volkes“ zur „Kirche der Wahl“ bewirkt.26 Pater Marcin Lisak weist jedoch darauf hin, dass ein solches Bild der Religiosität der Polen zu allgemein und pauschal sei. Seiner Meinung nach zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass die Religiosität stark regional bedingt sei und in der ideologischen Dimension einen gemischten oder hybriden Charakter habe, „was sich in der Kombination vieler Elemente ausdrückt, die sich recht frei durchdringen und in unterschiedlichen Konfigurationen auftreten“, von denen er sechs aufzählt: a) Volksreligion, b) kulturelle Religion, c) kulturell-nationale Religion, d) selektive und diffuse Religiosität, e) Religion ohne Moral und f) orthodoxe Religion.27 In diesem Text werden wir uns jedoch auf die kulturellnationale Religiosität konzentrieren.
Kulturell-nationale Religiosität Kulturell-nationale Religiosität bedeutet hier eine Art religiöse Legitimation von „Patriotismus, Nationalismus oder gar Nationalchauvinismus, was der stereotypen Wahrnehmung sozialer Rollen nach dem kulturellen Schlüssel Pole-Katholik entspricht.“28 Dieser Schlüssel bedeutet die Überzeugung, dass der Katholizismus vollständig mit dem Polentum verbunden ist, d. h., dass die religiöse und nationale Identität durch das Gefühl der Zugehörigkeit zum Polentum und zum Katholizismus gekennzeichnet ist. Diese Art von Religiosität stammt aus der Zeit der Teilungen und des Verlusts der polnischen Staatlichkeit, d. h. vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit Polens im Jahr 1918 und später von 1939 bis 1989, d. h. während der NS-Besatzung und der kommunistischen Herrschaft. Diese historischen Prozesse haben auch den sichtbaren Unterschied in der religiösen und kirchlichen Dynamik zwischen Polen und Westeuropa beeinflusst. Während die westeuropäischen Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg in einen Prozess der Säkularisierung eintraten, erlebte der polnische Katholizismus einen bemerkenswerten Auf26 Boguszewski, Od zinstytucjonalizowanej do zindywidualizowanej, (Anm. 5), S. 138. 27 M. Lisak: Transformacje religijnos´ci Polaków – wybrane aspekty religijnej zmiany. In: „Sympozjum“ 19, 2 (29) (2015), S. 29–50, hier S. 40–43. 28 Ebd., S. 42. Vgl. Borowik, The Roman Catholic Church, (Anm. 6).
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schwung.29 Diese Art von Religiosität, die von einigen als traditionell angesehen wird, wird somit als Zivilreligion sichtbar und ist mit dem Patriotismus verflochten (z. B. sind kirchliche Feiertage gleichzeitig Nationalfeiertage), was, wie Geneviève Zubrzycki schreibt, in der Konsequenz sogar bis zu dem Grad Assoziationen mit säkularen Emotionen hervorrufen kann, dass sie mit der politischen Religion identifiziert wird.30 Dies kommt auch symbolisch zum Ausdruck, z. B. durch den Vergleich Polens mit Christus am Kreuz, was die besondere Rolle Polens in der Welt symbolisieren soll. Es kommt auch in einer spezifischen Theologie der Nation und ihrer Sakralisierung (nationaler Messianismus) zum Ausdruck.31 Verbunden ist sie auch mit der oft wiederholten Metapher der Kirche als belagerte Festung, die den Gläubigen die „Welt“ als feindselig und gefährlich vorstellt. Zubrzycki sieht diese konservative Strömung, die die öffentliche Dimension des Glaubens betont und die Religion politisiert, als dominant in der polnischen Kirche.32 Während diese Art, über Religion zu sprechen, einem Teil der Hierarchie und den rechten sowie rechtsradikalen politischen Kreisen in Polen immer noch entspricht, so erweist sich diese Version von Glauben und Religiosität, als eines der zur Auswahl stehenden befriedigenden existenziellen Angebote in einer pluralistischen Welt, als unzureichend und ungeeignet für die Bedürfnisse eines Teils der sich individualisierenden polnischen Gesellschaft, was sich in den oben zitierten Ergebnissen der soziologischen Untersuchungen widerspiegelt.33 Diese Art von Religiosität wurde nach 2015, als die Partei Prawo i Sprawiedliwos´c´ in Polen an die Macht kam, im öffentlichen Raum äußerst offensiv, obwohl sie schon früher, 2010 und später, infolge des nationalen Traumas nach dem Absturz des Präsidentenflugzeugs in Smolensk, deutlicher in Erscheinung trat. Dieser Umstand wird durch den bereits erwähnten Zustand der Religiosität der Polen, ihre historischen Bedingungen sowie die fortschreitende Mediatisierung von Religion, Religiosität und religiösem Diskurs, insbesondere während der Corona-Pandemie, beeinflusst.
29 J. Casanova: Catholic Poland in Post-Christian Europe. In: „Tr@nsit online“ 25 (2003) [online]. https://www.iwm.at/transit-online/catholic-poland-in-post-christian-europe [10. 02. 2021]; Ders.: Religion and the Dynamics of Freedom: Poland, Europe, and the World. In: Values of Poles and the Heritage of John Paul II. A Social Research Study, hrsg. v. T. Z˙ukowski. Warszawa 2009, S. 7–18. 30 G. Zubrzycki: Quo Vadis, Polonia? On Religious Loyalty, Exit, and Voice. In: „Social Compass“ 67, 2 (2020), S. 267–281, hier 271f. 31 Borowik, The Roman Catholic Church, (Anm. 6), S. 240. 32 Zubrzycki, Quo Vadis, Polonia?, (Anm. 30), S. 271. 33 Vgl. P. Gierech, A. Dobrzyn´ska A: „Poles on the Catholic Church“. In: Values of Poles and the Heritage of John Paul II. A Social Research Study, hrsg. v. T. Z˙ukowski. Warszawa 2009, S. 169– 204, hier S. 185–189.
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Analyse Seit einem Jahrzehnt untersuche ich diese Veränderungen auf der Grundlage eingehender Fallstudien ausgewählter Ereignisse, die sich an der Schnittstelle zwischen der Kirche in Polen und der öffentlichen Sphäre ereigneten und den polnischen öffentlichen Diskurs stark prägen.34 Sie stützen sich auf die Forschungsmethodik, die in den angegebenen Werken und allgemeiner in zwei Texten aus den Jahren 2012 und 2014 vorgestellt wurde.35 Es handelt sich um eine Form der Kritischen Diskursanalyse, einer seit Mitte der 1990er Jahre im Rahmen der Soziolinguistik entwickelten Strömung, die den Diskurs im Wesentlichen als Sprache im Gebrauch definiert und sich mit ihren verschiedenen verbalen (Texte, Sprache) und nonverbalen (Bilder, Verhalten, Lebensstil) Erscheinungsformen beschäftigt. Ziel der Studie ist es, die von sozialen Akteuren in komplexen Interaktionen koproduzierte Bedeutung und die expliziten und impliziten Regeln, die ihr Verhalten bestimmen, aufzudecken. Es geht unter anderem darum, die ineinandergreifenden und miteinander konkurrierenden oder um die Hegemonie in komplexen sozialen Beziehungen rivalisierenden Diskursordnungen sowie die kommunikativen Mechanismen aufzuzeigen, durch die diese Bedeutungen verändert werden und folglich sozialer Wandel stattfindet. Diese Untersuchungen ließen die Hypothese von einer starken Korrelation zwischen dem religiösen und dem politischen Diskurs in Polen bestätigen. Sie zeigten jedoch auf, welcher Art diese Korrelation ist und wie der politische Diskurs in den letzten Jahren den Wandel des religiösen (christlichen, katholischen, römisch-katholischen) Diskurses in Polen beeinflusst hat. Hier sind seine grundlegenden Eigenschaften.
Einseitige und asymmetrische Kommunikation Die Kommunikation der kirchlichen Institutionen wird von einer einseitigen asymmetrischen Kommunikation dominiert (press agentry/publicity; a one-way asymmetric model).36 Es handelt sich um den Kommunikationsfluss vom Sender 34 Siehe z. B. Warzecha, Kos´ciół w sferze publicznej, (Anm. 1); Ders.: Samospalenie Piotra Szcze˛snego. Jak w trakcie skandalu zmieniaja˛ sie˛ znaczenia? In: „Łódzkie Studia Teologiczne“ 28, 1 (2019), S. 155–170; Ders., Harry Potter na stosie, (Anm. 16). 35 A. Warzecha: Krytyczna Analiza Dyskursu w public relations (koncepcja badania). In: „Konteksty Kultury“ 9, 2 (2012), S. 189–205; Ders.: Krytyczna analiza dyskursu (KAD) w uje˛ciu Normana Fairclougha. Zarys problematyki. In: „Konteksty Kultury“ 11, 2 (2014), S. 164–189. 36 J.E. Grunig, T. Hunt: Managing Public Relations. New York 1984, S. 21–46; J.E. Grunig: Organizations, Environments, and Models of Public Relations. In: „Public Relations Research & Education“ 1 (1984), S. 6–29.
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zum Empfänger, der darauf abzielt, die Position des Senders zu reproduzieren und vom Empfänger zu übernehmen sowie ihn auf lange Sicht zu beherrschen und zu kontrollieren. Dieses Modell, das im Hinblick auf den Auftrag der Kirche (Evangelisierung) als unzureichend und unwirksam angesehen werden kann und im Prinzip mit Propaganda gleichzusetzen ist, deutet auf eine Hinwendung zur politischen Kommunikation hin, die in hierarchisch strukturierten Systemen eingesetzt wird. Angesichts der Art und des Inhalts der christlichen Botschaft wäre ein zweiseitiges symmetrisches Modell angemessener (a two–way symmetric model).37 Eine Verlagerung hin zu einer mitgestaltenden Kommunikation (cocreational communication activity), was die Vereinbarung von Bedeutungen, die Aushandlung von Veränderungen in den Beziehungen und den Dialog einschließt, würde eine größere Anerkennung der Würde der an der Kommunikation beteiligten Personen sowie eine größere Offenheit für den ethischen Aspekt in diesem Rahmen ermöglichen.38 Irena Borowik beschreibt den Stil dieser Kommunikation als paternalistisch und triumphalistisch, taub für die Stimme anderer Kreise und „die Mittel ignorierend, mit denen die Botschaft umgesetzt werden soll.“39 Unidirektionalität und Asymmetrie zeigen sich auch in der Wahl indirekter Kommunikationstaktiken, vor allem in Briefen, die in Kirchen verlesen werden, oder in Stellungnahmen zu bestimmten sozialen Themen. Die Wahl dieser Kommunikationsmittel (anstelle von z. B. Dialog, Treffen, Konferenz) deutet darauf hin, dass „die Bischöfe weder eine Antwort von den Adressaten dieser Briefe erwarten, noch beabsichtigen sie, mit ihnen zu diskutieren.“40 Darüber hinaus behalten sich einige Geistliche das Recht vor, in sozialen Fragen „Ratschläge“ und „Ermahnungen“ zu erteilen (admonition), was auf Polnisch „Bestrafung, Ermahnung, Warnung, Ermahnung“ (punishing, cautioning, warning, calling to order) bedeutet.41 Die Asymmetrie des Verhältnisses zeigt sich auch in Aussagen wie der folgenden: „Wir wissen, was schadet, wir wissen, was nicht gut für die Gläubigen ist.“42
37 Excellence in Public Relations and Communication Management, hrsg. v. J.E. Grunig. Hilsdale, NJ 2013. 38 C. Botan: Ethics in Strategic Communication Campaigns: The Case for a New Approach to Public Relations. In: „Journal of Business Communication“ 34, 2 (1997), S. 188–202, hier 192; Siehe auch: C. Botan, M. Taylor: Public Relations: State of the Field. In: „Journal of Communication“ 54, 4 (2004), S. 645–661. 39 Borowik, The Roman Catholic Church, (Anm. 6), S. 247. 40 Ebd., S. 248. 41 Ebd., S. 247. 42 A. Nowin´ski: Ksia˛dz z Gdan´ska tłumaczy dlaczego spalili Harry’ego Pottera i amulety [online]. https://natemat.pl/268543,ksiadz-z-gdanska-tlumaczy-dlaczego-spalili-harrego-potter a-i-amulety [30. 07. 2019].
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Nach Ansicht von Irena Borowik ist dieser Stil eines der Elemente, die das Engagement der Kirche in die aktuelle polnische Politik und ihr Handeln im Namen der Nation legitimieren. Er beruht im Wesentlichen auf der Verkündung der Überzeugung, dass die Kirche mit der Nation identisch ist, was sich unter anderem in der Verwendung von Begriffen wie „katholische Nation“ oder „katholische Gesellschaft“ ausdrückt. Diese semantische Strategie soll der Kirche das Recht geben, im Namen der Polen zu sprechen und sich für oder gegen bestimmte Ansichten, politische Organisationen oder legislative Lösungen auszusprechen.43 In rechtsradikalen Kreisen wird dies als Aufruf zum Aufbau einer homogenen, ethnisch polnischen und religiös katholischen Gesellschaft interpretiert, was unweigerlich mit Strategien der Ausgrenzung aus der Diskursgemeinschaft und folglich aus der sozialen und nationalen Gemeinschaft einhergeht.
Mediale Skandalisierung Eine der Erscheinungsformen der einseitigen Kommunikation ist häufig der Einsatz von Skandalisierungsmechanismen in der öffentlichen Debatte. Marcela Kos´cian´czuk zufolge sind sie charakteristisch für den phatischen Diskurs und bestehen darin, dass die Grenze zwischen Fakten, die in der öffentlichen Meinung umstritten sind, und ihren Interpretationen verwischt wird. Das Ziel dieser Aktion ist es, den Affekt des Empfängers zu beeinflussen, seine Emotionen zu steuern und Angst, Furcht, Schrecken, Lachen oder Wut auszulösen.44 Kepplinger zählt u. a. Metaphern, Antonymien, Neologismen und rhetorische Fragen zu den am häufigsten verwendeten Figuren der Skandalisierung.45 Im Laufe meiner Untersuchungen habe ich u. a. die Fälle von Adam „Nergal“ Darski (Leader der Black-Metal-Band Behemoth), der der Beleidigung religiöser Gefühle beschuldigt wurde, das „Schweigegebot“, das die religiösen Oberen einem bekannten und angesehenen marianischen Publizisten, Pater Adam Boniecki, auferlegt haben, die Selbstverbrennung von Piotr Szcze˛sny oder die rituelle Verbrennung von Harry-Potter-Büchern durch Priester in Gdan´sk ermittelt. Ich habe unter anderem die von Stanisław Baran´czak aufgezeigten Mechanismen der persuasiven Beeinflussung (Emotionalisierung der Rezeption, alternativlose Rezeption, Simplifizierung der Werteverteilung, Bildung einer Welt- und Sprachgemein43 Borowik, The Roman Catholic Church, (Anm. 6), S. 248. 44 M. Kos´cian´czuk: Mie˛dzy systemem skandalizacji a mechanizmem skandalu – prowokacji. Wzajemne zalez˙nos´ci sztuki i mediów. In: „Kultura i Edukacja“ 89 (2012), S. 100–118, hier S. 101; H. M. Kepplinger: Mechanizmy skandalizacji w mediach, übers. v. A. Koz˙uch. Kraków 2008, S. 50. 45 Kepplinger, Mechanizmy skandalizacji w mediach, (Anm. 44), S. 61.
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schaft), Dramatisierung, Übertreibung, Metonymie und damit Bedeutungsverschiebungen, Manipulation des Kontextes sowie die Verwendung der Argumentation ad personam identifiziert.46 Wie Kepplinger feststellt, ist eines der Merkmale von Skandalen das Bestreben, skandalisierte Personen, Schuldige auszuschließen, die „zur Rechenschaft gezogen werden können“, deren Schuld Reue und „schmerzhafte Konsequenzen persönlicher Art“, wie Rücktritt, Entlassung oder Kündigung, erfordert.47 Abgesehen von dem offensichtlichen Versuch, auf diese Weise ein verlorenes soziales Gleichgewicht zu erreichen (der Sündenbock-Mechanismus), realisiert sich in diesem Bestreben neben Ausgrenzung und Anathema vor allem der Ausschluss aus der Diskursgemeinschaft. Die von der skandalisierten Person verkündeten Ansichten sollen damit ungültig gemacht und mit ihr zur Verbannung und Vergessenheit verurteilt werden. Der Einsatz von politischer Macht zu diesem Zweck dient dazu, den herrschenden Ansichten eine ungeteilte Hegemonie in dem von der skandalisierten Person freigegebenen Diskursraum zu verschaffen. In den untersuchten Fällen erfüllten die Mechanismen der Skandalisierung somit die Funktion der Wiederherstellung der Asymmetrie, der Unidirektionalität und des kommunikativen Monopols.
Politische Semiose verdrängt religiöse Semiose Die Abhängigkeit der polnischen Religiosität (des religiösen Diskurses) von der Politik (vom politischen Diskurs) zeigt sich am deutlichsten in der fortschreitenden sozialen Polarisierung. Entsprechend aufbereitete religiöse Diskurse und Symbole werden verwendet, um einen narrativen Rahmen „wir gegen sie“ zu schaffen, der Anhänger mobilisiert, Gegner disqualifiziert und sie symbolisch aus der nationalen Gemeinschaft ausschließt, durch Stigmatisierung und Beschuldigung als „Nicht-Polen“, „Juden“, „Deutsche“, „Russen“, „schlechte Katholiken“, „Freimaurer“ oder durch die Verwendung von pejorativen Begriffen wie „Elite“, „aufgeklärte Katholiken“, „eine Gruppe von Leuten, die glauben, das Christentum besser zu verstehen“, „vom Liberalismus und Atheismus vergiftete Christen“.48 Im Rahmen dieser Prozesse wird der religiöse Diskurs und damit die religiöse Identität, das religiöse Verhalten des „Bruders/Nachbarn“ durch den politischen Stil des „Gegners/Feindes“ umgewandelt und verdrängt. Das bedeutet, dass die 46 Vgl. Warzecha, Kos´ciół w sferze publicznej, (Anm. 1); Ders., Samospalenie Piotra Szcze˛snego, (Anm. 32); Ders., Harry Potter na stosie, (Anm. 16); S. Baran´czak: Słowo – perswazja – kultura masowa. In: „Twórczos´c´“ 7 (1975), S. 44–59. 47 Kepplinger, Mechanizmy skandalizacji w mediach, (Anm. 44), S. 59f. 48 Zubrzycki, Quo Vadis, Polonia?, (Anm. 30), S. 270, 273; Warzecha, Kos´ciół w sferze publicznej, (Anm. 1), S. 157f.
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Identität des „Bruders/Nachbarn“ auf pragmatischer Ebene nicht mehr durch die Taufe, sondern durch Weltanschauung und politische Zugehörigkeit gekennzeichnet ist. Ein Beispiel für dieses Phänomen ist die Weigerung einer Warschauer Kirche, Szymon Hołownia, einem bekannten katholischen Publizisten, der als unabhängiger Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen 2020 unter anderem mit dem von der PiS-Partei und einigen Geistlichen unterstützten Andrzej Duda konkurrierte, die heilige Kommunion zu erteilen.49 Gleichzeitig werden Vertreter der Regierungspartei bevorzugt, was sich deutlich daran zeigt, dass der Vorsitzende der PiS-Partei, Jarosław Kaczyn´ski, während des Gottesdienstes Zugang zur Kirchenkanzel erhielt.50 Hier tritt das Phänomen auf, das Carl Schmitt in seinem Begriff des Politischen dargelegt hat: Jeder religiöse, moralische, ökonomische, ethnische oder andere Gegensatz verwandelt sich in einen politischen Gegensatz, wenn er stark genug ist, die Menschen nach Freund und Feind effektiv zu gruppieren.51
Auf diese Weise treten Konfrontation und Kampf an die Stelle von Versöhnung und Gemeinschaftsbildung, was auf der diskursiven Ebene (Darstellung der Semiose) die Ideologisierung von Religiosität und Religion im Allgemeinen bedeutet.
Schlussfolgerungen Zweifellos wurde die Gestalt des polnischen Katholizismus stark von den historischen Bedingungen beeinflusst, angefangen von der Taufe Polens über die Zeit der Teilungen, die NS-Besatzung und auch die Zeit der kommunistischen Herrschaft. Für die Polen spielte die Kirche die Rolle eines Trägers und Zufluchtsortes für eine verlorene nationale und staatliche Existenz. Diese projizierte historische Kontinuität bildet heute zusammen mit Elementen des nationalen Messianismus ein wichtiges Element der Überzeugungsstrategie, mit der das politische Engagement der Kirchenhierarchie in Polen sanktioniert und legitimiert wird. Diese Abhängigkeiten, eine Art historisches Sentiment und das Festhalten an den Modellen der „Kirche des Volkes“ und der „Kirche der Nation“ rufen jedoch in einem Teil der polnischen Gesell49 S. Hołownia: [A skoro juz˙ jestes´my przy tematach ´swiatopogla˛dowych], 15. 01. 2020 [online]. https://www.facebook.com/szymonholowniaoficjalny/posts/1724650844326366 [31.03. 2021]. 50 K. Skalska: Polityczne przemówienie Jarosława Kaczyn´skiego w kos´ciele. „Ani partia, ani jej przywódca nie zasta˛pia˛ Słowa Boz˙ego“, 17. 01. 2021 [online]. https://fakty.tvn24.pl/fakty-po -poludniu,96/jaroslaw-kaczynski-na-mszy-fala-komentarzy-po-przemowieniu-prezesa-pis, 1045688.html [31. 03. 2021]. 51 C. Schmitt: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien. Unveränderter Nachdruck der 1963 erschienenen Auflage. Berlin 1979, S. 37.
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schaft gegenwärtig ein Gefühl der Unzulänglichkeit und der Nichtanpassung an die Bedingungen der heutigen, sich pluralisierenden Gesellschaften hervor, was sich entweder in einer langsam fortschreitenden Säkularisierung oder in der Suche nach anderen, individuelleren, aber auch synkretistischen Formen der religiösen Erfahrung äußert. Durch diese Prozesse, aber auch durch die Mediatisierung der Religiosität bzw. der Religion im Allgemeinen, die der Darstellung extremer Positionen und Haltungen besonders förderlich ist, tritt eine stark politisierte und vereinfachte Version der Religiosität in den Vordergrund. Es findet eine Art Rückkopplungsschleife statt: Die in der Einleitung dargestellte spezifische Art der Religiosität der Polen verstärkt ausgewählte Töne der kirchlichen Botschaft, und die Kirche muss sich dessen bewusst sein und wissen, welche Wirkung dies haben wird. Schließlich werden diese Tendenzen durch die Allianz von Thron und Altar verstärkt, die in der zeitgenössischen Geschichte Polens beispiellos ist. In dieser Ausgabe des polnischen Katholizismus wird die kirchliche Mission bzw. die Evangelisierung im klassischen Sinne im Grunde zugunsten einer Identifizierung mit der politischen Tätigkeit aufgegeben. Eine solche Entwicklung und der offensive Charakter des politischen Diskurses führen dazu, dass die traditionellen religiösen Kategorien der Sorge um das Gemeinwohl, der Suche nach einem Kompromiss, der Gemeinschaftsbildung usw. durch politische Kategorien ersetzt werden: Kampf, Opposition, Polarisierung, Spaltung und Ausgrenzung. Religion und Religiosität werden auf diese Weise instrumentalisiert, auf die Rolle einer politischen Waffe, eines diskursiven Zeichens der Ausgrenzung reduziert und faktisch säkularisiert. Nach Ansicht von Erzbischof Józef Z˙ycin´ski ist die Entwicklung dieser binären Anordnung in der polnischen Religiosität einerseits auf den vom Christentum abgelehnten manichäischen Dualismus und andererseits auf die radikalen Antithesen des Marxismus zurückzuführen52: Es ist zu befürchten, dass die Lehre von Chalkedon heute von Kreisen aufgegeben wird, die in der heutigen Kultur vor allem einen Kampf zwischen dem absolut Guten und dem absolut Bösen sehen. Warum sollte man sich die Mühe machen, nach einer verborgenen Einheit zu suchen, wenn es ausreicht, davon auszugehen, dass es nur eine Art des Guten gibt, das nach einem Parteischlüssel verteilt wird.
Welche der in diesem Text dargestellten Tendenzen sich in Zukunft verstärken werden, lässt sich derzeit nur schwer vorhersagen: ob sich die Polen auf eine noch engere Verbindung von Kirche, Nation und Staat zubewegen werden, auf eine sichtbarere Säkularisierung oder auf verstreute, individualisierte und selektive 52 J. Z˙ycin´ski: Chalcedon zapomniany. In: „Tygodnik Powszechny“, 14. 09. 2010 [online]. https:// www.tygodnikpowszechny.pl/chalcedon-zapomniany-143352 [31. 03. 2021].
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Formen der Verwirklichung religiöser Erfahrung. Dies wird von den allgemeinen zivilisatorischen Tendenzen in unserem Teil des europäischen Kontinents abhängen, aber auch davon, ob die katholische Kirche in Polen mit ihrer Hierarchie in der Lage sein wird, diesen Herausforderungen zu begegnen. Übersetzt von Marek Krisch
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Mariusz Jakosz (Schlesische Universität in Katowice)
Wandel der polnischen Erinnerungspolitik nach 1989 Nicht die Macht der Toten über die Lebenden, sondern die Macht der Lebenden über die Toten ist der eigentliche Gegenstand der Traditionsforschung.1
Einleitung Die Erinnerungspolitik stellt einen der grundlegenden Prozesse dar, die mit der Gestaltung der Nation, der Form der Regierung und der Gesellschaft zusammenhängt. Besonders deutlich zeigt sich die schwierige Auseinandersetzung der Polen mit ihrer eigenen Geschichte in den Ausführungen des polnischen Autors und Sejm-Vertreters Stefan Kisielewski: „Die Polen vergessen niemals die Vergangenheit, sie lebt in ihnen parallel zur Gegenwart und wirkt unsichtbar auf ihr Verhalten und ihre Handlungen. Die Polen sind Wiederkäuer der Geschichte, die sich von Vergangenem ernähren, ohne sich dessen bewusst zu werden.“2 Die Erinnerungspolitik war und ist seit Jahrhunderten ein wesentliches Kennzeichen der Staatspolitik, deshalb ist der Wandel der Erinnerungspolitik jeweils eng mit dem politischen Wandel, d. h. mit dem Systemwechsel verbunden3: politische Macht innezuhaben bedeutet auch, die Deutungsmacht über die Vergangenheit zu besitzen: Nur wer Symbole setzen kann, hat die Macht inne, und wer an der Macht ist, benötigt Symbole, um sie zu festigen. Dies bedeutet grundsätzlich, dass neue Machthaber ihre eigene Deutung der nationalen Geschichte durchsetzen müssen – und
1 J. Szacki: Tradycja. Przegla˛d problematyki. Warszawa 1971, S. 150; zit. nach: L.M. Nijakowski: Die polnische Erinnerungspolitik. In: Jahrbuch Polen 2017. Bd. 28: Politik, hrsg. v. Deutschem Polen-Institut Darmstadt. Wiesbaden 2017, S. 29–48, hier S. 31. 2 S. Kisielewski: Ludzie w Akwarium. Paryz˙ 1976, S. 70; zit. nach: M. Olszewski: „Ein Streifen, ein Rain, ein Rand“. Der polnische Mythos und die flüchtige Moderne. In: Jahrbuch Polen 2018. Bd. 29: Mythen, hrsg. v. Deutschem Polen-Institut Darmstadt. Wiesbaden 2018, S. 23–37, hier S. 31. 3 Vgl. Z. Wilkiewicz: Geschichtspolitik, Gedächtnisorte und europäische Erinnerung im deutschpolnischen Kontext. In: „Aktuelle Ostinformationen“ 43 (3/4) (2011), S. 15–31, hier S. 18.
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diese Interpretation sollte mit den Symbolen des abgelösten Systems brechen und in Kontinuität zu den früheren und ihrer Ansicht nach besseren Zeiten stehen.4
In Polen gewannen die zentralen Themen der nachkriegsdeutschen Erinnerung und des Umgangs mit der Vergangenheit durch die öffentlichen Debatten und wissenschaftlichen Forschungen insbesondere nach der Wende des Jahres 1989 an Bedeutung.5 In der ersten halben Dekade des politischen Transformationsprozesses spiegelte die Erinnerungspolitik die Suche der polnischen Gesellschaft nach einem postsozialistischen Selbstbild wider. Es kam zu einem mehr oder weniger chaotischen Prozess der Dekommunisierung des öffentlichen Lebens und damit des Erinnerns6: Die Dynamik dieses Wandels habe eine schnelle Abstoßung der alten Ideologisierung der Vergangenheit bewirkt […]. Eine Gegenreaktion auf die kommunistische Geschichtsmanipulation ist die seit einigen Jahren anhaltende Welle einer neuen historischen Symbolik, die sich meistens auf die nationalen Helden der Zweiten Republik bezieht und das Kriegsschicksal der Polen und ihre Leiden vor allem im Osten heroisiert.7
Im vorliegenden Beitrag werden die wichtigsten Entwicklungslinien der polnischen Erinnerungspolitik von 1989 bis heute beleuchtet. Zu beantworten ist vor allem die Frage, wie die nationale Vergangenheit von den jeweiligen polnischen Regierungen nach der Wende des Jahres 1989 wahrgenommen wurde und welche Mechanismen der Konstruktion des so genannten organisierten kollektiven Gedächtnisses im Bereich der Erinnerungspolitik angewendet wurden.
Zum Begriff der Erinnerungspolitik Die Erinnerungspolitik wird im allgemeinen Sinne als bewusste Handlungen von Politikern definiert, die zum Wandel oder zur Stützung des Bildes eines Landes in der Welt beitragen und/oder das historische Bewusstsein der Gesellschaft 4 H. Hein-Kircher: „an die besten Traditionen der Ersten und Zweiten Republik anknüpfend“: Polnische Erinnerungskultur im öffentlichen Raum nach 1989. In: „Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung“ 59 (3) (2010), S. 344–365. https://www.zfo-online.de/portal/index.php/zfo /article/view/9075/9074 [20. 02. 2021], hier S. 346. 5 Vgl. Wilkiewicz, Geschichtspolitik, (Anm. 3), S. 15f; Nijakowski, Die polnische Erinnerungspolitik, (Anm. 1), S. 33; M. Bucholc: Anachronistische Wahrnehmungen. Zur Rolle der Erinnerung in der polnischen Politik – Essay, 2. 03. 2018 [online]. https://www.bpb.de/shop/zeitsch riften/apuz/265501/anachronistische-wahrnehmungen [10. 02. 2021]. 6 Vgl. J. Meyer: Zweiter Weltkrieg und Holocaust in den erinnerungspolitischen und öffentlichen Geschichtsdiskursen Ostmittel- und Osteuropas nach 1989/1991. In: „Militärgeschichtliche Zeitschrift“ 79 (1) (2020), S. 151–155, hier S. 151f. 7 R. Traba: Symbole der Erinnerung. Der Zweite Weltkrieg im kollektiven Bewusstsein der Polen. Eine Skizze. In: Deutsch-Polnische Erinnerungsorte. Bd. 5: Erinnerung auf Polnisch, hrsg. v. P.O. Loew, R. Traba. Berlin 2015, S. 289–306, hier S. 296.
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verändern sollen.8 Dies ist allerdings ein sehr enges Verständnis dieses Begriffs. Nach Auffassung von Nijakowski9 sollte die Erinnerungspolitik auf dreierlei Art und Weise betrachtet werden: erstens sind es alle (bewussten und unbewussten, intentionalen und zufälligen) Handlungen, die zur Fundierung und Stärkung bzw. auch zur Veränderung des kollektiven Gedächtnisses einer Gesellschaft dienen. Diese Politik betreiben alle Staatsbürger durch das Öffentlichmachen der Erinnerungen von Großeltern, das Schreiben von Leserbriefen, das Kommentieren in Internetforen bzw. durch die Teilnahme an Feiern. Durch diese Handlungen nimmt die ganze Gesellschaft an der Erinnerungspolitik teil. Nachdem sich die unterschiedlichen, nicht-vereinbarenden Vorstellungen von Geschichte abgenutzt haben, entsteht eine neue, gemeinsame Vorstellung über die Vergangenheit und deren Beurteilung. Zweitens bedeutet der Begriff der Erinnerungspolitik alle Handlungen, die ein Individuum im öffentlichen Raum intendiert unternimmt, um das kollektive Gedächtnis der Staatsbürger zu fundieren oder zu ändern. Diese Definition ist enger als die erste, weil sie alle unbewussten Handlungen ausschließt und nur die Handlungen betrifft, die an die Gesellschaft gerichtet sind (dazu gehören also nicht z. B. Gespräche über die Geschichte im Familienkreis). In diesem Sinne umfasst die Erinnerungspolitik u. a. öffentliche Vorlesungen, in denen die Vergangenheit interpretiert wird, Schulwesen, Manifestationen, Aushängen von Fahnen, Rekonstruktion von wichtigen Schlachten. Nijakowski10 versucht diesen Begriff noch weiter einzuengen. Damit seien nur die Handlungen gemeint, die eine öffentliche Legitimierung haben. Hierzu gehören nur öffentliche Vorlesungen in offiziellen Institutionen oder solche, die von Staatfunktionären gehalten werden, das Erstellen von Lehrplänen für die Schulen, die Festlegung der Inhalte von Lehrbüchern usw. Mit anderen Worten wird die Erinnerungspolitik als alle intentionalen Handlungen von Politikern und staatlichen Vertretern aufgefasst, die eine formale Legitimierung besitzen und die die Fundierung, Beseitigung oder Veränderung von bestimmten Inhalten des kollektiven Gedächtnisses zum Ziel haben. Die staatliche Erinnerungspolitik ist somit eng mit der staatlichen Propaganda verbunden, deren Ausmaß von der jeweiligen Staatsform abhängt (z. B. davon, ob eine Zensur oder ein Medienpluralismus herrscht usw.). Die die Erinnerungspolitik bildenden Handlungen können einen innovativen Charakter oder eine Form von schablonenhaften Praktiken annehmen. Man kann dazu die im gesellschaftlichen Leben verankerten Feiertage nutzen, neue Museen eröffnen oder Denkmäler errichten. Der Vorteil solcher routinemäßigen Handlungen ist die Tatsache, dass sie eine allgemeine Legitimierung als Symbolpolitik haben und für 8 Vgl. Nijakowski, Die polnische Erinnerungspolitik, (Anm. 1), S. 30. 9 Vgl. L.M. Nijakowski: Polska polityka pamie˛ci. Esej socjologiczny. Warszawa 2008, S. 43. 10 Vgl. ebd., S. 44.
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Staatsbürger allgemein zugänglich und verständlich sind. Von Nachteil ist, dass sie die Menschen zur Mobilisierung im eingeschränkten Maße anregen und deshalb besonders bei der jüngsten Generation eine eher geringe Wirksamkeit haben.11 Ähnlich definiert auch Berek12 den Begriff der Erinnerungspolitik und bezeichnet sie als das strategische Operieren mit Geschichtsdeutungen zur Legitimierung politischer Projekte. Dies bestehe im Verfolgen gegenwärtiger politischer Interessen, wie in der Legitimierung von Institutionen, Sinnwelten und Identitäten unter Zuhilfenahme von Repräsentationen und Interpretationen der Vergangenheit. Dabei wird ausgehandelt, welche Aspekte der Vergangenheit für die Gegenwart bedeutend sind und wie sie erinnert werden. Die Erinnerungspolitik ist demzufolge die konkrete Auseinandersetzung um und zwischen Erinnerungskulturen. Nach Auffassung von Berek13 hat die Erinnerungspolitik vier Funktionen: – Legitimation von Institutionen, individuellen und kollektiven Handlungen sowie Sinnwelten, indem auf historische Ereignisse und Zusammenhänge Bezug genommen wird bzw. historische Referenzpunkte bewusst oder unbewusst ausgeklammert werden. – Herstellung des Zeitbezugs für die Mitglieder eines Kollektivs: Hierzu gehört die Erinnerungspolitik in einer synchronen Dimension (als Herstellung von Gleichzeitigkeit der Zeitvorstellung aller Gruppenmitglieder), die die individuelle Biographie in die Geschichte des Kollektivs einbezieht. Sie versucht den Menschen eine einheitliche Vorstellung darüber zu vermitteln, in welcher Zeit sie leben und dass dies für alle die gleiche ist. Die Erinnerungspolitik in einer diachronen Dimension vermittelt hingegen die Geschichte und die Herkunft des Kollektivs. Dies kann z. B. durch Feiertage, Jubiläumsfestlichkeiten, Museen, Ausstellungen, Filme, Denkmäler, Gedenkstätten erfolgen. – Vermittlung von Identität und kollektiven Identitätstypen: Dadurch, dass die Mitglieder einer Gruppe einen Bezug zur kollektiven Geschichte bekommen, wird dem Individuum ein politisches Identitätsgefühl vermittelt, was dazu führt, dass es sich als ein Teil eines Kollektivs betrachtet. – Herstellung der Kohärenz der Kollektive: Die in einer Gruppe lebenden Menschen müssen sich dessen bewusst sein, dass sie einer konkreten Gruppe angehören, die nachvollziehbar begründet und entsprechend gestaltet ist. Dadurch sollten auch gesellschaftliche Legitimations- und Identitätskrisen
11 Vgl. ebd. 12 Vgl. M. Berek: Kollektives Gedächtnis und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Erinnerungskulturen. Wiesbaden 2009, S. 151. 13 Vgl. ebd., S. 151–155.
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vermieden werden. Gesellschaften brauchen die Vergangenheit vor allem zum Zweck ihrer Selbstdefinierung. Für die weiteren Ausführungen ist ein solches Verständnis der Erinnerungspolitik wesentlich, die als eine Stärkung des öffentlichen Diskurses über die Vergangenheit gilt, was sowohl innerhalb als auch außerhalb eines Landes und zwar durch verschiedene Formen der Institutionalisierung dieses Diskurses (auf der Ebene der zentralen, staatlichen, lokalen Institutionen) erfolgt. Die Amtsträger bedienen sich oft ihrer eigenen Interpretation der Vergangenheit, um ein politisches Ziel zu erreichen und der Gesellschaft etwas zu vermitteln, was von der jeweiligen Regierung für wichtig gehalten wird.
Die polnische Erinnerungspolitik nach 1989 Nach der Systemtransformation im Jahre 1989 bekamen die Diskurse über die europäische Vergangenheit einen besonderen Schub, wodurch die Themen der Erinnerung und des Vergessens in den Debatten der postkommunistischen Gesellschaften des östlichen Europas in den Vordergrund rückten.14 Die Schaffung neuer öffentlicher Traditionen und „die Imagination der Nation durch neue respektive wiederaufgegriffene politische Symbole“15 wurden deswegen zu einem zentralen Merkmal der Erinnerungspolitik in Polen. Als die Souveränität und die Meinungsfreiheit wiedererlangt worden waren, begann man in den Jahren von 1989 bis 1995 über die so genannten „weißen Flecken“ in der polnischen Geschichte zu diskutieren. Zu den wichtigsten Themen gehörten das Massaker von Katyn´ sowie die Massendeportationen der polnischen Bürger aus den früheren polnischen Ostgebieten Polens in die UdSSR in den Jahren 1939 bis 1941 und 1944 bis 1946.16 In der ersten Hälfte der 1990er Jahre kam es auch zur „symbolischen Dekommunisierung“ des sozialen Raumes, die u. a. zum Sturz der durch die Opposition verhassten Denkmäler, Umbenennung der Namen von Straßen, Plätzen und Siedlungen sowie zur Finanzierung neuer Monumente führte.17
14 Vgl. Wilkiewicz, Geschichtspolitik, (Anm. 3), S. 15f; Bucholc, Anachronistische Wahrnehmungen, (Anm. 5). 15 Hein-Kircher, „an die besten Traditionen der Ersten und Zweiten Republik anknüpfend“, (Anm. 4), S. 346. 16 Vgl. W. Masiarz: Wybrane elementy polityki historycznej w Polsce w latach 1989–2008. In: „Pan´stwo i Społeczen´stwo“ 8 (2) (2008), S. 105–113, hier S. 106. 17 Vgl. Nijakowski, Polska polityka pamie˛ci, (Anm. 9), S. 142.
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In der Erinnerungspolitik der Dritten Republik Polen kann man nach Dudek18 auf zwei grundlegende Richtungen – die liberale und die konservative – verweisen. Die liberale Strömung dominierte in den ersten Jahren nach dem Sturz des Kommunismus und besagte, dass sich polnische Politiker nicht stets auf die Geschichte und ihre Bewertung, sondern auf die Zukunft des Staates konzentrieren sollten. Man vertrat die Meinung, dass ein liberal-demokratischer Staat im Bereich der Gestaltung des historischen Bewusstseins der Polen neutral und unparteilich bleiben muss, andererseits würde er gegen seine Grundregeln – die Gewissensfreiheit und die Neutralität der Weltanschauung – verstoßen.19 Diesem Prinzip folgte u. a. auch Donald Tusk im Jahre 1991, der fest davon überzeugt war, dass man „von diesem Teufelskreis der Erinnerung herausfinden muss, man aufhören sollte, sich immer auf Cze˛stochowa, auf den polnischen Adler und auf die Barrikaden des Kriegsrechts zu berufen.“20 Zwei Jahre später kündigte Aleksander Kwas´niewski an, falls seine Partei gewinnen sollte, käme es zu keiner Lustration (d. h. Entfernung von politisch belasteten Mitarbeitern aus dem öffentlichen Dienst), würden keine Denkmäler zerstört, Straßen umbenannt und man würde sich nicht auf die Toten berufen. Man wollte dem Märtyrertum ein Ende setzen und sich stattdessen auf die Erreichung des Wohlstands konzentrieren. Um eine neue Identität Polens zu schaffen, müsste man die polnische Geschichtsschreibung ändern, vor allem den heroischen Kult aufgeben, der den Polen viele unangenehme Ereignisse aus der Vergangenheit verschleiere, den Antagonismus gegenüber den Nachbarn bestärke und die Aufhebung der Opferrolle erschwere, wodurch eine aktive Haltung im Prozess des Aufbaus einer europäischen Gemeinschaft und Identität behindert werde.21 Aus diesem Grunde forderte man einen historischen Revisionismus.22 In den Jahren 1995 bis 2000 war ein relativ gleichbleibendes Interesse an der nationalen Geschichte zu bemerken.23 Historiker, Politologen, Soziologen und Journalisten konnten ihre Forschungen durchführen sowie ihre eigenen Meinungen über die polnische Vergangenheit frei formulieren und veröffentlichen. An den meisten polnischen Universitäten wurden verschiedene wissenschaftli18 Vgl. A. Dudek: Historia i polityka w Polsce po 1989 roku. In: Historycy i politycy: polityka pamie˛ci w III RP, hrsg. v. P. Skibin´ski, T. Wis´cicki, M. Wysocki. Warszawa 2011, S. 33–57, hier S. 36. 19 Vgl. A. Walicki: Sprawiedliwos´c´ na pasku polityki. In: „Przegla˛d Polityczny“ 40/41 (1999), S. 12–33, hier S. 33. 20 Dudek, Historia i polityka w Polsce po 1989 roku, (Anm. 18), S. 44. 21 Ein Argument für die Schaffung einer neuen Geschichtsidentität lieferte den Liberalen im Jahre 2001 die Bekanntwerdung des Verbrechens in Jedwabne, vgl. ebd., 38. 22 Vgl. Z. Krasnode˛bski: Demokracja peryferii. Gdan´sk 2003, S. 236–237; Dudek, Historia i polityka w Polsce po 1989 roku, (Anm. 18), S. 42–43. 23 Vgl. Masiarz, Wybrane elementy polityki historycznej w Polsce w latach 1989–2008, (Anm. 16), S. 107.
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che Tagungen veranstaltet, an denen sich ausländische Wissenschaftler beteiligten. Zur Sprache kamen folgende Themen: die Massendeportationen der Bürger der Zweiten Polnischen Republik in die UdSSR, die Sowjetisierung der östlichen Gebiete Polens nach dem 17. September 1939 bzw. das Schicksal der Polen und der katholischen Kirche in Sibirien im 19. und 20. Jahrhundert.24 Die jüngste Vergangenheit der Volksrepublik Polen wurde von den Politikern in ihrem aktuellen politischen Kampf ausgenutzt. Sie verlangten eine Abrechnung mit dem Kommunismus, indem sie ein neues Bild der Volksrepublik Polen kreierten. Zu diesem Zweck wurden nicht nur die Unterschiede zwischen den einzelnen Perioden dieser Zeit verwischt, sondern es kam auch zur Dämonisierung des Systems.25 Laut Masiarz26 kann festgestellt werden, dass die polnische Erinnerungspolitik zwischen 1995 und 2000 zwar ihren eigenen liberalen Charakter beibehalten hatte, aber angesichts der viel wichtigeren gesellschaftlichen Probleme wie Arbeitslosigkeit, Kampf um die Lustration oder Bemühungen um den Beitritt Polens zur Europäischen Union in den Hintergrund rückte. In den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts begann die konservative Erinnerungspolitik in Polen zu dominieren. Dies hing mit der Gründung des Instituts für Nationales Gedenken im Jahr 2001 und der Eröffnung des Museums des Warschauer Aufstands durch den damaligen Stadtpräsidenten von Warschau Lech Kaczyn´ski am 60. Jahrestag dieses Ereignisses zusammen.27 In erster Linie wurde die Annahme der Liberalen kritisiert, nach der sich der Staat nicht offiziell in das „Programmieren“ des Geschichtswissens engagieren sollte. Einen besonderen Wandel erlebte die polnische Erinnerungspolitik durch die polnische nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwos´c´, PiS), die im Jahr 2004 einen Beschluss fasste, die Erinnerungspolitik in ihr Parteiprogramm mit einzubeziehen. Die beiden PiS-Gründer Lech und Jarosław Kaczyn´ski sowie ihre Parteimitglieder bezeichneten ihre Erinnerungspolitik von Anfang an als richtig und modern. Sie waren fest davon überzeugt, dass es eine derartige Politik bisher in Polen nicht gab und die Bürger erst von ihnen darauf aufmerksam gemacht wurden: Die kollektive Erinnerung in Polen [sei] unter den Regierungen von Liberalen und postkommunistischen Sozialdemokraten ein brachliegendes Niemandsland gewesen […], das von den Nationalkonservativen in Besitz genommen werden konnte, da nur sie ein politisches Konzept hierfür hatten.28
24 Vgl. ebd. 25 Vgl. Nijakowski, Polska polityka pamie˛ci, (Anm. 9), S. 123. 26 Vgl. Masiarz, Wybrane elementy polityki historycznej w Polsce w latach 1989–2008, (Anm. 16), S. 107. 27 Vgl. ebd. 28 Bucholc, Anachronistische Wahrnehmungen, (Anm. 5).
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Ihrer Meinung nach kam es in der Dritten Republik Polen zur „Amputation der Erinnerung“29, deshalb sollte die Erinnerungspolitik der PiS das zerstörte kollektive Gedächtnis wiederaufbauen.30 Die Erinnerungspolitik war für die PiS ein Handeln, das wichtige geopolitische Konsequenzen hatte. Wenn die Polen ihren Nationalstolz zurückgewinnen, können sie ihrer Meinung nach eine wirksamere internationale Politik führen und sich mehr für den Staat engagieren. Dabei werden andere Nationen, denen die wichtige Rolle Polens klar gemacht wird, gegenüber den Polen nachgiebiger. Daher kritisierte man von nun an vor allem die Politiker und Intellektuellen der Dritten Republik Polens, die die Tradition vernachlässigten und den Umgang mit der Vergangenheit ablehnten: „Die Dritte Republik Polens hatte auch eine Erinnerungspolitik, die im Endschluss einen polnischen Minderwertigkeitskomplex hervorrief. Sie beruhte darauf, alle heroischen Taten unserer Vergangenheit in Frage zu stellen, mit dem Märtyrertum zu kämpfen.“31 Nach Ansicht der Vertreter der anderen politischen Lager trug die von den Brüdern Kaczyn´ski betriebene Erinnerungspolitik zum Sieg in den Parlamentsund Präsidentschaftswahlen im Jahr 2005 bei. Im Laufe der zwei nächsten Jahre wurde die Erinnerungspolitik im öffentlichen Diskurs besonders hervorgehoben.32 Die PiS-Politiker verlangten nach der Vereinheitlichung der Inhalte einer patriotischen Erziehung, setzten sich für die Idee eines eigenständigen Unterrichtsfaches „Erziehung zum Patriotismus“ und wollten die Geschichte Polens im Unterricht von der Universalgeschichte lösen.33 Als die liberal-konservative Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO) im Jahre 2007 die Macht in Polen übernommen hatte, kam es zum Kurswechsel in der offiziellen Erinnerungspolitik des Staates. Der Kulturminister Bogdan Zdrojewski protestierte dagegen, dass Polen als „ein Land der Nekropolen und Museen“34 kreiert wird. Im ähnlichen Sinne äußerte sich auch der Historiker Tomasz Nałe˛cz, der postulierte, dass Geschichte nicht als Droge und Nährboden für negative Emotionen verwendet werden darf. Stattdessen plädierte er für einen maßvollen Umgang und gesunden Menschenverstand, um neue Brücken zu
29 Die Verursacher dieser so genannten „Amputation der Erinnerung“, die fünf Jahre lang dauerte, sind nach Meinung der PiS-Vertreter vor allem Tadeusz Mazowiecki mit seinem Konzept des „Dicken Strichs“, Aleksander Kwas´niewski mit seinem Wahlaufruf „Schauen wir in die Zukunft“ und Adam Michnik, der in „Gazeta Wyborcza“ über die Verbrechen der Polen schrieb, vgl. Nijakowski, Polska polityka pamie˛ci, (Anm. 9), S. 192. 30 Vgl. ebd., S. 191–193. 31 B. Wildstein 2007, zit. nach: Nijakowski, Polska polityka pamie˛ci, (Anm. 9), S. 193. 32 Vgl. R. Traba: Historia – przestrzen´ dialogu. Warszawa 2006, S. 65. 33 Vgl. Wilkiewicz, Geschichtspolitik, (Anm. 3), S. 21. 34 R. Pawłowski: Muzeów mniej. In: „Gazeta Wyborcza“, 24. 02. 2008 [online]. https://wyborc za.pl/1,75248,4958881.html [12. 02. 2021].
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bauen.35 Trotz des Machtverlustes durch die PiS wurde die Erinnerungspolitik der Partei von Präsident Lech Kaczyn´ski fortgesetzt, indem die nachfolgenden Jahrestage des Massenmords von Katyn´ verbreitet und die oft vergessenen Helden der polnischen Freiheit ausgezeichnet wurden. Solche Maßnahmen wurden von den politischen Gegnern des Präsidenten als Instrumentalisierung der polnischen Geschichte und die selektive Auswahl von Ereignissen aus der Vergangenheit des Landes angesehen, die für politische Zwecke kurzfristig verwendet werden konnten.36 Die polnische Erinnerungspolitik wurde wieder im Jahre 2015 revitalisiert, als die PiS-Partei sowohl die Präsidentschaftswahlen als auch die Parlamentswahlen gewann und damit die Regierungszeit der Liberalen von der Bürgerplattform beendete.37 Die allgemeine Renaissance der Erinnerung hatte zur Folge, dass verschiedene Erinnerungspraktiken in vielen Politikfeldern, darunter auch in der Bildungs- und Kulturpolitik wieder intensiviert wurden. Die neue Ministerpräsidentin Beata Szydło betonte in ihrer Regierungserklärung, dass die Politik in erster Linie die patriotischen Einstellungen stärken müsse. Mit öffentlichen Mitteln sollten „Werke entstehen, die Polen und der Welt von unseren hervorragenden Landsleuten, unseren Helden erzählen. […] Schämen wir uns nicht, das Ethos der polnischen Helden aufzubauen.“38 Der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyn´ski plädierte für die „Erneuerung und Konsolidierung der nationalen Gemeinschaft“39 als eine der Hauptherausforderungen seiner Partei. Dabei handelte es sich um unseren Schutz vor Diffamierungen, vor der Diffamierung der Polen, vor Antipolonismus, der heute die Rechtmäßigkeit der Existenz des polnischen Staates anzweifelt […] sowie auch das polnische Eigentum anzweifelt. […] Es kann nicht sein, dass der polnische Staat nicht auf das reagiert […], was sich heutzutage auf globaler Ebene tatsächlich ereignet. Polen, die Nation, die als erste mit der Waffe in der Hand zum Kampf gegen Nazideutschland aufgestanden ist, wird heute im Grunde als Verbündeter Hitlers behandelt, wird als mitverantwortlich für die Verbrechen Nazideutschlands behandelt. […] Wir haben es mit der Situation der Internalisierung der
35 Vgl. W. Władyka: Rozmowa z Tadeuszem Nałe˛czem o historii i polityki historycznej. In: „Polityka“ 35 (2771), 27. 08. 2010 [online]. https://www.polityka.pl/tygodnikpolityka/kraj/15 08272,1,rozmowa-z-tomaszem-naleczem-o-historii-i-polityce-historycznej.read [6. 03. 2021]. 36 Vgl. Masiarz, Wybrane elementy polityki historycznej w Polsce w latach 1989–2008, (Anm. 16), S. 111. 37 Vgl. Bucholc, Anachronistische Wahrnehmungen, (Anm. 5); Meyer, Zweiter Weltkrieg, (Anm. 6), S. 151f. 38 https://www.bpb.de/216738/dokumentation-regierungserklaerung-von-ministerpraesidenti n-beata-szydo [13. 02. 2021]. 39 https://www.bpb.de/216739/dokumentation-jarosaw-kaczyski-in-der-sejmdebatte-zur-regie rungserklaerung-von-ministerpraesidentin-beata-szydo [20. 03. 2021].
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Verantwortung für den Holocaust mit besonderer Berücksichtigung der Polen zu tun. Wir müssen uns dem sehr entschlossen entgegen stellen.40
Staatspräsident Andrzej Duda setzte sich ebenfalls entschieden für die „Stärkung des patriotischen Bewusstseins der Polen“41 ein, die als ein grundlegendes Ziel der Erinnerungspolitik der neuen Regierung angesehen wurde. Als Symbole der erinnerungspolitischen Offensive galten u. a. das nach fünf Jahren wiederbelebte Konzil des Instituts für Nationales Gedenken, das ausschließlich mit Vertrauten der PiS besetzt wurde, die geplante Übernahme des Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig, die weltweit in der Presse kritisiert wurde, oder auch die Beteiligung von Präsident Andrzej Duda an den Beisetzungsfeierlichkeiten für den Oberst Zygmunt Szendzielarz, der nach Kriegsende im antikommunistischen Untergrund weitergekämpft hatte und im Jahre 1951 hingerichtet worden war.42 Im Rahmen ihrer Erinnerungspolitik verwenden die PiS-Politiker zahlreiche Mechanismen zur Gestaltung des kollektiven Gedächtnisses der Bürger, unter denen sich z. B. die Mittel der Stilisierung befinden.43 Als ein Beispiel dafür galten die Bemühungen darum, dem Andenken an die Opfer der Flugzeugkatastrophe von Smolen´sk, bei der im April 2010 der polnische Präsident Lech Kaczyn´ski und 95 andere Repräsentanten der polnischen Eliten ums Leben kamen, die Form eines Erinnerungsappells zu verleihen. Die Gedenkmärsche für die Opfer der Katastrophe, die jeden Monat von Mai 2010 bis 2018 in Warschau stattfanden, ähnelten einem regelmäßigen, feierlichen militärischen Ritus zu Ehren der Verstorbenen: Um 8 Uhr morgens begann der erste Gottesdienst, an dem Jarosław Kaczyn´ski und mehrere PiS-PolitikerInnen teilnahmen. Im Anschluss daran fuhren sie zum Friedhof Powa˛zki, wo unter das Smolen´sk-Denkmal Blumen gelegt wurden und am symbolischen Grab des Präsidentenpaares ein Gebet stattfand. Das abendliche Programm dieser Veranstaltungen fing ebenfalls mit einem Gottesdienst an, immer in der Johanneskathedrale in der Altstadt Warschaus. Darauffolgend wurde ein Demonstrationszug gebildet, an dem normalerweise 1 000 bis 3 000 Personen teilnahmen […] Zum Abschluss hielt Jarosław Kaczyn´ski eine feurige Rede.44
Der religiöse und ritualisierte Charakter der Gedenkmärsche ist einer Sakralisierung ähnlich: „Von den religiösen Riten gewinnen sie ihren Ernst; außerdem übertragen sie die Dinge, die religiös stilisiert werden, in die Domäne des Sac40 41 42 43 44
Ebd. https://www.slippery-slopes.de/erinnerungskultur-3/ [14. 02. 2021]. Vgl. Nijakowski, Die polnische Erinnerungspolitik, (Anm. 1), S. 29–30. Vgl. Bucholc, Anachronistische Wahrnehmungen, (Anm. 5). K. Schmidt: Polen im Griff des Smolen´sk-Mythos, 31. 12. 2018 [online]. http://www.demokratie -goettingen.de/blog/polen-im-griff-des-smolensk-mythos [11. 03. 2021].
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rums, der weder durch kritische Haltung noch durch rationales Verstehen erreichbar ist.“45 Diese sakrale Dimension bewirkte, dass sich die Partei jeder Kritik entziehen konnte, während sie dem Vorsitzenden eine starke Autorität verlieh.46 Ein bedeutender Aspekt der Stilisierung ist außerdem die von den PiS-Politikern gebrauchte Sprache. Im Falle des Parteivorsitzenden Jarosław Kaczyn´ski beobachtet man oft die Mischung von hohen Sprachregistern (dafür steht etwa das für die rechten Parteien emblematische Lexem Schande oder das poetische Zitat des Dichters Kornel Ujejski: „andere Satane waren dort am Werk“) mit direkt beleidigenden Ausdrücken wie z. B. „verräterische Fratzen“, mit denen die Vertreter der Opposition im Juli 2017 etikettiert wurden.47 Kennzeichnend ist zudem der übermäßige Gebrauch von unbestimmten Ausdrücken (gewisse, einige, irgendwelche) sowie von Anspielungen und Unterstellungen, was an den Kommunikationsstil aus der Zeit vor 1989 erinnert.48 Ein weiteres Mittel, das bei PiS-Vertretern im Bereich der Erinnerungspolitik oft zum Einsatz kommt, ist die Retusche, die in der Aufwertung von Personen besteht, was als Kompensation für die Jahre ihres Vergessens zu verstehen ist. So wurde beispielsweise der Rittmeister Witold Pilecki verehrt, denn die Erinnerung an seine Taten und sein Schicksal wurde bis 1989 durch das kommunistische Regime Polens unterdrückt. Pilecki war freiwillig in Gefangenschaft ins KZ Auschwitz gegangen und hatte dort die Widerstandsbewegung gegründet. 1948 wurde er durch ein Gericht der Volksrepublik Polen zum Tode verurteilt und kurz darauf hingerichtet. Die polnische Regierung organisierte sogar im Jahre 2016 die Nachstellung von Pileckis Hochzeit, die den Charakter eines Ereignisses von nahezu staatlicher Bedeutung bekam.49 Obwohl sich die PiS-Regierung so stark auf die Vergangenheit stützt, wird ihr vorgeworfen, dass sie solche Ereignisse verheimlicht, in denen die Polen als Täter wirkten. Ein solches Beispiel ist das Massaker an Juden in Jedwabne im Jahre 1941. Laut Skibin´ski sollten die dunklen Schrammen in der heldenhaften Vergangenheit der Polen durch ein entsprechendes „historisches Make-up“ vertuscht werden.50 Diejenigen Polen, die eine kritische Geschichte betreiben und
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Bucholc, Anachronistische Wahrnehmungen, (Anm. 5). Vgl. Schmidt, Polen im Griff des Smolen´sk-Mythos, (Anm. 44). Vgl. Bucholc, Anachronistische Wahrnehmungen, (Anm. 5). Vgl. A. Krzemin´ski: Lingua tertii rei publicae. Die Sprache und das Weltbild der PiS. In: „Osteuropa“ 66 (1–2) (2016), S. 119–129, hier S. 119f; Bucholc, Anachronistische Wahrnehmungen, (Anm. 5). 49 Vgl. R. Pawłowski: „S´lub Pileckiego“ z udziałem ministra kultury. Kto rekonstruuje wicepremiera Glin´skiego? In: „Gazeta Wyborcza“, 9. 05. 2016 [online]. https://wyborcza.pl/1,754 10,20042407,slub-pileckiego-pod-patronatem-minsterstwa-kto-rekonstruuje.html [23. 03. 2021]. 50 Vgl. Nijakowski, Polska polityka pamie˛ci, (Anm. 9), S. 201.
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auf verbrecherische Handlungen ihrer Landsleute51 verweisen, werden deshalb entweder als ausgesonderte Patrioten52 oder sogar als Verräter, Lügner und Heuchler bezeichnet. Die Entschuldigungen der Politiker, die im Namen der Nation abgelegt werden, werden überdies als nicht-demokratische Handlungen bezeichnet.53 Die PiS-Politiker argumentieren, dass sie sich nicht auf die schändlichen Taten der Polen und deren Schuld an begangenen Verbrechen konzentrieren, weil die Ereignisse aus der nationalen Geschichte in erster Linie einen Grund zum Stolz und nicht zur Schande darstellen sollten. Aus diesem Grunde sollte vor allem den Helden, die für die polnische Freiheit gekämpft hatten, vermehrte Aufmerksamkeit zuteil werden.
Schlussbemerkungen Der oben dargestellte Umriss der wichtigsten Wendepunkte in der polnischen Erinnerungspolitik verdeutlicht, dass die verschiedenen, unterschiedlich ausgerichteten Parteien seit 1989 ähnliche Mechanismen eingesetzt hatten, um das kollektive Gedächtnis der Bürger zu beeinflussen. Gemeint sind z. B. die instrumentelle Behandlung der polnischen Geschichte, die Gestaltung immer neuer Versionen der nationalen Vergangenheit oder die systematische Errichtung von Denkmälern. Die Erinnerungspolitik ist zweifellos für jede Nation erforderlich, um Stabilität, Ordnung und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu schaffen. Das kollektive Gedächtnis ist allerdings immer noch das Ergebnis aktueller Kräfteverhältnisse und Weltbilder. Die Politiker vergessen, dass die Erinnerungspolitik den Bürgern und dem Wohl der Nation und nicht einer Ideologie oder bestimmten Parteien dienen sollte. Die Erinnerungspolitik bedeutet in ihrem Sinne oft die Gestaltung des historischen Bewusstseins der Gesellschaft, um sie rund um bestimmte politische Programme zu vereinen. Deshalb sind in 51 Zu anderen Taten, die als dunkle Seiten der Nationalgeschichte eingestuft und in den Reden der Mitglieder der PiS und der Brüder Kaczyn´ski kaum erwähnt werden, gehören auch die polnische Kollaboration mit den Besatzern während des Zweiten Weltkrieges oder Vertreibungen der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten Polens nach 1945, vgl. ebd., S. 201–203. Vgl. auch: F. Hassel: Gute Polen, schlechte Polen. Wie Warschaus neue Regierung Medien und Kultur benutzt, um den Mythos von der ewigen Opfernation zu verbreiten. In: „Süddeutsche Zeitung“, 1. 12. 2015 [online]. http://www.sueddeutsche.de/kultur/wandel-in-der-kulturpoli tik-gute-polen-schlechte-polen-1.2762448 [18. 02. 2021]. 52 Patriotismus ist einer der leitenden Werte in der Erinnerungspolitik der PiS. Den Menschen sollte vermittelt werden, wie wichtig Polen und seine Vergangenheit sind, wie wichtig alle nationalen Feiern sind (auch wenn sie in der Volksrepublik Polen verboten waren), deshalb muss man sie mit Ehre würdigen, besonders den Warschauer Aufstand. 53 Besonders von der PiS wurde Aleksander Kwas´niewski kritisiert, der sich für die Verbrechen in Jedwabne entschuldigte, vgl. Nijakowski, Polska polityka pamie˛ci, (Anm. 9), S. 202; Bucholc, Anachronistische Wahrnehmungen, (Anm. 5).
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Zukunft Veränderungen erwünscht, damit die Erinnerungspolitik in Polen eine neue Form gewinnt. Zu diesem Zweck sollten die Inhalte der Erinnerung, die oft nur einen Bestandteil der aktuellen politischen Kampagne darstellt, nicht nur von Politikern festgelegt werden, sondern auf einem Dialog zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen beruhen. Als Hauptziel der Erinnerungspolitik in Polen sollte die Verbreitung des allgemeinen historischen Wissens gelten. Zur Verstärkung der nationalen Identität ist es wichtig, nicht nur an glorreiche Ereignisse zu erinnern, und dabei Heldentum und Patriotismus seines Volkes eindimensional zu betrachten. Die nicht aufgearbeiteten „weißen Flecken“ im kollektiven Gedächtnis der Polen, die die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und die deutsch-polnischen Beziehungen betreffen, sollten ebenfalls berücksichtigt werden, nicht deshalb, um die Schuldigen aufzufinden, sondern um aus der Vergangenheit zu lernen und um zu zeigen, dass auch die Polen und nicht nur andere Nationalitäten wie Deutsche oder Russen Schuld auf sich geladen haben. Alle solche Initiativen der Überlieferung des Wissens über die Geschichte müssen allerdings von Politikern unterstützt werden, weil die nationale Vergangenheit die Bürger nicht teilen, sondern konsolidieren sollte. Die Erinnerungspolitik in Polen wäre demnach nicht mehr als Mittel der Manipulation der geschichtlichen Tatsachen und der Mythologisierung der Geschehnisse zu betrachten, sondern sie sollte es ermöglichen, die hohen Ziele, wie die Erziehung der Gesellschaft, zu verwirklichen.
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Summary Changes of the Polish Remembrance Policy after 1989 In many states, a remembrance policy is one of the more important policies pursued by the authorities. What is more, historical arguments are an essential component in the programmes of the majority of political parties. The article aims to analyse the development trends in the Polish remembrance policy since 1989. The author puts emphasis on answering the following question: how was the Polish past perceived by consecutive governments after the political system transformation. Moreover, he describes the mechanisms for shaping an organized collective memory, used throughout various periods of Poland’s history in order to influence Poles’ historical awareness and thereby achieve desired political goals. Keywords: remembrance policy, history, past, Poles, collective memory, political parties, conservatives, liberals
Magdalena Popławska (Schlesische Universität in Katowice)
Im Spagat zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Polenbild mit den Augen der Enkelgeneration in Sabrina Janeschs Roman Katzenberge
Tendenzen in der deutschen Literatur nach 1989 Im Jahr 1989 zeichnete sich in ganz Europa eine wirtschaftliche, soziale und politische Wende ab. Infolge des Zusammenbruchs der bisher geltenden politischen Systeme vollzogen sich schnelle Umwälzungen in sehr unterschiedlichen Bereichen. Auch das Kulturleben unterlag dem Transformationsprozess: Die Neuorientierung ließ sich nicht zuletzt auch im Literaturbetrieb bemerken.1 Die Autorinnen und Autoren äußerten sich in ihren Texten zu den fundamentalen Änderungen der sie umgebenden Wirklichkeit. Es wurden außerdem andere Motive aufgegriffen, zu denen Identitätsfrage, soziale Beziehungen, europäische Integration oder die Abrechnung mit der Geschichte zählten. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit implizierte eine Vielfalt von heiklen Fragen, die nicht nur auf das kollektive Gedächtnis, sondern auch auf Vertreibungen oder Migration und die damit verbundenen Gefühle der Fremdheit, Andersheit und Einsamkeit rekurrierten.2 Während die Wendeliteratur, deren Begriff in Bezug auf 1990er Jahre angewandt wird, als „Augenzeugin, Zeitgenossin, Teilhaberin, Akteurin“ erfasst wird und „von einer direkter Bertoffenheit [der] Autoren […] geprägt“ ist3, zeichnen sich die Texte der Nachwendeliteratur, also der nach 2000 geschaffenen Literatur, durch eine Art Retrospektion aus, die es den Autoren ermöglichte, mit einem gewissen Zeitabstand die vergangenen Ereignisse zu veranschaulichen.4 Zu Wort kam die neue Generation der Schriftsteller, die auf eine zeitlich distanzierte Weise die Vergangenheit thematisierte und besonderes Interesse an der verlo1 Vgl. M. Wolting, W. Browarny: Wprowadzenie. In: Opcja niemiecka. O problemach z toz˙samos´cia˛ i historia˛ w literaturze polskiej i niemieckiej po 1989 roku, hrsg. v. M. Wolting, W. Browarny. Kraków 2014, S. 5–7, hier S. 5f. 2 Vgl. ebd., S. 5ff. 3 A. Born: Literaturgeschichte der deutschen Einheit 1989–2000. Fremdheit zwischen Ost und West. Hannover 2019, S. 26f. 4 Vgl. ebd., S. 26.
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renen Heimat, Flucht, Zwangsumsiedlungen oder Reise in die verlorenen Gebiete zeigte; aufgrund dessen weisen ihre Texte in vielen Fällen Merkmale der Erinnerungsliteratur auf.5 Die Literatur der dritten Generation, also der so genannten „Enkelgeneration“, steht im Gegensatz zur Vätergeneration, deren Ziel es war, die Schuld der ersten, am Krieg teilnehmenden Generation6 zuzuschieben und sie als Täter zu entlarven. Die Enkelgeneration schlägt in ihren Texten einen anderen Weg ein und verfolgt die Absicht, durch die Aufarbeitung der Erinnerungen ihrer Großväter und Großmütter die Geschichte zu verstehen und eigene Identität zu bestimmen.7 Die 1989 herbeigeführte politische Wende ermöglichte es, die Geschichte aus einem erweiterten Blickwinkel zu betrachten, was zu öffentlichen Debatten führte, zumal die historischen Ereignisse oft nicht entsprechend öffentlich gemacht, verschwiegen oder vollkommen abgelehnt wurden.8 In der literarischen Diskussion wagte man sogar, deutsche Leiden und Vertreibungen der deutschen Bürger zu exemplifizieren.9 Zu den Vertretern der so genannten Enkelgeneration gehört zweifelsohne Sabrina Janesch. Diese 1985 im deutschen Gifhorn als Tochter einer Polin und eines Deutschen geborene Schriftstellerin erzeugt in ihrem Debütroman Katzenberge (2010) eine Verflechtung von Motiven wie Flucht, Zwangsumsiedlungen, Trauma und Identitätsbestimmung.10 Janesch verfolgt in ihrem Werk die Spur des historischen und gesellschaftlichen Wandels in Polen, ohne die Schuldfrage in der Vergangenheit aufzuwerfen.11 Nach dem Tod des Großvaters der Hauptfigur – Nele Leipert – unternimmt die Protagonistin eine Reise nach Galizien, um der Familiengeschichte auf den Grund zu gehen. Während der Exkursion werden ihre Vorstellungen von der verlorenen Heimat ihrer Großeltern mit der Realität konfrontiert. Der Zusammenstoß mit der polnischen Wirklichkeit ermöglicht der Figur, sich nicht nur mit polnischen Landschaften 5 Vgl. A. Burdziej: Utracony Heimat. Pamie˛´c rodzinna a toz˙samos´c´ „niemieckich wnuków“ we współczesnej prozie niemieckiej. Torun´ 2018, S. 13f., 23. 6 Die erste, also die betroffene Generation schilderte in ihren Texten Gefühle, Erfahrungen und Traumata nach der Teilnahme am Krieg. Mehr dazu: vgl. ebd., S. 23f. 7 Vgl. ebd., S. 14ff., 24ff. 8 Vgl. M. Wolting: Rozliczenie z przeszłos´cia˛ jako aspekt nowych niemieckich poszukiwan´ toz˙samos´ci. In: Opcja niemiecka. O problemach z toz˙samos´cia˛ i historia˛ w literaturze polskiej i niemieckiej po 1989 roku, hrsg. v. M. Wolting, W. Browarny. Kraków 2014, S. 105–120, hier S. 107. 9 Vgl. Burdziej, Utracony Heimat, (Anm. 5), S. 13f. 10 Der Roman wurde in Deutschland hochgeschätzt und meist positiv rezensiert. Vgl. Pressestimmen zu „Katzenberge“ [online]. http://www.sabrinajanesch.de/werke/katzenberge/pres sestimmen-zu-katzenberge [15. 03. 2021]. 11 Vgl. W. Wagner: Literarische Grenzüberschreitungen im „unheimlichen“ deutsch-polnischen Raum. Untersuchungen zu Sabrina Janesch, Andrzej Stasiuk und Artur Becker. Dresden 2017 [online]. https://d-nb.info/115294312X/34 [1. 03. 2021], S. 132.
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oder Bräuchen, sondern auch mit der polnischen Bevölkerung vertraut zu machen. Vor diesem Hintergrund wird in diesem Beitrag der Frage nachgegangen, wie Janesch sich mit der Geschichte der Vertriebenen auseinandersetzt und sie (re)konstruiert. Dabei stehen Erinnerungsorte sowie ihre bedeutungstragende und identitätsbestimmende Funktion im Fokus. Darüber hinaus wird der Versuch unternommen, das gegenwärtige Bild Polens zu veranschaulichen.
Galizien und Schlesien als Erinnerungsorte aus der Perspektive der Enkelin Der Roman Katzenberge spiegelt die nach dem Zweiten Weltkrieg bestehenden Verhältnisse wider, als die Menschen gezwungen waren, die von ihnen bewohnten Regionen zu verlassen. Ein solches Schicksal teilte auch Familie Janeczko, die in den Gebieten der ehemaligen Kresy Wschodnie ansässig war. An dieser Stelle darf nicht übersehen werden, dass es im Roman von autobiographischen Bezügen nur so wimmelt, die sich vor allem auf die Hauptfigur – Nele Leipert – beziehen: Auf den ersten Blick weist sie viele Gemeinsamkeiten mit der Schriftstellerin auf und wird als ihr Alter Ego kreiert.12 Außerdem wurden ihre Vorfahren aus Wolhynien (heute in der westlichen Ukraine) nach Schlesien zwangsumgesiedelt.13 Besondere Aufmerksamkeit gebührt den persönlichen Reminiszenzen des Großvaters – Stanisław Janeczko –, die in den Plot eingebunden werden und dank denen es möglich ist, die Ereignisse aus dessen Vergangenheit zurückzurufen: Hinter den Kulissen der Familiengeschichte werden das Pogrom (1943– 1945) in Wolhynien in der heutigen Ukraine und die Zwangsumsiedlungen nach dem Zweiten Weltkrieg verschleiert.14 Der polnisch-ukrainische Konflikt in Wolhynien löst Familientraumata aus und besiegelt das Schicksal der Familie, die infolgedessen ihre vertraute Heimat verlassen und sich in Schlesien ansiedeln muss, in einem bisher unbekannten und mit Deutschland assoziierten Raum, was von ihr als befremdend und beunruhigend empfunden wird.15 Die Familienge-
12 Vgl. Burdziej, Utracony Heimat, (Anm. 5), S. 112. 13 Vgl. Wójcik N., Szaniawska-Schwabe M.: Powies´c´ „Katzenberge“: Historia wype˛dzen´ po polsku, 16. 11. 2010 [online]. https://www.dw.com/pl/powie%C5%9B%C4%87-katzenbergehistoria-wyp%C4%99dze%C5%84-po-polsku/a-6234275-1 [30. 03. 2021]. 14 Vgl. M. Baran-Szołtys: (Re-)Visionen von Galizien: Transgenerationale Reisenarrative zwischen Wiederentdeckung, Rekonstruktion und Imagination. In: „Studia Litteraria Universitatis Iagellonicae Cracoviensis“ 10, 1 (2015), S. 1–14, hier S. 6f. 15 Vgl. M. Ratajczak: Zur literarischen Repräsentation des generations- und regionalspezifischen Charakters der Kriegserinnerung in den Texten von Sabrina Janesch und Ulrike Draesner. In: Germanistische Forschung in Polen. Gegenstände und Methoden. Formen und Wirkungen,
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schichte, die mit Leiden behaftet war, wird zu einem Bindeglied zwischen der ersten und der dritten Generation, also zwischen Großeltern und Enkelkindern. Nele wird zur treuen Zuhörerin ihres Großvaters und lechzt nach seinen Geschichten, die vor allem auf die Vergangenheit der Familie rekurrieren. Dabei wird dem kommunikativen Gedächtnis ein besonderes Gewicht beigemessen: Sein fester Bestandteil sind Erinnerungen des Großvaters – des Zeitzeugen –, während der Interaktionen kann der Austausch von Erfahrungen, Gefühlen und Erinnerungen vollzogen werden,16 obwohl diese per se subjektiv sind und Rekonstruktionen der Vergangenheit widerspiegeln.17 Dank der direkten Kommunikation können sowohl Nele als auch ihr Großvater die historischen Ereignisse „nicht nur vergegenwärtig[en], sondern auch gemeinsam rekonstruier[en].“18 Die Reminiszenzen des ältesten Familienmitglieds stellen dabei „ein aussagekräftiges Indiz für die Bedürfnisse und Belange der Erinnernden in der Gegenwart“ dar.19 Das „Drei-Generationen-Gedächtnis“, das hier zum Vorschein kommt und dessen Zeitspanne meistens 80 bis 100 Jahre beträgt20, erstreckt sich in diesem Fall auf die Generation des Zeitzeugen und seiner Enkelin. Die Erinnerungen oder Erfahrungen des Angehörigen prägen zwar die Identität der Familie, eine besondere Bedeutung kommt aber auch dem kulturellen Gedächtnis zu, das in vielen Facetten erscheint und sich auf den Kulturnachlass oder Riten, Bräuche bzw. Malereien bezieht21 und dank der Beständigkeit erhalten bleibt.22 In
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hrsg. v. E. Z˙ebrowska, M. Olpin´ska-Szkiełko, M. Latkowska. Warszawa 2017, S. 255–266, hier S. 256. Vgl. A. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006, S. 25. Vgl. A. Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart 2017, S. 6. M. Roth: Sprache als Erinnerungstopos. Der Kampf um die albanische Schrift und die albanischsprachige Schulbildung. In: Erinnerungsorte und Erinnerungskulturen. Konzepte und Perspektiven für die Sprach- und Kulturvermittlung, hrsg. v. J. Roche, J. Röhling. Baltmannsweiler 2014, S. 118–131, hier S. 118. Vgl. Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, (Anm. 17), S. 6f. Vgl. Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit, (Anm. 16), S. 26. Vgl. dazu auch: Burdziej, Utracony Heimat, (Anm. 5), S. 68. Vor diesem Hintergrund lässt sich feststellen, dass, wie Jan Assmann behauptet, Gedächtnis ermöglicht, „[das] Erlebt[e] […] zu behalten.“ Dagegen gilt bei ihm die Erinnerung als „Akt, sich im Gedächtnis Gespeichertes bewusst zu machen.“ J. Assmann: Gedächtnis/Erinnerung. In: Lexikon der Geisteswissenschaften. Sachbegriffe – Disziplinen – Personen, hrsg. v. H. Reinalter, P.J. Brenner. Wien (u. a.) 2011, S. 233– 238, hier S. 233. Während das individuelle Gedächtnis sich auf das Individuum und seine Erinnerungen bezieht, steht das kollektive Gedächtnis als sein Gegenbild für „den Oberbegriff für all jene Vorgänge biologischer, psychischer, medialer und sozialer Art, denen Bedeutung bei der wechselseitigen Beeinflussung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in kulturellen Kontexten zukommt.“ Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, (Anm. 17), S. 5. Vgl. J. Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Kultur und Gedächtnis, hrsg. v. J. Assmann, T. Hölscher. Frankfurt am Main1988, S. 9–19, hier S. 12.
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diesem Zusammenhang nimmt das kulturelle Gedächtnis Bezug auf den Raum, zumal dieser oft als Bedeutungsträger gilt und für Gesellschaften von Belang ist.23 Daraus lässt sich ableiten, dass Galizien nicht nur in den Augen des Großvaters, sondern auch der Enkelin, die Gestalt eines Erinnerungsortes annimmt. Als Erinnerungsort bezieht es sich ebenfalls auf einen Raum, der als ein gewisses Bindeglied für die Gruppe fungiert, ihre Identität bestimmt, Geschichte ihres Landes prägt und ihr Gedächtnis kristallisiert und verkörpert.24 Der Raum versinnbildlicht die Vergangenheit, wobei Galizien und Schlesien „einen Gegenwartsbezug“ haben: Sie sind zwar nicht durch Erinnerungszeichen wie Denkmäler oder Mahnmale verewigt,25 sie weisen jedoch Züge der deutschen und polnischen Kultur auf, die sich unter anderem in ihrer jeweiligen Bauweise offenbaren. Ihre Symbolik der Vergangenheit bietet den Bewohnern die Möglichkeit, ihre Identität zu finden26, wobei die „emotionale Bindung an diesen Ort“27 den Alltag der Betroffenen beeinflusst. Die Erinnerungen des Großvaters spielen eine maßgebliche Rolle: Sie prägen Neles Einstellung zu Polen. Das Land erscheint als ein Ort mit eigener Geschichte: Trotz des tragischen Schicksals der Familienmitglieder werden die historischen Ereignisse der Vergangenheit zugeordnet. Neles Interesse wecken aber nicht nur die Erzählungen ihres Opas, sie ist auch von den Bräuchen und der galizischen Kultur fasziniert. Die Geschichte der Familie setzt in der Ortschaft Z˙dz˙ary Wielkie (heutiges Zastavne in der Westukraine) ein; in den Vorstellungen der Enkelin erscheint Galizien als ein polykultureller Raum, weil die Polen keine homogene Gruppe darstellten: Dort waren außerdem noch Ukrainer ansässig, deshalb wurde Galizien zu einem Gebiet, in dem die Bewohner friedlich koexistierten. Die bestehende Idylle führte zur gegenseitigen Einflussnahme, die durch Mischehen und Singen sowohl ukrainischer als auch polnischer Lieder bekräftigt wurde: „[…] so lebten in Z˙dz˙ary Wielkie auf kleinstem Raum Polen
22 Vgl. Roth, Sprache als Erinnerungstopos, (Anm. 18), S. 119. 23 Vgl. P. Nora: Les lieux de mémoire. Paris 1992, S. 20. Zit. nach: U. Koreik, J. Roche: Zum Konzept der „Erinnerungsorte“ in der Landeskunde für Deutsch als Fremdsprache – eine Einführung. In: Erinnerungsorte und Erinnerungskulturen. Konzepte und Perspektiven für die Sprach- und Kulturvermittlung, hrsg. v. J. Roche, J. Röhling. Baltmannsweiler 2014, S. 9–27, hier S. 10. 24 Vgl. Ch. Hintermann, D. Rupnow: Orte, Räume und das Gedächtnis der Migration. Erinnern in der (post)migrantischen Gesellschaft. In: „Mitteilungen der Österreichischen Geographischen Gesellschaft“ 158 (2016), S. 59–83, hier S. 73. 25 Vgl. ebd., S. 74f. 26 Vgl. Koreik, Roche, Zum Konzept der „Erinnerungsorte“, (Anm. 23), hier S. 10. 27 D. Reimann: Erinnerungskulturen und Transkulturalität am Beispiel der romanischen Sprachschulen (Französisch, Spanisch, Italienisch). In: Erinnerungsorte und Erinnerungskulturen. Konzepte und Perspektiven für die Sprach- und Kulturvermittlung, hrsg. v. J. Roche, J. Röhling. Baltmannsweiler 2014, S. 28–58, hier S. 32.
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und Ukrainer eng beieinander und sprachen beide Sprachen“28 (KB, S. 254). Galizien verkörpert also von Anfang an einen mythologisierten Ort, der die nationale Identität bestimmt, von Natur her dem Paradies ähnelt und das Gefühl der emotionalen Geborgenheit vermittelt.29 Die wahrgenommene Verherrlichung Galiziens ist insbesondere auf seine Landschaften und die herrschende Harmonie zurückzuführen: Die ländliche, friedliche Natur evoziert in den polnischen Einwohnern das Gefühl der Vertrautheit und fördert die Symbiose mit den Ukrainern.30 Gerade wegen dieser Lebensauffassung wird der Ofen für den wichtigsten Ort im Haus gehalten, um den herum das Familienleben seinen Lauf nimmt, was Widerspiegelung in der galizischen Bauweise findet, weil „[…] man immer mit dem Ofen [begann], seine Mauern waren die genauesten und stabilsten, die Kacheln sein unverwechselbares Gesicht“ (KB, S. 64).31 Ungeachtet des Idyllischen hat Galizien in den Vorstellungen der Hauptfigur einen Makel: „kein fließend[es] Wasser und schon gar keinen Boden aus Holz, wie die deutschen Häuser einen hatten“ (KB, S. 44). Diese Tatsache wird von Nele für ein Zeichen von zivilisatorischer Unterentwicklung gehalten. Das Bild des idyllischen Galiziens wird durch die magischen Kräfte der Region abgerundet: Dank den Erinnerungsinhalten des Opas erdenkt sich Nele einen Raum, der mit übernatürlichen Phänomenen versehen ist. Der Glaube an Dämonen und Bestien bildet einen wesentlichen Teil der galizischen Kultur. Die Außergewöhnlichkeit bekräftigen der Volksaberglaube und das Zauberische, weil Galizien als ein Land gilt, „wo Geister, Dämonen, Teufel, Hexen und Waldfeen ihr Unwesen treiben“ (KB, S. 71). Diese kulturellen Elemente werden als Teil nationaler Identität betrachtet und manifestieren die Verbundenheit der Einwohner mit der Heimat.32 Ohne die Erinnerungen des Großvaters wäre Nele nicht im Stande gewesen, den Ablauf und die Dimension der gewalttätigen Übergriffe gegen die Polen abzubilden. Die Wiedergabe des Pogroms weist auf die Traumata der Menschen hin und spiegelt ihr tragisches Schicksal wider. Das Ausmaß des Mordverbre28 S. Janesch: Katzenberge. Berlin 2014, S. 254. Beim Zitieren wird im laufenden Text die Seitenangabe mit der Sigle KB in Klammern angegeben. 29 Vgl. M. Borzyszkowska-Szewczyk: Die Postmemory-Generation(en) auf der Suche nach dem Selbst. Sabrina Janeschs Katzenberge und Petra Reskis Ein Land so weit [online]. https:// www.andrassyuni.eu/docfile/de-1971-1vortrage-der-konferenz-identitat-migration-internat ionalitat-am-24-25-november-2016.pdf [1. 03. 2021], S. 8ff; Ratajczak, Zur literarischen Repräsentation, (Anm. 15), S. 255. 30 Mehr zu diesem Thema: A. Palej: Fließende Identitäten. Die deutsch-polnischen Autoren mit Migrationshintergrund nach 1989, Kraków 2015, S. 196ff; Baran-Szołtys, (Re-)Visionen von Galizien, (Anm.14), S. 11. 31 Auf die besondere Funktion des Ofens weist M. Baran-Szołtys hin. Vgl. Dies., (Re-)Visionen von Galizien, (Anm.14), S. 9f. 32 Vgl. Palej, Fließende Identitäten, (Anm. 30), S. 34f, 196ff.
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chens intensivieren die apokalyptischen Merkmale, wie „[der] Geruch des Todes [über den Feldern]“ (KB, S. 240) oder „Rauchsäule im Himmel“ (KB, S. 240). „Das Verderben, [das] gelauert“ (KB, S. 240) hat, initiierte „das Blutbad“ (KB, S. 239) und symbolisierte die vollkommene Vernichtung, zumal „im Osten, sagen sie, […] die Welt zu Staub und Asche [zerfällt]“ (KB, S. 158).33 Diese grauenvolle Vision der historischen Ereignisse ermöglicht es der Hauptfigur nicht nur, die Geschichte der Familienmitglieder, sondern auch ihr Leiden zu verstehen. Durch die Schilderung der blutigen Vorkommnisse wird sich Nele dessen bewusst, dass die Rückkehr nach Galizien für die Familienmitglieder für immer versperrt blieb und die Zwangsumsiedlung nach Schlesien eine neue Lebensalternative darstellte, obwohl sie nicht gewollt war. Die Reminiszenzen des Großvaters beziehen sich nicht nur auf seine galizische Heimat, sie spiegeln auch das ehemalige, deutsche Schlesien wider und lassen damit das stark mit Galizien kontrastierende Bild dieses Raums erscheinen. Der ehemalige deutsche Besitz kristallisiert sich als ein Ort heraus, dessen besondere Eigenart schon in der Bauweise auf dem Bahnhof in Wrocław bemerkbar war, zumal sein imposantes Gebäude zum Symbol „eine[r] Welt aus Stahl und Beton“ (KB, S. 25) wurde. Der „[…] [fremde] Geruch von Beton und Verbranntem“ (KB, S. 29) verstärkt die polnische Voreingenommenheit gegen Schlesien, das den Ostpolen immer gefährlich erschien, weil „[…] es so weit entfernt ist“ (KB, S. 180). Das ehemalige deutsche Gebiet macht in den Vorstellungen der Hauptfigur den Eindruck einer modernen und ordentlichen Region, wobei Galizien eher rückständig, idyllisch und naturgetreu geschildert wird und daher „[…] eine Welt [ist], die mit Schlesien nichts gemein [hat]“ (KB, S. 71). Die Protagonistin betont in ihrer Darstellung beider Orte die Polarität der so extrem unterschiedlichen Welten und legt den Fokus auf die schlesische und galizische Architektur, zumal ostpolnische und deutsche Regionen kaum Gemeinsamkeiten aufweisen34: Die verputzten Backsteinhäuser ähnelten einander, als hätten die Bauern sie nach demselben, akkuraten Plan gebaut und in immer gleichen, genau ausgemessenen Abständen voreinander aufgestellt. In Galizien hatten die Häuser alle unterschiedlich ausgesehen (KB, S. 44).
Damit wird ehemaliges deutsches Schlesien als Inbegriff von Moderne, Fortschritt und sogar Disziplin kreiert, was dem folgenden Zitat zu entnehmen ist: „So gründlich musste der Eifer der deutschen Bauer gewesen sein, dass nicht 33 Vgl. Burdziej, Utracony Heimat, (Anm. 5), S. 188. 34 Auf die Unterschiede in der Darstellungsweise beider Räume – Schlesien und Galizien – sowie deren Wahrnehmung verweisen: Palej, Fließende Identitäten, (Anm. 30), S. 193ff; BaranSzołtys, (Re-)Visionen von Galizien (Anm. 14), S. 10ff; Borzyszkowska-Szewczyk, Die Postmemory-Generation(en), (Anm. 29), S. 11ff.
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einmal der Krieg die Ordnung der Felder hatte zerstören können: Wie mit dem Lineal waren die Kanten gezogen“ (KB, S. 33f). Gravierende Unterschiede, die sich besonders markant in der Architektur und Umgebung beider Regionen abzeichnen, heben die deutsche Pedanterie hervor, indem aufgeräumte Felder, „makellose und schnurgerade Wände“ (KB, S. 103) und schlesische Erde, die „feinkörnig, locker, steril“ (KB, 40) ist und „kein[en] Wurm, kein[en] Käfer, kein[en] Engerling[…]“ (KB, S. 40) enthält, im Kontrast zu bisher bekanntem urbarem Land in Galizien stehen, dessen „Schilfdächer […] fast bis auf den Boden hinunter gereicht und die ungleichmäßig behauenen Steine verdeckt [hatten]“ (KB, S. 103). An dieser Stelle deckt die Hauptfigur zugleich die deutschen, zivilisatorischen Errungenschaften auf und entblößt damit Dichotomien zwischen Deutschen und Ostpolen, was auf kulturelle Codes beider Nationen zurückzuführen ist.35 Wertvorstellungen, Symbole, Bilder oder andere kulturelle Elemente verleihen beiden Kulturen ihre eigenartige Dimension.36 Sowohl Schlesien als auch Galizien wird in Neles Vorstellungen der Status des Erinnerungsortes zugewiesen. Beide erscheinen als transnationale und polykulturelle Räume, obwohl sie stark voneinander abweichen.37 Dank den Erinnerungen ihres Opas stellt die Protagonistin eine eigene Vision des vergangenen Polens dar, das einerseits Kresy Wschodnie, also seine Ostgebiete verloren, und andererseits Westgebiete, wiedergewonnen hat. Die (Re)Konstruktion der Geschichte bezieht sich somit auf die polnische und deutsche Vergangenheit, weil viele Deutsche gezwungen waren, ihre Häuser in Schlesien zu verlassen, den Polen hat man dagegen „neue kleine Heimat“ aufgedrängt.38
Gegenwärtiges Polenbild – Symbol für Harmonie oder Land der Rückständigkeit? Während des Aufenthalts in Polen entwirft Nele Leipert ein subjektives Porträt von Schlesien, Galizien und Wydrza, wobei sie sich vor allem auf Erinnerungen ihres Großvaters stützt und den Versuch unternimmt, alle Regionen mit der großväterlichen Vision zu vergleichen. Das erste Gebiet, das bei ihr auftaucht, ist Schlesien, zumal es ihr vertraut vorkommt und viele Gemeinsamkeiten, insbesondere in Bezug auf die Architektur, mit Deutschland aufweist: „Auf dem Bahnhof von Oborniki empfing mich der vertraute Anblick von Backsteinbauten, 35 Vgl. ebd. 36 Vgl. A. Leskovec: Einführung in die interkulturelle Literaturwissenschaft. Darmstadt 2011, S. 95. 37 Vgl. Wagner, Literarische Grenzüberschreitungen, (Anm. 11), S. 184. 38 Vgl. Burdziej, Utracony Heimat, (Anm. 5), S. 276ff.
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von denen der Putz Jahr für Jahr mehr freigab; die roten Ziegelsteine darunter klafften wie Wunden im grauen Fleisch“ (KB, S. 31). Schlesien ruft bei der Hauptfigur nur positive Assoziationen hervor, versinnbildlicht Geborgenheit und wird stets in Verbindung mit ihrem Großvater gebracht, was sie folgendermaßen konstatiert: „Schlesien war Großvater, Großvater war Schlesien, und Schlesien, mit Großvater, tot“ (KB, S. 16). Obwohl in diesem Raum die Spuren des vor über 60 Jahren hinterlassenen deutschen Nachlasses wie Inschriften oder Bauten zu erkennen sind, betrachtet die junge Frau Schlesien ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Anwesenheit ihrer Familie, die wegen der Unüberwindbarkeit der eigenen Lage in der Vergangenheit dazu veranlasst wurde, sich an diesen Raum zu gewöhnen.39 Inspiriert durch die Erinnerungen ihres Großvaters nimmt sie im gegenwärtigen Schlesien galizisches und schlesisches Kulturerbe wahr: Die Rekonstruktion und Wiedergabe von galizischen Kulturelementen auf schlesischem Boden finden ihre Entsprechung nicht nur in den Traditionen, sondern beziehen sich auch auf die Umgestaltung der Kleinarchitektur. Diese Maßnahmen ermöglichten den Neuankömmlingen, sich nach einer gewissen Zeit mit Schlesien zu identifizieren, das aber nicht zu einer neuen Heimat werden sollte.40 Das Mythologisieren oder sogar die Verherrlichung Galiziens erlaubt Janeczko seine Erinnerungen an Galizien immer wachzuhalten, nichtsdestotrotz ist er mit seinem Schicksal einverstanden.41 Das Vorkriegsschlesien existiert jedoch nicht mehr, die neuen Bewohner waren sich nicht sicher, wie lange sie in neuen Gebieten wohnen können, was die Hauptfigur mehrmals betont.42 Schlesien sollte den galizischen Polen zwar die verlorene Heimat ersetzen, als „neue kleine Heimat“ dienen, die Entwurzelung der Familienmitglieder und ihr Heimweh ließen sich jedoch in den Erinnerungen des Großvaters erkennen. Die Wiedergewinnung der verlorenen Heimat kommt erst zustande, als Stanisław Janeczko von deren Verlust erzählt und mit seiner Enkelin auf die Geschichte zurückblickt.43 Der durch den Tod von dem Großvater ausgelösten Reise in den Osten Polens und in die Ukraine kommt ein wichtiger Stellenwert zu: Ihr wird nicht nur eine topographische, sondern auch eine metaphysische Dimension verliehen.44 Die Protagonistin geht den Spuren der familiären Geschichte und der eigenen Her39 40 41 42 43
Vgl. ebd., S. 114. Zu diesem Thema äußert sich Palej, Fließende Identitäten, (Anm. 30), S. 195ff. Vgl. Borzyszkowska-Szewczyk, Die Postmemory-Generation(en), (Anm. 29), S. 8ff. Vgl. Burdziej, Utracony Heimat, (Anm. 5), S. 219. Vgl. M. Zduniak-Wiktorowicz: Ziemie utracone – na nowo. In: „Ziemie Odzyskane“. W poszukiwaniu nowych narracji, hrsg. v. E. Kledzik, M. Michalski, M. Praczyk. Poznan´ 2018, S. 31– 62, hier S. 55. 44 Vgl. Burdziej, Utracony Heimat, (Anm. 5), S. 83, 222.
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kunft nach. Nele Leipert beschließt, sich in Wydrza, im südöstlichen Polen, aufzuhalten, also in einem Dorf, das der Übertrittspunkt auf der Reise ihrer Großeltern nach Westen war. An dieser Stelle erfährt die Hauptfigur eine große Enttäuschung, weil ihre Vorstellungen sich nicht mit der Wirklichkeit decken: „Malerisch hatte ich mir Ostpolen vorgestellt, unverfälscht, verzaubert. In Wirklichkeit war es nass, dreckig und fremd“ (KB, S. 196). Die Protagonistin überkommt das Gefühl der Fremdheit, der Nicht-Zugehörigkeit zur Umgebung. Die fehlende Geborgenheit wird erst in der Ukraine, im ehemaligen Z˙dz˙ary Wielkie, durch innere Ruhe und Stille ersetzt: „Ich horchte in mich hinein, aber da war: Stille“ (KB, S. 249). Der Ort wird für Inbegriff der inneren Entwicklung und bestimmt ihre Identität.45 Trotz der langen Reise spürt sie eine tiefe Verbundenheit mit Zastavne, also mit einem Ort „[…] am Bug, in dem man als Kind den Fröschen das Sprechen beibringen konnte, im Herbst sich in Astgabeln verstecken […] ließ […]. In den Wäldern gab es Steinpilze, so groß, dass, wer es schaffte, sie vom Humusboden abzuernten, sie als Regenschirme geschultert nach Hause tragen konnte […]“ (KB, S. 253f). Erkannte „filigrane Malereien“ (KB, S. 246) und der bekannt vorkommende Wald festigen ihre Überzeugung, dass sie sich am richtigen Platz befindet und zwar in der Heimat ihrer Großeltern, zumal der Raum ihr magisch erscheint und den Erinnerungen ihres Großvaters entspricht. Trotz der mittlerweile fortschreitenden Veränderungen skizziert sie eine Landschaft, deren Charme noch heute eine besondere Ausstrahlung besitzt und es Nele erlaubt, ihre Identität zu konstituieren. Dank dessen entdeckt sie nicht nur ihre Abstammung, sondern entwickelt sich auch geistig, zumal „das hier […] definitiv nicht das Ende der Welt [ist]. Das hier ist ihr Anfang“ (KB, S. 247).46 Der Roman Katzenberge hebt noch einen anderen wichtigen Aspekt hervor und legt damit den Fokus auf die polnische Gesellschaft: Nele Leipert versetzt sich in die Rolle des Beobachters und macht sich ein Bild von den sie umgebenden Menschen. Der Ausflug in den Osten bietet ihr die Möglichkeit, Polen und ihre Verhaltensweise zu betrachten. Auf den ersten Blick lässt sich jedoch ihre schematische Vorgehensweise bemerken: Die klischeehafte Schilderung schließt die neutrale Einstellung zu Land und seinen Einwohnern aus, die Protagonistin geht nicht über die mitgebrachten Stereotypen hinaus und beurteilt alle nach den Schablonen, was die polnische Wirklichkeit als Inbegriff von Kitsch erscheinen lässt.47 Aus diesem Grund verwundert es nicht, dass sie auf dem Weg ins ehemalige Galizien auf eine unhöfliche Beamte und einen betrunkenen Busfahrer stößt oder Bauern in Kraków für unpassend gekleidet hält: 45 Vgl. ebd., S. 98. 46 Vgl. ebd., S. 212. 47 Vgl. ebd., S. 228f.
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Zwischen den Leuten konnte man einige Bauern erkennen, die sich nicht die Mühe gemacht hatten, sich für ihren Besuch in der Stadt als Städter zu verkleiden. Ihre gewalkten Mäntel reichten ihnen bis weit über die Knie, einige trugen dunkelgrüne Galoschen, aus denen Wollsocken herausschauten (KB, S. 163).
Die dominierenden Vorurteile prägen die Anschauungen der Hauptfigur, wobei es nicht übersehen werden darf, dass alle im Roman auftretenden Nationen mit bestimmten Eigenschaften versehen werden.48 Der betrunkene Busfahrer scheint jedoch alle klischeehaft zugeschriebenen Merkmale aufzuweisen: Er verhält sich nicht nett und tendiert dazu, ein eifriger Katholik zu sein, wofür „Heiligenbildchen und […] eine Rosenkranz-Girlande“ (KB, S. 163) im Bus ein Beleg sind. Sein Aussehen und Verhalten entlarven die Laster der polnischen Gesellschaft, die zum Alkohol neigt und über fehlenden Geschmack verfügt: „Sein Atem roch nach Wodka, er trug einen sehr langen Schnurrbart und – einen rot-weißen Wollpulli mit Zopfmuster“ (KB, S. 163f). Eine positive Überraschung erfährt sie hingegen in Wydrza, weil ihre Vorstellungen von den in diesem Gebiet wohnenden Menschen realitätsfern sind: „Kurz überlegte ich, ob ich enttäuscht war, Wydrza lag schließlich im östlichen Ostpolen, da hätte man erwarten können, dass wenigstens die Frauen noch bestickte Westen und Wollröcke anzogen“ (KB, S. 178). Die Überzeugung darüber, dass Volkstrachten im 21. Jahrhundert im Osten noch getragen werden, verweist auf die von der Protagonistin angewandten Verallgemeinerungen. Die Probleme mit dem Netzempfang oder fehlende Akzeptanz für andere Ernährungsweisen werden als Rückständigkeit angesehen, während die polnische Gesellschaft für gastfreundlich und sympathisch gehalten wird. Ihre Spontaneität und Aufgeschlossenheit unterscheiden sie stark von den Deutschen.49 Somit erscheint Polen teilweise als rückschrittliches Land, dessen Bewohner jedoch bei der Hauptfigur Zuneigung erwecken. Die Erinnerungen der in Wydrza getroffenen Menschen bilden einen wesentlichen Bestandteil der Spurensuche, deshalb vermag Nele, die Vergangenheit der Familie zu rekonstruieren.50 Das von ihr anhand von Klischees entworfene Bild Polens weicht oft von der Realität ab und scheint selektiv zu sein, außerdem entgehen ihrer Aufmerksamkeit die Veränderungen des Landes, Nele ist sich jedoch seines besonderen Gepräges bewusst, zumal die Protagonistin ihre polnische Identität vollkommen herauskristallisiert hat und damit in der Lage ist, die Geschichte ihrer Großeltern zu verstehen.51 48 Vgl. A. Burdziej: Z perspektywy niemieckich wnuków. Przełamanie tabu w pamie˛ci rodzinnej jako droga odnalezienia własnej toz˙samos´ci w powies´ci Katzenberge Sabriny Janesch. In: Opcja niemiecka. O problemach z toz˙samos´cia˛ i historia˛ w literaturze polskiej i niemieckiej po 1989 roku, hrsg. v. M. Wolting, W. Browarny. Kraków 2014, S. 143–164, hier S. 158f. 49 Vgl. Burdziej, Utracony Heimat, (Anm. 5), S. 236ff. 50 Vgl. ebd., S. 38, 228. 51 Vgl. ebd., S. 214–240.
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Fazit Im Roman Katzenberge kommen viele wichtige Motive zum Tragen: Vertreibung, Flucht und Trauma bilden den Hauptteil der Geschichte und ziehen zahlreiche Konsequenzen nach sich. Die Unausweichlichkeit der Zwangsumsiedlungen infolge der Kriegsgeschehen, die noch durch das gegen polnische Gesellschaft verübte Pogrom der Ukrainer zugespitzt wurde, drängt den Vorfahren der Hauptfigur eine neue Heimat in Schlesien auf. Da die Zwangsumsiedlungen vor der Geburt der Erzählerin stattfanden, stützt sie sich auf Erinnerungen ihres Großvaters, um von diesen historischen Ereignissen zu erfahren.52 Den Transfer von Erfahrungen und Erinnerungen des Großvaters begünstigen vor allem die Wissbegierde der Protagonistin und die Gefühlsbindung zwischen den Großeltern und den Enkelkindern, wobei es zu einer gewissen „Transmission von traumatischem Wissen und Erfahrung“53 kommt. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Autorin zur Postmemory-Generation gehört, weil der Austausch von Reminiszenzen zwischen der Zeugengeneration und der Enkelgeneration zustande kommt, wobei die Erinnerungen meist traumatische Ereignisse behandeln und das Schicksal des Betroffenen für immer besiegeln.54 Nele strebt danach, sich mit ihrer Familiengeschichte auseinanderzusetzen.55 Ihr Bedürfnis, das innere Gleichgewicht in ihrem Leben wiederherstellen zu können, scheint wichtiger als die Schuldfrage zu sein. Die für die Erinnerungen des Großvaters charakteristische Hypermnesie56 Galiziens beeinflusst die Vorstellungen der Enkelin und dient nach seinem Begräbnis als Anlass zur Reise in den Osten. Damit wird die Suche nach der eigenen Identität in die Wege geleitet, die erst in der Ukraine abgeschlossen sein wird. 52 Vgl. M. Hirsch: The Generation of Postmemory. In: „Poetics Today“ 29 (1) (2008), S. 103–128, hier S. 107. 53 A. Ubertowska: Praktykowanie postpamie˛ci. Marianne Hirsch i fotograficzne widma z Czernowitz. In: „Teksty Drugie“ 4 (2013), S. 269–289, hier S. 272. 54 Vgl. Hirsch, The Generation of Postmemory, (Anm. 52), S. 107ff. 55 Der Roman Katzenberge muss als Familienroman eingestuft werden; er behandelt die Vergangenheit der Familie und bringt den Verlust der ehemaligen Heimat zum Ausdruck. Darüber hinaus erfüllt er noch eine Bedingung, die ihn als den Familienroman erkennen lässt und zwar die Suche nach der eigenen Geschichte und die sich daraus ableitende Identitätsbestimmung. Vgl. Burdziej, Utracony Heimat, (Anm. 5), S. 30f. Dabei weist Aleida Assmann darauf hin, dass das Individuum „sich [seiner] Identität gegenüber der eigenen Familie und der […] Geschichte vergewissert. […] Hier geht es um die Integration des eigenen Ichs in einen größeren Familien- und Geschichtszusammenhang.“ A. Assmann: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. München 2007, S. 73f. 56 Vgl. D. Uffelmann: Problem pamie˛ci o kresach w polskich studiach postkolonialnych. In: Historie, społeczen´stwa, przestrzenie dialogu. Studia postzalez˙nos´ciowe w perspektywie porównawczej, hrsg. v. H. Gosk, D. Kołodziejczyk. Kraków 2014, S. 111–122, hier S. 113.
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Erst hier kann die Hauptfigur ihre Identität konzeptualisieren und das Gefühl der inneren Ruhe und Harmonie erreichen. An dieser Stelle soll man auf die Bedeutung der Erinnerungsorte, also Galizien und Schlesien, hinweisen: Diese haben einen transnationalen Hintergrund, fungieren als Heimat für Polen und Deutsche und werden von ihnen affirmiert.57 Die Bindung an die Heimat wird gelöst und kann nach den Zwangsumsiedlungen ausschließlich in Erinnerungen aufbewahrt werden. Der von Großeltern unternommene Versuch, galizische Traditionen oder das kulturelle Erbe in einem neuen Raum zu rekonstruieren, erlaubt es der Enkelin, über ihre eigene Identität nachzudenken58 und eine enge Verbindung zwischen ihr und ihrer Familie herzustellen. Eine wichtige Rolle kommt hier den kulturellen Artefakten zu, die ebenfalls dazu beitragen, Erinnerungen zu wecken.59 Die Reise in den Osten hat auch eine andere Dimension: Aus der Perspektive der Enkelin wird das gegenwärtige Bild Polens zum Ausdruck gebracht. Auf den ersten Blick lassen sich große Unterschiede zwischen dem Westen und dem Osten des Landes erkennen, was gewissermaßen auf Rückständigkeit der östlichen Regionen verweist. Die klischeehafte Optik erlaubt es jedoch, die Polen als gastfreundliche und sympathische Menschen darzustellen, wobei sie jedoch zu Alkoholkonsum neigen oder nicht den neuesten Mode- bzw. Ernährungstrends folgen. Resümierend lässt sich feststellen, dass Sabrina Janesch in ihrem Roman Katzenberge das heikle Thema der Zwangsumsiedlungen aus der Perspektive der Enkelgeneration aufgreift und damit die Ängste und Traumata der polnischen Gesellschaft veranschaulicht. Die deutsche Gesellschaft war sich dessen nicht vollkommen bewusst, dass auch Polen aus Galizien ein ähnliches Schicksal wie die schlesischen Deutschen erfahren haben.60 Die in Polen betriebene Propaganda61 ließ nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur Angst bei der polnischen Gesellschaft auslösen, das eigene Zuhause verlieren zu können, sondern führte zur Abneigung gegen die Deutschen, die ihre alte Heimat besuchen wollten. Sabrina Janesch, als eine Deutsch-Polin, vermag dank ihrer Abstammung, sich sowohl in die deutsche als auch polnische Lage zu versetzen.62 Infolgedessen ist ihr Bild der polnischen Gesellschaft in Hinblick auf die schwierige Vergangenheit facettenreich. Einerseits werden die Erinnerungen an Zeitzeugen und Geschichte gepflegt, andererseits kam es in diesem Land zu einer Wende, die jedoch bei
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Vgl. Palej, Fließende Identitäten, (Anm. 30), S. 199ff. Vgl. Wolting, Rozliczenie z przeszłos´cia˛, (Anm. 8), S. 108. Vgl. Burdziej, Utracony Heimat, (Anm. 5), S. 215. Vgl. Burdziej, Z perspektywy niemieckich wnuków, (Anm. 48), S. 147. Vgl. Zduniak-Wiktorowicz, Ziemie utracone – na nowo, (Anm. 43), S. 56f. Vgl. Burdziej, Utracony Heimat, (Anm. 5), S. 148, 239.
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Janesch durch viele Verallgemeinerungen gekennzeichnet ist und alte Klischees wiederholt.
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Małgorzata Wójcik-Dudek (Schlesische Universität in Katowice)
Schule im Umbau Die Bildung sollte sich auf ein Bild der Vergangenheit stützen und gleichzeitig, in Anlehnung an die Gegenwart, ein Bild der Welt von morgen entwerfen. Sie sollte das Bedürfnis fördern, die Veränderlichkeit der Welt zu verstehen.1
Im Motto seines Essays Alice oder worum es beim Unterrichten geht [poln. Alicja, czyli o co chodzi w uczeniu] bezieht sich der Polonist Tadeusz Sławek auf die Worte von Jacques Derrida: „Eine Institution, die kein Abenteuer ist, ist eine Institution ohne Zukunft.“2 Welche Bedingungen muss die Schule und insbesondere der Polnischunterricht erfüllen, damit er zu einem Abenteuer wird? Seine Antwort auf die Frage „Worum geht es beim Lehren?“ formuliert Sławek wie folgt: [Es geht darum], eine besondere Situation zu schaffen, in der unabhängig von allen formalen und realen Unterschieden zwischen Lehrer und Schüler eine dritte Zone entsteht, in der die Spannung zwischen dem Lernenden und dem Lehrer nicht verschwindet, sondern einen neuen Stellenwert erhält. Der Lehrer bleibt ein Lehrer, der Lernende ist immer noch ein Lernender, und dennoch… In diesen Momenten […] entsteht ein Bruch.3
Vielleicht zeigt sich gerade in diesen Rissen, Brüchen, Entgleisungen und Gleichgewichtsverlusten die Öffnung der Bildung auf das Abenteuer hin, dessen Wert in der Regel durch die schulischen Narrative ignoriert wird, die von den aufeinanderfolgenden Bildungsreformen als Gewissheit propagiert werden. Mit anderen Worten: Worauf läuft die Umgestaltung der polnischen Schulen hinaus? Auf das Abenteuer oder wieder einmal auf „alte-neue“ Prinzipien? Zunächst einmal ein wenig Geschichte. Die erste große Reform des Bildungswesens geht auf die Tätigkeit der Kommission für Nationale Bildung und die der Gesellschaft für Elementarbücher zurück, die entsprechend 1773 und 1775 gegründet wurden, nachdem der polnische Sejm die Teilung Polens beschlossen hatte. Sie wurden sogar als das erste Bildungsministerium der Welt 1 A. Toffler: Szok przyszłos´ci, übers. v. W. Osiatyn´ski, E. Ryszka, E. Woydyłło-Osiatyn´ska. Poznan´ 2001, S. 402f. 2 T. Sławek: Alicja, czyli o co chodzi w uczeniu. In: Kształcenie nauczycieli – wyzwanie i zaangaz˙owanie, hrsg. v. W. Bobin´ski, J. Sujecka-Zaja˛c. Warszawa 2019, S. 11–28, hier S. 11. 3 Ebd.
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anerkannt. Die Notwendigkeit einer solch spektakulären Bildungsreform hatte einen eher prosaischen Grund. Die Auflösung des Jesuitenordens hatte die Schließung von Jesuitenschulen zur Folge, was in der Praxis einerseits die Liquidierung des wichtigsten Teils des polnischen Bildungswesens bedeutete und andererseits die Gelegenheit bot, Institutionen, die von den Aufklärern als schädlich für die Bildung der jungen Menschen angesehen wurden, ihre Wirkung zu entziehen. Eindeutig negativ über die von diesen Einrichtungen geförderte Bildung äußerte sich Józef Wybicki: Das Denken wurde nicht gelehrt, es war sogar verboten […] Die Seele wurde nicht genährt und sogar die Gymnastik wurde abgelehnt […]. Sie wollten die Jugend in Schatten und Gespenster verwandeln, freie Menschen in Vieh in Ketten, Bürger, die dazu bestimmt waren, dem Vaterland mit Rat und Waffen zu dienen, in gefühllose und finstere Kreaturen […]. Sie haben die Saat des öffentlichen Verderbens gesät, die die Frucht der Schande und der Knechtschaft hervorgebracht hat.4
Die Kritik am archaischen Erziehungsmodell, an der Verfestigung der sozialen Ordnung, an der Förderung von Größenwahn und Obskurantismus des polnischen Adels, die an sich durchaus berechtigt war und sich in konkreten Reformen niederschlug, musste bald aufhören, denn der Triumph der Targowica bedeutete die Einstellung der Reformtätigkeit der Bildungskommission. Wybickis kompromisslose Rhetorik unterstreicht jedoch perfekt seine pädagogische Intuition, die auch heute noch äußerst aktuell zu sein scheint, auch wenn sie eine „stilistische“ Korrektur erfordert, da Wybickis Proklamation des Freiheitspostulats der Bildung heute zeitgemäßer formuliert werden müsste. Erkennen wir also nach Wybicki an, dass die Bildung am Emanzipationsprozess der Gesellschaft teilnimmt, einem Prozess, der auf die Befreiung des Menschen zu Autonomie und Verantwortung ausgerichtet ist und ihn mit der Fähigkeit ausstattet, über die Welt nachzudenken.5 Ein weiterer Versuch einer umfassenden Reform des Bildungswesens ließ aber rund 160 Jahre auf sich warten. In der Zwischenkriegszeit wurde mit dem Gesetz von 1932 die so genannte „Je˛drzejewicz-Reform“ (nach dem damaligen Minister Janusz Je˛drzejewicz) verabschiedet. Die Umsetzung ihrer hochgesteckten Ziele, die auf die Vereinheitlichung des Bildungswesens im bis dato geteilten Polen abzielten, wurde kurz nach der Durchführung des ersten, nach Je˛drzejewicz reformierten Abiturs durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs unterbrochen. Zofia Agnieszka Kłakówna argumentiert, dass die genannte Reform nicht nur 4 J. Wybicki: Z˙ycie moje. Kraków 1925, S. 9. Zit. nach: Ł. Kurdybacha, M. Mitera-Dobrowolska: Komisja Edukacji Narodowej. Warszawa 1973, S. 28. 5 Ich berufe mich hier auf die von Bogusław S´liwerski vorgeschlagene Definition der Pädagogik und modifiziere diese leicht. B. S´liwerski: Edukacja (w) polityce. Polityka (w) edukacji. Inspiracje do badan´ polityki os´wiatowej. Kraków 2015, S. 505.
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wegen der Rolle, die sie für den wiedererstandenen polnischen Staat spielte, außergewöhnlich war, sondern vor allem, weil zu dieser Zeit ein Dokument entstand, das auch heute noch als Muster für einen Lehrplan dienen könnte. Jenes Dokument orientierte sich nämlich konsequent an dem damaligen, aus historischer Notwendigkeit entstandenen Hauptanliegen der Bildung, nämlich der Bildung des Bürgers.6 Bekanntlich wurden die Reformversuche der Nachkriegszeit wiederum dem Konzept des sozialistischen Humanismus und der Herausbildung einer neuen sozialistischen Moral untergeordnet, was häufig zu Verzerrungen und Verfälschungen im Bildungsbereich führte. So sahen sich Polonisten dazu genötigt, in Gottesmutter [poln. Bogurodzica] „die Manifestation der Vormachtstellung des Klerus und im Schicksal von Wokulski den Typus einer Kapitalistenkarriere ‚vom Kolonialwarenhändler zum internationalen Waffenhändler‘“ zu sehen.7 Die Paradigmen des sozialistischen Bildungswesens gelten seit 1989 nicht mehr. Bis dahin basierte der Unterricht auf einem staatlich festgelegten Programm mit begleitenden Lehrplananweisungen und einer Liste zugelassener Verlage. Der Lehrplan teilte die Lehrinhalte in Schulfächer ein und legte fest, wie viele Stunden für deren Umsetzung vorgesehen waren. Die Lehrplananweisungen waren eine Reihe von Leitlinien für die Durchführung des Programms, und eine Liste von Verlagen bestimmte offiziell durchzunehmende Lehrbücher, Pflichtund Zusatzlektüren. Es ist unschwer zu erkennen, dass die Rolle des Lehrers auf die Ausführung der in dem ministeriellen Dokument vorgeschriebenen Aufgaben reduziert wurde. Nach der politischen Wende in Polen nach 1989 entbrannten Diskussionen über die Autonomie des Bildungswesens und der Schulen, über ihre demokratische Beteiligung am gesellschaftlichen Leben sowie über eine stärkere Öffnung auf lokale Gemeinschaften hin. Wie Barbara Myrdzik richtig bemerkt, hat es etwas Symbolisches, dass „das Gesetz über das Bildungssystem vom 7. September 1991 zusammen mit dem Gesetz über die lokale Verwaltung vom 8. März 1991 verabschiedet wurde und sowohl die neuen Befugnisse der lokalen Behörden im Bereich der Bildung als auch die den Schulen übertragenen Aufgaben definierte.“8 Nach Ansicht der Lubliner Forscherin bot sich damals die Gelegenheit, Entwicklungsprozesse im Bildungswesen zu steuern und zwar durch Inan6 Z.A. Kłakówna: Jakos´ i jakos´´c. Subiektywna kronika wypadków przy reformowaniu szkoły (1989–2013). Kraków 2014, S. 24. 7 P. Kołodziej: Pakt dla edukacji: tradycja wielkich polskich reform os´wiatowych jako punkt odniesienia dla współczesnej koncepcji edukacji szkolnej. In: Z.A. Kłakówna, P. Kołodziej, J. Waligóra: Pakt dla szkoły. Zarys koncepcji kształcenia ogólnego. Gdan´sk 2011, S. 28–52, hier S. 29. 8 B. Myrdzik: O potrzebie kształtowania autonomii poznawczej i egzystencjalnej na lekcjach nie tylko je˛zyka polskiego. In: „Polonistyka. Innowacje“ 11 (2020), S. 7–20, hier S. 9.
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spruchnahme von Bürgerrechten im Bereich der gesellschaftlichen Mitwirkung bei der Festlegung von Schulräten, Kreisbildungsräten und dem nationalen Bildungsrat. Der Prozess der internen „Vergesellschaftung“ von einzelnen Schulen sollte durch Instanzen wie den pädagogischen Rat und den Schulrat beeinflusst werden.9 Die Notwendigkeit, die Schulen an die neuen gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen, erforderte die Ausarbeitung neuer Bildungsstandards, die ein wirksames Gegenmittel zum zentralisierten und starren Lehrplan darstellen würden („die Idee ist, das geschlossene und starre Bildungssystem völlig neu auszurichten und in ein offenes und flexibles System umzuwandeln“)10. Das Dokument ließ allerdings noch bis 1999 auf sich warten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das unter dem vorherigen Regierungssystem eingeführte Rahmenprogramm noch zehn Jahre lang gültig blieb. Noch in den 1980er Jahren gestattete der Staat den Schulen die Verwendung von Lehrplänen, die von der Solidarnos´c´-Bewegung nahestehenden Pädagogen verfasst worden waren, und stimmte auch der Aktualisierung von Schulbüchern zu. Nach 1989 wurde dieses so genannte „Solidaritätsprogramm“ besonders eifrig genutzt. Die Zeit nach der Wende war geprägt von der Suche nach westlichen Modellen und von deren mechanischer Übertragung auf die polnische Schulwirklichkeit, freilich ohne die kulturellen Unterschiede in den Bildungsräumen in West und Ost und die unterschiedlichen Erfahrungen zu verstehen und zu berücksichtigen. Dies ging mit einem mangelnden Interesse an der Tradition der polnischen Bildung und Didaktik einher. So kam es häufig vor, dass bestimmte übernommene und angepasste Methoden fetischisiert wurden (Aktivierungsmethoden, Operationalisierung von Unterrichtszielen), was wiederum die Reformversuche eher fadenscheinig erscheinen ließ, während die dringendsten Probleme ungelöst blieben. Diese etwas verfehlten Maßnahmen beschränkten sich jedoch nicht auf den Zeitraum 1989–1999, auch danach wurden noch gerne Strategien angewandt, die durch ihre „Leichtigkeit“ verführten (Kłakówna erinnert hierbei an die Popularität von Aktivierungsmethoden und deren inkompetente und nicht funktionale Anwendung). An dieser Stelle lohnt es sich, den Titel von Maria Dudzikowas Buch Mythos Schule als Ort der umfassenden Schülerentwicklung [poln. Mit o szkole jako miejscu wszechstronnego rozwoju ucznia]11 zu zitieren, das nicht nur die Scheinaktivitäten rund um die damals geschaffene, moderne Schule recht treffend beschreibt, sondern auch den pädagogischen Neusprech, mit dem wir noch heute zu kämpfen haben. Wie Myrdzik argumentiert, bestätigt Dudzikowas alarmierende Diagnose über die Gefahren einer Mythisierung der 9 Ebd., S. 9. 10 B. Chrza˛stowska: Od Redakcji. In: „Polonistyka“ 2 (1992), S. 483. 11 M. Dudzikowa: Mit o szkole jako miejscu wszechstronnego rozwoju ucznia. Poznan´ 2004.
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Schule, die Schulreformen auf Deklarationen und Slogans reduziert, dass diese Mythisierung die Fähigkeit zur Reflexion und kritischen Haltung, d. h. eine gesunde und notwendige Einstellung zur Bildung, schwächt.12 Im Jahr 1999 wurden Gymnasien ins Leben gerufen oder besser gesagt: Sie wurden einfach nach ihrer langen Abwesenheit in der polnischen Bildungslandschaft wieder eingeführt. Die Eröffnung der Gymnasien könnte schließlich auch als ein Versuch interpretiert werden, zu den von Je˛drzejewicz initiierten Lösungen zurückzukehren. Die Einrichtung dieser Bildungsstufe war in erster Linie von dem Wunsch diktiert, das deutliche Missverhältnis des Bildungsniveaus zwischen ländlichen und städtischen Gebieten zu verringern. Katarzyna Błaszczyk nennt die Gründe für diese Entscheidung: Es wurde erwartet, dass die Gymnasien, von denen es relativ wenige geben sollte (eines in jeder ländlichen Gemeinde), einen positiven Einfluss auf die schulischen Leistungen der Kinder aus kleinen Ortschaften haben und sie dazu ermutigen würden, ihre Ausbildung in weiterführenden Schulen und dann an der Universität fortzusetzen. Der Initiator der Reform, Mirosław Handke, gab zu, dass er sich von dem Konzept aus der Zwischenkriegszeit inspirieren ließ, aber neben der Wiederherstellung der leicht veränderten Schulstruktur von damals ließ er sich auch von dem Wunsch leiten, pubertierende Schüler zu integrieren und die Schulpflicht zu verlängern.13
Das Bildungssystem wurde dadurch radikal verändert. Anstelle einer achtklassigen Grundschule und einer vierjährigen Oberschule (Lyzeum) wurden eine sechsklassige Grundschule, ein dreijähriges Gymnasium und eine dreijährige Oberschule eingerichtet. 1999 kündigte der Bildungsminister Mirosław Handke den lang erwarteten Lehrplan an. Das Dokument beginnt mit Leitlinien zu den allgemeinen Aufgaben von Lehrern in den folgenden Bereichen: Unterricht, Ausbildung und Erziehung. Im nächsten Teil wurde auf die Notwendigkeit der Integration verschiedener Bildungsinhalte hingewiesen und gleichzeitig wurden Wege zur Umsetzung dieser Idee in verschiedenen Bildungsstufen vorgeschlagen. Festgelegt wurden auch Unterrichtsziele in den einzelnen Fächern, die Aufgaben der Schule, Unterrichtsprogramme, erwartete Leistungen und die so genannte Stundentafel, d. h. die Zahl der für ein bestimmtes Fach vorgesehenen Stunden. Die Änderungen, die der Lehrplan für das Fach Polnisch vorsah, waren bedeutsam, auch wenn sie weitgehend auf dem Papier blieben. Sie betrafen in erster Linie die Schülerorientierung in der Bildung, was in der Praxis eine Umstrukturierung des gesamten Bildungsprozesses bedeutet hätte, um ihn stärker auf die Schüler auszurichten. Schließlich sind es Bedürfnisse, Erwartungen, Fähigkeiten 12 Myrdzik, O potrzebie kształtowania autonomii, (Anm. 8), S. 9. 13 K. Błaszczyk: Szkoła na miare˛ czasów… tylko których? – o reformie szkolnictwa z 2017 roku. In: „Polonistyka. Innowacje“ 12 (2020), S. 93–108, hier S. 96.
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und Interessen junger Menschen, die respektiert werden sollten, und sei es nur, um ihnen die Möglichkeit zu geben, über die Beziehung zwischen ihrem Leben und der Welt nachzudenken. Die aufmerksame Lektüre des Dokuments offenbart, dass der Schüler im Mittelpunkt des gesamten Bildungsraums steht; er ist der Ausgangspunkt für didaktische Aktivitäten, obwohl eine im Dokument enthaltene Liste von linguistischen, historischen und literaturtheoretischen Begriffen darauf hinweist, dass nach Ansicht der Reformautoren gerade der Strukturalismus und die Literaturgeschichte ein vielfältiges Instrumentarium für eine humanistische Reflexion bereitstellen sollten, die sich nicht nur auf literarische Texte beschränkt, sondern auch andere Kulturtexte mitberücksichtigt. Eine besonders wichtige Rolle kommt in dieser Hinsicht den neu gegründeten Gymnasien zu. Das Hauptziel, das die Autoren des Lehrplans verfolgten, war, dass die Schüler in dieser Bildungsstufe, also während der drei Gymnasialjahre, in eine „Textwelt eintauchen“ können und somit nicht nur mit den großen Klassikern, sondern auch mit Jugendliteratur in Berührung kommen, die sich auch mit pädagogischen Fragen befasst. Obwohl sich die Annahmen des Lehrplans als sehr interessant erwiesen, ließ ihre Umsetzung viel zu wünschen übrig. Kłakówna verweist nicht ohne Ironie darauf, dass die einzelnen Programme und Lehrbücher, die auf der Grundlage der Bestimmungen des Lehrplans erstellt wurden, immer noch auf die traditionelle Wissensvermittlung ausgerichtet sind: In der polnischen Realität spielt die Schule immer noch die Rolle eines linquistischen, historisch-literarischen und theoretischen Hüters und Bewahrers. Und es scheint, dass es ohne das Erlernen einer beschreibenden Grammatik, und vor allem ohne die Einübung der Leidenschaft für logische und grammatikalische Zerlegung von Sätzen, ohne das Erlernen einer Liste von respektablen Namen und ebenso respektablen und wichtigen Titeln von Werken, Namen von Epochen, Charakteristika von Strömungen – es gibt keine Bildung, und schließlich kein Leben!14
Leider mündete die Polemik um das Dokument in einem Kleinkrieg um die vorgeschlagenen Korrekturen an der Lektüreliste. Die Konzentration auf einzelne Titel, der Austausch von Argumenten für das „unbestreitbare“ Vorhandensein bestimmter Pflichtlektüren, endlose Diskussionen über den „Kanon“ haben deutlich gemacht, dass eine wirksame Umgestaltung des Lehrplans und eine zielgerichtete Überarbeitung von Programmen und Schulbüchern, die eine tiefgreifende Umgestaltung der Schulen ermöglichen würde, fast unmöglich ist.15 14 Kłakówna, Jakos´ i jakos´´c, (Anm. 6), S. 72. 15 Die aufeinanderfolgenden Reformen des polnischen Bildungswesens werden durch den ständigen Wechsel im Amt des Ministers nicht gerade erleichtert. Zofia Kłakówna zählte, dass dieses Amt von 1989 bis 2014 von 18 Personen ausgeübt wurde. Siehe: Z.A. Kłakówna: Szkoła na XXI wiek… In: „Polonistyka. Innowacje“ 8 (2018), S. 191–208, hier S. 192. Interessanterweise ist die Forscherin die Autorin des bereits erwähnten Buches Jakos´ i jakos´c´…, das in
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Im Jahr 2009 wurde die Definition der Lehrpläne geändert, wodurch das Dokument eine etwas andere Struktur erhielt. Die Änderung wurde von Katarzyna Hall, Bildungsministerin in der ersten Regierung von Donald Tusk, vorgenommen. Lehrpläne wurden definiert als verbindliche Zielvorgaben und Lerninhalte […] festgelegt in Form allgemeiner und spezifischer Anforderungen an die Kenntnisse und Fähigkeiten, über die ein Schüler nach Abschluss einer bestimmten Bildungsstufe verfügen sollte, sowie Bildungsaufgaben der Schule, die in den Programmen der Vorschulerziehung bzw. in den Lehrplänen berücksichtigt werden und die Festlegung von Kriterien für die schulische Beurteilung und die Prüfungsanforderungen ermöglichen (Gesetz vom 30. Mai 2014 zur Änderung des Gesetzes über das Bildungssystem und einiger anderer Gesetze, 2014, Art. 3. Pos. 811).
Der Lehrplan bestimmte die aufbauenden Stufen der Bildung, von der Vorschulerziehung bis zur weiterführenden Oberschulbildung. Das Lernprogramm für jedes Fach wurde in folgenden Punkten ausgearbeitet: „Bildungsziele – allgemeine Anforderungen“, „Unterrichtsinhalte – detaillierte Anforderungen“ und „empfohlene Bedingungen und Durchführungsmethoden“ für jedes Fach, die die Aufgaben des Lehrers festlegten.16 Dadurch dass die Beschreibung des Bildungsprozesses gekürzt wurde, erhielten die Lehrer die Möglichkeit, den Lehrplan an die Bedürfnisse der Schüler anzupassen, allerdings wurden die Lehrinhalte in Anlehnung an erwartete Lernergebnisse formuliert, was mit der Einführung der externen Prüfungen zusammenhing. Dieser Aspekt des neuen Lehrplans – die „ergebnisorientierte“ Sprache – rief berechtigte Bedenken hervor: Für Bogusław S´liwerski waren „Lernergebnisse“ ein Symbol für die „Vermarktung der Bildung“, während Kordian Bakuła argumentierte, dass „der Hauptzweck des Lehrprozesses lediglich Prüfungen sind“.17 Außerdem wurde an dem Dokument Kritik geübt, es enthalte widersprüchliche Bestimmungen. Piotr Kołodziej argumentierte, dass das, was den innovativen Charakter des Dokuments ausmachen sollte, d. h. authentische Schülerorientierung, Funktionalität und Nützlichkeit der Bildung im Leben, weiterhin im Bereich der Wunschvorstellungen bleibe.18 Die eigentliche pädagogische Strategie, so der Forscher, zeige seiner Form einem Tagebuch mit Notizen zu Änderungen im Lehrplan, zu einzelnen Reformen oder zur Neubesetzung von Bildungsministern ähnelt. Die Struktur des Buches vermittelt dem Leser den Eindruck einer großen Veränderungsdynamik, um nicht zu sagen – eines Chaos und eines Mangels an weitsichtigen Initiativen, und zeigt vor allem, dass die vorgeschlagenen Veränderungen politischen Zielen unterworfen sind. 16 Podstawa programowa z komentarzami. Bd. 2: Je˛zyk polski w szkole podstawowej, gimnazjum i liceum [online]. https://static.epodreczniki.pl/portal/f/res/R1P0UbhCJRMGV/1/1Crn5Wwd pgVbS52pMfj0wTp6EC0FORZl/PP-z-komentarzami-Tom-2.pdf [15. 03. 2021]. 17 K. Bakuła: Literatura i kultura w podstawie programowej je˛zyka polskiego z 2009 roku. In: „Pamie˛tnik Literacki“ 3 (2010), S. 225–240, hier S. 226. 18 Kołodziej, Pakt dla edukacji, (Anm. 7), S. 50.
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sich in den ausführlichen Anmerkungen, die in den Lehrplan aufgenommen wurden und die traditionelle Wissensvermittlung aufrechterhalten: Der Schüler werde „aufgeklärt“, „eingeführt“, „angehalten“, und der Lehrer „wählt aus“, „präsentiert“ und „macht aufmerksam“.19 In die Liste der Vorwürfe sprachlicher, terminologischer und begrifflicher Unzulänglichkeit reihte sich auch die Nichtberücksichtigung elementarer Erkenntnisse der modernen Wissenschaft, insbesondere der Neurobiologie, über die Mechanismen des Lernens ein.20 Heute, 12 Jahre nach der Einführung dieses Lehrplans, wäre eine weniger strenge Bewertung angebracht. In dem Dokument wurde vor allem versucht, die lange, fast akademische Liste literarischer Texte zugunsten einer vertieften und umfassenden Lektüre zu begrenzen, bei der verschiedene methodische Schulen und Kontexte berücksichtigt wurden. Dieser Pluralismus der Lektüre, auch wenn er unter dem Einfluss der externen Prüfungen etwas zurückging, bot nicht nur die Möglichkeit zur Weiterentwicklung der Interpretationsfähigkeit und des kritischen Denkens, sondern konnte auch das Bewusstsein dafür schärfen, dass es eine Polysemie von Stimmen gibt und folglich nicht nur einen einzigen Kanon, sondern viele. Przemysław Sadura räumt ein, dass die Auswirkungen der Umgestaltung des Bildungssystems in den Jahren 1989–2015 unterschiedlich bewertet werden. Einerseits hat sich das Bildungsniveau der Polen erhöht (vor allem die Einschreibequote an den Universitäten), ebenso wie die im PISA-Test gemessenen Kompetenzen. Andererseits gibt es Stimmen, die besagen, dass die Reformwelle paradoxerweise dazu geführt hat, dass die Schulen als zu zentralisiert und bürokratisch wahrgenommen21 und, meiner Meinung nach, zusätzlich durch das Prüfungssystem, das das „Lernen für Prüfungen“ fördert, zum Stillstand gebracht werden. Und obwohl es schwierig ist, eine fertige Lösung für dieses Problem zu finden, nennt Sadura die Richtung für die notwendigen Veränderungen: Die Herausforderung für das polnische Bildungssystem besteht nicht nur darin, das Entstehen sozialer Ungleichheiten zu verhindern, sondern auch die Tendenz zur Selbstselektion zu verringern, den rücksichtslosen Wettbewerb abzuschaffen, „weiche“ Kommunikationskompetenzen („soft skills“) zu entwickeln, die ein Klima für die 19 Um nur einige der Anmerkungen zu zitieren: „Wir sollten den Schülern den Aspekt der Nützlichkeit (auch der damit verbundenen Verantwortung) des korrekten Sprachgebrauchs so deutlich wie möglich vor Augen führen – und sei es nur, indem wir auf die Rolle der Sprache in zwischenmenschlichen Kontakten aufmerksam machen (S. 8)“, „die Schule sollte den Schüler für die negativen Folgen des Gebrauchs von Vulgarismen besonders sensibilisieren – die Schüler sollten darauf aufmerksam gemacht werden“. (S. 75), „So ist der Lehrer während der drei Jahre der Oberschulbildung verpflichtet, die Schüler auf die Existenz und die Bedeutung des historisch-literarischen Prozesses aufmerksam zu machen“ (S. 84). Vgl. Podstawa programowa z komentarzami, (Anm. 16). 20 Kołodziej, Pakt dla edukacji, (Anm. 7), S. 51. 21 P. Sadura: Pan´stwo, szkoła, klasy. Warszawa 2017, S. 56.
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Wiederherstellung von Gleichheit und Zusammenarbeit schaffen, und darüber hinaus unterschiedliche Bildungsstile zu beachten.22
Die Reform von 2017 hat die Umsetzung derartiger Änderungen nicht erleichtert. Dank der Bildungsministerin Anna Zalewska befindet sich das polnische Bildungswesen in einem weiteren Umbruch. Die jüngste Reform hat die Struktur des Bildungswesens erheblich verändert und die von 1968 bis 1999 geltende Zweigliedrigkeit wiederhergestellt. Mit der jüngsten Umgestaltung wurden also die wichtigsten Bestimmungen der Reform von Minister Handke abgeschafft. Die Bewertung der jüngsten Beschlüsse des Bildungsministeriums, die nicht nur die Wiedereinführung der achtklassigen Grundschule, die Abschaffung der Gymnasien und die Wiedereinführung der vierjährigen Oberschule, sondern vor allem erhebliche Änderungen des Lehrplans vorsehen, stützt sich vor allem auf den Vergleich zwischen diesen beiden sehr unterschiedlichen Visionen des polnischen Bildungswesens.23 Dorota Klus-Stan´ska bewertete den neuesten Lehrplan für die Allgemeinbildung in der Grundschule kritisch und warf ihm vor, das traditionelle Unterrichtsmodell zu fördern, das auf der Fixierung auf Lernaufgaben und auf der Führungsrolle des Lehrers beruhe. Des Weiteren sei die neue Lehrgrundlage auf die Herausbildung einer obrigkeitshörigen und vergangenheitsorientierten Haltung bei den Schülern hin ausgerichtet. Die Forscherin schreibt dazu: „Die lähmende Kraft des Programmzentrismus entspringt der Sehnsucht nach einer Bildung, die einen Absolventen hervorbringt, der nicht unabhängig denkt, sondern blind dem von den Vorgesetzten vorgegebenen Weg folgt […], der nicht in der Lage ist, Fragen zu stellen oder das aufgezwungene Bild der Welt in Frage zu stellen“24; dabei scheinen die Bestimmungen des Lehrplans „dem Modell des ‚einzig richtigen Dokuments‘ aus der kommunistischen Ära“25 fast wörtlich zu ähneln. Interessanterweise enthält der neue Lehrplan das Postulat, Menschen zu erziehen, die auf das Gemeinwohl bedacht sind, die ihr nationales, kulturelles, regionales und ethnisches Erbe zwar unreflektiert, aber dennoch respektvoll wahrnehmen. Wie Klus-Stan´ska feststellt, kommt das Wort „Respekt“ in dem 22 Ebd., S. 104. 23 Vgl. D. Karkut: Zdaniem polonistów – reforma w szkole podstawowej w ´swietle badan´ własnych. In: „Annales Universitatis Paedagogicae Cracoviensis. Studia Ad Didacticam Litterarum Polonarum Et Linguae Polonae Pertinentia“ 10 (2019), S. 86–99; R. Dorczak: Wokół reformy edukacji z 2017 roku – Krytyczna Analiza Dyskursu. Kraków 2019. 24 D. Klus-Stan´ska: Uwagi do podstawy programowej kształcenia ogólnego dla szkoły podstawowej [online]. Przygotowała Dorota Klus-Stan´ska po konsultacji z członkiniami Zespołu Dydaktyki przy Komitecie Nauk Pedagogicznych PAN – dr hab. Maria˛ Groenwald, dr hab. Jolanta˛ Kruk i dr hab. Monika˛ Wis´niewska˛-Kin. Gdan´sk 2017. https://edukacjananowo.pl/wp -content/uploads/2017/02/UWAGI-DO-PODSTAWY-PROGRAMOWEJ-KSZTA%C5%81CE NIA-OG%C3%93LNEGO-DLA-SZKO%C5%81Y-PODSTAWOWEJ.pdf [10. 02. 2021]. 25 Ebd.
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Dokument sogar 51 Mal vor, wobei es den Begriff „Mut“ weitgehend verdrängt und den Begriff „Widerspruch“26 vollständig eliminiert. Andere Vorwürfe lauten: mangelnde Verbindung der Lerninhalte mit dem außerschulischen Leben und den Erfahrungen der Schüler, Indoktrination im Bereich der Werte und Einstellungen, drastische Überfrachtung mit Lehrmaterial mit der Tendenz, es auswendig zu lernen, was die Oberflächlichkeit der Lernziele offenlegt. Ein wesentlicher Aspekt des Lehrplans in Bezug auf den Polnischunterricht ist mit dem Aufbau einer nationalen Identität verbunden. Dieses Postulat wurde nicht nur in der Auswahl der Pflichtlektüren, sondern auch in der Präambel des Dokuments selbst deutlich hervorgehoben.27 Auch wenn die Bedeutung des Postulats, das zur Überbrückung der Kluft in der polnischen Gesellschaft anregt, kaum in Frage gestellt werden kann, ist es doch überlegenswert, ob die von den Verfassern des neuen Lehrplans vorgeschlagenen Maßnahmen nicht eher zu einer Vertiefung der bestehenden Unterschiede beitragen würden. Zu Recht sieht Krzysztof Biedrzycki im „guten Wandel“ [dobra zmiana – Schlagwort des Parteiprogramms der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit / poln. PiS – Anm. des Übers.] eine Bedrohung für den gemeinsamen kulturellen Code: Das, was sich hier abspielt, scheint wie die Suche nach der Quadratur des Kreises: Einerseits haben sich die Autoren des neuen Lehrplans das ehrgeizige Ziel gesetzt, einen gemeinsamen kulturellen Code zu schaffen, andererseits zwingt ein großer Teil des vorgeschlagenen Lesematerials der jungen Generation die Sprache ihrer Eltern oder sogar Großeltern auf. Ich denke dabei nicht an die Klassiker, sondern an Werke der Kinder- und Jugendliteratur. Sollte der Kulturcode etwa in einem Buch zu finden sein, das Oma mochte? Wird ein Kind, ohne dieses Buch zu kennen, keine Beziehung zu seiner Großmutter aufbauen? Eine solche Argumentation beruht auf einem tiefgreifenden Missverständnis. Insbesondere, da der Zweck des Lesens in den ersten Bil-
26 Ebd. 27 Das Adjektiv „national“ taucht in dem Dokument Dutzende Male auf, meist im Zusammenhang mit „Erbe“, „Identität“, „Erinnerung“, „Kultur“, „Gemeinschaft“ und „Einstellungen“. Hier einige Auszüge aus dem polnischen Lehrplan: „Stärkung des Gefühls der individuellen, kulturellen, nationalen, regionalen und ethnischen Identität“; „Förderung der Entwicklung einer staatsbürgerlichen, patriotischen und sozialen Einstellung der Schüler“; „Im Rahmen des Bildungsprozesses führt die Schule Aktivitäten durch, die sich auf Erinnerungsorte, Persönlichkeiten, Ereignisse der Vergangenheit, auf die wichtigsten nationalen Feiertage und nationale Symbole beziehen“; „Entwicklung einer Haltung des Respekts vor der Vergangenheit und der literarischen Tradition als Grundlage der nationalen Identität“; „Entwicklung eines Gefühls der nationalen Identität und des Respekts vor der Tradition“; „literarische Texte in der neuen Lehrgrundlage sind ein Ausgangspunkt für die Reflexion, führen den Schüler zu einer integrierten Entwicklung und Verwurzelung in der Tradition und der nationalen Kultur sowie in den Werten“. Podstawa programowa kształcenia ogólnego z komentarzem. Szkoła podstawowa – je˛zyk polski [online]. https://www.ore.edu.pl/wp-conten t/uploads/2018/03/podstawa-programowa-ksztalcenia-ogolnego-z-komentarzem.-szkola-po dstawowa-jezyk-polski.pdf [28. 03. 2021].
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dungsjahren das Lesen selbst sein sollte und nicht die Vermittlung eines nicht klar definierten kulturellen Codes an die Kinder.28
Diese Art „Kodierung“ lässt sich sehr gut an den Lehrplanbestimmungen hinsichtlich der Lektüreliste erkennen. Sie ist nach einem romantischen und postromantischen Paradigma komponiert und vermeidet Kontexte, die zum Nachdenken anregen könnten, wo doch dieses Nachdenken nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung der Lesekompetenz der Schüler kaum einen unschätzbaren Wert hat, sondern auch für die Formulierung einer modernen, kritischen und offenen Haltung gegenüber dem nationalen Erbe unerlässlich ist. Das Verfahren des „nationalen“ Lesens in der Grundschule wird in der weiterführenden Schule fortgesetzt. Schullektüren werden von Jugendlichen nicht nur „schlecht“ gelesen, sondern ihre standardisierte Rezeptionsweise wird zum Verbündeten einer patriotischen Erziehung, die Interpretationen, die nicht zu den erwarteten Ergebnissen passen, entwertet. Dies kann zu einer Pathologie im Polnischunterricht führen: Das Fach Polnisch wird der Lektüre beraubt, wo doch die Entwicklung der Lesegewohnheit bei Kindern und Jugendlichen und die Aufrechterhaltung des Lesebedürfnisses heute die höchste Priorität in der Literaturdidaktik zu haben scheint.29 Die Bedenken von Anna Janus-Sitarz beruhen zwar auf ähnlichen Beobachtungen, scheinen aber noch alarmierender zu sein, da sie auf ein viel größeres Problem hinweisen: Die Verstrickung der Schulen in die Auswirkungen der aktuellen Bildungspolitik droht die Entwicklung der Polonistik im Sinne der neuen Humanistik zu behindern, die dem Funktionieren in der zeitgenössischen Kultur eine relevante Dimension verleihen will. Es lohnt sich, zwei Aspekte des Literaturunterrichts zu betrachten, die meiner Meinung nach diese Dimension wiederherstellen: die Aufmerksamkeit, verstanden als Ethik und derridianische Verantwortung beim Lesen, und der Eifer, den Sándor Márai als Lesen „mit einer Intensität“ definiert, „die größer als die des Textes ist“.30 28 K. Biedrzycki: Sam Mickiewicz nie zrobi z nas dobrych Polaków. Z Krzysztofem Biedrzyckim rozmawiaja˛ Alicja Wielgus i Piotr Kaszczyszyn [online]. https://klubjagiellonski.pl/2017/01/ 04/biedrzycki-sam-mickiewicz-nie-zrobi-z-nas-dobrych-polakow [12. 02. 2021]. 29 Vgl. K. Koziołek: Czas lektury. Katowice 2017. 30 A. Janus-Sitarz: Uwaz˙nos´c´ i z˙arliwos´c´ lektury a „duch nowej humanistyki“. In: „Polonistyka. Innowacje“ 7 (2018), S. 3–10, hier S. 6. Ähnliche Kritik am Rahmenlehrplan wird von Forschern aus fast allen universitären Zentren mit einer langen Tradition in der Lehrerausbildung formuliert. Ich möchte hier nur die sorgfältige Analyse des Lehrplans von Małgorzata Latoch-Zielin´ska erwähnen (M. Latoch-Zielin´ska: Od realizacji programu do wspierania rozwoju uczniów. Kilka uwag o edukacjo polonistycznej po reformie. In: „Annales Universitatis Paedagogicae Cracoviensis. Studia ad Didacticam Litterarum Polonarumet Linguage Polonae Pertinentia“ 259 (2018), S. 3–18) oder konstruktive Anmerkungen der Didaktiker der AdamMickiewicz-Universität in Poznan´, die zum Entwurf des Lehrplans eingereicht, jedoch von den Autoren nicht berücksichtig wurden. Die Forscher aus Poznan´ argumentierten, dass die chaotische und unüberlegte Struktur des Entwurfs Zweifel aufkommen lässt. Darüber hinaus überwiegen bei den vorgeschlagenen Lektüren immer noch alte Texte, wie beispielsweise
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Meiner Meinung nach steht sogar noch mehr auf dem Spiel: Es geht nicht nur um Aufmerksamkeit und Leseeifer, sondern auch um die neue (De-)Konstruktion der polnischen Bildung nach den Vorstellungen der „Architekten der neuen Polonisierung“ (ein von Ryszard Koziołek geprägter Begriff). Während dieses Phänomen für die einen von Vorteil ist, weil es „die Verwischung der kollektiven Identität verhindert“, befürchten andere, dass „die Intensivierung der nationalen Emotionen auch zu Konflikten führt, bei denen die Identität der einen das Ziel von Aggressionen der anderen sein kann.“31 Unabhängig von diesem Streitpunkt ist eine äußerst wichtige Bemerkung in der Stellungnahme von Janus-Sitarz hervorzuheben, nämlich die Befürchtung der Krakauer Forscherin, dass die Weiterentwicklung der Polonistik im Sinne der neuen Humanistik behindert werden könnte. Im Geiste der engagierten Humanistik, möchte ich noch hinzufügen. Nach Ryszard Nycz, wird die neue Humanistik heute mehr und mehr zu einem spürbaren Gegenentwurf der humanistischen Forschung, vor allem aufgrund ihrer Strategie, Brücken der Zusammenarbeit zu bauen, wo ihre Vorgänger Barrieren separatistischer Autonomie errichteten. Sie legt den Schwerpunkt eher auf die Kreativität als auf die „Erneuerung von Bedeutungen“ des kulturellen Kanons und versucht, eine Forschung zu betreiben, die
literarische Klassiker aus dem XIX. Jahrhundert, die weit von den Erfahrungen der Schüler entfernt sind. Die Kritik bezieht sich auch auf die „Anweisung“, dass Pan Tadeusz von Grundschülern vollständig gelesen werden muss. Die Forscher weisen auch auf die beunruhigende Tatsache hin, dass der Entwurf zeitgenössische Literatur und Kultur außer Acht lässt. Die am 30. Dezember 2016 veröffentlichte Stellungnahme polnischer Forscher und Didaktiker Stanowisko Zakładu Dydaktyki Literatury i Je˛zyka Polskiego oraz Pracowni Innowacji Dydaktycznych (Instytut Filologii Polskiej) Uniwersytet im. Adama Mickiewicza w Poznaniu w sprawie projektu „Podstawy programowej do je˛zyka polskiego“ opublikowanego 30 grudnia 2016 roku wurde von Beata Gromadzka, Rafał Kochanowicz, Jerzy Kaniewski, Krzysztof Koc, Maria Kwiatkowska-Ratajczak und Wiesława Wantuch unterzeichnet. Dagegen hat Andrzej Was´ko, einer der Koordinatoren der Arbeit am Rahmenlehrplan und derzeit Berater des polnischen Staatspräsidenten sowie Mitglied des Nationalen Entwicklungsrates, das Dokument verteidigt. Eines der Hauptargumente war die Gegenüberstellung der beiden Begriffe „Moderne“ und „Postmoderne“, um zu beweisen, dass die neue Reform aus der Moderne erwächst, die als eine Epoche verstanden wird, die im 17. Jahrhundert begann und immer noch andauert. In Anbetracht dessen ist der Vorwurf, die Reform sei unmodern, ein Irrtum. Der Autor kommt aufgrund dieser Erkenntnis zu dem Schluss, dass die früheren Reformen postmodern waren. Vgl. A. Was´ko: O edukacji literackiej (nie tylko dla polonistów). Kraków 2019, S. 12–13. 31 Vgl. B. Bakuła: Narodowa czy rodzima? Filologia polska w perspektywie multikulturalizmu. In: Przyszłos´´c polonistyki. Koncepcje – rewizje – przemiany, hrsg. v. A. Dziadek, K. Kłosin´ski, F. Mazurkiewicz. Katowice 2013, S. 193–212, hier S. 195. Bogusław Bakuła kommt auf der Grundlage von Umfragen an ausländischen Universitäten zu dem Schluss, dass der Begriff Nationalphilologie dort nicht funktioniert. Wie die Untersuchung gezeigt hat, sind die Befragten der Meinung, dass der Begriff anachronistisch ist und Polonisten außerhalb Polens ausschließt.
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ihren Wert durch Innovation legitimiert, die die Sachlichkeit der Entdeckung mit dem gesellschaftlichen Nutzen verbindet (was nicht zuletzt mit Herankommen an mentale Vorurteile, Verdrängungen oder Phantasmen des kulturellen Gedächtnisses, der Sitten und Handlungsstrategien einhergeht).32
Was bedeutet die Strategie des Brückenbauens für den polnischen Sprachunterricht? Einerseits ist das prinzipiell nichts Neues, schließlich ist der Polnischunterricht, in dem Interdisziplinarität praktiziert wird, schon lange kein literarischer und sprachlicher Monolith mehr; andererseits entsteht eine berechtigte Sorge, denn die Übernahme der neuhumanistischen Taktik erfordert es, die polnische Bildung so zu überdenken, dass sie nicht nur in das Netz der gegenseitigen Verflechtungen einbezogen wird, sondern dass in ihr auch das Potenzial entdeckt wird, in einen Dialog mit zeitgenössischen Problemen zu treten, die sich nicht auf traditionelle Schulthemen wie Heimat, Patriotismus, Liebe oder Opfer reduzieren lassen. Mit anderen Worten: Der Vorschlag, den Polnischunterricht erneut zu überdenken, erfordert neue Inspirationen, wie sie beispielsweise in Tim Ingolds berühmtem Buch Splatac´ otwarty ´swiat zu finden sind. Allein dieser Buchtitel könnte als Motto für den heutigen Polnischunterricht dienen. Ingold argumentiert, dass „die lebendige Welt nicht aus Bausteinen besteht, sondern ein komplexes Geflecht von Linien ist. […] die Linie ist nicht eine Verbindung von Punkten, sondern eine Spur, eine Metapher für den Prozess des Fließens, der das Leben selbst ist. Die Ökologie sollte daher […] vom Flechten und Verbinden von Linien sprechen.“33 Was wiederum hat die Ökologie mit der schulpolitischen Bildung zu tun? Viel. Der Begriff „Ökologie“ leitet sich von den griechischen Wörtern oikos (Haus, Lebensgemeinschaft) und logos (Wissen) ab, d. h. Ökologie ist nichts Anderes als Wissen über das Haus, das sich in guter Haushaltsführung (Ökonomie) niederschlagen soll.34 Eine „ökologische“ Bildung würde vor allem bedeuten, nach neuen Horizonten zu suchen, nach Verbindungen und Verflechtungen, die es ermöglichen könnten, „ein neues System der Symbiose mit der Natur und der gesamten Schöpfung“35 zu finden, eine Rückkehr zur Heimat, verstanden als Wiederherstellung einer unterbrochenen Verbindung mit der Umwelt. Zwar bezweifle ich, dass es dem Bildungssystem gelingen wird, die Unterrichtsformel auf diese Weise zu ändern, aber gleichzeitig bin ich überzeugt, dass eine solche Initiative, derartig konzipierte Lerneinheiten den Schülern neue Denkanstöße geben können, zumal ihnen im Polnischunterricht eine praktisch unbegrenzte 32 R. Nycz: Kultura jako czasownik. Sondowanie nowej humanistyki. Warszawa 2017, S. 27. 33 E. Klekot: Linia biegna˛ca do przodu. In: T. Ingold: Splatac´ otwarty ´swiat, übers. v. E. Klekot, D. Wa˛sik. Kraków 2018, S. 145–158, hier S. 156. 34 J. Fiedorczuk: Cyborg w ogrodzie. Wprowadzenie do ekokrytyki. Gdan´sk 2015, S. 17. 35 H. Skolimowski: Technika a przeznaczenie człowieka. Warszawa 1995, S. 10.
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„Textwelt“ zur Verfügung steht. Dies wiederum eignet sich hervorragend, um das „innere Auge“ zu trainieren, über das Martha Nussbaum schreibt, dass es die Fähigkeit bedeutet, die Vorstellungskraft zu nutzen.36 Gerade dank der Vorstellungskraft ist die Herstellung neuer Verbindungen nach anderen Prinzipien als in der Vergangenheit denkbar. Die Literatur in der Schule sollte daher aus ihrem methodischen Dornröschenschlaf geweckt werden, denn isoliert vom „Leben“ hat sie an ihrer Wirkungskraft sehr eingebüßt.37 Die polnische Schule benötigt daher eine Schulung in „Ognosie“. Dieser von Olga Tokarczuk geprägte Begriff trifft den Nagel auf den Kopf und beschreibt perfekt „die Fähigkeit, Probleme synthetisch anzugehen, indem man sowohl in den Narrativen selbst als auch in den Details, den kleinen Teilen des Ganzen, nach Ordnung sucht. […] Die Beeinträchtigung im Bereich der Ognosie äußert sich in der Unfähigkeit, die Welt als Ganzes wahrzunehmen, das heißt, alles getrennt zu sehen.“38 Als Feind der Einseitigkeit des Lesens und der Oberflächlichkeit der Bedeutungen ist Ognosie ein Verbündeter beim Abbau von Stereotypen und bei der Dekonstruktion von Populismen; sie fördert eine Haltung des Respekts gegenüber dem Anderssein und eine kritische Reflexion39 über die Vielfalt in der Welt der Menschen und Nicht-Menschen. In ihrem Streben nach Vollständigkeit lädt Ognosie zum Nachdenken darüber ein, was schwierig und oft noch unbewusst ist, und zwar in enger Beziehung zur Literatur. Auf der Suche nach Verfahren der Ognosie, der Synthese, der Integration von Lektüre und Lebenserfahrung lohnt es sich, einen Blick auf den Zustand des polnischen Sprachunterrichts während der Pandemie zu werfen. Unter den Beschwerden über die Schwierigkeiten des Online-Unterrichts findet sich eine äußerst erhellende Reflexion über die Rolle der Bildung. Ich beziehe mich auf die seltenen, aber bedeutenden Stimmen über die Arbeit, die die Literatur beim Online-Unterricht leistet. Völlig unerwartet stellt sich heraus, dass es sich dabei um einen schulischen Notfallkoffer handelt, wie Ryszard Koziołek argumentiert: „Das Lesen, Verstehen und Benutzen von Literatur ist eine Art Notfallkoffer, der vor einem 36 M.C. Nussbaum: Nowa nietolerancja religijna. Przezwycie˛z˙yc´ polityke˛ strachu w niespokojnych czasach, übers. v. S. Szyman´ski. Warszawa 2018, S. 22–23. 37 Ein solcher Versuch wurde von den Autoren einer bahnbrechenden Publikation unternommen, die, wenn nicht eine Wende, so doch eine eindeutige Tendenz im polnischen Sprachunterricht einleiten könnte, indem sie die Notwendigkeit betont, den Schulkanon im Kontext der Ökokritik und der Fragen der Relationalität zu überarbeiten. Vgl. P. Czaplin´ski, J.B. Bednarek, D. Gostyn´ski: Literatura i jej natury. Przewodnik ekokrytyczny dla nauczycieli i uczniów szkół ´srednich. Poznan´ 2017. 38 O. Tokarczuk: Ognozja. In: Czuły narrator. Kraków 2020, S. 5–29, hier S. 28f. 39 Krzysztof Koc schreibt in brillanter Weise über die Ausbildung des kritischen Denkens bei den Schülern und damit über die Notwendigkeit, die Schulpolonistik in die wichtigen Probleme der heutigen Welt einzubeziehen. Vgl. K. Koc: Lekcje mys´lenia (obywatelskiego). Edukacja polonistyczna wobec współczesnego ´swiata. Poznan´ 2018.
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Unfall benutzt werden muss, weil seine Rettungsfunktion darin besteht, mögliche Szenarien für Katastrophen oder Probleme darzustellen und so diese zu antizipieren.“40 Aus dieser Perspektive erscheint die humanistische Bildung, genauer gesagt die polnische Sprachbildung, als ein Projekt nicht nur des therapeutischen Denkens über die Gegenwart, sondern auch des präventiven Denkens über die Zukunft. Genau das geschieht im Online-Polnischunterricht, was unter anderem die Aktivitäten der Polnischlehrer Piotr Kołodziej und Michał Ratajczak zeigen. Michał Ratajczak, ein Polonist aus Poznan´, hat seinen Schülern eine kreative Arbeit zum Thema „Meine kulturelle DNA“ aufgegeben, was meines Erachtens, insbesondere vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen der Reformer über die Profilierung der Bildung im Hinblick auf das „Verständnis“ der polnischen Kultur, von entscheidender Bedeutung zu sein scheint. Hervorzuheben ist die Tatsache, dass das Projekt zur kulturellen DNA dazu anregt, über die Weitergabe des nationalen Codes nachzudenken, und von den Schülern, gewollt oder nicht gewollt, eine kritische Haltung verlangt. Ich habe den Eindruck, dass der Slogan „Meine kulturelle DNA“41 ein Ausgangspunkt für Überlegungen zur Konstruktion der schulischen Polnischbildung sein könnte, die nicht nur traditionelle Themen und kanonische Texte einbezieht, sondern auch jene Probleme nicht ausschließt, für die die polnische Schule einen Platz in ihrem System finden muss (z. B. Klimakrise, Umgang mit Differenz, Minderheiten, dem Anderen, wirtschaftlicher Ungleichheit)42. Das Ausblenden solcher Probleme und folglich der mangelnde Versuch, sie zu bearbeiten, macht die Schule zu einer falschen Agora, die die Relevanz der heutigen Welt außer Kraft setzt und die Bildung zu ihrem überflüssigen Nebenprodukt macht. Diese Art von Schule bereitet auf das Leben in der Welt vor, die außerhalb der Schule nicht existiert, oder im Gegenteil, sie existiert und taucht von Zeit zu Zeit als fertiges und abgeschlossenes Projekt auf, das von aufeinanderfolgenden Bildungsverantwortlichen vorbereitet wird. Gleichzeitig kann der Polnischunterricht „von unten“ (und auch online) zu überraschenden Ergebnissen führen, selbst wenn er sich auf Lektüren konzentriert, die längst veraltet scheinen. Ich denke dabei an Stefan Z˙eromskis Siłaczka, dessen Überholtheit von Krakauer Schülern in Frage gestellt und stundenlang 40 Vgl. R. Koziołek: Humanista sygnalista. In: Ders.: Wiele tytułów. Wołowiec 2019, S. 7–30, hier S. 18. 41 M. Kwiatkowska-Ratajczak: „Kulturowe DNA“ – permanentna zmiana i polonistyczne praktyki inicjacyjne. In: Dies.: Docenic´ szkołe˛. Dydaktyczna teoria i metodyczna praktyka. Poznan´ 2021, S. 125–134. 42 Auf interessante Weise begründet Magdalene Ochwat die Notwendigkeit, über Themen zu unterrichten, die mit der heutigen Zeit zusammenhängen, Vgl. dazu: M. Ochwat: (Współ)mys´lenie w humanistyce. Literackie (eko)kształcenie w epoce antropocenu. In: „Polonistyka. Innowacje“ 12 (2020), S. 31–51.
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diskutiert wurde. Piotr Kołodziej, ein Lehrer aus Krakau, erinnert sich an die heftige Debatte über das Buch: Die brillante Schlussfolgerung aus dem letzten Beitrag der 16-jährigen Helena Romankiewicz, dass „Literatur die Gefahr bringt, dass man denkt“, ist wahrscheinlich das beste Resümee für unsere gemeinsame, schulpandemische Erfahrung […]. Diese Bemerkung ist ein guter Beweis dafür, was humanistische Bildung im Polnischunterricht sein kann und worauf sie ausgerichtet sein kann, eine Bildung, deren Subjekt ein bestimmter Homo ist, der seine einzigartige Humanitas verwirklicht, die aber auch für alle in der Klasse und für alle im Allgemeinen gilt.43
Vielleicht ist das genau die Forderung, die wir heute brauchen: den Polnischunterricht zu einem Raum zu machen, in dem das Leben als ein Projekt der Emanzipation neu gedacht werden kann. Ein Projekt, das die Menschen dazu ermutigen soll, die intellektuelle und emotionale Enge „im Kosmos der privaten Werte zu durchbrechen und das eigene Leben in den Dienst höherer Werte zu stellen, weil es dann die beste Art und Weise ist, sinnerfüllt zu sein.“44 Wird es unter diesen Bedingungen möglich sein, „schrittweise eine gemeinsame Welt zu schaffen“,45 die die Beteiligung künftiger Generationen erfordert, denen es nicht an Mut zum Handeln mangeln wird? Dies ist besonders wichtig, weil den polnischen Schulen vorgeworfen wird, nicht nur an einem Wissensdefizit zu leiden, sondern auch an einem Handlungsdefizit.46 Doch gerade dieses Handeln ist der Garant für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung, wie Aaron Antonovsky in seinem ausgezeichneten Buch Unraveling the mystery of health darlegt. Nach Ansicht des Autors sollte diese Entwicklung drei Aspekte umfassen: die Möglichkeit, Ordnung in die eigene Welt zu bringen, die Mitwirkung und das Gefühl der Leistungsfähigkeit,47 die sich in folgendem Dreischritt ausdrücken lassen: Verstehen – Mitgestalten – Wirksamwerden. Es ist sicherlich einfacher, sie in einer Gemeinschaft zu verwirklichen, die, wie Tomasz Markiewka zeigt, dringend nicht individuelle, sondern gemeinschaftliche Handlungsszenarien braucht, um den Menschen die Hilfslosigkeit angesichts von Herausforderungen, die gestern noch undenkbar waren, abzugewöhnen: ein weiteres Problem ist das Fehlen von historischen Szenarien. Der Grund dafür ist nicht ein Mangel an Beispielen, sondern die Art und Weise, wie wir unsere Geschichte 43 P. Kołodziej: Raport z oble˛z˙onego miasta. In: „Polonistyka. Innowacje“ 12 (2020), S. 109–139, hier S. 133. 44 M. Schmidt-Salomon: Humanizm ewolucyjny. Dlaczego moz˙liwe jest dobre z˙ycie w złym ´swiecie, übers. v. A. Lipin´ski. Słupsk 2012, S. 154. 45 B. Latour: Polityka natury. Nauki wkraczaja˛ do demokracji, übers. v. A. Czarnacka. Warszawa 2009, S. 323. 46 M. Rasfeld, S. Breidenbach: Budza˛ca sie˛ szkoła, übers. v. E. Skowron´ska. Słupsk 2015, S. 39. 47 Vgl. A. Antonovsky: Rozwikłanie tajemnicy zdrowia, übers. v. H. Grzegołowska-Klarkowska. Warszawa 1996.
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erzählen. Allzu oft tun wir so, als sei der Fortschritt das Werk einsamer Genies, eine spontane wissenschaftliche Entwicklung oder spontane Mechanismen des freien Marktes. Politik und Leistungsfähigkeit haben in dieser Erzählung keinen Platz.48
An dieser Stelle sei auf die häufige Verwendung des Begriffs „Respekt“ im Zusammenhang mit Werken, Menschen und Werten hingewiesen, der im Lehrplan über fünfzig Mal vorkommt. Im Sinne der Worte von Emmanuel Lévinas, dass Tradition „nicht Gehorsam, sondern Hermeneutik“49 ist, ist es recht einfach, diese beeindruckende Zahl zu reduzieren, indem man Begriffe wie kritisches Denken, Sorgfalt, Engagement und eben Leistungsfähigkeit einfügt. Ihre Verflechtung lässt nicht nur auf die Bewältigung aktueller Probleme hoffen, sondern auch auf die Antizipation künftiger Bedürfnisse und Herausforderungen.50 Vielleicht wird die Schule dann zu einer Heterotopie, nicht zu einer Utopie der nationalen Einheit, nicht zu einem sinnentleerten Ort,51 sondern zu einem „Colaboratory“52 – einem Raum, dessen Name sich aus der Verbindung der englischen Wörter „cooperation“ und „laboratory“ ergibt. Dieser Raum ist groß genug, um eine Vielzahl von pädagogischen Praktiken zu ermöglichen, die jedoch auf den gemeinschaftlichen Charakter der Aktivitäten und die Korrektur der entwickelten Szenarien ausgerichtet sind. Vielleicht ist dies eine Aufgabe für die Schule der Zukunft. Während die aufgeklärten Postulate der Kommission für Nationale Bildung aus dem 18. Jahrhundert messbare Wirkungen erzielten, schließlich formten sie Befürworter der großen Sejm-Reformen, Kos´ciuszkoAufständische oder einfach nur bewusste Patrioten, die ihre nationale Identität 48 T.S. Markiewka: Zmieniac´ ´swiat raz jeszcze. Jak wygrac´ walke˛ o klimat. Warszawa 2021, S. 171. 49 E. Lévinas: Etyka i Nieskon´czony. Rozmowy z Philippe’em Nemo, übers. v. B. Opolska-Kokoszka. Kraków 1991, S. 63. 50 Schmidt-Salomon, Humanizm ewolucyjny, (Anm. 44), S. 33. Dies mag weniger futuristisch klingen, wenn ich daran erinnere, dass bereits 1979 im Bericht Uczyc´ sie˛ – bez granic. Jak zewrzec´ „luke˛ ludzka˛“? der Club of Rome den Begriff des „Schock-Lernens“ prägte und für einen zukunftsorientierten und demokratischen Unterricht in den Schulen als Grundlage für zukunftsorientiertes Verhalten plädierte. Die Verwirklichung dieses Postulats sollte den Zukunftsschock minimieren, den Alvin Toffler als „die verwirrende Desorientierung, die durch die verfrühte Ankunft der Zukunft verursacht wird“ definiert. Abhilfe sollte die Einsetzung von „Zukunftsräten“ in den Schulen schaffen, die nicht nur verschiedene Szenarien für mögliche Entwicklungen, sondern auch Verfahren für die Gestaltung und das Erleben dieser Veränderungen ausarbeiten, eine weitere Maßnahme wäre die Einrichtung von „Vorstellungszentren“, die an Projekten für Utopien und Anti-Utopien arbeiten. Toffler zufolge könnten solche Narrative die Angst vor dem Unbekannten beseitigen, allein schon deshalb, weil Visionen der Zukunft, auch wenn sie in der Sphäre der Prophezeiungen bleiben, diskutiert und in gewisser Weise durchlebt werden können. Vgl. Toffler, Szok przyszłos´ci, (Anm. 1). 51 Vgl. M. Popczyk: Muzeum sztuki jako heterotopia. In: Muzeum sztuki. Od Luwru do Bilbao, hrsg. v. M. Popczyk. Katowice 2006, S. 329–334. 52 M. Fra˛ckowiak: Kolaboratorium. In: Studio eksperyment. Leksykon. Zbiór tekstów, hrsg. v. B. S´wia˛tkowska, M. Roszkowska. Warszawa 2012, S. 96–97.
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im geteilten Polen bewahren konnten, und während die Je˛drzejewicz-Reform eine ganze Generation formte, die sich der Tragödie des Zweiten Weltkriegs stellen musste, stehen die Absolventen der heutigen Reformschulen vor ganz anderen Herausforderungen. Wir können davon ausgehen, dass eine davon darin besteht, die Bereitschaft zum gemeinsamen Sein und Handeln zu üben. Übersetzt von Monika Blidy
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II Transformationen in Russland
Grair Magakian (University of Silesia in Katowice)
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Introduction When the US and Europe supported the so-called independence of Kosovo, hardly anyone thought that a gate for new “legitimate” wars was opening for Russia. Apparently, almost everybody believed at the time that the West was going to enlarge its sphere of influence. However, Russia, longing for reclamation of allegedly Russian lost territories, quickly saw a chance to win back at least some parts of its former empire. A crucial precedent was set for the Russian political thought: “annexation” of Kosovo by the West. Each war requires some preparation, at least of its financial, technical, military and ideological aspects. In the case of Russia, ideology is a crucial pre-war platform, as the state is not powerful enough to engage in open warfare due to its inadequate economic resources. What remains is an old and well-proven weapon: Russians’ patriotic feelings, appropriately conditioned by skilful propaganda.1 Only a few years after Kosovo had become independent, Vladimir Putin annexed Crimea, underlining that Russia was relying on the clear and fresh precedent of Kosovo. He reminded everybody of the ruling by the International Court of Justice to the effect that a nation inhabiting a certain area had the right to determine its own fate without consulting the federal authorities of the relevant state. For Kosovo, added Putin, the parliament’s decision had been con-
1 See: M. Czyhunka: Rosyjski patriotyzm: czyli historia pewnej perwersji, 18. 07. 2016 [online]. https://belsat.eu/pl/opinions/rosyjski-patriotyzm-czyli-historia-pewnej-perwersji [15. 01. 2021]; R. Szoszyn: Rosja: miliardy na patriotyzm. In: “Rzeczpospolita”, 2. 01. 2016 [online]. https:// www.rp.pl/Swiat/301029958-Rosja-miliardy-na-patriotyzm.html [11. 12. 2020]; Putin: patriotyzm i miłosierdzie to przymioty Rosjan, 15. 01. 2015 [online]. https://forsal.pl/artykuly/8471 92,putin-patriotyzm-i-milosierdzie-to-przymioty-rosjan.html [29. 12. 2020]; Lekcje o automacie Kałasznikowa w Rosji maja˛ “zaszczepiac´ uczucie patriotyzmu”, 30. 10. 2019 [online]. https://forsal.pl/artykuly/1437458,lekcje-o-automacie-kalasznikowa-w-rosji-maja-zaszcze piac-uczucie-patriotyzmu.html [15. 01. 2021] etc.
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sidered sufficient, while for Crimea, a referendum had been organized as well, with an overwhelming majority voting in favour of Russia.2 Consequently, it makes one wonder whether the secret talks between representatives of the US and Russia held in Finland in June 2014 did not end in an agreement related to the activities by both the parties as outlined above. We have to remember that before deepening its concept of the Russian World, Russia succeeded in driving a wedge between Russians and the West.3
Russia and the Russian World In 2015, Sergey Aksyonov raised an exceptionally sensitive topic on svpressa.ru. He claimed that… the British government had taken on the task of denouncing the Russian new rich, with the goal of setting Russians against their authorities. In order to achieve this, according to him, Britons were using information about the sky-high income of oligarchs close to the Kremlin, contrasting very vividly with the fact that only about 13–15% of Russians could be considered middle class4 (which has not changed significantly until now5.) Aksyonov concluded that the British Foreign Minister at the time, Hammond, was no Churchill, but his speech delivered before military and civilian experts could be compared to Churchill’s speech that had started the Cold War.6 Therefore, the “Russian World” was supposed to stand against the “aggressive” West. Aksyonov failed to mention, however, that even before Churchill’s speech, Stalin had declared the existence of the bloc of capitalist and imperialist states with war as an integral part of their
2 See: Putin nazval neadekvatnoy reaktsiyu Zapada na vkhozhdeniye Kryma v sostav Rossii, 17. 11. 2014 [online]. https://www.interfax.ru/russia/407483 [8. 01. 2021]. 3 See: Kto pytayetsya possorit’ nas s Zapadom?, 30. 01. 2012 [online]. https://tvernews.ru/blog /2378/49969 [16. 01. 2021]; O. Borovskikh: Vsë-taki ochen’ khorosho, chto Rossiya possorilas’ s Zapadom, 6. 07. 2015 [online]. https://ogbors.livejournal.com/532301.html [15. 01. 2021]; C. Petrenko: FAN proanaliziroval plan Zapada po razvalu Rossii k 2030 godu, 8. 11. 2019 [online]. https://riafan.ru/1225749-fan-proanaliziroval-plan-zapada-po-razvalu-rossii-k-2030 -godu [15. 01. 2021] etc. 4 T. Zykova: Sostoyaniye – sredneye. In: “Rossiyskaya gazeta”, 27. 07. 2015 [online]. https:// rg.ru/2015/07/27/dohod-site.html [12. 01. 2021]; A. Manuylova: Sredniy klass v legkom vese. In: “Kommersant,” 225 (2015), p. 2. 5 See: E. Slobodyan: Kto v Rossii otnositsya k srednemu klassu? In: “Argumenty i Fakty”, 14. 02. 2020 [online]. https://aif.ru/money/mymoney/kto_v_rossii_otnositsya_k_srednemu_klassu [21. 09. 2020]; O. Ageyeva, Yu. Starostina: Sredniy klass pones novyye poteri, 26. 09. 2020 [online]. https://www.rbc.ru/newspaper/2020/09/28/5f6dde659a79477e5967a9e9 [15. 01. 2021]; O. Savina: Sredniy klass v Rossii: kriterii, kolichestvo, krizis, 3. 09. 2020 [online]. https://poli t.ru/article/2020/09/03/midleclassmatter [13. 01. 2021] etc. 6 See: S. Aksenov: Prinuzhdeniye k spravedlivosti. In: “Svobodnaya pressa”, 12. 03. 2015 [online]. https://svpressa.ru/politic/article/115289 [18. 01. 2021].
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history. According to Stalin, new military conflicts were looming as long as capitalist states existed.7 Already in 2014, Vladimir Putin talked about the Russian World, emphasizing that a member of the Russian World believed, above all, in the higher moral destination of humans, a higher moral order, and was a person turning more to the outside than to the inside. Putin highlighted the fact that Russians had been relying on their values for centuries, these values had never failed them and would be useful also in the future.8 All this amounted to an outline of the so-called moral superiority of a good-natured Russian as compared with an aggressive representative of the West. Unfortunately, Polish sources either underestimate the influence of the Русский мир [Russkiy mir] Foundation or fail to understand the consequences of implementing the above concepts. Put very succinctly, the Russian view assumes the existence of a hypothetical transcontinental international community, united with Russia and loyal to the Russian culture. In this case, “Russian” denotes primarily the historical roots of the community, going back to the beginnings of Russia and not related to its ethnic or religious makeup. “World”, in turn, should be construed as the whole world, all the people.9 Therefore, the Russian World is a common civilizational area situated in the historical territory of Ruthenia, based on at least the following pillars: the Russian Orthodox Church, the Russian culture, the Russian language, common historical memory, and common outlook on social developments. Except for the religion, the culture and the language as well as the so-called common historical memory apply to the former Soviet Republics, including the non-Orthodox and non-Slavic ones. “Russia, Ukraine and Belarus are the Holy Rus’”: this has been constantly repeated by Cyril, Metropolitan of Smolensk and Kaliningrad (and nowadays Patriarch of Moscow and all Rus’) during concerts and other events promoting the idea of the Russian World. In fact, Cyril has gone a step further than that, announcing that Moldova, too, belongs to the Russian World, as the Holy Rus’ is not an ethnic, political or linguistic concept, it is a spiritual concept. Cyril emphasized at the same time that he was praying “for Moldova, for prosperity of the 7 See: G. Khabin: I.V. Stalin ob imperializme kak istochnike voyn i sovremennost’, 18. 12. 2019 [online]. http://bolshevick.org/i-v-stalin-ob-imperializme-kak-istochnike-vojn-i-sovremenno st [16. 01. 2021]; V. Baklanov: Krasnyy “oboronitel’nyy imperializm”, 20. 04. 2015 [online]. http://historick.ru/view_post.php?cat=12&id=170 [16. 01. 2021] etc. 8 D. Mukhetdinov: V Dukhovnom upravlenii musul’man raskritikovali ideyu vozrozhdeniya Russkogo mira, 13. 03. 2015 [online]. https://lenta.ru/news/2015/03/13/russia [18. 01. 2021]. 9 See: Ye. Moiseyev: Kontseptsiya Russkogo mira kak tsivilizatsionnyy proyekt ХХI veka [online]. https://kurskpds.ru/articles/kontseptsiya-russkogo-mira-kak-tsivilizatsionnyy-proekt-khkhiveka/ [21. 01. 2021]; P. Shchedrovitskiy: Russkiy Mir: vosstanovleniye konteksta, sentyabr’ 2001 g. [online]. https://archipelag.ru/ru_mir/history/history01/shedrovitsky-russmir [21. 01. 2021].
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Moldovan people, and for the political orientation of Moldova supporting the unity of the Holy Rus’”.10 What does Moldova have in common with the Russian World? Actually, nothing. Even its language, Moldovan, belongs to the Eastern Romance languages and is often considered either the same as Romanian or a regional variety thereof.11
From a “practical” theory to a spiritual theory Still in 1997, Russian theoreticians12 wondered whether it would not be better to assume that a civilizational division between individual states of Central and Eastern Europe did not exist. They claimed there was only a space between the civilizations of Russia and Romance-Germanic Europe, and all Eastern European conflicts were in facts conflicts between pseudo-civilizations, as the participating nations were only walking a tightrope between the above mentioned civilizations.13 Huntington’s civilizational divisions14 are counterbalanced by the theory of “limitrophe states” (actively promoted by the Russian geopolitical thinker, political scientist and philosopher Vadim Tsymbursky), another argument supporting the concept of the Russian World.15 The name “Limitrophe” denotes collectively the countries situated in the territory of the former Russian Empire and Soviet Union. After the first world war, the Small Soviet Encyclopedia (crucial for the Russian political thought in spite of its questionable reliability) defined the limitrophe states as ones formed from the outskirts of the former Tsarist Russia, mainly from the western provinces, including Estonia, Latvia, Lithuania, and, partially, Poland and Finland.16 Does the Russian World also encompass these countries and can they be “united” (or maybe “reintegrated”) 10 Ibid. 11 See: O. Crowcroft: Moldovans Warned to Stop Calling Romanian Language Moldovan, 30. 11. 2020 [online]. https://www.euronews.com/2020/01/30/moldova-warned-to-stop-calling-ro manian-moldovan [21. 01. 2021]; M.H. Ciscel: A Separate Moldovan Language? The Sociolinguistics of Moldova’s Limba de Stat. In: “Nationalities Paper” 34/5 (2006), pp. 575–597. 12 V. Tsymburskiy, B. Mezhuyev: Rossiya v usloviyakh strategicheskoy nestabil’nosti. In: “Lebed’” 27 (1997), 3. 08. 1997 [online]. http://lebed.com/1997/art176.htm [11. 01. 2021]. 13 Ibid. 14 S.P. Huntington: Wielki uskok przed skokiem. In: “Forum” 51–52 (2004–2005), pp. 14–22, here p. 14. 15 See: V. Tsymburskiy: Rossiya – Zemlya za Velikim Limitrofom: tsivilizatsiya i yeye geopolitika. Moskva 2000; Id.: Ostrov Rossiya. Perspektivy rossiyskoy geopolitiki. In: “Polis” 5 (1993), pp. 6–53; V. Kolossov, J. O’Loughlin: Pseudo-states as harbingers of a post-modern geopolitics: The example of the Trans-Dniester Moldovan Republic (TMR). In: “Geopolitics” 3/1 (1998), pp. 151–176. 16 Ibid.
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with Russia, as parts of the large Russian World? This is an open question, as the present definition of “Limitrophe” includes (for now) all 14 of the former Soviet Republics (excluding Russia). In comparison with the first half of the 20th century, Finland and Poland have moved beyond the zone. This theory argues that the most important factor is the membership of these countries in a single geopolitical centre, whose parts are closely interconnected within the international division of labour, and constitute a single economic unity based on their common language and/or, even worse, widespread knowledge of the same (official) language.17 The above geopolitical doctrine shows very clearly that Russia openly admits that, in the times of the Soviet Union, all the Republics (except for Russia) were only peripheries of an empire, without any form of state autonomy, as even the fact of having their own official languages had no meaning: Russia was the geopolitical centre. The definition of “Limitrophe” as such provides a strong background for spreading the concept of the Russian World. Should the Russian World, therefore, encompass every area where a Russian soldier has placed his foot even for a short time? The Russian political thought defines the limits of “Limitrophe” as the outskirts of other civilizational platforms. In the West, this is the passage from Poland to Germany, and eastern Germany, where RomanceGermanic Europe starts. In the South, the limit is the Uzbek and Tadjik zone. Encompassing the limitrophe states as described above, Russia becomes a geopolitical force directly present in the lives of the neighbouring civilizations of the Euro-Atlantic area and the Middle East, which constitute a zone of its direct geopolitical interest. More distant areas, such as Sub-Saharan Africa and Latin America, may at best belong to the Russian interest zone in the context of worldsystems.18 This type of narration indicates a return to the not-so-distant past in the Russian mentality. And maybe even it is not a return, but a continuation of the same, stable mentality (if there is such a thing as “mental consistency”)? However, another aspect of the Russian World needs to be considered, namely, nationality: “[…] in the Russian tradition, the term ‘nation’ has a different meaning than in Western Europe. Here, [in Russia – G.M.] nationality 17 See: P. Yermilin: Mikhail Leont’yev: “Sammit v Vil’nyuse – kukol’nyy teatr limitrof”, 6. 05. 2006 [online]. https://www.pravda.ru/world/83661-leontiev [19. 01. 2021]; Rekomendatsii rossiyskikh istorikov: “Rossiya i Pribaltika: kompetentnyye otvety na istoricheskiye pretenzii limitrofov”, 02. 05. 2007 [online]. https://regnum.ru/news/polit/821909.html [19. 01. 2021]; A. Suzdal’tsev: Postsovetskoye prostranstvo: limitrofy XXI v., 18. 09. 2006 [online]. http://www.p rognosis.ru/news/asng/2006/9/18/putin_russia_sng.html [19. 01. 2021]; N. Komleva: Limitrof v sovremennom geopoliticheskom protsesse. In: “Prostranstvo i Vremya” 3/1 (2013) [online]. http://e-almanac.space-time.ru/assets/files/Tom%203%20Vip%201/rubr4-pogranichnye-pr ostranstva-st1-komlevana-2013.pdf [25. 01. 2021]. 18 Tsymburskiy, Mezhuyev, Rossiya v usloviyax strategicheskoy nestabil’nosti, (note 12 above).
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means closeness of people not based on their blood, origin, and even not on their common lay culture, but on their creed.”19 The conclusion of ideologists is simple and straightforward: Russian state authorities cannot leave the issue of history to historians: “they should formulate a clear and well-defined political stance of the state towards the most important historical matters and reach scholarly and social communities by means of discussion”.20 Against the background of this logic, the narrative by Cyril, Patriarch of Moscow and all Rus’, is easy to understand: “independent states, existing in the area of historical Ruthenia and aware of their common civilizational membership, could together continue to create the Russian World, and treat it as their common supranational project. One could even introduce the notion of a country of the Russian World”.21
Russian limits – not for everyone Russian ideologists claim almost a priori that Russian communities abroad (and not only of Russian nationality, but also the peoples that used to inhabit the Soviet Union) are situated the closest to the Russian civilization.22 Russia’s hegemony in these matters was openly emphasized by Igumen Phillip, former Vice President of the Department of Church External Relations of the Moscow Patriarchate, who argued that the Russian World involved the supreme role of the Russian nation, who, for centuries, had been introducing other nations, ready to live in peace and harmony with Russians, into the common civilizational space.23 According to this “theory”, other nations have voluntarily joined Russia, and Russia itself has never conquered anything or anyone. If this is true, how should we explain a number of works by Russian authors?24 Are we in danger of a new war?
19 Ibid. 20 Rekomendatsii rossiyskikh istorikov, (note 17 above). 21 Vystupleniye Svyateyshego Patriarkha Kirilla na torzhestvennom otkrytii III Assamblei Russkogo mira, 3. 11. 2009 [online]. http://www.patriarchia.ru/db/text/928446.html [15. 08. 2020]. 22 Nataliya Narochnitskaya: “Russkiy mir shire granits samoy Rossii”, 8. 10. 2007 [online] https:// rusk.ru/newsdata.php?idar=173621 [19. 01. 2021]. 23 See: Zamestitel’ predsedatelya OVTSS: “Russkiy mir – eto tsivilizatsionnaya obshchnost’, obrazovannaya obshchimi tsennostyami i obshchim opytom obshchestvennogo stroitel’stva”, 17. 06. 2010 [online]. http://www.patriarchia.ru/db/text/26208.html [16. 01. 2021]. 24 See: Zavoyevaniya Sredney Azii tsarskoy Rossiyey [online]. https://vuzlit.ru/380350/zavoe vanie_sredney_azii_tsarskoy_rossiey [22. 12. 2020]; M. Men’shikov: Zavoyevaniye Rossii. In: Id.: Vyshe svobody [online]. http://lindex-ru.org/Lindex3/Text/menshikov/5510.htm [19. 01. 2021] etc.
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In 2015, Russia completely withdrew from the Treaty on Conventional Armed Forces in Europe. This triggered NATO’s activities aimed at strengthening NATO presence in Europe. At the same time, as rightly foreseen by Mizin, the withdrawal from the Treaty may impact the whole process of arms control both in Russia and in the West.25 By withdrawing from the Treaty, Russia has also limited the possibilities of observing Russian military industry by NATO (even close to NATO’s borders). The question emerges: in the present situation, are the EU and NATO ready to oppose the Pусский мир project? Searching for an answer to this question, let us look at the example of Ukraine. Official media do not often consider the position of Ukraine in Europe as a possible NATO candidate, but some information is still available.26 Already in 2015, Zbigniew Brzezin´ski was certain that “a precondition for solving the conflict in Donbas is giving Russia guarantees that Ukraine will not be admitted to NATO”.27 You can give them some additional weapons, but never let them enter NATO!28 Little has changed in this matter in recent years.29 However, even then Brzezin´ski realized that the following solution was not acceptable: […] Ukraine enters the West, becomes a member of the European Union, also a member of NATO, and compromized Russia actually has to step back […]. According to him, this is not a method to achieve a positive solution and avoid a dangerous conflict. However, when it comes to transferring defensive weapons to Ukraine, […] Ukraine should receive them to stop the escalation of the conflict: […] later on, this has to be connected with a bilateral agreement and reaching an arrangement with Russia.30
25 V. Mizin: Problemy kontrolya nad vooruzheniyami v rossiysko-amerikanskikh otnosheniyakh [online]. https://mgimo.ru/upload/2020/12/problemy_kontrolya_nad_vooruzheniyami_v_r ossiysko_amerikanskikh_otnosheniyakh.pdf [22. 01. 2021]. 26 See: E. Stasik: Czwórka normandzka: umowa z Min´ska musi byc´ zrealizowana do kon´ca roku, 18. 07. 2015 [online]. https://www.dw.com/pl/czwórka-normandzka-umowa-z-min´ska-musi -byc´-zrealizowana-do-kon´ca-roku/a-18593194 [19. 08. 2020]; “FAZ”: ukrain´scy politycy zirytowani naciskami przywódców Niemiec i Francji ws. zmian w konstytucji, 17. 08. 2015 [online]. https://wiadomosci.onet.pl/swiat/faz-ukrainscy-politycy-zirytowani-naciskami-przywodco w-niemiec-i-francji-wszmian-w/ffq2c0 [19. 12. 2020] etc. 27 Zbigniew Brzezin´ski: trzeba zapewnic´ Rosje˛, z˙e Ukraina nie wsta˛pi do NATO, 29. 06. 2015 [online]. https://wiadomosci.wp.pl/zbigniew-brzezinski-trzeba-zapewnic-rosje-ze-ukrainanie-wstapi-do-nato-6027753783423617a [18. 01. 2021]. 28 Ibid. 29 D. Szeligowski: Problem korupcji na Ukrainie, 13. 01. 2017 [online]. https://pism.pl/publikacje /Problem_korupcji_na_Ukrainie [21. 01. 2021]; J. Wilczak: Kraj we˛druja˛cych kopert. In: “Polityka”. 20. 07. 2020 [online]. https://www.polityka.pl/tygodnikpolityka/swiat/1964512,1,k raj-wedrujacych-kopert-korupcja-toczy-ukraine.read [19. 01. 2021]. 30 Zbigniew Brzezin´ski w Brukseli: atmosfera jak przed II wojna˛ ´swiatowa˛, 22. 03. 2015 [online]. https://www.wiadomosci.onet.pl/swiat/zbigniew-brzezinski-w-brukseli-atmosfera-jak-przed -ii-wojna-swiatowa/4w42g3 [11. 01. 2017].
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In addition, “Ukraine is too large, and the United States are too far away to become engaged on its territory. Therefore, a different structure must emerge that would ensure its security. A system of regional alliances headed by Poland could be such a force”, claimed George Friedman, the founder and general director of the American consultancy Stratfor31, referred to as the shadow CIA32. Does the above mean that the Russian World project is acceptable at least for a part of Ukraine? Considering the diversity of Ukraine as a whole, this is not to be excluded.33
Longing for… the Soviet Union? Already at the very beginning of the 21st century, some Russian political scientists warned that, for instance, Ukraine is extremely important for NATO, and Poland is seeking cooperation with Ukraine within transatlantic structures.34 In 2000, there were opinions that Central and Eastern Europe needed to “finally overcome the syndrome of the collapse of the socialist system”.35 Naturally, the further we move from the idea of the collapse of socialism, which used to “unite” the countries of the former Eastern Bloc, the better for the political interest of Russia.36 It may be concluded that it was no coincidence when already in 2005
31 M. Rachon´: Polska na lidera sojuszu wojskowego, 14. 05. 2015 [online]. https://www.niezale zna.pl/67056-polska-na-lidera-sojuszu-wojskowego-musi-pojawic-sie-jakas-nowa-struktura [10. 05. 2018]; see also: Amerykanie uwaz˙aja˛, z˙e USA nie powinny zbyt angaz˙owac´ sie˛ w sytuacje˛ na Ukrainie. In: “Newsweek”, 11. 03. 2014 [online]. https://www.newsweek.pl/swia t/usa-nie-powinny-zbyt-angazowac-sie-w-sytuacje-na-ukrainie-newsweekpl/jnyk4xr [19. 01. 2021]. 32 Wikileaks “zdemaskuje cien´ CIA”, 27. 02. 2012 [online]. https://tvn24.pl/swiat/wikileaks-zde maskuje-cien-cia-ra201945-3493165 [19. 01. 2021]; J.R. Laing: The Shadow CIA, 15. 10. 2001 [online]. https://www.barrons.com/articles/SB1002927557434087960 [19. 01. 2021]. 33 See: M. Shtekel: Why war-torn east Ukraine votes for pro-Russian parties, 4. 11. 2020 [online]. https://www.atlanticcouncil.org/blogs/ukrainealert/why-war-torn-east-ukraine-votes-for-pr o-russian-parties [20. 12. 2020]; S. Pifer: How Ukraine views Russia and the West, 18. 10. 2017 [online]. https://www.brookings.edu/blog/order-from-chaos/2017/10/18/how-ukraine-view s-russia-and-the-west [16. 01. 2021]; T. Varshalomidze: Kharkiv’s pro-Russian protesters still mistrustful of Kiev, 29. 03. 2019 [online]. https://www.aljazeera.com/news/2019/3/29/kharki vs-pro-russian-protesters-still-mistrustful-of-kiev [12. 01. 2021] etc. 34 See: I. Kobrinskaya: Politika SSHA v tsentral’noy i vostochnoy Yevrope. In: “SSHA & Kanada: ekonomika, politika, kul’tura” 2 (2000), pp. 55–71, here p. 68. 35 For more details see: ibid., p. 68; see also: O. Smolin: Raspad SSSR kak geopoliticheskaya katastrofa: prichiny, prognozy, perspektivy. In: Raspad SSSR: 10 let spustya, ed. O. Smolin. Vol. 1. Moskva 2001, pp. 22–30. 36 See: A. Demidov: Sotsiokul’turnyye stili v Tsentral’noy i Vostochnoy Yevrope. In: “Sotsiologicheskiye issledovaniya” 4 (1998), pp. 16–28.
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Vladimir Putin pompously announced that the disintegration of the Soviet Union had been the biggest disaster of the 20th century.37 The above issues lead us to another pillar of the theoretical and ideological foundations of Putin’s policy related to how Russians perceive the strategy of cooperation between Russia and Central and Eastern Europe. In a document authored by scholars from the Moscow State University in the first decade of the 21st century, there are statements to the effect that the implementation of this strategy has to rely on “the common historical and cultural heritage that unites the countries of Eastern Europe and Russia throughout the ages. The emergence of free economic relations in this area is an important direction”.38 This strategic document once again unequivocally shows Russia’s strong (though rather unilateral) belief that the concept of cooperation between Russia and Central and Eastern Europe is determined by the (wanted or unwanted) common denominator: history, culture, etc. What is surprising is the issue of “free economic relations”, as we cannot overlook the fact that most of the EU Member States in Central and Eastern Europe belong to the Schengen area (i. e., they are part of the uniform EU Single Market). Consequently, the above doctrine can only be feasible if these countries join or are made to join Russia’s economic area. In other words, this assumption is either erroneous or full of far-reaching dire consequences. Moreover, the relevant literature underlines that Russian commercial or energy-related investments make these countries dependent on Russia, weaken their governmental institutions and even corrupt politicians.39
37 Putin: Rozpad ZSRR to najwie˛ksza katastrofa XX wieku, 25. 04. 2005 [online]. https://www.rmf 24.pl/fakty/polska/news-putin-rozpad-zsrr-to-najwieksza-katastrofa-xx-wieku,nId,142083 [12. 01. 2021]. 38 A. Voloshin [et al.]: Geopoliticheskaya strategiya Rossiyskoy Federatsii. Chast’ II. Rossiya i Yevropa [online] https://sites.google.com/site/politicamira/geopolitika/geopolitika/geopolit iceskaa-strategia-rossia [19. 01. 2021]; see also: N. Baranov: Rossiya i Yevropa: geopoliticheskiy kontekst, 19. 06. 2016 [online], https://www.nicbar.ru/politology/study/kurs-geopoli ticheskie-problemy-evropejskogo-razvitiya/278-tema-14-rossiya-i-evropa-geopoliticheskijkontekst [19. 01. 2021] etc. 39 See: A. Kułaga: Bezpieczen´stwo gazowe Polski w konteks´cie polityki bezpieczen´stwa energetycznego Unii Europejskiej. Warszawa 2018; Ya. Bugayskiy: Moskva raschlenyayet Tsentral’nuyu i Vostochnuyu Yevropu, 30. 12. 2014 [online]. https://inosmi.ru/russia/20141230/2 25263501.html [12. 01. 2021]; P. Musiałek: Geoekonomia czy geopolityka? Strategia Gazpromu na rynku gazu pan´stw Unii Europejskiej. In: “Kultura i Polityka” 14 (2013), pp. 82–95; P. Seklecki: Dialog energetyczny Unia Europejska – Rosja. In: “Biuletyn URE” 2 (2003), pp. 35–37.
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As a conclusion Nowadays, most Russians believe that primarily the countries of the West are Russia’s enemies.40 The doctrine of Russia’s political ideology as outlined here is completely incompatible with Russia’s apparent withdrawal from Central and Eastern Europe after the disintegration of the Soviet Union in 1991. Real-life activities undertaken in relation to Central and Eastern Europe clearly show that Russia treats the whole area as a historical and cultural component of Russian space and will, sooner or later, try to reclaim “its” territory. This is additionally confirmed by Russians’ “trained” mentality, which is almost completely devoid of any critical assessment of Russia’s evidently aggressive policies, for instance, as regards Ukraine.41 The public opinion is practically completely ready to support all activities of Russia’s government as regards the so-called “legitimate wars”42 (this concept is present in Russian political science since at least the beginning of the 20th century). This status quo constitutes a real danger for the future of Central and Eastern Europe, as it functions as an ideological foundation of Russia’s imperial aspirations (independent of the current state leadership) on which the Kremlin is probably planning to build the future of the Russian Federation.
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Jakub Bober (The Pedagogical University of Krakow)
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It is only paper covered with scribbling – that is how one of the most controversial and influential post-Soviet writers talks about his books. Vladimir Sorokin appeared in Russian literature in the 1980s after publishing his first novel, The Queue [Очередь], including scandalous dialogues written in informal language, full of vulgar vocabulary and descriptions of intimate scenes. A full version of his book was officially published in Russia as late as 1999. Like other writers of shocking books, Sorokin drew inspiration from the Soviet Union reality during which he grew up and drastic unpleasant moments of this epoch. Provocative subjects went beyond Russia and finally became known worldwide. The Queue has been translated into many languages, which largely contributed to creating the Sorokin’s unconventional literary image outside of Russia. He was one of many creators of the Russian underground and the first one who reached the mass reader. The book was meant for only a small group of postmodernist connoisseurs, so its success vastly exceeded even the author’s expectations. At some point, the writer tried to dispose of his reputation as a writer for connoisseurs, breaking the rules, rejecting bans, and a destructor of “the social order” who is evoking extreme emotions and feelings.1 In his opinion, books were not intended for mass usage. He claimed that they were something meant only for selected people like “a tranquiliser for a schizophrenic”.2 The common denominator for his works is the effect of shock that accompanies readers of his books. Nowadays, Sorokin is seen not only as a scandalist but, first and foremost, as someone who conducted a brute experiment on Russian literature by breaking its discourse. Provocative descriptions and combining imaginary reality with well-known people and motives are a reason why he is constantly criticised. On the other 1 “Eto prosto bukvy na bumage…”. Vladimir Sorokin: posle literatury, eds. Ye. Dobrenko, I. Kalinina, M. Lipovetskiy. Moskva 2018. 2 D. Gancarz: Literatura bez granic. In: “Dziennik Polski”, 6. 06. 2003 [online]. https://dzienni kpolski24.pl/literatura-bez-granic/ar/1993266 [10. 03. 2021].
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hand, this is what attracts readers having no Russian cultural background. Sorokin’s books, full of unbridled sex and violence, become new characteristics of Russian postmodernism and conceptualism. Vulgar, substandard language and the author’s neologisms cause difficulties in their reception and comprehension not only in the mother tongue but also with their translation into other languages. Interestingly, Vladimir Sorokin does not consider himself a writer and treats his writing as cutting off the reality in which humankind currently exists.3 He removes all limitations from literary threads, breaking the common standard of reasoning and perception of the literary reality. Descriptions found in some of his works do not evoke admiration, in some cases, they even put off the reader. The language he created is easily committed to memory and stimulates intensely the imagination, which might be connected with his previous job as a graphic designer. Thus, the question arises as to what triggered Sorokin’s fame and how he caused that he and his works are currently called world-class Russian literature. Conceptualism is a play using old literary motives. Creating the plot using them is like “moulding the clay”, which, as the author claims, gives him great satisfaction.4 This process consists in making a patchwork of motives, combining classical and contemporary styles and creating one’s own plot that contributes to the shock effect. Sorokin’s descriptions frequently include scenes full of violence and nakedness, which strongly provokes and divides Russians in their opinions. However, it does not mean that somebody brought up with the books written by Tolstoy, Dostoyevsky, Turgenev, Bulhakov, or Pasternak will not like Blue Lard [Голубое сало], Sugar Kremlin [Сахарный Кремль] or The Feast [Пир]. However, brutality and intimacy are not leading motives. If it were to be this way, the assessment of Sorokin would be too trivial, and this certainly would have excluded him from the world the latest Russian literature a long time ago. But still, new novels appear, hollow out the stone like dripping water, and gradually change readers’ mentality and extend borders of their literary perception. Sorokin in his fiction, mocks totalitarian systems and breaks down the personality scheme and human nature into prime factors, thus revealing greed, hatred, desire and absurdity of the socialist discourse. They can be seen as inclinations that are conspicuous in pathologies and various types of deviations. Additionally, he uses the language play into which he introduces substandard elements, this way creating his own idiostyle. He abruptly breaks up with the rules and patterns established at the time of the socialist realism. Thus, the author 3 Samoye skuchnoye – eto zdorovyye pisateli. S Vladimirom Sorokinym beseduyet Sergey Shapoval. In: “Stolitsa” 42 (1994) [online]. https://www.srkn.ru/interview/vladimir-sorokin-sam oe-skuchnoe-eto-zdorovye [10. 03. 2021]. 4 M. Lipovetskiy: Sorokin-trop: karnalizatsiya. In: “NLO” 2 (120) (2013) [online]. https://maga zines.gorky.media/nlo/2013/2/sorokin-trop-karnalizacziya.html [11. 03. 2021].
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stops them radically, however, he does it intentionally in a well-thought-out manner. Now, let us come back to his beginnings, i. e., The Queue, the novel whose literary form was a complete novelty. It can be treated as the author’s strong opposition to standards in the literature, particularly in the period of socialist realism. The dialogue in The Queue is natural, and the reality presented there is adequate to the one we can observe while standing in a queue to buy the basics. A queue is a place where many conversations take place, people talk about everything, i. e. about life, relationships with others and show mutual curiosity and certain helplessness regarding the present time. In the queue, we can hear the informal language, warnings and sometimes vulgar lexis. The book reaches its climax in the final intimate scene. The desire shown here has its purpose. Characters involved in this scene – Ludmila and Vadim got this role deliberately. Vadim is one of those queueing for hours, and Ludmila is quite an influential person because she works in a shop in front of which there is always a queue. Starting closer relationships with Ludmila enables Vadim to get better access to basic products and gives him a pass to achieving a higher status and certain privileges. Construction of the dialogue in this novel can be compared to pop-art practices, used for example, in Andy Warhol’s films through recording a fragment of the reality in the way it reveals itself. The Queue was the first Sorokin’s novel published in Poland, where in the nineties, the latest Russian literature was not published. The reason for this was the lack of translations of his books into Polish. This, in turn, may have been caused by the need to “vent” the long Polish dependence on the Soviet Union.5 Therefore, this novel did not cause a significant shock effect in Poland. Its reception was affected only after the incidents of symbolic throwing into toilets books written by Russian conceptualists, including Sorokin by the pro-Putin youth fraction.6 The shock effect was achieved by the novel Blue Lard, which deeply astounded the public with its obscene lexis and description of the homosexual relationship of Stalin and Khrushchev. It was the first time when the Sorokin’s book antagonised the public, although the writer assured that “All characters and actions are only letters on paper, therefore, making judgements or moral assessments makes no sense”.7 Blue Lard is a breakthrough in the writer’s literary career because it parodies and demythologises the socrealist discourse of
5 G. Szymczak: Z recepcji rosyjskiej literatury postmodernistycznej w Polsce (na przykładzie twórczos´ci Władimira Sorokina, Wiktora Jerofiejewa i Wiktora Pielewina). In: “Acta PolonoRuthenica” 20 (2015), pp. 135–144, here p. 137. 6 Ibid. 7 Lipovetskiy, Sorokin-trop, (note 4 above).
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Russian literature.8 This is another version of language plays and conceptualist word formation. Thus using such resources, Sorokin creates alternative history by taking the reader back to 1954, where Hitler and Stalin are still living and have friendly relationships, but the created literary vision appears to be in complete opposition to the reality. So instead of war and totalitarianism, there is an atmosphere of bodily love and representatives of the state authority and literature are sexual deviants leading a rich erotic life. Stalin and Khrushchev are described as passionate lovers, and convicts were sent to love camps instead of forced labour camps. The plot is not free from the threads of sexual violence. All this resembles a strange dream in which the only linking element is a person who might have such a dream.9 However, the crucial issue here is the blue bacon fat seen as a core of the literary process. It is made from writers’ cloned bodies created solely for this very purpose, which is explained at the beginning of the book. The language of the novel resembles the language of classic novels. It includes vulgar and informal lexis, which causes that the reader gets the impression of reading a contemporary story. Blue Lard also introduces the bodily ‘issues’ carnality (Latin: karnis – body, flesh)10 to literature. Reading is supposed to be a visual feeling – so Sorokin wants the reader to be a viewer of literature and watch it as a spectacle.11 Unfortunately, this novel has not been translated yet into Polish. Sorokin’s experiment, lasting for more than thirty years, has shown that postmodernism and conceptualism are still doing well. The above mentioned incidents involving the pro-government activists or demonstrative throwing books into the toilet show that someone like Vladimir Sorokin and his prose will not be forgotten soon. Each work has a specific genesis being a consequence of the writer’s previous experiences. It is worth mentioning that the writer worked as a graphic artist (he returned to visual arts in 2013), which is reflected in his books. Owing to the plasticity and vividness of the language, Sorokin’s books remain long in the readers’ memory. The writer masterly plays with styles and genres, which creates his distinctive literary mark. His prose is supposed to be in contrast with the lack of the Soviet culture openness to taboo issues, like, for example, intimacy. The bigger contrast, the larger the shock effect is achieved. Blue Lard, like The Queue can be treated as an allusion to the state that protects itself from “the rotten West”. Sorokin knows perfectly well how to hit the reader’s raw nerve. Therefore, his books are rich in obscene language, scenes are very vivid 8 A. Stryjakowska: Transgresyjny wymiar cielesnos´ci w powies´ci “Goluboye salo” Władimira Sorokina. In: “S´wiat Tekstów. Rocznik Słupski” 14 (2016), pp. 105–116, here p. 107. 9 “Eto prosto bukvy na bumage…”, (note 1 above), p. 17. 10 Lipovetskiy, Sorokin-trop, (note 4 above). 11 I. Belov: Sorokin trip [documentary]. Rossiya 2019, 90 min. [online] https://www.youtube.c om/watch?v=iFToOsby_2U [12. 03. 2021].
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and realistic, so they create an impression of being painted in a way that enables the reader to see them through words. Thus, totalitarianism in his books reaches the limits of the absurd by means of available linguistic devices and visualisations. Violence, illustrated with words, seems to dominate in order to evoke only extreme feelings. However, its interpretation is far more complex. Alike the majority of Russian writers, at some point, Sorokin had to decide whether to write or not and what topics he should choose for his writing.12 The first option, in most cases, puts a writer in opposition to the unpredictable authorities.13 In his opinion, contemporary Russians are poisoned with the commonly cherished memory of the Soviet reality. So he tries to tackle the past in his own unique way. The language of Sorokin’s novels is characterised by frequent use of archaisms (e. g. The Day of the Oprichnik and Sugar Kremlin) which, along with the whole range of substandard language devices, constitute a grotesque “hybrid”. They take off the seriousness of all the described issues. Sugar Kremlin is a book that focuses on finding national archetypes. Linguistic archaisms found in the plot set in the twenty-first century can be, in a way, a symbol of mental catastrophe. It is also a common metaphor for contemporary Russia.14 After reading the collection of fifteen short stories, we get the impression that despite the appearance of numerous modern technologies, nothing has changed since the time of the oprichnina in the sixteenth century. Sugar Kremlin is ‘sugary’ only in the name as it actually has nothing to do with sweetness. Sugar is only the tsar’s award for ordinary people’s serfdom whose only entertainment is cocaine and public executions. Such a reality is shown as something perfectly normal: Marfusha saw the possessed Amon only once when he was raised on the ropes over the Trubnyi square in order to make him see the misery. At that moment, he saw that Monarch would miscarry for the second time because of the spell cast upon her by the shooting widow. Some time ago, this widow was harshly treated as they dragged her along the Vasilyevsky Exit to the Moscow River and then pushed the rebel under the ice with grappling hooks.15
12 “Dlya pisatelya Rossiya – eto El’dorado”. S Vladimirom Sorokinym beseduyet Ol’ga Bugrova, 20. 08. 2010 [online]. https://srkn.ru/interview/vladimir-sorokin-dlya-pisatelya-rossiya-etoeldorado.html [12. 03. 2021]. 13 M. Nowicki: Rosja ma dwie globalne marki: wódke˛ i literature˛. Dostojewski, Czechow czy Tołstoj to waluta, która˛ moz˙na płacic´ wsze˛dzie. In: “Newsweek”, 2. 12. 2018 [online]. https:// www.newsweek.pl/kultura/wladimir-sorokin-o-rosji-alkoholu-i-swojej-powiesci-wywiad-zwladimirem-sorokinem/qwcymj7 [12. 03. 2021]. 14 Ibid. 15 W. Sorokin: Cukrowy Kreml, trans. A.L. Piotrowska. Warszawa 2011, p. 12. All translations of book excerpts have been made by Ilona Delekta.
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Last time, before Christmas, when due to Marfusha’s imprudence, two lines of coke have been blown by the draught. That evening mom and dad sat down in a kitchen after a hard day at work, poured three lines of the white stuff just when Marfusha was taking out the rubbish and opened the door wide.16 Ah, so you heard lads in Vspolnyi street unashamedly swearing and using “d” and “p” words. “Well, well”, Marusha shook her head. “Who reported that?”17
Archaisms typical of the formal elevated style juxtaposed with everyday informal language create a parody of modernity. From the character’s perspective, everything described in this book is deadly serious and full of contradictions. Their mentality is well illustrated by the following words “Snow, blood, vodka and birch juice make up our national cocktail”.18 This “parable” about contemporary Russia where queuing, tortures or isolation are commonplace for characters is, in fact, the author’s reflection on the specific reality and an allusion to Russian absurds. The West is the biggest Russian enemy. At the very beginning of Sugar Kremlin, we read about the construction of a large wall that will separate Russia from the West: Marfusha knows about that. She knows there’s no way they will finish the construction of the Great Wall because external and internal enemies disturb, and many more bricks need to be made to ensure common happiness. The Great Wall is getting bigger and bigger and separates Russia from its external enemies.19 Marfusha’s friends told her about those mega onanists, the unashamed European people who lock themselves in the basement, swallow fiery tablets and tease their dicks and pussies with special teasing tools.20
Once again, the writer found a way of showing a panic fear of the external world, i. e. the West, by converting the fear into laughter through tears. A short story Nastya [Настья] (2001) still has been shocking readers with its brutality described in a relaxed manner. In 2016 the writer was even accused of propagating cannibalism21 and mocking the Orthodox Church values.22 These accusations were formulated 15 years later and resulted from the plans of making a film adaptation of the book. One of the activists even demanded conducting its linguistic analysis, which was to confirm the charges. Nastya, a story from the 16 17 18 19 20 21
Ibid., p. 16. Ibid., p. 11. Ibid. Ibid., p. 9. Ibid. Yu. Ivanova: Politsiya proveryayet pisatelya Vladimira Sorokina za rasskaz “Nastya”, 23. 08. 2016 [online]. https://life.ru/p/894228 [10. 03. 2021]; Słynny pisarz na celowniku prawosławnej aktywistki. “Propaguje kanibalizm”, 24. 08. 2016 [online]. https://tvn24.pl/swiat/slynny-pisa rz-na-celowniku-prawoslawnej-aktywistki-propaguje-kanibalizm-ra670850 [10. 03. 2021]. 22 Ibid.
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collection of stories The Feast, like all the writer’s books, starts typically but later on shocks and even scares. At first, the writer tempts and involves the reader with a picturesque description of the Russian nineteenth-century court. He creates a genuinely idyllic picture of the Russian countryside, which unavoidably reminds the reader of Turgenev’s works. The terror appears at the moment when the main character is to be baked in the oven on her sixteenth birthday and eaten at a large family table. A painfully realistic and detailed picture of the critical scene causes that not everybody is able to read that short story. The Feast, however, is a breakthrough; the writer commented that “This is the first book focused on the process of eating and the metaphysics of eating”.23 The story Nastya resembles the horror genre.24 As regards breaking the discourse, the traditional narration is disturbed here by a drastic and shocking course of events.25 The reader is shocked by the use of this narrative method and the way in which the human body is treated. Besides, the taboo is broken through introducing a dish made of the human flesh and treated here as commonplace. For Sorokin, a sense of taste is something exceptional that allows for getting to know other cultural circles. The food is a source of many different sensual feelings, including the sexual ones, which is illustrated by what one of the characters says: “Вы, Анна Дмитриевна, будете очень вкусны, уверен” [“Anna Dmitryevna, you will taste very good, I’m sure of that”.]26 Removing taboo, demythologisation, and deconstruction based on old “tried and tested” literary devices serves as a means of evoking extreme feelings and emotions. In that respect, Sorokin succeeds and achieves the desired shock effect. Interpretation of each Sorokin’s book always entails searching for allusions to vital issues present or absent in the Russian culture. As well as this, there are also associations connected with authorities, classic literature and everyday life. Without the properly described reality, the writer would not affect and antagonise the readers so strongly. One day the writer said: “We are a nation with logocentric awareness and, for us, words mean more than actions”.27 That is why, as he says, the paper will accept anything. Sorokin’s statements can be seen as a key in understanding his attitude to contemporary literature. Can Vladimir Sorokin be regarded as dangerous for state authorities? It seems an important issue because, for example, in Poland, he is known mainly for his scandals or interviews in which he expresses his negative attitude to the Soviet and Russian 23 A. Zywert: Smak z˙ycia – smak ´smierci. “Uczta” Władimira Sorokina. In: “Slavica Wratislaviensia” 158 (2014), pp. 337–347. 24 Ibid., p. 341. 25 Ibid. 26 Ibid., p. 343. 27 A. Z˙ebrowska: S´redniowiecze w mercedesie. In: “Gazeta Wyborcza”, 8. 02. 2011 [online]. https://wyborcza.pl/7,75410,9069228,sredniowiecze-w-mercedesie.html [10. 03. 2021].
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state authorities. Thus, to some extent, he is shown as an oppositionist and a literary subversive, which, in fact, is not entirely true. Despite raising numerous challenging issues, Sorokin has never been subjected to repressions by the state authorities. Also, researchers’ opinions concerning his literary activity are divided. Mark Lipowiecki thinks that the Sorokin’s statements about “letters on paper” and “moulding words like from the clay” are only half true. Therefore, we should bear it in mind because even the writer keeps mentioning that the text is a powerful weapon that can hypnotise or even paralyse.28 This prose intends to evoke such reactions and the shock effect. However, other researchers believe that contemporary conceptualists, including Sorokin, have nothing serious or concrete to offer; they just play with extreme emotions. According to them, the Sorokin’s books can only “make people vomit”.29 It is written for the computerised youth that has not been educated on professional literature. Vitaly Portnikov, one of the authors of such opinions, comments that “reading Sorokin’s books, one can feel like a participant of some wordplay where words do not constitute a coherent plot, and, what is most important, and they are not able to draw the reader’s attention to the core idea for which the book has been written”.30 So it is no wonder that works written by one of the most read Russian writers of the twenty-first century produce such strong reactions. Thus, for journalists, he is a scandalist and provocateur slandering Russia, while researchers regard him as a master of wordplay. Therefore, he evokes the interest of both groups both in his own country and abroad. In this article, following many other researchers, I attributed Sorokin to modernism, although the writer does not accept this classification and the label given to him by researchers and journalists. For Sorokin, each book is an attempt to discover something new in himself and his surroundings, owing to which literature does not become a routine.31 His opponents, however, claim that his books reveal his negligent attitude to both classical Russian literature and to Russia itself. However, this opinion is not plausible, since Sorokin, through the use of the literary or political discourse and making parodies like The Sugar Kremlin or Nastya, almost popularises works of the classics whom he knows and admires. Translated by Ilona Delekta
28 29 30 31
Lipovetskiy, Sorokin-trop, (note 4 above). D. Gancarz, Literatura bez granic, (note 2 above). Ibid. “Dlya pisatelya Rossiya – eto El’dorado”, (note 12 above).
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Summary Shock Effect. Vladimir Sorokin as a Symbol of Russian Literary Transformation This article presents selected aspects of prose written by Vladimir Sorokin – one of the most famous Russian postmodernists and conceptualists of the twenty-first century. The discussed aspects focus on some of his works revealing characteristic features of his prose. Keywords: Russian conceptualism, shock effect in the literature, literary transformation
Jolanta Lubocha-Kruglik (University of Silesia in Katowice)
Victor Pelevin’s Postmodern Plays and Their Reflection in Translation
Victor Pelevin is one of the most famous Russian writers and leading Russian postmodernists, though paradoxically, he does not consider himself to be one. Despite such declarations, characteristic of modernists, in his prose he mingles genres and styles, juggles with quotations and parodistic reminiscences from literary classics and has a particular liking for cryptoquotes. As well as this, he reaches out for the Slavic demonology, Buddhist philosophy and mystical traditions. He also makes references to concepts used in humanities research by putting elements of well-known scientific theories in the dialogues of his book characters. Characteristics of Pelevin’s postmodernist poetics also involve its interactivity and reality virtualisation on the one hand, and, on the other hand, postulating a new way of reading masterpieces of the Russian literature and objection to its stereotypical reception and interpretation. Pelevin successfully creates alternative histories of his country and is called a writer of the “border zone” who, as it were, tames the places where different realities come into contact. Owing to his novels Омон Ра [Omon Ra], Жизнь насекомых [The Life of Insects], Жёлтая стрела [The yellow Arrow], Чапаев и пустота [Buddha’s Little Finger] he forever entered the world of Russian and world literature. In 1988 The New Yorker Magazine chose him as one of the six best European novelists. The Observer included him on the list of 21 writers of the twenty-first century, and in the online questionnaire on the OpenSpace.ru website conducted in 2009, he was selected as the most influential Russian intellectual. The French Magazine put him on the list of 100 most influential cultural activists of the contemporary culture.1 One of the characteristics of Pelevin’s novels is using motives associated with the Soviet life in the magic and occultist perception of the world. The writer makes frequent use of the postmodernist palimpsest by means of which he 1 35 mudrykh tsitat iz proizvedeniy Viktora Pelevina, 3. 02. 2014 [online]. http://www.cluber.co m.ua/lifestyle/people/2014/02/35-mudryih-tsitat-iz-proizvedeniy-viktora-pelevina/ [12. 12. 2020].
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creates his texts using fragments of texts written by other authors. The multitude of references in his texts causes that even Russians do not find them an easy read. Readers with a different cultural background may face even more significant difficulties with their interpretation. These problems stem from the fact that names relating to realia and numerous intertextual references and other elements mentioned earlier in the article do not play only an ornamental role in the text. Their presence in the text is closely connected with the plot, and it enables the readers to follow it and make them discover what is actually said between the lines. They constitute an essential element of the culture code; thus, they should be seen as a key to understanding the cultural specificity of a specific nation. Within the intertextual space of Pelevin’s works, a significant role is played by the author’s paratexts, which may pose another challenge for the translator. However, it is not surprising because the encounter of two or more cultures facilitates differentiation of their types and functions. Paratexts cannot exist without the main text, and it is also the case with translation since it cannot exist without the original text. The specific character of the translated text results from the fact that it still is its author’s creation but functions differently in another cultural background. In most cases, it is signalled in the pretext unit of the paratext, i. e., in a title that is more often than not changed and adapted for the new reader. All of Pelevin’s novels encourage the reader to discover hidden meanings, most of which appear in titles. One of them is T – the title consisting of only one letter. Such a stylistic and compositional device is one of the distinctive features of Russian postmodernist literature, so this title is not particularly surprising. What is worth noting, though, are various ways of its interpretation: T – for the count Tolstoy, T – for the theory, T – for the cross, T – for the tilde and axe, T – for the text and creator.2 However, this multi-aspect interpretation of the title is beyond the capabilities of an average Polish reader.3 Decoding and interpretation are possible after reading the book, but they require proper preparation on the reader’s part. T stands for Leo Tolstoy’s alter ego, who in this novel is a master of martial arts wandering through the nineteenth century Russia to the Optina Monastery described by Fyodor Dostoyevsky in The Brothers Karamazov. His journey is an equivalent to philosophical recognition of the deepest mysteries of existence where the T reality is intertwined with signals relating to today’s life. T character is a combination of James Bond personality traits and the full of mysticism Far East warrior. T has an unusual ability to make spectacular escapes, 2 S.A. Zyryanova: Abbreviaturnoye zaglaviye romana Viktora Pelevina “T” kak instrument reprezentatsii bazovogo khudozhestvennogo kontsepta teksta. In: “ Vestnik Vyatskogo gosudarstvennogo universiteta” 7 (2017), pp. 90–93. See also: J. Lubocha-Kruglik, O. Małysa: Gra (z)tekstem, gra z czytelnikiem. Kilka uwag o polskim przekładzie powies´ci Wiktora Pielewina “T”. In: “Przegla˛d Rusycystyczny” 1 (161) (2018), pp. 129–142, here p. 129. 3 Lubocha-Kruglik, Małysa, Gra (z)tekstem, gra z czytelnikiem, (note 1 above).
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and he is a firm believer in the rule of non-resistance to evil with violence, which does not prevent him from using modern weapons. He and other characters of the novel frequently use well-known quotations, and the characters themselves are clear allusions to various books. Multiple possibilities of interpretation constitute a starting point for a play with meanings, which is illustrated by the title of the novel Empire V with its subtitle Повесть о настоящем сверхчеловеке4, which literally means The tale of a real superhuman. Pelevin himself translates this title into Russian Ампир В [Ampir V], which allows for introducing the wordplay – if we move the letter V (Russian В) to the beginning of the word, the word ampir will change into vampir (вампир [vampir] in Russian, vampire in English). This title can also be interpreted as a historical and political allusion, i. e., Empire V. This is a reference to the historico-philosophical concept formulated by a monk Philotheus of Pskov according to which the first Rome fell because of the heresy, the second Rome, i. e., Constantinople due to the betrayal of the genuine faith, Moscow is the Third Rome, and there will be no the fourth one. This is reflected in the novel about an empire built by vampires, yet another empire after the Third Reich and the Fourth Rome of Globalism. The Polish title Empire V5 does not reflect this ambiguity. The original title, however, allows for other possibilities of its interpretation since it also refers to the Alexander Prokhanov’s novel Симфония Пятой империи, particularly to its English translation The Fifth Empire’s Symphony. This allusion is not clear to the Polish reader, not only because the novel has not been translated into Polish but also because of the mysticism of Russian history. A Polish reader is not likely to notice and understand allusions to the Sergey Mianev’s novel Дyxless. Повесть о ненастоящем человеке [Soulless. Soulless. Story of The Fake Man]6, that was translated into Polish but was quickly forgotten. The only possible association that could be evoked by the subtitle might be the one referring to the Boris Polevoy’s novel Повесть о настоящем человеке [Opowies´c´ o prawdziwym człowieku / Story of a Real Man].7 However, taking into account the time that has passed since its publication, it seems that the possibility of understanding the meaning of these references is fairly limited. The Russian title is also found in numerous texts about vampires (Dracula by B. Stoker, Interview with the Vampire by Ann Rice or even in the Twilight saga by Stephanie Meyers and several other books), which, in turn, is not possible in Polish translation.
4 5 6 7
V. Pelevin: Empire V. Povest’ o nastoyashchem sverkhcheloveke. Moskva 2012. W. Pielewin: Empire V, trans. E. Rojewska-Olejarczuk. Warszawa 2008. S. Minayev: Dyxless. Povest’ o nenastoyashchem cheloveke. Moskva 2006. B. Polewoj: Opowies´c´ o prawdziwym człowieku, trans. J. Wyszomirski. Warszawa 1954.
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In the history of changed novel titles, there is another one worth noting – Чапаев и Пустота8 (which literally means: Czapajew i Pustka (in Polish) and Chapayev and Void (in English)) which was translated into Polish as Mały Palec Buddy and Buddha’s Little Finger (in the US) and Clay Machine Gun (in the UK), and both versions have been approved by the author.9 The change of a title is acceptable and can be justified to some extent, but one cannot help feeling that the reader of the translated text loses a lot. This results from the fact that the original title was based on well-known reminiscences connected with the Soviet and Russian reality. The history of Chapayev, a legendary, charismatic red leader, has its roots in the novel by Dmitry Furmanov.10 Chapayev was also commemorated in the film made by Sergei and Georgi Vasilyev brothers in 1934. Numerous dialogues from this film inspired the creation of an anecdote series that also concerned contemporary matters not connected with the actual biography of the main character. However, Pelevin’s Chapayev does not resemble the hero of the Russian Civil War. Despite a formal similarity (burqa, shashka), he is not here a red commander (командир), but a teacher (Пётр Пустота) who opens the real nature of the world before his elderly. Victor Pelevin entrusted Chapayev with the role of preacher, spreading the idea of illusiveness of the surrounding world that is only the projection of what is happening in our minds. In the Polish translation, Пётр Пустота is called Piotr Pusto, and пустота (pustka in Polish, emptiness in English) is one of the crucial postmodernist notions. One of the significant carriers of cultural elements is always the usage of proper names. It is particularly conspicuous in postmodernist literature since the characters’ reflections are frequently shown from the perspective of the first name semantics. Consequently, the use of numerous occasional anthroponyms makes it difficult to interpret them unambiguously. What is extremely surprising is an odd name of the character in the first Pelevin’s novel Generation “П” [Generation “P”/ Babylon / Homo Zapiens (transl. by Andrew Bromfield11)] – Вавилен (Wawilen [Vavilen] in Polish translation and Babylen in English). This name results from quarrels of Pelevin with Vasily Aksyonov and, as the novel says, the name Было составлено из слов “Василий Аксенов” и “Владимир Ильич Ленин”12 (when literally translated – The name was a combination “Vasily Aksyonov” and “Vladimir Ilyich Lenin”, but Andrew Bromfield in his translation gives yet another explanation in which he attempts to maintain a phonetic convergence between Russian and English names – He composed it [the name] 8 9 10 11
V. Pelevin: Chapayev i pustota. Zheltaya strela. Moskva 2001. W. Pielewin: Mały palec Buddy, trans. E. Rojewska-Olejarczuk. Warszawa 2008. D. Furmanow: Czapajew, trans. J. Putrament. Warszawa 1949. V. Pelevin: Babylon, trans. A. Bromfield. London 2000; Id.: Homo Zapiens, trans. A. Bromfield. New York 2002. 12 V. Pelevin: Generation “P”. Moskva 2002, p. 11.
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from the title of Yevtushenko’s famous poem “Baby Yar” and Lenin13). This creates a specific symbolic picture embedded in one culture and is likely to be understood in another culture. However, in the case of such pictures, certain semantic losses are unavoidable. The origin of this peculiar name is easy to understand in the Polish translation, but what the character says later on when he is ashamed of his name and starts to lie saying that Отец назвал его так потому, что увлекался восточной мистикой и имел в виду древний город, Вавилон (his father had given him a strange name because he was keen on Eastern mysticism, and he was thinking of the ancient city of Babylon)14, does not sound plausible. This is how the Polish translator Ewa Rojewska-Olejarczuk might have interpreted it and decided to explain it in a footnote.15 The same translator, however, shows some inconsistency and breaks this apparently natural chain of association. She (the translator) translates Lenin’s first name using its approved Polish equivalent Włodzimierz (the name was a combination of Wasilij Aksionow and Włodzimierz Iljicz Lenin i. e., Vasily Aksionov and Vladimir Ilyich Lenin)16 but then, on the same page the name is translated as Władimir (Vladimir): Tatarski w wieku lat osiemnastu z satysfakcja˛ zgubił swój pierwszy dowód osobisty, a drugi wydano mu juz˙ na imie˛ Władimir. At the age of eighteen Tatarsky was delighted to be able to lose his first passport and receive a new one in the name of Vladimir.17
On the one hand, in Polish and English, it connotes foreignity; on the other hand, it neutralises the effects of the language play whose rules the reader will not fully understand. Another character with an atypical name is Omon Krivomazov from the novel Omon Ra. The character admits that his father called him Omon. Having worked all his life in the police, he wanted his son also to become a policeman. Омон – имя не особо частое и, может, не самое лучшее, какое бывает. Меня так назвал отец, который всю свою жизнь проработал в милиции и хотел, чтобы я тоже стал милиционером. – Пойми, Омка, – часто говорил он мне, выпив, – пойдёшь в милицию – так с таким именем, да ещё если в партию вступишь.18 Omon is not a particularly common name, and perhaps not the best there is. It was my father’s idea. He worked in the police all his life and wanted me to be a policeman too.
13 14 15 16
Pelevin, Babylon, (note 11 above), p. 2. Ibid. W. Pielewin: Generation “P”, trans. E. Rojewska-Olejarczuk. Warszawa 2010, p. 11. Interestingly, Pelevin uses a fragment of Leonards Cohen’s song Democracy as a motto of the book, both in the original and author’s own translation. Ibid., p. 7. 17 Pelevin, Babylon, (note 11 above), p. 2. 18 V. Pelevin: Rasskazy. Moskva 2001, p. 7.
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“Listen to me, Ommy”, he used to say to me when he’d been drinking, “if you join the police, with a name like that… then if you join the Party…”19
Conspicuous irony observed here serves as a starting point in the author’s play with the reader. This allows him to create a situation where one notion can be explained in several ways, depending on the reader’s general and prior knowledge, depending on the system of presuppositions and implications that are available to everyone but not in equal proportions. In the Russian reality, OMOH (English: OMON) was a name of special police forces (Отряд милиции особого назначения / Otryad Militsii Osobogo Naznachenija / Russian Special Police Forces. OMON is the acronym of Special Purpose Police Unit pronounced “Amon”). In this novel, used as a first name, it was supposed to be an entry ticket to a better life, and for Omon’s father, it meant the police work. Both the first name and surname of the main character – Omon Kriwomazow, as well as the first names and surname of his brother and father – Owir and Matwiej Kriwomazow – are intentional and meaningful anthroponyms. They refer to the classical Russian literature (Krivomazov is a regarding name – comes from kriv- “crooked” or wrong and maz- “daub, smear”). Still, not only do the first names sound odd, but also the first part of their surnames kriwo (English: crooked) suggest that the characters are likely to have a hard life (Krivomazov consists of two parts: the first one kriv means crooked or wrong, the second one maz means daub, smear). And so криво (i. e., crookedly) they stumble through their lives. Owir Kriwomazow (OWIR) (in English translation the abbreviation OVIR) – stands for Отдел виз и регистрации (Office of Visas and Registration)20 has a problem with travelling abroad. Matthew, despite having “the right first name” (right means a biblical name)21, has not achieved much in his life “all he had earned for his efforts was a miserly pension and a lonely, drunken old age”.22 Proper names with expressive and allusive functions are never easy to translate. In the two Polish translations of this novel made by Eugeniusz De˛bski23 and Ewa Rojewska-Olejarczuk24, there is little left of the language play and numerous intertextual references (it does not refer only to the discussed above anthroponyms). The names Омон and Овир have been translated using transliteration (Omon, Owir) and they are explained in an accompanying cultural commentary OMON – Otriad Milicji Osobowo Naznaczenija – Oddział Milicji Specjalnego Przeznaczenia [Special Purpose Police Unit]; OWIR – Otdieł Wiz i Riegistracii – 19 20 21 22 23
V. Pelevin: Omon Ra, trans. A. Bromfield. London 1994, p. 3. Pelevin, Rasskazy, (note 18 above), p. 8. Ibid., p. 8. Pelevin, Omon Ra, (note 19 above), p. 4. W. Pielewin: Omon Ra i inne opowiadania, trans. E. De˛bski. In: “Sfinks” 3 (34) (2003), pp. 47– 94. 24 W. Pielewin: Omon Ra i inne opowies´ci, trans. E. Rojewska-Olejarczuk. Warszawa 2007.
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Biuro Wiz i Rejestracji [Office of Visas and Registration], biuro paszportowe25 [Passport Office] Wydział Wizowo-meldunkowy26[Office of Visas and Address Registration]. The name Матвей has also been translated by means of transliteration. However, such a translator’s decision does not allow the Polish reader to understand why this very name is “right”.27 While juggling with first names, Victor Pelevin also makes frequent references to other cultures. A symbolic meaning of the name Omon is introduced when the main character of the novel recalls a conversation with an elderly woman from the neighbourhood when they talked about which god is better: Особенно мне нравился Ра, бог, которому доверились много тысяч лет назад египтяне, – нравился, наверное, потому, что у него была соколиная голова, а лётчиков, космонавтов и вообще героев по радио часто называли соколами. I especially liked Ra, the god in which ancient Egyptians believed thousands of years ago. Probably I liked him because he had a falcon’s head, and pilots and cosmonauts and all sorts of heroes were often called falcons.28
Since that conversation, the character reacted to the name Omon but called himself Ra as he wanted to be similar to him. Omon Ra is a reference to Amon Ra – the god of harvest and fertility. Thus, we participate in one more play – the name Omon, reflecting ideals of the Soviet reality, is intertwined with the name of the Egyptian ruler and can be seen as an attempt to achieve a certain ideal and a better world. The plot confirms this as the hero had been interested in the sky and dreamt of becoming an aviator since his early childhood. The novel T, whose title has been analysed earlier in this article, also includes a rich repertoire of proper names. Their diversity and multitude of functions stem from the assumptions of the postmodernist trend and specific features of Pelevin’s idiolect. Specificity of this novel results from both intertextuality that is essential for the contemporary culture and onimic plays. In one of the fragments, there is a reference to Vladimir Nabokov, who until 1940 published his written works under the nickname Сирин (Sirin). Sirin is a creature known from Russian folk tales; it is a bird with woman’s breasts. A distorted version of this nickname, i. e. Филин (Filin), appears in the novel T. – Красиво, – сказал кто-то, – а что за писатель? – Не помню точно, – ответила дама. – Птичья фамилия – не то Филин, не то Алконост29. 25 Pielewin, Omon Ra i inne opowiadania, p. 48. 26 Pielewin, Omon Ra i inne opowies´ci, (note 24 above), p. 7f. 27 Mateusz (English: Mathew) a name of Hebrew origin derived from the word Mattania (Yahweh’s gift, God’s gift). 28 Pelevin, Omon Ra, (note 19 above), p. 68. 29 V. Pelevin: T. Moskva 2009, p. 302.
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This play with intertext is accompanied by the reference to one of the humorous stories by Anton Chekhov – Лошадиная фамилия (Horsey name). His character cannot recall the folk healer’s surname; he only remembers that it was “horsey”. Pelevin uses this trick successfully while introducing another surname, this time, it is bird-related. Thus, the second surname appears here, i. e. Алконост (Alkonost), which is not understood by the Polish readers and does not evoke desired connotations. – Dokładnie nie pamie˛tam – odparła dama. – Jakies´ ptasie nazwisko – Filin, a moz˙e Alkonost30. “I don’t remember exactly”, replied the lady, “Some birdy name, Filin, or maybe Alkonost”.31
Using transliteration as a translation technique obviously does not solve the problem, and the translator tries to explain this issue in the footnote: Filin (in Russian) – owl, eagle owl; Alkonost – a fairy tale bird with the human head; most likely referring to Vladimir Nabokov, who sometimes used the nickname Sirin.
This brief commentary, however, does not seem to be exhaustive. The reader still does not know the purpose of introducing the exotic-sounding names. The translator explains what a creature called alkonost actually is, but she makes a mistake about the second creature by associating it with the eagle owl. It is worthwhile to mention that sirins symbolise sadness and suffering, whereas similarly looking alkonosts denote happiness and hope. Unlike alkonosts, the sirins are hostile to humans. The juxtaposition of these two creatures in the novel entails the necessity of a more in-depth interpretation since Pelevin never tends to speak directly. The use of the name filin instead of sirin can be interpreted as a joke on Nabokov. So again, such an allusion is virtually imperceptible to the Polish reader. However, it is not the only moment in the novel revealing Pelevin’s tendency to mock, perhaps not sanctity but certainly symbols. In one of the scenes, the main character of the novel – Leo Tolstoy flirts with a plain maid called Аксинья. The choice of a first name for such a character is certainly not random, so, again, many possible ways of its interpretation appear. Aksiniia is a folk form of the name Xenia is to emphasise the character’s plainness and explain her reaction during a meeting with the count. Aksiniia can also be associated with the character with the same name in the novel The Silent Don by Mikhail Sholokhov, the woman who emanated with erotism and sexuality like the heroine in the T novel. Aksiniia in Pelevin’s novel does not know whom she is 30 W. Pielewin: T, trans. E. Rojewska-Olejarczuk. Warszawa 2012, p. 321. 31 All excerpts from the novel T have been translated into English by Ilona Delekta.
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talking to, and Tolstoy was known for his liking to mingle with plain people. Aksiniia, symbolising these “plain people”, is clearly not aware of who her interlocutor is and shows no appropriate respect for him, and what is more, she even takes the liberty of making jokes about his name and appearance: – Тебя как звать? – Аксинья, – ответила девка. – А вас? Отчего-то Т. вдруг почувствовал непреодолимое желание выдать себя за писателя, о котором говорил Ариэль. – Толстой, – сказал он. – Лев Толстой. Девка прыснула в кулак. – Скажете тоже, – проговорила она застенчиво. – Ну какой же вы толстой. Вы худявый. И еще лев, придумал тоже. У льва грива32.
In the conversation of Aksiniia with Tolstoy, there are elements of the language play based on the significant surname because Tołstoj (Tolstoy) is an apparent reference to the adjective толстый (tłusty in Polish, fat in English). Using its non-grammatical form, the girl mocks the man’s posture, which, in her opinion, contradicts features present in his surname. In order to achieve it, she uses language layers typical of her social position, so she uses the neutral худой instead of a dialethism худявый (thinnish). This crucial element of linguistic stylisation was unfortunately lost in the translation. The girl dares to joke about the meaningful first name – Leo. The phrase придумал тоже (tez˙ wymys´lił; yes, great name for him clearly indicates that in her opinion, her interlocutor has nothing to do with the lion in terms of his appearance or dignity (the lion is a king of animals, and Leo Tolstoy is a great authority but only for those who know him.). This also shows a reference to the convention in which this character is shown in the novel. Never does Pelevin explicitly write that T stands for Tolstoy. The character introduces himself this way, and nobody verifies his identity. – Jak sie˛ nazywasz? – Aksinia – odrzekła. – A wy, panie? – Tołstoj – powiedział. – Lew Tołstoj. Dziewczyna parskne˛ła, zasłaniaja˛c usta. – Akurat – powiedziała wstydliwie. – Gdzies´ tam tłusty. Pre˛dzej chudy, panie. A w dodatku lew, tez˙ wymys´lilis´cie. Lew ma grzywe˛33. “What’s your name”? “Aksinia”, she replied. “And you, Sir?” “Tolstoy,” he said. “Leo Tolstoy”. The girl burst with laughter, covering her mouth with her hand.
32 Pelevin, T, (note 29 above), p. 78. 33 Pielewin, T, (note 30 above), p. 84.
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“Sure,” she said shyly. “You are fat? I’d say you’re rather thin, Sir. And, … a lion. How did you get this idea? The lion has a mane.”
There is little left of the author’s original idea in the Polish translation. Tolstoy is only associated with the name of the writer Leo Tolstoy, and there are no associations with the word fat. It is also related to the English version. Therefore, the girl’s reaction on hearing this surname – bursting with laughter, and her reply, including two antonymous adjectives tłusty – chudy (fat – thin), are not fully clear. Besides, there is nothing left from the language play and folk language stylisation as the girl speaks the literary language, and there is no play with the meaningful first name, which is a significant element in Pelevin’s prose. Elements of this play can be observed in many other fragments of the text, for example, in the one where the Russian name Вася Пупкин is spelt in the Latin alphabet as Vassya Pupkin. Бог умер. Ницше. Ницше умер. Бог. Оба вы педарасы. Vassya Pupkin34.
The name written this way in the Russian text is a clear signal of strangeness. In the Polish text, the translator uses the same strategy. Its reception, however, is not the same since Vassya Pupkin representing a typical anonymous Internet user is for Polish readers a complete stranger: Bóg umarł. Nietzsche. Nietzsche umarł. Bóg. Obaj jestes´cie pedały. Vassya Pupkin35. God died. Nietzsche. Nietzsche died. God. You both are faggots. Vassya Pupkin.
The language play is additionally exposed by the juxtaposition of the surname Pupkin with the surname of a German philosopher Nietzsche written in the Cyrillic alphabet (Ницше), which is widely accepted in the Russian reality. In still another fragment, there is a signal of strangeness inviting the reader to an interactive play. The word moron written in the Latin alphabet sneaks into a modified quotation from a song: чёрный moron, я не твой36 (in the original version of this song there is a word ворон [voron] which rhymes with the word moron used by Pelevin). In the Pelevin’s context, it produces a comic effect when it is sung by Jews from Harlem. However, this time, Pelevin decides to help the 34 Pelevin, T, (note 29 above), p. 212. 35 Pielewin, T, (note 30 above), p. 228. 36 Pelevin, T, (note 29 above), p. 251.
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reader, which is rather not typical of him. In the footnote, he translated the word into Russian – мудак. In the Polish translation, Russian words are transcribed, and a reproduced English words are embedded in their sound, thus reducing the sense of strangeness: Black moron, I’m not yours. Such a translation solution requires a footnote on the part of the translator, and so she explains “Allusion to a Russian folk song ‘Czornyj woron’ (i. e. kruk/crow; moron in Polish kutas, dick in English,” which, in fact, is not an appropriate equivalent as a moron in English means a very stupid or foolish person37). Virtually every Pelevin’s novel provides interesting examples of first names and surnames. Let us have a look at another one titled Жизнь насекомых [The Life of Insects]. It starts with a rather comic scene on the terrace balustrade, with a philosophical and historical discourse of Artur, Arnold and Sam. Only at the end of this scene do we find out that mosquitoes are the discussion participants. One of them comes from the United States, which allows him to make a sober and sometimes intriguing judgement about the surrounding reality. Sam Sucker – spelt Сэм Саккер, according to the rules of the Russian transcription (where Sam is a diminutive form of Samuel), is an ordinary male first name. However, the surname Sucker is to evoke specific associations. The English verb suck refers to the book’s plot as Sam transforms into a mosquito, and mosquitos are known to suck the blood. The word sucker also has other meanings which can complement this association chain. It means, among others: an organ in animals for adhering or holding (or indirectly a leech), a lollipop or a person easily deceived. The translator transcribed the English name in Russian and thus left the reader with the challenging task of decoding it. However, she lacks consistency in this respect because other meaningful names in the novel have been translated. Numerous intertextual references and erudite allusions in which Pelevin takes for granted readers’ prior knowledge have already been discussed here. But still, let us have a look at a few more examples. In the novel Generation “P”, there is a Poor Folk Bar like in the title in Dostoyevsky’s novel, and one of the chapters is titled Obłok w spodniach [A Cloud in Trousers], which is a title of a Vladimir Mayakovsky’s poem. In the same novel, Dostoyevsky and Mayakovsky co-occur with Star Wars, Che Guevara, goddess Ishtar and the Black PR. The multitude of cultures and codes – can it be harnessed? Pelevin’s prose and possibilities of its interpretation, taking into account various aspects, are interesting not only for literary scholars. It shows that we all encounter the necessity of changing our way of thinking about specific genres in the manner we were used to in the past. The novel comes back to its roots – fable, utopia, menippean satire and many others. The structure of texts is frequently multidimensional and is accompanied by varied lexis. The author willingly uses 37 https://dictionary.cambridge.org/us/dictionary/english/moron [20. 07. 2021].
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scientific terms, philosophical notions, uses numerous anglicisms, introduces jargon, creates neologisms, keenly makes references to other books and authors and creates his own aphorisms. This results in the combination of language registers and a mixture of culture codes. In order to fully understand Pelevin’s prose, it is not enough to have a sound knowledge of the epoch and its realia which he describes. The reader must also be aware of the use of non-traditional functions of the language, which are applied to introduce the realia in the novel. It should also be stressed that Pelevin is a very demanding writer. He requires the reader to have not only a knowledge of literary classics but also history, religion and philosophy. The reality in his books is intertwined with phantasmagoria, times and epochs are mingled, and the writing style is incredibly dynamic. Also, all those who ignore pop culture will face problems as Pelevin makes plenty of references to it. All this causes, in some people’s opinions, that he belongs to inconvertible writers, which is, however, contradicted by the number of his novels editions published abroad and his enduring popularity. Considerations presented here do not exhaust all the aspects of the discussed subject because, as I attempted to show, almost each Pelevin’s novel provides new linguistic material and issues that could be further investigated. All the books also reveal that postmodernist assumptions determine conspicuous references to the tradition – modernist and classical literature. To conclude, I hope that even this outline reveals many challenges encountered by translators since Pelevin is a writer who almost deliberately makes their work extremely hard by making them play the game whose rules are set solely by him. Translated by Ilona Delekta
Bibliography 35 mudrykh tsitat iz proizvedeniy Viktora Pelevina, 3. 02. 2014 [online]. http://www.clube r.com.ua/lifestyle/people/2014/02/35-mudryih-tsitat-iz-proizvedeniy-viktora-pelevina/ [12. 12. 2020]. Camridge Dictionary [online]. https://dictionary.cambridge.org/us/dictionary/english/mo ron [20. 07. 2021]. Furmanow D.: Czapajew, trans. J. Putrament. Warszawa 1949. Lubocha-Kruglik J., Małysa O.: Gra (z)tekstem, gra z czytelnikiem. Kilka uwag o polskim przekładzie powies´ci Wiktora Pielewina “T”. In: “Przegla˛d Rusycystyczny” 1 (161) (2018), pp. 129–142. Minayev S.: Dyxless. Povest’ o nenastoyashchem cheloveke. Moskva 2006. Pelevin V.: Babylon, trans. A. Bromfield. London 2000. Pelevin V.: Chapayev i pustota. Zheltaya strela. Moskva 2001. Pelevin V.: Empire V. Povest’ o nastoyashchem sverkhcheloveke. Moskva 2012.
Victor Pelevin’s Postmodern Plays and Their Reflection in Translation
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Magdalena Kempna-Pienia˛z˙ek (University of Silesia in Katowice)
In Exile. Ideological and Social Contexts of Andrey Zvyagintsev’s Films
When Andrey Zvyagintsev’s debut film, The Return, won the Venice Film Festival’s main prize in 2003, the stage of the complex reorganization of national cinema was coming to an end in the director’s home country. The profound crisis of Russian cinema, which in previous years had been “displaced from theatres by U.S. films; […] displaced from television by Soviet Stagnation-era films; and […] displaced from the video industry by piracy”,1 gradually receded. The crisis was one of the consequences of the economic, social, and political changes experienced in the political transformation era. The internal film market, in the era of communism shaped and controlled by state institutions, collapsed in the face of previously unknown conditions of competing with foreign cinema and the need to develop new, effective methods of financing subsequent productions.2 Zvyagintsev’s debut came at a time when the most significant difficulties had already been overcome. What remained (and perhaps still remains) to be done was a creative reworking of the social, psychological, and spiritual consequences of many decades lived in the shadow of communist ideology and then of its end. In his films, Zvyagintsev does not address this topic openly. Unlike Nikita Mikhalkov or Aleksandr Sokurov, he did not make his debut during communist times (although he grew up in them) and did not feel the need to settle accounts with them. He focused on contemporary Russia, showing characters who not only do not talk about the previous regime, but even seem to forget about it, searching for fulfillment in reality dominated by the new, consumerist lifestyle. Such topics corresponded with the general development trends of European post-communist cinematography, which: 1 N. Condee: The Imperial Trace: Recent Russian Cinema. Oxford 2009, p. 73. 2 “For decades, Goskino’s ideological monopoly had politically made the market: determining the number of copies, the centrality (or marginality) of theatrical release, and therefore the ticket sales figures. When there was no longer a market to be made, Goskino by default made its substitute, providing the only legal domestic subsidy for films that were utterly untethered from the Russian audience. In 1990 only 6 percent of the films registered with Goskino received subsidies; by 1996 about half of the thirty-four films were ‘Goskino Production’”. Ibid., p. 61.
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showcased the stories of morally bewildered and confused protagonists. New classes of disenfranchized Europeans were depicted – from newly minted gangsters, to retired colonels, to trafficked women. Some directors of the new generation – those who grew up during the last years of communism – addressed matters of inferiority and impoverishment. […] Others focused on the present by exposing its shallow consumerism.3
The transformation period’s social and cultural repercussions cover a broad spectrum of phenomena and experiences in Zvyagintsev’s cinema. Elena (2011), Leviathan (2014), and Loveless (2017) present a social reality dominated by corporations on the one hand and financial oligarchs on the other. In such a world, those who cannot adapt to the new conditions and rules are condemned to a monotonous existence in the provinces or poor districts of big cities, where they vegetate in decaying households or neglected housing estates – relics of a previous era. Zvyagintsev’s films constitute a portrait of a society undergoing gradual spiritual sterilization – programmed and systematically implemented during the communist era, and then spontaneously spreading in the era of consumerism.
Parables Due to its subject matter, atmosphere, symbolism, and references to The Mirror (1975) – The Return constituted Andrei Tarkovsky’s work as one of the primary points of interpretation for Zvyagintsev’s films. However, back in the year of the film’s premiere, some critics drew attention to the risks of the overly hasty calling the debuting director the spiritual heir of the author of The Sacrifice (1986). For example, James Meek wrote in “The Guardian”: The Return resembles Tarkovsky only on a superficial level – in the use of silences and sounds, pages turning or rain falling, to set off dialogue, and the way the characters are inset into wide, lonely, elemental screenscapes, indoors and under the sky. Indeed, Zvyaginstev’s care for each of the separate elements of film-making, the camerawork, light, sounds and the textures of objects, as well as the acting and Vladimir Moiseenko’s fine script, is another superficial link to Tarkovsky.4
As a counter-argument to the recognition of Zvyagintsev as a continuator of the idea of Tarkovsky’s cinema, the critic quoted the opinion of Naum Kleiman, the 3 D. Iordanova: Foreword. Global narratives of postcommunism. In: Postcommunist Film – Russia, Eastern Europe and World Culture, ed. L. Kristensen. London / New York 2012, pp. X– XII, here p. XI. 4 J. Meek: From Russia with Compassion. In: “The Guardian”, 25. 06. 2004 [online]. https://www. theguardian.com/film/2004/jun/25/features.jamesmeek [3. 03. 2021].
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director of Moscow’s Museum of Cinema: “This is not a Tarkovsky film. Tarkovsky’s films are Protestant. This is more in the tradition of Greek tragedy”.5 If elements of a Greek tragedy may indeed be found in Zvyagintsev’s films, then it is a tragedy in the spirit of Euripides rather than Sophocles. Although most of the characters in his films face various moral choices, it is not always possible to relate these choices to a conflict of equal values. Therefore, the fundamental difference between the works of Tarkovsky and Zvyagintsev lies not in the structure of their films but in the artists’ attitude towards the world represented in those films and in their opinions on the role of cinema as a medium. According to Robert Bird, who analyses Tarkovsky’s films and the contexts in which they functioned and so far function: it is no great surprise that Tarkovsky has been enlisted as a prophet: of Chernobyl, of his own death, of the collapse of the Soviet Union, or of the impending apocalypse. However, to look in Tarkovsky’s films for sybilline predications is sorely to mistake their nature. Tarkovsky sought not to impose an interpretive scheme upon reality, but to imprint or record it together with all its contingency and potentiality; Tarkovsky was not an orator, but an observer and a listener.6
Zvyagintsev is also an observer – mainly of the socio-cultural reality of contemporary Russia – but at the same time, unlike Tarkovsky, he tries to be a speaker, maybe even a teacher, as pointed out by Lisa Ryoko Wakamiya. Analyzing the influence of Tarkovsky’s work on Zvyagintsev’s cinema, the author concludes that: For Zvyagintsev, watching films, filmmaking, and commenting on his own and others’ films are processes of learning and acquiring knowledge. […] As a method of instruction it rests on the presumption that the pedagogue knows what is best for the learner; learning cannot be left to chance or undirected experience.7
If Zvyagintsev is really an educator, his favourite didactic method is telling parables – even in the word’s biblical sense. It is worth noting that each of his films’ plots has been constructed on a biblical topos or a whole group of biblical topoi. In The Return, a discussion with the Old Testament image of God serves as a symbolic reference point for the story of a father who takes his teenage sons on a trip to a deserted island. In The Banishment – a film about the struggles of a couple expecting another child – both the story of the expulsion from paradise and the Annunciation are essential contexts. Elena’s dilemma seems to have a lot in common with the attitude of the older brother from the parable of the prodigal 5 Ibid. 6 R. Bird: Andrei Tarkovsky: Elements of Cinema. London 2008, p. 9. 7 L.R. Wakamiya: Zvyagintsev and Tarkovsky: Influence, Depersonalization, and Autonomy. In: ReFocus: The Films of Andrei Tarkovsky, ed. S. Toymentsev. Edinburgh 2021, pp. 242–256, here p. 243.
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son. The title of Leviathan directly refers to the biblical beast; moreover, the film’s protagonist in one of the scenes is compared to Job. Finally, the starting point of the drama presented in Loveless is a situation somewhat similar to the story of twelve-year-old Jesus lost by his parents in Jerusalem. All of these themes are used by the director in a specific way. Zvyagintsev does not focus on proving their universality; instead, he confronts their underlying values with the current social reality; or – even more – he uses them as narrative structures in which he places stories diagnosing the progressive spiritual and moral deterioration of the society represented by the protagonists of his films. As a result, Elena, not receiving recognition for the patient care she (unlike her stepdaughter) takes for her wealthy husband, kills him to obtain material benefits. Misunderstood by her husband, suspected of betrayal, Vera from The Banishment commits suicide after forced abortion, and the parents of the lost Alyosha, unable to communicate appropriately, fail in Loveless in their search for their son. Thus, Zvyagintsev’s work shows similarities not with Tarkovsky’s films, but rather with Krzysztof Kies´lowski’s The Decalogue (1988), which – depending on the adopted point of view – can be interpreted as “as a portrait of Poland at the end of the Cold War, or as a cross-cultural exploration of eternal moral problems”.8 Zvyagintsev’s films are as pessimistic as Kies´lowski’s famous TV series about the inhabitants of the Polish housing estate on the eve of the political transformation. If the biblical tradition functions in them like a litmus test meant to check society’s spiritual condition, then the test turns out to be negative, or at least disturbing. When confronted with the attitudes of characters immersed in the contemporary world, Christian values turn out to be both elements of the tradition that is constantly invoked and rules that few people – even among the Church representatives, as Leviathan directly says – are willing to follow. Also, in both cases, in the background of the plot there seems to be a question about the extent to which the characters’ spiritual depletion is the result of their functioning in the socio-cultural landscape of ruins.
Characters Except for the protagonists of Leviathan, who openly refer to the problem of corruption in Russia, the characters in Zvyagintsev’s films do not speak directly about the socio-cultural reality that surrounds them, nor about the part of their past related to it. Their biographies are built on significant understatements, and the unspoken past seems to shape their relationships secretly. In The Return, it is 8 S. O’Sullivan: The “Decalogue” and the Remaking of American Television. In: After Kies´lowski: The Legacy of Krzysztof Kies´lowski, ed. S. Woodward. Detroit 2009, pp. 202–225, here p. 202.
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the past that seems to be responsible for the silence between the returning father and the mother, being also the source of tensions in his relationship with younger son, Ivan, whose inquiry about where his parent has been for the last twelve years remains without a satisfactory answer. “Where did he come from?” – the boys ask their mother. In response, they only hear: “He has arrived”, which motivates them (Ivan in particular) to question the narrative about the pilot father, which apparently has so far been presented to them as the cause of the parent’s absence. The father’s mysterious behaviour and the allusions contained in his statements have prompted some critics to speculate about his war or prison – in any case, somehow related to politics – past. The Banishment also features the theme of an obscure past and dark business. It is unknown when Alex’s brother got involved in it, but the film’s plot allows us to assume that Mark’s activity developed during political transformation. Notably, both brothers grew up in the countryside, but at some point in their lives, they left the family farm and settled in the city, which for Mark meant entering the criminal world, while Alex was condemned to lack of professional stability and the need to undertake various jobs (including traveling), in which he is sometimes assisted by his family’s friend, Robert. In subsequent films, Zvyagintsev presents the social stratification of the new Russia in a more detailed way. We do not know how Vladimir, Elena’s husband, got his fortune, but the presence of both high-ranking military and business people at his funeral gives rise to some conjectures about this. While Vladimir seems to be someone who built his status before the fall of communism and later maintained that status, the financial success of 47-year-old Anton, Zhenya’s partner in Loveless, seems to be the result of activities conducted in new economic conditions. In both films, images of the elite’s life are juxtaposed with images of the other classes’ representatives. While her husband spends time at the pool and gym, Elena travels through Moscow to visit her unemployed son’s family, deprived of prospects. Zhenya represents a group of small entrepreneurs aspiring to the upper class, while her husband is a corporate employee. The fact that their economic status differs from Anton’s is evidenced not only by the appearance of their apartments (the one they intend to sell and the one that Boris shares with his new partner, Masha), but also the lifestyle of their children: Anton’s daughter studies and lives in Portugal, where she has anything she needs, while Alyosha goes to an ordinary school, and plays after classes with his friend in a ruined building somewhere in the forest. Zhenya’s past and origins are revealed by a scene taking place in the house of her lonely mother: a neglected cottage, whose owner curses and prays at the same time, compared to Anton’s ultra-modern apartment, shows how far (in economic terms) Zhenya has gone from the moment she became involved with Boris. The changing social profile of Zvyagintsev’s protagonists corresponds to the changes taking place in Russia’s social landscape. However, it should be noted
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that in most of his films, the director avoids commenting on this issue directly, except for Leviathan, which tells the story of a provincial mechanic Kolya, unsuccessfully fighting to keep his family house, forcibly bought by the city authorities in order to – as it turns out in the finale – a new church could be built on its territory. Among Kolya’s closest friends are officers from the local traffic police, their families, and Dima, a lawyer from Moscow representing Kolya in court. The case of Kolya’a house seems to be lost from the beginning – the protagonists cannot legally defeat the corrupt system in which the city authorities, the police, and the court act in the interests of themselves and of the Church. Also, Dima’s attempt to blackmail the mayor does not bring the expected outcome, resulting in a tragedy. Particularly significant seems to be the scene in which the characters go on a trip outside the city, where one of their entertainments is to shoot portraits of political leaders from the communist era: from Lenin to Gorbachev. The policeman who owns these portraits is proud that he also has a likeness of Boris Yeltsin in his collection, and in the dialogue concerning current leaders, he states that their images still have to “ripen on the walls”. His words correspond to the scenes taking place in the mayor’s office, where – perfectly visible in the frame – a portrait of Vladimir Putin hangs on one of the walls. The meaning of this juxtaposition is obvious: for Leviathan’s protagonists, regardless of the immediate effects of political changes, there is no doubt that the rules and power relations, based on corruption and exploitation of average citizens who do not have the means to resist the oppressive system effectively, are still in force in their country. Zvyagintsev consistently relates current and local social problems to more universal issues of ethics and axiology. An expression of this tendency is the crucial role of children in his films. This group of characters seems to be least conditioned by socio-political reality changes while carrying timeless questions about its identity and principles. “Children validate everything”9 – notes the director in his diary from the time of shooting Elena, pointing to the vital role of adolescent characters in his films. Although – except for The Return – children are not the protagonists of Zvyagintsev’s films, their significance to the stories is fundamental. It is not just the plots that are driven by their observations or behaviours, such as Kir’s suggestion in The Banishment about his mother’s relationship with Robert, Alyosha’s sudden disappearance in Loveless, or a marital betrayal witnessed by Rom in Leviathan. Forced to observe the behaviour of adults, which they often do not understand (as Kir directly admits in a conversation with a friend), children in Zvyagintsev’s films do not question the
9 A. Zvyagintsev, O. Negin, M. Kirchman [et al.]: Elena. The Making of Andrey Zvyagintsev’s Film. London 2014, p. 117.
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reality they live in, yet at the same time, they serve as figures of questions about the spiritual and social status of this reality and about its future. This theme resonates most strongly in Loveless. The plot of the film deals with the problem of the death or loss of a child, which Emma Wilson considers to be “One of the central fears and compulsions explored in recent independent and art cinema”: The issue of the missing child enables films to mobilise questions about the protection and innocence of childhood, about parenthood and the family, about the past (as childhood is constructed in retrospect as nostalgic space of safety) and about the future (as fears for children reflect anxiety about the inheritance left to future generations).10
Most of these themes appear both in Zvyagintsev’s films and in their critical reception. “Is Alyosha an emblem of lost promise, of a new generation doomed to be far worse off than the one before it?” – one of the Loveless reviewers asked, noticing that: “These questions may be rooted in Russian soil, but Zvyagintsev knows they are hardly unique to his country alone”.11 These observations can be applied to the rest of the director’s films. It is no coincidence that it is Ivan who asks his father the most difficult questions in The Return, or that Elena is so eager to look after her younger grandson, who is still a baby. In The Banishment, it is the reflection on the relationship between the child and his parents that becomes a turning point in Vera’s life. As it turns out, informing her husband that the child she is expecting is not his, the woman does not mean biological paternity; in a conversation with Robert, she confesses that her resistance is aroused by her husband’s tendency to treat his offspring as the things he owns. Fighting for her child’s subjectivity, Vera does something that the protagonists of Loveless are unwilling to do at the right time for Alyosha. After all, in the film’s opening scenes, we see them arguing about which of them should take care of the boy after the divorce. In the opinion of one of the critics: Loveless poses a […] troubling question: Is this a world that, in any meaningful sense, deserves its children? The answer may be no, but the movie […] finds about a hundred different ways of saying it. A visit to Alyosha’s estranged grandmother […] suggests that Zhenya, for all her failures as a mother, has made the best of a grim legacy. Boris’ office chatter reminds us that, in an ostensibly Christian culture that frowns on divorce, people often hold onto their spouses and children just to save face.12
10 E. Wilson: Cinema’s Missing Children. London / New York 2003, p. 2. 11 J. Chang: R Review: Andrey Zvyagintsev’s missing-child drama ‘Loveless’ is a shattering portrait of Russian social malaise. In: “Los Angeles Times”, 30. 11. 2017 [online], https://www.la times.com/entertainment/movies/la-et-mn-loveless-review-20171130-story.html [21. 03. 2021]. 12 Ibid.
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The question often repeated by the characters in The Banishment: “What is happening to us?”, sounds particularly dramatic when it is confronted with the status of children, who rarely function as fully-fledged subjects in Zvyagintsev’s films and, even when they are truly loved by adults, remain outside the boundaries of their discourse, constantly reprimanded, temporarily placed in the care of friends, misunderstood, left alone with their doubts. Treated in this way, children do not remain passive. Quite the opposite: unlike adults, who often freeze in their suffering, they show great mobility: wandering around, visiting nooks and crannies unknown to adults, looking for similar outcasts by fires burned somewhere in ruins, and ultimately – like Alyosha or an unborn Vera’s child – disappearing, leaving behind a painful void. Their relationship with the depicted world is based mainly on the relationship with the surrounding landscape, particularly important in Zvyagintsev’s films, in which where people are silent, their environment speaks about them (and for them).
Spaces Zvyagintsev says that the suggestion that he is now a filmmaker of “social issues […] fills [him] with horror”.13 At the same time, when asked about the controversy surrounding his work in his home country, he explains that his first films: did not really touch on modern-day realities, so it was easier for the Ministry of Culture to like and support them. With Elena I started shooting in modern-day Moscow, in the modern political landscape. So the problem is the mirror. The people in power look into the mirror and do not like what they see. But it is just my point of view, my perception of reality. I could be wrong.14
This declaration goes hand in hand with the observations of Vlad Strukov, who states that in The Return and The Banishment, Zviagintsev “explores the nature of the image in mythical and religious terms”, while in Elena, “he dwells upon the nature of visuality and the concept of life as transcendence by setting the film in a more recognisable and historically determined context”.15 These opinions require further comment. It is true that the reality presented in The Return and The Banishment is much more distant from the historical concrete than, for example, 13 A. Zvyagintsev, O. Negin, M. Kirchman [et al.], Elena. The Making of Andrey Zvyagintsev’s Film (note 9 above), p. 198; Wakamiya, Zvyagintsev and Tarkovsky, (note 7 above), p. 254. 14 X. Brooks: Controversial Russian director Andrey Zvyagintsev: ‘Dissident? I’m more of a clown’. In: “The Guardian”, 12. 01. 2018 [online]. https://www.theguardian.com/film/2018/j an/12/controversial-russian-director-andrey-zvyagintsev-dissident-im-more-of-a-clown [3. 03. 2021]. 15 V. Strukov: Contemporary Russian Cinema: Symbols of a New Era. Edinburgh 2016, p. 143.
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the world in Leviathan. This does not mean, however, that it has been devoid of any references to post-transformation Russia. After all, Zvyagintsev’s works can be considered in the context of the specificity of post-communist film industries, in which “Space and history, and how the two notions intertwine, are essential concepts”: On the one hand, physical, through buildings, monuments, and city planning, but on the other hand internal and psychological, through time and transforming identities, the post-communist condition can be described as a Bakhtinian chronotope, the point where time and space collapse.16
Even if in Zviagintsev’s films the characters do not talk about the past (communist or early post-communist), space certainly speaks about it. The area of Lake Ladoga in The Return, the Skhodnya River embankment in Loveless, or Murmansk’s vicinity, where most of Leviathan’s scenes were shot, are locations that enriched his films with landscapes to the same extent spectacular and in various ways inhospitable. In The Return the space is still strongly marked with traces of socio-political change. Whether in their place of residence or during an expedition with their father, the young protagonists of the film function in an environment full of signs of collapse: they run in the deserted streets, venture into neglected yards of old tenement houses and narrow, dirty alleys, play with friends in empty buildings, pass closed bars and large, neglected buildings of industrial origin. Almost at every turn, they encounter the remains of something that is never explicitly named in the film (like their father’s past) and that has been abandoned (like the shipwreck near the island that becomes their destination). The demolished palace of culture, where the kids from Alyosha’s school have set up their base, functions similarly, and so does the neglected quay in Leviathan, where young Rom spends his time alone on the beach in the company of a giant whale skeleton and where he meets his friends in the ruins of the church. The common feature of these locations is that the past is the theme of the narrative encoded in the landscape. This applies even to The Banishment, for which the city photos were taken in Belgium and northern France, while rural scenes were filmed in Moldova. By shooting in historic industrial towns, Zvyagintsev, on the one hand, gave The Banishment a universal, supra-local dimension, and on the other hand, he applied a strategy already known from The Return and consistently implemented in later films: showing the characters melted in a world that has in some way already passed. Gradual shift in the seasons in the director’s cinema seems significant: while the action of The Return and The Banishment takes place in summer, in later films, the season of the year is difficult to identify (in Elena and Leviathan it can 16 L. Kristensen: Introduction. In: Postcommunist Film, (note 3 above), pp. 1–10, here p. 6.
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be both spring and fall) or referred to as late fall (Loveless). In The Return, images of lush nature – grasses waving in the wind, waters full of fish, and fertile soil – contrast with the shots of crumbling sheds, littered alleys, or an inactive lighthouse. The apocalyptic symbolism of these spaces – evoking associations with Andrei Tarkovsky’s Stalker (1979) – has both a universal character and a specific, local meaning related to the economic and social post-transformation crisis. For Andrei and Ivan, adolescents who were born in the last years of communism or just after its collapse, the deserted and mysterious spaces of former workplaces or settlements are a field of exploration; for their father, however, they are something completely different – he knows that in the deserted ruins more than one chest with mysterious contents has been buried. A similar relationship between the characters and space appears in The Banishment. An old house in the countryside, burdened with a family history, which is not talked about, but which is evidenced by photos scattered in various places, for the minors Kir and Eva is an invitation to search and play: children browse books, blow dust, rummage through the ash accumulated in the fireplace. The adults bustle around at that time, only stopping from time to time to quietly look at an old photograph. The first two Zvyagintsev’s films suggest the possibility of searching for significant meanings in the opposition between urban space and rural/natural space. In both of them, the protagonists leave the city to go to the province, from which they will eventually return changed by the experience of the loss of a loved one. However, the space outside the city is marked by ruins and decay as much as the urban space. A closed church, an abandoned family house or an old farm in The Banishment, unused sheds, and the lighthouse in The Return have much in common with the house inhabited by the mentally disturbed Zhenya’s mother in Loveless, or the ruins shown in Leviathan. The urban and non-urban landscape are both testimony to the ongoing changes; the difference between them is that in the provinces, the ruins are gradually absorbed by nature (grass, water, forest), while in the city, they slowly blend into the tissue of the modernised metropolis, playing an increasingly marginal role in it. This is what happens in Elena, when the protagonist of the film travels through modern Moscow, from the exclusive housing estate, where she lives with her wealthy husband, to her son’s family, who lives in a dingy flat in one of the post-Soviet estates. The topography of the director’s films is a sign of the formation of new social relations. In Elena and Loveless, representatives of the elite move to mansions surrounded by nature, while in post-labor estates stay those who are unable to find themselves in the new economic order. Analysing the scene in which Elena, while shopping at a local store, meets a cashier who cannot operate a credit card terminal, Strukov concludes that in Zvyagintsev’s film:
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the divide lies not along the lines of gender, age or education, but rather income, thus suggesting a completely new class structure in Russia that is not based on the binary antagonisms of the Soviet period, but on a more transient system of capital circulation of the Putin era.17
The problem of space is similar: the main dividing line in Zviagintsev’s films runs not between the province and the city, but between spaces already transformed in the spirit of consumerism and capitalism, and locations where no changes take place. The protagonists’ homes are also signs of the ongoing changes. The director’s first films focused on the topos of the family house silently, only by the photographs, testifying to the history of those who lived in it. However, in Elena and Loveless, the opposition between cluttered flats of those who aspire to the upper class and sterile, cool, ultra-modern interiors populated by the elite representatives became clear. The objects surrounding the protagonists speak about the progressive breakdown of their relationships. In The Banishment, this is the symbolic role of landline telephones with which the characters try – often unsuccessfully – to communicate something to someone, like Vera, who calls Robert after a dispute with her husband, but is unable to tell him about her situation, even though she could talk about it to him face to face. The telephone in The Banishment is a tool that Mark uses most often and efficiently, which signals that it is a medium not of in-depth communication, but of hurriedly dealing with often immoral business. In Loveless, a similar function is performed by smartphones – especially the one that constantly absorbs Zhenya’s attention with notifications and tweets. In Elena, kitchen appliances take on a symbolic meaning: a loud blender and a capsule coffee machine testify not only to the economic status of the protagonists, but also to the automation of their relations, based on the daily routine, according to which Elena plays the role of her husband’s nurse and a maid. In Zvyagintsev’s films, the variability of the protagonists’ relations is expressed in two metaphors directly related to the landscape: house and water. It is worth noting that – except for The Return – the topic of housing problems appears in all of the director’s films. In The Banishment, Alex and Mark discuss the possibility of selling a family home in the countryside that they rarely use; in Elena, one of the issues needed to be resolved after Vladimir’s death is the fate of the apartment, inherited by Elena and her stepdaughter; Leviathan begins with the process related to the buyout of Kolya’s house, and Loveless begins with the search for a buyer for the apartment of the divorcing couple – in the film’s finale, the apartment, left by Boris and Zhenya, who have apparently abandoned the hope of finding Alyosha, is being renewed for its new owners. In Zvyagintsev’s 17 Strukov, Contemporary Russian Cinema, (note 15 above), p. 146.
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films, the metaphor of the house as a permanent residence, a haven, the foundation of identity, breaks down. The transformations of the home and the characters’ mobility become metaphors of transformations in social and cultural reality. When Elena’s son’s family moves to her and Vladimir’s apartment, it is a sign of their social advancement, as is Zhenya’s move to Anton’s house. Apart from the theme of moving to a better location, the director’s films also feature the theme of the destruction of the family home. In The Banishment, a long sequence shows the closing of Alex and Mark’s house; after the doors and shutters are closed, the camera stays inside, observing the gradual dimming of the light. Zhenya’s mother’s cottage in Loveless is a rundown ruin, while the house of Kolya in Leviathan is literally razed to the ground – the resistance of the protagonist, not wanting to leave the place where his grandfather and father lived, is useless. In all these films, the closing/destruction of the house is associated with removing memories: houses, together with family mementoes (mainly photos) enclosed in them, are the carriers of the family and personal history of the characters. In Leviathan, the dynamics of destruction and the creation of new estates seem completely chaotic. In fact, we do not know why the new church must be built on the site of Kolya’s house, since there is another ruined temple nearby, where the local youths gather in the evenings. Moreover, the motif of two churches functions in this film as a metaphor of a deep spiritual and religious crisis: after all, one of the temples is ruined and abandoned, while the other one is built thanks to the crimes committed by the mayor on Kolya’s family. Demolishing the house does not make any sense in terms of the protagonist and his relatives’ well-being: obviously, the money given by the city is not enough to buy a higher-standard apartment. In one of the scenes, Kolya’s wife, Lila, visits an apartment that is within their economic reach – a gloomy flat in an old tenement house can in no way be equal to the house situated by the water. The motif of a disordered space, in which ruins are adjacent to chaotically arising new constructions, and the characters nervously move between different locations, can indeed be interpreted as a commentary on the unrest related to social and cultural transformation encoded in the landscape. Even more: themes such as the destruction of family houses or the construction of temples at the cost of human harm are metaphors for the disappearance of traditional values, as well as the moral and spiritual deterioration of people functioning in this space. In this context, the symbolism of water, which is the fundamental element in the worlds depicted in all Zvyagintsev’s films, is also of particular importance, starting with The Return, which begins with underwater shots showing the sunken boat, and ends with a frame showing the lakeshore. The key themes in the film have something to do with water. One of the first scenes shows Ivan unable to jump into the water, which his friends and older brother did earlier. The fishing trip with the boys’ father is also connected with water in various ways: during it,
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the protagonists often get wet in heavy rain, they cross the lake twice by boat and explore a shipwreck nearby the island. Considering the numerous biblical references in The Return, the aquatic motifs in it can be described as oscillating between the topos of the flood destroying the broken world and of baptism and resurrection, which again brings to mind Tarkovsky’s films, in which this element plays a similar role.18 In the rest of Zvyagintsev’s films, water has an equally complex symbolism, not only religious, by the way. Depending on the context, it can be both the water of life (like a stream that is dried up at the beginning of The Banishment but is reborn later) or a metaphor for death and mystery (such meanings are ascribed to it in Loveless, in which Alyosha’s search takes place by the river, in Elena, where Vladimir suffers a heart attack in the pool, and in Leviathan, where Lila dies by the sea). Water can also have a cleansing function in an almost ritualistic sense: in The Banishment, we often see Vera washing her face. However, in the context of the transformative nature of the reality in which the characters function, another meaning is significant: in Zvyagintsev’s films, water is a symbol of change and forgetting. It is suggested by the first shots of The Return showing the sunken boat. The water in the director’s films hides the traces of a world that has passed – it is no coincidence that Leviathan ends, and Loveless begins with a series of landscape shots in which this element plays the most crucial role. However, it does not entirely hide them – what is abandoned or forgotten, sometimes returns in the form of a shipwreck or a corpse washed ashore. In the context of the transformational metaphors of space in Zvyagintsev’s films, this is an all too expressive image of the world that has not worked through its traumas and problems, forcefully displacing some of them beyond the discourse. “Water is first and foremost a medium of representation; indeed it is the very basis of aesthetics, as a medium that transforms the world into image” – states Robert Bird in the context of Tarkovsky’s films.19 The subject of representation is also present in The Return, in which Andrei and Ivan, trying to confirm the identity of the man staying in their house and claiming to be their father, reach for an old photo and take binoculars and a camera on the journey with him. In Zvyagintsev’s films, photographs are an extension of the metaphoric of water, which is often – as in the prologue of Loveless – presented as a sheet of a mirror, reflecting the image of the surroundings. Just like the depths of the water, at first glance calm and motionless, the flat surfaces of the photos hold secrets and tell their own stories about the past that has already been forgotten or intentionally concealed. This role is played by family photos of Alex and Mark in The Banishment, as well as the photos of the families of Vladimir and Elena, a photo of 18 Bird, Andrei Tarkovsky, (note 6 above), p. 22. 19 Ibid., p. 22–23.
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Dima and Kolya shown at the end of Leviathan, or a poster with a photo of the missing Alyosha, gradually fading on a pole by the road. However, also other flat surfaces serve in these films as a media of representation: first of all, window panes (including car windows) through which the characters watch the world (or are watched themselves), as well as TV screens. The symbolism of these surfaces is as complex as the symbolism of water, as shown by Vlad Sturkov on the example of The Banishment and Elena. Analysing the scene of Alex falling asleep in the car while waiting for Robert, the author states that: “Zviagintsev generally uses screens as a means to introduce a parallel mode of cinematic presentation as in Banishment where the windscreen of the protagonist’s car becomes a vehicle for evoking memory, trauma and loneliness”.20 In turn, the scene, in which Vladimir observes through the car window the immigrant workers passing by, in Strukov’s opinion, suggests that: Elena employs screens as a locus and mode of meaning-making and shifts from the use of screens as symbols of societal divisions, whereby the screens are not dividers but rather emblems of difference, to the use of screens as projectiles and trajectories in the transformations of subjectivity.21
However, the most significant of the author’s observations is that in Zvyagintsev’s films, “The flatness of the screens emphasises the flatness of discourse whereby the role of the characters is to participate in rituals, which seems to have no other purpose than waiting”.22 Strukov comments on the behaviour of Elena’s protagonists, whom we often see while watching TV in separate rooms. However, this theme functions in a similar way in Loveless, in which a family drama takes place in the company of turned on TV sets. It is worth noting what kinds of programs these TV sets show. For example, Strukov draws attention to Elena’s viewing “the sausage competition”, which, in his opinion: is a reference to the late Soviet food shortages when such a basic brand of sausage as “doktorskaia” was considered a delicacy. Through this reference the director actualises the “retro-gaze” of Elena and the generation she represents. This televised performance is a nostalgic reincarnation of the past which is apolitical as well as historical […].23
Notably, the choices of the other characters in Zvyagintsev’s films do not contain this nostalgic element. The TV sets that surround them broadcast news and sports programs, but most of all lifestyle programs, implicating that the characters are strongly connected to the consumer culture, as well as to smartphone
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Strukov, Contemporary Russian Cinema, (note 15 above), p. 154. Ibid., p. 155. Ibid., p. 158. Ibid., p. 143.
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screens, to which they seem almost glued (in the scene in the subway, not only Zhenya tightly holds her smartphone; all the people around her do the same). At this point, it should be noted that in Zvyagintsev’s films, the post-transformation reality, focused on the problems of capital circulation and consumerism, is not contrasted with the communist past. Changes taking place in the social structure and the characters’ lifestyle are considered in his cinema as subsequent stages in the process of progressive spiritual sterilization. Aspirations of entering the upper social class, the desire to live in comfort, or the demand to recognize one’s right to self-fulfillment expressed directly by Zhenya during a quarrel with her husband go hand in hand with the progressive decline in the ability to deepen communication and self-reflection. The protagonists of The Banishment were able to express the awareness of their fall in the question “What is happening to us?”; Elena, after her husband’s heart attack, sought support in prayer, and found consolation in a relationship with her younger grandson. However, the protagonists of Loveless seem to be closed in the enchanted circles of their desires and ambitions. Only the equally extreme suffering associated with the search for a missing child is able to break them out of extreme narcissism. The last shots of Loveless, showing the face of unhappy Zhenya, seem to bring hope for the characters’ spiritual awakening. Alyosha’s mother watches with Anton a fragment of the news program about the Russian invasion of Ukraine, but then breaks away from the TV and goes out on the terrace. Dressed in a tracksuit in Russian national colours, she exercises on the treadmill for a moment, then, tired, stops and looks straight at the camera. The scene is essentially symbolic, commenting both on Zhenya’s personal history and Russian society’s status. A tiring run that does not serve any purpose, is an all too expressive metaphor for pursuing economic success, which ultimately did not give Zhenya the desired happiness. The fact that the woman is wearing a tracksuit in national colours suggests that the problem is not only hers. At the same time, Zhenya’s crossing the symbolic barrier of the glass door may mean her readiness for a painful spiritual awakening (as she not only frees herself from the flat surfaces of the smartphone and TV, but also goes beyond the enchanted circle of Anton’s glass bubble). It seems that a similar perspective is drawn for Kolya, who, shortly before his conviction for the murder of his wife, listens to the story of Job told to him by the local pop. Such hope, however, may not be given to Boris – the finale of Loveless shows his second son brutally placed by an indifferent father in a crib, which raises concerns that the drama of the abandoned Alyosha may be repeated. ***
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According to Vlad Strukov, the aesthetic principle organising Andrey Zvyagintsev’s films is flatness, understood not as a category of dimensionality, but of intentionality. Flatness is not only the quality of the visual image, but also of the subjectivity that is always in relation to this image. Conversely, in his film philosophy Zvyagintsev develops the idea of flatness as a particular way of presenting visuality.24
The author’s observations can be applied to the social, existential, and spiritual dimensions of Zvyagintsev’s films. Watching the world through windows, often sprinkled with rain, the protagonists of his works look at their reflections in flat glass and mirror panes. The motif of multiplied reflections – a crucial element of the director’s visual style – signals the existence of a barrier which the protagonists do not want or are unable to cross, unless they are induced to do so by extreme suffering. Zvyagintsev’s mirrors sometimes – as in the cases of Vera or Elena – serve as traditional symbols of introspection, but they are also often a metaphor for flattening, limiting mutual relations and communication. The changing reality shown in these films seems to be a fulfilling apocalypse. The dying landscape and the cool, glazed interiors of the apartments surround the characters who are increasingly helpless in the face of their own inner emptiness. The narrative of social and cultural transformation encoded in the landscape is an untold, forgotten, or perhaps undiscovered story in these films. And only from time to time, the depths of the water reveal at least some of their secrets.
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III Im Kreise der Balkanländer
Mateusz Sokulski (Schlesische Universität in Katowice)
Die nicht-nationalistische Anti-Regime-Elite in Serbien angesichts des sich zwischen 1976 und 1984 in Jugoslawien vollziehenden Wandels
Einleitung Die relative Liberalisierung des öffentlichen Lebens in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in Jugoslawien endete mit der Abrechnung mit den reformorientierten Parteiführungen in Kroatien und Serbien in den Jahren 1971–1972.1 Der Grund für die Entlassung dieser Politiker war die Überzeugung der Behörden des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens (BdKJ) von der Notwendigkeit, die Einheit des Landes zu wahren und jede reformistische Bewegung zu unterdrücken. Der Grund für diese Politik war die Furcht vor einer möglichen Infragestellung des kommunistischen Charakters des Staates sowie der erwartete Abgang des politischen Führers Josip Broz Tito. Im Zuge dessen kam es zu einer Verschärfung der Repressionen gegen jede mögliche Form von Widerstand.2 In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre war jedoch festzustellen, dass zahlreiche Initiativen von einer Gruppe von Intellektuellen ergriffen wurden, von denen die meisten das Wesen des Kommunismus nicht in Frage stellten, sondern seinen radikalen Wiederaufbau im Geiste der Achtung der Bürgerrechte und der Pluralisierung des sozio-politischen Lebens anstrebten. Der Kern der Gruppe bestand aus zwei Gruppen: Universitätsprofessoren, die zwischen 1964 und 1974 1 Um die Jahreswende 1971/1972 bewirkten der jugoslawische Präsident Josip Broz Tito und die Führung des Zentralkomitees des BdKJ die Zersplitterung der Bewegung des Kroatischen Frühlings, die mit der Unterstützung und Beteiligung eines bedeutenden Teils der Gesellschaft eine Stärkung der Autonomie der Sozialistischen Republik Kroatien und eine größere Unabhängigkeit der Republiken anstrebte. In Serbien hingegen wurde die republikanische Parteiführung, die im Sinne der Modernisierung der Republik auf die wirtschaftliche Transformation ausgerichtet war, 1972 aus ihren Führungspositionen entlassen. Siehe: I. Goldstein: Hrvatska povijest. Zagreb 2007, S. 469–472; K. Haug: Creating Socialist Yugoslavia. Tito, Communist Leadership and the National Question. London / New York 2012, S. 257–262, 280– 283. 2 O. Gruenwald: Praxis and Human Rights: Toward a More Human Future, In: Human Rights in Yugoslavia, hrsg. v. O. Gruenwald, K. Rosenblum-Cale. New York 1986, S. 459; Haug, Creating Socialist Yugoslavia, (Anm. 1), S. 285–286.
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für die marxistische philosophisch-soziale Zeitschrift „Praxis“ aktiv waren, und Teilnehmer der Studentendemonstrationen, die 1968 in Belgrad stattfanden. Sie waren allesamt für die Demokratisierung Jugoslawiens, lehnten den Nationalismus und jede Form von politischer Unterdrückung ab. Ihre Aktivitäten bezogen sich auf die Freiheit des Gedankenaustauschs, die durch informelle Treffen, die 1976 im Rahmen der so genannten Freien Universität begannen, und durch das Verfassen von Petitionen an die Behörden, die sich auf die Verteidigung der Bürgerrechte stützten, erreicht werden sollte. Die Aktivität dieser Gruppe, die in Parteidokumenten als „Anarcho-Liberale“ bezeichnet wird, ging Mitte der 1980er Jahre deutlich zurück. Mit der zunehmenden Wirtschaftskrise in Jugoslawien und der Schwächung des BdKJ begannen die Intellektuellen, die sich um die serbische Akademie der Wissenschaften und Künste scharten, sich stärker zu behaupten. Sie konzentrierten sich auf rein nationale Fragen und vertraten die Ansicht, dass die Serben in Jugoslawien keinen angemessenen Platz einnähmen und dass die serbische Frage unter anderem dadurch abgewertet würde, dass sie als einzige Nation keine Republik innerhalb ethnischer Grenzen erhalten hatten.3 Die in diesem Text angesprochenen Themen wurden bereits von Srd¯an Cvetkovic´ und Jasna Dragovic´-Soso behandelt, auf deren Werke ich mich in diesem Artikel berufe. Cvetkovic´ konzentrierte sich hauptsächlich auf Fragen der Repression und weniger auf die Aktivitäten der Oppositionellen selbst, Dragovic´Soso lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die ab Mitte der 1980er Jahre einflussreichere Gruppe der Nationalisten und ging kaum auf die nicht-nationalistischen Initiativen der 1970er und 1980er Jahre ein.
Skizze des Umfelds Die Schließung der Zeitschrift „Praxis“ im Jahr 1974 im Zusammenhang mit dem Vorwurf gegenüber den Autoren, „Aktivitäten, die im Gegensatz zur Politik des jugoslawischen Sozialismus stehen, nachzugehen“, und die anschließende Weigerung von Professoren der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Belgrad, eine „kritische moralische und politische Bewertung“ vorzunehmen, waren eine Art Schlusspunkt unter das harte Vorgehen gegen Kreise, die in Parteikreisen als Bedrohung des Parteimonopols angesehen wurden.4 Die vier3 Zu den intellektuellen Strömungen in Jugoslawien siehe: J. Dragovic´-Soso: „Spasioci nacije“. Intelektualna opozicija Srbije i ozˇivljavanje nacionalizma. Belgrad 2004; A. Pavkovic´: Yugoslavism’s Last Stand: A Utopia of Serb Intellectualls. In: Yugoslavism: Histories of a Failed Idea 1918–1992, hrsg. v. D. Djokic´. London 2003, S. 252–267. 4 Gruenwald, Praxis and Human Rights, (Anm. 2), S. 459–460; S. Cvetkovic´: Izmed¯u srpa i cˇekic´a 2. Politicˇka represija u Srbiji 1953–1985. Belgrad 2011, S. 423–432.
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teljährlich erscheinende Zeitschrift „Praxis“ wurde zwischen 1964 und 1974 herausgegeben, und ihre Redakteure übten trotz der Überwachung durch die Behörden scharfe Kritik am Regime.5 Die wichtigsten Vertreter bildeten die intellektuelle Elite in Zagreb (u. a. Gajo Petrovic´, Rudi Supek, Predrag Vranicki, Milan Kangrga) und in Belgrad (Zagorka Golubovic´-Pesˇic´, Ljubomir Tadic´, Mihailo Markovic´, Svetozar Stojanovic´). Leszek Kołakowski nannte dieses Umfeld das über viele Jahre hinweg lebendigste philosophische Zentrum des Marxismus in der Welt. Es warf typische Fragen des Revisionismus auf (Entfremdung, Reifikation, Bürokratie), lehnte aus Überzeugung den Stalinismus und den Leninismus ab und bezog sich auf die frühen Texte von Karl Marx. Dem polnischen Philosophen zufolge trugen sie nicht nur zur Verbreitung des philosophischen Denkens in Jugoslawien bei, sondern übten durch das Studium des Marxismus auch ständig Druck auf die Behörden aus, denen es nicht gelang, sie zu unterdrücken.6 Im Jahr 1973 wies der Senat der Universität die von der Parteiorganisation der Universität benannten Wissenschaftler (Mihailo Markovic´, Svetozar Stojanovic´, Ljubomir Tadic´, Dragoljub Mic´unovic´, Zagorka Golubovic´Pesˇic´, Miladin Zˇivotic´, Trivo Ind¯ic´ und Nebojsˇa Popov) darauf hin, dass die Anerkennung der „führenden Rolle der Partei“ das sine qua non für ihre weitere wissenschaftliche Arbeit sei. Der Universitätsausschuss fand keinen Grund, die Professoren zu entlassen, und erst nach einer Operation des Sicherheitsdienstes im Januar 1975 wurden die acht oben genannten Professoren aus der Universität entfernt und erst 1981 an dem eigens für sie geschaffenen Institut für Philosophie und Gesellschaftstheorie wieder eingestellt.7 Nach Ansicht des Philosophen Vojislav Stojanovic´ war der Angriff auf die akademische Gemeinschaft – durch die Schaffung einer Atmosphäre der Angst in der Universität durch die Präsenz der Miliz – ein Ausdruck der Degeneration des Regimes: „Die Behörden haben ihre letzte ideologische Schlacht verloren, denn gegen die einzigen bedeutenden Marxisten in der Landeshauptstadt können sie nichts anderes als mit reiner Gewalt vorzugehen.“8 Die Kontakte der studentischen Rebellen von 1968 mit der „Praxis“-Szene reichen bis in die Anfänge der 1960er Jahre zurück. Anfänglich bestanden diese in der Teilnahme an Vorlesungen, dem Lesen von Texten sowie Fahrten zu wissenschaftlichen Symposien – zu der so genannten „Sommerschule auf Kor5 J. Mihaljevic´: Komunizam i ˇcovjek. Odnos vlasti i pojedinca u komunisticˇkoj Hrvatskoj (1958. – 1972.). Zagreb 2016, S. 41. Zum Thema der Professoren-Prozesse siehe: S. Popovic´: Poslednja instanca. Bd. 3. Belgrad 2003, S. 1165–1221. 6 L. Kołakowski: Główne nurty marksizmu. Bd. 3. Warszawa 2009, S. 476–477. 7 S. Cvetkovic´: „Kradljivci tud¯ih led¯a“. Obracˇun sa anarholiberalisticˇkim grupama u SFRJ posle 1968. In: „Istorija XX. Veka“ 3 (2011), S. 39–56, hier S. 50–52, 54. 8 V. Stojanovic´: Beogradske godine 1968–1986. In: Sˇezdeset osma. Licˇne istorije, hrsg. v. ". Malavrazic´. Belgrad 2008, S. 498.
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cˇula“ –, an denen jedes Jahr Wissenschaftler aus ganz Europa teilnahmen. Die Ideen der „Praxis“ wurden als interessant empfunden, auch wenn sie nach Aussage eines der Studentenführer, Dragomir Olujic´, nicht den Bedürfnissen des Aktivismus entsprachen, den die Jugend in den 1960er Jahren artikulierte.9 Obwohl die Proteste vom 2. bis 9. Juni 1968 in Jugoslawien typisch für die gesamte damalige Welt waren – Unzufriedenheit der Studenten mit den Wohnverhältnissen, der Dozenten mit der hierarchischen Organisation der Universitäten, Protest gegen den Vietnamkrieg –, wurde ihre Besonderheit darin gesehen, dass sie die Politik der Kommunistischen Partei als unvereinbar mit den „Grundsätzen der Ideologie des wahren Kommunismus“ sahen.10 Olujic´ ist der Ansicht, dass die nach dem Krieg geborene Generation überall auf der Welt mit dem Erbe der vorangegangenen Generationen konfrontiert wurde. Am deutlichsten kam dies in Westdeutschland zum Ausdruck, wo die Frage „Papa, was hast du während des Krieges gemacht?“ gestellt wurde, während die jugoslawische Umschreibung lautete: „Papa, warum hast du aufgehört, warum hast du die Revolution, die du 1941 begonnen hast, nicht beendet?“11 Olujic´ erklärt die Bedeutung des damaligen Engagements seiner Altersgenossen: „Wir haben uns damals für echte Selbstverwaltung, soziale Gleichheit, für den Sozialismus, gegen ‚rote Bourgeoisie‘ und Privateigentum eingesetzt. Nicht für ‚mehr Sozialismus‘, sondern ‚für einen ganz anderen Sozialismus‘.“12 Unter den linken Intellektuellen traten im Laufe der Zeit liberal orientierte Juristen (Srd¯a Popovic´, Jovan Barovic´), Intellektuelle, die sich für die Verteidigung der Menschenrechte einsetzten (Philosoph Vojislav Stojanovic´ und sein Bruder, der Filmemacher Lazar Stojanovic´, Soziologin Vesna Pesˇic´) auf. In den ˇ avosˇki in 1970er Jahren waren die Demokraten Vojislav Kosˇtunica und Kosta C Bürgerinitiativen aktiv. Hauptvertreter der nationalen Anliegen wurde, noch ´ osic´, der sich in den 1970er Ende der 1960er Jahre, der Schriftsteller Dobrica C Jahren auch an einigen Bürgerinitiativen beteiligte, zu dem die nicht-nationaˇ avosˇki veröflistischen Kreise schon damals Abstand hielten. Kosˇtunica und C fentlichten im Juli 1983 ein sehr wichtiges Buch über die Unterdrückung demokratischer Gruppen durch die Kommunisten nach 1945 mit dem Titel Stranacˇki pluralizam ili monizam [Parteipluralismus oder Monismus].13 Für eine weitaus zahlreichere Gruppe von Linksradikalen war Titos Jugoslawien eine Zweckentfremdung der kommunistischen Ideen. Bürgerorientierte Aktivisten wiederum wollten ihren Widerstand gegen die repressiven Praktiken 9 Bericht von Dragomir Olujic (im Weiteren: BDO), Juli 2017, in den Sammlungen von Film System – Grzegorz Czerniak. 10 H. Klasic´: Jugoslavija i svijet 1968. Zagreb 2012, S. 78–80, 93, 99–101. 11 D. Olujic´: Zar je vec´ prosˇlo 40. Godina. In: Sˇezdeset osma, (Anm. 8), S. 478. 12 BDO. 13 Stojanovic´, Beogradske godine 1968–1986, (Anm. 8), S. 499.
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des Regimes zum Ausdruck bringen und setzten sich für die Verteidigung der Menschenrechte in Jugoslawien ein. Der Kampf um die Achtung der Rechte des Einzelnen und die Absage an den Nationalismus einte beide Gruppen. Die wichtigsten Persönlichkeiten, für die 1968 zu einem Schlüsselerlebnis in Bezug auf ihr Engagement ein Jahrzehnt später wurde, waren Vladimir Mijanovic´, Pavlusˇko Imsˇirovic´, Dragomir Olujic´, Milan Nikolic´ und Lazar Stojanovic´. Bei den ersten vier handelt es sich um Persönlichkeiten mit linker, trotzkistischer Gesinnung. Imsˇirovic´ und Olujic´ stammten aus gemischten Familien – Imsˇirovic´ aus Bijeljina in Ostbosnien (sein Vater war bosnischer Muslim und seine Mutter Serbin), Olujic´’ Vater aus Dalmatien und seine Mutter aus der Herzegowina. In diesen Gebieten waren die serbisch-kroatischen bzw. serbisch-muslimischen Beziehungen von Feindseligkeit geprägt. Beide sahen die Machtübernahme durch die Kommunisten als Ausdruck der Modernisierung und der Überwindung sozialer und nationaler Spaltungen. Die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, in dem die Besatzung mit ethnischen Konflikten einherging, und die Beteiligung ihrer Eltern an den Partisanenkämpfen zwischen 1941 und 1945 hatten einen entscheidenden Einfluss auf die Weltanschauung der Rebellen von 1968.14 In den Dokumenten des Innenministeriums15 der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ) wurde Vladimir Mijanovic´, der als „ideologischer Anführer, Initiator und Organisator der Studentendemonstrationen von 1968“ bezeichnet wurde, als der radikalste Akteur angesehen. Man geht davon aus, dass er mit seiner Autorität in den 1970er und 1980er Jahren eine jüngere Generation von Rebellen anlockte.16 Mijanovic´ wurde wegen seiner Teilnahme an den Studentenprotesten 1970 und der „Verbreitung feindseliger Propaganda“ zu 20 Monaten Haft verurteilt. 1972 wurden schließlich die Trotzkisten Milan Nikolic´ und Pavlusˇko Imsˇirovic´ wegen „Vereinigung gegen Volk und Staat“ zu 2 Jahren Gefängnis und die Ehefrau von Pavlusˇko Imsˇirovic´, Jelka Kljajic´ Imsˇirovic´, zu 1,5 Jahren verurteilt.17 Nicht minder negativ wurde in Kreisen des Sicherheitsdienstes Lazar Stojanovic´ beurteilt, ein Regisseur, der die so genannte „schwarze Welle“ im Film vertrat und im Zusammenhang mit der Regieführung im Film „Plastic Jesus“, der an der Belgrader Film- und Fernsehakademie ausgezeichnet wurde und gleichzeitig seine Diplomarbeit war, zu drei 14 M. Sokulski: Reakcje społeczen´stwa jugosłowian´skiego na powstanie i rozwój Solidarnos´ci 1980–1981. In: „Pamie˛c´ i Sprawiedliwos´c´“ 1 (2020), S. 226–251, hier S. 242f. 15 In der jugoslawischen Terminologie lautet die genaue Bezeichnung des Innenministeriums „Rat für innere Angelegenheiten“ (Savezni Savet Unutrasˇnjih Poslova). 16 Arhiv Jugoslavije, 803 Predsednisˇtvo SFRJ, Savezni savet za zasˇtitu ustavnog poretka (im Weiteren: AJ 803 P SFRJ, Sszzup), fascikla 1791. Materijal za 2 sednicu Saveta, 9. i 12. jula 1984. godine, SSUP, str. pov., Beograd, 25. juni 1984. Informacija o delatnosti grupe anarholiberala i merama koje je sluzˇba bezbednosti preduzela povodom njihovog ilegalnog okupljana u Belgradu. 17 Cvetkovic´, „Kradljivci tud¯ih led¯a“, (Anm. 7), S. 44–47.
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Jahren Haft verurteilt wurde. Der Film wurde jedoch verboten, da er Archivmaterial von Hitler, Tito und den serbischen nationalistischen Tschetniks und kroatischen Kollaborateuren der Ustascha-Bewegung zeigte. Dies war eine klare Anspielung auf die Realität des kommunistischen Jugoslawiens und dessen undemokratischen Charakter.18 In Dokumenten des Innenministeriums wird Lazar Stojanovic´ als „Organisator und prominentester Teilnehmer an den Heimtribünen und Unterzeichner aller Petitionen“ bezeichnet.19 Anders als der Rest der Gruppe stammte Stojanovic´ aus einer elitären, intellektuellen Familie, war Antikommunist und stand demokratisch-liberalen Ideen nahe.20 Aus der jüngeren Generation hingegen sind die in der zweiten Hälfte der 1950er und Anfang der 1960er Jahre Geborenen erwähnenswert: der Kunsthistoriker Gordan Jovanovic´, die Politologin Jovica Mihajlovic´, die Journalistin Branislava Katic´ und die Radikalste der Gruppe, wenn es darum geht, gegen die Behörden vorzugehen, Veselinka Zastavnikovic´, Absolventin der Fakultät für Politikwissenschaften. Diese Generation schätzte insbesondere Pavle Imsˇirovic´ und Vlada Mijanovic´, gleichzeitig wurde die sich um die Proteste von 1968 rankende Legende zu einem wichtigen Faktor bei der Beteiligung an der Rebellion gegen das Regime.21
Freie Universität – eine unabhängige Bildungsinitiative Mitte der 1970er Jahre verließen die Führer der Studentenbewegung von 1968 (u. a. Lazar Stojanovic´, Vladimir Mijanovic´, Pavlusˇko Imsˇirovic´, Milan Nikolic´) das Gefängnis und begannen, trotz der Strenge der Behörden, informelle Treffen zu organisieren, um Fragen zu diskutieren, die für das soziopolitische Leben des Landes von Bedeutung waren. Die Initiatoren waren die Brüder Lazar und Vojislav Stojanovic´, Vladimir Mijanovic´ und der Publizist Ilija Moljkovic´. So entstand die Idee der so genannten Freien Universität, die manchmal auch Fliegende Universität oder Heimatuniversität genannt wird.22 Laut den Berichten von ´ iric´, L. Stojanovic´: NATO 18 Ebd., S. 43–44; Dragovic´-Soso, „Spasioci nacije“, (Anm. 3), S. 83; S. C nema alternativu. In: „Vreme“ 1310, 11. 02. 2016 [online]. https://www.vreme.com/kultura /nato-nema-alternativu [12. 03. 2021]; V. Stojanovic´: Licˇno i drusˇtveno oslobad¯anje. In: „Republika“ 412–413, 1–30. 09. 2007 [online]. http://www.republika.co.rs/412-413/30.html [12. 03. 2021]. 19 AJ 803 P SFRJ, Sszzup, fascikla 1791, (Anm. 16). 20 Bericht von Miroslav Samardzˇic´ (im Weiteren: BMS), November 2019, in den Sammlungen des Autors. 21 Sokulski, Reakcje społeczen´stwa jugosłowian´skiego, (Anm. 14), S. 241f, 244; Bericht von Gordon Jovanovic´ (im Weiteren: BGJ), Juli 2017, in den Sammlungen von Film System – Grzegorz Czerniak. ´ iric´, Stojanovic´, NATO nema alternativu, (Anm. 18). 22 C
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Dragomir Olujic´ und Gordan Jovanic´ bestand der Zweck der Treffen in erster Linie darin, den Teilnehmern – die Treffen standen allen Interessierten offen – die Möglichkeit zu bieten, sich über Themen zu informieren, die im kommunistischen Jugoslawien in der Öffentlichkeit nicht offen angesprochen werden durften. Jedes Mal wurde dabei im Voraus ein Thema vereinbart und anschließend Personen ausgewählt, die bei dem Treffen im Rahmen einer kurzen Einführung das Thema des Treffens vorstellten und dann die Diskussion eröffneten. Gegenstand der Diskussionen waren soziale Probleme wie Wohnen, Arbeit, aber auch politische, historische oder soziale Probleme im Bereich von Kunst, Philosophie und Literatur.23 Zum ersten Treffen im Rahmen der Freien Universität kam es am 19. Dezember 1976 in der Wohnung von Vladimir Mijanovic´. Eine Woche später, am 26. Dezember 1976, war das Thema des Vortrags in der Wohnung von Pavle und Jelka Imsˇirovic´ die Präsidentschaftswahl in Frankreich. Die Sitzungen fanden in der Regel jeden zweiten Freitag statt.24 Im Februar 1977 rief eine Gruppe von Studenten, die an den Protesten aus dem Jahr 1968 teilgenommen hatten, Professoren, die 1975 entlassen worden waren, dazu auf, sich ihren Treffen (der so genannten „Großen Schule“) anzuschließen, die jeden zweiten Montag stattfinden sollten. Im Jahr 1978 wurden die informellen Ämter des Rektors und des Prodekans an Zagorka Golubovic´-Pesˇic´ bzw. Lazar Stojanovic´ vergeben. Im Herbst 1980 wurde auf Antrag junger Studentenaktivisten (darunter Gordan Jovanovic´) die so genannte „Kleine Schule“ gegründet.25 Im Wesentlichen handelte es sich dabei um Diskussionsclubs, deren Aufteilung zwar nach Generationen erfolgte, die sich jedoch thematisch ähnelten. Mit der Zeit begannen die Jüngsten unter ihnen, Universitätsprofessoren einzuladen.26 Der jugoslawische Sicherheitsdienst erkannte die Organisationsstrukturen des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter, das in Polen die „Fliegende Universität“ gegründet hatte und auch Treffen in Privatwohnungen organisierte. Die dem Innenministerium unterstellten Behörden begannen, die im Rahmen der Freien Universität entstandene informelle Organisation der Rebellen ab März 1977 zu verfolgen. Es wurde festgestellt, dass bei den ersten Versammlungen nur einige wenige anwesend waren – hauptsächlich Professoren, die 1975 ihre Stelle ´ osic´, der Publizist Bozˇidar Jaksˇic´ und verloren hatten, der Schriftsteller Dobrica C ´ einige der „Anführer“ von 1968 – Olujic, Imsˇirovic´, Nikolic´, Mijanovic´.27
23 BDO; BGJ. Vgl. S. Cvetkovic´: „Proces ˇsestorici“. Pocˇetak kraja ideolosˇkog progona u socijalisticˇkoj Srbiji. In: „Tokovi istorije“ 3 (2012), S. 242–256, hier S. 248f. 24 Korrespondenz zwischen dem Autor und Dragomir Olujic´, März–April 2021. 25 Ebd., vgl. Cvetkovic´, „Proces ˇsestorici“, (Anm. 23), S. 248. 26 BGJ. 27 AJ 803 P SFRJ, Sszzup, fascikla 1791, (Anm. 16).
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In den Berichten der Behörden wurde die wachsende Aktivität der Rebellen, die zwischen 1978 und 1979 40 Treffen der Freien Universität organisiert hatten, vermerkt. Mit besonderem Missfallen verwies das Regime auf die Tatsache, dass sich die Diskussionen auf die Situation in Jugoslawien nach dem erwarteten Tod Titos konzentrierten. Die Angst des BdKJ vor unabhängigen Aktivitäten wird durch die Aussagen in den Berichten des Innenministeriums belegt, wonach die Aktivisten zum Zeitpunkt des Todes des Anführers hofften, in Dialog mit den Behörden zu treten. Allein 1980 fanden 10 solcher Treffen statt, deren Themen sowohl das Weltgeschehen (z. B. Historische Entwicklung der Streiks in Polen im Zusammenhang mit der Entstehung der „Solidarnos´c´“-Bewegung) als auch die soziale Lage in Jugoslawien (Wohnungsnot in Jugoslawien, Einzelproteste in ˇ aBelgrad, Intelligenz und Politik, Recht im realen Sozialismus nach Kosta C vosˇki) sowie Kunst (Gegenwärtige Kunst und Geisteswissenschaften nach Lazar Stojanovic´) betrafen.28
Petitionen und Protestaktionen Eine Form direkten oppositionellen Engagements war das Verfassen von Petitionen an die staatlichen Behörden, in denen es im weitesten Sinne um die Achtung der bürgerlichen Freiheiten ging. Diese Tätigkeit begann parallel zu den Sitzungen der Freien Universität. Initiator war der Rechtsanwalt Srd¯a Popovic´, der sich seit Beginn seiner beruflichen Tätigkeit mit der Verteidigung von Angeklagten in politischen Prozessen befasste. Er war es, der in den 1970er Jahren die Verteidigung von Mijanovic´, Nikolic´, Imsˇirovic´, Kljajic´ oder entlassenen Wissenschaftlern übernahm. Popovic´ stammte aus einer Familie, die sich schon seit Generationen mit der Verteidigung politischer Gefangener befasst hatte – sein Vater hatte vor dem Krieg Kommunisten verteidigt, denen vom königlichen Regime der Prozess gemacht worden war. Srd¯a Popovic´ übernahm die schwierigsten Fälle – neben Dissidenten verteidigte er 1986 den ehemaligen Leiter des Innenministeriums der kollaborierenden Behörden des Unabhängigen Staates Kroatien, Andrija Artukovic´, der des Verbrechens des Völkermords schuldig befunden wurde, oder den späteren Kriegsverbrecher Zˇeljko Razˇnatovic´. In den frühen 1980er Jahren initiierte er eine Aktion gegen die Todesstrafe in Jugoslawien.29 Popovic´ war die moralische Stütze der Gruppe der Regimegegner. Er
28 Ebd.; N. Popov: Disidentska skrivalica. In: „Republika“ 242–243, 1–31. 08. 2000 [online]. http://www.yurope.com/zines/republika/arhiva/2000/242-243/242-243_21.html [12. 03. 2021]. 29 W. Yardley: Srdja Popovic, 76, Serbian Champion of Rights, Dies. In: „New York Times“, 2. 11. 2013 [online] https://www.nytimes.com/2013/11/03/world/europe/srdja-popovic-76-champi on-of-rights-dies.html [12. 03. 2021]; M. Vasic´: Odlazak pravnika, stoika i gospodina advo-
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bewies nicht nur sein juristisches Geschick, sondern auch seine Ethik und verurteilte entschieden jede Art von Nationalismus.30 Er war auch in der internationalen Rechtsgemeinschaft geachtet und war Mitglied der Anwaltskammern von Baltimore und New York.31 Die Idee hinter der Petition war, dadurch Druck auf das Regime auszuüben, dass eine Gruppe von Menschen gegen eine bestimmte Sache vorging. Dadurch wurde verhindert, dass sich jemand durch einzelne Aktionen leicht der Gefahr von Repressalien aussetzte. Das langfristige Ziel bestand wiederum darin, die Ziele und das politische Programm durch Initiativen der Unterzeichner zu spezifischen rechtlichen und sozialen Fragen für künftige Maßnahmen zu konkretisieren. Um dem Regime keinen Grund zu liefern, die Gruppe der „Bildung einer organisierten staatsfeindlichen Opposition“ zu bezichtigen, wurde stets darauf geachtet, dass die Gruppe der Unterzeichner nie identisch war.32 Die Unterzeichnung einer Petition war immer mit einer Vorladung zu einer Anhörung, einer Verwarnung und in vielen Fällen mit dem Verlust des Arbeitsplatzes verbunden.33 Um den Mechanismus der Angst vor möglichen strafrechtlichen Konsequenzen zu veranschaulichen, den die Behörden durch ihr Handeln herbeiführten, erstellte der Regisseur Lazar Stojanovic´ eine „Liste kleinbürgerlicher Gründe“, mit der die Angst vor der Unterzeichnung von Protestschreiben erklärt wurde. Zu den am häufigsten gegebenen Erklärungen gehörte die Aussage, dass „dieser Satz grammatikalisch nicht richtig formuliert ist.“34 Nach Einschätzung der Unterzeichner hat bereits die erste von Srd¯a Popovic´ initiierte Petition zur Aufhebung des Passverbots für „politisch verdächtige Personen, einschließlich ehemaliger Häftlinge“, gewisse Ergebnisse gebracht. Nach den Memoiren von Vojislav Stojanovic´ gelang es lediglich zwanzig Unterzeichnern – die sich auf das von den jugoslawischen Behörden unterzeichnete Abkommen über die KSZE-Schlussakte von Helsinki aus dem Jahr 1975 bezogen – zu ihrem eigenen Erstaunen, dahingehend Druck auszuüben, dass es immer seltener vorkam, dass politisch unliebsame Personen an der Erlangung eines Passes gehindert wurden.35 Eine der berühmtesten Petitionen war die zur Änderung von Artikel 1 Absatz 133 des Strafgesetzbuchs von 1980, der sich auf „feindselige Propaganda“ und „verbale Beleidigung“ bezog, die häufig zur Beschuldigung von Personen
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kata. In: „Vreme“ 1191, 31. 10. 2013 [online]. https://www.vreme.com/vreme/odlazak-pravni ka-stoika-i-gospodina-advokata [12. 03. 2021]. BGJ. AJ 803 P SFRJ, Sszzup, fascikla 1791, (Anm. 16). Popovic´, Poslednja instanca, (Anm. 5), S. 1479–1480. Ebd., S. 1480. BGJ. Stojanovic´, Beogradske godine 1968–1986, (Anm. 8), S. 499f.
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missbraucht wurden.36 Die Unterzeichner forderten die Streichung der Formulierung „Wahrheitswidrige Darstellung der gesellschaftspolitischen Lage im Lande“ und die Ersetzung des Begriffs „feindselige Propaganda“, der leicht zur unbegründeten Verurteilung von Menschen mit einer anderen Weltanschauung verwendet werden konnte, durch die Formulierung „Aufruf zu einer Änderung der verfassungsmäßigen Ordnung durch Gewalt“.37 Wie sich Gordan Jovanovic´, einer der 101 Unterzeichner, erinnert, wurde diese Petition in Dissidentenkreisen als Erfolg gewertet, da von da an weitaus weniger Personen auf der Grundlage dieses Artikels vor Gericht gestellt wurden, da er in der Regel lediglich als Zusatz zur Anklageschrift und nicht als deren Grundlage behandelt wurde.38 Vor dem Hintergrund der Situation nach Titos Tod und der Sorge um die Zukunft des Staates kam man in den Berichten des Innenministeriums von 1980 zu dem Schluss, dass die Gruppe bei ihren Aktivitäten große Zurückhaltung übte. Sie wurde auf 98 Personen geschätzt, von denen wohl 60 % direkt von den Sicherheitsbehörden überwacht wurde. Es wurde behauptet, dass sie im Rahmen der Freien Universität und der Diskussionen für ihre Aktion im öffentlichen Raum einen Platz erhalten wollten.39 Eine folgenreiche Form des Drucks auf die Behörden war die Petition, die 1980 von 208 Personen gegen Artikel 154 der Verfassung der SFRJ unterzeichnet wurde. Diese Bestimmung des Grundgesetzes ermöglichte Missbräuche, weil sie sich bei der Gleichheit vor dem Gesetz auf Fragen der Rasse, des Geschlechts, der Nationalität, der Sprache und der Religion bezog und die Gleichheit vor dem Gesetz unabhängig von der politischen Einstellung außer Acht ließ. Die Unterzeichner des Aufrufs forderten, diese Formulierung hinzuzufügen.40 Es ist bezeichnend, dass die BdKJ-Behörden in Belgrad, obwohl sie sich nicht sicher waren, wie die Lage in Polen zum Zeitpunkt des Aufkommens der Massenbewegung der „Solidarnos´c´“ zu bewerten war, nicht wollten, dass sich die Informationen über die Massenopposition in Jugoslawien verbreiteten. Trotz der relativ positiven Einschätzung der „Solidarnos´c´“-Bewegung in jugoslawischen Dokumenten („eine authentische Bewegung der Arbeiterklasse“) wurden in Jugoslawien Ähnlichkeiten mit der Situation in Polen festgestellt (Wirtschaftskrise,
36 A. Djilas: From Dissent to Struggle for Human Rights. In: Human Rights in Yugoslavia, (Anm. 2), S. 392–394, 419. 37 Popovic´, Poslednja instanca, (Anm. 5), S. 1482f. 38 BGJ. 39 AJ 803 P SFRJ, Sszzup, fascikla 1786 sednice saveta, 1980. godine. Nacˇalnik Kabineta SSUP do M. "uricˇu Savezni savet za zasˇtitu ustavnog poretjka SSUP, 18. 04. 1980, str. pov. 21–7. Neke karakteristike delovanja unutrasˇnjeg neprijatelja povodom dogad¯aja u Avganistanu i stanja zdravlja Predsednika Republike, sa tezˇisˇtem na dosadasˇnja saznanja o aktivnosti i strukturi po prvi put neprijateljski eksponiranih lica. 40 Popovic´, Poslednja instanca, (Anm. 5), S. 1480f, 1494–1500.
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wachsende soziale Unzufriedenheit), und es wurde eindeutig befürchtet, dass es auch auf dem Balkan zu Massenstreiks kommen könnte.41 Die jugoslawischen Kommunisten waren der Ansicht, dass das Umfeld der Dissidenten bewusst polnische Probleme ansprach und die Ähnlichkeit der Situation hervorhob. Darüber hinaus erkannte man, dass es linke und liberale Intellektuelle in Jugoslawien waren, die sich für die von der „Solidarnos´c´“-Bewegung in Polen initiierten Veränderungen begeisterten. Genau aus diesem Grund erreichte die Petition, die im Zusammenhang mit der Verhängung des Kriegsrechts in Polen im Dezember 1981 formuliert wurde, die größte Wirkung, zum ersten Mal wurden öffentlich Unterschriften gesammelt. Sie wurde von Pavle Imsˇirovic´ und Dragomir Olujic´ verfasst und war ein Ausdruck des Protests gegen die Unterdrückung der Opposition. Der Text brachte die trotzkistischen Überzeugungen der Autoren zum Ausdruck und setzte das Regime von Wojciech Jaruzelski mit einer der „militaristischsten bürgerlichen Reaktionen“ gleich.42 Wie sich Dragomir Olujic´ erinnert, wurden in kurzer Zeit 4.500 Unterschriften gesammelt. Darüber hinaus startete eine Gruppe von Dissidenten im Umfeld der Petitionsbewegung und der Freien Universität in den Jahren 1981 und 1982 Solidaritätsinitiativen mit der „Solidarnos´c´“ in Belgrad. Am spektakulärsten war eine Protestaktion im Juli 1982, als sich eine Gruppe von acht Personen auf Initiative von Pavle Imsˇirovic´ bei einer Staatsfeier zur Unterstützung der Palästinenser (Tag der Solidarität mit dem palästinensischen Volk) in Belgrad in eine Menge von 100.000 Menschen mischte und vier „Solidarnos´c´“-Transparente entrollte. Trotz bescheidener Beteiligung erregte die Demonstration die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, und die Teilnehmer wurden zu 40–50 Tagen Gefängnis verurteilt.43 Zu einer charakteristischen – und gleichzeitig der allgemeinen Wahrnehmung des Balkans als Konfliktraum widersprechenden – Initiative nicht-nationalistischer Dissidenten wurden Petitionen zur Verteidigung von Personen, die im Zusammenhang mit der Äußerung von ethnisch motivierten Forderungen verurteilt wurden. Wenn auch nicht immer von Begeisterung für die Forderungen der Verurteilten begleitet, so war doch die Achtung des Rechts eines jeden auf 41 AJ 803 P SFRJ, Sszzup, fascikla 1786 sednice saveta, 1980. godine. Materijal za 9. sednicu 11 decembra 1980, SSUP, 30. 10. 1980. godine, str. pov. br. Nove pojave i tendencije u delatnosti spoljnjeg i unutrasˇnjeg neprijatelja (septembar-oktobar 1980.). Beograd 29. oktobar 1980. Zu den jugoslawischen Einschätzungen der Lage in Polen siehe M. Sokulski: Sytuacja w Polsce w latach 1978–1981 w dokumentach najwyz˙szych władz jugosłowian´skich. In: S´wiat wobec Solidarnos´ci 1980–1989, hrsg. v. P. Jaworski, Ł. Kamin´ski. Warszawa 2013, S. 185–207; Zum Thema der Unterstützung der „Solidarnos´c´“ unter den Dissidenten in Jugoslawien siehe: Sokulski, Reakcje społeczen´stwa jugosłowian´skiego, (Anm. 14). Text der Petition im Besitz des Autors, erhalten von Miroslav Samardzic´ im November 2019. 42 Text der Petition im Besitz des Autors, erhalten von Miroslav Samardzic´ im November 2019. 43 Sokulski, Reakcje społeczen´stwa jugosłowian´skiego, (Anm. 14), S. 244f.
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Gedankenfreiheit und die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung die vorherrschende Überzeugung. Eine der weniger bekannten, aber für den Charakter der Gruppe, die sich aus liberalen und linksorientierten Intellektuellen zusammensetzte, aufschlussreichen Petitionen war die des Philosophen Vojislav Stojanovic´ zur Verteidigung der protestierenden albanischen Studenten, die im Zusammenhang mit den Protesten im Kosovo 1981 massenhaft inhaftiert worden waren. In Pristina wurde die Forderung nach einem Republikstatus für die Autonome Provinz Kosovo innerhalb Serbiens erhoben. Albaner wurden zur Hauptgruppe in den Gefängnissen und machten fast 90 % der Verurteilten aus.44 Miroslav Samardzˇic´ – ein Student der Politikwissenschaften, der sich damals an der Initiative beteiligte – wies auf die schlechte Qualität der Lehre an der neu gegründeten Universität von Pristina, die überfüllten Klassenzimmer und die allgemeine Armut im Kosovo hin, die bei den Albanern Frustration hervorriefen. Es waren die sozialen Fragen, die der unmittelbare Anlass für die Reden waren, die die Solidarität der Kollegen in Belgrad weckten. Gordan Jovanovic´, einer der Initiatoren der Aktion, erinnert sich, dass die Behörden schon damals trotz erklärter „Brüderlichkeit und Einheit“ gerne die Karte des Nationalismus spielten und ungläubig zur Kenntnis nahmen, dass serbische Studenten ihre albanischen Kollegen unterstützten. Die Rebellen in der jugoslawischen Hauptstadt erkannten nämlich, dass die wachsenden Probleme im Kosovo nicht durch Repression gelöst werden können, sondern dass eine Lösung des Konflikts nur durch Dialog und Achtung der Rechte angestrebt werden kann.45 Ein weiterer aufschlussreicher Text war eine von 62 Personen unterzeichnete Petition zur Verteidigung der 13 bosnisch-muslimischen Aktivisten, die 1983 im so genannten Sarajewo-Prozess angeklagt waren (darunter der spätere Präsident Alija Izetbegovic´), denen islamischer Fundamentalismus, Nationalismus und Kontakte zum Khomeini-Regime im Iran vorgeworfen wurden.46 Die Unterˇ avosˇki, der sich an die Behörden wandte, verzeichner, vertreten durch Kosta C wiesen auf „die Religionsfreiheit, die es in Europa seit 300 Jahren gibt, und die Freiheit des Denkens und der Meinungsäußerung, die es seit 200 Jahren gibt.“ In Bezug auf diese universellen Werte bezeichneten sie den Prozess als unzulässig und behaupteten, den Angeklagten seien keine Beweise vorgelegt worden.47
44 S. Repishti: Human Rights and the Albanian Nationality in Yugoslavia. In: Human Rights in Yugoslavia, (Anm. 2), S. 282; Stojanovic´, Beogradske godine 1968–1986, (Anm. 8), S. 501. 45 BGJ; BMS. 46 A. Balcer: Bos´nia i Hercegowina. Wprowadzenie. In: Słownik dysydentów. Czołowe postacie ruchów opozycyjnych w krajach komunistycznych 1956–1989. Bd 1, hrsg. v. A. Daniel, Z. Gluza. Warszawa 2007, S. 273f. 47 AJ, 803 P SFRJ, 05–03 Peticije, str. pov., kutija 550, 1983 godina, Branko Jovanic´ nacˇalnik, Skupsˇtina SFRJ – Biro za predstavke i prituzˇbe, 14. 10. 1983. godine do Predsednisˇtvo SFRJ.
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Der Prozess der Sechs48 und der Niedergang der Bedeutung nicht-nationalistischer Dissidenten Die Mitte des Jahrzehnts der 1980er Jahre läutete eine politische Wende ein. Der soziale Aufschwung passte nicht zum Bestreben des BdKJ, jede Form von Widerstand zu unterdrücken. Als dramatischster Moment für die Aktivitäten antinationalistischer Dissidenten gilt der so genannte Prozess der Sechs, bei dem einige der 28 Oppositionellen, die am 20. April 1984 in der Wohnung von Dragomir Olujic´ verhaftet worden waren, vor Gericht gestellt wurden. Die Sorge der Behörden rührte daher, dass Milovan "ilas einen informellen Vortrag über die Haltung der Kommunistischen Partei Jugoslawiens zur Nationalitätenfrage im Königreich Jugoslawien halten sollte.49 Er war der bekannteste Dissident Europas, denn ab 1953 begann er – noch als hoher Parteifunktionär – die Haltung der Behörden zu kritisieren. Er war der Ansicht, dass die Partei zu einer „Neuen Klasse“ geworden war, die Privilegien ausnutzte und im Widerspruch zu den von den Kommunisten gemeinhin vertretenen Ideen der Gleichheit stand. Die Jahre zwischen 1956 und 1966 verbrachte er zeitweise im Gefängnis.50 Nach seiner Entlassung zog sich "ilas aus dem Gefängnis aus der Öffentlichkeit zurück und beteiligte sich nur selten an Initiativen gegen das Regime. Dennoch wurde er von den staatlichen Behörden überwacht, die in ihm einen potenziellen Anführer der Opposition gegen das Regime sahen.51 Von den sechs im Rahmen des Prozesses Angeklagten – Olujic´, Nikolic´, der Künstler Miodrag Milic´, Jovanovic´, Imsˇirovic´, Mijanovic´ – wurden die ersten drei durch ein erstinstanzliches Gerichtsurteil im Februar 1985 wegen „feindseliger Propaganda“, „Untergrabung der historischen Verdienste des BdKJ und von Josip Broz Tito für Jugoslawien“ oder, wie im Fall von Nikolic´, wegen eines in der westlichen Presse veröffentlichten Textes zu 1 bis 2 Jahren Gefängnis verurteilt. Im Juli 1985 sprach das Berufungsgericht die Angeklagten frei, nur Miodrag Milic´ wurde zu 1,5 Jahren Gefängnis verurteilt.52 Wie Srd¯an Cvetkovic´ feststellt, war der Prozess gegen die 6 Dissidenten einer der letzten öffentlichen Prozesse des Regimes gegen seine Gegner, der vor allem durch die Furcht des BdKJ vor dem Entstehen einer Opposition ausgelöst wurde,
48 Diese Frage wurde von Srd¯an Cvetkovic´ in seinem bereits zitierten Text über den Prozess der Sechs ausführlich erörtert: „Proces ˇsestorici“, (Anm. 23). In diesem Abschnitt beziehe ich mich hauptsächlich auf seine Erkenntnisse. 49 Ebd., S. 249. 50 M. Sokulski, M. Previsˇic´: W opozycji do Moskwy. Jugosłowian´ska „droga do socjalizmu“ w latach 1948–1956. In: „Pamie˛c´ i Sprawiedliwos´c´“ 2 (2016), S. 395–417, hier S. 401f; L. Rosic´: Milovan Djilas. In: Słownik dysydentów, (Anm. 46), S. 319f. 51 AJ 803 P SFRJ, Sszzup, fascikla 1791, fascikla 1785 sednice saveta, 1979. – 1980. godina, 16. sednica. Moguc´nost i oportunost krivicˇnog gonjenja Milovana "ilasa. 52 Gruenwald, Praxis and Human Rights, (Anm. 2), S. 479–481.
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da sich die Partei selbst nach Titos Abgang immer schwächer fühlte.53 Nach Einschätzung von Jasna Dragovic´-Soso wurde der Prozess zu einer Farce, bei der es dem Regime nicht gelang, eine überzeugende Anklageschrift zu formulieren (die Vorwürfe der „Gründung einer feindlichen Organisation“ und der „feindlichen Propaganda“ wurden von der Verteidigung zurückgewiesen), und die einen bedeutenden Teil der öffentlichen Meinung in dem zunehmend von Nationalisten beherrschten Land mobilisierte.54 Der dramatischste Moment war jedoch der Tod von Radomir Radovic´, der nach Angaben seiner Freunde ermordet wurde. Radovic´ hatte als Techniker bei der Firma „Hidrotehnika“ in Belgrad gearbeitet, ab 1981/1982 war er Teil einer Gruppe linker Dissidenten gewesen. Wie sich Jelka Imsˇirovic´ erinnert, gehörte er zu den wichtigsten Protagonisten bei der Gründung freier Gewerkschaften.55 Dies hing mit der Überzeugung linksgerichteter Dissidenten zusammen, dass es notwendig sei, „die Arbeiterklasse mit der Intelligenz zu vereinen“, und wurde durch die „Solidarnos´c´“-Bewegung inspiriert. Radovic´ hatte bereits 1978 versucht, eine unabhängige Arbeiterorganisation namens „Einheit“ zu gründen und schickte diesbezüglich einen Brief an den X. Gewerkschaftskongress, wofür er jedoch keine strafrechtlichen Sanktionen, sondern nur eine Ermahnung der betrieblichen Parteizelle erhielt. Wie sich Olujic´ erinnert, war dies darauf zurückzuführen, dass er unabhängig handelte und damals nur lose mit der Dissidentengruppe verbunden war.56 Er war einer von 28 Personen, die am 20. April 1984 in der Wohnung von Olujic verhaftet wurden. Wenige Stunden nach seiner Freilassung am 23. April 1984 verschwand er jedoch. Erst am 30. April wurde er in einem Ferienhaus in der Nähe der Stadt Obrenovac tot aufgefunden. Die offiziellen gerichtsmedizinischen Untersuchungen deuteten auf einen Selbstmord durch absichtliche Einnahme eines Insektizids hin, was von den Freunden mit Unglauben aufgenommen wurde.57 Angesichts der Zweifel an seinem Tod appellierten 97 Personen an das Präsidium, die Umstände seines Todes aufzuklären. In dem Text heißt es: „Die genannten Treffen [der Freien Universität – M.S.] wurden vor 7 Jahren von uns Unterzeichnern ins Leben gerufen, was der Hauptgrund dafür ist, dass wir uns an euch wenden, wir betrachten es nämlich als unsere moralische Pflicht gegenüber der Öffentlichkeit.“ Die Unterzeichner 53 Cvetkovic´, „Proces ˇsestorici“, (Anm. 23), S. 243f. 54 Dragovic´-Soso, „Spasioci nacije“, (Anm. 3), S. 95–98. 55 J. Imsˇirovic´: Nerasvetljena smrt sindikaliste. Anatomija jednog politicˇkog zlocˇina: nestanak i smrt Radomira Radovic´a, In: „Republika“ 286–287, 1–30. 10. 2002 [online]. http://www.yur ope.com/zines/republika/arhiva/2002/286-287/286-287_26.html [12. 03. 2021]. 56 BDO. 57 AJ 803 P SFRJ, Sszzup, fascikla 1791, SSUP, str. pov. Beograd, 25. 10. 1984. Informacija o delatnosti grupe anarholiberala i merama koje je sluzˇba bezbednosti preduzela povodom njihovog ilegalnog okupljana u Belgradu.
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wiesen darauf hin, dass die Idee der Treffen von Anfang an darin bestand, denjenigen eine Stimme zu geben, denen ohne gerichtliches Urteil verboten wurde, ihre Meinung im öffentlichen Leben zu äußern; die Treffen standen allen offen, alle Themen konnten angesprochen werden. Die Unterzeichner der Petition verwiesen auf die internationalen Verpflichtungen Jugoslawiens, die sich aus der Anerkennung der UN-Charta und der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von 1975 ergaben.58
Schluss Wie Jasna Dragovic´-Soso feststellt, war der tatsächliche Einfluss der Aktivisten um die Freie Universität und die Petitionsbewegung in den 1970er und 1980er Jahren gering. Nach Titos Tod im Jahr 1980, in einer Situation der Staatskrise und der Rivalität auch innerhalb der serbischen kommunistischen Partei, wurde die nationale Frage zum Gegenstand der Überlegungen.59 Die Bestrebungen zur Schwächung des Einparteienregimes in den 1980er Jahren waren in Serbien zunehmend von Nationalismus geprägt. Wie Srd¯an Cvetkovic´ feststellt, wurden in der serbischen Öffentlichkeit zunehmend Forderungen nach der Wiederherstellung der Hoheit über die autonomen Bezirke Kosovo und Vojvodina laut.60 Nach der Verfassung von 1974 konnten die serbischen Behörden kein Veto gegen die in Pristina und Novi Sad gefassten Beschlüsse einlegen, während die Parteiführungen in den autonomen Provinzen formal Belgrad unterstellt waren, um die im Zentralkomitee des serbischen BdKJ beschlossenen Lösungen zu beeinflussen. Angesichts der Unzufriedenheit kam es zu einer Allianz zwischen den Behörden und Intellektuellen, die sich vom Kommunismus distanzierten und demokratische Parolen mit nationalistischen verbanden und von den Rechten jedes Einzelnen und Menschenrechten sprachen, indem sie diese Themen mit dem Status der Serben, dem Leid während des Zweiten Weltkriegs im kollaborierenden Unabhängigen Staat Kroatien oder der schwierigen Kosovo-Frage in Verbindung brachten.61 Zum informellen Anführer der Nationalisten, die die Partei für ihre angebliche Vernachlässigung der serbischen Frage kritisierten, ´ osic´, der die staatliche Politik gegenüber Serbien seit 1968 stark wurde Dobrica C ´ kritisiert hatte. Cosic´ war einer der Initiatoren des Memorandums der Serbischen 58 AJ, 803 P SFRJ, 05–03 Peticije, str. pov. kutija 552, pov. 169/1, 1984. godina, Sekretar komisije za predstavke i zˇalbe Teufik Trbic´ do Predsednika, Potpredsednika i cˇlanova Predsednisˇtva SFRJ, 25. 05. 1985 Beograd. 59 Dragovic´-Soso, „Spasioci nacije“, (Anm. 3), S. 89–92. 60 Cvetkovic´, „Proces ˇsestorici“, (Anm. 23), S. 246. 61 S.K. Pavlovitch: Serbia, Montenegro and Yugoslavia. In: Yugoslavism, (Anm. 3), S. 57–71, hier S. 67f.
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Akademie der Wissenschaften und Künste, in dem er auf die schlechte Lage der Serben in Jugoslawien und die mangelnde Achtung ihrer nationalen und wirtschaftlichen Interessen hinwies.62 Auslöser für das Erstarken der Nationalisten war die Unterstützung der „serbischen Sache“ durch den Vorsitzenden der serbischen Partei Slobodan Milosˇevic´ und seine Rede während der Feierlichkeiten zum 600-jährigen Jubiläum der Schlacht auf dem Amselfeld im Jahr 1989. Seine Sozialistische Partei Serbiens gewann bei den ersten Mehrparteienwahlen in Serbien am 9. Dezember 1990 deutlich.63 Nicht-nationalistische Dissidenten versuchten, eigene Initiativen zu ergreifen, darunter die Gründung der Vereinigung für die jugoslawische demokratische Initiative im Jahr 1989 in Zagreb, die einen demokratischen Wandel in Jugoslawien herbeiführen wollte. Belgrader Intellektuelle wie Nebojsˇa Popov als stellvertretender Vorsitzender, Dragomir Olujic´ oder auch Ljubomir Tadic´ waren an der Arbeit der Vereinigung beteiligt. Allerdings erwies sich die Unterstützung in der Bevölkerung angesichts der zunehmenden Nationalismen als verschwindend gering.64 Die Aktivisten, die in den 1970er und 1980er Jahren an regimefeindlichen Aktivitäten beteiligt gewesen waren, waren eine wichtige Stimme der Opposition gegen die Politik von Slobodan Milosˇevic´ in den 1990er Jahren. Zu einem Ausdruck unabhängigen Denkens während der autoritären Herrschaft von Slobodan Milosˇevic´ wurde auf Initiative von Srd¯a Popovic´ die Wochenzeitung „Vreme“, die jedoch angesichts der Unterordnung der Medien unter dem Milosˇevic´-Regime eine begrenzte Reichweite hatte65. Übersetzt von Jakob Altmann
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Berichte Korrespondenz zwischen dem Autor und Dragomir Olujic´, März–April 2021. Bericht von Dragomir Olujic´, Juli 2017, in den Sammlungen von Film System – Grzegorz Czerniak. Bericht von Gordon Jovanovic´, Juli 2017, in den Sammlungen von Film System – Grzegorz Czerniak. Bericht von Miroslav Samardzˇic´, November 2019, in den Sammlungen des Autors. Summary The Non-Nationalist Anti-Regime Elite in Serbia in and Their Attitude Towards Changes in Yugoslavia in the Years 1976–1984 Yugoslav dissident movement was not so famous as those in Poland, USSR or Czechoslovakia. It is very often falsely associated with claim about different, less reppressive character of communist regime in Yugoslavia. In fact, there were people who opposed communist regime due to many reasons. The most famous were those who appealed to the national feeling especially in Serbia, Croatia and Albanians from Kosovo. Most of researches did not find the non-nationalist group of opponents of regime interesting who were present and active in Yugoslavia, before all in Belgrade. Two political ideas were dominant amongst those people: left-wing activists, usually associated with trotskysm who claimed that Yugoslavia was deterioration of the communism; and the second group of
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civil-right activists focused on such issues as human rights, freedom of speech, freedom of thought. Most of them participated in the student demonstrations in 1968 in Belgrade. As they claimed, the regime presented the embodiment of the “red bourgeoisie” rather than communist ideas. In the mid-seventies they launched significant initiatives, amongst them so called “Free University” meetings and signing petitions. In frames of the first initiative they were gathering in the private flats, inviting lecturers and discussing the important social and political phenomena. In frames of the petition movement launched by the famous lawyer Srdja Popovic´ they were collecting signatures under different requests adressed to authorities in such issues as weakening of repression, introducing freedom of speech and liberating political prisoners. They were also following patterns of democratic opposition in Central and Eastern Europe. The year 1984, the so called “Process of 6”, when some of the group members were put in jail and it was the end of their significance amongst dissidents in Yugoslavia as the rise of nationalism and national issues became dominant phenomena of the social disobedience. Keywords: intellectuals, human rights, petitions, Free University
Katarzyna Majdzik Papic´ (Schlesische Universität in Katowice)
Zwischen den Welten. Postjugoslawische Literatur im Spannungsfeld der Übersetzung
Im Jahr 2019 erschien im Verlag Sluzˇbeni glasnik in Belgrad eine von Vesna Vircburger herausgegebene Essaysammlung mit dem Titel Zˇivot na drugom jeziku, mit einem Vor- und Nachwort von Aleksandar Jerkov. Das Buch ist das Ergebnis des von der Herausgeberin aufgenommenen Studiums der literarischen Übersetzung und des Creative Writing am Queens College in New York. Die Sammlung besteht aus Aussagen von Schriftstellern, Übersetzern und Wissenschaftlern aus verschiedenen Ländern des ehemaligen Jugoslawien, die im Exil1 in den Vereinigten Staaten, Kanada, Skandinavien (Norwegen, Schweden), Frankreich, Italien, Großbritannien, Deutschland und Österreich gelebt haben. Als wichtiger Ausgangspunkt werden am häufigsten die Ereignisse des Bürgerkriegs in den 1990er Jahren genannt. Das Buch enthält viele interessante Überlegungen und präsentiert Denkansätze zu den Themen Emigration, Zweisprachigkeit, exophone Kreativität, Übersetzungstheorie und ihre Anwendung in der alltäglichen Praxis (z. B. im Text von Nebojsˇa Radic´ oder Predrag Finci) und stellt teilweise unbekannte oder wenig bekannte Autoren im heimischen (postjugoˇ olic´). Schließlich beweist es das Bedürfnis slawischen) Kontext vor (z. B. Velibor C (der Autoren, der Herausgeberin des Bandes), dem Betrachter das eigene Schicksal aus der eigenen Sicht zu präsentieren und die erschütternde Erfahrung des Lebens in einer fremden Sprache, in einem fremden kulturellen Kontext und damit in der Übersetzung zu beschreiben. Und gerade das Phänomen der Übersetzung in der nach dem Zerfall Jugoslawiens entstandenen Emigrantenliteratur scheint einer eingehenderen Untersuchung zu bedürfen. Die Autoren, deren Beiträge in Vesna Vircburgers Buch zu finden sind, gehören zur so genannten postjugoslawischen Literatur, d. h. (im weitesten Sinne) zur Literatur, die nach dem Zerfall Jugoslawiens entstanden ist. Der Kategorie ˇ olic´, 1 Zu den Autoren gehören (in der Reihenfolge ihres Erscheinens im Buch): Velibor C Nikolina Kulidzˇan, Nebojsˇa Radic´, Dragoslav Dedovic´, Mascha Dabic´, Ivancˇica "eric´, Adnan Mahmutovic´, Bozˇidar Stanisˇic´, Ana Bozˇic´evic´, Snezˇana Zˇabic´, Predrag Finci, Andrea Jurjevic´, Bekim Sejranovic´, Stevan Tontic´, Jasmina Tesˇanovic´, Tomislav Longinovic´, Ammiel Alcalay, Nenad Jovanovic´, Zˇarko Radakovic´.
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Katarzyna Majdzik Papic´
der postjugoslawischen Literatur ist eine umfangreiche Literatur gewidmet worden, ohne dass der Begriff klar definiert worden wäre. Die Forscher neigen dazu, in den dieser Kategorie zugeordneten Werken Gemeinsamkeiten zu finden, aber selbst bei den am häufigsten akzeptierten Charakteristiken, wie der Möglichkeit der gegenseitigen Verständigung ohne die Notwendigkeit einer Übersetzung oder der Gemeinsamkeit der Erfahrungen der Autoren, gibt es keinen vollständigen Konsens (dieses Bild wird auch durch die exophone Literatur im Exil teilweise verdeckt). Es lohnt sich jedoch, auf einige Konzepte hinzuweisen, die die wichtigsten Komponenten des „Post-Jugoslawentums“ hervorheben. Diese Konzepte beziehen sich nicht nur auf rein literarische, sondern auch auf kulturelle, politische, wirtschaftliche, soziale und individuelle Phänomene. In wirtschaftspolitischer Hinsicht verweist Tim Judah auf die so genannte Jugosphäre als einen Bereich der Zusammenarbeit und bedeutenden Annäherung.2 Als eine literarische (kulturelle) und theoretische Fiktion, hinter der sich eine historische Realität verbirgt, wird das Post-Jugoslawentum von Diana Hitzke und Ivan Majic´ beschrieben,3 auch Vladislava Gordic´ Petkovic´4 sucht in der zeitgenössischen serbischen (postjugoslawischen) Prosa nach Verbindungen zu Jugoslawien als empirischem und kulturellem Phänomen. Tijana Matijevic´ hält es dagegen für ein kultur- und literaturtheoretisch relevantes Konzept.5 Der (post-)jugoslawische Diskurs soll eine Alternative zu den politischen und sozialen Projekten der Länder darstellen, die nach dem Zerfall Jugoslawiens entstanden sind.6 Post-Jugoslawentum kann auch einen emanzipatorischen Diskurs bedeuten, der verwendet wird, um den Widerstand gegen Nationalismen in den postjugoslawischen Ländern zu artikulieren und um dissidente und alternative Positionen in Kultur und Politik zu manifestieren.7 Die jugoslawische Identität, auf die sich das Konzept des Post-Jugoslawentums beziehen soll, zeichnet sich durch intellektuelle Offenheit, Vielfalt und gegenseitige Neugierde
2 T. Judah: Yugoslavia is Dead. Long Live the Yugosphere. London 2009. 3 D. Hitzke, I. Majic´: The State(s) of Post-Yugoslav Literature [online]. https://www.kakanien-re visited.at/beitr/re_visions/DHitzke_IMajic1.pdf [20. 04. 2021]. Vgl. auch: T. Matijevic´: National, Post-national, Transnational. Is Post-Yugoslav Literature an Arguable or Promising Field of Study? In: Grenzräume – Grenzbewegungen. Ergebnisse der Arbeitstreffen des Jungen Forums Slavistische Literaturwissenschaft in Basel 2013 und Frankfurt (Oder) und Słubice 2014. Bd. 1, hrsg. v. N. Frieß, G. Lenz, E. Martin. Potsdam 2016, S. 101–112. 4 V. Gordic´ Petkovic´: Jugoslavija u postjugoslovenskoj prozi: knjizˇevnost i pamc´enje. In: „Kultura“ 161 (2018), S. 249–259. 5 T. Matijevic´: National, Post-national, Transnational, (Anm. 3). 6 T. Petrovic´: Yuropa. Jugoslovensko nasled¯e i politike buduc´nosti u postjugoslovenskim drusˇtvima. Belgrad 2012. 7 S. Slapsˇak: Twin Cultures and Rubik’s Cube Politics: The dynamics of Cultural Production in Pro-YU, Post-YU, and Other YU Inventions. In: „Südosteuropa. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft“ 3 (2011), S. 301–314.
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aus.8 Neben Theorien, die ein subversives Element enthalten und sich eher auf den gesamten postjugoslawischen Diskurs bzw. das kulturelle Projekt beziehen (ausführlich beschrieben von Tijana Matijevic´9), gibt es Konzepte, die sich direkt auf literarische Phänomene beziehen (auch solche, die im Grenzbereich zwischen Literatur und Kultur, Soziologie, Politik sowie post-, trans- und supranationalen literarischen Projekten angesiedelt sind).10 Boris Postnikov hebt die marktbezogenen Aspekte der Verwendung der Kategorie in einer Situation hervor, in der die „postjugoslawische“ Literaturproduktion in verschiedenen Ländern stattfindet, die sich in unterschiedlichen Entwicklungsstadien befinden (z. B. wirtschaftlich und politisch) und durch Grenzen getrennt sind. Letztlich bezieht er sich jedoch positiv auf die Kategorie. Tijana Matijevic´ kommentiert diesen Gedanken ähnlich und sieht das Potenzial der postjugoslawischen Literatur darin, als Alternative zu den auferlegten Regeln des kapitalistischen Kultur- und Literaturverständnisses, der Abwertung der Rolle des Schriftstellers und der Begrenzung der nationalen Kulturen zu dienen.11 Der Begriff postjugoslawische Literatur wird auch von Literaturkritikern verwendet. Vladimir Arsenic´, der den Rahmen dieser Literatur vorgibt, betont, dass postjugoslawische Autoren Sprache, Kultur und Alltagserfahrungen teilen.12 In seinem Artikel über die Kategorie der postjugoslawischen Literatur zitiert Robert Rakocˇevic´13 die Aussagen zweier prominenter, aus dem ehemaligen Jugoslawien stammender Schriftsteller – Predrag Matvejevic´ und Biljana Srbljanovic´ –, die während der Konferenz „Les post-Yougoslaves, une génération d’auteurs: terres d’imaginaire (Septièmes rencontres internationales des écritures de l’exil)“ im Centre Pompidou in Paris im Jahr 2007 die Konstitution von Schriftstellern,14 die die Erfahrung des Lebens im Exil vereint, mit der Fähigkeit, 8 D. Klaic´: End of Multicultural World. In: „Index on Censorship“ 7 (1993), S. 3–5. 9 T. Matijevic´: National, Post-national, Transnational, (Anm. 3). Vgl. auch: A. Wachtel: Kada i zasˇto je „jugoslovenska kultura“ imala smisla?, übers. v. N. Karad¯inovic´. In: „Sarajevske sveske“ 1 (2002) [online]. http://www.sveske.ba/bs/content/kada-i-zasto-je-jugoslovenska-k ultura-imala-smisla [20. 04. 2021]. 10 Vgl. z. B.: B. Postnikov: Postjugoslavenska knjizˇevnost? Zagreb 2012; R. Rakocˇevic´: „Postjugoslovenska knjizˇevnost“? Ogledala i fantomi. In: „Sarajevske sveske“ 35–36 (2011) [online]. http://sveske.ba/en/content/post-jugoslovenska-knjizevnost-ogledala-i-fantomi [20. 04. 2021]. 11 T. Matijevic´: National, Post-national, Transnational, (Anm. 3); Postnikov, Postjugoslavenska knjizˇevnost?, (Anm. 10). 12 T. Matijevic´: National, Post-national, Transnational, (Anm. 3), S. 101–112, hier S. 106. Zur gegenseitigen Verständlichkeit von Werken der postjugoslawischen, nachkriegszeitlichen, regionalen, jugonostalgischen Literatur vgl. auch: D. Babic´: Krvavi Diznilend. In: „Polja“ LIX, 486 (2014), S. 202. Zit. nach: T. Matijevic´: National, Post-national, Transnational, (Anm. 3), S. 101–112, hier S. 105f. 13 Rakocˇevic´, „Post-jugoslovenska knjizˇevnost“, (Anm. 10). 14 Mehr über die Konferenz: https://webtv.bpi.fr/doc=2638 [28. 02. 2021]. Konferenzprogramm online verfügbar unter: https://webtv.bpi.fr/media/doc_acc/0001/20071130-EncExiAR-P L01_01Bpi.pdf [28. 02. 2021].
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sich selbst im Spiegel des Anderen zu sehen, in Verbindung brachten.15 Die Metaphern des Spiegels und der Begegnung mit dem Anderen stehen im Zentrum der Überlegungen zum Phänomen der Übersetzung (vgl. z. B. die Arbeiten von George Steiner16 oder Hans-Georg Gadamer17). Sie sind zusammen mit den Errungenschaften des hermeneutischen Denkens dauerhaft in den Kanon der zeitgenössischen übersetzungswissenschaftlichen Reflexion eingegangen, und ihnen liegt die Überzeugung vom spekulativen Charakter der Wirklichkeit zugrunde (schließlich bedeutet spaeculum auf Lateinisch Spiegel). Die Betrachtung der Übersetzung als identitätsstiftendes Phänomen hat also eine ontologische Berechtigung18, wenngleich die anschaulichsten Beispiele für die Beziehung zwischen Subjektivität (und Identität) und der Kategorie der Übersetzung die Situation der Übersetzung im eigentlichen Sinne (d. h. der Akt der interlingualen und interkulturellen Kommunikation) ist. Es überrascht nicht, dass die Reflexion über die postjugoslawische Literatur dann am deutlichsten wird (und somit die anschaulichsten Beispiele liefert), wenn die Autoren dieser „Generation“ (um einen auf einer französischen Konferenz kursierenden Begriff zu verwenden – une génération d’auteurs) ihre literarischen Aussagen außerhalb ihres heimatlichen Kontextes, in einer Situation der Emigration, formulieren. Die Frage der Übersetzung steht nicht selten im Zentrum des Interesses von Schriftstellern, und auch wenn die Übersetzung oft nicht direkt angesprochen wird (nicht thematisiert wird), so ist sie doch in dem, was sie schreiben, präsent und bestimmt ihr Schaffen (z. B. wenn es sich um exophone Literatur oder die Werke der 1.5 Generation19 handelt, die sozusagen zwischen 15 Rakocˇevic´ stellt fest: „[…] post-jugoslovenski pisci imaju sposobnost da gledaju u ‚ogledalo istorije‘ (miroir de l’histoire). Srpska dramska spisateljica Biljana Srbljanovic´ je rekla da njene drame opisuju zˇivote njoj bliskih ljudi kao da se u njima radi o njenom sopstvenom zˇivotu (comme s’il s’agissait de ma propre vie). Matvejevic´ i Srbljanovic´, cˇinilo se, delili su ideju da pisati znacˇi prepoznati sebe u drugom, i da je taj ‚drugi‘ neka vrsta pisˇcˇevog ogledala, kao i da pisati o sebi znacˇi i priblizˇiti se i udaljiti se od samoga sebe.“ Rakocˇevic´, „Post-jugoslovenska knjizˇevnost“, (Anm. 10). 16 G. Steiner: After Babel: Aspects of Language and Translation. Oxford 1975. 17 H.G. Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1975 [1960]. 18 Vgl. W. Kalaga: Mgławice dyskursu. Podmiot, tekst, interpretacja. Kraków 2001. 19 Zum Begriff 1.5 Generation: vgl. C. Asher: The Progressive Past: How History Can Help Us Serve Generation 1.5. In: „Reference & User Service Quarterly“ 51 (1) (2011), S. 43–48; L.B. Rojas: Introducing the Cultural Mashup Dictionary: Our First Term, 1.5 Generation [online]. [Artikel vom 7. 4. 2011]. https://www.scpr.org/blogs/multiamerican/2011/04/07/7099/introdu cing-the-cultural-mashup-dictionary-our-fir [20. 04. 2021]. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass einige Forscher genauere konzeptionelle Unterscheidungen treffen, die sich auf das Alter, in dem die Auswanderung stattgefunden hat, und den Grad der Akkulturation beziehen, z. B. 1,25 oder 1,75 Generation. Siehe: R.G. Rumbaut: Ages, Life Stages, and Generational Cohorts: Decomposing the Immigrant First and Second Generations in the United States. In: „The International Migration Review“ 38 (3) (2004), S. 1160–1205.
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zwei Kulturen bzw. Sprachen schweben und somit von der Übersetzung bestimmt sind). Rakocˇevic´ nennt schließlich mehrere Möglichkeiten, mit denen man die Kategorie der postjugoslawischen Literatur verstehen kann, und unterscheidet dabei folgende Untertypen20: 1. Zum ersten Untertyp gehören Schriftsteller, die das „Post-Jugoslawentum“ eher als literarische denn als politische, historische oder gar kulturelle Kategorie verstehen; 2. Der zweite Untertyp umfasst jene Autoren, deren Werke einen starken jugoslawischen Hintergrund haben ( jugoslovenska pozadina), die aber der jugoslawischen Tradition und Ideologie kritisch gegenüberstanden (oder immer noch stehen); 3. Der dritte Untertyp besteht aus Schriftstellern, die sich vom Post-Jugoslawischen nicht aus einem Gefühl des Verlustes oder einer Vision vom Verschwinden einer bestimmten Zivilisation heraus haben inspirieren lassen, sondern deren Anliegen eine scharfe Kritik am Nachkriegsnationalismus ist. Ein Beispiel für einen Schriftsteller dieser Kategorie wäre der in Montenegro geborene Mirko Kovacˇ, der von der ekavica zur ijekavica wechselte (oder, wie Rakocˇevic´ sagt, „vom Serbischen zu einer kroatischen Variante der ehemaligen serbokroatischen Sprache“)21; 4. und schließlich der vierte Untertyp, die Exilliteratur (knjizˇevnost exila) und die Emigrationsliteratur (eigentlich müsste man sagen: Werke über Exil und Emigration)22, die die Idee der postjugoslawischen Literatur am stärksten verkörpere. Die für ihn emblematischen Künstler der letztgenannten Kategorie sind David Albahari und Dubravka Ugresˇic´. Die von Rakocˇevic´ vorgeschlagene Typologie bietet einen breiten Rahmen für das Phänomen der postjugoslawischen Literatur (es ist eine unscharfe Einteilung, und die einzelnen Typen können sich miteinander vermischen und Berührungspunkte finden), obwohl der Forscher geneigt ist, die Werke, die die Idee vom „Post-Jugoslawentum“ am besten zum Ausdruck bringen, als diejenigen 20 Ähnliche Unterscheidungen finden sich in der Monografie von Ewa Szperlik, in der sie sich der kroatischen Erzählweise über Jugoslawien widmet. Obwohl die Autorin die Arbeit von Exil-Autoren (die die jugosnostalgische Perspektive aufzeigen) heranzieht, ist sie in erster Linie daran interessiert, die Geschichte/das Phänomen Jugoslawien aus einer inneren, kritischen und zugleich revisionären Perspektive zu betrachten. Vehikel der kroatischen kollektiven Erinnerung an Jugoslawien bzw. dessen Verdrängung ist die Literatur, insbesondere die Literatur über früher zensierte oder tabuisierte Themen. Die Autorin beschreibt die Aktivitäten der Emigrantenzeitschrift „Hrvatska revija“ und autobiografische Erzählungen, die sich kritisch mit Jugoslawien auseinandersetzen. Zu den besprochenen Autoren gehören: Ludwig Bauer, Gojko Boric´, Ante Ciliga, Dubravko Horvatic´, Ilija Jakovljevic´, Jozo Kljakovic´, Theresia Moho, Ivana Sˇojat-Kucˇi, Goran Tribuson. Siehe: E. Szperlik: Chorwacka (nie)pamie˛´c o Jugosławii. Przemilczania, pominie˛cia i odpamie˛tania w prozie chorwackiej po roku 1991. Poznan´ 2019. 21 Vgl. auch: V. Cidilko: Mirko Kovacˇ ili o jeziku i knjizˇevnosti. In: „Slavica Tergestina“ 11–12 (2004). S. 139–161. 22 Rakocˇevic´, „Post-jugoslovenska knjizˇevnost“, (Anm. 10).
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anzusehen, die in die letzte der vorgestellten Autorengruppen fallen. Diese Einschätzung scheint durch die Forschungstätigkeit einiger Wissenschaftler bestätigt zu werden, die sich in ihren Arbeiten zur postjugoslawischen Literatur meist auf Emigrantenautoren beziehen.23 Iva Kosmos charakterisiert den analogen Kontext so (wobei ihr Fokus auf den Werken von Dubravka Ugresˇic´, David Albahari und Aleksandar Hemon liegt)24: Motivacija za pisanje ovog rada proizlazi iz opazˇanja, da izbjegle pisce obiljezˇava slicˇan povijesno-drusˇtveni kontekst, a usprkos tome proizveli su posve razlicˇite karijere i autorske tekstove. Zajednicˇki kontekst ukljucˇuje iskustvo zˇivota u bivsˇoj Jugoslaviji, iskustvo rata i raspada drzˇave, odlazak na Zapad, u takozvane razvijene demokracije s kapitalisticˇkim gospodarskim sistemom.25
Aus den obigen Ausführungen ergibt sich auch, dass (zumindest aus der Sicht einiger Forscher) die ausdrucksstärksten Beispiele für die Kreativität postjugoslawischer Emigranten in Prosawerken zu finden sind.26 Es mangelt jedoch nicht an Beispielen für Werke anderer Art, um nur Vesna Goldsworthys Gedichtband The Angel of Salonika, Ivancˇica "eric´s Gedichte oder schließlich die von Vesna Vircburger herausgegebene Essaysammlung Zˇivot na drugom jeziku zu nennen. Es sei darauf hingewiesen, dass der vorherrschende Diskurs (zumindest quantitativ) weitgehend auf der Analyse der Literatur in den Sprachen beruht, die auf 23 Vgl. z. B.: I. Kosmos: Mapiranje egzila u djelima postjugoslavenskih autora [Dissertation / doktorski rad]. Zagreb 2015; M. Levanat-Pericˇic´: The Chronotope of Exile in the Post-Yugoslav Novel and the Boundaries of Imaginary Homelands, übers. v. T. Rawski. In: „Colloquia Humanistica“ 7 (2018), S. 82–97; D. Duda: Zˇanrovi postjugoslavenske knjizˇevnosti [Radiosendung]. In: „Pojmovnik postjugoslavenske knjizˇevnosti“. Trec´i program Hrvatskoga radija. Zagreb 2013–2014. Die postjugoslawische Literatur kann nicht ohne einen gemeinsamen Kontext verstanden werden, der oft nicht auf ethnische Kategorien reduziert werden kann, sondern Parallelen und Synergien aufweist. Dean Duda betrachtet die jüngere nomadische Auswanderungsmatrix (recentna exilantsko nomadska matrica) als ein wichtiges Beispiel für eine solche Synergie. Siehe: Duda, Zˇanrovi postjugoslavenske knjizˇevnosti, (Anm. 23). 24 Ähnlich ist es bei Hitzke und Majic´, die Hemon, Albahari und Ugresˇic´ als Vertreter der Emigrantenliteratur/Exilliteratur (exilantska knjizˇevnost), d. h. der Literatur ohne klaren Wohnsitz („literature without a clear residence“), nennen (Ottmar Ette zit. nach: Hitzke, Majic´, The State(s) of Post-Yugoslav Literature, (Anm. 3)). 25 „Die Motivation für diese Arbeit war die Beobachtung, dass Flüchtlingsautoren, obwohl sie durch einen ähnlichen historischen und sozialen Kontext gekennzeichnet sind, ganz unterschiedliche Karrieren und Autorentexte entwickelt haben. Der gemeinsame Kontext umfasst die Erfahrung des Lebens im ehemaligen Jugoslawien, die Erfahrung von Krieg und Staatszerfall, die Reise in den Westen, in so genannte entwickelte Demokratien mit einem kapitalistischen Wirtschaftssystem.“ [Übers. von J.A.]. Kosmos, Mapiranje egzila, (Anm. 23), S. 1. 26 Ausnahmen von dieser Regel sind Werke, die den postjugoslawischen Kontext als relevant für die Entstehung und Interpretation anderer Künste behandeln, z. B. Post-Yugoslav Literature and Film. Fires, Foundations, Flourishes Gordany P. Crnkovic´ (2012 USA), Performing Identity After Yugoslavia: Contemporary Art Beyond and Through the Ethno-National Arielle M. Myers (2012 USA; Diplomarbeit), Trauma i postjugoslovenski film Vesna Peric´ (2020 Serbia).
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den Ruinen der ehemaligen serbokroatischen Sprache entstanden sind, oder auf der exophonen Literatur. Beispiele für postjugoslawische Literatur liefern sensu largo (!) aber auch Werke, die in anderen Sprachen des ehemaligen Jugoslawien und nicht unbedingt in Emigrationssituationen geschrieben wurden (vgl. z. B. Pajtim Statovci, László Végel, Goran Vojnovic´27). Im Bereich der Emigranten- bzw. Exilliteratur liegt der Schwerpunkt der Forschung auf den Schriftstellern, die das Land in den 1990er Jahren und später verlassen haben. Autoren, die sich in der Diaspora etabliert haben, stehen weniger häufig im Mittelpunkt des Interesses. Zu der letztgenannten Gruppe könnte man so unterschiedliche Autoren (die den Zerfall Jugoslawiens, Emigration, Übersetzungsfragen usw. thematisieren) zählen wie z. B. Zˇarko Radakovic´ (Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre nach Deutschland emigriert), Tanja Romanov (Jahrgang 1949, wurde in den Vereinigten Staaten sesshaft; Autorin der „1.5 Generation“) mit ihrem autobiografischen Emigrationsroman Mother tongue. A saga of Three Generations of Balkan Women (2018; serb. Ausgabe Po nasˇemu 2020), Téa Obreht und Snezˇana Zˇabic´ – und sogar die in den USA geborene (!) Sara Novic´ (geb. 1987), deren Debütroman Girl at War (2015; poln. Ausgabe Dziecko wojny 2016) sich in den Chor der Stimmen einer neuen Generation anglophoner Erzählungen über den Zerfall Jugoslawiens einreiht.28 Dasselbe gilt für die Werke von Vesna Goldsworthy, Alida Bremer, Aleksandar Hemon und Sasˇa Stanisˇic´, die alle (zumeist) in der Sprache des Auswanderungslandes entstanden sind.29 Das Pa27 Über Vojnovic´ im postjugoslawischen Kontext hat z. B. Levanat-Pericˇic´ geschrieben. Siehe: Levanat-Pericˇic´, The Chronotope of Exile, (Anm. 23). 28 „The bulk of Anglophone literature that initially came out of the 1990s Yugoslav civil wars consisted, naturally, of the more immediate genres: historic analyses of the Balkans, and graphic novels. Some fiction and memoir reached us in translation, including the work of Dubravka Ugresˇic´, Slavenka Drakulic´ and Semezdin Mehmedinovic´, but not enough. Now a generation of novelists has appeared: the last children of Yugoslavia, still close yet removed enough from the heat of collective trauma to create fresh narratives. Joining the stunning fictions of Olja Savicˇevic´, Selvedin Avdic´ and Téa Obreht comes a debut novel by the young American-Croatian Sara Novic´. I read it in one night.“ K. Kassabova: „Girl at War“ by Sara Novic´ Review – When Childhood Lurches Into Nightmare [online]. In: „The Guardian“, 11. 06. 2015. https://www.theguardian.com/books/2015/jun/11/girl-at-war-sara-novic-review [9. 03. 2021]. 29 Viele Autoren schreiben sowohl in ihrer Muttersprache als auch in der Sprache ihres Herkunftslandes, arbeiten als Redakteure und Übersetzer in diesen Sprachen und haben journalistische Texte verfasst, die im Ausland veröffentlicht wurden (von den bisher nicht erwähnten Autoren seien hier z. B. Bekim Sejramovic´ und Slavenka Drakulic´ genannt). Die Grenzen der Kategorie der postjugoslawischen Emigrantenliteratur ist verschwommen. Zu den Autoren gehören Schriftsteller verschiedener Generationen, unterschiedlicher Herkunft und Emigrationsorte, die sich sowohl durch literarische als auch durch nichtliterarische (einschließlich wissenschaftliche) Erfahrungen und Praktiken auszeichnen. Und schließlich Schriftsteller, die ihr Leben zwischen ihrem Herkunftsland und dem Land bzw. den Ländern der (E-)Migration aufteilen, deren Biografie und Werke (wenn auch nur in Bezug auf den Inhalt oder die Sprache) durch Mobilität (z. B. Igor Sˇtiks) oder einen transnationalen Cha-
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norama der postjugoslawischen Emigrationsliteratur muss breit gefasst werden, da es viele Autoren umfasst, die mit verschiedenen Zielländern (und Herkunftsländern) verbunden sind, die sich in verschiedenen kulturellen Kontexten (primären und sekundären) bewegen oder versuchen, sich in einem Raum jenseits dieser Kontexte zu bewegen, die verschiedenen Generationen angehören, verschiedene Sprachen sprechen und schließlich in verschiedenen Zeiträumen und aus verschiedenen Gründen auswandern (eine andere Perspektive als die sozialen, politischen und zivilisatorischen Erfahrungen der 1990er Jahre bietet die Erfahrung der Mobilität und der digitalen Kommunikation des 21. Jh.) o. ä. All dies macht die Grenzen selbst der eng definierten Kategorie der postjugoslawischen Literatur unscharf und die Vielfalt der textlichen (literarischen) Umsetzungen schwer greifbar.30 Für Autoren, die fernab ihres Heimatkontextes schaffen, sind jedoch die Erfahrung der Übersetzung, der Kontakt mit einer fremden Sprache und Kultur von grundlegender Bedeutung. Die bereits erwähnte Essaysammlung mit dem Titel Zˇivot na drugom jeziku sammelt Überlegungen zu diesem wichtigen Thema: „Zˇivot na stranom jeziku, pogotovo za pisca, neminovno postavlja pitanja koja zadiru u samu srzˇ licˇnog i profesionalnog identiteta, a odgovori, kao i put kojim se do njih dolazi, za svakog su drugacˇiji.“31 Die von Vesna Vircburger gesammelten Aussagen sind wichtige Zeugnisse, Para- und Metatexte der postjugoslawischen Emigrantenliteratur. Es lohnt sich jedoch zu untersuchen, wie die Kategorie der Übersetzung selbst Eingang in die Werke dieser Künstler findet. Es sei darauf hingewiesen, dass das Übersetzungsproblem mit der Idee der Identität rakter (vgl. z. B. D. Ugresˇic´) gekennzeichnet sind. Hier wird die Kategorie des Post-Jugoslawentums unscharf. Wahrscheinlich ziehen es aus diesem Grund einige Forscher vor, sich im Rahmen dieser Kategorie mit emblematischen Autoren zu befassen, also mit solchen, die in ihrem Zentrum stehen sollen. 30 Der Bereich der „traditionell“ verstandenen Emigrations- und Identitätsfragen wird durch die Tatsache erweitert und verkompliziert, dass wir es im Fall von Autoren, die nach dem Zerfall Jugoslawiens auf dem Literaturmarkt tätig sind, häufig mit Fällen von Emigration innerhalb eines Gebiets zu tun haben, das einst von einer gemeinsamen Staatsformation und einem gemeinsamen Etikett des „Jugoslawentums“ abgedeckt wurde. Ich beziehe mich hier sowohl auf Wohnortwechsel als auch auf den Wechsel von Idiom/Sprache/Identität (z. B. der Fall von Miljenko Jergovic´, Mirko Kovacˇ). Diese Problematik erfordert eine umfassendere separate Studie. Erwähnenswert ist, dass Rakocˇevic´ bei der Beschreibung des Falls Mirko Kovacˇ auf die Kategorie der domac´eg inostranstva (dieser schwer zu übersetzende Begriff besitzt folgende Äquivalente: innere/nationale/innerstaatliche Fremdheit) verweist, die auf die Spannung zwischen dem Fremden und dem Vertrauten und das Gefühl, gleichzeitig außerhalb und innerhalb des Heimatlandes zu sein, hinweist. Siehe: Rakocˇevic´, „Post-jugoslovenska knjizˇevnost“, (Anm. 10). 31 „Das Leben in einer Fremdsprache, insbesondere für einen Schriftsteller, wirft unweigerlich Fragen auf, die das Wesen der persönlichen und beruflichen Identität berühren, und die Antworten und der Weg dorthin sind für jeden anders.“ [Übers. von J.A.]. Zit. Nach: Zˇivot na drugom jeziku, hrsg. v. V. Vircburger. Belgrad 2019, S. 216.
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zusammenhängt, die in der Situation der Emigration nicht nur neu formuliert werden muss (vor allem, wenn das Problem durch den Kontext des Zerfalls Jugoslawiens kompliziert wird), sondern vor allem zum Ausdruck gebracht werden muss. Dieses Bedürfnis wird durch eine Vielzahl von Texten belegt, die die Emigrations-, Identitäts- und Übersetzungserfahrung beschreiben. Rebecca L. Walkowitz hat den Begriff born-translated (novels) geprägt, um zu beschreiben, wie im zeitgenössischen Roman (innerhalb der so genannten Weltliteratur) die Übersetzung als thematisches, strukturelles, konzeptionelles und sogar typografisches Werkzeug fungiert: These works are written for translation, in the hope of being translated, but they are also often written as translations, pretending to take place in a language other than the one in which they have, in fact, been composed. Sometimes they present themselves as fake or fictional editions: subsequent versions (in English) of an original text (in some other language), which doesn’t really exist. They are also written from translation. Pointing backward as well as forward, they present translation as a spur to literary innovation, including their own.32
Für die postjugoslawische Emigrantenliteratur ist die Übersetzung ein wichtiger Bezugspunkt für Interpretationen. Sie manifestiert sich sowohl thematisch als auch strukturell (häufig auch durch den Einsatz typografischer Mittel), durch Mehrsprachigkeit, Zitate und Bricolage sowie durch Verweise auf die Übersetzung im eigentlichen Sinne (mimetische Nachahmung, thematische Anspielungen, konzeptionelle Verweise, die die Idee der Übersetzung in die semantischstrukturelle Dimension des Werks implementieren), Schreiben mit übersetzerischer Absicht, Selbstübersetzung und exophones Schaffen. Diese Aspekte – die zweifellos Teil des von Walkowitz beschriebenen Phänomens sind – evozieren zugleich verwandte Begriffe, die auf die Verwandtschaft der postjugoslawischen Emigrantenliteratur (auch Exilliteratur; knjizˇevnost exila) mit der transnationalen33 (wie auch der „außernationalen“)34 und zugleich translokalen Literatur 32 R.L. Walkowitz: Born Translated: The Contemporary Novel in an Age of World Literature. New York 2015, S. 4. 33 Ein Feld analoger begrifflicher Verbindungen skizziert Joanna Kosmalska, indem sie die jüngsten Arbeiten polnischer Autoren vorstellt, die in Großbritannien und Irland arbeiten: „Er [der Migrant – J.A.] schafft eine imaginäre, virtuelle Welt, die von Soziologen als ‚transnationaler sozialer Raum‘ und von Literaturkritikern als ‚dritter Raum‘ bezeichnet wird, indem er Beziehungen zu verschiedenen Gemeinschaften sowohl im Gastland als auch im Heimatland unterhält. Dort finden die Prozesse der Interpretation und Verschmelzung von Kulturen statt, die oft mit Begriffen wie kulturelle Übersetzung, Hybridisierung, Bricolage, Synkretismus oder Kreolisierung beschrieben werden. Diese Phänomene spiegeln sich in der Literatur deutlich wider.“ J. Kosmalska: Twórczos´c´ Polaków na Wyspach Brytyjskich. Transnarodowy zwrot w polskiej literaturze. In: „Teksty Drugie“ 3 (2016), S. 165–186, hier S. 167. Im postjugoslawischen Kontext liefert die Essaysammlung Zˇivot na drugom jeziku (Anm. 31) Beispiele für die Einnahme einer Position „dazwischen“, eines Subjekts, das im interkulturellen Spiel von Identität und Übersetzung gefangen ist.
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verweisen.35 Józef Olejniczak36 schrieb über die Autoren polnischer Emigrantenliteratur als diejenigen, auf die (im Vergleich zum einheimischen Kontext) eine „multikulturelle Identität“ eher zutrifft. Der Forscher stellte jedoch fest, dass sich in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts zwei grundlegende und gegensätzliche Modelle der Identität des Emigranten herauskristallisierten: ein romantisches Modell (das davon ausgeht, dass der Emigrant an den mit dem Polentum identifizierten Werten festhält und dass die Emigration nur vorübergehend ist) und ein Modell der „Selbsterfahrung“ des Emigranten (der die romantische Tradition überwindet, die polnische Kultur in der westlichen Welt wiederherstellt, die Emigration als kulturelle Chance wahrnimmt). Im Falle der Schriftsteller, die nach dem Zerfall Jugoslawiens schrieben, funktioniert die Analogie zur Situation der polnischen Emigranten nicht in vollem Umfang, obwohl sie uns dazu bringt, über die Identität der Emigranten, ihre Haltung zum Anderen und zum Anderssein (und wir haben es hier mit einem ganzen Spektrum von Haltungen zu tun) sowie zu ihren heimatlichen Kontexten nachzudenken. Unser Ziel ist es jedoch nicht, die Vielfalt der Haltungen oder die Art und Weise zu beschreiben, wie die Erfahrung von Multikulturalität und Fremdheit genutzt wird, sondern im weitesten Sinne die Verwendung von Übersetzung im kreativen Akt zu beschreiben. Der Roman Mamac von David Albahari ist ein Beispiel für die Thematisierung der Erfahrung von Übersetzung und des Andersseins. Hier wird ein Ich-Erzähler, ein Schriftsteller mit Migrationshintergrund, Zeuge, wie er nicht nur versucht, eine neue Sprache für sein Werk zu finden, sondern auch einem Schriftstellerkollegen eine in die Geschichte verwickelte Familiengeschichte zu präsentieren. Der Roman ist ein Bericht über die Suche nach künstlerischen Ausdrucksmitteln, eine Reflexion über die Möglichkeit überhaupt zu kommunizieren (also eine Konfrontation zwischen dem Vertrauten und dem Fremden, verkörpert durch den kanadischen Schriftsteller Donald) sowie ein Bericht über den (fiktiven)37 34 M. Duda: Dubravka Ugresˇic´. Pisarka i literatura zdeterytorializowana. In: „Forum poetyki“ 2 (2015), S. 18–31. 35 Dies ist der Fall, wenn eine lokale Qualität auf einen anderen Ort übertragen wird, was zu Verwirrungen und Missverständnissen, aber auch zur Entdeckung und Weitergabe von Vertrautheit führen kann. Vgl. J. Ramazani: Poetyka transnarodowa, übers. v. I. Ostrowska. In: „Forum poetyki“ 2 (2015), S. 42–63. 36 J. Olejniczak: Toz˙samos´c´ emigranta. In: Wielokulturowos´c´: postulat i praktyka, hrsg. v. L. Drong, W. Kalaga. Katowice 2005, S. 41–53. 37 Bei Albahari handelt es sich im Prinzip um autobiographische Prosa, dabei verwendet er jedoch die Formel der sylleptischen Subjektivität (R. Nycz: Tropy „ja“: koncepcje podmiotowos´ci w literaturze polskiej ostatniego stulecia. In: „Teksty Drugie“ 2 (26) (1994), S. 7–27), oder, wie Sylwia Nowak-Bajcar es nennt, die sylvische Konvention des „Authentischen“ (S. Nowak-Bajcar: Mapy czasu. Serbska proza postmodernistyczna wobec wyzwan´ epoki. Kraków 2010, S. 120). Vgl. auch: R. Nycz: Sylwy współczesne. Kraków 1996; J. Jarze˛bski: Powies´c´ jako autokreacja. Kraków / Wrocław 1984.
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Versuch des Künstlers, sich selbst im Medium einer fremden Sprache – dem Englischen – zu finden. Bei einem anderen in den Vereinigten Staaten lebenden postjugoslawischen Schriftsteller bosnischer Herkunft, Aleksander Hemon, ist dieser Versuch ebenfalls geglückt. Hemon ist in Amerika erfolgreich, publiziert auf Englisch und ist zweisprachig (er bezeichnet sich selbst als „pisac s crticom“ – „Autor mit Bindestrich“ –, was seine doppelte kulturelle Zugehörigkeit beschreibt). Seine Bücher erscheinen auch in seinem Herkunftsland (oder im weiteren Sinne im südslawischen Raum) und werden von Irena Zˇlof ins Bosnische übersetzt. Wie der Autor selbst zugibt, schreibt er seine Bücher auf Englisch, arbeitet aber intensiv mit der Übersetzerin zusammen, um ihre Übersetzung an seinen eigenen bosnischen Idiolekt anzupassen.38 Der Platz, den Hemon im amerikanischen literarischen Feld einnimmt, resultiert laut Iva Kosmos daraus, dass sich der Schriftsteller auf die Kategorien Immigrant und Flüchtling beruft, was spezifisch amerikanische soziale Kontexte und die damit verbundenen Mythen aktiviert.39 Das Projekt der transnationalen Literatur wiederum findet sich in der Prosa und den Essays von Dubravka Ugresˇic´ wieder. Die Autorin möchte sich zwar des Etiketts einer nationalen Schriftstellerin entledigen, stellt aber fest, dass die Regeln des globalen Marktes eine nationale Definition erfordern. Im Fall von Dubravka Ugresˇic´ hängen die Identitätsprobleme mit ihren Erfahrungen aus dem Leben in Jugoslawien und dem anschließenden Zerfall des Landes zusammen. Im Werk der Schriftstellerin können wir verfolgen, wie sie verschiedene Identitäten ausprobiert – sie ist (Post-)Jugoslawin und „Zigeunerin“ –, ohne sich in einer dieser Formeln vollständig wiederzufinden.40 Schon die ersten literarischen Versuche von Dubravka Ugresˇic´ (wie die 1978 veröffentlichte Kurzgeschichtensammlung Poza za prozu) greifen auf die postmoderne Poetik zurück, die ja ein transnationales Projekt ist: Die [transnationale Kategorie der] Postmoderne wird mit einem kulturellen Projekt assoziiert, das die Lesbarkeit von Referenzen, die Kenntnis ihrer Ursprünge und ihrer ursprünglichen Versionen sowie die Kenntnis des zeitgenössischen und lokalen literarischen Lebens voraussetzt. Auf diese Weise verbindet Ugresˇic´ das Universelle mit dem Lokalen.41
Transnationale Literatur, verstanden als ein Phänomen, das dem allgemeinen Leser zugänglich ist und sozusagen jenseits des ethnisch-politischen Kriteriums 38 Siehe: Interview mit Alexander Hemon für die Booksa-Website [online]. https://www.face book.com/KlubBooksa/videos/749241672655352 [7. 03. 2021]. 39 Kosmos, Mapiranje egzila, (Anm. 23). 40 Vgl. nach: Duda, Dubravka Ugresˇic´, (Anm. 34); K. Majdzik: Przekład, czyli na styku dwóch podmiotowos´ci. Katowice 2015. 41 Duda, Dubravka Ugresˇic´, (Anm. 34), hier S. 23.
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funktioniert, kurz gesagt: Literatur, die allen zugänglich ist, weil sie die Kriterien aller erfüllt, nimmt in Ugresˇic´s Essay das Gesicht der Prosa von Paulo Coelho („ohne politische Grenzen, ohne Übersetzungsprobleme, ohne Verwurzelung und Entfremdung, ohne Unterschiede“)42 oder narzisstischer Literatur an, die Teil der so genannten Karaoke-Kultur ist.43 Dubravka Ugresˇic´ lehnt es ab, sich an einer so verstandenen transnationalen Kultur zu beteiligen. So nimmt die Autorin letztlich eine Position „jenseits“ (im Gegensatz zu „trans“) und damit am Rande ein44: Die einzige konstitutive Bedingung für den Aufbau einer literarischen Gemeinschaft mit der Vorsilbe „trans“ besteht also darin, nationalistische Kategorien abzulehnen und gleichzeitig das ethnische Gedächtnis zu bewahren. Der Autor sollte gleichzeitig ein lesbares und abgetrenntes Zeichen dafür werden, dass er „außerhalb“ des kulturellen und philologischen Kreises steht, der ihm ursprünglich zu eigen war.45
Maciej Duda zufolge bezieht sich die Position „jenseits“ nicht so sehr auf das Werk wie auf die Kondition der Schriftstellerin selbst. Dubravka Ugresˇic´ ist eine der bekanntesten Figuren des postjugoslawischen (kroatischen) literarischen Feldes (unter Bezugnahme auf diesen Bourdieu’schen Begriff wird ihr Werk und ihre Rezeption von Iva Kosmos untersucht), die im Exil schreibt (derzeit in Amsterdam). Die Autorin wurde in fast 30 Fremdsprachen übersetzt und ihre Bücher werden von den besten Verlagen veröffentlicht. Laut Kosmos füllt die Schriftstellerin drei Hauptrollen aus: als politische EmigrantinDissidentin (sowie Rebellin und Außenseiterin), Kulturvermittlerin (wir sind geneigt Kulturkritikerin zu sagen) und Vertreterin (Schöpferin) der Hochkultur. In all diesen Rollen gelingt es ihr, sich auf dem internationalen Buchmarkt und im literarischen Bereich einen Namen zu machen. Ein häufiges Motiv in Dubravka Ugresˇic´s Werk ist die Übersetzung als Kategorie, die mit der Selbstidentifikation zusammenhängt und somit eine Identitätskategorie darstellt.46 Die Übersetzung wird zu einer Existenzform in einem anderen semantischen Universum (was erfordert, sich selbst in andere Kategorien zu übersetzen und sich dem Anderen zu erklären), sie fungiert auch als Thema (das sylleptische Subjekt in ihrem Roman kämpft mit der sprachlichen Materie, indem es versucht, in einer anderen Sprache zu kommunizieren, ihre Unzulänglichkeit erfährt und sich schließlich damit abfindet; es erinnert an die 42 Ebd., S. 25. 43 D. Ugresˇic´: Karaoke kultura. Zagreb 2015. 44 Vgl. B. Hooks: Margines jako miejsce radykalnego otwarcia, übers. v. E. Doman´ska. In: „Literatura na S´wiecie“ 1–2 (2008), S. 108–117; Duda, Dubravka Ugresˇic´, (Anm. 34). 45 Duda, Dubravka Ugresˇic´, (Anm. 34), hier S. 28 [Übers. von J.A.]. 46 Katarzyna Majdzik stellt die ontologische Dimension von Übersetzung und Übersetzbarkeit vor, die in Ugresˇic´s Roman in Erscheinung tritt. Vgl. Majdzik, Przekład, (Anm. 40), S. 51–130, 199–214.
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Figuren der Übersetzer, der Schriftsteller mit Migrationshintergrund usw.), als „Trick“ (Mehrsprachigkeit in ihren verschiedenen Formen, Zitat, Bricolage), als Intention des literarischen Werks.47 Betrachten wir einige andere Möglichkeiten, wie die Übersetzung bei Dubravka Ugresˇic´ vergegenwärtigt werden kann: 1. Der Roman Das Ministerium der Schmerzen schließt mit einer Schimpfkanonade in allen Sprachen des ehemaligen Jugoslawiens als unübersetzbares (der polnische Übersetzer des Romans hat diesen Teil in der Originalfassung unübersetzt gelassen) kulturelles Element, das aber gleichzeitig (paradoxerweise!) in viele Sprachen des ehemaligen Jugoslawiens übersetzt wurde; 2. Im selben Roman lernt die Hauptfigur eine neue Sprache, was gleichbedeutend damit sein soll, dass sie sich mit der Kondition als Emigrantin abfindet (symbolisch steht dafür die niederländische Sprache und die Aneignung des Personalpronomens ik, das „ich“ bedeutet). 3. An einer anderen Stelle erhält die Hauptfigur einen Brief, der so geschrieben ist, dass man nicht erkennen kann, welche Sprache des ehemaligen Jugoslawiens (Variante des Serbokroatischen) der Autor verwendet hat. Dieses eigentümliche Schreiben wird von einem Kommentar des Erzählers begleitet, der dem Betrachter, der mit dem heimatlichen Kontext des Autors nicht vertraut ist, das Ausmaß seiner Unübersetzbarkeit (Fremdheit) vor Augen führen, gleichzeitig aber auch diese unbekannte, „exotische“ („barbarische“)48 Welt erklären soll. Das Ministerium der Schmerzen als ein Roman, bei dem der Horizont des virtuellen Lesers in erster Linie durch den Zielkontext bestimmt wird (was nicht bedeutet, dass das Buch beim kroatischen Publikum kein Interesse geweckt hätte), wurde bereits von vielen Forschern erwähnt, es lohnt sich jedoch, die damit verbundene Übersetzungsabsicht hervorzuheben, die in der Semantik und der Struktur des Werkes angelegt ist. Diese Übersetzungsabsicht (intentio translatoris; oder, in der Terminologie von Walkowitz, born translated oder besser written for translation) soll sich beispielsweise in der Verwendung von Definitionen und innertextlichen Amplifikationen (um den fremden Kontext näher zu bringen und die Übersetzung zu erleichtern), in der Verwendung von typografischen Schriftzeichen und Satzzeichen in einer Weise, die die Übersetzung er47 Vgl. ebd.: K. Majdzik: Intentio translatoris. Strategia translatoryczna powies´ci „Ministerstwo Bólu“ Dubravki Ugresˇic´. In: (Nie)dosłownos´´c w przekładzie, hrsg. v. J. Dybiec-Gajer. Kraków 2015, S. 57–68. 48 Zahlreiche Arbeiten stellen den Roman in den Kontext der postkolonialen Theorie und der darauf aufbauenden Konzepte wie „Orientalismus“ und, in der hier interessierenden Perspektive, auch die Begriffe „Balkanismus“, „Jugoslawentum“. Vgl. M. Levanat-Pericˇic´: Kako ˇ etiri pogleda na reprodukciju orise gnijezdio Balkan na „jugoslavenskoj Atlantidi“ (C jentalizma u postjugoslavenskoj knjizˇevnosti) [online]. In: „Sic: cˇasopis za knjizˇevnost, kulturu i knjizˇevno prevod¯enje“ 6 (2) (2016). https://hrcak.srce.hr/file/253711 [9. 03. 2021]; A. Pletikosa: Balkanizam kao kolonijalizam: „Ministarstvo boli“ Dubravke Ugresˇic´ kao „Deca ponoc´i“ Salmana Rushdija. In: „Jat: cˇasopis studenata kroatistike“ 1 (1) (2013), S. 160–171.
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leichtert (oder sogar die Verwendung einer bestimmten Übersetzungstechnik nahelegt)49, in der Verwendung einer Syntax, die das Verständnis des Textes erleichtert (z. B. die Beachtung von datum-novum),50 manifestieren. Die Kursivoder Anführungszeichen sind eine häufige Technik, die bei einer mehrsprachigen Aussage und auch in anderen Emigrationstexten, u. a. in postjugoslawischen Texten, zur Anwendung kommt. Im Erzählfluss gewinnen die auf diese Weise markierten Wörter, Sätze und Eigennamen besondere Bedeutung (sie werden zu einem emotionalen Zeichen) und ihre Semantik wird erweitert (sie erhalten oft einen symbolischen oder ikonischen Charakter). Sie werden dann zu Derrida’schen babylonischen Wörtern,51 die nicht ohne eine erhebliche Beeinträchtigung der Qualität übersetzt werden können und daher einfach unverändert in den Text der Übersetzung übertragen werden sollten (sie sollten entlehnt werden). Diese Wörter erfordern und verbieten gleichzeitig die Übersetzung, d. h. ermöglichen und blockieren sie. Sie werden zu Zeichen der Kultur, die durch das Subjekt einer Äußerung mit Symbolen verinnerlicht werden; sie werden zu persönlichen Erinnerungen, loci memoriae, vielleicht sogar zu Glücksbringern oder Eigennamen, deren Semantik eng mit dem Klang des Wortes oder seiner Schreibweise verwoben ist usw. Es ist nicht schwer zu erraten, dass die besonders semantisierten Wörter diejenigen sind, die uns in Werken begegnen, die sich durch Authentizität auszeichnen. Ich denke hier an autobiografische Texte oder solche, die sich auf diese Konvention beziehen (d. h. autobiografisierende Texte nach Jerzy Smulski52; sylvisch bzw. von sylleptischer Subjektivität nach Ryszard Nycz53), Essays, Prosa mit Ich-Erzählung, Erinnerungsprosa oder Zeitzeugenprosa, formale Mimesis – in der Konvention von Tagebüchern, Memoiren, Enzyklopädien. Daher finden wir sie auch in verschiedenen Texten von Autoren, die in einer Zweitsprache (Nicht-Muttersprache) schreiben, und in genreübergreifenden Texten, zum Beispiel bei Vesna Goldsworthy (Chernobyl strawberries, 2005), Alida Bremer (Olivas Garten, 2013) und sogar bei Predrag Matvejevic´ 49 Dabei geht es vor allem um die Verwendung von Kursivschrift und Anführungszeichen, die die Verwendung eines Eigennamens „ankündigen“ oder „nahelegen“, dass das hervorgehobene Element direkt in die Materie des Zieltextes übertragen wird (Entlehnung). Die Entlehnung wiederum weist nicht nur auf die Mehrsprachigkeit des Textes hin (die den Text an sich schon im hermeneutischen Raum der Übersetzung verortet), sondern verweist auch auf die Übersetzbarkeit und das Gegenteil – die Nicht-Übersetzbarkeit als wesentliches Merkmal eines kulturellen Textes. Wenn potenzielle Übersetzer eines Werks diese subtilen Hinweise beachten (intentio translatoris), kann dies bei der Übersetzung zur Anwendung einer bestimmten Übersetzungsstrategie (oder zumindest Technik) führen. 50 Majdzik, Przekład, (Anm. 40). 51 J. Derrida: Des Tours de Babel. In: Ders.: Difference and Translation, hrsg. v. J. Graham. New York 1985, S. 165–207. 52 J. Smulski: Autobiografizm jako postawa i jako strategia artystyczna. Na materiale współczesnej prozy polskiej. In: „Pamie˛tnik Literacki“ 4 (1988), S. 83–101. 53 Nycz, Sylwy współczesne, (Anm. 37).
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(Druga Venecija, 2002).54 Einen Anstoß zum Nachdenken über die Übersetzung und die erwähnte Sprache gab den Autoren auto/bio/geo/graphischer Literatur (ich verwende hier den von Elz˙bieta Rybicka55 eingeführten Neologismus) die Situation der Emigration und die damit verbundene innere Motivation und das Bedürfnis nach Ausdruck. Im Fall von Zˇarko Radakovic´ – einem in Novi Sad geborenen und in Deutschland lebenden Schriftsteller und Übersetzer – erwies sich die Erfahrung der Emigration, aber auch seiner eigenen Übersetzungsarbeit, als besonders inspirierend. Sie hat seine Poetik geprägt, die sich aus der Geste der Wiederholung und der Überwindung eines künstlerischen Vorbilds ableitet, das für den Autor der ins Serbische übersetzte Peter Handke und der kroatische abstrakte Maler Julije Knifer wurde.56 Für Radakovic´ fungieren diese Künstler – um auf psychoanalytische Begriffe zurückzugreifen – als Vaterfiguren (zwei Väter), und damit als grundlegender Bezugspunkt. Der Schriftsteller beschreibt seine Haltung gegenüber dem Werk von Handke, das er übersetzt hat, mit der Kategorie der „produktiven Rezeption“ (produktivna recepcija), die seine Lesart von Blooms Konzept des misreading ist57: produktivna recepcija Handkeovog dela podrazumevala je „izlazˇenje“ iz jednog, Handkeovog pisanja, i „ulazˇenje“ u drugo (Albaharijevo, Radakovic´evo). Pa i radikalnije od toga: ideja je bila „ispisati sebe – i – Handkea“ (Radakovic´ […]). Subjekat (cˇitalac) i objekat recepcije (delo, pisac) amalgamski se objedinjuju, narocˇito u korist prvog, primaoca.58
54 Der Interpretationskontext für Matvejevic´s Texte ist in erster Linie der Mittelmeerraum (obwohl der Autor sich selbst als Jugoslawe bezeichnete und notabene in der multiethnischen Stadt Mostar geboren wurde): „Der Horizont der Existenz ist die Identität, die sich aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur ergibt, die für Matvejevic´ die mediterrane Zivilisation ist.“ (Kubik D.: Predrag Matvejevic´: Jugosłowianin na emigracji, czyli mie˛dzy azylem i egzylem. In: „Pamie˛tnik Słowian´ski“ 2 (2011), S. 127–145, hier S. 136). Aus den Sprachen dieser Region hat der Autor seine „babylonischen Wörter“ entnommen. Das Bewusstsein für die Übersetzung ist in seinem Werk jedoch immer noch präsent. Der Autor wägt die Wörter ab, hebt ihre Schreibweise hervor, registriert die Bedeutungsnuancen. Darüber hinaus kommt es vor, dass er die Ausdrucksweisen derselben Gedanken in verschiedenen Sprachen vergleicht, die zu einem gemeinsamen semantischen, realen und imaginären Raum gehören. Vgl. K. Majdzik: Dyskurs przestrzeni – przestrzen´ dyskursu. Obraz miasta w „Innej Wenecji“ Predraga Matvejevicia. In: „Italica Vratislaviensa“ 7 (2016), S. 105–121. 55 E. Rybicka: Geopoetyka. Przestrzen´ i miejsce we współczesnych teoriach i praktykach literackich. Kraków 2014, S. 217, u. a. 56 Jovanovic´ N.: Cˇovek, jabuka, knjiga. In: Zˇivot na drugom jeziku, (Anm. 31), S. 169–184. 57 H. Bloom: A Map of Misreading. Oxford / New York 2003. Vgl. D. "ord¯evic´: Zˇarko Radakovic´: traume, rod¯enja, samoc´e i emigracije. In: „Philological Studies“ 18, 1 (2020), S. 121–155. 58 „Die produktive Rezeption von Handkes Werk bedeutete, eine Art von Handkes Werk zu ‚verlassen‘ und eine andere zu ‚betreten‘ (Albahari, Radakovic´). Sogar etwas noch Radikaleres: Es ging darum, ‚sich selbst – und – Handke zu schreiben‘ (Radakovic´ […]). Das Subjekt (der Leser) und das Objekt der Rezeption (das Werk, der Autor) sind miteinander ver-
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Die serbischen Ausgaben von Handke werden von Paratexten des Autors der Übersetzung begleitet, die jedoch am meisten über den Übersetzer selbst, seine Rezeption und seine persönliche Einstellung zu Handkes Werk aussagen. In den Kommentaren des Übersetzers (Nachwort) emanzipiert sich Radakovic´ allmählich, verwischt die Grenzen zwischen der Figur des Vaters und des ödipalen Sohnes und behandelt Handkes Werk mit einer dadaistischen Unbekümmertheit wie ein ready-made – ein fertiges Objekt, das ihm in die Hände fällt.59 Radakovic´s Prosawerk ist eine Geste der Befreiung vom Autor (weil es der Versuch ist, nicht zu übersetzen, sondern ein eigenes Werk zu schaffen) und der gleichzeitigen Verliebtheit (in seine Vorgänger – Handke und Knifer; vgl. nach "ord¯evic´). Im Radakovic´s Buch Strah od emigracije60, das 2010 in Serbien mit einem Vorwort von David Albahari veröffentlicht wurde, experimentiert Radakovic´ mit der Erzählform, indem er sich auf die Erfahrung von Emigration und Übersetzung bezieht. In dem Buch überträgt der Autor auf spezifische Weise die Regeln der Übersetzung auf das Konzept und die Struktur und das Thema des Werks.61 Die Exilliteratur neigt daher dazu, Identitätsübersetzungsprobleme auf unterschiedliche Weise zu betrachten. Viele Beispiele (und Radakovic´s schriftstellerische Sprache ist eines davon) zeigen, dass sie nicht nur auf den sprachlichpolitisch-sozialen Kontext, sondern auch auf die ästhetische (künstlerische) Auseinandersetzung bezogen werden können. Diese Tatsache bestätigt die Komplexität und Mehrdeutigkeit des Konzepts – und sei es nur des „Emigrations-Teils“ – der postjugoslawischen Literatur. Die so klassifizierten Autoren verwenden unterschiedliche Poetiken, bewegen sich in unterschiedlichen semantischen Universen und literarischen Bereichen. Gleichzeitig weisen sie eine gewisse Verwandtschaft auf und ihre Wege überschneiden sich manchmal und führen zu analogen sprachlichen, thematischen (z. B. Identität, Soziales), for-
schmolzen, offensichtlich zum Vorteil des Ersteren, des Rezipienten.“ [Übers. von J.A.]. "ord¯evic´, Zˇarko Radakovic´, (Anm. 57), S. 121–155, hier S. 126. 59 Vgl. nach: "ord¯evic´, Zˇarko Radakovic´, (Anm. 57). 60 Die Chronologie der Befreiung vom Einfluss ist im Fall dieses Buches verzerrt. Der Autor gibt an, dass das Buch in den ersten Jahren seiner Emigration nach Deutschland, Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre, geschrieben wurde. Vgl. Zˇarko Radakovic´: Dozˇivljaj je kljucˇ umetnicˇkog stvaranja [online]. https://www.laguna.rs/laguna-bukmarker-zarko-radakovicdozivljaj-je-kljuc-umetnickog-stvaranja-unos-223.html [10. 03. 2021]. 61 So steht es im Klappentext zum Buch: „U pricˇi Bolero, upored¯ivanjem dvaju tekstova, tud¯eg i svog, Radakovic´ nam nudi upored¯enje odnosa ljudi i kuc´nih ljubimaca u Frankfurtu sa musˇko-zˇenskim odnosima u Beogradu. To se samo uklapa u ostale autorove inovativne prozne postupke: preplitanje i uklapanje recˇi i slike, tehniku kolazˇa, fragmentaciju teksta, svod¯enje pricˇa na isecˇak iz recˇnika ili cˇlanak iz novina, na tud¯u pricˇu koju prati autorova pricˇa-dvojnik ili pricˇa-prevod…“ Siehe: https://www.laguna.rs/n1367_knjiga_strah_od_emi gracije_laguna.html [7. 03. 2021].
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malen (z. B. im Sinne des autobiographischen Diskurses) und vor allem zu sich auf verschiedenen Textebenen manifestierenden übersetzerischen Interessen. Übersetzt von Jakob Altmann
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Leszek Małczak (Schlesische Universität in Katowice)
Verwestlichung – Deslawisierung – Atomisierung. Über polnische Übersetzungen süd- und westslawischer Literaturen nach 1989
1 Die Geschichte der gegenseitigen Übersetzungen süd- und westslawischer Literaturen, d. h. bosnisch-herzegowinischer, bulgarischer, kroatischer, montenegrinischer, tschechischer, mazedonischer, polnischer, serbischer, slowakischer und slowenischer Literatur, ist relativ kurz, da Süd- und Westslawen erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts während der Romantik begannen, gegenseitig Literatur zu übersetzen. Bis auf wenige Ausnahmen, d. h. die tschechisch-polnischen Kulturbeziehungen, fanden die literarischen Kontakte über andere, größere Sprachen statt. Das Entdecken, Kennenlernen der jeweils anderen Kultur, die direkte Kommunikation zwischen Slawen, ohne Vermittlung durch das Medium einer anderen, größeren Sprache hatte eine wegweisende Bedeutung. Erstens spielten Übersetzungen im 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle im Prozess der Herausbildung nationaler Kulturen und Literaturen, indem sie nicht nur die slawischen Kulturen um die in ihnen fehlenden Traditionen bereicherten (Anhäufung von symbolischem Kapital1), sondern auch zur Bildung stärkerer 1 Westliche Forscher konzentrieren sich in erster Linie auf die Beziehung zwischen zentralen und peripheren Sprachen (Systeme, in denen eine deutliche Disproportion zwischen den Sprachen besteht). Die französische Forscherin Pascale Casanova schreibt über zwei Funktionen der Übersetzung: Funktion der Akkumulation kulturellen und literarischen Kapitals (Translation as accumulation of capital) – dies trifft insbesondere auf Übersetzungen von Weltklassikern in kleinere Sprachen zu – und die Weihefunktion der Übersetzung (Translation as consecration) – im Fall von Übersetzungen kleiner Literaturen in die Sprachen großer Literaturen und Kulturen, d. h. Übersetzungen aus dominierten Sprachen in dominierende Sprachen (dominated languages to dominating languages). Siehe: P. Casanova: Consecration and Accumulation of Literary Capital: Translation as Unequal Exchange. In: Critical Readings in Translation Studies, hrsg. v. M. Baker. New York 2009, S. 285–303. Dabei spielten und spielen interslawische Übersetzungen eine wichtige Rolle sowohl in den Prozessen der Schaffung nationaler und kultureller Identität (ein solches Phänomen kann heute in Polen in den Prozessen der Emanzipation der schlesischen – auch schlonsakisch genannt – oder kaschubischen Kultur und Sprache beobachtet werden) als auch im globalen literarischen System, da interslawische Übersetzungen den symbolischen Wert kleinerer Sprachen erhöhen, literarische
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interslawischer Verbindungen beitrugen. Die Schaffung des slawischen Universums wiederum erleichterte den Aufbau neuer (nationaler und supranationaler) Identitätsmodelle und -konstrukte, die sich auf ein stärkeres und breiteres Fundament, eine größere Gemeinschaft, stützen.2 Zweitens: Im 19. Jahrhundert, als keine der süd- oder auch westslawischen Nationen unabhängig war und ihre Position mit der von kolonisierten Ländern und Kulturen vergleichbar war, begannen Übersetzungen eine Verteidigungsfunktion zu erfüllen, indem sie die Kolonisierungsprozesse abschwächten und zu einer Tätigkeit wurden, die sowohl für subversive als auch für patriotische Zwecke genutzt wurde. Dies ist immer dann einfacher, wenn die betreffende Kultur über eine ausreichend reiche Tradition verfügt, die in einem symbolischen Sinne nicht der politisch dominierenden Kultur untergeordnet ist (natürlich haben sich die süd- und westslawischen Kulturen und Literaturen unterschiedlich entwickelt, und die Unterschiede zwischen ihnen sind im Hinblick auf das kulturelle Erbe sehr groß). Auf diesen Aspekt weist Ewa Thompson in ihrem Buch Imperial Knowledge: Russian Literature and Colonialism hin, in dem sie über die Besonderheit des russischen Kolonialismus schreibt. Der Forscherin zufolge beruhte die russische Herrschaft eher auf reiner Macht als auf einer Kombination aus Macht und Wissen, und die Nationen an den westlichen und südwestlichen Rändern des russischen Reiches
Kreisläufe demokratisieren und die Ungleichheiten im globalen System des literarischen Austauschs abmildern. 2 Diese Darstellung der Rolle von Übersetzungen ist in den postkolonialen Studien zu finden, die einen wichtigen Platz in den westlichen Übersetzungsstudien einnehmen. Lawrence Venuti stellt fest: „At decisive historical moments, however, especially during the collapse of an imperial or colonial regime, subordinate cultures have taken another tack. They have valued translation as a practice, not of capital accumulation, but of identity formation, active in the construction of authors and nations, readers and citizens. As a result, translation projects have been promoted by leading intellectuals and academic institutions.“ L. Venuti: The Scandals of Translation. Towards an Ethics of Difference. London / New York 1998, S. 187. Die eben beschriebene Funktion von Übersetzungen kann nicht nur auf untergeordnete Kulturen, kleinere Kulturen, kolonisierte Kulturen oder Momente der Krise, des Durchbruchs oder des Zerfalls von Imperien beschränkt werden. Natürlich kann der Anteil und die Rolle von Übersetzungen je nach Kultur, Zeit und Ort größer oder kleiner sein (ich möchte nur daran erinnern, dass die Situationen, in denen Übersetzungen einen zentralen oder peripheren Platz im literarischen Polysystem einnehmen, von Itamar Even Zohar in seinem berühmten Text The Position of Translated Literature within the Literary Polysystem beschrieben wurden). Dennoch ist die Übersetzung zweifellos ein integraler Bestandteil jeder nationalen Kultur zu jeder Zeit. Douglas Robinson in seinem Buch Translation and Empire. Postcolonial Theories Explained lenkt die Aufmerksamkeit auf die enorme Rolle, die die Übersetzung in der deutschen Kultur während der Romantik spielte (insbesondere im Kontext der deutsch-französischen Rivalität), was einen bedeutenden Einfluss auf analoge Prozesse und das Verständnis der Rolle der Übersetzung in den slawischen Literaturen gehabt zu haben scheint, umso mehr, als die Slawen damals nicht selten die deutsche Sprache nutzten, um sich selbst zu übersetzen.
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hielten sich für zivilisatorisch fortschrittlicher als Russland.3 Die slawischdeutschen Beziehungen unterscheiden sich in dieser Frage deutlich von den russisch-slawischen. Die deutsche Kultur hatte einen sehr starken Einfluss auf die Entwicklung der kroatischen, tschechischen oder slowenischen Kultur. Man kann den Süd- oder Westslawen keinesfalls ein Überlegenheitsgefühl gegenüber der deutschen Kultur nachsagen, wie es manchmal in Bezug auf die russische Kultur und Literatur und insbesondere die kleineren slawischen Kulturen und Literaturen der Fall ist. In manchen slawischen Kreisen herrschte sogar die Überzeugung, dass die deutsche Kultur und Zivilisation der slawischen überlegen sei, und nicht selten wurde in Literatur und Kultur die deutsche Ordnung als positives Vorbild und Bezugspukt für die Slawen angeführt. So haben wir es im 19. Jahrhundert vor allem in der kroatischen, tschechischen und polnischen Literatur in erster Linie mit der politischen Vorherrschaft der Österreicher, Deutschen bzw. Russen zu tun (im kroatischen Fall sind auch die ungarischen Bestrebungen zu berücksichtigen, die kroatischen Gebiete, die zum ungarischen Teil Österreich-Ungarns gehörten4, zu unterwerfen). Wie sie sich gegen eine solche Herrschaft wehren konnten? Selbstverständlich nur mit symbolischem Kapital. Die slawischen (kroatischen, tschechischen und polnischen) Übersetzungen und die Rezeption des Trauerspiels Zriny des deutschen Dichters Theodor Körner können als anschauliches Beispiel für die defensive, patriotische oder subversive Funktion der literarischen Übersetzung dienen. Dieses Werk, das die heldenhafte Verteidigung der Festung Szigetvár unter dem Kommando des kroatisch-ungarischen Adligen Nikola Sˇubic´ Zrinski schildert, ist im Original ein Werk, das die grenzenlose Loyalität des Soldaten – und damit auch des Autors selbst – gegenüber Herrscher und Staat demonstriert. In einer der polnischen Übersetzungen, die unter der russischen Herrschaft in der Teilungszeit entstanden ist (in der in Rzeszów, also im damaligen Österreich-Ungarn, erschienenen Übersetzung sind keine derartigen Änderungen zu finden), wurde das Werk des deutschen Dichters jedoch durch Änderungen in der Übersetzung von Ludwik Jenike zu einem Werk, das bei den Slawen patriotische Gefühle weckte und zum Kampf in einer aussichtslosen Situation, zur Vaterlandsliebe und zur 3 Vgl. E.M. Thompson: Trubadurzy imperium. Literatura rosyjska i kolonializm, übers. v. A. Sierszulska. Kraków 2000, S. 28–29. 4 Natürlich kann man zwischen diesen Kulturen, deren Potenziale eindeutig nicht gleichwertig sind, kein Gleichheitszeichen setzen. In militärischer Sprache ausgedrückt, geht es um das größere Verteidigungspotential der kulturellen Sphäre als das der politischen. Im Falle Kroatiens gab es zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Literatur und Kultur im Grunde keine Autoren und Werke, die es mit den großen europäischen Kulturen und Literaturen dieser Zeit hätten aufnehmen können. Die Kroaten beziehen sich jedoch auf die Literatur der Renaissance und des Barocks, als herausragende Werke geschaffen wurden, die sich künstlerisch nicht von denen der größten europäischen Literaturen dieser Zeit unterscheiden. Dabei geht es auch um die innere Überzeugung von der eigenen kulturellen Besonderheit, der Autonomie.
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Verteidigung des Vaterlandes aufrief, während die Tatsache, dass damit Österreich gemeint war, geschickt in den Hintergrund gedrängt wurde. Indem Jenike an vielen Stellen des Textes die Bezüge zur Heimat, zum Land und zum Kaiser, d. h. zur Habsburger Monarchie (die Handlung des Werkes spielt im Jahr 1566), entfernt, lässt er die Protagonisten nicht mehr für die Interessen anderer, des österreichischen Reiches, des Habsburger Kaisers Maximilian II., d. h. eines der Okkupanten, kämpfen, sondern für die Freiheit und die Verteidigung der Brüder.5 Besonders subversiv ist die Art und Weise, wie dieses Werk 1841 in Zagreb vom Wandertheater aus Novi Sad (Domorodno teatralno drusˇtvo) inszeniert wurde, das auf Einladung des Illyrischen Lesesaals in die kroatische Hauptstadt kam. Die Schauspieler, die die Kroaten, die Verteidiger der Festung, spielten, sprachen Kroatisch, während die Schauspieler, die die Türken spielten, Deutsch sprachen.6
2 In der ersten Periode der Übersetzungen – vom frühen 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg – hing ihre Zahl von der Initiative einzelner Personen und Enthusiasten ab und gründete auf den privaten Kontakten einzelner Schriftsteller und Kulturakteure. Nach dem Ersten Weltkrieg begann aus zwei Gründen ein völlig neues Kapitel in der Geschichte der interslawischen Übersetzungen. Erstens erlangten die süd- und westslawischen Völker ihre Unabhängigkeit zurück (die meisten von ihnen, d. h. die Tschechen und Slowaken sowie Bosnier und Bosniaken, Kroaten, Montenegriner, Mazedonier, Slowenen und Serben, wurden Teil größerer Organismen; zu unabhängigen Ländern wurden sie erst nach dem Fall des Kommunismus), und zweitens wurde der Bereich der kulturellen Zusammenarbeit mit dem Ausland für staatliche Institutionen und Organe interessant. In der Zwischenkriegszeit fand die internationale kulturelle Zusammenarbeit, die damals noch als intellektuelle Zusammenarbeit bezeichnet wurde, unter der Schirmherrschaft des Völkerbundes statt, und der wichtigste Teil davon war die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wissenschaft. Die erste Organisation, die von der zweiten Versammlung des Völkerbundes am 21. September 1921 gegründet wurde, war die Comission Internationale de Coopération Intelellectuelle – CICI. 1924 wurde während der fünften Versammlung des Völkerbundes in 5 Vgl. L. Małczak: Przekład jako akt subwersji, czyli o pewnym polskim tłumaczeniu tragedii historycznej Theodora Körnera pt. „Zriny“. In: „Przekłady Literatur Słowian´skich“ 9.1 (2018), S. 299–319. 6 Vgl. J. Bratulic´: Sigetska epopeja u hrvatskoj knjizˇevnosti. In: Nikola Sˇubic´ Zrinski u hrvatskom stihu, hrsg. v. J. Bratulic´, V. Loncˇarevic´, B. Petracˇ. Zagreb 2016, S. I–XXVIII, hier S. XV.
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Paris das Institut International de Coopération Intelellectuelle – IICI – als Exekutivorgan des CICI gegründet, und am 24. September 1931 wurde, ebenfalls während der Versammlung des Völkerbundes, die Organisation de Coopération Intelellectuelle Internationale – OCII – gegründet. Die Polnische Kommission für Internationale Intellektuelle Zusammenarbeit (PKMWI) wurde am 12. Mai 1924 von der PAU (Polnische Akademie der Gelehrsamkeit) und dem Józef-Mianowski-Fonds als eine Art Exekutivorgan für die auf Initiative des Völkerbundes eingerichteten internationalen Institutionen für intellektuelle Zusammenarbeit gegründet (die in den einzelnen Ländern eingerichteten Kommissionen wurden als nationale Kommissionen bezeichnet). Als der Völkerbund in den 1930er Jahren an Bedeutung verlor, gewannen bilaterale Abkommen an Bedeutung. Zu diesem Zeitpunkt werden die ersten zwischenstaatlichen Abkommen über kulturelle Zusammenarbeit unterzeichnet. Polen schloss nur sieben solcher Abkommen ab: zunächst mit Frankreich (1923), Belgien (1925) und Jugoslawien (1931), dann mit Ungarn (1934), Bulgarien (1935), Schweden (1935), Rumänien (1936) und Finnland (1938).7 Das politische Klima war jedoch aufgrund der Probleme in den politischen Beziehungen zwischen Jugoslawien und Ungarn sowie zwischen Polen und der Tschechoslowakei für die Entwicklung der interslawischen Kulturkontakte nicht förderlich. Polen legte großen Wert auf gute Beziehungen zu Budapest, die für das Land wichtiger waren als die Beziehungen zu Belgrad. Im politischen Kalkül Polens war Jugoslawien ein potenzieller Verbündeter des noch nicht kristallisierten, aber nun eine Renaissance erlebenden Konzepts des „Intermariums“ oder des „Dritten Europas“, sodass man sich in der Außenpolitik um freundschaftliche Beziehungen sowohl zu Jugoslawien als auch zu Ungarn bemühte – also zu den wichtigsten Bindegliedern dieser Idee. Dennoch schien es in der Situation der jugoslawisch-ungarischen Krise „im polnischen Konzept der Südkarpaten-Politik vorteilhafter, Budapest eine gewisse Unterstützung zukommen zu lassen, selbst um den Preis eines Rückgangs der polnischen Aktivitäten in Belgrad, als sich eindeutig in das anti-ungarische Lager einzuordnen.“8 In der Zwischenkriegszeit gelang es nicht, ein System der internationalen kulturellen Zusammenarbeit und dafür zuständige Institutionen aufzubauen. Von allen slawischen Ländern erschienen die meisten Übersetzungen aus der tschechischen Literatur, trotz der ungünstigsten politischen Situation, die während der gesamten Geschichte der Übersetzungen dieser Literatur ins Polnische 7 Vgl. A. Brzezin´ski: Dyplomacja polska wobec form i organizacji mie˛dzynarodowej współpracy intelektualnej Ligi Narodów w okresie mie˛dzywojennym (1922–1939). In: Polska dyplomacja kulturalna po roku 1918. Osia˛gnie˛cia, potrzeby, perspektywy, hrsg. v. A. Koseski, A. Stawarz. Warszawa / Pułtusk 2006, S. 7–18. 8 A. Garlicka: Polska–Jugosławia 1934–1939. Z dziejów stosunków politycznych. Wrocław / Warszawa / Kraków / Gdan´sk 1977, S. 68.
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vorherrschend war (vor allem Grenzstreitigkeiten). Trotzdem ist diese Zahl nicht sehr hoch, vor allem wenn man die Übersetzungen anonymer Jugendliteratur (25) und Kurzgeschichten von Alfons Bohumil Sˇˇtastný (17) abzieht. Es handelt sich um sehr kurze Bücher von jeweils etwa 30 Seiten. Die so berechnete Anzahl der Übersetzungen ergibt 35 Titel. An zweiter Stelle der übersetzten Werke stehen die Literaturen der jugoslawischen Staaten (13), wobei die meisten Übersetzungen aus der kroatischen Literatur stammen (7) (4 Übersetzungen sind aus der serbischen, 1 aus der slowenischen und 1 aus der bosnisch-herzegowinischen Literatur). Aus der slowakischen Literatur wurden 7 und aus der bulgarischen Literatur 2 Bücher veröffentlicht. Die polnisch-jugoslawischen Literaturbeziehungen der Zwischenkriegszeit können als die Zeit von Julije Benesˇic´ bezeichnet werden. Dieser größte kroatische Polonophile war eine Autorität. Als offizieller Delegierter des jugoslawischen Bildungsministeriums verbrachte er acht Jahre in Warschau (während seines Aufenthalts führte er ein Tagebuch, das 1981 in kroatischer Sprache unter dem Titel Iza zastora. Osam godina u Varsˇavi veröffentlicht wurde), arbeitete als Lehrer der serbokroatischen Sprache an der Universität Warschau, aber das Wichtigste war seine Tätigkeit im Bereich der literarischen Kontakte. Benesˇic´ wählte die zu übersetzenden Bücher und die Übersetzer aus, suchte Verleger, die nötigen Mittel zur Finanzierung der Übersetzungen und bemühte sich dann um die Gewährleistung einer kritischen Rezeption. In den Kontakten mit keinem anderen slawischen Land hat eine Person, und zwar ein Ausländer, eine so wichtige Rolle in der Geschichte der literarischen Beziehungen gespielt. Es folgen die slowakische Literatur und die bulgarische Literatur. Allerdings sollte man diesen Zahlen nicht zu viel Bedeutung beimessen, da es sich nur um den Unterschied von einigen wenigen übersetzten Büchern handelt. Generell war die Zwischenkriegszeit keine gute Zeit für die interslawischen Beziehungen. Es scheint, dass neben dem Fehlen eines institutionellen Rahmens für die Zusammenarbeit auch die komplizierte und ungünstige politische Situation, die Wirtschaftskrise sowie die Haltung der polnischen Elite und der polnischen Gesellschaft gegenüber anderen slawischen Völkern eine wichtige Rolle spielten. Dieser Teil der polnischen Mentalität wurde von Julije Benesˇic´ treffend erfasst; er schrieb, dass für die Polen die Tatsache, dass sie Slawen seien und dass jemand eine verwandte Sprache spreche, von untergeordneter Bedeutung sei und dass die Polen dies für einen Zufall hielten und die Nationen, mit denen sie einige Merkmale teilten, ihnen daher in keiner Weise näher stünden.9
9 Vgl. J. Bratulic´: Iza zastora. Osam godina u Varsˇavi. Zagreb 1981, S. 214–215.
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3 Die Zeit des Kommunismus bedeutete nicht nur eine weitreichende Institutionalisierung des Bereichs der kulturellen Zusammenarbeit mit dem Ausland, sondern auch seine vollständige Verstaatlichung und Politisierung. Die kulturelle Zusammenarbeit ist zu einem wichtigen Element der internationalen Beziehungen und der Außenpolitik der einzelnen Länder geworden. In der gesamten Geschichte der internationalen Kulturbeziehungen waren Übersetzungen nicht so stark von der Politik abhängig wie in der Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Fall der Berliner Mauer. Übersetzungen ließen sich jedoch nicht auf ihren ideologischen Nutzen beschränken, auch wenn diese Tätigkeit in Polen während der stalinistischen Periode (Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre) die Form ideologischer Übersetzungen annahm, wie die slawischen Übersetzungen (tschechische, slowakische und vor allem russische und polnische) des realistischen Romans Seljacˇka buna [Bauernaufstand] des kroatischen Schriftstellers August Sˇenoa zeigen. Sie können als Beispiel für eine ideologische Übersetzung dienen, bei der die vorgenommenen Änderungen die eigentliche Botschaft des Werks verfälschen.10 Dies ist jedoch nur eine kurze und zum Glück unbedeutende Episode, da Übersetzungen, wie in der Zeit der Teilungen, im Kommunismus eine subversive Rolle zu spielen beginnen. Man begann, sie zu nutzen, um über sie mit der Öffentlichkeit zu kommunizieren und Inhalte zu vermitteln, die im Originalwerk von der Zensur nicht genehmigt worden wären. Daher erschienen den Behörden die Übersetzer verdächtig. Aus diesem Grund wurden bis zur Zeit der Solidarnos´c´ Initiativen zur Gründung einer eigenen Übersetzerorganisation blockiert (der Verband der polnischen Übersetzer wurde schließlich erst 1981 gegründet), und die Übersetzergemeinschaft machte sich, wie Bartoszewski bezeugt, einen Namen als „Nest der Opposition“11. Die enorme Rolle, die die Politik bei der polnischen Rezeption ausländischer Kultur spielt, wird durch die beispiellose Popularität von Ivo Bresˇans Hamlet-Vorstellung im Dorf Mrdusˇa Donja deutlich, einem Werk, das weithin gelesen und als Kritik an der Macht und am Kommunismus wahrgenommen wurde.12 Die politischen Spaltungen vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Fall des Kommunismus hatten ihre Entsprechungen auf der Landkarte der kulturellen Beziehungen. Die Polarität der Welt, die sich zerstörerisch auf die weltweiten kulturellen Beziehungen auswirkte, erwies sich für die Gemeinschaft der slawischen Länder mit zusätzlichen ideologischen Bindungen als die günstigste Zeit in 10 Vgl. L. Małczak: Od ideolosˇkoga do subverzivnoga prijevoda. Hrvatsko-poljske kulturne veze od 1944. do 1989. Zagreb 2019. 11 W. Bartoszewski, I. Smolka, A. Pomorski: Mój Pen Club. Warszawa 2013, S. 131. 12 Vgl. Małczak, Od ideolosˇkoga do subverzivnoga prijevoda, (Anm. 10).
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der Geschichte, um gegenseitige Beziehungen zu entwickeln. Die Ausnahme war Jugoslawien, das in der Kominform-Resolution von 1948 von Moskau und anderen kommunistischen Ländern wegen seiner angeblichen Abweichungen vom Kommunismus verurteilt wurde. Titos Konflikt mit Stalin und dessen Wunsch, seinen eigenen Weg zu gehen, sein eigenes Modell des Sozialismus nach einem anderen Rezept als dem der Sowjets aufzubauen, sein Wunsch nach Unabhängigkeit, führten dazu, dass dieses Land – trotz der Versuche, es nach der Normalisierung der Beziehungen Mitte der 1950er Jahre wieder in die Gemeinschaft der brüderlichen slawischen Länder, d. h. in die damalige Realität des Ostblocks, einzugliedern – bis zum Ende seiner Existenz nur eine Nebenrolle spielte. Es war ein Land, gegenüber dem man Vorbehalte und politische Distanz aufrechterhielt, wodurch die kulturellen Beziehungen effektiv eingeschränkt wurden. Obwohl die kulturellen Kontakte mit Jugoslawien, das Polen und die anderen kommunistischen Staaten keinesfalls vorrangig behandelte, da es am meisten am Aufbau von Beziehungen zum Westen interessiert war, von den polnischen Behörden eingeschränkt wurden, stellt diese Periode doch einen Höhepunkt in der Geschichte der gegenseitigen Beziehungen dar. Die Zeit des Kommunismus zeichnet sich auch durch sehr gute polnisch-bulgarische Beziehungen aus, die dagegen in jüngster Zeit eindeutig die größte Krise aller polnisch-slawischen Beziehungen durchmachen. Traditionsgemäß zählen die polnisch-tschechischen Beziehungen zu den stärksten in jeder Periode. Die tschechische Literatur nimmt im Allgemeinen einen hohen Stellenwert im globalen Literatursystem ein. Aus den sich in der Datenbank Index Translationum befindlichen Daten, auf die sich Tomasz Warczok beruft, geht sogar hervor, dass in den Jahren 1979–2014 weltweit mehr Literatur aus dem Tschechischen (Platz 13 in der Hierarchie, 17.154 Titel) als aus dem Polnischen (Platz 14, 14.655 Titel) übersetzt wurde.13 Zu Zeiten des Kommunismus entwickelten sich die kulturellen Beziehungen auf der Grundlage bilateraler zwischenstaatlicher Abkommen über kulturelle Zusammenarbeit. Diese Abkommen waren allgemeiner Natur, und die Einzelheiten wurden in ihren Durchführungsprogrammen festgelegt. Diese Programme wurden in zwischenstaatlichen Kommissionen mit Vertretern verschiedener kultureller und wissenschaftlicher Einrichtungen beider Länder ausgehandelt. Sie umfassten Dutzende von Seiten und wurden über mehrere Jahre hinweg abgeschlossen. Dort wurden die Institutionen genannt, die miteinander kooperieren sollten, und die Anzahl der persönlichen Austausche wurden von vorn13 Vgl. T. Warczok: Dominacja i przekład. Struktura tłumaczen´ jako struktura władzy w ´swiatowym i polskim systemie literackim. In: Literatura polska po 1989 roku w ´swietle teorii Pierre’a Bourdieu. Podre˛cznik, hrsg. v. G. Jankowicz, P. Marecki, M. Sowin´ski. Kraków 2015, S. 15–39, hier S. 26. Venuti weist im Kapitel Globalisierung auf die Unvollständigkeit der UNESCO-Daten über Übersetzungen hin und erwähnt 1987 als das letzte Jahr mit umfassenden Daten. Vgl. Venuti, The Scandals of Translation, (Anm. 2), S. 160.
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herein festgelegt (z. B. zwischen Schriftstellerverbänden). Der Staat garantierte einerseits die Mittel und die Koordinierung der Zusammenarbeit, andererseits war er ein begrenzender Faktor, vor allem in politischer Hinsicht. Die Zeit des Kommunismus ist schwer eindeutig zu beurteilen. Trotz offensichtlicher Verschweigungen und der Zensur war es für die interslawischen literarischen Beziehungen die beste Zeit in der gesamten Geschichte der gegenseitigen Kontakte. In der Volksrepublik Polen wurden die Literaturen der jugoslawischen Nationen in der Regel als Ganzes in die Statistik aufgenommen, ohne Unterteilung in Nationalliteraturen, anders als in der Tschechoslowakei, wo eine solche Unterteilung vorgenommen wurde. Betrachtet man das gesamte Jugoslawien, so steht es – nach den Übersetzungen aus der tschechischen Literatur – in diesem Zeitraum an zweiter Stelle. Wenn wir die Nationalliteraturen getrennt auflisten, d. h. bosnisch-herzegowinische (hier ist die Nationalität am schwierigsten zu bestimmen), kroatische, mazedonische, serbische und slowenische, dann stehen – auf alle west- und südslawischen Literaturen bezogen – Übersetzungen aus der bulgarischen Literatur an zweiter Stelle, Übersetzungen aus der slowakischen Literatur an dritter, Übersetzungen aus der serbischen Literatur an vierter und aus der kroatischen Literatur an fünfter Stelle. Weit weniger Übersetzungen gibt es aus der bosnisch-herzegowinischen (ich zähle Ivo Andric´ dazu, einen Schriftsteller, der keiner der Nationalliteraturen exklusiv zugeordnet werden kann), slowenischen und mazedonischen Literatur. Im gesamten Zeitraum wurden 689 Werke aus der tschechischen Literatur übersetzt, 236 aus den Literaturen der jugoslawischen Nationen (bosnisch-herzegowinische 28, kroatische 57, serbische 98, slowenische 26, mazedonische 10), 228 aus der bulgarischen Literatur und 150 aus der slowakischen Literatur.
4 Der Fall der Berliner Mauer und des Kommunismus veränderte die politische Ordnung in der Welt. Die Transformation geschah nicht über Nacht. Und obwohl solche Prozesse in der Regel lange dauern, vollzogen sich die systemischen Veränderungen im kulturellen Bereich sehr schnell. Der Übergang von einem staatlich geführten Literatursystem zur Privatisierung dieses Bereichs erfolgte fast sofort. In Anlehnung an das Konzept von André Lefevere aus dem Text Mother Courage’s Cucumbers. Text, System and Refraction in a Theory of Literature ist es wichtig festzustellen, dass eine der bedeutendsten Veränderungen, die stattgefunden hat, die der Regulierungsinstanzen ist, die die Schirmherrschaft über das System der Literatur ausgeübt hatten. Das homogene Mäzenatentum (typisch für kommunistische Länder mit einer Ideologie, einer Art von Institution und einem Mäzen) wurde durch ein heterogenes Mäzenatentum (mit
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dem ihm innewohnenden ideologischen Pluralismus, verschiedenen Institutionen und verschiedenen Mäzenen) ersetzt. Die Einführung des Prinzips des freien Marktes in den Kulturen von Ländern, die ihr politisches System über Nacht geändert haben, in denen bis gestern alles staatlich war, d. h. in Ländern ohne Privatsektor, ohne privates Kapital, hat dazu geführt, dass anstelle der aufgelösten Institutionen eine Leere entstanden ist, da es keine starken Einheiten gab, die in der Lage waren, den bisherigen Monopolisten und Mäzen, d. h. den Staat, zu ersetzen. Diese plötzliche und radikale Änderung der Regeln im Bereich der literarischen und kulturellen Vereinigungen, die schwindende Rolle des bis dahin einzigen Mäzens und das Fehlen von Institutionen, die ihn (in wirtschaftlicher und symbolischer Hinsicht) ersetzen konnten, führten dazu, dass die Frage, wer und was übersetzt wurde, in erster Linie von finanziellen Erwägungen, privaten Kontakten, dem Engagement der Autoren selbst und dem Zufall bestimmt wurde. Bis zum Fall des Kommunismus ist es unmöglich, von einem einzigen globalen literarischen Feld zu sprechen, in dem die gleichen Funktionsmechanismen gelten. Dies sind die Realitäten einer Welt, die in zwei Pole, zwei Blöcke geteilt ist: den Osten und den Westen. Zwei gegensätzliche politische und wirtschaftliche Systeme sind auch zwei kulturelle Welten. Zwischen ihnen herrschte wie in jedem anderen Bereich des gesellschaftlichen Lebens eine erbitterte Rivalität um die Vorherrschaft und um den Beweis, welches System das bessere ist. Die Mechanismen der Zusammenarbeit waren in den kapitalistischen Ländern anders als in den sozialistischen Ländern. Jugoslawien, das zu einem der führenden Länder der Bewegung der Blockfreien Staaten wurde, entwickelte gerade mit diesen Ländern ein drittes Modell der kulturellen Zusammenarbeit. Mit dem Fall des Kommunismus und dem Sieg des Westens kam es zu einer Verschmelzung der verschiedenen kulturellen Welten. Die bis dahin in den kapitalistischen Ländern geltenden Regeln wurden für alle universell. Der Bereich der übersetzten Literatur in den slawischen Ländern erfuhr einen systemischen und tiefgreifenden Wandel. In der jüngsten Zeit nach der Wende hat die Zahl der übersetzten und veröffentlichten Bücher stetig zugenommen. Es ist jedoch festzustellen, dass die Zahl der Übersetzungen aus slawischen Literaturen im Vergleich zu den Übersetzungen aus nicht-slawischen Literaturen viel langsamer wächst. Es ist schwierig, die heutigen Buchauflagen mit denen in der Volksrepublik Polen zu vergleichen, als die Auflage eines Buches nicht eng mit der Größe des Landes, der Literatur oder der Popularität des Autors verbunden war; Auflagen von 10–20 Tausend Exemplaren, heute eine Seltenheit, waren an der Tagesordnung. Würde man die Buchauflagen vergleichen, wäre der Unterschied zugunsten der Übersetzungen nach 1989 geringer. Zwar ist die Auflagenhöhe der Bücher geringer, aber die Zahl der Titel ist deutlich größer (in den Jahren 1991–1996 wurden
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10.000–15.000 veröffentlicht, 1997–2006 15.000–25.000, 2007–2010 25.000–30.000 und 2011–2019 30.000–36.00014; Übersetzungen machten zwischen 1990 und 1992 ca. ein Dutzend Prozent aus, seit 1993 betragen sie um die 20 Prozent der Gesamttitel).15 Für dieses Phänomen gibt es eine relativ einfache Erklärung: „Die Ausweitung der Titelpalette wird zweifellos durch die Grundsätze der modernen Ökonomie begünstigt, die eine weitreichende Produktdiversifikation und eine Anpassung an die Bedürfnisse und Anforderungen selbst kleiner Verbrauchergruppen voraussetzt.“16 Außerdem sind die enorme Demokratisierung des Buchmarkts, die Entwicklung der Technologien, die Senkung der Produktionskosten und die Verkürzung des Veröffentlichungsprozesses sowie der besseren Zugang zu den Institutionen der Literatur, die Zunahme der Zahl der Verlage und der veröffentlichten Bücher zu berücksichtigen. Viele Bücher werden heute von kleinen Verlagen veröffentlicht. Die Zahl der Übersetzungen in der Volksrepublik Polen lag in jedem Jahrzehnt bei etwa 4.000, verdoppelte sich zwischen 1986 und 1995 (8.833), erreichte zwischen 1996 und 2005 18.317 und zwischen 2006 und 2015 30.522, fast das Zehnfache der Zahl zwischen 1976 und 1985 (3.813). Seit 2016 sind es immer noch mehr als 4.000 pro Jahr, d. h. es werden jetzt jährlich so viele Bücher übersetzt wie während der kommunistischen Zeit in einem ganzen Jahrzehnt.17 Vergleicht man die Sprachen untereinander, so ist die Zahl der Übersetzungen aus dem Englischen um das 20-fache gestiegen, aus dem Französischen, Spanischen, Deutschen und Italienischen um mehr als das Fünffache. Zwar ist die Zahl der Übersetzungen aus dem Russischen geringer als in Zeiten der Volksrepublik Polen, doch nähert sich diese Zahl langsam dem Durchschnitt dieses Zeitraums an (im Kontext des enormen Anstiegs der Zahl der Übersetzungen insgesamt gibt es also in Polen und weltweit weniger Übersetzungen). Insgesamt hat das Russische seine Stellung als zentrale Sprache verloren und zählt nun zur Gruppe der semiperipheren Sprachen. Polnisch und Tschechisch sind ebenfalls den halbperipheren Sprachen zuzuordnen, und die übrigen Sprachen, d. h. Bosnisch, Bulgarisch, Kroatisch, Mazedonisch, Serbisch und Slowakisch, sind heute periphere Sprachen (wenn die ehemalige serbokroatische Sprache als eine einzige Sprache funktionieren würde, käme sie dem Tschechischen in Bezug auf die Anzahl der Übersetzungen sehr nahe und könnte den Status einer halbperipheren Sprache erhalten). In der Zeit des Kommunismus war in den slawischen Ländern außer Mazedonisch und Slowenisch keine der slawischen Sprachen peripher (das Montenegrinische hat sich als letzte heraus14 Vgl. „Ruch Wydawniczy w Liczbach“. T. 69: Ksia˛z˙ki. 2019, hrsg. v. O. Dawidowicz-Chymkowska. Warszawa 2020, S. 5. 15 Vgl. ebd., S. 45. 16 Ebd., S. 4. Im Bereich der Übersetzung von Belletristik ist dieser Prozentsatz höher und hängt von der Art der übersetzten Literatur ab. 17 Vgl. ebd., S. 93f.
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gebildet, von Bosnisch ist erst seit den 1970er Jahren die Rede, so dass sie im öffentlichen Bewusstsein noch nicht als eigenständige Sprachen funktionieren). Bei den Übersetzungen ins Polnische dominiert wie seit jeher die tschechische Literatur (550). Ähnlich hoch wie im vorangegangenen Zeitraum sind die Übersetzungen slowakischer Literatur (115). Die Zahl der Übersetzungen aus der bulgarischen Literatur ist um das Vierfache zurückgegangen (49), während die Zahl der Übersetzungen aus anderen Literaturen steigt: aus der bosnisch-herzegowinischen Literatur (15; die höhere Zahl im vorangegangenen Zeitraum ist auf den Nobelpreis für Ivo Andric´ zurückzuführen), vor allem aber aus der slowenischen (79) und der kroatischen (94) Literatur; auch die mazedonische Literatur ist im Aufwind (22), während die serbische Literatur auf einem ähnlichen Niveau bleibt (84), wenngleich sie gegenüber der kroatischen und der slowenischen Literatur – die im Gegensatz dazu ein deutliches Wachstum verzeichnen – stark abfällt. Man kann also sagen, dass sie proportional verliert, und wenn man z. B. die Neuauflagen der Werke von Danilo Kisˇ, einem der wenigen südslawischen Schriftsteller, die in die Weltliteratur aufgenommen wurden, abzieht, muss man feststellen, dass kein neuer serbischer Autor in Polen Anerkennung oder Ruhm erlangt hat. Serbien ist, wenn es um die kulturellen Beziehungen zum Ausland geht, der größte Verlierer unter den Ländern, die nach dem Zerfall Jugoslawiens entstanden sind. Im Bereich der literarischen Beziehungen hat die dominante Stellung Serbiens in der jugoslawischen Föderation der serbischen Literatur und Kultur zweifellos eine privilegierte Position verschafft, obwohl Jugoslawien Mitte der 1960er Jahre das System der kulturellen Zusammenarbeit mit dem Ausland dezentralisiert und damit de facto die zentrale Kontrolle über diesen Bereich abgeschafft hat. So konnte jede der Republiken ihre eigene auswärtige Kulturpolitik betreiben (vergleicht man die Proportionen zwischen den einzelnen Republiken, so muss man feststellen, dass die kleineren Republiken, d. h. Kroatien und vor allem Slowenien, im Bereich der auswärtigen kulturellen Zusammenarbeit sehr gut abschnitten und in vielen Aspekten besser waren als Serbien). In Polen waren serbische Schriftsteller (Danilo Kisˇ, Borislav Pekic´, Vasko Popa, Miodrag Bulatovic´ und Ivo Andric´) weitaus beliebter als kroatische, bosnisch-herzegowinische, mazedonische oder slowenische Schriftsteller (es sei hinzugefügt, dass Kisˇ und Pekic´ im Exil schrieben und die Haltung der jugoslawischen Kritiker zu dieser Zeit gelinde gesagt ambivalent war). Unter den Ländern des ehemaligen Jugoslawien haben die kroatischen Autoren bei weitem die größte Popularität erlangt, vor allem dank Dubravka Ugresˇic´, Miljenko Jergovic´, Miro Gavran, Vedrana Rudan. Gleichzeitig handelt es sich um neue, in der vorangegangenen Periode unbekannte Autoren. Die Auflistung von Schriftstellern, deren Bücher vor 1989 veröffentlicht wurden, ist dagegen symbolisch und irrelevant. Im Falle Kroatiens ist der externe Kanon kaum repräsentativ und weit vom internen Kanon entfernt, was einen Präze-
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denzfall im Kontext der gesamten Geschichte nicht nur der polnisch-kroatischen Literatur- und Kulturbeziehungen darstellt. Der Rückgang von Übersetzungen aus dem Bulgarischen war so gravierend, dass Celina Juda in einem Artikel aus dem Jahr 2009 die ersten 15 Jahre nach dem Fall des Kommunismus als eine Zeit der unerwarteten Krise, der Konfusion und des Kulturschocks bezeichnete, die es irgendwie zu überstehen galt. Dabei dehnte sie die Krise im Bereich der Übersetzung auf alle süd- und westslawischen Länder aus, räumte dabei allerdings ein, dass die tschechische Literatur und die Literatur des ehemaligen Jugoslawiens am schnellsten aus dieser Krise herauskamen.18 In ihrem fünf Jahre später verfassten Kommentar zur Bibliographie für die Jahre 2007–2013 hebt Dorota Gołek-Sepetliewa die Veränderung und den deutlichen Anstieg der Zahl der Übersetzungen im Vergleich zum vorangegangenen Zeitraum hervor und erklärt das nachlassende Interesse an der bulgarischen Literatur mit der Transformation.19 Magdalena Pytlaks Text Na obrzez˙ach pola literackiego. Komentarz do „Bibliografii przekładów literatury bułgarskiej w Polsce w 2014 roku“ [In den Randbereichen des literarischen Feldes. Kommentar zur „Bibliografie der Übersetzungen bulgarischer Literatur in Polen im Jahr 2014“] beschreibt detailliert die Grundsätze der von der bulgarischen Regierung finanzierten Programme zur Unterstützung der Übersetzung bulgarischer Literatur im Ausland. Aus diesem Text ergibt sich das Bild eines Landes, in dem dieser Bereich immer noch sehr stark vom politischen Faktor abhängt und die Situation so instabil ist, dass die Existenz eines Förderprogramms für die Übersetzung von dem Minister abhängt, der gerade an der Spitze des Kulturministeriums steht.20 In einem kürzlich erschienenen Artikel über die polnische Rezeption der mazedonischen Literatur stellt Lilia Moroz-Grzelak fest, dass: „Die polnischen Übersetzungen der mazedonischen Literatur bestätigen, dass sie von den Lesern, und nicht nur von den Slawisten, die sich mit dieser Literatur befassen, immer mehr anerkannt wird.“21 Wie im Falle der bulgarischen Literatur ist dies ein deutlicher Perspektivenwechsel, da Lech Miodyn´ski einige Jahre zuvor die Zahl der Übersetzungen mazedonischer Literatur in Polen recht kritisch sah. Als Gründe für den Rückgang der Zahl der Übersetzungen nannte er den Übergang 18 Vgl. C. Juda: Rozrachunki po przełomie. Polskie przekłady z literatury bułgarskiej po 1989 r. Diagnozy i prognozy. Współczesnos´c´ i tradycja. In: „Przekłady Literatur Słowian´skich“ 1 (2009), S. 15–28, hier S. 16f. 19 Vgl. D. Gołek-Sepetliewa: Przekłady ksia˛z˙kowe bułgarsko-polskie i polsko-bułgarskie w latach 2007–2013. In: „Przekłady Literatur Słowian´skich“ 5.2 (2014), S. 27f. 20 Vgl. M. Pytlak: Na obrzez˙ach pola literackiego. Komentarz do „Bibliografii przekładów literatury bułgarskiej w Polsce w 2014 roku“. In: „Przekłady Literatur Słowian´skich“ 6.2 (2015), S. 15–26. 21 L. Moroz-Grzelak: Proza macedon´ska XXI wieku. Literatura „małego narodu“ w przekładach na je˛zyk polski. In: „Przekłady Literatur Słowian´skich“ 10.2 (2020), S. 137–152, hier S. 139.
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zur Marktwirtschaft, die Lesekrise und die programmatische Vernachlässigung polnischer Interessen in ganz Osteuropa während der langwierigen Zeit nach der Transformation.22 Es scheint, dass eine so kleine Literatur wie die mazedonische gut daran getan hat, die jugoslawische Föderation zu verlassen, da sie so die Möglichkeit erhielt, unabhängig, unter eigenem Namen und ohne Vermittler zu arbeiten. Noch mehr hat die slowenische Literatur von ihrer Unabhängigkeit profitiert: Die Zahl der Übersetzungen ist von allen slawischen Ländern am stärksten gestiegen, was die große Bedeutung, die die Slowenen der Förderung ihrer Kultur im Ausland beimessen, und ihre sehr bewusste und konsequente auswärtige Kulturpolitik beweist. Monika Gawlak verweist auf dieses Wachstum und macht darauf aufmerksam, dass noch mehr Übersetzungen nötig sind. Sie schreibt auch über einen wichtigen Aspekt der aktuellen Verlagspolitik, nämlich die Tatsache, dass einige dieser Veröffentlichungen lediglich in Verlagen mit geringem Budget und in kleiner Auflage erscheinen.23 In vielen Fällen, und das gilt nicht nur für die slowenische Literatur, ist ihre Rezeption nur symbolisch. Bei der Bewertung der polnischen Rezeption der slowakischen Literatur in den Jahren 2007–2013 hat sich Marta Buczek nicht so sehr auf die Zahlen, sondern auf die tatsächliche Rezeption konzentriert und festgestellt: „Trotz der relativ großen Zahl polnischer Übersetzungen slowakischer Literatur blieb und bleibt ihre Bekanntheit im sekundären Rezeptionshorizont im Bereich des Nichtvorhandenen.“24 Sie ist der Ansicht, dass die Wahl der Übersetzungen fragmentarisch und reduktiv sei und einen Dialog und eine interkulturelle Begegnung unmöglich mache. Die Situation der slowakischen Literatur hat sich jedoch zwischen 2013 und 2015 deutlich verändert, als insgesamt 27 Übersetzungen veröffentlicht wurden. Buczek zufolge ist das Auftauchen der slowakischen Literatur im Bewusstsein der polnischen Öffentlichkeit vor allem neuen Verlagsinitiativen zu verdanken, insbesondere dem neuen Verlag Ksia˛z˙kowe Klimaty25 mit Sitz in Breslau, der das Marktpotenzial eines Nischenprodukts, das für die Verlagsriesen zu klein war, erkannt und es geschickt genutzt hat. Hier zeigt sich auch das Potenzial des „Mitteleuropäismus“ als einer neuen Idee, die ein Bezugspunkt für einige süd- und westslawische Literaturen sein könnte.
22 Vgl. L. Miodyn´ski: Bibliografia przekładów literatury macedon´skiej w Polsce i polskiej w Macedonii (lata 2007–2013) – komentarz literaturoznawczy. In: „Przekłady Literatur Słowian´skich“ 5.2 (2014), S. 113–120, hier S. 114. 23 Vgl. M. Gawlak: Przekłady literatury słowen´skiej w Polsce w latach 2007–2013 – komentarz. In: „Przekłady Literatur Słowian´skich“ 5.2 (2014), S. 209–221. 24 M. Buczek: Literatura słowacka w Polsce w latach 2007–2013. In: „Przekłady Literatur Słowian´skich“ 5.2 (2014), S. 163–176, hier S. 163f. 25 Vgl. M. Buczek: Słowacki klimat Europy S´rodkowej w Polsce. In: „Przekłady Literatur Słowian´skich“ 6.2 (2015), S. 155–166, hier S. 155f.
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Die beliebteste und am häufigsten übersetzte Literatur der süd- und westslawischen Kultur in Polen ist die tschechische Literatur. Diese Rezeption ist jedoch nicht bedeutend genug, um mit der polnischen Rezeption westlicher Literaturen Schritt zu halten. Wie Dorota Z˙ygadło-Czopnik bei der Bewertung der polnisch-tschechischen und tschechisch-polnischen Literaturbeziehungen feststellt: „Die Popularisierung der tschechischen Literatur in Polen und der polnischen Literatur in der Tschechischen Republik war immer nur eine Domäne von Enthusiasten und Liebhabern. Diese Literaturen bleiben eher im Randbereich der Hauptrichtungen des literarischen Interesses in Polen und der benachbarten Tschechischen Republik.“26
5 Unter den polnischen Slawisten herrscht zweifellos eine Art Defätismus, zumal sich die meisten von ihnen an die Jahre des Übersetzungsbooms und der großen Popularität von Slawistikstudiengängen in den 1990er Jahren erinnern, was gänzlich im Gegensatz zur heute vorherrschenden Krise steht. Heute spielen die Slawistik, die slawischen Kulturen und Literaturen eine viel geringere Rolle als vor der Wende. Die Betonung der Slawizität, die im 19. Jahrhundert begann und fast 200 Jahre andauerte, hat nach dem Fall des Kommunismus und der Öffnung zum Westen aufgehört, ein strategisches Thema für die slawischen Länder zu sein. Eine wichtige Rolle beim Rückgang der Bedeutung von interslawischen Übersetzungen spielten auch die völlig neuen Prinzipien von Literatur und Kultur, die Krise der Geisteswissenschaften und der Verlust der dominanten Stellung der Literatur in der symbolischen Sphäre (das 19. und 20. Jahrhundert waren die Jahrhunderte der Literatur; heute ist die Stellung des Schriftstellers und die Rolle der Literatur geringer). In einer globalisierten Welt kann der Zustand der slawischen Gemeinschaft, das Gefühl der Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft mit dem Zustand und dem Gefühl der Zugehörigkeit zu nationalen Gemeinschaften verglichen werden. Heutzutage schaffen politische Ansichten in größerem Maße Gemeinschaft, sie werden zu einem Bindeglied. Innerhalb der einzelnen Nationen entstehen allmählich so starke Gegensätze und unterschiedliche Auffassungen, dass es leichter zu sein scheint, mit einer Gemeinschaft von Menschen verschiedener Nationalitäten, die unterschiedliche Sprachen sprechen, aber ähnliche Auffassungen vertreten, eine gemeinsame Sprache zu finden, als mit einer Gemeinschaft, die derselben nationalen Gemeinschaft angehört, aber unterschiedliche 26 D. Z˙ygadło-Czopnik: „Jestes´my blisko i coraz wie˛cej o sobie wiemy“. Komentarz do bibliografii za lata 2007–2013. In: „Przekłady Literatur Słowian´skich“ 5.2 (2014), S. 89–106, hier S. 91.
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Auffassungen vertritt. Obwohl die Wissenschaftler immer noch im Singular über die Verbreitung von Literatur schreiben, gibt es nicht die eine Verbreitung. Die Menschen beginnen, in ihren eigenen ideologischen und weltanschaulichen Kapseln mit ihren eigenen Kreisläufen, ihren eigenen Autoritäten zu funktionieren. In einem globalen Literatursystem verlieren die Grenzen zwischen den nationalen Literaturen allmählich an Bedeutung.27 Im Kommunismus wurde die Präsenz der westlichen Kulturen rationiert und eingeschränkt. Nach dem Zusammenbruch kam es zu einem natürlichen Aufschwung. Die Zahl der Übersetzungen aus den slawischen Literaturen ging zunächst zurück, kehrte dann auf ihr früheres Niveau zurück und stieg dann wieder an, konnte aber keineswegs mit dem Anstieg der Übersetzungen aus anderen Sprachen, vor allem dem Englischen, Deutschen, Französischen, Italienischen und Spanischen, mithalten. Die Globalisierung der Literatur und die weit verbreitete Mobilität haben dazu geführt, dass die Welt, in der wir leben, zu einem globalen Dorf geworden ist, und die Tatsache, dass jemand Slawe ist, hat für die slawischen Länder keine große Bedeutung mehr. Zwar beruft man sich hier und da noch auf die Idee der Verwandtschaft, den Begriff der Seelenverwandtschaft, beschwört alte Bindungen, aber dies ist eher sentimentaler als pragmatischer Natur. Im Bereich der Übersetzungen süd- und westslawischer Literaturen kann man sagen, dass einerseits ihre Präsenz in der polnischen Kultur im Vergleich zur kommunistischen Zeit, die zweifellos ein goldenes Zeitalter der gegenseitigen Beziehungen darstellte, erheblich zurückgegangen ist; andererseits sind die ideologischen Fesseln, die die Auswahl einschränkten und das kulturelle Schaffen der Slawen einseitig darstellten, verschwunden. Die wichtigsten Merk27 Einige Wissenschaftler haben festgestellt, dass „die Globalisierung entgegen ihrem Versprechen den kulturellen Pluralismus und die kulturelle Vielfalt nicht gefördert hat. Vielmehr war sie durch eine fortschreitende Vereinheitlichung und Standardisierung der Literatur gekennzeichnet. Globale Konzerne geben die Regeln der Weltliteratur vor, literarische Standardprodukte, die eine Form von ‚literarischem Populismus‘ sind – Bücher, die nach den Anforderungen des Marktes geschrieben werden, streng konservativ sind und sich an den ‚kleinsten gemeinsamen Nenner‘ anpassen (solche, die von der Mehrheit verstanden werden, trotz regionaler kultureller Unterschiede).“ Warczok, Dominacja i przekład, (Anm. 13), S. 24. Dorota Kołodziejczyk, die sich unter anderem auf die Literaturen Mittel- und Osteuropas bezieht, stellt fest, dass die Literaturen der so genannten Zweiten Welt „im wörtlichen und nicht im strategischen Sinne im globalen Umlauf peripher bleiben.“ Nach Ansicht der Forscherin ist ein literarisches Werk heute „eher ein Objekt des Verbraucherinteresses, dessen Kauf nicht von der Qualität, sondern von der Effizienz des Marketings, der literarischen Mode, einschließlich der von den Trends der Literaturkritik geschaffenen Mode, und der Marktpolitik der Verlage und der Institutionen zur Förderung der Literatur abhängt.“ D. Kołodziejczyk: S´wiatowa Republika Literatury czy tandetny supermarket? Peryferyjne miejsca i globalne szlaki handlowe we współczesnej literaturze porównawczej. In: Historie, społeczen´stwa, przestrzenie dialogu. Studia postzalez˙nos´ciowe w perspektywie porównawczej, hrsg. v. H. Gosk, D. Kołodziejczyk. Kraków 2014, S. 203–226, hier S. 203, 207.
Verwestlichung – Deslawisierung – Atomisierung
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male der polnischen Rezeption ausländischer Literatur nach 1989 sind das ausgeprägte Interesse der polnischen Kultur und der polnischen Verlage an nicht-slawischen, vor allem westlichen Kulturen, was ich als Verwestlichung bezeichne, die zu einer Deslawisierung der polnischen Kultur (dieses Phänomen betrifft alle süd- und westslawischen Länder) und zum Verschwinden des slawischen Gemeinschaftsgefühls führt. Ein weiteres neues Phänomen ist die Atomisierung des literarischen und kulturellen Lebens und damit auch des Bereichs der übersetzten Literatur. Die slawischen Literaturen nehmen heute im polnischen Kulturleben eine Randstellung ein, und auf dem Verlagsmarkt funktionieren sie wie typische Nischenprodukte. Dies ist ein natürliches und unvermeidliches Phänomen in der gegenwärtigen sozio-politischen und wirtschaftlichen Realität auf dem globalen Markt des Wettbewerbs aller mit allen. Übersetzt von Jakob Altmann
Anhang: Bibliographische Literatur Bibliografia literatury tłumaczonej na je˛zyk polski wydanej w latach 1945–1977. Bd. 2. Warszawa 1978. Bibliografia literatury tłumaczonej na je˛zyk polski wydanej w latach 1977–1980. Bd. 3. Warszawa 1983. Bibliografia literatur zachodnio- i południowosłowian´skich w Polsce okresu mie˛dzywojennego, hrsg. v. M. Basaj. Wrocław 1984. In der Zeitschrift „Przekłady Literatur Słowian´skich“ veröffentlichte Bibliographien: 1.2 (2010), 1.3 (2012), 1.4 (2013), 4.2 (2014), 5.2 (2014), 6.2 (2015), 7.2 (2016), 8.2 (2017), 9.2 (2019), 10.2 (2020). Nawrocki W., Sierny T.: Czeska i słowacka literatura pie˛kna w Polsce w latach 1945–1980. Dzieje recepcji i bibliografia. Katowice 1983. „Polska Bibliografia Literacka“ für die Jahre 1981–1989. „Ruch Wydawniczy w Liczbach“. Bd. 69: Ksia˛z˙ki. 2019, hrsg. v. O. Dawidowicz-Chymkowska. Warszawa 2020.
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Z˙ygadło-Czopnik D.: „Jestes´my blisko i coraz wie˛cej o sobie wiemy“. Komentarz do bibliografii za lata 2007–2013. In: „Przekłady Literatur Słowian´skich“ 5.2 (2014), S. 89– 106. Summary Westernization – Deslavization – Atomization. On Polish Translations of South and West Slavonic Literatures before and after 1989 Translations of Slavic literatures in the period of political change are in a severe crisis. Compared to the communist period, their symbolic and economic capital has shrunk considerably. The globalisation of the book market is marginalising the reception of Slavic literatures in Slavic countries. The number of translations from Slavic literatures first declined, then returned to its former level and then rose again, but could by no means keep up with the increase in translations from other languages, especially English, German, French, Italian and Spanish. The most important features of the Polish reception of foreign literature after 1989 are the pronounced interest of Polish culture and Polish publishers in non-Slavic, mainly Western cultures, which I call Westernisation, leading to a deslavisation of Polish culture and the disappearance of the Slavic sense of community. Another new phenomenon is the atomisation of literary and cultural life and thus also of the field of translated literature. Keywords: Literary translation, Slavic literatures, globalisation, international cultural relations, inter-Slavic cultural relations
IV Im Zwischenraum von Kulturen
Aleksandra Kunce (Schlesische Universität in Katowice)
Europa als ein Haus der Unterschiede. Die Erneuerung der Idee der Regionalität nach 1989
Der Geist Europas – ein Universum von Werten und Eigenheiten der Regionen Die sozialen und politischen Umwälzungen in Europa nach 1989 brachten mehr als nur eine Veränderung des Bildes der administrativen Landkarten, eine Neuformulierung der geopolitischen Allianzen, die Öffnung der Wege für die Mobilität von Menschen, Waren und Werten oder die Beseitigung einer klaren politischen Grenze zwischen Ost und West mit sich – einer Grenze, die, verkörpert durch die Berliner Mauer, zur Wunde wurde, die dem kulturellen Europa der Nachkriegszeit zugefügt wurde. Die „Solidarnos´c´“-Bewegung und die teilweise freien Wahlen in Polen am 4. Juni 1989, die großen Freiheitsprozesse in Mittel- und Osteuropa, der spektakuläre Fall der Berliner Mauer – diese Ereignisse führten zu einer Erneuerung des innerhalb Europas formulierten Denkens, und das war weit mehr als die demokratischen, marktwirtschaftlichen und freiheitlichen Prozesse, welche die Gemeinschaft der Staaten, die ein territoriales, politisches oder soziales Europa anstrebten, einte.1 In diesem Bereich des Wandels gebührt Mitteleuropa ein besonderer Platz, denn, wie Milan Kundera schrieb, die Ungarn, die Tschechen oder die Polen waren nicht nur in Opposition zum politischen System oder zur sowjetischen Herrschaft, sondern sie erhoben sich zur Verteidigung Europas. Mitteleuropa wurde 1945 „entführt“ und politisch dem Osten zugeordnet, obwohl es historisch gesehen Teil der westlichen Kultur blieb.2 Das Versagen des Westens, diesen Verlust zu erkennen, ist eine Tragödie, und der Anspruch auf eine europäische Identität ist ein wichtiger Hinweis darauf. 1 Zum Thema des langen Weges zur institutionellen Integration in politischer, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht siehe: Migration and European Integration: The Dynamics of Inclusion and Exclusion, hrsg. v. R. Miles, D. Thränhardt. London 1995. 2 M. Kundera: The Tragedy of Central Europe, übers. v. E. White. In: „New York Review Books“, 26. 04. 1984, S. 33–38.
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Wenn wir nun anthropologischen denken, können wir die spirituellen Dimensionen der Veränderungen herausarbeiten, die das Denken über das Haus, das „Haus Europa“, erneuert haben. Die erste Dimension ist Europa als ein Haus, das durch Werte geeint wird, die auf einen Sockel gestellt werden – Werte, die Europa vom jungen Amerika oder von dem, was radikal anders ist, wie Asien oder Afrika, unterscheiden und die sich in einer Geschichte über den Menschen und die Gemeinschaft, über Geschichte und Verwurzelung, über Freiheit und Toleranz niederschlagen.3 Für diese Werte sind alle gesellschaftlichen Lösungen – wie grenzüberschreitende Verträge, EU-Recht, gemeinsame Bildungs- oder Wirtschaftsstandards – nur oberflächliche Manifestationen des europäischen Geistes. „Der Geist ist die Freiheit, sein Wesen ist diese“4, wie es Georg Wilhelm Friedrich Hegel ausdrückte, und ohne den Dreiklang von Vernunft, Freiheit und Geist ist es unmöglich, die Geschichte zu verstehen, aber auch unmöglich, Europa zu verstehen und über seine Identität zu erzählen, über das Bindemittel des Hauses. Hegel zufolge begann der wesentliche Fortschritt der Geschichte im Osten, fand seinen Höhepunkt in Griechenland und Rom und kam dann mit der erstaunlichen Entdeckung des Christentums und der germanischen Völker zum Tragen: „Der Mensch ist frei“.5 Die Frage ist nicht, ob wir den Hegelschen Panlogismus und seine systemische und notwendige Interpretation der spekulativen Geschichte anerkennen, auch nicht, inwieweit wir heute die eurozentrische Weltsicht überwunden haben und inwieweit wir das Gefühl der Krise der europäischen Kultur und ihrer Entwicklungsrichtungen verarbeitet haben (ein Gefühl der Krise ist eine sogar distinktive Eigenschaft der europäischen kritischen Reflexion), sondern es geht um die kulturelle Komponente, die Europa ausmacht. Ohne diese Erfahrungen, auch wenn sie verarbeitet wurden, gibt es kein Europa. Genauso, wie es schwierig ist, von Europa zu sprechen, ohne auf die vergegenwärtigte individuelle und kollektive Freiheit zu verweisen, ohne sich auf die europäische Eigenheit zu beziehen oder auf ein Denken, das sowohl kritisch ist als auch Offenheit entwickelt. Es gibt kein Europa ohne die Forderung nach der von Jan Patocˇka so anschaulich dargestellten sokratischen Spiritualität, die ethische Vernunft, Mut und Opferbereitschaft im geistigen Menschen verbindet.6 In gewisser Weise ist diese spirituelle Dimension mit der Idee von Kants Europa verbunden, welches nach föderalen Gesetzen geschaffen und im Projekt Zum ewigen Frieden geordnet 3 Zur Geschichte des Europagedankens siehe: The Idea of Europe. From Antiquity to the European Union, hrsg. v. A. Pagden. Cambridge 2002. 4 G.W.F. Hegel: Die Philosophie der Geschichte. Vorlesungsmitschrift Heimann (Winter 1830/ 1831), hrsg v. K. Vieweg. München 2005, S. 36. 5 Ebd., S. 38. 6 J. Patocˇka: Eseje heretyckie z filozofii dziejów, übers. v. E. Szczepan´ska, A. Czcibor-Piotrowski, J. Zychowicz, Warszawa 1998, S. 229.
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wurde, das den Geist Europas aus der Vernunft, der Freiheit und der Staatsbürgerschaft bezieht (die Rolle der republikanischen Staaten ist hier wichtig).7 Trotz der Brüche und Widersprüche in den europäischen Praktiken und Theorien, trotz der Spannungen in den Haltungen kommt eine besondere Rolle bei der Vergegenwärtigung dieses europäischen Geistes den Geisteswissenschaften zu, denn sie müssen das Erbe Europas aufgreifen, was Hans-Georg Gadamer so nachdrücklich gefordert hat: Es scheint mir wie das sichtbarste Lebenszeichen und wie der tiefste geistige Atemzug, in dem sich Europa seiner selbst bewusst wird, dass es im Wettbewerb und im Austausch der Kulturen die wesenhafte Eigenart gelebter Traditionen im Bewusstsein festhält. Daran mitzuwirken, scheint mir der bleibende Beitrag, den die Geisteswissenschaften nicht nur für die Zukunft Europas zu leisten haben, sondern für die Zukunft der Menschheit.8
Bronisław Geremek erinnerte an die Worte Jean Monnets, der gegen Ende seines Lebens gestand, dass er, wenn er die Möglichkeit hätte, die EU-Gemeinschaft noch einmal zu gründen, bei der Kultur beginnen würde.9 Monnets politische und wirtschaftliche Vorstellungen sind im Laufe der Zeit radikal korrigiert worden. Diese Korrektur erfährt die Europäische Union immer dann, wenn sie sich durch unmittelbare Lösungen oder langfristige Strategien mehr auf wirtschaftliche Lösungen konzentriert als auf die Kultur oder die europäische Idee. Die Korrektur kommt aus den Geisteswissenschaften. Die zweite Dimension ist Europa als ein Haus, das die Eigenheit fördert. Es geht jedoch nicht um politische Auseinandersetzungen und nationalstaatliche Vorstellungen oder um die Wahrung wirtschaftlicher Partikularinteressen, sondern um die Eigenheit des Denkens über das Haus, über den Platz und die Bedeutung der Regionen, was die Veränderungen nach 1989 mit großer Wucht zutage treten ließen und ein neues Denken über das Europa der Regionen in die Arena der Geschichte einführten. Wenn ich auf den spirituellen Wert der Veränderungen hinweisen sollte, würde ich auf den erneuerten, ja dialektischen Blick auf Europa als ein Haus der Eigenheit hinweisen, das, in der Gemeinschaft verankert, nicht aufhört, Unterschiede, lokale Gemeinschaften, regionale Sehnsüchte oder Grenzerfahrungen wahrzunehmen, die sich den Einteilungen der Politiker entziehen. Es gibt manchmal Probleme, diese Dialektik Europas zu respektieren, weil das politische und institutionelle Europa (wie es von den Organen der Europäischen Union verkörpert wird) nicht immer in der Lage ist, dem Europa der Unterschiede, dem Europa des Hauses kultureller Eigenheiten ge7 I. Kant: Zum ewigen Frieden, hrsg. v. K. Vorländer. Leipzig 1999, S. 3–56. 8 H.G. Gadamer: Das Erbe Europas. Frankfurt am Main. 1990, S. 62. 9 B. Geremek: Toz˙samos´c´ Europy S´rodkowej. Złudzenia i rzeczywistos´c´. In: Toz˙samos´c´ w czasach zmiany. Rozmowy w Castel Gandolfo, hrsg. v. K. Michalski. Kraków 1995, hier S. 184.
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recht zu werden. Als Beispiel genügt ein Blick auf die zurückhaltende Reaktion der Europäischen Union auf die (nicht antieuropäischen) Unabhängigkeitsbestrebungen der Katalanen im Jahr 2017. Das am 9. Juni10 angeordnete und am 1. Oktober 2017 abgehaltene (von der spanischen Regierung nicht anerkannte) Referendum über die Unabhängigkeit Kataloniens, die Annahme durch das katalanische Parlament, die anschließende Ausrufung der Republik Katalonien durch das Kommunalparlament, die Streikwelle, die Entlassung der Kommunalregierung durch die spanischen Behörden und die Auflösung des katalanischen Parlaments – all dies wurde von der EU als eine innerspanische Angelegenheit anerkannt, die gemäß der Verfassungsordnung des Landes zu behandeln ist.11 Die Unterschätzung der Stärke des kulturellen Hintergrunds des politischen Wandels hat eine kognitive und kollektive Unfähigkeit offenbart, die Ereignisse tiefgründig zu betrachten. Die Unterschätzung Europas als Haus der kulturellen Eigenheiten muss zu Konflikten führen.12
Haus der europäischen Eigenheiten – Regionen, Regionen, Regionen Das nach 1989 erneuerte Denken über das Haus offenbart den Wert Europas als kulturelles Projekt, den Wert, zu dem Europa in den Wandlungen der Geschichte, in einer Reihe von menschlichen Siegen und Niederlagen gereift ist. Regionale Ideen nach 1989, wie Grenzgebiets- und grenzüberschreitende Erfahrungen, haben mit großer Kraft gezeigt, wie wichtig es ist, die Denkweise über Autonomie, Pflichten gegenüber dem Land, die Liebe zur Heimat und zum materiell, sozial und geistig verstandenen Ort, neu zu definieren. Europa ist der Geist der Regionen, Euroregionen und der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit.13 Wenn wir an markante Orte in Europa denken, könnte ein Beispiel das bereits 10 D. Cordero: Catalan Independence Referendum to be Held on October 1: Regional Premier. In: „El País“, 9. 06. 2017 [online]. https://english.elpais.com/elpais/2017/06/09/inenglish/149699 5696_161601.html [30. 01. 2021]. 11 R. Emmott: Catalonia Finds no Friends Among EU Leaders. In: „Reuteres“, 19. 10. 2017 [online]. https://www.reuters.com/article/us-spain-politics-catalonia-eu-idUSKBN1CO31E [30. 01. 2021]. 12 Siehe Beschreibung der Prozesse, die zu Identitätsspannungen führen in: E. Mendoza: Co z ta˛ Katalonia˛?, übers. v. K. Jaszecka. Katowice 2018. 13 Siehe zur sozioökonomischen Behandlung von: Regionen – Regiony Europy, hrsg. v. A. Ste˛pien´-Kuczyn´ska, K. Dos´piał-Borysiak, R. Łos´. Torun´ 2009; Europaregionen – Euroregiony. Mosty do Europy bez granic, hrsg. v. W. Malendowski, M. Szczepaniak. Warszawa 2000; einer Transregion – P. Dobrowolski, M. Łata: Wielki region Saar-Lor-Lux. Przykład współpracy transgranicznej w Europie. Wrocław 2000; Metropolregionen – M. Sme˛tkowski [u. a]: Europejskie metropolie i ich regiony. Od krajobrazu gospodarczego do sieci metropolii. Warszawa 2012.
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erwähnte Katalonien sein, dessen kulturelle Besonderheit, die durch die Geschichte gestärkt wurde und sich an die Verachtung seitens des spanischen Zentrums gewöhnt hatte, für sich selbst politische Besonderheit nicht nur in Form von Autonomie, sondern von Unabhängigkeit fordert. Die Liebe zur katalanischen Sprache, zur Literatur, zum Lebensstil, zu den Begegnungsstätten und zu den Werten, die das Leben organisieren, ist hier unbestreitbar, was nicht bedeutet, dass sie nicht in Konflikte der politischen und wirtschaftlichen Interessen hineingezogen wird. Wenn man an eine Region denkt, die sich in ihrer Besonderheit auszeichnet, kommt man nicht umhin, an das Baskenland zu denken – geprägt von einem Kampf um Identität und Eigenheit, gebunden an eigene Traditionen der Heimat und die Abstammung von der indigenen europäischen Kultur, in deren Landschaft sowohl Opfer als auch Anschläge Platz finden. Ein starkes regionales Denken, das sich in der Verbundenheit mit der eigenen Kultur manifestiert, zeigt sich in Bayern, dessen regionale Besonderheit in ein markantes ethnographisches Muster gekleidet ist, lesbar in interkulturellen Begegnungen. Was uns an Europa auffällt, ist seine Vielfalt, seine Liebe zur Derrid’schen différance14 – wenn wir sie nur aus dem Raum der Schrift befreien und in die kulturelle Materie einbringen. Die différance zerstört nicht die Liebe zu Europa, sie bekräftigt Europa als Idee der Freiheit und der regionalen Unterschiede, als Idee der unendlichen Referenzierung von Worten und Zeichen, der unendlichen Interpretation und der einladenden Öffnung für das Fremde. Europa ist kritisches Denken und die Praxis eines offenen Lebens. Es ist das Haus der Unterschiede. Im Europa der Eigenheit fällt uns die Regionalisierung des Denkens und Handelns auf, die sich zum Beispiel in der Region des westlichen Teils von Teschener Schlesien manifestieren, das zur Tschechischen Republik gehört, wo die gemischte tschechische, polnische und oberschlesische Sprache die Kulturlandschaft mitgestalten und getrennte ethnische Identitäten formen, die miteinander interagieren und gemeinsam erarbeiten, wie man in der Nachbarschaft leben kann. Diese Entwicklung des kulturellen Ortskonzepts ist auch in der Lausitz in den Bundesländern Sachsen und Brandenburg zu beobachten, wo zweisprachige Orts- und Straßennamen- oder Ladenschilder von der Bedeutung der Eigenart eines Ortes zeugen. Diese Zweisprachigkeit findet sich auch in einem breiten Band entlang der ungarisch-slowakischen Grenze, bedingt durch die historisch unterschiedlichen administrativen Zugehörigkeiten der Gebiete, was langfristig die kulturelle Besonderheit des Territoriums hervorbringt. Eine weitere regionale Besonderheit findet sich in der Nordostslowakei, wo aufgrund der Anwesenheit von Ruthenen neben dem lateinischen Alphabet auch kyrillische Schriftzeichen in zweisprachigen Schildern erscheinen. Schließlich ist da noch 14 J. Derrida: Différance. In: Margins of Philosophy, übers. v. A. Bass. Chicago 1978, S. 1–28.
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die Eigenheit Siebenbürgens (Transsilvaniens), das historisch von Ungarn, Sachsen und Rumänen bewohnt wurde, eine Region, die auch nach den Migrationen und Umsiedlungen innerhalb des kommunistischen Staates weiterhin ihre Autonomie aufgrund ihrer kulturellen Eigenheit behauptet. Um die Besonderheiten Europas nachzuvollziehen und zu dokumentieren, müsste ein eigener Katalog erstellt werden – die Beschreibung u. a. der sprachlichen Vielfalt Europas durch David Smolorz ist zum Beispiel äußerst interessant und sachlich.15 Wir wollen daher auf einige weitere Erscheinungsformen der regionalen Besonderheiten hinweisen. Es handelt sich um das heute zur Ukraine gehörende Transkarpatien, das aufgrund seiner wechselnden Zugehörigkeit zu Ungarn, der Tschechoslowakei und der Ukrainischen Sozialistischen Republik noch immer eine kulturelle Besonderheit aufgrund seiner ungarischen Komponente bewahrt hat, die sich nicht nur in zweisprachigen Schildern ausdrückt. Diese Karte würde auch die Bukowina umfassen, die sich heute in den Grenzen Rumäniens und der Ukraine befindet und in der jahrhundertelang Rumänen, Ukrainer, aber auch Deutsche, Polen, Ungarn, Juden und russische Altgläubige lebten, von der stalinistischen Aggression gezeichnet, aber noch eine Vervielfachung von Inschriften und Bräuchen bewahrend. Hervorzuheben sind auch die heute zu Rumänien gehörenden Regionen Maramuresch und Satmar, die aufgrund ihrer wechselhaften Geschichte ein Haus für Ungarn, Rumänen, Ukrainer und Deutsche bedeuten, wobei die mehrsprachigen Inschriften an die Vielfalt und gleichzeitig an die eigene Identität der Regionen erinnern. Spürt man dem Vorhandensein von zwei- oder dreisprachigen Schildern nach, so ist dies in Ungarn deutlich sichtbar, wo man im Süden und an der österreichischen Grenze ungarisch-deutsche und ungarisch-kroatische oder ungarisch-deutsch-kroatische Schilder findet, aber auch in Kaschubien in Nordpolen in der Präsenz der kaschubischen Sprache, wie auch in der Pflege des Brauchtums, der Vorbereitung von kulturellen Veranstaltungen und der Betonung einer eigenen Identität. Interessant ist vor dem Hintergrund der spezifischen Regionen Europas die Vojvodina, eine autonome Provinz Serbiens, in der Ungarn, Serben, Slowaken, Tschechen, Rumänen, Montenegriner und Bunjewatzen – das Ergebnis der ehemaligen Habsburger Politik – das spezifische Gesicht der Region bilden. Die jahrhundertelange Verbindung mit der deutschen, tschechischen und polnischen Kultur, die zu seiner Besonderheit und andersartiger Identität beiträgt, macht Oberschlesien zu einer für die Forschung interessanten europäischen Region. Trotz der Vertreibung, der Arbeitslager für Oberschlesier-Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg (die eigentlich Konzentrationslager waren) 15 Vgl. D. Smolorz: Raport mniejszos´ci, czyli ´srodkowoeuropejska mozaika je˛zykowa. Dwuje˛zyczne napisy na tablicach miast czy ulic wcia˛z˙ wzbudzaja˛ kontrowersje. In: „Dziennik Zachodni“, 21. 03. 2014, S. 20f.
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und der Unterdrückung, unter der die Oberschlesier zu leiden hatten, war es die Öffnung Europas und die Freisetzung des regionalen Potenzials, das die regionale Identität in Oberschlesien in den 1990er Jahren wiederbelebten (anders war die Situation in Niederschlesien, von wo aus die Schlesier-Deutschen fast vollständig vertrieben und durch Menschen aus verschiedenen Teilen Polens, einschließlich der im Krieg verlorenen ostpolnischen Gebiete, ersetzt wurden). In Oberschlesien gibt es in den von deutschstämmigen Oberschlesiern bewohnten Ortschaften zweisprachige polnisch-deutsche Schilder, gefolgt von einer Reihe von Einrichtungen, kulturellen Veranstaltungen und Veröffentlichungen, die von der unterschiedlichen Landschaft dieser Gebiete, die jetzt zu Polen gehören, zeugen. Schließlich ist es das Vorhandensein des Oberschlesischen (dem von den Politikern der Regierungspartei in Polen der Status einer Sprache verweigert wird, da sie es für einen Dialekt halten), was bedeutet, dass sich das Oberschlesische, obwohl es nicht offiziell anerkannt ist, als Regionalsprache entwickelt (Kodifizierungsarbeiten), dass es von der oberschlesischen Bevölkerung weiterhin verwendet wird, dass es auf Ladenschildern, in sozialen Netzwerken oder bei künstlerischen und wissenschaftlichen Aktivitäten zu finden ist, aber auch in der in dieser Sprache veröffentlichten Literatur, in Theaterstücken oder Filmen, in wissenschaftlichen Studien und in Übersetzungen von Weltliteratur ins Oberschlesische. Hinzu kommt das Bewusstsein für die andersartige Identität Oberschlesiens und der Oberschlesier, das sich in zahlreichen historischen, sprachlichen, linguistischen, literaturwissenschaftlichen, anthropologischen und touristischen Studien sowie in Erklärungen zur oberschlesischen nationalen Identität bei der Volkszählung 2011 oder 2021 manifestiert. Hervorzuheben ist in diesem separaten Denken auch Kärnten als ein von Slowenen und Deutschen bewohntes österreichisches Bundesland, in dem sich die mittlerweile historische Volksabstimmung nach dem Ersten Weltkrieg – trotz des damaligen Anteils der Slowenen von 60 % – für den Verbleib der Region bei Österreich aussprach. Aber auch der Kampf um die zweisprachige Beschilderung und die Proteste, die 2011 zu einem Referendum führten, machen deutlich, dass die Manifestation der Identität in der Sprache in einem Drama der Anerkennung stattfindet. Dies zeigt sich auch in Südtirol (Alto Adige), das aufgrund seiner Zugehörigkeit zur österreichisch-ungarischen Monarchie nach dem Ersten Weltkrieg an Italien fiel und damals hauptsächlich von Deutsch-Tirolern bewohnt wurde, die 90 % der Bevölkerung ausmachten (heute sind es etwa 60 %). Hinzu kommen die rätoromanischen Ladiner, was zur Folge hat, dass in den von Ladinern bewohnten Gebieten nicht nur zweisprachige, sondern auch dreisprachige Schilder existieren. Die Anerkennung von drei Sprachen als Amtssprachen zeigt den Weg auf, wie in kulturell unterschiedlichen Regionen Lösungen gefunden werden können. Die Betonung der Eigenheit und die damit verbundenen Bestrebungen – für die Staatsbehörden wohl nicht immer bequem – offenbaren
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die Rolle der Regionalisierung des Lebens in Europa, die nicht ignoriert werden kann und für die es notwendig ist, eine Formel für das Leben in einem gemeinsamen, aber geteilten Europa zu finden. Wir würden diese Eigenheit in der Region Venetien suchen, die ihren Separatismus unterstreicht und einen markanten Punkt in der europäischen Topographie darstellt. Venetien, mit Zeichen übersät, arbeitet ständig an dieser kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Eigenheit. Ausdrucksstarke Regionen Europas sind sicherlich auch die Toskana, die Lombardei, Korsika, das Burgund, die Bretagne oder die Provence. In die touristische Landkarte eingetragen, in Film und Literatur behandelt, vervollständigen sie die Landschaft Europas. Bei den Unterschieden zwischen diesen Regionen handelt es sich nicht nur um oberflächliche Unterschiede, die heutzutage durch die Folkloristik bearbeitet wurden (Essen, Musik, Kleidung), sondern um signifikante Unterschiede, die den Rhythmus der Kultur, die Art und Weise der Raum-Zeit-Erfahrung, die Identitätsbildung, die Bindung an historische Narrative, die metaphysische Interpretation, die Lebensgewohnheiten, die Modelle der Gastfreundschaft oder das Arbeitsethos betreffen. Starke Regionen beweisen, dass Separatismus und Regionalismus nicht nur politische Konstrukte sind. Man braucht nur einen Blick auf Nordirland oder Schottland zu werfen – in letzter Zeit aktiv für die Stärkung ihrer jahrhundertealten Eigenständigkeit und den Bruch mit der englischen Vorherrschaft. Das Streben nach Unabhängigkeit ist nicht nur politisch begründet. Wenn in Europa Eigenheiten beiseitegeschoben, verachtet und ihnen im Raum der Kommunikation die Stimme verweigert wird, dann bekommt der Separatismus ein äußerst politisches Gesicht. Im europäischen Gedächtnis bleibt das Gemetzel auf dem Balkan oder die blutigen Erfahrungen in Nordirland weiterhin präsent. Was die Eigenheit bietet, ist jedoch das kulturelle Gewebe. Das Streben nach Unabhängigkeit und das Erwachen der Identität zwingen uns, unsere Positionierung in Europa unter dem Blickwinkel des philosophischen und anthropologischen Aufbruchs neu zu bestimmen. Um diese Eigenheit richtig zu diagnostizieren, muss man sie sowohl aus der Perspektive der transkulturellen Mobilitätserfahrung als auch aus der Perspektive der kulturellen Sehnsucht nach Verortung betrachten, denn die Dialektik des Hauses ist das, was in Europa heute besonders wichtig ist. Was ist das neue Europa der Eigenheit?
Erneuerte Ideen: oikos, Heimat, campanilismo, locus Um interpretativ zu Europa als Haus der Unterschiede vorzudringen, schlage ich vor, das Denken über die Begriffe oikos, Heimat und campanilismo, locus zu erneuern. Dank ihnen ist es möglich, ein anderes Verständnis von Regionalität zu
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erproben, die nicht als etwas Kleines und Vertrautes verstanden wird, sondern als die Idee, sich der Welt aus der Perspektive des Hauses zu öffnen – eines starken, unabhängigen, aber auch einladenden Hauses. Die Eigenheit ist ein Zuhause, das einem stürmischen Meer gleicht und frischen Wind bringt, anstatt zu einer Geste des Verriegelns von Türen und des Aufstellens muffiger Erinnerungsvitrinen zu werden. Ohne diese Flamme der Eigenheit zu verstehen, ist es unmöglich zu begreifen, was mit Katalonien, Bayern, Oberschlesien, der Toskana, der Lombardei, Südtirol, Venetien, der Vojvodina oder Korsika geschieht; es ist unmöglich zu verstehen, was mit dem Menschen und der gemeinschaftlichen Sehnsucht nach 1989 geschehen ist. Um das Haus zu würdigen und das Wesen des regionalen Aufbruchs in Europa zu verstehen, müssen wir uns bemühen, über eine rein soziale, politische oder wirtschaftliche Interpretation hinauszugehen, da diese die Perspektive verengt und die Welt im Namen der Neutralität verfärbt, während sie spezifische Merkmale ausblendet. Es ist notwendig, sich der europäischen Kultur zuzuwenden. Und auch wenn der Wille, Provinzialität zu nivellieren und sein eigenes politisches Territorium in Europa (gezeichnet durch Kriege und Konflikte, die die Notwendigkeit einer Abkehr von ethnischen Säuberungen eindringlich vor Augen geführt haben) zu behaupten, verständlich ist, so darf die Auseinandersetzung mit dem eigenen Standort nicht dazu führen, dass man sein Haus zu Grabe trägt und die in Europa einzigartige Idee eines geteilten Hauses vergisst. Es gibt in Europa ein Potenzial für ein subtil differenziertes Denken und, um noch einmal an die différance von Derrida zu erinnern, es besteht keine Notwendigkeit, die Wirklichkeit nach Gegensätzen zu programmieren: entweder das Haus oder die Welt; entweder Vertrautheit oder Offenheit; entweder Fremdenfeindlichkeit oder Toleranz; entweder Feindseligkeit oder Gastfreundschaft; entweder Sesshaftigkeit oder Wanderschaft; entweder Bindung oder Freiheit usw. Was zählt, sind die kleinen Differenzialeffekte, die Bedeutungsverschiebungen und die feinen Verschiebungen des Textes, den Europa ausmacht. Wäre das europäische Haus Krähwinkel, würde es sich nicht lohnen, es zu verteidigen. Wenn das Haus nur ein Bunker oder eine umzäunte Festung wäre, hinter der der ängstliche Geist nach Ungeheuern und dem Bösen Ausschau hält, wer würde dann über das europäische Haus sprechen wollen? Ein Bunker ist die Karikatur eines Hauses. Józef Tischner schrieb, dass die Verwandlung eines Hauses in eine Festung, eine Burg oder ein Schloss Angst schürt und der Beherrschung dient.16 Wenn wir also von einem „erneuerten Haus“, einem dialektisch gewonnenen Haus sprechen, meinen wir eine befreite Vorstellung von einem Ort, die sich der Welt öffnet, und nicht einen beengten Raum wie einen Käfig. Wir würden also die Offenheit des Hauses Europa nicht im gefangenen 16 J. Tischner: Filozofia dramatu. Wprowadzenie. Paris 1990, S. 198.
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Raum suchen, in Gebieten der erzwungenen Isolation, in Vierteln der Armut und des Verbrechens, in Sklavenarbeitslagern, in den Baracken der Diener der reichen Welt. Es geht um das Haus also um oikos, das dem Menschen einen Ort gibt, das ihm die Rückkehr ermöglicht, die Wanderer mit der Idee von Haus ausstattet, mit der sie die Welt durchqueren (auch wenn sie beklagen, dass diese sich im Wandel befindet), das den Menschen damit ausstattet, was die Einfachheit der Erfahrung wäre, offen für Andere und doch verwurzelt – ein solches Haus wäre ein Wert.17 Und um ein solches ausdrucksstarkes Haus, das mit anderen verflochten ist und gleichzeitig eigenständig bleibt, geht es in Europa nach 1989. Wenn es etwas gibt, das Europa stärken wird, dann wäre es meiner Meinung nach die Stärkung eines Hauses, das Unterschiede schützt und gleichzeitig in seinem Wertefundament kohärent ist. Eines Hauses, das sich nicht vor ethnischen und territorialen Eigenheiten (die es ohnehin gibt und die nicht außer Kraft gesetzt werden können) fürchtet, sondern sie mit der Idee der Freiheit verbindet. Die Welt im Sinne des europäischen Heimatgedankens befindet sich zu Hause. Ohne den Heimatgedanken zu scheuen, dem wir in Johann Gottfried Herders Denken über Bindung, Zugehörigkeitsgefühl, Volk und Nation und schließlich über die den Menschen prägende Kultur begegnen, kehren wir zum Begriff der Heimat zurück. Herder fragt: „Welches Volk der Erde ists, das nicht einige Cultur habe? und wie sehr käme der Plan der Vorsehung zu kurz, wenn zu dem, was Wir Cultur nennen und oft nur verseinte Schwachheit nennen sollten, jedes Individuum des Menschengeschlechts geschaffen wäre?“18 In Übereinstimmung mit dem Lauf des Elitedenkens stellt er auch fest: „Aus den Gegenden schöngebildeter Völker haben wir unsre Religion, Kunst, Wissenschaft, die ganze Gestalt unsrer Cultur und Humanität, so viel oder wenig wir deren an uns haben.“19 In Herders Denken finden wir die Unterstützung für den Selbstausdruck in der eigenen Sprache, das Ringen um die Anerkennung der menschlichen und gemeinschaftlichen Originalität, die Sorge um die Entwicklung des Geistes und die Bejahung der Entwicklung – „so haben sich Künste, Wissenschaften, Cultur und Sprache in einer großen Progreßion Nationen hin verfeinert“.20 Heimat, so Peter Blickle, der Herders Gedanken aufgreift, drücke sich in der Vorstellung von
17 Zum Oikologie-Konzept siehe: T. Sławek, A. Kunce: Oikologia. Powrót. Katowice 2020. 18 J.G. von Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga / Leipzig 1784 [o. S] [online]. https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784, hier https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/10 [12. 01. 2021]. 19 J. G. von Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga / Leipzig, 1785, S. 33 [online]. https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785, hier https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/45 [12. 01. 2021]. 20 J.G. von Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin 1772, S. 215 [online]. https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772, hier https://www.deutschest extarchiv.de/herder_abhandlung_1772/221 [19. 01. 2021].
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Zugehörigkeit und Behaustheit aus.21 Europa, das heute nicht so sehr der Idee einer starken Nation, der Mythologie einer vertrauten Herde, sondern auch einer unverwurzelten (Un-)Gemeinschaft anhängt, steht der Idee der Bindung des individuellen Schicksals an das Land, womit sich José Ortega y Gasset beschäftigte,22 eher nahe und kehrt zum Ort und zum Wohnsitz, zur Idee des Hauses zurück. Länder, Regionen, Provinzen sind der den Menschen umgebende Raum, der sich zur Philosophie des Hauses zusammensetzt.23 Und dies geschieht auch oder gerade dann, wenn wir das Bild der Welt der Kulturen als abgegrenzte Kreise neu formuliert haben, ein Bild, das bereits durch transkulturelle Mechanismen und entstehende neue Qualitäten kultureller Begegnungen gebrochen ist. Das heißt aber nicht, dass das transkulturelle Denken von Theoretikern, darunter Wolfgang Welsch24, die von Herder beschriebenen Eigenheiten und Originalitäten der Kulturen einfach aufhebt, es weist lediglich auf die Durchdringung und Verflechtungen hin, die das Haus, auch das europäische Haus, berühren. Ein Haus der geschwächten Differenz ist ein Haus der immer noch relevanten Eigenheiten, von wichtigeren denn je. Die Verbindung von Haus und Ort in Europa ist mit der Hölderlin’schen Idee der Heimkehr belastet. Es lohnt sich, dies zu erneuern. Die Heimkehr ist ein existenzieller Imperativ, der es dem Denker erlaubt, das Lob des Wanderers, der seine Heimat verlässt, zu verkünden und gleichzeitig die Rückkehr zu bejahen: Am kühlen Bache, wo ich der Wellen Spiel, Am Strome, wo ich gleiten die Schiffe sah, Dort bin ich bald; euch traute Berge, Die mich behüteten einst, der Heimath Verehrte sichre Grenzen, der Mutter Haus; Und liebender Geschwister Umarmungen Begrüß’ ich bald, und ihr umschließt mich, Daß, wie in Banden, das Herz mir heile, [Die Heimath, S. 71]25
Der Ort lädt den Wanderer ein, er erdet und öffnet ihn: 21 P. Blickle: Heimat: A Critical Theory of the German Idea of Homeland. New York 2002, S. 54. 22 J. Ortega y Gasset: Po co wracamy do filozofii?, übers. v. E. Burska, M. Iwin´ska, A. Jancewicz. Warszawa 1992, S. 25–39. 23 Vgl. H. Sommer: Philosophie der Heimat. In: „Universitas“ 73, 7 (2018), S. 74–99; K. Joisten: Philosophie der Heimat – Heimat der Philosophie. Berlin 2003. 24 W. Welsch: Was ist eigentlich Transkulturalität? In: Hochschule als transkultureller Raum?, hrsg. v. L. Darowska, T. Lüttenberg, C. Machold. Bielefeld 2014, S. 39–66. 25 F. Hölderlin: Die Heimath. In: Gedichte. Stuttgart, Tübingen 1826, S. 71 [online]. https:// www.deutschestextarchiv.de/hoelderlin_gedichte_1826, hier https://www.deutschestextarchi v.de/hoelderlin_gedichte_1826/79 [19. 01. 2021].
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Lebt wohl denn, Jugendtage, du Rosenpfad Der Lieb’, und all’ ihr Pfade des Wanderers, Lebt wohl! und nimm und segne du mein Leben, o Himmel der Heimath, wieder! [Rückkehr in die Heimath, S. 81]26
Wenn man über die Philosophie der Regionalität im Herzen Europas nachdenkt, kommt man nicht umhin, die radikale, wenn auch langsame und würdevolle Hinwendung zum Haus wertzuschätzen, zu „Engel des Vaterlands! o ihr, vor denen das Auge, Sey’s auch stark.“27 Hölderlins Engel (eine beunruhigende Metapher, in der Idee des Hauses nicht ausreichend erkundet) wären die Wächter des Hauses, für die lokale Idee vonnöten. Davor sollte man in Europa nicht weglaufen, denn es ist in seine Identität eingeschrieben, aber dieser Idee sollte ihr regionaler Bezug zurückgegeben werden. Die Engel des Ortes würden die Idee eines regionalen Hauses schützen, sie würden das Gedächtnis eines Ortes bewahren, wenn sich das menschliche Gedächtnis als unvollkommen erweisen sollte, sie würden den Wanderern dienen, das Aufblühen eines Ortes fördern – indem sie vor dem Menschen den Raum des Unvorstellbaren ausbreiten. Die europäische Einladung, bei der uns die Heimat ständig entgegenkommt, ist eine Einladung, die einem Ort beigemessene Bedeutung zu entdecken. Die Frage nach Europa ist eine Frage nach dem Ort. Heimat ist viel mehr als campanilismo, aber auch diese Spur ist nicht zu übersehen. Der italienische Glockenturm (ital. campanile) markiert in den Gemeinden und Städten den Raum der guten Regionalität und gleichzeitig des Lokalpatriotismus. Der Glockenturm einer Kirche wird zu einem Punkt der Verbundenheit mit einem Ort, der durch einen Bereich definiert wird, welcher vom Glockenturm aus erfasst wird und auf dem der Klang der Glocken zu hören ist. Symbolisch markiert er einen Raum der Nähe. Die italienische Verbundenheit mit einem Ort hat als campanilismo etwas von der Provinzialität, aber auch von Stolz, dem Aufbau einer eigenen Identität und dem Geist des Wettbewerbs28 – was für eine Tradition die Duelle der Städte in verschiedenen Wettbewerben geworden sind! Interessanterweise hat der Geist des campanilismo nicht nur eine Wettbewerbs-, sondern vielleicht auch eine Neidkomponente, denn, so die europäische Kunde, es handelte sich um die Rivalität zweier benachbarter neapolitanischer Gemeinden: San Gennaro Vesuviano und Palma Campania – als sich 26 F. Hölderlin: Rückkehr in die Heimath. In: Gedichte, (Anm. 25), S. 81 [online], hier https:// www.deutschestextarchiv.de/hoelderlin_gedichte_1826/89 [19. 01. 2021]. 27 F. Hölderlin, Die Herbſtfeier. An Siegfried Schmidt. In: Gedichte, (Anm. 25), S. 145 [online], hier https://www.deutschestextarchiv.de/hoelderlin_gedichte_1826/153 [19. 01. 2021]. 28 Vgl. J. Mielke: From Campanilismo to Nationhood: Forging an Italian Identity. In: Living on the Edge in Leonardo’s Florence: Selected Essays, hrsg. v. G. Brucker. Berkeley 2005, S. 42–61.
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das Zifferblatt des Glockenturms von San Gennaro Vesuviano in Richtung Palma Campania drehte, entfernten die Bewohner absichtlich seine Uhr, damit die Nachbarn aus Palma Campania nicht die Zeit ablesen konnten.29 Die Rivalität der Städte, die Qualen der Fraktionen und Familien, die Verbundenheit mit der eigenen Provinz und dem eigenen Dialekt – das ist der Rahmen für den Geist des campanilismo. Und obwohl die Provinzialität abgeschwächt werden müsste, sollte dieser – bereits erneuerter und in seiner Bedeutung verschobene – Begriff in die Überlegungen zur europäischen Regionalität einbezogen werden, muss er doch bei der europäischen Konstruktion der Erfahrung von Nähe berücksichtigt werden. Europa hat im 20. Jahrhundert Migrationen, Vertreibungen, Grenzverschiebungen und Heimatverluste verarbeitet und ist deshalb nach 1989 umso mehr mit dem Wissen gewappnet, dass es sich lohnt, ein Haus dort zu denken, wo der Mensch Eingewöhnung entdeckt und Verlust erfährt; wo man Mangel und Bruch im Zwischenmenschlichen erleidet; wo man den Wert von Ausgang und Rückkehr sowie die Vereinigung von Welt und Haus erkennt – die Weltgewandtheit von Haus und die Häuslichkeit in der Welt erfährt. In der Zeit des Weggehens von zu Hause, auf dem Weg des Exils und der Wanderschaft, im Moment des Aufbaus und des Abbruchs des Hauses, im Moment der Rückkehr und der Verwandlung des Häuslichen, in der Begegnung mit Orten und Menschen, in Versuchen, seinen Platz zu finden oder angesichts seines Nichtfindens – der Mensch ringt mit der Idee des Hauses. Und dieses Ringen mit dem Haus kann auf europäischer Bühne gesehen werden, die zur Bühne für das sich entfaltende Drama der Anerkennung wird, weil, wie Charles Taylor hervorhob, der Kampf um den Raum der Anerkennung sowohl die individuelle als auch die Gruppenebene betrifft und sich unendlich entwickeln kann.30 Der Geist Europas bezieht sich nicht nur auf die Freiheit oder die Vernunft, sondern auch auf einen ausdrucksstarken, wertgeschätzten Ort – Europa ist ein Topos, der später als locus umgeschrieben wird, mit seiner geistigen Kapazität, seinem Erfahrungsreichtum und seiner Weite im Denken und Handeln. Europa ist ein locus, aber auch die einzelnen Regionen Europas sind ausdrucksstarke Orte, daher muss es Sorge um die lokalen, einheimischen oder regional entwickelten Werte geben. Die Zukunft der kulturellen Stärke Europas liegt in seinen Regionen und in einem starken Europa als Ganzes, nicht in einem Europa der politischen Staatsgebilde. In Europa sind wir an eine Wertegemeinschaft gebunden, wenn es um individuelle und kollektive Freiheiten geht, Werte, die sich 29 Siehe: The concept of „Campanilismo“ [online]. https://ilcampanilismo.wordpress.com/201 4/10/11/the-concept-of-campanilismo [11. 10. 2014]; Tutto cominciò con un orologip… [online]. https://www.ilgiornale.it/news/tutto-cominci-orologio.html [1. 10. 2009]. 30 Ch. Taylor: Z´ródła współczesnej toz˙samos´ci. In: Toz˙samos´c´ w czasach zmiany, (Anm. 9), S. 20.
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in Reibung und Krieg, aber auch in der Erfahrung des Miteinanders entwickelt haben; dennoch bleiben wir in unserer Identität in getrennten Territorien, Sprachen, Identitätskriterien, lokalen Geschichten, Herkunftsgemeinschaften und unterschiedlichen kulturellen Vorstellungen verwurzelt. Das Europa erlebte nach den Umwälzungen der 1990er Jahre auch die Verwischung alter Orte, ihre Verschiebung oder Verlagerung. In diesem kohärenten Europa sind „andere Orte“ oder „Nicht-Orte“ entstanden, die eine neue Karte der Verschiebungen und globalen Umwälzungen mitgestalten.31 Europa bestätigt jedoch weder Marc Augés voreilige Erzählung von den „Nicht-Orten“,32 noch läuft sie auf Michel Foucaults Bewegung der Orte oder Apologie der Heterotopien,33 Baumans Beschreibung des fließenden Gewebes der Postmoderne34 oder Gilles Deleuzes rhizomatische Räume35 hinaus. Es ist also nicht so sehr, dass Europa die Auflösung der Orte proklamiert hat, um sich dann in der Geschichte der Figur atopos zu erschöpfen, sondern dass es – zumindest in seiner Potenz – aus der Anerkennung der erwähnten Kapazität und Tiefe des Ortes schöpft, indem es das Amorphe, die Auflockerung des Ortes, das, was atopische Spuren überträgt, dem Ort selbst einschreibt. Das Europa der Orte hat sich nicht erschöpft; vielmehr ist es die Dichte der Erfahrungen des Ortes, die es uns erlaubt, atopos und topos in dynamischer Einheit zu sehen. Dies erinnert ein wenig an den aus Kenneth Whites Geopoetik bekanntes Geflecht, nichtsdestotrotz hat die Regionalität in dieser Konzeption ihre Ausdrucksstärke verloren, aufgrund ihrer Identifizierung mit der Einfriedung und Wertschätzung (oder vielleicht Überschätzung?) der Beziehung Mensch-Welt.36 Unsere Anziehungskraft, die wir in der Philosophie der Regionalität fordern, ist der Sinn für die Verortung von uns selbst und anderen aufgrund des Ortes – selbst wenn wir in den Begegnungen und Verschiebungen von Häusern existieren, selbst wenn wir die Beweglichkeit der Welt als eine Welt der Orte erfahren, selbst wenn der Ort zu einem imaginären stürmischen Meer
31 A. Gupta, J. Ferguson: Beyond „Culture“. Space, Identity and the Politics of Difference. In: „Cultural Anthropology“ 7, 1 (1992), S. 6–23; A. Appadurai: Global Ethnoscapes: Notes and Queries for a Transnational Anthropology. In: Recapturing Anthropology: Working in the Present, hrsg v. R. Fox. Santa Fe 1991, S. 191–210. 32 M. Augé: Nie-miejsca. Wprowadzenie do antropologii hipernowoczesnos´ci, übers. v. R Chymkowski. Warszawa 2010. 33 M. Foucault: O innych przestrzeniach. Heterotopie, übers. v. M. Z˙akowski. In: „Kultura Popularna“ 2 (2006), S. 7–13, hier S. 9. 34 Z. Bauman: Płynna nowoczesnos´c´, übers. v. T. Kunz. Kraków 2008. 35 G. Deleuze, F. Guattari: Anti-Oedipus: Capitalism and Schizophrenia. Bd. 1, übers. v. R. Hurley, M. Seem, H.R. Lane. Minneapolis 1983; G. Deleuze, F. Guattari: A Thousand Plateaus: Capitalism and Schizophrenia. Bd. 2, übers. v. B. Massumi. Minneapolis 1987. 36 K. White: Poeta kosmograf, übers. v. K. Brakoniecki. Olsztyn 2010, S. 11–19.
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wird.37 Dies kommt dem Gefühl der Unveränderlichkeit in der Bewegung nahe, von dem Roger-Pol Droit schrieb, „dass sich nichts bewegt, nichts verändert und doch alles vibriert, sprudelt, explodiert.“38 Unser Denken über Unbeweglichkeit, übersetzt in Orte, scheint eine noch größere Bedeutung zu haben. In Verbindung mit der oberflächlichen unsteten Bewegung oder dem Riss steht der Ort selbst mit Dauer und Tiefe im Einklang. Der Ort scheint Beständigkeit, Verwurzelung und Veränderung zu verbinden. Europa als Domäne des freien Denkens, aber eben als Domäne, versucht ständig, das Universelle mit dem Entzweiten zu verflechten. Es entwickelt ein transkulturelles Denken, das das Gemeinsame und das im Schnittpunkt kultureller Praktiken Hervorgebrachte verbindet. Das Europa nach 1989 zeigt, dass man das Haus nicht hoch genug wertschätzen kann (Forderung nach Bindung an entwickelte Werte und Lebensstil), aber es lohnt sich auch, das Haus zu bevorzugen und das „Irgendwo“ zu betonen. Ohne die Landkarte und das Territorium zu zerstören, ist der europäische Mensch ein Mensch der Regionen, sensibilisiert für tiefes kulturelles Denken.
Das europäische Haus als archimedischer Stützpunkt. Auf dem Weg zu einer Philosophie der Regionalität Ich habe den Eindruck, dass die romantische Vorstellung vom Heimatort als einer Aufgabe, die der Mensch erfüllen muss, um in der Welt Wurzeln zu schlagen und sein Zuhause zu finden, noch immer die Stärke Europas und der Regionen, die es mitgestalten, ausmachen kann. Was Europa aber braucht, ist eine erneuerte Philosophie, eine verjüngte, vielleicht verformte Rückbesinnung auf die Idee von Novalis, in der die Philosophie eine Sehnsucht nach dem Zuhause, Heimweh ist,39 und darin geht es darum, sich in der Welt zu Hause zu fühlen. Der Mensch ist derjenige, der nach Hause schreitet, tief in das Geheimnis hinein. Er ist auch derjenige, der sich bemühen muss, das Leben zu überwinden40, um dem Menschlichen Sinn und Gestalt zu geben. Europa verbreitet diese Sehnsucht nach dem Gefühl, in der Welt zu Hause zu sein, aber es verbreitet auch noch etwas Anderes: die Welt zu Hause zu finden. In Katalonien, im Baskenland, in Lothringen, in Oberschlesien, in Bayern wird ein starkes Zuhause zur Garantie für Weltgewandtheit, denn von Zuhause aus kann man weiter in die Ferne und höher hinausblicken. Europa ist die kulturelle Grundlage für diese Sehnsucht. 37 Zum Thema Veortung und lokaler Mensch siehe: A. Kunce: Człowiek lokalny. Rozwaz˙ania umiejscowione. Katowice 2016. 38 R.P. Droit: Gdyby mi została tylko godzina z˙ycia, übers. v. K. Arustowicz. Kraków 2014, S. 108. 39 Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hrsg. v. P. Kluckhohn, R. Samuel. Bd. 3: Das philosophische Werk I. Stuttgart 1960, S. 434. 40 Ebd., S. 562.
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Aus dieser Perspektive kann man demnach feststellen, dass die Suche nach Zuhause und Verwurzelung im Universellen, aber auch die Sensibilisierung für den Ort und das Leben, um es sinnvoll zu gestalten, dem Menschen die Bedeutung des Zuhause bewusst macht, das er ständig sucht, zu dem er zurückkehrt und das er verlässt, und schließlich des Hauses der Veränderungen, in die er verwickelt wurde. Das Welt-Zuhause ist ein Raum für Dauer und Wanderung, für Erfahrung und Kontemplation, für Verwandlung und Bewahrung eines Ortes. Das Zuhause ist ein Leben, in das man eintaucht, aber auch ein Leben, das einen den Verlust üben lässt. Das europäische Zuhause, das regionale Zuhause ist wie ein archimedischer Stützpunkt, ein Punkt, von dem aus man das Leben und den Menschen betrachten kann. Wenn wir die Verbundenheit der Toskaner mit ihrem Land, ihrer Landschaft, ihren familiären Bindungen, der Eigenheit ihrer geschichtlichen Erfahrungen und ihrer Lebensweise betrachten, sehen wir, dass es nicht möglich ist, in Europa den Ort außer Acht zu lassen. Man muss nämlich zur Idee des Ortes als Zuhause zurückkehren, das der Mensch in den vielen Dimensionen des Lebens und der Vorstellungskraft erlebt, in dem sich die alltägliche Präsenz eines Ortes, die Vergegenwärtigung eines Ortes in der Erinnerung, die Ergänzung eines Ortes durch Menschen, Dinge, Bilder, Geschichten, Zeichen überlagert, in dem der ererbte und der auserwählte, der reale und der imaginäre Ort ausklingen, wo das Vorgefundene, das Verwandelte und das neu Geschaffene miteinander verwoben werden usw. Es gibt kein einheitliches Bild eines Ortes – wie in dem hier zitierten Beispiel gibt es eine Reihe von Unterschieden zwischen Florenz, Montaione oder Siena; aber der Hauch von Erfahrungsfragmenten erlaubt es, mit einer Vielzahl von Fetzen und Schichten zur Vorstellung von einem toskanischen Haus zu durchdringen. Dies ist eine europäische Erzählung über die Macht des Hauses, in diesem Fall des toskanischen Hauses, aber wir könnten dieses Verständnis von Zuhause genauso gut in der Provence oder in Andalusien, in der Vojvodina oder in Oberschlesien wiederfinden. Mit der Entdeckung der Idee des Ortes bewegt sich Europa auf eine Art Philosophie der Regionalität41 zu, die keine Apologie der harmonischen Anordnung des Hauses, des Ziels, der Gemeinschaft, des Gefühls der Vertrautheit und Klarheit des Wissens darstellt. Man betrachte nur die Schichtung der sozialen Probleme in Peter Sloterdijks Im Weltinnenraum des Kapitals.42 Doch die Philosophie der Regionalität, die sich auf die Erfahrung von Ort und Zuhause stützt, und das ist es, worüber wir sprechen wollen, führt zu einem Denken im Geiste Nietzsches, einem abgrundtiefen Denken, das durchaus radikal ist. Es ist eine
41 Zum Konzept der Philosophie der Regionalität siehe: Kunce, Człowiek lokalny, (Anm. 37). 42 Siehe: P. Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals. Frankfurt am Main 2005.
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Regionalität, in der sowohl die Erfahrung des Abgrunds als auch die Erfahrung der Stärke enthalten sind: Ach, abgründlicher Gedanke, der du mein Gedanke bist! Wann finde ich die Stärke, dich graben zu hören und nicht mehr zu zittern?43
Die Philosophie der Regionalität setzt den Menschen dem Ort aus, konfrontiert ihn damit und lässt diesen mit Bedeutung und Verpflichtung erfüllen. Ein verorteter Mensch ist ein Mensch, der dazu verurteilt ist, sich den Ort und sein Leben an dem Ort schöpferisch anzueignen, ohne dabei auf das unreflektierte ererbte Repertoire an Zähmungswerkzeugen zurückgreifen zu müssen. Was ererbt wird, soll in „ich will“ umgewandelt werden. Die Demut gegenüber der Tradition soll durch die individuelle Entscheidung unterstützt werden. „Das menschliche Leben ist eine erstaunliche Wirklichkeit […], es ist eine radikale Wirklichkeit“, wird Ortega y Gasset schreiben.44 Mit ihr verbinden wir andere Wirklichkeiten, in ihr erscheint das, was anders ist. Radikal gedachtes Leben ist immer schon eine Aufgabe, die das Gegebene und das neu Geschaffene bindet: Das Leben wird uns in dem Sinne gegeben, dass wir es uns nicht selbst geben, sondern dass wir uns unverhofft darin wiederfinden, ohne zu wissen, wie es passiert ist. Das Leben wird uns nicht in einer vorgefertigten Form gegeben, sondern wir sind es, die es verwirklichen müssen, jeder das seine. Das Leben ist eine Aufgabe.45
Die Philosophie der Regionalität, die sich im Zentrum der europäischen Spiritualität wiederfindet, würde durch dieses „unverhoffte“ sich Wiederfinden gestört werden. Aufgrund des Ortes, der ein Teil von uns geworden ist und zu unserer Aufgabe werden sollte, erscheint das menschliche Leben als radikal und verpflichtend. Das erlebte Europa stellt ein besonderes Gedächtnis der Welt dar. Das alte Europa wurde schon von Hegel beklagt, dass es zum Waffenlager werde und hoffnungsvoll nach Amerika blicke, über das man damals schreiben konnte: „Amerika ist ein Land der Zukunft, was dort geschieht, ist noch nicht welthistorisch, so wichtig es auch für Europa sein mag, uns geht es nichts an.“46 Doch neben der Last der Geschichte birgt Europa auch die für die Philosophie der Regionalität wichtige Erkenntnis, dass es Fragen gibt, die sich nicht ausradieren oder sauber umgehen lassen. Insbesondere kann die Unruhe nach Jahrhunderten 43 F. Nietzsche: Von der Seligkeit wider Willen. In: Ders.: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Bd. 3. Chemnitz 1884, S. 13 [online]. https://www.deutschestextarchiv.de /book/show/nietzsche_zarathustra03_1884, hier https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsc he_zarathustra03_1884/26 [13. 02. 2021]. 44 Ortega y Gasset, Po co wracamy do filozofii?, (Anm. 22), S. 173. 45 Ebd. 46 Hegel, Die Philosophie der Geschichte, (Anm. 4), S. 59.
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von Kriegen nicht ausradiert werden. Deshalb beginnt Europa, wie ein imaginärer Nietzscheanischer Wanderer, mit der Feststellung: Man soll nur reden, wo man nicht schweigen darf; und n u r von dem reden, was man ü b e r w u n d e n hat, – alles andere ist Geschwätz, „Literatur“, Mangel an Zucht. Meine Schriften reden nur von meinen Überwindungen: „ich“ bin darin, mit allem, was mir feind war, ego ipsissimus, ja sogar, wenn ein stolzerer Ausdruck erlaubt wird, ego ipsissimum.47
Und in diesem Raum sollte uns die Verbindung zwischen dem, was wesentlich, radikal und lebensberührend ist (Nietzscheanisches Denken), und dem, was unendliches Begehren bleibt, beunruhigen, das uns durch René Descartes’ Idee der Unendlichkeit begegnet, und insbesondere durch die Idee des unendlichen Begehrens, die im Begegnungsdenken von Franz Rosenzweig, Emmanuel Lévinas oder Józef Tischner entwickelt wurde. Wie Lévinas schreibt: „Das Unendliche im Endlichen, sich durch die Idee des Unendlichen erfüllend, tritt auf als […] Begehren nach Unendlichkeit, das das Ersehnte niemals befriedigt, sondern nur anregt. Ein vollkommen uneigennütziges Begehren – die Güte.“48 Diese Ideen, die das Endliche und das Unendliche verbinden, werden in Europa geboren und verbinden das Denken über das endliche und das unendliche Zuhause miteinander. Diese Verbindung von radikalem Leben und unendlicher Sehnsucht stellt den Geist Europas dar, denn der europäische Geist schlägt Brücken zwischen dem Verlassen des Hauses, der Entwicklung von Sehnsucht und dem Erkennen des Wertes im Fortbestehen des Hauses, schließlich in der Verflechtung von Endlichem und Unendlichem.
Am Rande – die Lockerung des Seins Gerade wegen der in der Vergangenheit in Europa ausgetragenen Fehden und der blutigen Kriege sollte Europa den Regionen mehr Aufmerksamkeit schenken als den Staaten, indem es das Denken über die Macht der Orte und die Eigenheit der Häuser verstärkt und die Unterschiede gedeihen lässt, denn diese entwickeln – sofern sie nicht politisch gedemütigt und unterworfen werden – eine Existenz „am Rande“ der Welt, die eine verlangsamte und nicht ausreichend beherrschende Existenz ist. Die Macht des Ortes aktiviert unser Leben letztlich dazu, 47 F. Nietzsche: Vorrede. In: Ders.: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Bd. 2. Neue Ausgabe mit einer einführenden Vorrede. Leipzig 1886 [online]. http://www.nietz schesource.org/#eKGWB/MA-II-Vorrede-1 [2. 01. 2021]. 48 E. Lévinas: Całos´c´ i nieskon´czonos´c´. Esej o zewne˛trznos´ci, übers. v. M. Kowalska. Warszawa 2014, S. 41.
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unsere eigenen Orte abzustecken und eine Landkarte des Zuhauses zu zeichnen, anstatt uns zu ermutigen, die Welt zu erobern. Sándor Márai schreibt, dass man die Karte der eigenen Orte mit Präzision zeichnen sollte – „Hier steht das Haus, in dem wir – eine halbe Stunde lang – glücklich waren. Hier liegt diese Ebene, dieser Platz zwischen zwei Seitenstraßen, wo wir die katalaunische Schlacht unseres Lebens geschlagen haben. Hier ist das Kaffeehaus, in dem wir den Westfälischen Frieden geschlossen haben.“49 In dieser Spannung zwischen einem Ort, der seinen eigenen Sinn hat, der außerhalb von uns existiert, und unserem eigenen, vielschichtigen Sinn, in den unsere Erfahrung verstrickt ist, findet unsere Unruhe des Lebens in Europa ihre Wurzeln. Bei Márai finden wir auch diesen Hinweis: In der offiziellen Heimat, in der historischen Heimat, in der Heimat aus Emblem und Fahne, Polizei und Militär, Kodex und Losung, muss man immer wieder aufs Neue, mit zunehmender, immer schmerzhafterer Aufmerksamkeit, mit Beharrlichkeit, Zärtlichkeit und Nachsicht die wahre Heimat suchen, das kann eine Sprache sein, die Kindheit, eine bestimmte Straße mit zwei Platanenreihen, vielleicht ein Tor, in dem ich einmal stand und einer bestimmten Melodie lauschte, die durch das Fenster einer Wohnung im Obergeschoss durch die Welt wehte, oder vielleicht das Wort: „Abendrot“.50
Die Philosophie der europäischen Regionalität, die wir zu errichten/erneuern versuchen, würde sich aus einer, wie Márai es nennt, „immer schmerzhafteren Aufmerksamkeit“ ergeben. Mit dieser auf den Ort gerichteten Aufmerksamkeit, aber auch mit Beharrlichkeit und Nachsicht, verstricken wir uns in den Ort, versöhnen uns mit unseren Wegen, unseren Häusern, den Dingen, die uns durch die Welt tragen. Die Tatsache, dass wir nicht die Einzigen sind, die Orte durchqueren, und dass andere nach uns kommen werden, öffnet uns die Möglichkeit, der Idee des Ortes zu dienen. Geduldig an Ort und Stelle zu sein und „das Sein zu lockern“ bedeutet nicht, die Welt zu beanspruchen oder zu unterjochen. Europa ist eine spektakuläre Lösung beim Einsatz für die individuellen Freiheiten und Respekt für die Entscheidungen des Kollektivs, was sich in einem europäischen Haus niederschlagen sollte. Die Bevorzugung des Hauses ist also ein Akt des Willens. In Europa verbindet die Wahlmöglichkeit Erkenntnis, Erfahrung und Moral. Sie erwächst aus dem Willen, das zu schaffen und zu bekräftigen, was für unsere Verortung wesentlich ist. Die Philosophie des Hauses hat in Europa eine voluntaristische Grundlage, wie jeder Gedanke, bei dem wir etwas betonen, Entscheidungen und Auswahlen treffen sowie Metaphern und Bilder schaffen, die dies verstärken. Der Gedanke ist der Wille, der eine Welt der Wahlmöglichkeiten und der potenziell gegebenen Möglichkeiten der Sorge „um…“ eröffnet. Der kognitive Akt bleibt immer ein moralisch indifferenter Akt. 49 S. Márai: Niebo i ziemia, übers. v. F. Netz. Warszawa 2011, S. 226. 50 Ebd., S. 30.
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Die Sorge um die Erfahrung des Selbst zusammen mit anderen ist – wegen der dialogischen Zeit, der Bühne und des Dramas, das sich wechselseitig zwischen den Menschen entwickelt – im agatologischen Horizont zu sehen, der eine Art Logos des Guten und des Bösen aktiviert, wie Tischner schrieb.51 Für den Denker bot das griechische Wort agathon (das Gute) eine Orientierung bei der Übernahme von Verantwortung für eine Begegnung, nach der wir uns gegenseitig tadeln oder dankbar sein können. Zurückkommend auf unsere Bindung der Willkürlichkeit des Denkens und der Verortung des Menschen in einem moralischen Horizont, können wir im Herzen Europas fragen: Zu welchen Prinzipien bekennst du dich? Warum kümmerst du dich darum? In welchem Namen schützt du es? Wofür kämpfst du? Und diese in Europa erlebte Spannung kann nicht ignoriert werden. Das bereits stattfindende Ringen um den Einfluss im Verkehrswesen, die Wahrung der Unternehmensinteressen, die Ausarbeitung von Normen im Handel, die Verrechtlichung von Verträgen, die Vereinheitlichung von Regeln in der Kommunikation und im Verkehr mit externen Partnern der Union erweisen sich für die Überlegungen zur Idee eines gemeinsamen und geteilten Hauses als problematisch, weil sie das Haus aus dem Blickfeld rücken. Es geht nicht um das Haus, sondern um das Spiel mit sozialen und politischen Unterschieden. Mein Beharren auf der Wertschätzung von Unterschieden innerhalb des Hauses als solchem distanziert sich von dem politisierten Hintergrund. Das Beharren auf einem Haus wesentlicher kultureller statt sozialer Unterschiede ist ein Beharren auf einem Ort, der auf das Defizit des Zuhauses antwortet, eine Art Beharren auf der Aufnahme von Haus und Wohnen in die Spannung von Bewegung und Beständigkeit, und schließlich von Regionalität und Welt. Was aber, wenn das Bekenntnis zum europäischen Haus doch ein Fehler ist? Das Zuhause ist oft ein böses Haus, das uns dazu bringt, andere zu vertreiben, einander feindselig zu sein, die Schwachen zu quälen, geizig zu sein, hemmungslos zu besitzen oder einander zu misstrauen. Es gab einen Widerhall darauf in der europäischen Erfahrung, das Haus mit Fremden zu teilen oder für das Andere zu öffnen. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass das europäische Haus, so angespannt es auch sein mag, immer noch eine in der Kultur befindliche Kraft ist, eine eigentümliche mentale Erfindung, die nicht ignoriert werden kann und die sogar, wenn sie stärker zur Geltung käme, eine Hoffnung auf die Verjüngung Europas darstellte, gerade in dieser Verflechtung von Ort und Wanderung, Offenheit und Bindung, universellem Denken und lokaler Differenz. Die europäische Geometrie des häuslichen Denkens definiert uns. Sie ermöglicht uns, die verborgene Wahrheit zu erkennen, dass das Haus, indem es die Dinge – einschließlich uns selbst – bindet, auch den Kontakt zu den Kräften der Welt 51 Tischner, Filozofia dramatu, (Anm. 16), S. 53.
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darstellt. Das europäische Haus eröffnet das Raum-Zeit-Kontinuum der Erfahrung und der Präsenz, von ihm aus entstehen die Wege, die weiter und näher führen, mit dem zu Hause erfahrenen Muster, dem Gebot der Errichtung und Erhaltung der Welt füllt der Mensch den ihn umgebenden Raum, und schließlich erfährt der Mensch durch die häusliche Verflechtung von Bindung und Leere sowie Tiefe und Schein die Spannung, die in ihm selbst und in der Welt liegt. Europa, einschließlich des Europas der Regionen, bietet eine Lösung für das Praktizieren der Tiefe und Ernsthaftigkeit des Hauses.
Der Hausbewohner und das Universum Europa ist eine Verflechtung von universellen und allgemeinen Wahrheiten mit einer Wertschätzung des Details – das die örtliche Erfahrung, die Sinne, die zufälligen Empfindungen und den Bereich der Praxis (gr. πραξις) verbindet. Der Europäer, der das „Dazwischen“ und die Schaffung von etwas Neuem „an der Schnittstelle“ von Begegnungen transkulturell schätzt, vergisst das Gewicht der Verortung nicht. Der europäische Hausbewohner nimmt das Zuhause angesichts des Universums wahr, das jedes Haus ist, aber er betrachtet die Welt auch durch das Prisma eines konkreten Hauses, was ihm erlaubt, das Bild der Welt zu beugen und in Farben aufzuteilen, indem er in der Welt das Grundlegende, das Häusliche sucht. Er überbrückt mühelos die Kluft zwischen Zufall und Notwendigkeit, Schicksal und Wahl, Fragment und Ganzem sowie zwischen den Stimmen der Höfe, Plätze und Straßen und den Stimmen, die aus den Höhen der Reflexion fernab des städtischen Trubels kommen. Vielleicht erinnert sein Verhalten nicht an die Kühnheit von Zarathustra, der zwischen der Einsamkeit der Einöde der Berge und der Stadt hin und her rennt, aber er berührt ein Anliegen, das sich durch Nietzscheanische Figuren offenbarte – die Bindung des Konkreten, der Sinne, des Körpers, der Kleinigkeiten oder des Zwischenmenschlichen an das Getrennte, das Einsame, das Kristallklare, das Ferne, das Ungewöhnliche. Europa ist die Entdeckung, dass Kultur nicht fundamental und schon gar nicht dogmatisch sein darf. Die Proteste im Namen der Verteidigung der Meinungsfreiheit und des Rechts auf Kritik (und sogar auf bösartige Karikaturen) nach dem Anschlag auf den Sitz des Pariser Satiremagazins „Charlie Hebdo“ im Jahr 2015 waren eine Art Bekenntnis zu Europa als Haus der Werte. Das heißt aber nicht, dass Europa nicht das Denken über den Menschen als jemanden fördern kann, der Fundamente braucht und der Fundamente als Grundmauern erfährt, als Unterbau, Elementarität der Erfahrung, die Einfachheit dessen, was Quelle ist und die weitere Errichtung von Bauwerken des Wissens und der Werte, des Rhythmus und der Hierarchie der Handlungen, der Ordnungen der Dinge, usw. ermöglicht.
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Die Einfachheit der häuslichen Erfahrung, die das Fundament bildet, beruht auf der Tatsache, dass der Mensch „irgendwo“, in einem „Hier und Jetzt“ erscheint, vielleicht auch aufgrund der Schichtung er Generationen, dem Fortbestand der Familien oder der Dauerhaftigkeit der Haustradition (die Biologie würde sie wahrscheinlich in den Strang der Gene einordnen), aber er erscheint plötzlich, weshalb Heideggers Metapher des „In-der-Welt-sein-können“ etwas Grundlegendes auf dem Erfahrungsboden Europas ist. Martin Heidegger schreibt: Denn faktisches Existieren ist nicht nur überhaupt und indifferent ein geworfenes Inder-Welt-sein-können, sondern ist immer auch schon in der besorgten „Welt“ aufgegangen. In diesem verfallenden Sein bei … meldet sich die Flucht aus der Unheimlichkeit, das heißt jetzt vor dem eigensten Sein zum Tode. Existenz, Faktizität, Verfallen charakterisieren das Sein zum Ende und sind demnach konstitutiv für den existenzialen Begriff des Todes. Das Sterben gründet hinsichtlich seiner ontologitschen Möglichkeit in der Sorge.52
Plötzlich, in irgendeinem „Hier und Jetzt“, in irgendeinem „Irgendwo“, sogar „Wohin auch immer“, wie zum „ersten Mal“, obwohl in der ewigen Wiederkehr der Dinge, erscheint der Mensch als ein Hausbewohner, der ein Zuhause braucht – das kulturell auf unterschiedliche Weise geplant wird: sesshaft oder nomadisch, üppig oder sparsam, frei oder streng, usw. Ein Mensch, der seines Zuhauses beraubt wird, wird dessen beraubt, was ihm gehört und wozu er gehört. Was auch immer er tut, wie auch immer er sich bewegt oder vielleicht auch nur treibt, diese Verortung ist die grundlegende Last, durch die der Mensch nach Hause zurückkehrt, den Boden berührt und ihn betritt. Er erhebt sich, „irgendwo“ kommt er an, „von irgendwo“ fährt er ab, er ist „dazwischen“, aber er wird nicht von der Last des Hauses befreit. Das „Hier und Jetzt“ bildet die Grundlage der Erfahrung in Europa und öffnet den Menschen für die geistige Kapazität des Ortes mit seinen Ebenen des Realen und des Unwirklichen. Der Weg, den Menschen in Europa zu verstehen, führt über das Geistige. Paul Ricoeur hatte Recht, dass das Menschliche nicht auf biologische und soziale Rhythmen reduziert werden kann. Über die Bedeutung der Unterscheidung zwischen ipse – als das, was das „Selbstsein“ ausmacht und damit den Weg zu Worttreue und Kontinuität in der Freundschaft öffnet53 – und idem zu diskutieren – als das, was „dasselbe“54 ist, die Bindung der Identität mit der Erzählung im Namen der Idee der narrativen Identität,55 die Anlehnung des Entscheidenden an die Idee des Fortbestehens der Person als jemand, der ein Versprechen gibt 52 53 54 55
M. Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1967, S. 252. P. Ricoeur: O sobie samym jako innym, übers. v. B. Chełstowski. Warszawa 2005, S. 205. P. Ricoeur: Filozofia osoby, übers. v. M. Frankiewicz. Kraków 1992, S. 33. Ricoeur, O sobie samym jako innym, (Anm. 53), S. 245.
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und es hält oder nicht, und schließlich das Einschreiben des Andersseins in die Identität – all dies wird zu einem mutigen Akt der ethischen Herauslösung des Denkens über das Menschliche aus einem soziologisierenden und politisierten Diskurs. In diesem Beharren, die unendliche Dimension des Menschen zu berühren, klingt das im 20. Jahrhundert in Europa entwickelte Drama an, auf das die Antwort seinerzeit ein reduzierender Diskurs sein sollte, der den Menschen auf die psychologische und sozio-historische Ebene reduzierte und sich nicht in Metaphysik verstrickte. Diese Antwort erwies sich als enttäuschend, daher dieses Beharren. Ohne das Ausmaß der dramatischen Tatsachen des vergangenen Jahrhunderts zu unterschätzen, müssen wir trotz allem, oder vielleicht gerade wegen der Grausamkeit und Armut des modernen Denkens, auf die Idee der Verortung zurückkommen.
Das europäische Haus – Verbindung zwischen Fragenden und Suchenden nach Verwurzelung Zeitgenössisches Denken braucht die Idee eines europäischen Hauses, das Spannungen in sich birgt, Ausstieg und Rückkehr verbindet. Das häusliche Denken wirft den Menschen in die moralischen Aufgaben hinein, die sich vor dem abzeichnen, der ein Zuhause hat, und ihm ermöglichen, die anderen freiheitlich zu betrachten und das Gewicht ihrer Eingewöhnung, ihre Mühe zu erkennen, mit dem Haus und dem schon zu Beginn angekündigten Verlust desselben zu ringen. Es schützt vor der Anerkennung des Primats der Entwurzelung, die nur in einer voreiligen Sichtweise zu einem befreienden Bild der anderen und der eigenen Person und einer von Fehden befreiten Welt zu führen scheint. Es ist unmöglich, die Idee der Verwurzelung und des Ortes zu entkräften, denn in ihrer Umarmung bleiben wir ständig, und dank ihr lernen wir die Kraft der Eingewöhnung der Wanderer schätzen. Der Hausmensch sieht in den Anderen den Ernst der Verortung und erkennt den Wanderer als Haushaltsmitglied an. Er trägt die Last der heimischen Raumzeit mit sich, auch wenn er sich frei durch Gebiete bewegt und Entfernungen leicht und schnell überwindet. Die Betrachtung der Wanderer als Hausmitglieder (die mit dem Haus ringen, nach dem Haus suchen, aus dem Haus vertrieben wurden, die Idee der Heimat transformieren usw.) führt zu einem Verständnis für die Ernsthaftigkeit der Begegnungen auf den Straßen der Welt, da wir uns selbst in der Schnittmenge von „unserer“ und „ihrer“ Sorge um Verwurzelung begegnen. Die gemeinsame Sorge um das Haus gibt den Begegnungen ihre Würde zurück. Und Europa bietet einen Raum für solche Begegnungen.
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Die Anerkennung der Last des Hauses – mit dessen Idee wir wandern, die wir auf unseren Schultern tragen, die wir sorgfältig aufbauen, vor der wir weglaufen usw. – zeigt, dass wir nicht so sorglos sind, wie wir uns in glatten Wunschbildern, aus naiver Flüssigkeit gewoben, vorzustellen pflegen. Wir sind diejenigen, die die Last der Behaustheit kennen, die auch die Last des Erfahrungsverlustes kennen, die unbeholfen lernen, sich immer wieder aufs Neue niederzulassen, die das Haus wiederholt zerstört und in Frage gestellt haben, die die Schuld der Vorgänger in sich tragen, die schon an der Schuld der Nachfolger arbeiten. Europa hat das Haus aufgearbeitet und kann sich mit Sorge dem Haus der Unterschiede zuwenden. Es lohnt sich, diese Verbindung zwischen Mensch und Haus zu erkennen und Europa aus dieser Quelle zu schöpfen. Die europäischen Geisteswissenschaften sind ein intimes Gespräch mit dem Haus, eine zusammenhängende Interpretation, die sich aus der Erfahrung von Existenz, Zeit, Schicksal und Ort ableitet. Europa ist in gewisser Weise eine Hermeneutik. Die Erläuterung von sich selbst durch das, was anders ist, bildet unser Fundament. Europa bleibt immer noch Sorge um Sinn und Tiefe, auch wenn es das Spiel der kleinen Differenzen verkündet, die die Sinne verschieben. Das europäische Haus kann als eine große Verbeugung gleichzeitig vor der différance und der hermeneutischen Tradition „gelesen“ werden, die Identität mit Interpretation verbindet und sogar ein Verständnis der eigenen Existenz fordert, während sie gleichzeitig offen ist für das, was anders ist, was von außen kommt. In der Idee von Gadamers Horizontverschmelzung, Heideggers Seinsverständnis oder Ricoeurs Rückbesinnungen finden die Geisteswissenschaften eine affirmative Kraft. Warum überhaupt affirmieren? Ricoeur schreibt, dass „die Affirmation in einer einzigen Bewegung das hervorhebt, was die Negation negieren könnte oder bereits negiert hat; sie bekräftigt die Gültigkeit dessen, was die Negation entkräftet.“56 Um der Entfremdung des Menschen sowie der Entsakralisierung und Technisierung der Welt entgegenzuwirken, sind Hoffnung und Fürsorge von entscheidender Bedeutung. Dies ist der Boden Europas. Die Bestätigung dessen, was es wert ist, bestätigt zu werden, wird wichtig für die Verteidigung des Hauses. Die Verschmelzung von Individualität, Subjekt, Begegnungshaftigkeit und Besorgnis wird zu einer Grunderfahrung für eine häusliche Humanistik, die in Heideggers Sorge Ernsthaftigkeit erkennt – in der Sorge um das „In-der-Welt-sein“, das „Mitsein mit Anderen“: „Auf dem Grunde dieses mithaften In-der-Welt-seins ist die Welt je schon immer die, die ich mit den Anderen teile. Die Welt des Daseins ist Mitwelt. Das In-Sein ist Mitsein mit
56 P. Ricoeur: Praca i słowo, übers. v. M. Łukasiewicz. In: P. Ricoeur: Podług nadziei. Odczyty, szkice, studia, hrsg. v. S. Cichowicz. Warszawa 1991, S. 97.
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Anderen. Das innerweltliche Ansichsein dieser ist Mitdasein.“57 Die Besorgnis um das Sein des Daseins, die uns im europäischen Ideenraum begegnet, entlarvt die „Unheimlichkeit“ als „Nicht-zuhause-sein“, was unser Gefühl der Vertrautheit und der Selbstverständlichkeit des Häuslichen durchbricht, und so korrigiert diese Unheimlichkeit unsere Intimität und Behaustheit oder füllt vielleicht eher die Sorge um das „In-der-Welt-sein“ tiefer aus, das ja nicht als Flucht, sondern als Einnahme eines Ortes gedacht ist. Europa kann nicht umhin, den Ernst der Behaustheit zu erkennen, da es sich so um das Haus fürchtet. Es gibt noch ein weiteres hermeneutisches Moment, das zu beachten ist, wenn wir von Haus und europäischer Verantwortung sprechen – hier müssen wir uns auf Wilhelm Dilthey beziehen. Es geht um Diltheys Postulat, dass die Geisteswissenschaften das Leben berühren sollen, aber auch um die Entdeckung, dass die Grenzen des sich Verstehens durch die Grenzen des Lebens definiert sind und jede Interpretation ein Tragen der Welt ist, weil der Mensch im Erlebten plötzlich ein Ganzes und eine Verbindung darstellt.58 Die europäische Identität findet hier ihre Verwurzelung, denn das Aufgreifen der Heimat – die Berührung mit dem Denken, der Schrift, der Erfahrung des Häuslichen – bindet uns, die wir fragen, die wir suchen, die wir versuchen, Antworten zu geben, an die Behaustheit, verortet uns im Kreis der Verbindung zwischen Leben und Tod. Zu einem Europa, in dessen Mittelpunkt das Haus steht, führt uns das Begehren und die Sorge als auch das Vertrauen in eine rationale Auslegung, die jedoch im Sinne der Lebensberührung umfangreich und wahrhaftig genug ist, um die Erfahrung des Ortes zu erfassen. Von zu Hause aus gehen wir in die Welt hinaus, von zu Hause aus blicken wir zu den Sternen, zu Hause entwickeln wir eine moralische Erzählung, die später die Disziplin des Lebens in einer wandernden und sesshaften Existenz bestimmt. Die Treue zum Leben, zum Haus und zum Ort lässt sich mit kritischer Klarheit des Geistes vereinbaren. Der europäische Imperativ des Respekts vor dem Haus der Unterschiede ist die Reife der Welt. Übersetzt von Marek Krisch
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Aleksandra Kunce
Summary Europe as a Home of Differences. Renewing the Idea of Localness after 1989 The text is an anthropological look at independent thinking, regional longings, and borderline experiences that manifested themselves with great force along with the transformations in Europe after 1989. Not only political and social changes are important here, but also cultural transformations of the way of thinking about autonomy, obligations towards the land, love to develop for home and place materially, socially, and spiritually. Separatism and regionalism are not merely political constructs. The aspirations for independence and the awakening of identity make us rediscover the conscious positioning of ourselves in Europe from the perspective of a philosophical and anthropological awakening. To properly diagnose this individuality, one should look at it through the prism of transcultural experiences of mobility, but also cultural longings of locating oneself. Processed ideas designated by the terms oikos, Heimat, campanilismo, locus are helpful here. They make it possible to renew the perception of the local. This perception is not recognized as what is familiar and small but is the idea of opening to the world from the perspective of the home – strong, independent, but also hospitable to others. Localness is a home that resembles a rough sea and provides a breath of freshness rather than a gesture of locking the door and fitting ‘musty’ display cases. Without the philosophy of the place, it is impossible to understand what is happening with Catalonia, Bavaria, Silesia, Tuscany, Lombardy, South Tyrol, Venice, Vojvodina and Corsica. It is impossible to understand what happened to a human being and the community longing after 1989. Keywords: Europe, home, differences, localness
Monika Blidy (Schlesische Universität in Katowice)
Im Dazwischen. Rózˇa Domasˇcynas Dichten in der „Drittsprache“
Von der Einsprachigkeit bis zur „Spagatkultur“ Die ursprünglich einsprachige Literatur der Lausitzer Sorben existiert seit den 50er Jahren in zweierlei sprachlicher Form: in Sorbisch1 und in Deutsch. Obwohl die deutsche Sprache in der Lausitz bereits seit den intensiven Industrialisierungsprozessen des 19. Jhs. zunächst als Verständigungsinstrument und folglich als Basis der Kommunikation am Arbeitsplatz und im öffentlichen Leben fungierte, so weigerte sich die sorbische Literatur noch gut über ein eineinhalb Jahrhundert lang, Deutsch auch als literarische Sprache anzuerkennen. Der Grund dafür liegt in der spezifischen Stellung des sorbischen Volkes als autochthoner Minderheit. Da die Sorben in ihrer Geschichte nie einen autonomen Staat gegründet haben, sondern in östlichen Teilen des deutschsprachigen Raumes eigenständige Sprachinseln bildeten, war es gerade die sorbische Sprache, der, neben der Tradition, eine identitätsstiftende Funktion zugewiesen wurde. Die sich so über die Sprache konstituierende sorbische Identität musste notwendiger- und konsequenterweise an ein (sprachliches) Medium gekoppelt werden, mit dem die Mitglieder der Minderheit ihren Anspruch auf Zugehörigkeit und Gemeinschaft artikulieren konnten. Wurde der Raum des sozialen, öffentlichen Lebens in einem immer größeren Maße durch die Sprache der dominierenden Mehrheit besetzt, so bot die Literatur einen sicheren Gegen-Raum zum Ausdruck des kollektiven Wir-Bewusstseins. Vor diesem Hintergrund war die Literatur der Sorben seit ihren Anfängen – so wie auch bei allen anderen ethnischen und nationalen Minderheiten der Fall ist – anfangs einsprachig, stark autozentrisch und auf die Abgrenzung gegenüber der umgebenden Majorität hin 1 Um den Lesefluss zu erleichtern, wird im vorliegenden Beitrag für beide Regionalsprachen Obersorbisch und Niedersorbisch der Gesamtbegriff „Sorbisch“ verwendet. Zum Gebrauch von Gesamtbezeichnungen „sorbische Sprache(n)“, „Sorbisch“, „sorbische Literatur“ im wissenschaftlichen Diskurs vgl. R. Marti: Probleme europäischer Kleinsprachen. Sorbisch und Bündnerromanisch. München 1990; Ch. Piniekowa: Kleinliteratur – Versuch einer Begriffsbestimmung am Beispiel sorbischer Literatur. In: „Letopis“ 45 (1998) 1, S. 3–11.
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ausgerichtet. Da die Frage der Selbstbehauptung als Sorbe generell im Hinblick auf die Sprache entschieden wurde, nahm die Wahl des sprachlichen Codes (Sorbisch oder Deutsch) auch in der schöpferischen Dichtungspraxis die Form eines persönlichen Bekenntnisses2 für oder gegen die eigene Sprache (implizit: für oder gegen das Gefühl der Zugehörigkeit zum sorbischen Volk an. Folglich, im Bewusstsein der auf ihm ruhenden Verantwortung für die Aufrechterhaltung der eigenen Kultur, sollte und wollte der sorbische Autor in Sorbisch für die Sorben und über die Sorben schreiben. Die individuelle, kreative Entscheidung des Dichters trat somit in den Hintergrund und wurde durch Prinzipien der Zweckmäßigkeit überblendet. Dieser gemeinschaftsbindende Auftrag der Literatur oblag sorbischen Schriftstellern bis hin in die 50er Jahre des 20. Jhs., bis die Pflege der sorbischen Sprache und Kultur in der DDR institutionalisiert wurde. Abgesehen von den Kulissen und vom qualitativen Wert dieser Sprach- und Kulturpflege seitens der ostdeutschen Kulturpolitik, wurde den Sorben als Minderheit zum ersten Mal in der Geschichte ein rechtlicher Schutz zuerkannt. Auf Anhieb setzte eine rasche Entwicklung des sorbischen Literaturbetriebes, des Theaterwesens, des Bibliotheks- und Verlagswesens ein, kurz: Die sorbische Kultur, gefördert großzügig durch die DDR, befand sich im Aufwind. Parallel dazu fand ein Umdenken statt, dem veränderte Vorstellungen vom bisher gespannten Verhältnis zwischen dem „Sorbe-Sein“ und „Deutsch-Sein“ zugrunde lagen: Da die größere und mächtigere (ost-)deutsche Nachbarschaft sich – zumindest offiziell und deklarativ – freundschaftlich gesinnt und unterstützend zeigte, konnte sich der bisher hermetische Kulturkreis der Minderheit vorsichtig auf einen kulturellen Austausch mit der Mehrheit hin öffnen. Die Erstpublikation von Jurij Breˇzans Auf dem Rain wächst Korn 1952 in zwei parallelen Autorversionen in Sorbisch und in Deutsch markierte einen radikalen Wendepunkt in der Literatur der Sorben und leitete die literarische Zweisprachigkeit in der Lausitz in die Wege. Mit der Anerkennung des Deutschen als literarischer Sprache ging eine neue Herangehensweise an tradierte Wahrnehmungsmuster einher, auf denen die Minderheit ihre defensive und isolationistische Erhaltungsstrategie aufgebaut hatte. Die bisherige, stark kontrastierende Konstellation sorbisch/deutsch erwies sich als unzulänglich und inkompatibel im Hinblick auf die nun veränderten Lebensbedingungen, zumal das in seiner Existenz nicht mehr bedrohte sorbische Volk sich im Verhältnis zur deutschsprachigen Mehrheit neu positionieren musste. Eine durchaus zutreffende Diagnose über das veränderte Selbstverständnis der Sorben am Beginn des 21. Jahrhunderts stellte Karl-Markus Gauß:
2 Vgl. E. Kledzik: Poetycki projekt Rózˇy Domasˇcyny mie˛dzy folklorem i nowoczesnos´cia˛. In: „Poznan´skie Studia Slawistyczne“ 8 (2015), S. 67–82, hier S. 68.
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Die alltägliche Nähe einer anderen Sprache wird so endlich nicht mehr als Bedrohung erfahren, sondern als Chance; die uralte, nicht unberechtigte Angst, germanisiert zu werden, löst sich in der Erleichterung, daß man Sorbe und Deutscher sein, auf sorbisch und auf deutsch denken, sprechen, dichten kann.3
Diese einmal in Gang gesetzten kulturellen Prozesse der Neuorientierung und Neudefinierung liefen am Ausgang des 20. Jahrhunderts in einem deutlichen Paradigmenwechsel zusammen: Die polarisierende Dialektik der Unterschiede und der Gegensätze wurde durch pluralisierende Diskurse ersetzt. Die Revision von Grenzen brachte dabei keine neuen Grenzziehungen mit sich, sondern deren Auflockern, bis sie instabil, fließend, schließlich durchlässig wurden. Kategoriale Gegenpole wie Eigen-Fremd, Hier-Drüben, die das Verhältnis zwischen der Minorität und der Dominante strukturierten, verschmolzen in einem integrierenden Raum des Übergangs und der Fluktuation. Diese Transformationen fanden auch die Aufmerksamkeit von Kulturforschern und wurden als „Spagatkultur“, „Entweder-und-Oder-Modell“ oder in Anlehnung an postkoloniale Theorien Homi Bhabhas als „hybride Welten“ konzeptualisiert4. Die sorbischdeutsche „Grenze“ weitete sich somit zu einem verbindenden Raum5 aus, den es neu zu besetzen galt. Jenes „Leben im Spagat“, verstanden als die Möglichkeit „je nach Bedarf aus dem kulturellen Reservoir sowohl der […] Minderheitskultur wie der Mehrheitskultur“6 zu schöpfen, findet heutzutage seinen Ausdruck in voller Gleichberechtigung beider Sprachen auf dem Gebiet der Literatur. Es ist allein dem Autor überlassen, welches sprachliche Gewand er seinem Text anlegt. Dabei stehen dem sorbischen Schriftsteller verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung: Er kann einen sorbisch- oder einen deutschsprachigen Originaltext ohne Textäquivalent in der jeweiligen Zweitsprache, eine deutsche Autorversion eines sorbischen Originals oder eine Interlinearübersetzung vorlegen.7 Die Wahl der jeweiligen Sprache ist nicht mehr national-ideologisch bedingt, verbindet sich aber mit einem prekären Dilemma – um den Klassiker zu par3 K.M. Gauß: Die sterbenden Europäer. Unterwegs zu den Sepharden von Sarajevo, Gottscheer Deutschen, Arbereshe, Sorben und Aromunen. Wien 2001, S. 164. Hervorhebung durch Kursivschrift M.B. 4 Vgl. E. Tschernokoshewa: Geschichten vom hybriden Leben. Begriffe und Erfahrungswege. In: Auf der Suche nach hybriden Lebensgeschichten. Theorie-Feldforschung-Praxis, hrsg. v. M. Juric´ Pahor, E. Tschernokoshewa. Münster [u. a.] 2005, S. 9–41, hier S. 16ff. 5 Vgl. W. Koschmal: Grundzüge sorbischer Kultur. Eine typologische Betrachtung. Bautzen 1995, S. 126f. 6 E. Tschernokoshewa: Nachdenken über Zugehörigkeiten. Leben im Spagat. In: Entweder-UndOder. Vom Umgang mit Mehrfachidentitäten und kultureller Vielfalt, hrsg. v. E. Müllner. Klagenfurt 1999, S. 106–124, hier S. 113. 7 Vgl. W. Koschmal: Perspektiven sorbischer Literatur. Eine Einführung. In: Perspektiven sorbischer Literatur, hrsg. v. W. Koschmal. Böhlau [u. a.] 1993, S. 9–50, hier S. 40.
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aphrasieren – als Dichter sichtbar sein oder nicht sichtbar sein, zumindest für den nicht-sorbischen Leser. Da die allgemeine Kenntnis des Deutschen in deutlicher Asymmetrie zu der immer schrumpfenden Zahl von aktiven Sprechern des Sorbischen steht, bestimmt der Autor mit seiner Sprachentscheidung zugleich auch den Rezipientenkreis. Hinzu kommt die offensichtliche Inkompatibilität der beiden Sprachen, die von objektiv nachweisbaren strukturellen und semantischen Unterschieden bis hin zur subjektiven Wahrnehmung des Deutschen und des Sorbischen im Hinblick auf Melodie und Temperatur reicht.8 Folglich, um den Texten die gewünschte Aussagekraft zu verleihen, das wirkungsästhetische Potenzial der jeweiligen Sprache voll auszuschöpfen und dabei die jeweilige Zielgruppe von Lesern (ganz grob in sorbisch oder nicht-sorbisch eingeteilt) anzusprechen, bewegen sich zeitgenössische Autorinnen und Autoren9 aus der Lausitz stets zwischen zwei Sprachen hin und her. Einen Schritt weiter wagt Rózˇa Domasˇcyna (*1951): Statt paralleler Autorversionen oder abwechselnd vorgelegter deutsch- oder sorbischsprachiger Originale verbindet sie – durch ein geschicktes Spiel mit dem deutschen und dem sorbischen Vokabular – zwei Sprachen in einem Text.
Das Experiment des Sich-Mitteilens Die aus einem kleinen sorbischen Dorf Sernjany (dt. Zerna) stammende Rózˇa Domasˇcyna debütierte relativ spät. Nach Abschluss der Ausbildung als Wirtschaftskauffrau studierte sie Bergbau und war anschließend als IngenieurÖkonomin elf Jahre im Braunkohletagebau beschäftigt. Nebenbei publizierte sie, wie die meisten angehenden Autorinnen und Autoren aus der Lausitz, in der lokalen Presse ihre ersten Gedichte auf Sorbisch10. Erst das Literaturstudium in Leipzig in den Jahren 1985–1989 brachte für sie die Entdeckung des Deutschen als literarischer Sprache mit. 1990 gab sie letztendlich den erlernten Beruf auf und beschloss, als freie Schriftstellerin die hinter den Worten verborgenen Bedeutungen und Inhalte zutage zu fördern. Schon zu Beginn ihrer literarischen Laufbahn war die Dichterin auf der Suche nach eigenen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten, die es ihr erlaubten, einfachen Zuordnungen und Etikettierungen zu entkommen. Diese Möglichkeit bot ihr die Kenntnis beider Sprachen. Sorbisch – von ideologi8 R. Domasˇcyna: „den rückzug vor uns alle wege offen“. Interview mit Fragen von Walter Koschmal. In: Perspektiven sorbischer Literatur, (Anm. 7), S. 69–78, hier S. 77. 9 Bis auf wenige Ausnahmen publiziert eine überwältigende Mehrheit gegenwärtiger sorbischer Autoren in beiden Sprachen. 10 Die Dichterin schreibt in der Regionalsprache Obersorbisch; im vorliegenden Beitrag wird die gekürzte Sprachbezeichnung „Sorbisch“ verwendet; siehe auch: Anm. 1.
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schem Ballast eines zu bewahrenden Erbes – und Deutsch – von seinem historisch bedingten, bedrohlichen Gepräge befreit, wurden für sie zum Rohmaterial für die spielerische Schaffung eines neuen poetischen Codes, ihrer „eigenen Sprache“11. Nach eigenem Bekunden beabsichtigte die Autorin jedoch nicht „das Spiel um des Spielens oder nur um der Form willen“, ebenso fremd waren ihr Gedanken an „Rhetorik, Didaktik, [an] die Monotonie des gleichbleibenden Klanges, [an] bloße »Schönheit« [des Textes]“.12 Stattdessen wollte sie ihre Lyrik nicht nur als „Wortexperiment“ verstanden wissen, sondern – in übergreifender Bedeutung – als „Experiment des Sich-Mitteilens“13. Das Selbstverständnis der Dichterin und somit die Ausdruckstärke ihrer Dichtung liegt in der poetischen Verankerung im Dazwischen, im Liminialen. Im mutigen Akt der ästhetischen Selbsterschaffung leugnet Domasˇcyna nationale, kulturelle Einordnungen und Zuschreibungen und betont den Wert der individuellen Erfahrung, die als solche subjektiv und daher nicht nachweisbar, nicht an bestimmten Kriterien eindeutig gemessen werden kann. Dies kommt besonders aussagekräftig in einer als Interview angelegten Szene Windeierei zum Ausdruck, in der sich ein mit dem Namen nicht genannter Sprecher weigert, Auskunft über seine Muttersprache zu geben: […] A: Sie müssen in der eigenen sprache sprechen B: unbedingt / aber in allen auf einmal oder durcheinander A: in der ersten B: ich kreise jetzt mit dem finger über den sprachinseln / schließe die augen und tippe auf eine / das ist dann die erste A: aber diese kann nie die erste sein höchstens die dritte / nehmen Sie jene die Sie zuerst lernten / die muttersprache B: die ich zuerst lernte sprach nur der vater / die ich fünfeinhalb tage später lernte sprach nur die mutter / ich lebe vielmehr in der dritten A: Sie wollen mir doch nicht weißmachen / dass Sie in einer drittsprache leben B: ja erstklassig A: bleiben wir doch bei der muttersprache B: die mutter hatte ihrer vier / zwei von den großmüttern zwei von den großvätern […] A: aber die muttersprache!14
Jeder Versuch des Interviewers, den Befragten in einen konkreten (nationalsprachlichen) Kontext zu zwängen, geht daneben, da die Bestimmung der „ersten 11 Zit. nach: J. Töpert: Kunst- und Kulturschaffende. Erfahrungen und Positionen zu sorbischer Identität, Bikulturalität und Kunst. In: Auf der Suche nach hybriden Lebensgeschichten. Theorie-Feldforschung-Praxis, hrsg. v. M. Juric´ Pahor, E. Tschernokoshewa. Münster [u. a.] 2005, S. 201–233, hier S. 221. 12 Domasˇcyna, „den rückzug vor uns alle wege offen“, (Anm. 8), S. 76. 13 Ebd., S. 69. 14 R. Domasˇcyna: Windeierei. In: Dies.: Kunstgriff am netzwerg. Ottensheim 1999.
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Sprache“ sich als unmöglich erweist: neben der Muttersprache sind es die „Vatersprache“, zwei „Großmüttersprachen“ und zwei „Großvätersprachen“, die den ausgeweiteten Raum seines sprachlichen Agierens konstituieren. Die Befragung nach der „einzig legitimen“ Sprache (d. h. über die der Muttersprachler als solcher eindeutig identifiziert werden kann) erscheint somit als sinnlos. Mehr noch – der Befragte hört „auf keine Befehle“, entzieht sich ausdrücklich einer eindeutigen Kategorisierung und im Gestus einer Verselbständigung beansprucht er für sich allein das Recht auf die (Selbst-)Identifikation. Der Prozess der Autonomisierung, des Sich-Loslösens von sprach- bzw. kulturbedingten Wahrnehmungsmustern ist für Domasˇcynas Werk kennzeichnend. Die Dichterin hinterfragt nationalsprachlich fixierte Etikettierungen, zerrt an deren Grenzen und schafft Grundlagen für eine flexible, hybride Identität im Zwischenraum der Sprachen. Ihr Konzept der literarischen „Drittsprache“ rückt somit in das Spannungsfeld gegenwärtiger anti-essentialistischer Identitätsdiskurse, die Identitäten nicht als etwas Konstantes, sondern als (Zwischen-)Ergebnis von Prozessen und verschiedensten Überlagerungen auffassen.
Von der Selbstdistanz bis zur (Selbst-)Doppelung Die Literarisierung des Liminalen vollzieht sich in Domasˇcynas Dichtung auf zwei Ebenen – der inhaltlichen und der sprachlich-formalen. Exemplarisch hierfür steht insbesondere der 1998 erschienene Gedichtband selbstredend, selbzweit, selbdritt, in dem die Dichterin Ausdrucksmöglichkeiten eines innerlich nicht homogenen „Zwitterwesens“15 überprüft. Die Aufdeckung der immanenten Heterogenität erfolgt im bereits durch den Bandtitel angedeuteten Dreischritt: vom Monolog „skrupulöser oder lustvoller Selbstbefragung und -gewißheit“16 (selbstredend), über „Zwiegespräche“ (selbzweit) bis hin zur übermutigen Multiplizierung von Stimmen und Sprachen (selbdritt). Eine gewissenhafte Selbstanalyse, die das lyrische Ich im ersten Teil des Bandes vornimmt, führt unweigerlich zur Erfahrung der inneren Spaltung: „Dazwischen ist ein kahlgetretner pfad, der / die längsachse des körpers teilt, […] / So bleibt der zwiespalt in der person stecken.“17 Die metaphorische Zweiteilung des Körpers wird dabei nicht als vollständige Zerlegung, Auftrennung in zwei separate Teile imaginiert. Die Trennlinie, die quasi entlang der Wirbelsäule verläuft, fungiert nicht als Bruchstelle, sondern vielmehr als eine Art oft be15 R. Domasˇcyna: Die gewöhnlichen gewächse. In: R. Domasˇcyna: selbstredend, selbzweit, selbdritt. Berlin 1998, S. 68. 16 Vgl. Klappentext zum Gedichtband selbstredend, selbzweit, selbdritt, (Anm. 15). 17 R. Domasˇcyna: Wo ich bin. In: Dies.: selbstredend, selbzweit, selbdritt, (Anm. 15), S. 12.
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schrittenen und daher ausgetretenen Übergangs, was auf einen regelmäßig stattfindenden Kontakt bzw. Austausch zwischen beiden Sphären schließen lässt. Vor diesem Hintergrund scheint die These des Sorabisten Christian Prunitsch berechtigt zu sein, dass Teilung in Domasˇcynas Gedichten nicht zur Trennung, sondern zur Doppelung führt.18 Das Motiv der Entzweiung und der erneuten Symbiose durchzieht in verschiedensten Gestaltungen zahlreiche Gedichte und kommt nicht zuletzt bereits in den Gedichttiteln wie Zertrennung der Maria, Zwischen selbst und selbander, Entzweiung, Unterm doppelstern zum Vorschein. Neben abstrahierenden, philosophisch anmutenden Reflexionen über die innere Zwiespältigkeit konkretisiert die Dichterin das Phänomen der Doppelung unter Rückgriff auf ihre eigenen Erfahrungen als Mitglied der sorbischen Minderheit. Ihr poetisches Interesse gilt insbesondere den facettenreichen Aspekten der Bilingualität und Bikulturalität, die als Konstutienten einer flexiblen Identität erscheinen. Im Hinblick auf Domasˇcynas Werk lässt sich „flexibel“ als „weder (ausschließlich) hier noch da verortbar“ übersetzen, was die Autorin bereits in der ersten Zeile des bekannten Gedichts Triangel regional programmatisch formuliert: „Ich gehöre nicht wirklich dazu“.19 Das Gefühl der Nichtzugehörigkeit soll durch den fremd klingenden Wortlaut des Familiennamens Domasˇcyna erzeugt werden („diese kschtschrschkombination in meinem namen / hat man hier nicht“)20, weswegen sich das lyrische Ich genötigt sieht, einen neuen Namen anzunehmen, der eine eindeutig identifizierende und inkludierende Wirkung hätte. Das lyrische Subjekt erprobt verschiedene Formen der Eindeutschung („Häusler Hausmann Hauser“)21, dieser Versuch misslingt jedoch, da die neuen Namen nicht mit seinem „slawischen“ Aussehen korrespondieren. Der alternative Versuch, den Namen zurück in einen möglichst sorbisch klingenden zurück zu verwandeln („Keschroschasch“)22 ist aber ebenfalls zum Scheitern verurteilt, da das Experimentieren mit Namensvarianten in einen Wort-Wirrwarr mündet, ohne dass der „richtige“ Name gefunden wird. Die Namens(er)findung erscheint somit als ein verfehlter Weg zur Identitätsfindung, da das Ich als Doppel-Wesen sich nicht durch einfache Zuordnungen ins Entweder-Oder-Schema hineinzwängen lässt. Die Frage der Zugehörigkeit bleibt letzten Endes unentschieden, was doch gar „keinen Unterschied […] im Spiegel“23 macht. Ganz im Zeichen der Poetik der Körperlichkeit24 findet das lyrische 18 Vgl. Ch. Prunitsch: Nachwort. In: Das Meer – Die Insel – Das Schiff. Sorbische Dichtung von den Anfängen bis zur Gegenwart, hrsg. v. K. Lorenc. Heidelberg 2004, S. 263–275, hier S. 273. 19 R. Domasˇcyna: Triangel regional I. Ich gehöre nicht wirklich dazu. In: Dies.: selbstredend, selbzweit, selbdritt, (Anm. 15), S. 73. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Ebd.
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Ich zu sich selbst nicht durch die Identifizierung mit seinem Namen, sondern durch das Wiedererkennen im Spiegelbild: wo sich meine augenlider heben und senken die nasenflügel blähen und verengen die kinnlade nach rechts und links geht beim sprechen und atmen und zischen25
Der Fokus verschiebt sich somit von der Bezeichnung auf das Bezeichnete, von der Sprache auf den Sprecher, der sich von sprachlichen Etikettierungen befreit und sich der Sprache(n) eigenmächtigt bedient. Prinzipielle Nicht-Homogenität, die als Resultante von ständig wechselnden inneren wie äußeren Spannungen zum Wesensmerkmal des poetischen Subjekts modelliert wird, erstreckt sich bei Domasˇcyna auf weitere Metaebenen. Von der inneren Uneinigkeit des Ichs ausgehend erweitert die Dichterin den Blickwinkel um die Perspektive eines außenstehenden Anderen, indem sie das Prinzip der Doppelung auf die Sphäre einer intimen Begegnung projiziert. Das lyrische Ich bezieht ein lyrisches „Du“ in ein binär angelegtes Spannungsfeld mit ein, das teils als seine Ergänzung oder gar als Alter-Ego, teils als sein Widerpart erscheint. Der ursprüngliche Monolog weitet sich zum Dialog, das „Ich“ poetisch zu einem „Wir“ aus. In diesem dialogischen Zusammentreffen sieht Domasˇcyna ein großes produktives Potenzial für die Erschaffung eines neuen, sprachlichen Zwischenraumes. Die Geburt der neuen, interaktiven (Kunst-)Sprache als Ergebnis der Ich-Du-Interaktion imaginiert Domasˇcyna oft unter Rückgriff auf die Erotik: Die Lyrikerin entdeckt die metaphorischen Potenziale des Begriffs [„Geburt“ – M.B.] und realisiert diese in der physiologischen Auffassung aktueller Wandlungsprozesse als Zeugen und Gebären einer neuen Sprache mit allen Implikationen. […] Der sprachliche Akt weitet sich zum sexuellen, lustvoll erotischen, vielgestaltigen sprachlichen Interagieren.26
Im Gedicht Entzweiung korrespondiert die körperliche Vereinigung der Liebenden mit den auf der Sprachebene stattfindenden grammatischen Transformationen. In den ersten Zeilen beschreibt das lyrische Ich die Begegnung von zwei Liebhabern, die lediglich mit dem jeweils im Singular stehenden Personalpronomen „sie“ und „er“ etikettiert werden. In der Mitte des Textes geht die Singularform in den grammatischen Plural über: „beide gehen öffnen die haustür / […] gehen die treppe hoch / schließen die wohnungstür auf“.27 Nachdem sich 24 Vgl. Ch. Prunitsch: Sorbische Lyrik des 20. Jahrhunderts: Untersuchungen zur Evolution der Gattung. Bautzen 2001, S. 295. 25 Domasˇcyna, Triangel regional I, (Anm. 19), S. 73. 26 W. Koschmal: Globalisierung als literarisches Phänomen. Zu den Sorbinnen Rózˇa Domascyna und Marja Krawcec. In: „Zeitschrift für slavische Philologie“ 62 (2003), S. 387–419, hier S. 396. 27 Domasˇcyna, Entzweiung. In: Dies.: selbstredend, selbzweit, selbdritt, (Anm. 15), S. 43.
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die beiden „ins bett begeben“, werden „beide eins“, was entsprechend in der formalen Ebene transkribiert wird: Von nun an erscheint anstelle von den „beiden“ – „ein paar“. Formal betrachtet liegt hier wiederum eine Singularform vor, die aber stellvertretend für den semantischen Plural steht: „das paar / schläft wacht auf / […] tritt aus der wohnungstür / geht die treppe hinab / öffnet die haustür“.28 In einer akribisch-methodischen Vorgehensweise versucht Domasˇcyna für das im Zentrum ihres Interesses stehende Phänomen der Doppelung die geeignetsten sprachlichen Elemente herauszufinden. Dabei erprobt sie die Möglichkeiten, die ihr die Gesetzmäßigkeiten der beiden Sprachen Sorbisch und Deutsch bieten, etwa wie beim Versuch, den sorbischen Dual im Deutschen wiederzugeben.
Im mehrstimmigen Wort-Geflecht Neben der Verwendung von etwas verschleiernder, erotischer Poetik realisiert Domasˇcyna das Motiv der Verbindung durch das wortwörtliche Hin- und Herspringen zwischen den Sprachen. Hierbei wird direkt das Problem der sprachlichen Vielfalt aufgegriffen, aus der sich eine neue Qualität ergeben kann. „Im zwieland mit doppelzüngiger duellität“29 zu Hause, reflektiert Domasˇcyna Prozesse des sprachlichen Transfers: „wenn die sprachen sich angleichen meine / in der deinen ein und aufgeht ah! wie / sich da umlaut und vorsilbe mischen keine / einsilbigkeit aufkommt.“30 Das Wechselspiel von Spaltung und Verschmelzung wird wiederum an das Phänomen der Mehrsprachigkeit gekoppelt. Von einer Zeile zur anderen wechselt die Dichterin quasi die Nationalität und thematisiert die prekäre Stellung zwischen zwei Sprach- und Kulturwelten. Sie bietet allerdings keine eindeutige Lösung an, wie der spannungsreiche Konflikt gelöst werden kann, sondern ästhetisiert ihn, indem sie beide Sprachen, Sorbisch und Deutsch, verfremdet. Dies ist ein bewusstes Vorhaben der Autorin, denn das Fremde sei – wie sie selbst erklärt – „immer reizvoller, weil die Bereitschaft zum Aufnehmen des Angebotenen größer ist.“31 Die Positionierung zwischen den Sprachen erlaubt es der Schriftstellerin, beide Sprachen gleichsam aus einer gewissen Distanz zu betrachten, Wörter von ihren ursprünglichen Bedeutungen zu lösen und mutig miteinander zu kombinieren. Interessanterweise finden diese Transformationen in beide Richtungen statt, d. h. nicht nur durch die Aufnahme von neuem Sprachmaterial durch die 28 29 30 31
Ebd. Domasˇcyna, Unterm doppelstern. In: Dies.: selbstredend, selbzweit, selbdritt, (Anm. 15), S. 46. Domasˇcyna, Vokalintermezzo. In: Dies.: selbstredend, selbzweit, selbdritt, (Anm. 15), S. 8. Domasˇcyna, „den rückzug vor uns alle wege offen“, (Anm. 8), S. 77.
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Minderheitensprache, was – rein soziolinguistisch betrachtet – als Resultante von natürlichen Prozessen der sprachlichen Assimilation aufzufassen wäre, sondern auch durch das Eindringen der Minderheitensprache in die Mehrheitssprache. Auf diese Weise gelingt es der Autorin, das Postulat der poetischen Hybridität zu verwirklichen, wo „nicht eine absolute Differenz zwischen Eigenem und Fremden, sondern die teilweise Präsenz des einen im anderen sichtbar wird.“32 Exemplarisch hierfür steht das Gedicht Die tödin kommt, in dem Domasˇcyna das akute Problem des Sprachensterbens berührt. Den Tod einer Sprache („die sprache verröchelt“)33 verbindet die Autorin mit dem Ende einer Welt; um dem entgegenzuwirken stellt sie das lyrische Ich vor die Aufgabe, eine neue Welt ins Leben zu rufen, indem diese wie am ersten Schöpfungstag aufs Neue zu benennen ist: ich benenne noch einmal die dinge im bilderbuch wie im anfang: swontschko die sonne gelegt in die wasser der flüssin nebenher die füchsin die zugleich fuchs ist und starka die gänsin34
Der Akt der Weltschöpfung entsteht durch den Akt der Wort(neu)schöpfung, da die Erschaffung der Welt durch die Neubenennung der Dinge als einzige Möglichkeit erscheint, die „verröchelnde Sprache“ hinüberzuretten. Im kreativen Schreibprozess wird von der Autorin sorbisches Vokabular in die deutsche Sprache hineingetragen, es geht jedoch nicht im Deutschen unter, sondern verändert es und bereichert. Dies erfolgt auf verschiedenen Sprachebenen, etwa durch die Übernahme des sorbischen Genus (sorbische Feminina „woda“, „re˘ka“ machen deutsche maskuline Äquivalente feminin: „die wasser“, „die flüssin“) oder durch die Transkribierung sorbischer Wörter mit deutschen Graphemen („słóncˇko“ [„die sonne“] wird zu „swontschko“). Der bedrohende Sprachentod („die tödin“) wird in seiner auslöschenden Wirkung entkräftet, indem das Sterben in seinem personenbezogenen Aspekt betont wird. Die Überzeugung, dass Sprache ein in seiner Besonderheit unikales Mittel des Sich-Ausdrückens eines Individuums ist, lässt die Hoffnung aufkommen, dass sie durch einen persönlichen, zwischenmenschlichen Austausch übernommen und weitergegeben werden kann: jede sprache verendet mit einem menschen doch wenn du ihn nachahmst läßt du ihn auferstehn in deiner person35 32 33 34 35
Tschernokoshewa, Geschichten vom hybriden Leben, (Anm. 4), S. 24. Domasˇcyna, Die tödin kommt. In: Dies.: selbstredend, selbzweit, selbdritt, (Anm. 15), S. 9. Ebd. Ebd.
Im Dazwischen. Rózˇa Domasˇcynas Dichten in der „Drittsprache“
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Nach Domasˇcyna ist es insbesondere das produktive Potenzial von Neologismen, das immer neue Räume für die Entwicklung der vom Aussterben gefährdeten Sprache eröffnet. Einem ständigen Wandel unterworfen, bleibt sie lebendig und auf diese Weise kann ihre Kontinuität gewährleistet werden. Das Dichten in der poetischen Drittsprache erlaubt es der Autorin auf minderheitenrelevante Fragen einzugehen, ohne jedoch in einen aufdringlich didaktischen Ton zu verfallen. Vielmehr verselbstständigt sich die neue Drittsprache an der Grenze zwischen Deutsch und Sorbisch in vielen Gedichten zu einem poetischen Code, der Besonderheiten und Ähnlichkeiten beider Sprachen als ein spielerisches Durcheinander evoziert (wie etwa: „der patrijotism der witz prysl“)36. Domasˇcynas Wortexperimente offenbaren insbesondere ihre Vorliebe für die Ästhetik der Klanggestaltung; auffällig ist die Konzentration auf den phonetischen Aspekt der Sprache, die der lautlichen Modellierung der Texte den Vorrang vor inhaltlichen einräumt. „Das Wortspiel ist ein Teil meiner Arbeit – ein lustiger Teil. Dieser Teil hat viel mit Musik zu tun, mit der Musik der Sprache, oder der Sprachen, mit der Musik der Worte“37 – erklärt die Dichterin. In Gedichten wie Kunstgriff, Für O.P., Wortall kommt ihre Freude an Sprachexperimenten ebenso deutlich zum Ausdruck sowie ihr Trotz, sich nicht im Netz nur einer Sprache einfangen zu lassen. Auf den Titel des letztgenannten Gedichtes greift der Sorabist Walter Koschmal zurück, um Domasˇcynas breit angelegtes Konzept der Drittsprache unter einem Begriff zu subsumieren: „Im Begriff »Wortall« steckt […] das totalisierend Ganze, der grenzenlose Sprachraum, der keine inneren Grenzen mehr kennt, weil sich Teil und Ganzes ständig weiter fort spiegeln.“38 Durch die Überschreitung der Sprachgrenzen schafft Domasˇcyna eine neue, hybride Kunstsprache und somit einen poetischen Zwischenraum, in dem „Ich“ und „Du“, Abgrenzung und Zugehörigkeit, Eigenes und Fremdes fluktuieren, sich ergänzen und im unendlichen Wechselspiel verdoppeln und erweitern. Ihr kreatives Experiment bahnt somit neue Wege für die Weiterentwicklung der Zweisprachigkeit und lässt neue Chancen zum Überleben der Kleinsprachen erkennen.
Bibliografie Domasˇcyna R.: „den rückzug vor uns alle wege offen“. Interview mit Fragen von Walter Koschmal. In: Perspektiven sorbischer Literatur, hrsg. v. W. Koschmal. Böhlau [u. a.] 1993, S. 69–78. 36 Domasˇcyna, Wortall. In: Dies.: selbstredend, selbzweit, selbdritt, (Anm. 15), S. 92–93, hier S. 92. 37 Zit. nach: Prunitsch, Sorbische Lyrik, (Anm. 24), S. 289. 38 Koschmal, Globalisierung als literarisches Phänomen, (Anm. 26), S. 412.
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Domasˇcyna R.: Kunstgriff am netzwerg. Ottensheim 1999. Domasˇcyna R.: selbstredend, selbzweit, selbdritt. Berlin 1998. Gauß K.M.: Die sterbenden Europäer. Unterwegs zu den Sepharden von Sarajevo, Gottscheer Deutschen, Arbereshe, Sorben und Aromunen. Wien 2001. Kledzik E.: Poetycki projekt Rózˇy Domasˇcyny mie˛dzy folklorem i nowoczesnos´cia˛. In: „Poznan´skie Studia Slawistyczne“ 8 (2015), S. 67–82. Koschmal W.: Globalisierung als literarisches Phänomen. Zu den Sorbinnen Rózˇa Domascyna und Marja Krawcec. In: „Zeitschrift für slavische Philologie“ 62 (2003), S. 387– 419. Koschmal W.: Grundzüge sorbischer Kultur. Eine typologische Betrachtung. Bautzen 1995. Koschmal W.: Perspektiven sorbischer Literatur. Eine Einführung. In: Perspektiven sorbischer Literatur, hrsg. v. W. Koschmal. Böhlau [u. a.] 1993, S. 9–50. Prunitsch Ch.: Nachwort. In: Das Meer – Die Insel – Das Schiff. Sorbische Dichtung von den Anfängen bis zur Gegenwart, hrsg. v. K. Lorenc. Heidelberg 2004, S. 263–275. Prunitsch Ch.: Sorbische Lyrik des 20. Jahrhunderts: Untersuchungen zur Evolution der Gattung. Bautzen 2001. Marti R.: Probleme europäischer Kleinsprachen. Sorbisch und Bündnerromanisch. München 1990. Piniekowa Ch.: Kleinliteratur – Versuch einer Begriffsbestimmung am Beispiel sorbischer Literatur. In: „Letopis“ 45 (1998) 1, S. 3–11. Töpert J.: Kunst- und Kulturschaffende. Erfahrungen und Positionen zu sorbischer Identität, Bikulturalität und Kunst. In: Auf der Suche nach hybriden Lebensgeschichten. Theorie-Feldforschung-Praxis, hrsg. v. M. Juric´ Pahor, E. Tschernokoshewa. Münster [u. a.] 2005, S. 201–233. Tschernokoshewa E.: Geschichten vom hybriden Leben. Begriffe und Erfahrungswege. In: Auf der Suche nach hybriden Lebensgeschichten. Theorie-Feldforschung-Praxis, hrsg. v. M. Juric´ Pahor, E. Tschernokoshewa. Münster [u. a.] 2005, S. 9–41. Tschernokoshewa E.: Nachdenken über Zugehörigkeiten. Leben im Spagat. In: EntwederUnd-Oder. Vom Umgang mit Mehrfachidentitäten und kultureller Vielfalt, hrsg. v. E. Müllner. Klagenfurt 1999, S. 106–124. Summary In between. Rózˇa Domasˇcyna’s Poetry in the “Third Language” Sorbs’ literature has existed in two linguistic forms since the 1950s: in Sorbian and in German. Rózˇa Domascyna dares to go one step further: instead of two parallel authorial versions, she combines – through a skilful play with German and Sorbian vocabulary – two languages in one text. By transgressing linguistic boundaries, she creates a new, hybrid artistic language and thus a poetic in-between space in which demarcation and belonging fluctuate. Keywords: Sorbian poetry, Sorbian literature, the “third language”, hybridity