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German Pages [361] Year 2011
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525367148 — ISBN E-Book: 9783647367149
Historische Semantik Herausgegeben von Bernhard Jussen, Christian Kiening, Klaus Krüger und Willibald Steinmetz Band 15
Vandenhoeck & Ruprecht
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Marina Münkler
Narrative Ambiguität Die Faustbücher des 16. bis 18. Jahrhunderts
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-36714-8 ISBN 978-3-647-36714-9 (E-Book) Umschlagabbildung: Fausts Teufelspakt / Titelholzschnitt 1588 © akg-images © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Gesetzt in der Andron © Andreas Stötzner. Druck und Bindung: Ò Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Inhalt
Vorwort ................................................................................................... 9 1. Einleitung ........................................................................................ 11 Stoffe und Transformationen ......................................................... 11 Intertextualität, Hypertextualität und Transformation ................. 16 Identität, Individualität, Subjektivität ............................................. 23 Narratologische Aspekte der Analyse ............................................ 36 2. Faustus als Exemplum eines verfehlten Lebens ............................. 43 Ein Exemplum menschlicher Verworfenheit ................................. 43 Negative Beispiele: Die Prätexte der Historia ............................... 46 Selektion und Kombination.............................................................. 51 Narrativik und Systematik: Zur Funktionalität von Exempeln .... 61 Die rhetorische Tradition ......................................................... 62 Typisierung durch exempla ....................................................... 64 Exempel im Kontext religiöser Unterweisung ........................ 65 Transgression des Exempels durch das Exempel........................... 68 Heterologe Prätexte, Intertexte und fiktive Figuren ..................... 70 Heterologe Prätexte der Historia ............................................. 70 Doppelter Intertext: Luthers Tischreden ................................ 78 Frei erfunden: Mephostophiles ............................................... 84 3. Vom Exemplum zur biographischen Erzählung ............................ 87 Der Aufbau der Historia ................................................................. 87 Die syntagmatische Funktion der Semantiken ............................ 100 Zauberei oder Schwankhaftigkeit ................................................. 114 Historia – Der Wahrheitsanspruch und seine Konsequenzen ... 120
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Inhalt
4. Das narrative Muster legendarischen Erzählens .......................... 125 Das legendarische Muster und Faust als Antiheiliger ................. 126 Zum Problem der Antilegende ..................................................... 128 Legende und legendarisches Erzählen im Mittelalter .................. 132 Protestantische Legendenkritik und Bekennerhistorie ............... 134 Antilegende und Legendenkontrafaktur ...................................... 142 Bekenntnis, Geständnis und die Sünderheiligenlegende ............. 146 5. Die Transformationsleistungen der Faustbücher ........................ 149 Wolfenbütteler Handschrift und Historia ................................... 149 Die unterschiedlichen Druckfassungen der Historia ................... 153 Der Tübinger Reimfaust................................................................ 160 Das English Faustbook .................................................................... 163 Georg Rudolff Widmans Warhafftige Historien ........................... 167 Christian Nikolaus Pfitzers Das ärgerliche Leben ........................ 182 Das Faustbuch des Christlich Meynenden ...................................... 186 6. Identitäre Semantiken ................................................................... 193 Faustus der Zauberer .................................................................... 193 Die rezeptionssteuernden Paratexte: Titel und Vorreden .... 193 Faustus und das Zeitalter der Hexenverfolgung.................... 198 Die Ausbildung des kumulativen Hexenbegriffs................... 200 Die Macht des Teufels und die Zulassung Gottes ................ 202 Definitionen von Hexerei ...................................................... 206 Die vorgesehenen Strafen für das crimen magiae ................... 209 Die Verfolgungswellen ........................................................... 210 Fausts Delikte ......................................................................... 212 Religiöse und moralische Kommunikation ............................ 221 Faustus der Curiosus ..................................................................... 228 Immanenz, Transzendenz und curiositas ............................... 228 Wechselnde Semantiken von curiositas ................................. 231 Curiositas als unverzichtbare identitäre Markierung? ........... 236 Die Polysemie des curiositas-Begriffs in den Faustbüchern .. 241
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Inhalt
Höllische Belehrungen ........................................................... 245 Autopsie und Erfahrung ......................................................... 250 Humanistische Erfahrung und faustische Unlust .................. 253 7. Individualität: Fausts Sozialbeziehungen ..................................... 259 Herkunft, Familie und Erziehung ................................................ 260 Verhandlungen mit dem Teufel ................................................... 265 »Lieber was machstu aus Dir selbs« ............................................. 270 Die Semantik von Karriere ........................................................... 277 Begehren, Liebe und Ehe .............................................................. 284 8. Faustus der melancholicus ............................................................. 294 Faustus und der Melancholiediskurs der Frühen Neuzeit .......... 296 Melancholie als Krankheit ............................................................ 297 Die genialische Melancholie ......................................................... 301 Acedia und Melancholie ............................................................... 305 Gewissen und Anfechtung............................................................ 307 Isolation und Verzweiflung .......................................................... 312 Dem Leid eine Sprache geben: Aufschreiben und Mitteilen ...... 313 Thematisierung des Selbst: Bekenntnis und Geständnis ............. 317 Literaturverzeichnis ............................................................................ 327 Primärliteratur............................................................................... 327 Faustbücher ............................................................................. 327 Wagnerbuch ............................................................................ 328 Andere Quellen ....................................................................... 328 Bibliographien, Druckverzeichnisse ............................................. 333 Forschungsliteratur ....................................................................... 334
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Vorwort
Die vorliegende Untersuchung wurde im Sommersemester 2007 von der Philosophischen Fakultät II der Humboldt-Universität zu Berlin als Habilitationsschrift angenommen. Für die Drucklegung habe ich sie überarbeitet, neuere Forschungsliteratur konnte ich jedoch nur teilweise berücksichtigen. Für Unterstützung, Anregung und Kritik bin ich verschiedenen Personen und Institutionen zu großem Dank verpflichtet, die ich an dieser Stelle gerne anführe: Zu allererst möchte ich meinen akademischer Lehrer Werner Röcke nennen, der die Untersuchung nicht nur in allen Phasen mit Interesse begleitet hat, sondern mich als Assistentin an seinem Lehrstuhl auch durch Anregung und intellektuellen Austausch in vielfältiger Weise gefördert hat. Jan-Dirk Müller hat die Arbeit nicht nur als Gutachter aufmerksam gelesen, sondern mir auch Gelegenheit gegeben, Teile daraus in seinem Kolloquium zur Diskussion zu stellen. Seine zahlreichen Schriften zu den Faustbüchern haben mir darüber hinaus wertvolle Anregungen vermittelt. Sabine Meurer und Björn Menrath haben das Manuskript vor dem Einreichen der Habilitationsschrift Korrektur gelesen, Karina Hoffmann hat damals die Korrekturen souverän zusammengeführt und übertragen. Hans Grünberger hat es in der frühen Phase der Untersuchung mit zahlreichen Hinweisen aus dem Schatz seiner vielfältigen Interessen und seiner bibliophilen Kenntnisse unterstützt. Denise Theßeling und Anja Swidsinki haben die Druckvorlage dann noch einmal aufmerksam gelesen, korrigiert und durch ihre Nachfragen verbessert. Vielfach unterstützt hat mich Bob Göhler, der die Untersuchung nicht nur in verschiedenen Phasen kritisch gelesen, sondern auch mit großer Sorgfalt für den Druck gesetzt hat. Ihnen allen möchte ich sehr herzlich danken. Danken möchte ich auch dem Herausgebergremium der Reihe »Historische Semantik«, insbesondere Christian Kiening, der das Manuskript aufmerksam gelesen und durch kluge Ratschläge seine Überarbeitung unterstützt hat. Der Lektorin des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht, Ulrike Blech, danke ich für die angenehme und professionelle Kooperation und ihre Geduld und Nachsicht mit unvermeidlichen Terminverschiebungen. Der Technischen Universität Dresden, an der ich seit Januar 2010 als Professorin für Ältere und frühneuzeitliche Literatur tätig bin, gebührt mein Dank für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses aus den Mitteln des Professorinnenprogramms des Bundes und des Landes Sachsen.
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Vorwort
Der wichtigste Begleiter dieser Arbeit war einmal mehr mein Ehemann Herfried Münkler, der mich durch alle Zweifelhaftigkeiten und Untiefen des Denkens begleitet und intellektuell stets unterstützt hat. Ihm ist das Buch in großer Dankbarkeit gewidmet. Dresden und Berlin im Juli 2011
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1. Einleitung
Stoffe und Transformationen Dass die Geschichte des Teufelsbündners Johannes Faustus im Laufe ihrer Tradierung schon unmittelbar nach ihrem ersten Erscheinen im Druck zahlreichen Veränderungen unterzogen worden ist, gehört zu den Standardfeststellungen der Forschung. Diese Veränderungen sind bereits in den Editionen des 19. Jahrhunderts, insbesondere in den Einleitungen, Vor- oder Nachworten, in Umrissen beschrieben worden.1 Freilich hat dies kaum eine systematische Behandlung der Frage nach sich gezogen, was dies für die Konstitutionsbedingungen und die Identität der Faust-Figur bedeutet. Man hat die Veränderungen eher konstatiert als systematisch beleuchtet. Entscheidend ist jedoch zu fragen, inwiefern und inwieweit Transformationen der Texte die eingesetzten Semantiken und die Beschreibung der Figur transformiert haben, wo sich die an die Figur angeschlossenen Semantiken demgegenüber als sperrig erwiesen haben, welche Transformationen erfolgreich waren und welche nicht. Diese Fragen sind bislang nicht systematisch verfolgt worden. Hinzu kommt, dass die Forschung über die Faustbücher sehr ungleich verteilt ist: Zur Historia von D. Johann Fausten gibt es mittlerweile eine relativ umfangreiche Forschung, während die anderen Bearbeitungen – die beiden Druckfassungen B und C der Historia, die Wolfenbütteler Handschrift, der Tübinger Reimfaust, insbesondere aber die Faustbücher von Widman und Pfitzer – wenig Interesse gefunden haben. Völlig vernachlässigt hat die germanistische Forschung leider die bereits 1588 unter dem Titel History of the ————— 1
Hier ist insbesondere die – freilich um die »Anmerckungen« gekürzte – Pfitzer-Ausgabe von Heinrich Düntzer (1888) zu nennen, der in der Einleitung die vorgenommenen Veränderungen in großen Teilen aufgeführt hat. Vgl. ed. Düntzer, S. 13-30. Zu erwähnen ist auch Robert Petschs Ausgabe (21911) der Historia. Petsch konzentriert sich allerdings auf die Fragestellung, wie der von ihm angenommene lateinische »Urtext« des Faustbuches ausgesehen habe, weswegen er die Veränderungen innerhalb der Faustbücher vorwiegend unter dem Aspekt betrachtet, was unmittelbar auf diesen Text zurückgehen könnte. Teilweise operiert er dabei mit erstaunlichen Annahmen, wenn er etwa die bei Widman angeführten zahlreichen Augenzeugen als tatsächliche Autoren dieser ersten Faust-Vita annimmt. Vgl. ed. Petsch, Einleitung, S. XV-XVIII. Insbesondere Julius Dumke hat in seiner Dissertation von 1891 (vgl. Die Deutschen Faustbücher) die Veränderungen von der Historia über Widman und Pfitzer bis hin zum Faustbuch des Christlich Meynenden relativ detailiert beschrieben, wobei er jedoch nur die narrativen Teile berücksichtigt und vergleichend zusammengefasst hat.
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Einleitung
Damnable Life and Deserved Death of Doctor John Faustus erschienene englische Übersetzung des Erstdrucks, die zu den frühesten Transformationen gehört. Das ist umso bedauerlicher, als das English Faustbook eine der unter semantischen Aspekten interessantesten und überdies einflussreichsten Transformationen war.2 Dieses Ungleichgewicht hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Historia als die wirksamste Fassung der Faust-Vita betrachtet wird.3 Spätestens seit Barbara Könnekers entschiedenem Einwand gegen eine Lektüre, die den Prosaroman des 16. Jahrhunderts an Goethes Faust misst, wird ihr zudem zumindest stellenweise durchaus beachtliche literarische Qualität zuerkannt.4 Die Wolfenbütteler Handschrift hingegen ist in der Regel lediglich unter der philologischen Fragestellung betrachtet worden, ob ihr oder dem bei Spies erschienenen Erstdruck die Krone der ersten literarischen Fassung des Stoffes gebühre.5 Von den erweiterten Druckfassungen B und C wurden lediglich die Zusatzkapitel an die Editionen des bei Johann Spies 1587 erschienen Erstdrucks angehängt; eine eigenständige Forschung fand zu ————— 2
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In England war sie nicht nur die Vorlage für Marlowes Tragicall History of Doctor Faustus, sondern auch für mehrere weitere Bearbeitungen, zu denen auch ein 1594 erschienenes, unabhängig von der deutschen Tradition entstandenes, Wagnerbuch gehört. Das English Faustbook hat also eine eigenständige englische Faust-Tradition begründet, die in der deutschen Forschung so gut wie nicht zur Kenntnis genommen worden ist. Interessiert hat man sich lediglich für die von englischen Schauspieltruppen auf dem Kontinent gespielten dramatischen Bearbeitungen, weil sie als Vorlage für Goethes Faust eine gewisse Rolle gespielt haben. Das zeigt sich auch in der Editionspraxis: Der schon in zahlreichen älteren Editionen vorliegende Erstdruck der Historia wurde 1988 und 1990 gleich in zwei kritischen, hohen Ansprüchen genügenden Editionen (hg. von Stephan Füssel und Hans-Joachim Kreutzer sowie von Jan-Dirk Müller) vorgelegt, denen sich kürzlich noch eine Ausgabe der C-Fassung (hg. von Peter Philipp Riedl) hinzugesellt hat, während der Reimfaust und die Widman’sche Bearbeitung sowie das Faustbuch des Christlich Meynenden nur in Faksimiledrucken vorliegen, die Pfitzer’sche Bearbeitung lediglich in der Ausgabe von Adalbert Keller aus dem Jahre 1880. Nur das English Faustbook hat 1994 (hg. von John Henry Jones) eine den Ausgaben von Füssel/Kreutzer und Müller vergleichbare kritische Editon erfahren, die aber in Deutschland kaum zur Kenntnis genommen worden ist. Vgl. Barbara Könneker, Faust-Konzeption und Teufelspakt. Könneker hat von dieser positiven Einschätzung allerdings den sog. ›Schwankteil‹ ausgenommen; nichtsdestoweniger kommt ihr das Verdienst zu, die eigenständige Beurteilung der Historia durchgesetzt zu haben. Die ältere Forschung hat dagegen, sieht man von Gustav Milchsack ab, die Historia bestenfalls für einen bescheidenen Text gehalten, der nur insofern Interesse verdiente, als er einem der bedeutendsten Werke der Weltliteratur die Bahn geebnet hat. Legendär sind etwa die negativen Einschätzungen der Historia durch Wilhelm Scherer, der in der Einleitung zu seiner Ausgabe (vgl. ed. Scherer, S. iiif.), den Verfasser als »Stümper« bezeichnet hat, »dem so ziemlich alle die Eigenschaften fehlten, die man vom bescheidensten Schriftsteller verlangen darf«. Immerhin ist die Wolfenbütteler Handschrift schon einige Zeit nach ihrer Entdeckung von Gustav Milchsack 1892 ediert und 1963 von Harry G. Haile erneut herausgegeben worden. Haile hat seine Editon 1995 in einer revidierten, stärker diplomatisch orientierten Ausgabe vorgelegt. Er hat immer wieder beklagt (vgl. die Einleitungen zu seinen Editionen), dass die Wolfenbütteler Handschrift – zu Unrecht, wie er betonte – stets im Schatten des Drucks gestanden habe.
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Stoffe und Transformationen
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ihnen dementsprechend auch so gut wie nicht statt.6 Aufmerksamkeit zogen sie nur insofern auf sich, als sie zu belegen schienen, dass der Text gegen die theologische Intention des Verfassers gelesen wurde, denn sie erweiterten den A-Text um eine Reihe von Exempeln, die dem sogenannten ›Schwankteil‹ zugeschlagen wurden. Das English Faustbook hat, wie der Herausgeber der kritischen Edition von 1994 John Henry Jones konstatierte, sowohl in Deutschland als auch in England »little scholarly attention« auf sich gezogen, obwohl es die unmittelbare Vorlage für Marlowes Tragicall History of Doctor Faustus war.7 »As a translation it has escaped consideration either as an English prose romance or as a literary creation in its own right, perhaps because the author’s achievement in rendering and modifying his German source has not fully been appreciated.«8 Der Tübinger Reimfaust galt durchweg als literarisch wenig anspruchsvolles, in den im 16. Jahrhundert üblichen Knittelversen rasch ›zusammengeschustertes‹ Machwerk, mit dem sich der Tübinger Verleger Alexander Hock an den buchhändlerischen Erfolg der Erstausgabe anzuhängen versuchte.9 Die Krone forscherischen Desinteresses und erklärten Widerwillens errangen allerdings die Bearbeitungen von Widman und Pfitzer, denen bis heute der Makel anhaftet, ihre Faustbücher seien dogmatisch und langweilig bis unlesbar. So hat etwa Eliza M. Butler ihre Beschreibung des Widman’schen Faustbuches mit »A fanatic’s Faust« überschrieben und ihre Ausführungen mit der Behauptung eröffnet, »in 1599 an almost deadly blow was dealt to the legend by Georg Rudolf Widman«.10 Erst in der jüngsten Forschung haben Widman und Pfitzer eine gewisse Beachtung gefunden, so etwa bei Gerhild Scholz Williams unter Bezug auf den Diskurs über Hexerei und Zauberei, bei Jan-Dirk Müller im Hinblick auf die Semantik von curiositas und bei Luigi Tacconelli, ebenfalls unter dem Aspekt von Zauberei und Hexerei sowie der Perhorreszierung weiblicher Sexualität.11 Erst recht ist in den meisten Untersuchungen zum sogenannten ›Faust-Stoff‹ – öfter auch als ›Faust-Mythos‹ oder ›Faust-Legende‹ bezeichnet – den ————— 6 7 8 9 10 11
Eine Ausnahme bildet Peter Philipp Riedls Aufsatz, »prodesse et delectare«. Riedl hat kürzlich auch eine kritische Ausgabe des C-Druckes vorgelegt. Vgl. Historia C, ed. Riedl. John Henry Jones, Einleitung zu: English Faustbook, ed. Jones, S. IX. Ebd. Vgl. das Nachwort von Günther Mahal in: Reimfaust, ed. Mahal. E. M. Butler, The Fortunes of Faust, S. 22; vgl. zur Etikettierung Widmans auch ed. Petsch, Einleitung, S. XII. Vgl. Scholz Williams/Schwarz, Existentielle Vergeblichkeit, S. 109-144; Scholz Williams, Faust as Witch; dies., Semiotics and the Magic Sign; J.-D. Müller, Ausverkauf menschlichen Wissens; Tacconelli, Faust. Reise in die Kulturalität. Zwar haben sich schon im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zwei Dissertationen mit Widmans Bearbeitung im Vergleich zur Historia beschäftigt, sie sind aber beide unveröffentlicht geblieben (vgl. Dumcke, Faustbücher sowie Dirks, Über Widmans Volksbuch). Das gilt auch für Inge Gaertners Dissertation Volksbücher und Faustbücher (Göttingen 1951).
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Einleitung
Faustbüchern nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden. Die stoffgeschichtlich orientierten Untersuchungen waren in der Regel zu stark diachron angelegt und zu sehr an den ›Höhepunkten‹ der Stoffgeschichte interessiert, als dass sie die teilweise subtilen Transformationen innerhalb der Tradition der Faust-Prosaromane des 16. und 17. Jahrhunderts genauer hätten beschreiben oder gar deuten wollen.12 Zweifellos hat die Stoffgeschichte als Geschichte einer Figur mit weltliterarischem Ruhm, deren Reiz als Gegenstand neuer Bearbeitungen bis heute unerschöpflich zu sein scheint, ihren Sinn und ihre Berechtigung. Aber Stoffgeschichte darf nicht dazu verleiten, Faustus grundsätzlich nur als Stoff für immer neue Werke in den verschiedenen literarischen, musikalischen und künstlerischen Gattungen zu betrachten und darüber die Bezugnahmen und Abgrenzungen innerhalb der textuellen Tradition zu ignorieren. Bei der Untersuchung der in den Faustbüchern erbrachten Transformationsleistungen kann es nicht darum gehen, zu zeigen, wie sich die einzelnen Autoren am Faust-Stoff abgearbeitet haben. Die überlieferten Prosaromane über Fausts Leben und Sterben, deren Reihe mit einem nicht überlieferten Faustbuch beginnt, auf das die Wolfenbütteler Handschrift und die editio princeps von 1587 zurückgehen,13 und mit dem Faustbuch des Christlich Meynenden von 1725 endet, tradierten nicht einfach denselben Stoff. Vielmehr haben Ihre Autoren sich implizit wie explizit an ihren Vorgängern abgearbeitet, haben ausgelassen und hinzugefügt, erweitert und gekürzt, substituiert und korrigiert, modifiziert und kommentiert. Kurzum: Sie haben Texte transformiert, nicht einen Stoff tradiert. Die im Prozess der Transformation vollzogenen Veränderungen sind überaus aufschlussreich, um die Faustus in den jeweiligen Erzählungen zugewiesene Identität zu beobachten. Veränderungen lenken häufig überhaupt erst den Blick auf das, was gegeben ist. Manches bliebe unbeachtet, wenn es nicht einer der Verfasser oder Herausgeber verändert hätte. Wer etwas verändert, dem ist etwas aufgefallen – etwas, das er für langweilig, überflüssig, verbesserungsbe————— 12
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Vgl. Kreutzer, Faust. Mythos und Musik; Negt, Die Faust-Karriere; Freschi (Hg.): La Storia di Faust nelle Letterature europee; von Engelhardt, Der plutonische Faust; Boerner/Johnson (Hg.): Faust through Four Centuries; Möbus/Schmidt-Möbus/Unverfehrt (Hg.): Faust. Annäherung an einen Mythos; Csobadi (Hg.): Europäische Mythen der Neuzeit: Faust und Don Juan; Grim, The Faust Legend in Music and Literature; Hucke, Figuren der Unruhe; Smeed, Faust in Literature; Butler, The Fortunes of Faust; Wegner, Die Faustdarstellung vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Zur Stoffgeschichte vgl. auch Henning, Einleitung zu: ed. Henning 1979, S. LVIIIff. Dass es eine solche Erzählung vor der Wolfenbütteler Handschrift gegeben haben muss, belegen zahlreiche philologische Indizien. Insbesondere Widmans Text nimmt in dieser Indizienkette eine Schlüsselstelle ein, denn er geht zwar einerseits offenbar auf den C-Druck zurück, integriert andererseits aber zwei Kapitel, die sonst nur aus der Wolfenbütteler Handschrift bekannt sind, welche er kaum gekannt haben kann. Siehe dazu ausführlich Kap. 5.
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Stoffe und Transformationen
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dürftig, irritierend, beunruhigend oder inakzeptabel hielt. Insofern markieren Transformationen der Erzählung nicht zuletzt den Kampf um die Deutungshoheit gegenüber der Figur. Gerade unter dem Aspekt der Transformation vollzieht bereits das erste Faustbuch gegenüber den zuvor umlaufenden Exempeln über Faustus einen qualitativen Sprung. Von der Historia bzw. der ersten vollständigen Vita nämlich ist die Gestalt in ihrem Ursprung nicht leicht abzulösen; wie viele Nachrichten und exemplarische Geschichten es vorher auch immer gegeben hat, letztlich ist Faustus eine Erfindung des ersten Faustbuch-Autors. Das begründet sich zuallererst darin, dass er Faustus mit den zentralen und umkämpften Semantiken verknüpft hat, in denen problematische Identität in der Frühen Neuzeit verhandelt wurde: curiositas, Melancholie und Gewissen. Aus der vorhergehenden Exempeltradition hat der Faustbuchautor nur eine, wenngleich für die Figur nicht minder bedeutsame Semantik übernommen: Zauberei. Diese Semantik war andeutungsweise mit einer weiteren verknüpft, jener der Karriere. Dagegen war Melancholie in den zuvor erzählten Exempeln bestenfalls bei den wenigen Hinweisen auf Fausts Ende angedeutet, und curiositas spielte überhaupt keine Rolle. Zwischen den Semantiken dieser extrem aufgeladenen Begriffe aber entfaltet sich Fausts Identität. Eine Arbeit, die gezielt anhand bestimmter, in den Faust-Büchern verhandelter Problemstellungen und Themenkomplexe die Transformationen innerhalb dieses Korpus untersucht und analysiert, ist bislang jedoch Desiderat geblieben. Diese Lücke will die nachfolgende Untersuchung zu schließen helfen. Nur am Rande gehe ich dabei auf den historisch belegten Magier Georgius Faustus und dessen Transformation zum Doktor Johannes Faustus der protestantischen Exempelsammlungen ein. Die wenigen Nachrichten über den historischen Faustus sind vergleichsweise gut untersucht; ihnen soll hier nur insofern Aufmerksamkeit gewidmet werden, als sie auf die Transformationsprozesse innerhalb der Tradition der Faustbücher unmittelbaren Einfluss gehabt haben.14
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Zum historischen Faust vgl. Mahal (Hg.), Der historische Faust; ders., Faust. Die Spuren eines geheimnisvollen Lebens. Mahal geht es in erster Linie darum, die Bedeutsamkeit des historischen Faust gegenüber dem literarischen Faust aufrechtzuerhalten und Knittlingen, den Ort des von ihm lange Jahre geleiteten Faust-Museums und des Faust-Archivs, als Geburtsort des frühneuzeitlichen Magiers mit weltliterarischer Auszeichnung festzuschreiben. Dagegen hat Frank Baron die These vertreten, der Name »Georgius Sabellicus Faustus iunior«, der in mehreren zeitgenössischen Dokumenten erscheint, sei ein humanistischer Kunstname, den sich ein Georg von Helmstadt oder Georg Helmstetter zugelegt habe, der sich 1483 an der Heidelberger Universität immatrikuliert hat. Vgl. Baron, Doctor Faustus. From History to Legend, S. 11-66; ders., Faustus. Geschichte, Sage, Dichtung, S. 13-47.
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Intertextualität, Hypertextualität und Transformation Die Bezüge von Texten auf Texte und die Übernahmen von Texten in Texte sind in der jüngeren Forschung unter dem Begriff der Intertextualität verhandelt worden. Geprägt hat den Begriff Julia Kristeva in Auseinandersetzung mit Michail Bachtins Konzept der Dialogizität. Bachtin bezeichnete damit die Polyphonie des Romans, in dessen Figurenreden immer »fremde Wörter« eingingen. Darunter verstand Bachtin alles das, was zu einem Gegenstand schon einmal gesagt oder in der Wirklichkeit auffindbar war.15 Bachtins Konzept der Dialogizität zielte aber vor allem auf den Dialog der Stimmen (Figurenstimmen und Erzählerstimme) innerhalb eines einzelnen Textes; seine Theorie der Dialogizität war insofern dominant intratextuell. Durch eine radikale Ausweitung des Textbegriffs definierte Kristeva alle solche Äußerungen als intertextuell. Nous appellerons Intertextualité cette inter-action textuelle qui se produit à l’intérieur d’un seul texte. Pour le sujet connaissant, l’intertextualité est une notion qui sera l’indice de la façon dont un texte lit l’histoire et s’insère en elle.16
Mit dieser Ausweitung des Textbegriffs war Intertextualität kein Merkmal bestimmter Texte mehr, sondern ein prinzipielles Merkmal von Textualität. Kristeva vertrat damit die Vorstellung eines Universums der Texte, eines unauflöslichen Geflechts, das sich selbst an die Stelle der Welt setzte. In Untersuchungen, die diesem Paradigma folgten, ist häufig nicht nur die Differenzierung von Text und Kontext im Sinne der sozialen Umwelt vernachlässigt, sondern auch Selektivität zugunsten von Kombinatorik zurückgestellt worden.17 Dass man bei einem solchen Geflecht kaum noch sagen konnte, welche Intertexte interpretatorisch als Vorlagen festgemacht werden konnten, hat man unter solchen Voraussetzungen als Problem weitgehend ignoriert. Weniger ————— 15
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Vgl. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, S. 213; Zum Problem der Dialogizität vgl. auch Lachmann (Hg.), Dialogizität; insbesondere ihren eigenen Beitrag Dialogizität und poetische Sprache. Kristeva, Narration et transformation, S. 443. So gerne sich solche Modelle auf Foucault berufen haben, so sehr beruht diese Inanspruchnahme doch auf einer verfehlten Lektüre seiner Theorie. Foucault ist, auch wenn er von der Oberfläche des Textes gesprochen hat, niemals von einem undurchdringlichen Gewebe von Textualität ausgegangen. Ganz im Gegenteil hat er im Begriff des Diskurses und des Dispositivs dezidiert auf Modelle der Selektivität gesetzt. Sie sind zentral für seine methodischen Prämissen. Vgl. Foucault, Die Ordnung der Dinge, bes. das Vorwort zur deutschen Ausgabe, S. 11-16; ders., Die Archäologie des Wissens, bes. S. 33-47; ders., Die Ordnung des Diskurses. Allerdings war Foucault – epistemologisch gut begründet – ein entschiedener Gegner autorzentrierter Deutungsansätze; er setzte Selektivität auf der Ebene der Diskurse und der Dispositive an. Der Autor war für ihn nur eine Variable der Wahrheitsprädikate von Diskursen. Vgl. Foucault, Was ist ein Autor?
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Intertextualität, Hypertextualität und Transformation
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als an seiner Herkunft aus dem Strukturalismus krankte der Begriff der Intertextualität deshalb an seiner terminologischen Uneindeutigkeit. In der Forschung sind unter Intertextualität völlig unterschiedliche Phänomene der Integration von Texten in Texte subsumiert worden, was den Begriff schließlich so schwammig hat werden lassen, dass er terminologisch nahezu unbrauchbar wurde. Diese Begriffsunklarheit zog eine breite und teilweise heftige Diskussion nach sich, in der die Extrempositionen von der vollständigen Ablehnung des Intertextualitätsbegriffs einerseits und von der emphatischen Feier der Kultur als Text andererseits gebildet wurden.18 Daraus folgte die Ablehnung des Terminus von zwei Seiten: zum einen von denjenigen, die an konkreten Untersuchungen von intertextuellen Bezügen und Gattungen oder Formen (wie Zitat, Anspielung, Adaptation, Parodie) festhalten wollten und deshalb die Ausweitung des Textbegriffs ablehnten, und zum anderen von Kristeva selbst, die genau solche traditionellen Untersuchungen unter dem Etikett der Intertextualität ablehnte.19 Sie ersetzte selbst daher den Terminus der Intertextualität durch den der transposition. Le terme de’intertextualité désigne cette transposition d’un (ou de plusieurs) système(s) de signes en un autre; mais puisque ce terme a été souvent entendu dans le sens banal de »critique des sources« d’un texte, nous lui préférons celui de transposition, qui a l’avantage de préciser que le passage d’un système signifiant à un autre exige une nouvelle articulation du thétique – de la positionnalité énonciative et dénotative.20
Das änderte aber nichts am Erfolg des Intertextualitätskonzeptes, das in den neunziger Jahren vor allem mit dem New Historicism verknüpft war. Dessen berühmtester Vertreter Stephen Greenblatt hat die Mischung aus der Selektivität und der Kombinatorik intertextueller Bezüge mit dem Begriff der negotiations zu vereindeutigen versucht. Mit diesem Terminus, der einerseits eindeutige Bezüge signalisierte, andererseits deren Verborgenheit insinuierte, hat er das Problem jedoch eher elegant metaphorisiert als gelöst.21 ————— 18 19
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Vgl. die Zusammenfassung der Diskussion bei Pfister, Konzepte der Intertextualität. In der Frühneuzeitforschung ist der Begriff der Intertextualität, wie Jan-Dirk Müller (Texte aus Texten, S. 67) angemerkt hat, aber auch »oft nur als Signal eingesetzt [worden], um den Anschluß an avancierte theoretische Positionen zu markieren, damit man sich dann umso ungestörter traditionellen philologischen Aufgaben widmen [konnte]«. Siehe in diesem Zusammenhang auch Müllers Zusammenfassung der Intertextualitätsdebatte und seine Überlegungen zur Anwendbarkeit des Terminus auf die Frühe Neuzeit. Kristeva, La Révolution du langage poétique, Paris 1974, S. 59f. Vgl. dazu die luzide Kritik Rainer Warnings an Greenblatts Konzept der negotiations in seinem Aufsatz Shakespeares Komödie als Heterotopie. Vgl. auch Vollhardt, Kulturwissenschaft. Wiederholte Orientierungsversuche sowie Strohschneider, Kultur und Text, bes. S. 98106. Strohschneider identifiziert hier allerdings Foucaults Theorie, insbesondere die Archäologie des Wissens, als Begründung des Paradigmas von der ›Kultur als Text‹. Das verkennt freilich den für Foucault zentralen Bezug von Diskursen und Dispositiven auf Praxen und Institu-
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Einleitung
Andererseits ist unter Frühneuzeitforschern nach wie vor unumstritten, dass intertextuelle Phänomene, wie das Einfügen offener oder verdeckter Zitate, das Spiel mit gelehrten Anspielungen, die Nachahmung eines bewunderten literarischen Vorbilds oder der Versuch, es zu überbieten, gerade in narrativen wie deskriptiven Texten der frühen Neuzeit besonders häufig zu beobachten ist, was nicht zuletzt darin begründet ist, dass die humanistische Poetik in den Begriffen der imitatio und aemulatio die Beziehung von Texten auf Texte bereits in ein normatives Regelsystem integriert hatte.22 Das gilt auch und erst recht für die von mir untersuchte Tradition der Faustbücher, die sich nicht nur aufeinander, sondern auch auf zahlreiche andere Texte beziehen, sie bearbeiten, integrieren und dekonstruieren. Deshalb scheint es mir trotz der dargelegten Einwände und Probleme sinnvoll zu sein, den Intertextualitätsbegriff anzuwenden, freilich nicht als alleinigen Terminus zur Bezeichnung aller Phänomene, die für die Entstehung und die Tradition der Faustbücher bedeutsam sind. Für die vorliegende Arbeit halte ich es für zweckmäßig, von einer genaueren Differenzierung unterschiedlicher Formen dessen auszugehen, was üblicherweise unter dem Oberbegriff Intertextualität zusammengefasst wird. Den Versuch einer solchen Differenzierung hat Gérard Genette in seiner Untersuchung Palimpseste vorgelegt.23 Als Oberbegriff hat er nicht den Terminus Intertextualität gewählt, sondern Transtextualität, während Intertextualität für ihn lediglich eine der Formen von Transtextualität bildet.24 Unter Transtextualität versteht er alles, was einen Text in eine »manifeste oder geheime Beziehung zu anderen Texten bringt«.25 Insgesamt unterscheidet Genette fünf Formen von Transtextualität: Intertextualität, Paratextualität, Metatextualität, Hypertextualität und Architextualität.26 ————— 22
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tionen. Aufgeschlossener, aber nicht ohne kritische Distanz, steht Werner Röcke dem Konzept des New Historicism gegenüber. Vgl. ders., »New Historicism«, bes. S. 214-219. Zu den besonderen Aspekten und Verfahrensweisen frühneuzeitlicher Intertextualität vgl. Kühlmann/Neuber (Hg.): Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Kühlmann steht dem Intertextualitätskonzept, speziell in seiner poststrukturalistischen Ausprägung, überaus kritisch gegenüber, er betont aber zugleich, dass die frühneuzeitliche Literatur sich darauf verstanden habe, »eigene und fremde Rede immer neu zu kombinieren«, und es sich von daher gebiete, sich mit dem Intertextualitätskonzept auseinanderzusetzen. Vgl. im gleichen Band; Kühlmann, Kombinatorisches Schreiben; Bauer, Intertextualität; J.-D. Müller, Texte aus Texten, bes. S. 68-72. Der eher metaphorische Titel Palimpseste hat gelegentlich zu Irritationen hinsichtlich von Genettes Intertextualitätsverständnis geführt; er bezieht sich aber nur auf jene von Genette als Hypertextualität bezeichneten Formen der Transtextualität, denen er seine Untersuchung unter diesem Titel eigentlich widmet. Vgl. Genette, Palimpseste, S. 9f. Ebd., S. 9. Genettes Modell scheint mir praktikabler zu sein als das von Pfister (Konzepte der Intertextualität, S. 26-30) entwickelte Modell der Skalierung von Intertextualität nach den Kriterien Referentialität, Kommunikativität, Autoreflexivität, Strukturalität, Selektivität und Dialogizität. Dessen Binnenstrukturierung ist zwar durchaus überzeugend, hat aber das Problem, mit
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Intertextualität, Hypertextualität und Transformation
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Intertextualität ist für ihn »die Beziehung der Kopräsenz zweier oder mehrerer Texte, […], eidetisch gesprochen, die effektive Präsenz eines Textes in einem anderen Text«.27 Unter »effektiver Präsenz« versteht Genette das Zitat, das Plagiat oder die Anspielung. Als Paratextualität bezeichnet er die Beziehungen von literarischen oder nicht-literarischen Texten zu den sie einkleidenden Schwellentexten wie Titel, Untertitel, Vor- und Nachworte, Einleitungen, Motti, Kapitelüberschriften etc., die nicht im engeren Sinne Teil des Werkes sind, aber doch dazugehören und häufig die Rezeption steuern.28 Als Metatextualität charakterisiert Genette dagegen »die üblicherweise als ›Kommentar‹ apostrophierte Beziehung zwischen einem Text und einem anderen, der sich mit ihm auseinandersetzt«.29 Als Hypertextualität definiert er die Beziehung zwischen einem nachfolgenden Text (den er als Hypertext bezeichnet) und einem zugrundeliegenden Text (den er Hypotext nennt), bei dem der Hypertext sich nicht nur auf den Hypotext bezieht, sondern aus ihm »abgeleitet ist«, d. h. in ihm seinen zentralen Bezugspunkt hat.30 Als Architextualität schließlich bestimmt Genette jene Bezüge, die sich auf die gattungsbezogenen Strukturmerkmale vorhergehender Texte beziehen.31 Unter dem Oberbegriff Hypertextualität, dem seine Untersuchung Palimpseste gewidmet ist, subsumiert er verschiedene Formen der Transformation oder Transposition von Texten.32 Zunächst beschreibt er jene Arten der Transformation, die man auch als transformative Gattungen bezeichnen könnte, nämlich die Parodie, die Travestie, die Persiflage und das Pastiche, die alle dem Feld der komischen Literatur zugerechnet werden können.33 Für sie ist der Bezug auf den jeweiligen Hypotext konstitutiv: Gelächter kann nur hervorgerufen werden, wenn die komische Verzerrung des zugrundeliegenden Textes deutlich ist.34 Von diesen komischen Transformationen unterscheidet Genette die ernsten Transpositionen, die er in formale und inhaltliche Transformationen differenziert. Zu den formalen Transformationen gehören die Übersetzung, die Versifikation, die Prosifikation so—————
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einem Terminus zu arbeiten, der zu viele unterschiedliche Aspekte subsumiert. Will man das Intertextualitätskonzept handhabbar machen, bedarf es einer begrifflichen Differenzierung, die nicht unterhalb, sondern oberhalb des Begriffs der Intertextualität ansetzt. Genette, Palimpseste, S. 10. Ebd., S. 11. Genette hat dieser Form von Transtextualität auch eine eigene Untersuchung mit dem Titel »Seuils« (dt. Schwellen) gewidmet, die in der deutschen Übersetzung unter dem Titel »Paratexte« erschienen ist. Ebd., S. 13. Ebd., S. 15. Ebd., S. 13f. Genette verwendet die Begriffe Transformation und Transposition synonym. Vgl. Genette, Palimpseste, S. 287. Vgl. ebd., S. 39-47. Vgl. Röcke, Das Lachen der Gelehrten.
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Einleitung
wie die intermodalen Transformationen, wie die Narrativierung oder die Dramatisierung.35 Außerdem gehören hierzu auch die quantitativen Transformationen, die sich in die Verfahren der Reduktion (Aussparung, Verknappung, Verdichtung) und der Erweiterung (Dehnung, Amplifikation, Kombination) unterteilen lassen.36 Zu den inhaltlichen und semantischen Transformationen gehören alle Transpositionen, die den Erzählmodus, die Erzählperspektive oder die Motivation von Handlungen und Affekten der Erzählfiguren verändern.37 Schon dieser Überblick über die von Genette beschriebenen Transformationsverfahren macht deutlich, wie nützlich sein Konzept der Hypertextualität zur Beschreibung der Transformationen innerhalb der Tradition der Faustbücher ist. Bereits auf den ersten Blick lassen sich mit dem Reimfaust und dem English Faustbook die formalen Transpositionen der Versifikation und der Übersetzung, mit Widmans und Pfitzers Bearbeitungen die Verfahren der Dehnung, der Amplifikation und der Kontamination, mit dem Faustbuch des Christlich Meynenden die Verdichtung oder Verknappung ausmachen. Nun könnte man solche formalen Transformationen eventuell für unwesentlich halten, aber formale Transformationen sind stets mit inhaltlichen, semantischen und häufig auch ideologischen Transformationen verbunden. Das soll die vorliegende Untersuchung an der Reihe der Faustbücher zeigen. Weniger geeignet ist Genettes Modell der Transtextualität jedoch in Bezug auf die Integration verschiedener Texte und Textsorten in unterschiedlicher Intensität und Extensität in die früheste Faust Vita. Solche Texte sind an zahlreichen Stellen in die Historia eingegangen. Das Problem dabei ist, dass es sich um völlig unterschiedliche Textsorten und Arten des Umgangs mit diesen vorausliegenden Texten handelt.38 Hier ist Genettes Begriff der Hypertextualität untauglich, weil er davon ausgeht, dass der Hypertext auf den Hypotext nicht selektiv zurückgreift, sondern in ihm seine zentrale Vorlage hat. Damit lässt sich auch die Kombination unterschiedlicher Prätexte in einem Hypertext nicht innerhalb des Modells von Hypotext und Hypertext beschreiben, weil die Pluralisierung der Hypotexte diese ihres Ranges als prägender Texte beraubt. Zwar schließt Genette nicht grundsätzlich aus, dass einem Hypertext mehrere Hypotexte zugrunde gelegt sein können, aber das daraus resultierende Problem lässt sich innerhalb seines Theoriemodells nur
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Vgl. Genette, Palimpseste, S. 287-313. Ebd., S. 313-342 Ebd., S. 391-402. Diese Texte werden auch in der jüngeren Forschung terminologisch unglücklich unter der Überschrift ›Quellen‹ der Historia zusammengefasst. Vgl. Füssel, Die literarischen Quellen.
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Intertextualität, Hypertextualität und Transformation
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bewältigen, wenn die Zahl der Hypotexte begrenzt und die Selektivität beschränkt bleibt.39 Auch sein Begriff von Intertextualität, den er auf die Inserierungsmodi des Zitats, des Plagiats und der Anspielung beschränkt, ist nicht wirklich geeignet, um den Umgang der ersten Faust-Vita mit den zugrunde liegenden Texten zu beschreiben. Das Zitat bestimmt Genette als einen Textausschnitt, der »unter Anführungszeichen, mit oder ohne genaue Quellenangabe« in einen Text inseriert ist, das Plagiat als »eine nicht deklarierte, aber immer noch wörtliche Entlehnung« und die Anspielung als eine Aussage »deren volles Verständnis das Erkennen einer Beziehung […] voraussetzt«.40 Die Historia zitiert zahlreiche Texte, ohne diese Zitate auszuweisen, aber deshalb kann nicht davon gesprochen werden, sie plagiiere diese Texte. Das hängt schon damit zusammen, dass der Begriff des Plagiats an bestimmte soziokulturelle Bedingungen gebunden ist, die für Texte des 16. Jahrhunderts nicht vorausgesetzt werden können. Auch kann man nicht grundsätzlich sagen, sie spiele auf diese Texte an, d. h. sie erwarte, dass der Leser den Bezug erkennt und zu deuten vermag.41 Bei den eingefügten Zitaten, etwa aus dem Elucidarius oder der Schedel’schen Weltchronik, ist einigermaßen unklar, ob ein zeitgenössischer Leser sie als solche hätte erkennen können oder sollen. Bei anderen Anspielungen ist das durchaus plausibel anzunehmen, denn wenn Faustus etwa in seiner letzten Weheklage fragt, »wo ist meine feste Burg?«, dann ist die Anspielung auf Luthers Choral Ein feste Burg ist unser Gott sowohl für protestantische als auch für katholische Leser der Zeit unüberhörbar, da der Choral eines der ›Kampflieder‹ der lutherischen Konfession war. Man findet in der Historia also die Inserierungsmodi des Zitats und der Anspielung, aber zumindest das Zitat funktioniert anders, als Genette dies voraussetzt. Zunächst kommt es bei den in der Historia verarbeiteten Texten darauf an, sie begrifflich nach ihrem Verwendungsmodus und der Art ihrer Integration in den Text zu unterscheiden. Grundsätzlich gibt es zwei Arten von verwendeten Texten: zum einen die in den protestantischen Exempelsammlungen des 16. Jahrhunderts über Faustus und andere Zauberer verbreiteten Exempel, zum anderen ein bunter Strauß von Wissenstexten, Traktaten, ————— 39
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Das schließt nicht aus, dass der Hypertext in den Formen der Parodie, der Travestie und des Pastiches mit eben solchen Strukturhomologien spielt. Diesem Aspekt widmet Genette einen großen Teil seiner Untersuchung. Vgl. Genette, Palimpseste, S. 21-89. Genette erläutert dazu einleitend, dass Hypertextualität im Sinne einer Klasse von Werken selbst einen gattungsbildenden oder vielmehr »Gattungen überschreitenden Architext« darstelle: Dabei bezieht er sich auf »bestimmte kanonische (wenn auch ›kleine‹) Gattungen, wie das Pastiche, die Parodie und die Travestie«. Vgl. dazu Genette, Palimpseste, S. 18. Ebd., S. 10. Ebd.
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Sprichwortsammlungen und Wörterbüchern. Während die Exempel durch ihre Thematik wie ihre Narrativik strukturelle Homologien zur Geschichte des Teufelsbündners Faustus aufweisen, gilt dies nicht für die übrigen inserierten Texte. Vielmehr handelt es sich hierbei um Texte, die weder narrativ strukturiert sind noch eine thematische Verbindung mit Faustus oder anderen Zauberern aufweisen. Aufgrund dieser Differenzen erscheint es geboten, sie auch terminologisch zu differenzieren. Vorgängige narrative Exempel, die in einigen der Kapitel transpersonalisiert, amplifiziert und modifiziert worden sind, bezeichne ich als homologe Prätexte der Historia. Textausschnitte, wie die aus der Schedel’schen Weltchronik, dem Elucidarius, dem Lobspruch auf die Stadt Nürnberg von Hans Sachs, dem Dictionarium Latino-Germanicum Jacobs de Gruytrode und viele andere, nenne ich heterologe Prätexte. Neben den homologen und den heterologen Prätexten sind aber auch andere Texte für die Historia wichtig. Dazu gehören insbesondere Luthers Tischreden, seine Schrift Von Pfaffenweih und Winckelmess, sein Sermon von der Bereitung zum Sterben und andere mehr, auf die in der Historia angespielt wird. Diese in der Regel paränetisch-seelsorgerlichen oder theologischen Texte eröffnen einen Deutungshorizont, der bestimmte Aspekte der Figur, ihrer Handlungen und ihrer Affekte überhaupt erst verständlich macht. Sie bezeichnen unterschiedliche diskursive Felder innerhalb der religiösen Kommunikation, an welche die Historia anschließt. Solche Texte möchte ich daher im engeren Sinne als Intertexte der Faustbücher bezeichnen. Unter Intertexten verstehe ich solche Texte, mit denen sich aufgrund der Wortwahl, der Formulierungen oder der aufgerufenen Semantiken eine enge Beziehung plausibel machen lässt. Eine weitere Ebene der Transtextualität ergibt sich in Bezug auf verschiedene Heiligenlegenden, insbesondere die Sünderheiligenlegenden von Theophilus und Cyprianus. Einerseits sind diese Texte stellenweise als Prätexte verwendet worden (so dürfte die Blutverschreibung aus der Theophiluslegende übernommen worden sein), andererseits bilden sie zusammen mit den protestantischen Bekennerlegenden – die freilich nicht mehr als Legenden, sondern als Historien bezeichnet werden – einen Gattungsrahmen, der für das Vitenmodell der Historia von entscheidender Bedeutung ist. Als Gattungselemente können diese Texte daher weder als Prätexte noch als Intertexte der Historia bezeichnet werden. Die Verknüpfung liegt hier auf der Ebene dessen, was Genette als Architextualität bezeichnet.
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Identität, Individualität, Subjektivität Fragen der Transtextualität bilden in dieser Arbeit insofern einen wichtigen Fokus, als sie für identitätstheoretische Fragestellungen von entscheidender Bedeutung sind. Es gibt keine formalen oder inhaltlichen Transformationen oder Transpositionen, welche die Identität der Figur unberührt lassen würden. Mit jeder Selektion, Integration und Kombination von Textpartikeln und Gattungselementen in einen anderen Text verändern sich nicht nur deren semantische Horizonte, sondern auch die Semantisierungsaspekte und Möglichkeiten des Hypertextes. Mit jeder Transformation der Narration ändern sich außerdem die mit der zentralen Figur der Erzählung verknüpften Semantiken. Das betrifft sowohl die Regulierung der Identitätsmarkierungen durch den Erzähler, als auch die Emergenz von Individualität und Subjektivität auf der Ebene der Erzählung. Damit ist bereits angesprochen, dass die hier verhandelten identitätstheoretischen Fragestellungen sich in drei Aspekte untergliedern, denen jeweils ein Kapitel dieser Arbeit gewidmet ist: Identität, Individualität und Subjektivität. Jedem dieser Begriffe eignet für sich genommen eine so schillernde Polysemie, dass es zunächst und vor allem darauf ankommt, diese zu begrenzen. Das kann hier nicht durch eine umfängliche und umfassende Darstellung der Identitäts-, Individualitäts- und Subjektivitätsdiskurse der letzten dreihundert Jahre geleistet werden, selbst wenn diese nur ansatzweise erfolgen würde. Gleiches gilt für die einem Mahlstrom gleichende wissenschaftliche Diskussion der letzten Jahrzehnte.42 Ein solcher Anspruch wäre überzogen. Es ist von daher auch nicht möglich, zu bestimmen, was korrekterweise unter den jeweiligen Begriffen zu verstehen wäre. Möglich und unverzichtbar ist es aber zu definieren, was im Rahmen dieser Arbeit unter Identität, Individualität und Subjektivität verstanden werden soll und was die jeweiligen theoretischen Referenzen einer solchen Bestimmung sind. Das lässt sich sinnvollerweise zunächst von daher begründen, was mit der Verwendung der hochgradig semantisierten Begriffe Individualität und Sub————— 42
Einige wichtige Texte bzw. Überblicksartikel zur Semantik der drei Begriffe sollen hier aber zumindest genannt werden. Zum Überblick über die drei semantischen Felder Identität, Individualität, Subjektivität vgl.: Frank, Subjekt, Person, Individuum. Zu Identität vgl.: Dubiel, Identität, Ich-Identität; Mead, Geist, Identität und Gesellschaft; Marquard/Stierle (Hg.), Identität; Fetz, Personenbegriff und Identitätstheorie; Goffman, Stigma; Luckmann, On the Evolution and Historical Construction of Personal Identity. Zu Individualität vgl.: Frank/Haferkamp (Hg.), Individualität; Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität; Heller/Sosna/Wellbery (Hg.), Reconstructing Individualism. Zu Subjekt und Subjektivität vgl.: Frank/Raulet/van Reijen (Hg.), Die Frage nach dem Subjekt; Riedel, Subjekt und Individuum, Fetz/Hagenbüchle (Hg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität; Hagenbüchle, Subjektivität: Eine historisch-systematische Hinführung; Taylor, Quellen des Selbst; Cramer (Hg.), Theorie der Subjektivität; Foucault, Hermeneutik des Subjekts.
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jektivität nicht gesagt sein soll: Dass es eine historische, gar teleologisch organisierte Entwicklungslogik von Individualität und Subjektivität gäbe, in der Phänomene der arbiträren Selbstabgrenzung des Einzelnen von der Gesellschaft und seiner Definition durch diese Selbstabgrenzung unter dem Begriff der Individualität angemessen historisch-begrifflich fassbar wären. Ferner, dass bezogen auf eine solche Entwicklungslogik die Faust-Figur einen entscheidenden Schritt innerhalb des Feldes der literarischen Kommunikation markiere.43 Das gilt noch entschiedener für den Begriff der Subjektivität: Ziel ist es nicht, zu zeigen, wie aus der ›Entdeckung‹ von Individualität gleichsam als Konsequenz die Subjektivität erwächst, die den individuellen Rekurs auf die Abgrenzung von der Gesellschaft durch den Rekurs auf ein transzendental begründetes Subjekt komplettiert – ein Subjekt, das seinen letzten Referenzpunkt nur in sich hat und für das dann wiederum der Faustus der Weheklagen als großartiger Beleg zu dienen hätte.44 Nach diesen anfänglichen Abgrenzungen kommt es jedoch darauf an, zu bestimmen, was hier unter Identität, Individualität und Subjektivität je verstanden werden soll. Neben der Reichweite und Polysemie der Begriffe besteht die Schwierigkeit zunächst darin, Identität, Individualität und Subjektivität begrifflich voneinander abzugrenzen. Die von mir gewählte Differenzierung zwischen Identität, Individualität und Subjektivität ist primär eine heuristische, deren Mehrwert sich darin erweisen muss, dass sie einzelne Aspekte genauer aufzuschlüsseln vermag, als das bei einer begrifflichen Ineinssetzung der Fall wäre. Das ist freilich zu vermuten, weil sich auf diese Weise Polysemien zumindest begrenzen lassen.45 Ich differenziere zunächst zwischen Identität und Individualität im Anschluss an Cornelia Bohn und Alois Hahn, die Individualität als eine Form der Schließung auffassen, welche das Besondere vom Allgemeinen und Individuen von anderen Individuen unterscheidet. Unter Identität verstehen Bohn und Hahn dagegen die Beschreibung und Beobachtung von Individualität.46 Be————— 43 44
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Ein solcher Deutungsansatz ist insbesondere von Ian Watt vertreten worden. Vgl. Watt, Myths of Modern Individualism; ders., Faust as a Myth of Modern Individualism. Vgl. allgemein etwa Geyer, Die Entdeckung des modernen Subjekts. Diese Zurechnung ist in verschiedenen Untersuchungen zu beobachten. Sie zeigt sich letztlich auch dort, wo – ohne den Begriff der Subjektivität zu bemühen – den Weheklagen als einzigem Teil des frühesten Faustbuches literarische Qualität attestiert wird. Vgl. Könneker, Faust-Konzeption und Teufelspakt. Luhmann differenziert nicht eindeutig zwischen Individualität und Identität, sondern vermischt beide. Vgl. Ders., Individuum, Individualität, Individualismus, passim. Vgl. Bohn/Hahn, Selbstbeschreibung und Selbstthematisierung, S. 36. An anderer Stelle differenziert Hahn nicht in gleicher Weise zwischen Individualität und Identität, was ja auch nicht immer erforderlich ist. Vgl. Hahn, Partizipative Identitäten, S. 28; ders., Identität und Biographie, S. 131f. Die von Alois Hahn hier vorgenommene Differenzierung von »implizitem« und »explizitem« Selbst, von Habitusensemble und Selbstbeschreibung, schließt eine Differenzierung von Identität als kommunikativ vermittelter personaler Identität und diskursiven Praktiken ein. Vgl. zum Festhalten an dieser Differenzierung gegenüber prinzipiell
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Identität, Individualität, Subjektivität
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greift man unter Identität das Zusammenwirken unterschiedlicher zugeschriebener Merkmale und unter Individualität die Art des in Beziehung Setzens, so ist selbstredend evident, dass zwischen beiden eine enge Wechselbeziehung besteht. Zweifellos sind Zugehörigkeiten und Beziehungen identitätsprägend, und sie werden im 16. und 17. Jahrhundert (aber nicht nur da) auch so gedacht. Die Fragestellung bezüglich der Identität einer literarischen Figur bewegt sich also stets auf der Ebene der Zuschreibungen und untergliedert sich in drei Aspekte: Welche identitären Merkmale werden der Figur auf der diegetischen, aber auch der paratextuellen Ebene zugewiesen, welche Semantiken spielen dabei eine zentrale Rolle? Wie äußern sich andere Figuren über die zentrale Gestalt, welche Beobachtungen machen sie an ihr? Und schließlich, wie beschreibt die Figur sich selbst, wie wird ihre Identitätsausprägung beobachtet? In seinem Aufsatz »Partizipative Identitäten« hat Alois Hahn konstatiert, dass der Grad an Elaboriertheit, den Gesellschaften der Identitätsthematisierung ihrer Mitglieder gestatten, erheblich variiert. Dabei geht er von zwei Möglichkeiten aus: Selbstthematisierung und Fremdthematisierung.47 Literarische Kommunikation verdoppelt Fremdthematisierung, indem sie ermöglicht, diese einerseits auf der Ebene des Erzählers, und andererseits auf der Ebene von Figuren der Erzählung anzusiedeln, woraus dann erhebliche Ambiguitäten resultieren können. Es gehört zu den herausragenden Merkmalen der Historia und der nachfolgenden Faustbücher, dass sie diesen Ambiguitäten außergewöhnlich breiten Raum geben und auf diese Weise der Figur eine Komplexität verschaffen, die in der Markierung als Zauberer nicht mehr aufgeht. An der eindeutigen Markierung von Faustus als Teufelsbündner durch die Stimme des Erzählers ändert das nichts, aber es untergräbt die Möglichkeit, diese Markierung für den Leser jederzeit zugänglich zu halten. Was der Kommentar immer wieder vereindeutigt, indem er Faustus verdiktive Markierungen aufprägt, erscheint innerhalb der Welt der Erzählung uneindeutig, vielschichtig und widersprüchlich. Das resultiert in erster Linie aus der Inszenierung von Fausts Individualität. Damit soll nicht gesagt sein, dass Faustus als Individuum der Gesellschaft gegenübersteht und gegen deren Widerstand Individualität erringt. Es soll vielmehr damit gesagt und mittels der »dichten Beschreibung«48 ein————— 47 48
text- und diskurszentrierten Ansätzen Stegbauer/Vögel/ Waltenberger, Einführung, in: dies. (Hg.): Kulturwissenschaftliche Frühneuzeitforschung, S. 7-28, hier bes. S. 19. Vgl. Hahn, Partizipative Identitäten, S. 13-16. Zum Konzept der »dichten Beschreibung« (»thick description«) vgl. Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Ich beziehe mich auf Geertz, um anzuzeigen, dass ich eine genaue Lektüre, die auf vorschnelle Zuordnungen verzichtet, für unverzichtbar halte; es geht mir nicht um die Vorstellung der ›Kultur als Text‹, die bei Geertz und den sich auf ihn berufenden Vertretern
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Einleitung
schlägiger Textpassagen aus den Faustbüchern gezeigt werden, wie Faustus durch seine Beziehungen innerhalb der Gesellschaft individualisiert, d. h. inkludiert, exkludiert, integriert oder diszipliniert wird. Solche Prozesse können nur kommunikativ vermittelt sein. Individualität ist daher untrennbar mit Kommunikation verknüpft.49 Da Kommunikation nach Luhmann der elementare Code des Sozialen ist, ist Individualität ein Aspekt der Ausdifferenzierung sozialer Systeme.50 Individualität siedele ich im Anschluss an Luhmann auf der Ebene des sozialen Systems an und fasse sie als Markierung von Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit, d. h. von sozialen Beziehungen. Luhmann geht davon aus, dass Individualität keine Errungenschaft der Moderne ist. In seinen Überlegungen zur Evolution von Individualität und der mit ihr verbundenen Semantiken hat er zu zeigen versucht, dass alle gesellschaftlichen Evolutionsstufen Individualität sowohl ausprägen als auch thematisieren, d. h. mit bestimmten Semantiken verknüpfen.51 Das heißt nicht, dass Individualität ein unveränderliches, ahistorisches Substrat habe. Aber als Form der Schließung, welche das Besondere vom Allgemeinen trennt und dem Einzelnen Besonderheit zugesteht, ist Individualität sowohl in segmentären als auch stratifikatorischen und funktional differenzierten Gesellschaften zu beobachten.52 Mit der wachsenden Komplexität des sozialen Systems kommt es nach Luhmann zu einer Steigerung von Individualität. Diese gründet jedoch nicht auf einem zunehmenden Individualismus des Einzelnen durch die Selbstbefreiung des Individuums aus althergebrachten Ordnungen, sondern vielmehr auf der Ausdifferenzierung des sozialen Systems. Im Mittelalter, mit seiner dominant stratifikatorischen Gesellschaftsordnung, wird Individualität über Zugehörigkeit bestimmt, d. h. über die Inklusion in ein bestimmtes Teilsystem der Gesellschaft, nämlich die Familie und den Stand. Die so bestimmte Individualität bezeichnet Luhmann als Inklusionsindividualität.53 Die Identität ————— 49
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des New Historicism mit diesem Konzept verbunden ist. Zur Kritik am Konzept der ›Kultur als Text‹ vgl. Strohschneider, Kultur und Text. Für Luhmann ist Kommunikation die spezifische Operation sozialer Systeme. Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 193ff.; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, S. 81ff.; ders., Was ist Kommunikation? Vgl. Luhmann, Individuum, Individualität, Individualismus, S. 193-212; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, S. 81-105. Vgl. Luhmann, Individuum, Individualität, Individualismus, bes. S. 165-185. Es sei hier ergänzend darauf hingewiesen, dass Evolution im Luhmann’schen Sinne weder mit Entwicklung noch mit Fortschritt identisch ist. Zum Begriff der Evolution und seiner Funktion für die Beschreibung der Systemdifferenzierung vgl. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, S. 413-593. Zum Modell der Gesellschaftsdifferenzierung vgl. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, S. 609ff.; ders., Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition. Das gilt auch für die segmentäre Ordnung einfacher Gesellschaften. Luhmann betont hinsichtlich des Umgangs segmentärer Gesellschaften mit Individualität: »Gerade einfachste Gesellschaften sind in hohem Maße an Individuen orientiert und akzeptieren jeden, sofern er
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Identität, Individualität, Subjektivität
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des Individuums ist in der stratifizierten Gesellschaft an seine Inklusion in die Familie und die Inklusion dieser Familie in einen bestimmten Stand gebunden.54 Das stratifikatorisch organisierte System der Gesellschaft erlaubt ähnlich wie die segmentäre Ordnung ein hohes Maß an Eigentümlichkeiten und Besonderheiten des Einzelnen, weil es diese über Zugehörigkeit abzuschirmen vermag und folglich nicht intern reglementieren muss. Reglementierungen erfolgen aber dezidiert im Falle der Transgression von Zugehörigkeit: Das Verlassen der Sippe als dem Zentrum der segmentären Ordnung oder des Standes als dem basalen Organisationsprinzip der stratifizierten Ordnung wird sowohl auf der Ebene des sozialen Systems als auch auf der Ebene der gepflegten Semantiken hart abgestraft.55 Alois Hahn hat für die solcherart organisierte Individualität den Begriff der partizipativen Identität geprägt.56 Jedes Individuum gehört einem und nur einem Teilsystem der Gesellschaft an, und deshalb kann seine Individualität nur über die Inklusion in dieses Subsystem bestimmt werden.57 Das ändert sich mit dem Übergang zur funktional differenzierten Gesellschaft, in der kein Individuum mehr ausschließlich einem Teilsystem angehören kann, sondern nur noch in unterschiedlichen Funktionen an die jeweiligen Systeme anschließt. Die Einzelperson kann nun nicht mehr einem und ————— 54 55
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zur Gesellschaft gehört, in seinen Eigenarten.« (Luhmann, Individuum, Individualität, Individualismus, S. 155) Zur stratifikatorischen Ordnung vgl. ebd. S. 157ff. Vgl. ebd., S. 165-173. Solange Sippe oder Stand nicht grundsätzlich transgrediert werden, können in der literarischen Kommunikation zwar Krisen des Helden beschrieben werden, die aber stets mit seiner Reintegration in den Stand in seiner idealiter geprägten Ausformung enden. Die Artusromane sind dafür ein Musterbeispiel. Vgl. J.-D. Müller, Identitätskrisen im höfischen Roman. Ein Beispiel für die Perhorreszierung der Überschreitung von Standesgrenzen wäre etwa der Helmbrecht Wernhers des Gärtners. Allein das schon im Mittelalter ausdifferenzierte System der Religion bietet hier eine Austrittsmöglichkeit – im Modell der Heiligkeit. Siehe dazu ausführlich Kap. 4. Vgl. Hahn, Partizipative Identitäten, S.13f. Hahn differenziert, wie aus der angegebenen Stelle deutlich wird, in anderer Weise zwischen Identität und Individualität, als ich das hier tue. Hahn beschreibt in diesem Beitrag unter anderem, wie die Semantik der partizipativen Identität in den Begriffen der Nation u. ä. wieder auftaucht. Dies geschieht aber auf der Ebene der Semantik, nicht des sozialen Systems. Grundsätzlich hat dem auch Peter von Moos zugestimmt, allerdings einen Punkt moniert: »Die Schwachstelle der Theorie liegt jedoch in der vollkommen separaten Behandlung religiöser und aristokratischer Inklusion, obwohl beide in Wirklichkeit in einem dauernden Spannungs- und Konkurrenzverhältnis zueinander standen und in dynamisierender Weise gerade zu gegenseitiger Verleumdung tendierten. Dies wirkte sich als grundsätzliche Ambivalenz auch auf das Identitätsverständnis aus« (von Moos, »Persönliche Identität und Identifikation vor der Moderne«, S. 21f.). Ein solches Spannungsverhältnis schließt Luhmanns Theorie aber keineswegs aus, vielmehr ist das System der Religion als Teilsystem der Gesellschaft für das soziale System Umwelt et vice versa. Damit wird die Anschlussfähigkeit von Kommunikation prinzipiell unwahrscheinlich, was nichts anderes heißt, als dass Spannungen wahrscheinlich sind. Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 193ff. sowie S. 488ff.; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, S. 81ff.
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Einleitung
nur einem Teilsystem angehören. Sie kann in unterschiedlichen Teilsystemen der Gesellschaft, wie dem System der Wirtschaft, der Politik, des Rechts oder der Erziehung, beruflich integriert sein, und größtenteils folgt der soziale Status dem beruflichen Status, aber sie kann nicht in einem der Funktionssysteme allein leben.58 Das Individuum kann seine Individualität dann nicht mehr durch Inklusion, sondern nur jenseits der verschiedenen Funktionssysteme bestimmen, und somit wird Individualität zur Exklusionsindividualität.59 Exklusion darf hier freilich nicht als Ausschluss missverstanden werden. Exklusionsindividualität besagt vielmehr, dass die Individualität eines Individuums nicht mehr allein über die Zugehörigkeit zu einer Familie oder einen Stand definiert werden kann, sondern jenseits davon bestimmt werden muss, weil sich mit funktionaler Differenzierung die kommunikativen Interaktionen innerhalb der Gesellschaft multiplizieren. Die Umstellung von der Inklusionsindividualität auf die Exklusionsindividualität hat zur Folge, dass das Individuum nicht mehr für alle anderen Individuen, denen es begegnet, dasselbe ist. Es kann ganz unterschiedliche Rollen einnehmen und damit auch ganz unterschiedlich wahrgenommen werden, ohne dass diese jeweiligen Wahrnehmungen des Individuums untereinander abgeglichen werden müssen. Welche dieser Rollen dann die Identität des Individuums letztlich ausmacht, lässt sich nicht mehr eindeutig bestimmen.60 Die jeweilige Identität kann dann über je besondere Formen der Kommunikation im Hinblick auf bestimmte Rollen abgeschirmt oder hinsichtlich der gesamten Person geöffnet werden, was über den binären Code von privater und öffentlicher Kommunikation strukturiert wird. Dieser binäre Code von privat und öffentlich definiert, in welcher Weise mit Personen umzugehen ist und welchen Grad von Intimität ein sozialer Kontakt erlaubt.61 Privatheit wird dabei jedoch nicht in erster Linie am Fehlen von Öffentlichkeit festgemacht, sondern ist auf die Formen sozialer Kommunikati————— 58 59 60
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Vgl. Luhmann, Individuum, Individualität, Individualismus, S. 158. Ebd. Das ändert auch das Erzählen von Krisen des Helden: Zweifellos erzählt bereits die höfische Literatur von Identitätskrisen des Helden, von Nichterkennen und Fehleinschätzungen. Aber das sind vorübergehende Krisen, die letztlich dazu dienen, Zugehörigkeit zu bestätigen, was nicht heißt, dass diese Bestätigung nicht mit Anforderungen an den Helden verbunden wäre. Zugehörigkeit zum Adel ist qua Schönheit aber in den Körper eingeschrieben und selbst wenn der Held vorübergehend die äußeren Zeichen seiner Zugehörigkeit verliert, so bestätigen sich diese doch in seinen körperlichen Merkmalen – entweder in Schönheit oder in einem markanten Zeichen wie einer Narbe. Vgl. von Moos (Hg.), Unverwechselbarkeit; hier insbesondere die einzelnen Beiträge von: von Moos, Einleitung: Persönliche Identität und Identifikation vor der Moderne; J.-D. Müller, Identitätskrisen im höfischen Roman; Hahn, »Wohl dem, der eine Narbe hat«; Röcke, Gewaltmarkierungen. Vgl. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, S. 224-256; ders. Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 1, S. 124-247.
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Identität, Individualität, Subjektivität
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on bezogen. Die prinzipielle Grenzziehung zwischen privat und öffentlich besagt dann eben nicht, dass Öffentlichkeit und Privatheit durch bestimmte Räume oder die Zahl der Anwesenden definiert werden, sondern durch bestimmte Verhaltensmodi und Typen der Vergemeinschaftung. So betrachtet, verläuft die Grenzlinie von Privatheit und Öffentlichkeit zwischen funktional und personal bestimmter Kommunikation. Wenn Personalität begriffen wird als die Summe der Aspekte oder Rollen, aus denen die soziale Existenz eines Menschen sich zusammensetzt, dann ergibt sich mithin, dass die Dichte und Intensität privater Beziehungen abhängt von der situativ verfügbaren Individualität einer Person. Individualität würde dabei zunächst nichts anderes bedeuten als die je spezifisch verfügbare Auswahl und Kombination aus der Summe der gesellschaftlich verfügbaren Rollen und Handlungsmuster.62
Das bedeutet zugleich, dass Individualität mit der Verfügbarkeit unterschiedlicher sozialer Rollen gesteigert wird, weil der Stand nicht mehr ausreicht, um die Individualität des Einzelnen zu bestimmen. Privatheit wird dann zu einem Modus, in dem soziale Kommunikation von der funktionalen auf die personale Ebene umgestellt wird. »Je mehr Privatheit im zwischenmenschlichen Bereich möglich sein soll, desto mehr Individualität muss vorhanden sein.«63 Die Entgegensetzung von Öffentlichkeit und Privatheit ermöglicht es Individuen auch, wie Erving Goffman gezeigt hat, bestimmte Eigenschaften oder Defekte, die ihnen soziale Diskreditierung eintragen würden, vor anderen zu verbergen. Diese Prozesse des Verbergens potentiell stigmatisierender Merkmale hat Goffman unter dem Obertitel »Stigma-Management« als den Gegensatz von aktualer und virtualer sozialer Identität thematisiert.64 Ein solches »Stigma-Management« ist erst wirklich möglich in funktional differenzierten Gesellschaften, denn erst hier sind die sozialen Kontakte punktuell genug, um Stigmata dauerhaft verbergen zu können. Das heißt umgekehrt aber auch: Erst hier sind die Kontakte so stark funktional bestimmt, dass es Mitgliedern der Gesellschaft möglich ist, bestimmte Stigmata zu ignorieren, weil sie das jeweilige Individuum nicht mehr als ganze Person, sondern nur noch als Verkörperung einer bestimmten Funktion betrachten. So lange das Individuum diese Funktion zu erfüllen vermag, ist es prinzipiell möglich, über ein Stigma hinwegzusehen. Was sich mit dem Übergang von der Inklusions- zur Exklusionsindividualität ebenfalls ändert, ist die Art der Thematisierung von Individualität und deren Semantiken.65 Gerade in den Übergangsphasen von der Inklusions- zur Exklusionsindividualität kann es vorkommen, dass die Semantiken die Kom————— 62 63 64 65
Schlögl, Öffentliche Gottesverehrung und privater Glaube, S. 172. Ebd., S. 173. Vgl. Goffman, Stigma, S. 116-131. Vgl. ebd., S. 155f.
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Einleitung
plexität funktionaler Differenzierung überholen, so dass auf der Ebene der Semantiken bereits Probleme verhandelt werden, die auf der Ebene der gesellschaftlichen Evolution noch nicht vollständig ausgeprägt sind.66 Luhmann geht davon aus, dass die Individualitätssemantik (die sich für ihn mit der Identitätssemantik verbindet) Änderungsmöglichkeiten bereithält, die noch nicht genutzt werden können, und dass andererseits Änderungen vorbereitet werden, die nicht in ihr ausgedrückt werden. Individualität wird schon selbstreferenziell konzipiert, wird schon innerer Repression sozialer Inkonvenienz ausgesetzt, schon mit Problemen der Aufrichtigkeit und der Selbstzugänglichkeit konfrontiert, zugleich aber immer noch an den Inklusionskontext der stratifizierten Gesellschaft gebunden und nicht zur Exklusion freigegeben. Hier wird also innerhalb der Semantik durch Ideenvariation etwas ausprobiert, was seine endgültige soziale Zuordnung noch nicht gefunden hat.67
An diesem Punkt wäre dann der Begriff der Subjektivität anzusetzen, der von den gewählten drei Begriffen am problematischsten zu sein scheint. Wäre Subjektivität a priori an ein transzendentalontologisches Subjekt gebunden, verböte sich angesichts meiner sonstigen methodisch-theoretischen Festlegungen die Verwendung des Begriffs der Subjektivität. Das ist m. E. aber nicht unbedingt der Fall, sondern das Ergebnis einer Verknüpfung, die einerseits auflösbar, andererseits aber durchaus aufschlussreich ist. Historisch betrachtet, ist der Begriff der Subjektivität sehr viel jünger als der des Subjekts.68 Er begegnet zunächst in der Auseinandersetzung mit Immanuel Kants erkenntnistheoretischer Voraussetzung, »daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntniß richten«.69 Während Kant als Subjekt »dieses Ich oder Er oder Es (das Ding), welches denkt« definiert, das also als »transcendentales Subject der Gedanken« vorgestellt werden müsse, bestimmt er Subjektivität als die Möglichkeit dieses Subjekts sich selbst zu denken. Allerdings hält er es von seinen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen her für »unmöglich zu erklären«, wie es sein könne, »daß ich, der ich denke, mir selber ein Gegenstand (der Anschauung) sein, und so mich von mir selbst unterscheiden könne«, »obwohl es ein unbezweifelbares Factum ist«.70 ————— 66
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Das lässt sich etwa an der Häufung von Devianzphänomenen in der Literatur des 16. Jahrhunderts zeigen, die oftmals im Muster des Komischen thematisiert werden. Hier haben der Schwank und der Schwankroman ihren Sitz im Leben. Vgl. Röcke, Die Freude am Bösen; ders., Aggression und Disziplin. Ebd., S. 186. Vgl. Homann, Zum Begriff ›Subjektivität‹ bis 1802. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XVI. Immanuel Kant, Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolfs Zeiten gemacht hat? (1791), Akademie-Ausgabe, Bd. 20, S. 270.
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Identität, Individualität, Subjektivität
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Der Begriff der Subjektivität entsteht also, etymologisch plausibel, dort, wo die seit der Renaissance auf Selbsterhaltung und subjektiver ›Selbstbehauptung‹ aufruhenden Konzepte reflexiver Subjekthaftigkeit keinen Rückhalt in einer Substantiierung des Subjekts – etwa in R. Descartes’ Identifizierung des ›cogito‹ als ›res cogitans‹ – oder in ontologischer Bestimmungen finden.71
Demnach fallen die Ursprünge der modernen cartesischen Bestimmung des Subjekts als »res cogitans«, das aus der Einheit seiner selbst die Einheit der Erkenntnis entwickelt, keineswegs mit dem Begriff der Subjektivität zusammen, der diese Einheit des Selbst gerade in Zweifel zieht.72 Aus der Gewissheit des Subjekts entsteht keine Subjektivität im Sinne von dessen Selbstgewissheit. Schon Johann Gottlieb Fichte hat daher Subjektivität als »Wechsel des Ich in und mit sich selbst« begriffen, »der gleichsam in einem Widerspruch mit sich selbst besteht«.73 Als Grund dieses Widerspruchs mit sich selbst begriffen Fichte wie Kant das Problem der Selbstzugänglichkeit des Subjekts. Als Erkenntnisgegenstand für das Subjekt unterschied sich das Subjekt von allen anderen Gegenständen dadurch, dass es einerseits der Erkenntnis offen lag wie kein anderes, sich andererseits aber der Erkenntnis versperrte, weil seine Apperzeption nicht über die Sinne möglich war, sondern durch widerstreitende Affekte, widersprüchliche Empfindungen und wechselnde Emotionen, die sich einer rationalen Durchdringung immer wieder entzogen, irritiert wurde. Mit dem Begriff der Subjektivität können damit Aspekte der Selbstzugänglichkeit wie der Selbstbewertung einer Person thematisiert werden. Subjektivität soll hier die Weise bezeichnen, in der ein Individuum mit sich selbst in Beziehung gesetzt wird, d. h. die Weise, in der es seine Identität nicht in Bezug auf andere, sondern in Bezug auf sich selbst thematisiert. Im Luhmann’schen Sinne ist Subjektivität nichts anderes als eine Semantik zur Beschreibung von Individualität in funktional differenzierten Systemen, in denen Individualität sich nicht mehr durch Referenz auf ein bestimmtes soziales System bestimmen kann. Insofern ist Subjektivität eine Folge von sozialer Differenzierung, die Individualität qua Interpenetration von sozialem und psychischem System steigert.74 Zugleich wird sie aber auf dem Wege des Re-entry in die Semantik des ————— 71 72
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Clairmont, Art. Subjektivität I, Sp. 457. Das verhindert freilich nicht, dass beide Begriffe nicht nur zusammen traktiert, sondern in der Geschichte der Philosophie wie auch in philosophiegeschichtlichen Arbeiten immer wieder miteinander vermischt oder synonym gefasst werden. Vgl. etwa Arne Grøn, Subjektivität: Begriff und Problem, S. 319f. Johann Gottlieb Fichte, Grundlagen der gesamten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer (1794), in: Akademie-Ausgabe I/2, 1965, S. 359f. Zur Differenzierung von psychischem und sozialem System vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 346-376.
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Einleitung
sozialen Systems eingebracht und über diese Semantik wird sie dann zur Anforderung an das Individuum.75 Semantisch wird – nicht zufällig – dieses nur reflexiv zu gewinnende Für-Sich-Sein in der Philosophie des deutschen Idealismus nicht mehr unter der Chiffre ›Individuum‹ geführt, sondern als Geschichte des Subjekts dargestellt. Die Einzigartigkeit verlagert sich damit vom Leib auf die Seele, oder wie es jetzt heißt: auf das Bewusstsein. In seinem bloßen Für-Sich-Sein, wie es bei Rousseau erstmals erscheint, erhält es dann bei Hegel auch das Epitheton ›unglücklich‹. Was also zunächst sichtbar wird am Subjekt, ist seine Vereinzelung als Vereinsamung, seine Exklusion im Sinne einer schmerzlichen Nicht-Integrierbarkeit seiner Gesamtbiographie in die Gesellschaft, mit einem Wort: seine Entfremdung.76
Eben das aber macht Subjektivität zu einer besonders aufschlussreichen Semantik, die nicht unbedingt an das Erscheinen des Begriffs gebunden ist, sondern phänomenologisch auch vor dessen definitorischer Ausprägung beschrieben werden kann. Luhmann setzt die Semantik von Subjektivität zwar erst mit der funktionalen Differenzierung an, die sich nach seiner Auffassung im 17. Jahrhundert auszuprägen beginnt, aber in die Religion der Gesellschaft konzediert er andererseits, dass mit der religiösen Kommunikation schon sehr viel früher eine funktionale Differenzierung stattfindet.77 Die religiöse Kommunikation speist in die soziale Kommunikation Semantiken ein, die nicht über die Zugehörigkeit zu einem gesellschaftlichen Stratum, zu Stand und Familie bestimmt sind, sondern über die Zugehörigkeit zum Stand der Seligen oder zum Stand der Verdammten.78 Diese soteriologische Zurechnung transgrediert soziale Zugehörigkeiten, auch wenn sie häufig mit ihnen verbunden wird. Vor dem Urteil Gottes im Jüngsten Gericht vermag weder die Familie noch der Stand zu schützen. Die seit dem Hochmittelalter in der religiösen Kommunikation ausgebildete Vorstellung eines individuellen Gerichts nach dem Tode antwortet auf diese Ausdifferenzierung und perspektiviert das Leben des Einzelnen unter der Frage, ob er vor diesem Gericht bestehen kann. Daraus entwickelt sich ein Blick auf sich selbst, der
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Vgl. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, S. 1017-1036. Re-entry bedeutet bei Luhmann, dass Systeme, die auf der Grundlage einer Unterscheidung ausdifferenziert sind, diese Unterscheidung in sich selbst auf der Ebene der Semantik wieder einführen. Vgl. ders., Einführung in die Systemtheorie, S. 166f. Bohn/Hahn, Selbstbeschreibung und Selbstthematisierung, S. 40, Anm. 4. Nach Luhmann ist eine Kommunikation immer dann religiös, »wenn sie Immanentes unter dem Gesichtspunkt der Transzendenz betrachtet« (Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, S. 77). Das heißt umgekehrt, dass die an sich unverfügbare Transzendenz nur aus dem Blickwinkel der Immanenz beobachtet werden kann. Vgl. Hahn/Bohn, Partizipative Identität, Selbstexklusion und Mönchtum.
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Identität, Individualität, Subjektivität
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das Leben vom Tode her betrachtet und die Identität von ihrer sozialen Bezogenheit auf die soteriologische Bedürftigkeit hin transzendiert.79 Dieser soteriologischen Bedürftigkeit trägt in erster Linie das Sündenbekenntnis Rechnung. Seit der verpflichtenden Einführung der Ohrenbeichte auch für Laien auf dem IV. Laterankonzil 1215 ist das Gestehen der Sünden zu einer der Praktiken geworden, mit der Subjektivität entscheidend gesteigert worden ist.80 Nach der Analyse Michel Foucaults sind daher Prozesse der Subjektwerdung und der Subjektivität mit der Macht, die sie hervorbringt, unauflöslich verbunden.81 In Der Wille zum Wissen hat er diese Verknüpfung pointiert zusammengefasst: Lange Zeit hat sich das Individuum durch seine Beziehung zu anderen und durch Bezeugung seiner Bindung an andere ausgewiesen; später hat man es durch den Diskurs ausgewiesen, den es über sich selbst halten konnte oder musste. Das Geständnis der Wahrheit hat sich in das Herz der Verfahren eingeschrieben, durch die die Macht die Individualisierung betreibt.82
Mit der Pflichtbeichte wird ein Regime der Selbstbeobachtung etabliert, das nach Alois Hahn eine erhebliche Differenzierung von Subjektivität zur Folge hatte. In dem Maße, wie sich die entsprechende Konzeption durchsetzt, wird das Individuum zu einer Besinnung auf sich selbst zurückgeworfen, wie dies vorher nie der Fall war. Seine innersten Motive werden heilsrelevant, deshalb erforschungsbedürftig. Mit dieser Erhellung des eigenen Motivhaushalts ist aber gerade auch eine Steigerung der Empfindung für die eigene Subjektivität verbunden, die historisch neu ist. Subjektivität ergibt sich also als Folge sozialer Kontrollprozesse.83
Das Geständnis zwingt das Individuum dazu zu reflektieren, welche Sünden es begangen hat, sein Verhalten also mit der Norm abzugleichen und sich so dem Maßstab der Norm zu unterwerfen. Die innerhalb der religiösen Kommunikation formulierten Regeln zur Erlangung des Heils vermögen dabei zwar zahlreiche institutionelle Mechanismen bereit zu stellen, die quasi mit Heilsgarantie versehen sind, wie etwa Buße,84 Ablass und Fürbitte,85 Selbstkasteiung und Askese.86 Aber alle diese ————— 79
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Dass Subjektivität sich nicht erst im Übergang zur Moderne ausbildet, sondern bereits im Mittelalter anzusetzen ist, wird in der jüngeren Forschung auch in der Mediävistik betont. Vgl. Baisch/Eming/Haufe/Sieber, Einleitung, in: dies., Subjektivität in der Literatur des Mittelalters. Vgl. Browe, Die Pflichtbeichte im Mittelalter, S. 335-383. Vgl. Foucault, Das Subjekt und die Macht, S. 243. Für eine eingehende Darstellung der Entwicklung von Foucaults Subjektivitätsbegriff vgl. Enders, Zur radikalen Krise der Subjektivität. Foucault, Sexualität und Wahrheit. Bd. 1: Der Wille zum Wissen, S. 75f. Hahn, Zur Soziologie der Beichte, S. 197-236. Zur Beichte vgl. Hahn/Knapp, Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis; Hahn, Zur Soziologie der Beichte; Ohst, Pflichtbeichte; Biller/Minnis (Hg.):
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Einleitung
Mechanismen haben eine wunde Stelle: den Bezug des Individuums auf sich selbst. Gerade das Leiden an sich selbst, die Unfähigkeit, sich von sich selbst zu distanzieren und sein Heil jenseits seines Selbst zu suchen, ist ein entscheidender Aspekt dessen, was in der religiösen Kommunikation des Mittelalters als desperatio beschrieben wird.87 Desperatio kann zwar durch eine Vielzahl religiöser Praktiken gebändigt werden, aber sie bleibt eine stete Gefährdung des Heils. Es ist also nicht erforderlich, dass die Semantik von Subjektivität auf einer begrifflichen Ebene thematisiert wird; erforderlich ist lediglich, dass sie innerhalb bestimmter Semantiken inkludiert ist. Als diese Semantik kann die Semantik von Heil und Verdammnis betrachtet werden, die Luhmann der Semantisierung von Individualität in der stratifikatorischen Gesellschaft zurechnet. Mit der Leitdifferenz von Heil und Verdammnis codiert das Subsystem der Religion sich selbst und seinen Einfluss auf die Gesellschaft.88 Deshalb auch ist der neutraler scheinende Begriff der Selbstreflexivität kein geeignetes Substitut für den Begriff der Subjektivität, da er die Art und Wiese des Selbstbezugs auf rational zugängliche Aspekte festlegt, während der Begriff der Subjektivität zunächst nur auf Selbstbezogenheit rekurriert. Darunter sind dann nicht nur rationale, sondern auch affektive Aspekte der Selbstbezogenheit zu fassen, die im Begriff der Selbstreflexivität exkludiert sind. Das Individuum, das nicht mehr durch Zugehörigkeit definiert wird und deshalb seine Individualität jenseits der gesellschaftlichen Subsysteme selbst bestimmen muss, das also den Übergang von der Inklusionsindividualität zur Exklusionsindividualität vollzieht, wird in eine Semantik des sich selbst Empfindens, sich selbst Denkens und sich selbst Offenbarens eingespannt. Paradoxerweise wird es damit komplexer und undurchschaubarer. Das gilt nach außen ebenso wie nach innen: Es wird sich selbst undurchsichtig. Es ist in einen Strudel widerstreitender Emotionen hineingeworfen und sucht verzweifelt Stabilität. Diese Stabilität können Institutionen im Übergang zur funktional differenzierten Gesellschaft einerseits nicht mehr bieten, andererseits lehnt das Individuum solche institutionell vermittelten Formen der Stabilisierung
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Handling Sin; Tambling, Confession, Sexuality, Sin, the Subject; Tentler, Sin and Confession; Lea, A History of Auricular Confession. Zum Ablass vgl. Paulus, Geschichte des Ablasses; Möller, Ablaßkampagnen; Zur Fürbitte vgl.: Angenendt, Heilige und Reliquien, S. 81-84. Zur mönchischen Askese vgl. Angenendt, Heilige und Reliquien, S. 55-101; Lentes, Vita Perfecta; Melville, Geltungsgeschichten; ders., Im Zeichen der Allmacht. Vgl. Ohly, Desperatio und Praesumptio; ders., Der Verfluchte und der Erwählte. Vgl. Luhmann, Individuum, Individualität, Individualismus, S. 175f.
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Identität, Individualität, Subjektivität
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zunehmend ab. Zwar können Geselligkeit und Freundschaft als institutionalisierte Formen gesellschaftlicher Verbindlichkeit an die Stelle der Familie als stabilisierende Institutionen treten und der humanistische Freundschaftskult wie auch die lutherische Seelsorge belegen diese Funktion, aber diese Formen der Institutionalisierung sind deutlich fragiler als familiäre Bindungen. Das Individuum steht damit nicht nur in Heilsfragen, sondern auch in Fragen seiner Identität vor dem Problem, wie es sich jenseits dieser Verstrickungen denken kann. Es wird damit gleichzeitig auf sich selbst zurückgeworfen und von sich selbst distanziert, denn gerade durch den Wunsch, seine Identität selbst zu bestimmen, verliert es sich. Gleichzeitig unterliegt es damit aber auch dem Zwang, sich selbst denken zu müssen: Erst unbestimmte Identität oder Identitätsverlust eröffnen einen Prozess der Reflexivität und der Emotionalität, der das Selbst ins Zentrum rückt. Diese Diskurse des Selbst haben zwei Seiten: die Seite der Reflexivität sowie der Empfindung und die Seite der Offenbarung. Selbstanalyse, Selbstbespiegelung und Selbstoffenbarung sind zwei Seiten von Praktiken des Selbst, die zu den entscheidenden Insignien des neuzeitlichen Subjekts werden. Bezogen auf die Darstellungsmodi der Narration heißt das zunächst, dass ich Identität als das bestimme, was einer Figur in einem narrativen Text an identifizierenden Markierungen durch die Stimme des Erzählers zugewiesen wird, was in den erzählten Beobachtungen und Aussagen anderer Figuren aufscheint und in den Selbstbeschreibungen der Figur gegenüber Dritten implizit oder explizit geäußert wird. Unter Individualität dagegen verstehe ich die Weise, in der die Figur mit anderen in Beziehung gesetzt wird, welche sozialen und kommunikativen Beziehungen also zum Tragen kommen. Und unter Subjektivität verstehe ich die Weise, in welcher der Einzelne sich auf sich bezieht; die Weise also, in der er seine Selbstwahrnehmung an seiner Selbstbestimmung misst oder auf ihre soteriologische Bedürftigkeit hin betrachtet, sie unter bestimmten Semantiken bedenkt, empfindet und erleidet. Dabei sind in erster Linie die Semantiken zu berücksichtigen, unter denen diese Fragestellungen verhandelt werden. Mindestens zwei dieser Semantiken sind mit zentralen Problemstellungen der Frühen Neuzeit eng verbunden: die Verschiebung der Grenzen des Wissbaren und die Krise des Selbst angesichts seiner nicht festgelegten Identität. Diese Problemstellungen sind mit zwei Leitsemantiken verknüpft, zu denen eine kaum noch zu überschauende Zahl von Forschungsarbeiten vorliegt: curiositas und melancholia. Ihre besondere Brisanz in literarischen Texten entfalten diese Semantiken aber erst dadurch, dass sie mit der Identität, Individualität und Subjektivität einer literarischen Figur verknüpft werden: Es geht also nicht in erster Linie um curiositas, sondern um den curiosus, nicht vorwiegend um melancholia, sondern um den melancholicus. Beide Semantiken haben Forschungen zur Frühen Neuzeit im Allgemeinen und die Faust-Forschung im Besonderen seit
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Einleitung
langem beschäftigt.89 Entscheidend dabei ist, dass beide unter der Leitsemantik von Heil und Verdammnis betrachtet werden, in die Fausts Vita von Anfang bis Ende eingespannt wird. Die in Bezug auf diese Semantiken vorgenommenen Transformationen sind überaus vielfältig und lassen sich nur auf dem Wege der dichten Beschreibung aufschlüsseln.90 Der Vergleich zwischen den Faustbüchern des 16. bis 18. Jahrhunderts wird an einigen Stellen zeigen, dass häufig gerade das an den Beschreibungsaspekten der Faust-Figur verändert wurde, was seit Goethe als deren unveränderliches Substrat gilt.91 Exemplarisch lässt sich das knapp am Beispiel der curiositas verdeutlichen, die aus moderner Sicht geradezu das ist, was Faust ausmacht. Für die editio princeps von 1587 und die erweiterten Drucke sowie den Reimfaust und das English Faustbook ist curiositas in der Tat als Motivation des Teufelspaktes sowie als organisierendes Prinzip in der Beschreibung der unmittelbar an den Pakt anschließenden Lebensphase von zentraler Bedeutung. Das schließt Akzentverschiebungen im Einzelnen, etwa in den unterschiedlichen Druckfassungen, aber auch bei den formalen Transformationen keineswegs aus. Die Bearbeitungen von Widman (1599) und Pfitzer (1674) aber haben Faustus die Motivation durch die curiositas förmlich herausoperiert und ihm damit das genommen, was als Modernitätsausweis der Figur betrachtet wird. Ähnliche Veränderungen lassen sich auch bei den anderen zentralen Themen und Aspekten der Figur und den mit ihr verknüpften Leitsemantiken von Melancholie, Reue und Gewissen festmachen.
Narratologische Aspekte der Analyse So wie Fragen nach Fausts Identität nicht ohne die Berücksichtigung der Transformationen der Faustbücher zu beantworten sind, so können sie sinnvoll auch nicht ohne den Einbezug narratologischer Fragestellungen behandelt werden. Die Repräsentation der Identität einer literarischen Figur ist abhängig von der Narrativik des Textes, der diese Repräsentation leistet. Welche Identität der Erzähler ihm zuschreibt, wie andere Figuren innerhalb der Erzählung sie wahrnehmen, wie ihr Selbstverhältnis beschrieben wird und wie sie sich in der Erzählung selbst beschreibt, hängt entscheidend davon ab, auf welche Weise diese unterschiedlichen Stimmen und Perspektiven zum Tragen kommen. ————— 89
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Ich verweise an dieser Stelle nur knapp auf die wichtigsten Arbeiten zu diesen beiden Themen, welche die Forschung seit Jahrzehnten beschäftigen. Detaillierte Nachweise der Forschung zu beiden Semantiken im Zusammenhang der Faustbücher und die Auseinandersetzung mit der Forschung erfolgen in den jeweiligen Kapiteln dieser Arbeit. Vgl. Geertz, Dichte Beschreibung. Diese Vorstellung eines unveränderlichen identitären Substrats wird besonders deutlich in der metonymischen Rede vom ›faustischen Menschen‹ und dem ›Forschertitanen‹ Faustus.
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Narratologische Aspekte der Analyse
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Um die Verschränkung unterschiedlicher Erzählerstimmen und Erzählmodi innerhalb der Romane beschreiben zu können, bedarf es der Anwendung einer narratologischen Theorie, die der Komplexität der Konstruktionsformen gerecht zu werden vermag. Narratologische Theorieansätze, die sich solchen Fragen widmen, sind in den letzten Jahren wieder stärker in den Mittelpunkt der literaturwissenschaftlichen Diskussion getreten.92 Für die Differenzierung verschiedener Erzählstimmen und Erzählperspektiven hat wiederum Gérard Genette ein Modell entwickelt, das im Vergleich zu anderen Erzähltheorien den entscheidenden Vorteil einer präziseren Unterscheidung von Erzählformen und Erzählerpositionen hat. Überdies hat es den Vorzug, dass Genette es nicht deduktiv abgeleitet, sondern induktiv entwickelt, das heißt aus der Beobachtung von Erzählungen gewonnen hat, die von der Antike bis in die Gegenwartsliteratur reichen.93 Genette unterscheidet grundsätzlich zwischen der Diegese als dem raumzeitlichen Universum der Erzählung und der Diegesis als der Rede des Er————— 92
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Vgl. Martinez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie. Martinez und Scheffel verbinden mit ihrer Einführung in die Erzähltheorie den Anspruch, nicht nur eine Überblicksdarstellung über moderne Erzähltheorien zu geben, sondern aus ihnen einen eigenen erzähltheoretischen Entwurf zu entwickeln. Sie bieten die derzeit wohl beste Einführung und Übersicht zu neueren erzähltheoretischen Modellen und entwickeln daraus ein eigenes konzises Modell. Einen Überblick über moderne Erzähltheorien bieten verschiedene Textsammlungen: Karl Wagner (Hg.), Moderne Erzähltheorie: Grundlagentexte von Henry James bis zur Gegenwart, Wien u. a. 2002; Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matias Martinez/Simone Winko, Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000; Michael McKeon (Hg.), Theory of the Novel. A Historical Approach, Baltimore u. a. 2000; Susana Onega/José Angel García Landa (Hg.), Narratology: An Introduction, London u. a. 21999; Dorothee Kimmich/Rolf Günther Renner/Bernd Stiegler: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, Stuttgart 1996. Vgl. auch die Überblicksdarstellungen bei H. Porter Abbott, The Cambridge Introduction into Narrative, Cambridge 2002; Jochen Vogt, Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie. 8. durchgeseh. u. aktual. Aufl., Opladen 1998; Matthias Bauer, Romantheorie, Stuttgart 1997. Für die ältere Forschung, die teilweise überholt ist, teilweise aber nach wie vor eine Rolle in der jüngeren Erzählforschung spielt, vgl. Franz K. Stanzel, Theorie des Erzählens, Göttingen 1979; Wolfgang Haubrichs (Hg.), Erzählforschung. Theorien, Modelle und Methoden der Narrativik, 3 Bde., Göttingen 1976-1978; Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens, Stuttgart 1972 (zuerst 1955). Genette hat seine Erzähltheorie in zwei Schritten entwickelt. Die erste und grundlegende Arbeit »Discours du récit« (dt.: »Diskurs der Erzählung«) hat er 1972 publiziert, die zweite 1983 unter dem Titel »Nouveau discours du récit« (dt. »Neuer Diskurs der Erzählung«), in der er seine Theorie noch einmal kritisch reflektiert und in einigen Punkten modifiziert hat. Genettes Erzähltheorie ist in Deutschland erst mit einer gewissen Verzögerung rezipiert worden, was nicht zuletzt daran liegt, dass beide Arbeiten zusammen erst 1998 in deutscher Sprache unter dem Titel Die Erzählung erschienen sind. Genette hat sich in der zweiten Untersuchung unter anderem mit Stanzels Theorie des Erzählens (Göttingen 1979 u. ö.) auseinandergesetzt, die mit den geläufigen Unterscheidungen von auktorialem Erzähler, personalem Erzähler und Ich-Erzähler arbeitet, wobei er insbesondere kritisiert hat, dass Stanzel nicht zwischen der Frage »Wer sieht?« und »Wer spricht?« unterscheide. Vgl. Genette, Neuer Diskurs der Erzählung, S. 269-273.
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Einleitung
zählers.94 Im Prinzip arbeitet er mit einer dreistelligen Relation der Ebenen histoire (Geschichte: die Gesamtheit der erzählten Ereignisse), discours oder récit (Erzählung: das Erzählen dieser Ereignisse) und narration (Narration: der reale oder fiktive Akt, der diesen Diskurs hervorbringt). Daraus folgt die Unterscheidung zwischen der extradiegetischen und der intradiegetischen Position des Erzählers, die zunächst die Ebene des discours oder récit betrifft: Ein Erzähler, dessen Stimme von außerhalb der Erzählung spricht, der also als Erzähler nur durch seine Stimme markiert ist, ist ein extradiegetischer Erzähler; ein Erzähler, bei dem die narration in irgendeiner Weise in die histoire – auf derselben oder einer anderen Ebene – integriert ist, ist ein intradiegetischer Erzähler. Von der Ebene der histoire her betrachtet, kann der Erzähler entweder ein heterodiegetischer oder ein homodiegetischer Erzähler sein, d. h. er ist entweder auf einer anderen Ebene angesiedelt, wie das etwa beim Verhältnis von Rahmen- und Binnenerzählung der Fall ist, oder er ist eine Figur der Geschichte, als deren Erzähler er auftritt. Diese Ebenen sind miteinander verschränkt, so dass sich nach Genette vier mögliche Erzählerpositionen ergeben: extradiegetisch-heterodiegetisch, extradiegetisch-homodiegetisch, intradiegetisch-heterodiegetisch und intradiegetisch-homodiegetisch. 95 In der Regel hat der extradiegetisch-heterodiegetische Erzähler vollständige Macht über die Erzählung, weil personale Einschränkungen für seine Stimme nicht gelten. Allerdings hat das einen »Fiktionalitätspakt«96 zur Voraussetzung, der die Frage suspendiert, woher der Erzähler alles das wissen kann, was er erzählt.97 Der sogenannte »Fiktionalitätpakt«, der m. E. sinnvoller als Fiktionalitätslizenz zu bezeichnen wäre, besteht darin, dass der Leser dem Erzähler zugesteht, Dinge zu erzählen, die er eigentlich gar nicht wissen kann bzw. die er nur unter einer Voraussetzung wissen kann: dass er sie erfunden hat.98 ————— 94 95
96 97 98
Vgl. Genette, Diskurs der Erzählung, S. 116f. Matias Martinez und Michael Scheffel haben Genettes Beschreibung des homodiegetischen Erzählers noch weiter ausdifferenziert und unterscheiden fünf mögliche Positionen: 1. der Erzähler ist ein unbeteiligter Beobachter (die Geschichte berührt ihn selbst nicht); 2. der Erzähler ist ein beteiligter Beobachter (die Geschichte berührt ihn) (beide wären bei Genette extradiegetisch-heterodiegetische Erzähler); 3. der Erzähler ist eine nur am Rande beteiligte Nebenfigur; 4. der Erzähler ist eine der Hauptfiguren der Erzählung (das wäre bei Genette intradiegetisch-homodiegetisch); 5. der Erzähler ist die Hauptfigur. Martinez und Scheffel bezeichnen diese Position als intradiegetisch-autodiegetisch (bei Genette ebenfalls intradiegetisch-autodiegetisch). Vgl. Martinez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 82. Der Begriff wird hier im Anschluss an Umberto Eco (Im Wald der Fiktionen, S. 103-105) verwendet, der synonym vom Fiktionspakt bzw. dem Fiktionsvertrag spricht. Zur Frage des Erzählerwissens als Fiktionalitätssignal vgl. Genette, Fiktionale Erzählung, faktuale Erzählung; Cohn, Narratologische Kennzeichen der Fiktionalität. Ältere, zumeist mündlich tradierte Erzählformen, wie etwa die Heldenepik, die ebenfalls mit dem Anspruch auf Wahrheit des erzählten Geschehens operieren, verdecken diesen Konnex,
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Narratologische Aspekte der Analyse
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Gattungen, die den Anspruch erheben, ohne diese Fiktionalitätslizenz auszukommen, unterliegen deshalb gewissen gattungskonstitutiven Zwängen. Eine Erzählung, die sich als wahrhaftige Geschichte ausgibt, kann diese Frage nicht suspendieren und muss deshalb innerhalb der Erzählung andere Erzählerfiguren einsetzen, deren Fähigkeit, Aussagen über die Hauptfigur zu machen, überdies narrativ abgestützt werden muss. Die spätmittelalterliche oder frühneuzeitliche Gattung der ›Historia‹,99 also der mit dem Anspruch auf Tatsachenwahrheit versehenen Erzählung, hat daher eine Reihe narratologischer Konsequenzen, die folgenreich für die Beobachtung der Figur sind. Der Anspruch auf Tatsachenwahrheit beschränkt nämlich die Möglichkeiten des Erzählers erheblich: Erzählen kann er eigentlich nur das, was entweder irgendjemand innerhalb der Welt der Erzählung gesehen, gehört bzw. erlebt hat oder was durch Zeugen in irgendeiner Weise beglaubigt worden ist. Dagegen ist der Blick in den Kopf der Figuren außer über den Einsatz schriftlicher Selbstzeugnisse, im Prinzip ausgeschlossen. Die Möglichkeiten des Erzählers unterliegen insoweit erheblichen Einschränkungen: Er kann nicht erzählen, als ob er einen unbeschränkten Blick von oben hätte, der es ihm ermöglichte, nicht nur die Welt der Erzählung vollständig zu überblicken, sondern auch in die Köpfe und Herzen der Figuren zu schauen. Zweifellos folgen die ›Historien‹ des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit den aus ihrem Anspruch auf wahrhaftigen Bericht resultierenden Einschränkungen nicht konsequent. Aber dass die Verfasser sich des Problems zumindest bewusst sind und es zu bearbeiten versuchen, lässt sich am Beispiel der Historia und der nachfolgenden Faustbücher relativ genau zeigen. Schon die an verschiedenen Stellen eingestreuten Bemerkungen, dieser oder jener Teil der Erzählung gehe auf Fausts eigene »hinderlassene schriften« zurück, die angeblich zitierten Dokumente, wie der Teufelspakt, der Brief über die Gestirnsfahrt oder die Weheklagen, belegen, dass die Autoren darum bemüht sind, den ›Faktizitätspakt‹ mit dem Leser narrativ zu stützen.100 Dies geschieht durch den Einsatz von Dokumenten und die Berufung auf Zeugen, woraus die Verschränkung unterschiedlicher Erzählerstimmen und damit die Multiplizität der Erzählmodi resultieren. ————— indem sie sich auf eine Erzähltradition berufen (»uns ist in alten maeren / wunders viel geseit …«) an deren Anfang nicht Erfindung, sondern behauptete Erfahrung steht. 99 Zur Gattung ›Historie‹ in der Frühen Neuzeit vgl. Braun, Historie und Historien. 100 Im Hinblick auf die behauptete Faktizität der Erzählung scheint mir der Terminus Pakt – anders als im Hinblick auf Fiktionalität – angemessen zu sein, denn der Leser muss sich tatsächlich darauf einlassen, auf den Einspruch des ›Nicht-Wissen-Könnens‹ zu verzichten. Das ist etwas durchaus anderes, als über die Fiktionalitätslizenz dem Erzähler zuzugestehen, dass er Dinge erzählen darf, die er eigentlich gar nicht wissen kann. Das eine ist ein Verzicht, das andere ein Zugeständnis.
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Einleitung
Nicht selten aber kommt es auch zum abrupten Übergang von einer narrativen Ebene zu einer anderen, etwa wenn der Erzähler sich plötzlich in die Welt der Erzählung einschaltet und dort bestimmte Dinge kommentiert. Genette nennt dies narrative Metalepse.101 Dabei handelt es sich im Prinzip um eine Transgression des Erzählvorgangs, insofern der Erzähler sich nicht an die ihm zugewiesene Rolle hält. Auch das ist in den Faustbüchern verschiedentlich zu beobachten: So schaltet sich im English Faustbook der Erzähler plötzlich in Fausts Brief über seine Gestirnsfahrt an Jonas Viktor ein und merkt empört an, das Berichtete sei völliger Unfug und er wolle nun eine korrektere Darstellung geben, als dies »any rude german author being possessed with the Devil can utter«.102 In dieser Metalepse wird die Differenz zwischen Faustus als dem intradiegetisch-autodiegetischen Erzähler dieses Abschnitts und dem Autor, der Fausts Brief mit Hilfe von Schedels Buch der Chroniken und dem Elucidarius fingiert hat, getilgt, so dass man nicht wissen kann, ob der englische Gentleman P. F., den Brief für ein echtes Dokument nehmend, mit der Stimme des Erzählers Faustus kritisiert oder den Autor der Historia, der sich unzulänglichen Materials bedient hat. Solche Metalepsen sind in den Faustbüchern an unterschiedlichen Stellen zu beobachten; in der Regel sind sie mit der Bearbeitung der zentralen Semantiken wie curiositas, Melancholie und Gewissen verknüpft. Kennzeichnend für die in den Faustbüchern eingesetzten Erzählformen sind aber auch Prolepsen, d. h. Vorausblicke auf die weiteren Ereignisse bzw. das Ende, und Analepsen, also Rückblicke in die Vergangenheit. Prolepsen erscheinen zumeist auf der Ebene des extradiegetisch-heterodiegetischen Erzählers und hier insbesondere in den Vorreden, die in allen Faustbüchern von Beginn an das fatale Ende markieren. Analepsen finden sich vorwiegend auf der intradiegetisch-autodiegetischen Ebene von Fausts vorgeblichen Selbstzeugnissen. Teilweise verschränken sich in diesen Dokumenten aber auch Analepse und Prolepse, insbesondere in den Weheklagen, in denen Faust verzweifelt auf den Anfang zurückblickt und das Ende erwartet. Für die Beobachtung der Figuren ist jedoch nicht nur die Positionierung der Stimme des Erzählers entscheidend, sondern auch der Modus der Erzählung. Gleich von wo aus der Erzähler spricht, fokalisieren Erzählungen die Figuren der Erzählung, d. h., sie erzählen aus deren Blickwinkel. Anders gesagt: Sie erzählen als Beobachter zweiter Ordnung die Beobachtungen erster Ordnung. Solche Fokalisierungen sind zentral für die Beschreibung von Individualität innerhalb der Fausterzählungen: Mittels solcher Fokalisierungen können Fausts Sozialbeziehungen, also die Formen seiner Inklusion in verschiedene Teilsysteme der Gesellschaft, und damit zentrale Aspekte seiner ————— 101 Vgl. Genette, Diskurs der Erzählung, S. 167ff. 102 English Faustbook, ed. Jones, S. 125.
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Narratologische Aspekte der Analyse
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Individualität beobachtet werden. Die Erzähler fokalisieren in den Faustbüchern häufig auf solche Perspektiven, wenn sie beschreiben, was der Kaiser von Faustus hält, wie Adlige, Bürger und Bauern auf ihn reagieren, oder was die Studenten und Gelehrten über Faustus denken. Diese Fokalisierungen sind auch deswegen so aufschlussreich, weil sie am ehesten die Dominanz der religiösen gegenüber der literarischen Kommunikation unterlaufen, insofern sie im Fokus der Figuren immer wieder die eindeutige Etikettierung des Teufelsbündners unter der Semantik von Heil und Verdammnis konterkarieren. Das alles sind überaus komplexe Operationen, die in der Forschung bislang nahezu vollständig außer Acht gelassen worden sind, auch wenn verschiedentlich konstatiert worden ist, das Faszinosum der Figur habe sich gegen die Intentionen der Erzähler durchgesetzt, oder die Unterhaltsamkeit des Romans habe trotz der dogmatischen Funktionalisierung der Figur die Oberhand behalten. Der Widerspruch liegt aber nicht im Horaz’schen Diktum aut prodesse aut delectare,103 sondern in der Komplexität narrativer Darstellungsmodi und damit der literarischen Kommunikation überhaupt, die in der Multiplizität der Beobachtungsmodi Widersprüche nicht vermeiden und damit Autopoiesis nicht steuern kann. Aus dieser Komplexität geht narrative Ambiguität hervor, die umso ausgeprägter ist, je stärker narrative Texte auf Semantiken aufruhen, die einerseits höchstrelevant für das soziale System, andererseits aber stark umstritten sind.104 Narrationen ambiguisieren solche Semantiken, weil sie sie in Handlungen, Situationen und personale Wahrnehmungen einspeisen, in denen sie mit anderen Semantiken und deren unterschiedlichen Aspekten dergestalt dialogisiert werden, dass eine eindeutige Hierarchie zwischen ihnen und eine klare Bewertung nicht mehr herstellbar ist.105 Zwar lassen ————— 103 Vgl. Quintus Horatius Flaccus, Ars Poetica. Die Dichtkunst, Lateinisch/Deutsch, übers. u. mit einem Nachwort versehen von Eckart Schäfer, 2. Aufl., Stuttgart 1984, S. 25. Der vollständige Satz lautet: »Aut prodesse volunt aut delectare poetae.« 104 Für eine allgemeine Darstellung des Ambiguitätsbegriffs und seiner lexikalischen, semantischen und literarischen Aspekte vgl. Christoph Bode, [Art.] Ambiguität, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, S. 67-70. Zu Ambiguität als Merkmal sprachlicher Zeichen vgl. Frauke Berndt, Stephan Kammer, Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz. Die Struktur antagonistisch-gleichzeitiger Zweiwertigkeit, in: dies., Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz. Modelle und Erscheinungen von Zweiwertigkeit, Würzburg 2009, S. 7-30; Alan Bailin, Ambiguity and Metaphor, in: Semiotica 172 (2008), S. 151-169. 105 Ambiguität wird in der jüngeren literaturwissenschaftlichen Forschung als ein die Literatur der Moderne besonders auszeichnender Aspekt betrachtet. Vgl. Christoph Bode, Ästhetik der Ambiguität: Zu Funktion und Bedeutung von Mehrdeutigkeit in der Literatur der Moderne, Tübingen 1988, S. 2-6; Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfürt a. M. 1977, S. 90. Die Inanspruchnahme von Ambiguität als Charakteristikum ausschließliche moderner Literatur scheint mir jedoch nicht zwingend zu sein. Für die Frühe Neuzeit vgl. Christian Kie-
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Einleitung
sich Diskurse heranziehen, um die Sinngehalte von Narrationen nachzuvollziehen, aber das heißt nicht, dass sich daraus Eindeutigkeit gewinnen ließe. Auch im narrativen discours selbst gibt es Mittel, narrative Ambiguität zu begrenzen, dazu gehören insbesondere Paratexte und Erzählerkommentare. Auch sie können jedoch häufig nicht verhindern, dass Semantiken ambiguisiert und eindeutige Urteile unterlaufen werden, Ich will das in der nachfolgenden Untersuchung zunächst an den Transformationsprozessen von den Faust-Exempeln zu den Faust-Romanen nachvollziehen, um sodann am narrativen Muster der Legende darzulegen, welche Identitätskonstruktionen sich darüber entwickeln lassen. Im nächsten Schritt werde ich anhand der identitären Semantiken von Zauberei und curiositas deren Funktionalisierbarkeit aufzeigen. Im letzten Schritt widme ich mich den Aspekten von Individualität und Subjektivität und ihren Transpositionen in den Faustbüchern des 16. und 17. Jahrhunderts.
————— ning, Zwischen Mittelalter und Neuzeit? Aspekte der Epochenschwellenkonzeption, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 49 (2002), H.3, S. 264-277.
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2. Faustus als Exemplum eines verfehlten Lebens
Ein Exemplum menschlicher Verworfenheit Mit den protestantischen Exempeln ist die Historia nicht nur durch die inserierten homologen Prätexte, sondern auch architextuell verbunden. Dieser architextuelle Bezug resultiert daraus, dass in der Historia Fausts Vita selbst als Exempel präsentiert wird. Die Historia bedient sich nicht nur aus einer Reihe von Exempeln, sondern sie ist selbst ein Exempel. Diese Funktionalisierung wird bereits im Widmungsschreiben des Druckers Johann Spies deutlich, der vorab erklärt, dass er Fausts Lebensgeschichte als ein schrecklich Exempel deß Teuffelischen Betrugs/ Leibs vnd Seelen Mords/ allen Christen zur Warnung durch den o֏ffentlichen Druck publicieren vnd fu֏rstellen wolte. Dieweil es dann ein mercklich vnnd schrecklich Exempel ist / darinn man nicht allein deß Teuffels Neid/ Betrug vnd Grausamkeit gegen dem Menschlichen Geschlecht/ sehen/ sonder auch augenscheinlich spu֏ren kan/ wohin die Sicherheit/ Vermessenheit vnnd fu֏rwitz letztlich einen Menschen treibe […].1
Nach Spies’ Darlegung hat das Exempel Faustus somit einen doppelten Bezug: Einerseits warnt es vor den Fängen des Teufels, andererseits vor menschlicher Vermessenheit und Fürwitz. Demgegenüber hat die Vorred an den Christlichen Leser einen anderen Fokus. Ihr Ausgangspunkt ist nicht die Grausamkeit des Teufels oder der Charakter des Sünders, sondern der Status der Sünde: ————— 1
Historia von D. Johann Fausten. Text des Druckes von 1587. Kritische Ausgabe. Mit den Zusatztexten der Wolfenbütteler Handschrift und der zeitgenössischen Drucke. Hg. v. Stephan Füssel und Hans Joachim Kreutzer, Stuttgart 1988, S. 5 [zit. als: Historia, ed. Füssel/Kreutzer]. Neben der Ausgabe von Füssel/Kreutzer zitiere ich parallel stets die Ausgabe von Jan-Dirk Müller, Faustbuch, in: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten, Frankfurt a. M. 1990, S. 829-986 (Text) und S. 13191430 (Kommentar) [zit. als Faustbuch, ed. Müller]. Ich gebe die jeweiligen Textstellen beider Ausgaben parallel an, obwohl beide im Text nur minimal voneinander abweichen (Füssel/Kreutzer stützen sich auf den Druck a1, während Müller A1 zugrunde gelegt hat). Dazu habe ich mich entschlossen, weil beide Editionen – ein seltener Glücksfall in der Editionsgeschichte – hervorragend sind, aber durchaus Unterschiedliches leisten: So setzen insbesondere die Stellenkommentare beider Ausgaben verschiedene Akzente, wobei der Kommentar von Müller sehr viel ausführlicher und detaillierter ist. Andererseits bietet die Edition von Füssel/Kreutzer auch die sonst schwer greifbaren ›Quellentexte‹ und ermöglicht damit beispielsweise Studierenden einen Einblick in die Arbeitsweise des anonymen Autors.
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Faustus als Exemplum eines verfehlten Lebens
Wiewol alle Su֏nde in jhrer Natur verdammlich sind / vnnd den gewissen Zorn vnd Straffe Gottes auff sich tragen / so ist doch von wegen der vngleichen Vmbsta֏nde jmmer eine Su֏nde doch gro֏sser vnd schwerer / wirdt auch beydes hie auff Erden / vnnd am Ju֏ngsten Tag ernstlicher von Gott gestrafft / denn die andern / […]. Ohn allen zweiffel aber ist die Zauberey vnd Schwartzku֏nstlerey die gro֏ste vnnd schwereste Su֏nde fu֏r Gott vnd fu֏r aller Welt / […].2
»Zauberey« ist identisch mit Abgötterei und damit ein Verstoß gegen das erste Gebot, ein crimen laesae maiestatis. Unter Aufbietung zahlreicher Bibelzitate, vorwiegend aus dem Alten Testament und den Apostelbriefen, erläutert die Vorred dem christlichen Leser, dass der Mensch Gott seinem Schöpfer gehorsam sein müsse und es nichts greulicheres geben könne, als sich dem Teufel zuzuwenden. Hier fungiert Faustus als ein spezielles Exempel für den Abfall von Gott, an dem der christliche Leser nachvollziehen soll, wie es denjenigen ergeht, die sich dem Teufel verschreiben, was der Verfasser ohne Umschweife sogleich vorwegnimmt: Jn Summa / der Teuffel lohnet seinen Dienern / wie der Hencker seinem Knecht / vnnd nemmen die Teuffelsbeschwerer selten ein gut Ende / wie auch an D. Johann Fausto zusehen / der noch bey Menschen Geda֏chtnuß gelebet / seine Verschreibung vnnd Bu֏ndtnuß mit dem Teuffel gehabt/ viel seltzamer Abenthewr vnd grewliche Schandt vnd Laster getrieben / mit fressen / sauffen / Hurerey vnd aller Vppigkeit / biß jm zu letzt der Teuffel seinen verdienten Lohn gegeben / vnd jm den Halß erschrecklicher weiß vmbgedrehet. Damit ist es aber noch nicht gnug / sondern es folgt auch die ewige Straff vnnd Verdampnuß / daß solche Teuffelsbeschwerer endtlich zu jrem Abgott dem Teuffel in Abgrund der Hellen fahren / vnd ewiglich verdampt seyn mu֏ssen.3
An dieser Stelle mischen sich die Grausamkeit des Teufels und die Sündhaftigkeit Fausts, wobei letztere nunmehr nicht mehr auf »fu֏rwitz,« sondern auf die klassischen Sünden des Lasterkatalogs, »fressen / sauffen / Hurerey«, d. h. auf gula und cupiditas, zurückgeführt wird.4 Von daher ist es nur konsequent, wenn der Verfasser im abschließenden Teil der Vorred die unbeschreibliche Verworfenheit des Sünders und die mutwillige Intentionalität seines Handelns als Rechtfertigung der Strafe anführt und in der Vorstellung von der »recht Teuffelische[n] Boßheit« des Sünders diesen mit dem Teufel bis zur Ununterscheidbarkeit vermengt.5 ————— 2 3 4
5
Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 8; Faustbuch, ed. Müller, S. 836. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 11; Faustbuch, ed. Müller, S. 839. Zu den mittelalterlichen Lasterschemata bzw. dem Septenar der Hauptsünden, die teilweise auch als die sieben Todsünden bezeichnet werden, vgl. Staats, Hauptsünden; Jehl, Geschichte des Lasterschemas; Bloomfield, The Seven Deadly Sins; Ohly, Metaphern für die Sündenstufen. Heidrun Opitz (Die Historia von D. Johann Fausten, S. 241) hat die These vertreten, die Vorred begreife die »grewliche Verstockung« des Teufelsbündners als Werk des Teufels, während
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Ein Exemplum menschlicher Verworfenheit
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Wie soll vnd kan es auch wol anders gehen / wann ein Mensch seinen Gott und Scho֏pffer verlassen / Christum seinen Mittler verla֏ugnet / den im H. Tauff mit der H. Dreyfaltigkeit auffgerichten Bund vernichtiget / alle Gnaden vnd Gutthaten Gottes / vnnd sein eygen Heyl vnnd Wolfahrt zu Leib vnd Seel in die Schantz schla֏get / den Teuffel zu Gast la֏det / Bu֏ndnussen mit jm auffrichtet / vnd also bey dem Lu֏gen ‹-› vnd Mordgeist Wahrheit vnd Glauben / bey einem wissentlichen vnd abgesagten Feind guten Raht vnd Lehr / vnd bey dem vedampten Helledrachen einige Hoffnung / Glu֏ck vnd Segen suchet. Das ist ja kein Menschliche Schwachheit / Thorheit vnd vergeßlichkeit / oder / wie es S. Paulus nennet / ein Menschliche Versuchung / Sondern ein recht Teuffelische Boßheit / ein muhtwillige Vnsinnigkeit vnd grewlich Verstockung / die mit Gedancken nimmermehr ergru֏ndet/ geschweige dann mit Worten außgesprochen werden kann / darob auch ein Christenmensch / wann ers nur nennen ho֏ret / sich von Hertzen entsetzen vnd erschrecken muß.6
Was mit Gedanken nimmermehr ergründet, geschweige denn mit Worten ausgesprochen werden kann, nimmt sich der Verfasser der Historia zu erzählen vor. Trotz der eindeutigen Ausweisung als Exempel ist aber keineswegs klar, wofür Faustus als Beispiel fungieren soll: Als Exempel für die vom Teufel ausgehenden Gefahren, als Exempel für extreme Sündhaftigkeit, als Exempel für die schwerste aller Sünden, den Abfall von Gott, oder als Exempel für den Zorn Gottes, der den Teufelsbündner unbarmherzig straft? Zeigen sich bereits hier erste Ambiguitäten, so werden diese noch deutlicher, wenn der Verfasser der Vorred an den Christlichen Leser auf die Funktion des Exempels zu sprechen kommt. Zunächst legen die Ausführungen nahe, dass Fausts Vita dazu dienen soll, vor den Stricken des Teufels zu warnen und etwaige ähnlich Gesinnte zu ermahnen. Im nächsten Satz aber wird sogleich die Axt des Zweifels an die Wurzel der paränetischen Funktionalisierbarkeit gelegt: Damit aber alle Christen / ja alle vernu֏nfftige Menschen den Teuffel vnd sein Fu֏rnemmen desto besser kennen / vnnd sich darfu֏r hu֏ten lernen / so hab ich mit Raht etlicher gelehrter vnd verstendiger Leut das schrecklich Exempel D. Johann Fausti / was sein Zauberwerck fu֏r ein abscheuwlich End genommen / fu֏r die Augen stellen wo֏llen / Damit auch niemandt durch diese Historien zu Fu֏rwitz vnd Nachfolge mo֏cht gereitzt werden / sind mit fleiß vmbgangen vnnd außgelassen worden die formae coniurationum / vnnd was sonst darin a֏rgerlich seyn mo֏chte / vnnd allein das gesetzt / was jederman zur Warnung vnnd Besserung dienen mag.7
Damit ist eingestanden, dass die Funktionalisierung des Exempels scheitern könnte. Offenbar hat der Verfasser Zweifel, ob die Rezeption vollständig steuerbar ist. Der Hinweis auf die Auslassungen belegt vielmehr, dass er auch ————— 6 7
Spies der Eigenverantwortlichkeit sehr viel mehr Bedeutung zumesse. Nach meiner Auffassung ist es genau umgekehrt. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 11f.; Faustbuch, ed. Müller, S. 840. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 12; Faustbuch, ed. Müller, S. 841.
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Faustus als Exemplum eines verfehlten Lebens
gegenteilige Wirkungen für denkbar gehalten hat. Die Performativität des Exempels hielt er offenbar für sicher, nicht jedoch deren Richtung: Abschreckung und Verlockung betrachtete der Verfasser der Christlichen Vorred augenscheinlich als näher beieinander liegend, als er dies durch die zahlreichen, geradezu beschwörenden Verweise auf das schreckliche Ende zu markieren versuchte. Das abschreckende Beispiel sprach demnach keineswegs für sich selbst. Vielmehr musste man offenbar damit rechnen, dass es auch als Handlungsanleitung gelesen werden könnte, sonst wäre der explizite der Hinweis auf die ausgelassenen Beschwörungsformeln nicht erforderlich gewesen.
Negative Beispiele: Die Prätexte der Historia Derartige Bedenken teilten die Verfasser der protestantischen Exempelsammlungen des 16. Jahrhunderts, wie Andreas Hondorff und Wolfgang Büttner, offenbar nicht. Hondorff, dessen Promptuarium Exemplorum8 erstmals 1568 erschienen war und seither immer wieder neu aufgelegt wurde, sowie der mit seinem Epitome Historiarum (1576) weniger erfolgreiche Wolfgang Büttner9 versammelten zahlreiche Negativ-Exempel.10 Insbesondere in Hondorffs Promptuarium Exemplorum dominierten Negativ-Exempel, in denen von Sündhaftigkeit und Strafe erzählt wurde. Exempel »frommer gottseliger Leut« waren dagegen entschieden in der Minderzahl. ————— 8
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Hondorffs Promptuarium war die erfolgreichste protestantische Exempelsammlung. Schon 1570 erschien sie in einer erweiterten, um zahlreiche Exempel vermehrten Neuausgabe, die 1571 in Frankfurt am Main bei Peter Schmidt nachgedruckt wurde. Nach Hondorffs Tod im Jahre 1572 übernahm Vinzenz Sturm die Aufgabe, das Werk im Sinne des verstorbenen Freundes fortzusetzen und gab es in ständig erneuerter und vermehrter Form sowohl in Leipzig als auch in Frankfurt mehrfach heraus. Sturm fügte dem Promptuarium einen alphabetisch geordneten Index personarum mit den dazugehörigen Seitenangaben an, mit dessen Hilfe die Exempel nach ihren Hauptpersonen gezielt durchsucht werden konnten. 1575 erschien bei Sigmund Feyerabend die lateinische Übersetzung des Frankfurter Schulrektors und späteren Friedberger Predigers Philipp Lonicer, der bereits mit seinem Chronicum Turcorum bekannt geworden war. 1581 ermöglichte derselbe Verleger eine Ergänzung und Fortsetzung des Promptuariums durch den sächsischen lutherischen Geistlichen Zacharias Rivander. Auch die Leipziger Ausgabe, die nach dem Tod Vinzenz Sturms ab 1586 von dessen Vater Wencelaus Sturm betreut wurde, erlebte eine ergänzte Neuauflage. Auf diese Weise wurde das Promptuarium, das zunächst als Handbuch für die Vorbereitung von Predigten kompiliert worden war, zu einem »Hausbuch für die protestantische Familie«. Vgl. Schade, Andreas Hondorffs Promptuarium, S. 655ff. Wolfgang Büttner ist bekannter durch seine 1572 erschienenen Sechs hundert sieben und zwantzig Historien von Claus Narren. Vgl. dazu Ruth von Bernuth, Wunder, Spott und Prophetie: Natürliche Narrheit in den »Historien von Claus Narren«, Tübingen 2009; zu Büttners Epitome Historiarum vgl. hier S. 121-127. Vgl. auch Rehermann, Exempelsammlungen, S. 597-601. Vgl. Schade, Andreas Hondorffs Promptuarium; Wachinger, Der Dekalog.
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Negative Beispiele: Die Prätexte der Historia
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Die Absicht, vorwiegend über negative Beispiele zu wirken, hob Hondorff denn auch in der Widmungsvorrede hervor: Derwegen so gedencke ein jeder von Historien und Exempeln, das dieselben des Gesetzes als der heiligen Zehen Gebot Gottes zeugnissen sein, denn sie gnugsam anzeigen Solche Exempel, wie der Ewige Gott Abgötterey und Ketzerey, Gotteslesterung, falsche Eyde und Meineyde, Verachtung des Worts Gottes, ungehorsam der Kinder und Unterthanen Tyrannisch würgen und Auffruhr, Erschreckliche unzucht, Stelen und Rauben, verleumnunge des Nechsten, Geitz und Wucher, und ander dergleichen Laster, damit wider die Gebot Gottes gesündiget, gar schrecklich gestraffet habe.11
Auch Hondorffs Nachfolger Vincenz Sturm (Vincentius Sturmius) hatte keinerlei Bedenken bezüglich der Konzentration negativer Beispiele, sondern betonte die paränetische Funktion der Exempel von Sünde und Verworfenheit: Derhalben hoch von nöten ist / das Gottfürchtige Lehrer in den Kirchen und Schulen / das Göttliche Gesetz dem jungen Volck ernstlich und fleißig fürzutragen / und mit Exempeln erkleren / auff das sie dieselbigen anschawen und betrachten / und dadurch zu warhafftiger Buß und besserung jres Lebens angetrieben werden. Denn so sie hören / oder selbst lesen / die Exempel Göttliche zorns und der grawsamen straffen / so auff grobe eusserliche Laster Gott gelegt hat / daraus lernen sie Gott fürchten / und sich hüten für grossen Sünden.12
Die Konzentration der protestantischen Exempelsammlungen des 16. Jahrhunderts auf Negativ-Exempel begründete sich in erster Linie aus einem neuen Ordnungsprinzip, das andere Selektionsmechanismen als in den älteren Exempelsammlungen bedingte. Die mittelalterlichen Exempelsammlungen waren zumeist in einen alphabetisch geordneten Tugend- und Lasterkatalog eingeteilt, was in der Regel eine etwa gleichmäßige Verteilung von positiven und negativen Exempeln zur Folge hatte.13 Unter Philipp Melanchthons Einfluss setzte sich jedoch die Ordnung nach loci communes durch, die seit ihrer Begründung durch Erasmus im Humanismus eine wichtige Rolle spielten.14 Die loci mussten selbst gefunden und die zu lesenden Texte danach befragt werden, wobei die Auffindung der loci die entscheidende Aufgabe war. Ab 1521 erschienen Melanchthons Loci communes rerum theologicarum seu hypotyposes theologicae, die »Allgemeinbegriffe der theologischen Dinge oder Abriß der Theologie«.15 Später firmierten sie unter dem Titel Loci praecipui theologici, »die wichtigsten theologischen Begriffe«, die 1553 unter dem Titel ————— 11 12 13 14 15
Hondorff, Promptuarium Exemplorum (1568), Vorrede, unpaginiert, IV. Hondorff/Sturmius, Promptuarium Exemplorum, Leipzig 1585, Bl. IVa. Vgl. von Moos, Geschichte als Topik, S. 339. Grundlegend zu den loci communes ist nach wie vor die ältere Arbeit (1926) von Paul Joachimsen, Loci communes. Vgl. Melanchthon, Loci communes (1521).
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Faustus als Exemplum eines verfehlten Lebens
Heubartikel Christlicher Lehre auch in deutscher Sprache herausgebracht wurden.16 Melanchthons loci communes selbst verdanken ihre Entstehung seiner eindringlichen Beschäftigung mit dem Römerbrief, dessen Grundgedanken nach der Auffassung Melanchthons nicht nur die des Paulus, sondern die der ganzen Heiligen Schrift waren. Sie ließen sich in den Gegenbegriffspaaren ›Sünde und Gnade‹ sowie ›Gesetz und Evangelium‹ fassen.17
Die Gegensatzpaare von Sünde und Gnade, Gesetz und Evangelium hatte Luther ins Zentrum der reformatorischen Theologie gerückt.18 Luther verstand beide als typologische und soteriologische Abfolge, wobei die Betonung auf Gnade und Evangelium lag. Melanchthon nahm in der Kombinatorik der Gegenbegriffe gegenüber Luther jedoch eine Veränderung vor, indem er die Beziehungen zwischen Sünde und Gesetz und zwischen Evangelium und Gnade erörterte. Dadurch handelte es sich nicht mehr um Gegenbegriffspaare, sondern um die Gegenüberstellung zweier monolithischer Blöcke. Sünde und Gesetz sowie Evangelium und Gnade bildeten damit je eigene Kontexte aus, die zwar theologisch-systematisch aufeinander bezogen blieben, deskriptiv aber auseinander traten. Paul Joachimsen hat dazu bemerkt, der Satz des Apostels »e lege cognitio peccati«, durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde, sei für Melanchthon der wichtigste locus gewesen.19 Mit der Bestimmung der Erkenntnis der Sünde aus dem Gesetz lieferte Melanchthon die Begründung für die Häufung von Negativ-Exempeln, auch wenn diese bei ihm selbst noch keine Rolle spielten. Das änderte sich jedoch mit Johannes Manlius, der in seinen Collectanea locorum communium die Anordnung gegenüber Melanchthons Vorgaben in einem zentralen Punkt änderte. Während Melanchthon den Dekalog als göttliches Gesetz nach der heilsgeschichtlichen Abfolge immerhin noch zwischen Schöpfung und Evangelium angeordnet hatte, löste Manlius ihn aus dieser soteriologischen Bezogenheit und stellt ihn separat an den Beginn der Erörterung der christlichen Lebensordnung.20 Damit erhob er die Einteilung nach den Zehn Geboten zum prinzipiellen Ordnungssystem, wobei die Exempel zu jedem Gebot nach 8 bis 12 loci sortiert wurden. Manlius präsentierte jedoch nur zum ersten bis achten Gebot Exempel. Das hatte seinen Grund darin, dass Melanchthon dem neunten und zehnten Gebot eine Son————— 16 17 18
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Vgl. Melanchthon, Heubtartikel Christlicher Lere (1553). Scheible, Melanchthon, S. 142. Rehermann, Die Protestantischen Exempelsammlungen, S. 582. Vgl. Joachimsem, Loci communes, S. 388-393. Vgl. Steiger, Fünf Zentralthemen der Theologie Luthers, bes. S. 10-22; Asendorf, Die Theologie Martin Luthers, S. 326-354; Lohse, Luthers Theologie, S. 199-204 u. 283-294; ders. (Hg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther; Ebeling, Luther, S. 120-156. Vgl. Joachimsen, Loci communes, S. 432 mit Bezug auf Römer 3,20; vgl. auch Römer 7,7. Vgl. Wachinger, Der Dekalog, S. 253.
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Negative Beispiele: Die Prätexte der Historia
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derstellung unter den Geboten der zweiten Tafel eingeräumt hatte: während das vierte bis achte Gebot die äußeren Werke betrafen, war nach Melanchthon im neunten und zehnten Gebot von der concupiscentia und den vitiosi affectus die Rede, die der Mensch mit seinem Willen nicht beherrschen könne. Diese Gebote zeigten also die depravata hominum natura, die sich gegen Gott stellte.21 »Manlius aber konnte damit offenbar nichts anfangen, sei es, weil er den größeren Kontext zerstört hatte, sei es, weil eine solche Deutung kaum durch Exempelmaterial illustriert werden konnte.«22 Durch die neue Ordnung häuften sich auch bei ihm ›grausame‹ Exempel, was er durch deren abschreckende Wirkung zu rechtfertigen suchte. Allerdings war diese Wirkung bei Manlius eher rational als affektiv gedacht: In diesen vnd dergleichen grausamen Exempeln / haben wir / beyde / vnser menschliche schwachheit vnd nichtigkeit / vnd des Teufels gewalt zu֠ betrachten / Denn es ist sehr nutz / daß man vonn solchen Dingen gedencke / doch also / das daraus in vns erwachse / rechte vnd warhafftige forcht Gottes / lieb vnd andere tugende / vber das / bedencket auch / daß solche Exempel sein anzeigunge der geschwechten vnnd abgenommenen eusserlichen zu֠cht / vnnd fleischlichen sicherheit. Wir sehen das vns viel exempel vor die augen gestellt werden. Der Türck lieget auff dem hals / tewere zeit vnnd ander elendt mehr / sein vns auch vor der thür. Vnd diese Exempel zeigen vns an / wie daz noch erschröcklicher mörd künfftig geschehen werden / Erinneren auch vns / des spruchs Petri: Der Teuffel gehet umbher / wie ein brüllender Löw / vnd su֠cht welchen er verschlünge / dem widerstehet durch den glauben.23
Diese Ordnung wurde bei den späteren protestantischen Exempelsammlern des 16. Jahrhunderts üblich.24 Das galt insbesondere dann, wenn der Dekalog, wie etwa bei Hondorff, das einzige Ordnungsprinzip bildete, was bei Melanchthon und Johannes Manlius selbst nicht der Fall war.25 Durch die Ordnung nach dem Dekalog (also nach dem Gesetz), die im Mittelalter nicht sehr häufig Verwendung gefunden hatte, dominierten Negativexempel. Negative Exempel waren gattungsgemäß erst recht das Selektionsprinzip der dämonologischen Prätexte der Historia, die sich von den Exempelsammlungen vorwiegend darin unterschieden, dass sie sich ganz auf das Thema der Zauberei konzentrierten. Johann Weier26 und Augustin Lercheimer27 ————— 21 22 23 24 25 26
Ebd. Ebd., S. 254. Johannes Manlius, Locorum Communium Collectanea; das Zitat nach der deutschen Fassung II, 240v/241r . Rehermann, Die Protestantischen Exempelsammlungen, S. 595. Auch Johannes Manlius verwendete in seinen Collectanea den Dekalog nur als Teilsystem innerhalb eines komplexeren Gesamtplanes. Vgl. Wachinger, Der Dekalog, S. 239f. Johann Weier (auch Weyer, Wierus) (1515/16-1588) ist der bis heute berühmteste Kritiker der Hexenverfolgung. Vor seinem Studium der Medizin in Paris und Orleans war Weyer zunächst in Antwerpen und ab 1532 in Bonn Schüler Agrippas von Nettesheim (~1486-1535), dem Autor von De occulta philosophia (1531) und De incertitudine et vanitate scientiarum (1527). In letzte-
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Faustus als Exemplum eines verfehlten Lebens
waren entschiedene Gegner der Hexenverfolgung, und sie verfassten ihre dämonologischen Schriften, um gegen die um sich greifenden Hexenprozesse und die Hexenverbrennungen zu protestieren, denen vorwiegend arme alte Frauen zum Opfer fielen. Beide präsentierten dafür aber eine andere Gruppe als besonders verwerflich: die gelehrten Zauberer. Weier betonte im Hinblick auf die angeblichen ›Hexen‹, »daß ja zwischen jnen vnd den Teuffelsbeschwerern oder Schwartzku֏nstlern / ein grosser vnderscheid sey«.28 Denn die Zauberer belangend / seyn sie mehrtheils gelehrte / wolbesiӥte Ma֏nner / aber jedoch zuuiel sorgfeltig / fu֏rwitzig / die sich auch vnderweilen frembde Landschafften zu besuchen vnderneɣend / zu dem zweck vnnd end / daß sie etwan ein Sathanische kunst erhaschen / dadurch sie nichts anders / deӥ ein lauter Teuffels gepla֏rz ausserhalb allgemeinem lauff der Natur sehen lassen vnd spiegeln.29
Ähnlich unterstrich Lercheimer in Verteidigung der ›Hexen‹, die unter Bezug auf das mosaische Gesetz verfolgt wurden: Hie berufft man sich auffs gesetz Mosis / das muß hie gelten: Du solt die zauberer nicht leben lassen....Wo bleibet hie Mosis gsetz / der Gotteslesterer sol deß tods sterben: Ich will hie nit wiederholen was zuvor gesagt von den warsagern / gaucklern vnd
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rem Werk nimmt Agrippa den Hexenprozessen gegenüber eine überaus kritische Stellung ein. 1537 wurde Weyer in Orleans zum Doktor der Medizin promoviert. Von 1550 bis zu seinem Tod im Jahre 1588 war er Leibarzt Friedrich Wilhelms III. von Jülich-Cleve-Berg. Während dieser Zeit verfasste er sein Hauptwerk De praestigiis daemonum, et incantationibus, ac veneficiis, libri V, das 1563 in erster Auflage erschien. Bis 1586 erschienen elf Auflagen, fünf deutsche, drei davon von Fuglinus sowie zwei von Weier selbst übersetzte und sechs lateinische. Vgl. Siefener, Hexerei, S. 7. Augustin Lercheimer hieß eigentlich Hermann Witekind bzw. Hermann Wilcken; das Pseudonym Lercheimer benutzte er nur für sein Christlich Bedencken von Zauberey. Er wurde 1522 in Neuenrade an der Lenne, Grafschaft Mark in Westfalen geboren, welche damals zum Herzogtum Jülich-Cleve-Berg gehörte. Er studierte in Frankfurt a. d. Oder und in Wittenberg bei Luther und Melanchthon und freundete sich besonders mit letzterem an. Auf Melanchthons Empfehlung wurde er nach seinem Studium Rektor der Lateinschule in Riga. 1561 kam er nach Heidelberg und lehrte zunächst am Pädagogium, einer akademischen Vorbereitungsschule, und wenig später an der Heidelberger Universität Griechisch. Am 10. August 1563 wurde er zum Magister Artium promoviert und bald darauf Mitglied der Philosophischen Fakultät. 1576 starb Kurfürst Friedrich III., dem im Amt sein streng lutherischer Sohn Ludwig VI. folgte. Zahlreiche der reformierten Professoren mussten daraufhin die Universität verlassen. Lercheimer, der Philippist war (in vielen Quellen wird er freilich als Calvinist bezeichnet), blieb jedoch an der Universität. Als Ludwig 1579 von den Professoren das Unterzeichnen der lutherischen Concordienformel verlangte, weigerte sich Witekind mit vielen anderen, worauf sie unverzüglich entlassen wurden. In Neustadt an der Hardt, wo Ludwigs reformierter Bruder Johann Casimir 1578 eine neue Hochschule gegründet hatte, bekleidete er die Griechisch-Professur. Ludwig VI. starb 1583, sein Bruder übernahm die Regentschaft und damit konnten Witekind und die übrigen Professoren nach Heidelberg zurückkehren, was jedoch auf den Widerstand des lutherischen Senats stieß. 1584 wurde Witekinds Ernennung zum Professor der Mathematik (!) aber durchgesetzt. Er lehrte bis zu seinem 78. Lebensjahr und starb am 7. Februar 1603. Weier, De Praestigiis Daemonum, Vorrede, unpag. [IV]. Ebd.
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Selektion und Kombination
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herrlichen beruembten zauberern vnd schwartzkuenstlern / die nit allein nit gestrafft / sondern auch gehand habt / begabt vnd geehrt werden / so die doch harter sollten gestraft werden als die Weiber / darumb daß sie maenner sind.30
Folglich selegierten und kombinierten beide aus ihren Prätexten vorwiegend Negativ-Exempel, mit denen sie das ›fürwitzige‹ Treiben der Zauberer und Schwarzkünstler belegen wollten, die, anders als die melancholischen alten »Weibsbilder«, nicht nur nicht gestraft, sondern häufig noch mit Zeichen der Anerkennung überhäuft würden.
Selektion und Kombination Aus der Reihe dieser Negativ-Exempel sind große Teile von Fausts Vita zusammengesetzt worden. Andreas Hondorffs Promptuarium Exemplorum, Wolfgang Büttners Epitome Historiarum, Johann Weiers De Praestigiis Daemonum (in der Übersetzung von Johannes Fuglinus) und Augustin Lercheimers Christlich Bedencken von Zauberei (1585) wurden herangezogen, um Fausts Leben bis zu seinem erschrecklichen Ende zu erzählen.31 Sie alle erzählten neben Exempeln von zahlreichen anderen Zauberern auch Geschichten von Faustus und dessen »ebenthweren« an verschiedenen Orten und in unterschiedlichen sozialen Kontexten.32 ————— 30 31
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Lercheimer, Christlich Bedencken, fol. 78v. Die Prätexte aus den Exempelsammlungen sind zusammengestellt bei Alexander Tille, Die Faustsplitter in der Literatur des 16. bis 18. Jahrhunderts, Nr. 15-19, 22-27 u. 30-32. Eine Zusammenstellung aller ›Quellen‹ bietet die Ausgabe von Stephan Füssel und Hans Joachim Kreutzer: Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 217-296. Anders als Tille, dem es freilich nicht um das Faustbuch, sondern um alles ging, was je über Faustus geschrieben und verbreitet worden war, bieten sie jedoch nur das, was in die Historia eingegangen ist, wodurch die Selektivität der ›Quellen‹-auswahl verdeckt wird. Vgl. Füssel, Die literarischen Quellen der Historia. Füssel zählt in seiner alphabetisch geordneten Auflistung der Handbibliothek des Verfassers allerdings mehrere Texte als ›Quellen‹ auf, die höchstwahrscheinlich nicht verwendet worden sind. Dazu gehören die Zimmerische Chronik und Christoph Rosshirts Nürnberger Faustgeschichten, von denen höchst unwahrscheinlich ist, dass der Autor sie gekannt hat. Anders liegt der Fall bei Johannes Manlius’ Locorum communium, welches wohl als bekannt vorausgesetzt werden darf, von dem aber eher unwahrscheinlich ist, dass es tatsächlich verwendet wurde. Wenn überhaupt, dann ist eher anzunehmen, dass der Verfasser die 1566 in Frankfurt a. M. erschienene deutsche Übersetzung Johann Huldreich Ragors benutzt hat, denn außer dem Dictionarium Latino Germanicum und eventuell noch Weckers De secretis zog er offenbar keine lateinischen Texte heran. Möglich ist auch, dass Manlius ihm nur sekundär bekannt war, denn was dieser über Faustus mitteilte, ist von Weier teilweise, von Lercheimer vollständig übernommen worden. Vgl. Tille, Faustsplitter, Nr. 12 u. 14, S. 14-16 u. S. 19. Die Bezeichnung aller verwendeten Texte als ›Quellen‹ ist in der Forschung nach wie vor üblich. Diese Denomination verdeckt aber mehr als sie aufdeckt, denn sie stellt homologe und heterologe Prätexte ununterscheidbar nebeneinander. Eine gewisse Ausnahme bildet hier J.-D. Müller, der zwar ebenfalls von ›Quellen‹ spricht, sie aber nach unter-
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Faustus als Exemplum eines verfehlten Lebens
Die ältere Forschung ist freilich davon ausgegangen, dass die Historia nicht auf die Exempelsammlungen als ›Quellen‹ zurückgegriffen habe, sondern dass beide gleichermaßen an einer weit verbreiteten mündlichen ›Faustsage ‹ partizipiert hätten.33 Man konstatierte zwar mit einer gewissen Überraschung, dass der Faustus der Historia wenig mit dem historischen Faust zu tun habe, wofür dann eben die ›Faustsage‹ die geeignete Erklärung lieferte, aber man nahm nicht wirklich zur Kenntnis, dass er auch nicht sonderlich viel mit dem Faustus der Exempelsammlungen zu tun hatte, sondern vielmehr mit dessen ›Brüdern im Geiste ‹, von denen die Exempelsammlungen ebenfalls berichteten.34 Selbst die wenigen Autoren, die der Montagetechnik der Historia einige Aufmerksamkeit gewidmet haben, wie Marguerite de Huszar Allen und Frank Baron, haben nur die Kombinatorik der Exempel traktiert, nicht aber deren Selektivität.35 Hans-Gert Roloff hat zwar auf die Selektivität hingewiesen, sie aber damit zu begründen versucht, dass der Verfasser aufgrund seiner paränetisch-moralischen Intention allzu Schwankhaftes ausgeschieden habe.36 Damit ist das bemerkenswerte Faktum, dass der Verfasser der Historia aus den Exempelsammlungen auffälligerweise gerade nicht die über Faustus berichteten Exempel übernommen hat, aber nicht zu erklären, denn das Exkludierte lässt sich keineswegs dem Rubrum »schwankhaft« unterordnen.37 Nur vier (Kap. 42, 45, 52, 53) der vierundzwanzig Kapitel, die Kurzerzählungen aus den Exempelsammlungen integrieren, übernehmen Exempel, die zuvor über Faustus erzählt worden sind. Die übrigen Exempel sind von anderen, zumeist ungenannten oder weniger bekannten Zauberern (Wildferer, Schrammhans) auf ihn übertragen worden, zwei auch von Johannes Trithe————— 33
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schiedlichen Textsorten differenziert, womit implizit auch die unterschiedlichen Selektions- und Inserierungsmodi erfasst sind. Vgl. ders., Quellen, in: Faustbuch, ed. Müller, S. 1326-1329. Vgl. Schmidt, Faust und Luther, S. 575; Palmer/More, The Sources of the Faust Book Tradition, bes. S. 129. Nur Gustav Milchsack, Hermann Grimm und Wilhelm Meyer haben dieser Auffassung widersprochen. Vgl. Milchsack, Faustbuch und Faustsage, bes. S. 121ff.; Grimm, Die Entstehung des Volksbuches, S. 458ff.; Meyer, Das Faustbuch von 1587, S. 37. Vgl. Petsch, Einleitung, zu ed. Petsch, S. XXXII-XXXVII; Schmidt, Faust und Luther; in der jüngeren Forschung: Baron, Doctor Faustus, S. 70-82; ders., Faustus. Geschichte – Sage – Dichtung, S. 49-97. Baron geht in der letztgenannten Untersuchung von einem entwicklungslogischen Dreischritt der Faustgeschichte von Geschichte – Sage – Dichtung aus. Die protestantischen Exempelsammlungen bilden demnach zusammen mit den dämonologischen Traktaten und der Historia das Stadium der ›Sage‹. Das kann schon deshalb nicht überzeugen, weil Baron mit einem normativem Dichtungsbegriff operiert, der sich an den Kriterien des neunzehnten Jahrhunderts orientiert. Deshalb beginnen die Faust-Dichtungen nach seiner Überzeugung erst mit Marlowe. Vgl. Allen, The Faust Legend, S. 57-63; Baron, The Faust Book’s Indebtedness. Als einer der wenigen hat Jan-Dirk Müller (Faustbuch, ed. Müller, Kommentar, S. 1334) notiert: »Die bekannten Faustus-Anekdoten spielen nurmehr eine untergeordnete Rolle.« Vgl. Roloff, Artes et doctrina, S. 75. Siehe dazu Kap. 4.
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mius, der im 16. Jahrhundert als Magier ebenso berühmt wie berüchtigt war.38 Es ist nun aber keineswegs so, dass die Prätexte nichts Besonderes über Faustus zu berichten gehabt hätten und der Verfasser, weil er für eine vollständige Vita mehr Material benötigte, sich deshalb genötigt gesehen haben könnte, Exempel von anderen Zauberern auf Faustus zu übertragen. Ganz im Gegenteil scheint es gerade so, als habe er sich alle Mühe gegeben, die über Faustus umlaufenden Exempel möglichst zu umgehen. Diese Auslassungen sind auch nicht damit zu erklären, dass der Verfasser Weiers Praestigiis Daemonum und Lercheimers Christlich Bedencken nur nachlässig durchgeblättert hätte; die Faustexempel finden sich bei beiden relativ konzentriert. Bei Weier wird Faustus an einer Stelle ausführlich abgehandelt, und auf eben diese Stelle gibt die Vorred zur Historia selbst einen Hinweis, ohne die dort unmittelbar zuvor erfolgte Erwähnung Fausts anzusprechen: Wer auch jemals Historien gelesen / der wirt befinden / wenn gleich die Obrigkeit jr Ampt hierin nit gethan / daß doch der Teuffel selbst zum Hencker an den Schwartzku֏nstlern worden. Zoroastres / den man fu֏r Misraim / deß Chams Sohn / helt / ist von dem Teuffel selbst verbrennet worden. Einen andern Zauberer / der sich vermessen / die Zersto֏rung der Statt Troia einem fu֏rwitzigen Fu֏rsten zu representieren vnnd fu֏r die Augen zu stellen / hat der Teuffel lebendig hinweg in die Lufft gefu֏hret / Joannes Franciscus Picus. Deßgleichen hat er auch einem Graffen von Matiscona vber seiner Zauberey gelohnet / Hugo Cluniacensis. Ein anderer Zauberer zu Saltzburg / wolt alle Schlangen in ein Gruben / beschweren / war aber von einer grossen vnd alten Schlang mit in die Gruben gezogen vnd geto֏dtet / Wierus de praestigijs Daemonum lib. 2. ca. 4. In Summa / der Teuffel lohnet seinen Dienern / wie der Hencker seinem Knecht / […].39
Obwohl der Abschnitt des Kapitels mit der Erwähnung des Johannes Franciscus Picus und des Grafen von Matiscona quasi mit einem Buchzeiger versehen wird, übernimmt die Historia keines der beiden bei Weier angeführten Exempel. Das eine handelt davon, wie Faustus einen Pfaffen boshafter Weise beredet, sich den Bart mit Hilfe von Arsen zu entfernen, was dazu führt, dass diesem nicht nur der Bart abfällt, sondern auch die Haut und das Fleisch am Kinn; das andere referiert, wie Faustus einen bedauernswerten Melancholiker wegen dessen dunkler Hautfarbe als seinen Schwager anredet und nachschaut, ob er auch Klauen habe, was heißen soll, ob er ebenfalls des Teufels sei.40 ————— 38 39 40
Dass die Geschichte von Fausts Auftritt am Kaiserhof zuvor von Johannes Trithemius berichtet worden war, ist Pfitzer immerhin aufgefallen. Siehe dazu unten, Kap. 5. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 10f.; Faustbuch, ed. Müller, S. 839 (Hervorhebung MM). Vgl. Weier, De praestigiis Daemonum, S. 93. Das erste der beiden Exempel wird dann in die erweiterte Exempelreihe des B-Drucks übernommen. Vgl. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, Zusatztexte, S. 147f.
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Diese Exempel lässt der Verfasser der Historia aus, dafür übernimmt er zwei andere (in Kap. 33 und 54), die Weier auf der nächsten und übernächsten Seite über unbekannte Zauberer erzählt.41 Exkludiert – und das ist noch sehr viel bemerkenswerter – werden aber auch Weiers biographische Angaben über Faustus, mit denen die Exempel eingeleitet werden: Als vor zeiten zu Cracaw in Poln die Schwartzkunst inn offentlicher Schulen gelehrt vnd getrieben word· / ist dahin kommen einer mit namen Joannes Faustus / von Ku֏ndlingen bu֏rtig / der hat diese scho֏ne kunst in kurtzem so wol begrieffen / daß er hernach kurtz zuuor / ehedeӥ man geschrieben tausent fünffhundert vnnd viertzig / diselbige mit grosser verwunderung / vielen lu֏gen / vnd vnseglichem betrug hin vnd wieder in Teutschland one schew zutreiben vnnd offentlichen zu practiciren / angefangen. […] Aber sein Lohn ist jhme zu letzt auch worden. Damm / wie man sagt / so ist er in einem Dorff / im Wirtenberger Landt / desß morgens neben dem Bette / tod gefunden worden / vnnd das Angesicht auff dem Ru֏cken gehabt / vnd hat sich dieselbige nacht zuuor ein solch gethu֏mmel im Hauß erhaben / daß das gantze Hauß davon erzittert ist.42
Weder der Geburtsort Ku֏ndlingen noch die Lehre der Schwartzkunst in Krakau oder der Tod in einem Dorf in Württemberg sind übernommen worden.43 Ähnliches gilt für die Verwendung von Andreas Hondorffs Promptuarium Exemplorum.44 In den Exempeln zum zweiten Gebot berichtet Hondorff unter Berufung auf Manlius’ Loci communes unter dem locus »von Za֏uberey und Schwartzku֏nstlerey aller Zeyten« unter anderem von Agrippa von Nettesheim und Faustus: Zu N seind zwene Schwartzku֏nstler gewesen / vnd hat einer den andern (also scheinent) gefressen / denn der Teuffel hat denselben gefressenen in eine ho֏le oder loch gefu֏rth / der erst nach dreyen Tagen wider herfu֏r kam. Ein solcher Schwartzku֏nstler ist auch Johan. Faustus gewest / der viel Bubenstu֏ck durch seine schwartze Kunst geu֏bet / etc. [Marginalglosse: Johan. Faust.] Er hat bey sich alle wege ein Hund gehabt / das war ein Teuffel / etc. Da er gen Wittenberg kommen / were er aus Befehl des Churfu֏rsten gefangen worden / wo er nicht entrunnen / Dergleichen were jm auch zu Nu֏rnberg begegnet / da er auch entrunnen. Sein Lohn aber ist dieser gewest: Da seine zeit aus war / ist er in ein Dorff im Wirtenberger gebiet / bey einem Wirt gewesen / da jhn der Wirt gefraget / warumm er also trawrig were: Sagt er / Diese nacht soltu dich nicht fu֏rchten / ob du schon groß krachen vnd erschottern des Hauses ho֏ren wirst. Auff den Morgen hat man jn / in der Kammer da er lage / todt gefunden / mit vmbgedrehetem Halse. Iohan. Manlius in suis Collectaneis lib. 1. Das ist seyn und aller
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Vgl. Weier, De praestigiis Daemonum, S. 94f. Ebd., S. 93. Siehe dazu ausführlich Kap. 4. Vgl. Schade, Hondorffs Promptuarium, S. 675.
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Teuffelischer Ku֏nstler rechter Lohn, denn ob sich wol der Teuffel stellet als ob er sich von jnen meistern lasse, so gibt er jhnen doch endlich ihren Lohn.45
Die hier mitgeteilten biographischen Informationen hat der Verfasser der Historia vollständig ignoriert. Die Historia erzählt nichts von einem schwarzen Hund, der Faust stets begleitet habe, nichts von den Verhaftungsversuchen in Wittenberg und Nürnberg und auch nichts vom einsamen Tod in einem Württemberger Gasthaus. Stattdessen bilden Hondorffs Exempel über andere Zauberer die Prätexte für die Kapitel 36 und 43.46 Nicht minder deutlich ist dieses Verfahren auch bei der selektiven Auswahl, die der Verfasser aus Augustin Lercheimers Christlich Bedencken (1585) getroffen hat.47 Lercheimer war einer der wichtigsten Prätexte für die Historia und aus seiner Beschreibung sind mehr Einzelheiten übernommen worden als aus anderen Prätexten, aber dennoch gilt auch hier das Prinzip der selektiven Auswahl: Lercheimer erwähnt einen Mantelflug Fausts in Venedig, bei dem ihn der Teufel – wie einst Simon Magus in Rom – abstürzen ließ, was er aber überlebte; er berichtet von der Absicht des Fürsten, ihn in Wittenberg gefangen nehmen zu lassen; vor allem aber erzählt er unter dem locus »was gilts die teuffele / mit allen jren zaubereren vnd hexen / werden euch wol zu friden lassen. Mit kreutern vnd rauch / mit kreutzen ist nichts außgericht / der glaube vnd das gebett mu֏ßens thun« ausführlich von dem Versuch Philipp Melanchthons, Faustus zu bekehren. Der vnzu֏chtige teuffelische bube Faust / hielt sich ein weil zu Witebergk / kamm etwann zum Herrn Philippo / der laß jm dann einen guten text / schalt vnd vermanet jn daß er von dem ding beyzeit abstu֏nde / es wu֏rde sonst ein bo֏se end nemmen / wie es auch geschahe. Er aber kerete sich nicht daran. Nun wars ein mal vmm zehen vhr / daß der [37a] Herr Philippus auß seinem studorio herunder gieng zu tisch: war Faust bey jm / den er da hefftig gescholten hatte. Der spricht wider zu jm / Herr Philippe / jr fahret mich allemal mit rauchen worten an / Ich wils ein mal machen / wann jr zu tische gehet / daß alle ha֏ffen jn der ku֏chen zum schornstein hinnauß fliegen / daß jr mit
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Hondorff, Promptvarivm Exemplorvm, Leipzig 1568, Bl. 83b. In den Ausgaben Leipzig 1570, 1572, 1573 ist anstelle von »N« als Ort des Geschehens Wien angegeben. Für das 36. Kapitel kommen auch Luther und Lercheimer als mögliche Prätexte in Frage. Für Kapitel 43 ist Hondorff der einzige mögliche Prätext. Ob Lercheimer für die Historia als ›Quelle‹ fungiert hat war in der Forschung lange umstritten. Gegen die Annahme sprachen sich aus: Milchsack, Einleitung, in: ed. Milchsack, S. CCLXVII-CCXCVI; Meyer, Das Faustbuch von 1587, S. 324-327; Petsch, Lercheimer und das Faustbuch; Baron, Faustus, S. 87. Baron hat die zunächst von ihm selbst geteilte Auffassung dann in seiner Untersuchung »The Faust Book’s Indebtedness« zu widerlegen versucht. Dass Lercheimer eine wichtige ›Quelle‹ für die Historia war, kann heute als Forschungskonsens betrachtet werden. Die Selektivität der Auswahl ist bislang aber nicht hinreichend berücksichtigt worden.
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Faustus als Exemplum eines verfehlten Lebens
eweren gesten nicht zu essen werdet haben. Darauff antworte jm Herr Philippus: Daß soltu wol lassen / ich schiße dir in deine kunst. Und er ließ es auch.48
Nichts davon ist in die Historia eingegangen.49 Allerdings hat der Verfasser von Lercheimer mehr an Berichtetem über Faustus übernommen als aus allen anderen homologen Prätexten: Lercheimer erzählte im Anschluss an den Bericht von Melanchthons vergeblichem Versuch, Faustus zu bekehren, von einem ähnlichen, ebenfalls gescheiterten Versuch eines »gottesförchtigen« alten Mannes, der als Prätext für das 52. Kapitel diente: »Von einem alten Mann / so D. Faustum von seinem Gottlosen leben abgemahnt vnd bekeren wo֏llen / auch was Vndanck er daru֏ber empfangen«.50 In der Historia wurde dieser gescheiterte Bekehrungsversuch unmittelbar mit der zweiten Verschreibung im 53. Kapitel verknüpft, die Lercheimer unabhängig davon und in anderem Kontext erwähnt hatte: Denn wann sich die armen blo֏den weiber ein mal mit dem teuffel eingelaßen / förchten sie sich wider von jm abzufallen: damit er sie nicht schrecke / jnen vngemach / schaden vnd leid an thu. Der vielgemeldte Faust hat jm ein mal fu֏rgenommen sich zu bekeren / da hat jm der teuffel so hart gedrawet / so bang gemacht / so erschreckt / daß er sich jm auffs new hat verschrieben.51
Neben die Selektivität trat hier die Kombinatorik, die einen generischen Zusammenhang zwischen zwei bei Lercheimer völlig separaten Vorgängen herstellte. Damit stiftete die Historia Momente biographischer Kohärenz, die dem Exempel durchaus fremd waren. Das ändert freilich nichts daran, dass die Auswahl bemerkenswert selektiv blieb, auch wenn ein weiteres bei Lercheimer über Faustus erzähltes Exempel die Grundlage für das Kapitel 45 »Wie D. Faustus mit seiner Bursch in deß Bischoff von Saltzburg Keller gefaren« bildete.52 Alle weiteren aus Lercheimers Christlich Bedencken entnommenen Exempel wurden von anderen Zauberern auf Faustus übertragen.53 ————— 48 49
50 51 52 53
Lercheimer, Christlich Bedencken (1585), Bl. 36b-37a. In der Regel ist nur vermerkt worden, dass der Verfasser sämtliche Erwähnungen Melanchthons getilgt hat. Gustav Milchsack hat dieses auffällige Phänomen mit seiner These begründet, in Faust und Mephostophiles werde Melanchthon parodiert. Vgl. Milchsack, Faustbuch und Faustsage. Baron hat die Tilgung Melanchthons und seiner Bekehrungsversuche mit der antiphilippistischen Tendenz der Historia begründet. Vgl. Baron, The Faust Book’s Indebtedness, S. 542. Dieses Argument scheint mir freilich wenig überzeugend, denn gerade der gescheiterte Bekehrungsversuch Melanchthons hätte dafür doch ein geeigneter Prätext sein müssen. Daran ändert auch Lercheimers Polemik gegen die Historia in der Neuauflage des Christlich Bedencken von 1597 nichts. Lercheimer, Christlich Bedencken (1585), Bl. 37a. Ebd., Bl. 55a. Ebd., Bl. 29b. Es handelt sich um die Kapitel 36, 37, 51, 55 und 58. Allerdings gibt es für diese Kapitel auch noch andere mögliche Prätexte, so dass nicht sicher ist, ob nur ein Text und, wenn ja, welcher, letztlich als Vorlage firmiert hat.
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Dieses Verfahren war auch die Grundlage dafür, dass Luthers Tischreden überhaupt zu einem der Prätexte und nicht nur der Intertexte der Historia werden konnte, denn Luther erwähnte Faustus – offenbar, weil dessen Name bei Tisch gefallen war – nur an einer einzigen Stelle und nahm ihn als Exempel dafür, dass der Teufel nichts gegen ihn, den Reformator, ausrichten könne: DA vber Tisch zu abends eines Schwartzku֏nstlers Faustus genant gedacht ward / saget Doctor Martinus ernstlich / der Teufel gebraucht der Zeuberer dienst wider mich nicht / hette er mir gekont vnd vermocht schaden zu thun / er hette es lange gethan.54
Bezeichnenderweise erscheint dieses Exempel nicht unter dem locus »Vom teufel vnd seinen Werken«, sondern unter der Überschrift »Gottes Wort allein vberwindet des Teufels fewrige Pfeile vnd alle anfechtungen«. Luthers Tischgesellschaft gehörte offenbar nicht zu jenen »Gastungen und Gesellschaften«, bei denen »ein große nachfrage nach gedachtes Fausti Historia« herrschte.55 Namenlose Zauberer erwähnte Luther durchaus öfter. Gelegentlich nannte er auch Namen, etwa die der berühmten ›Magier‹ des sechzehnten Jahrhunderts Johannes Trithemius und Agrippa von Nettesheim, deren verwerfliches Treiben er mehrfach kritisch beleuchtete. Von diesen Exempeln sind vier in den Kapiteln 33 (»Ein Historia von D. Fausto vnd Keyser Carolo Quinto«), 34 (»D. Faustus zauberte einem Ritter ein Hirsch Gewicht auff sein Kopff«), 36 (»D. Faustus frist einem Bawern ein fuder Haew / sampt dem Wagen vnd Pferden«) und 38 (»Wie D. Faustus Gelt von einem Juden entlehnet / vnd demselbigen seinen Fuß zu Pfand geben / den er jhm selbsten / in deß Juden beyseyn / abgesaeget«) auf Faustus übertragen. Die »allenthalben große nachfrag nach gedachtes Fausti Historia«,56 auf die sich Spies als Begründung für die Herausgabe des Textes beruft, kann demnach für die Abfassung der Historia keine zentrale Rolle gespielt haben. Dem Verfasser ging es augenscheinlich nicht darum, möglichst viele der über Faustus verbreiteten Geschichten zusammenzutragen. Von daher ist es wenig sinnvoll, von einer über Faustus umlaufenden Sage zu sprechen, aus der dann die Historia erwachsen sei.57 Die Historia ist aus Prätexten kombiniert ————— 54 55
56 57
Aurifaber, Luthers Tischreden, Bl. 16v. Diese »grosse nachfrage« gibt Spies in seinem Widmungsschreiben als Begründung dafür an, dass er die Historia »der gantzen Christenheit zur warnung/durch den Druck mittheilete«. Vgl. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 5; Faustbuch, ed. Müller, S. 833. Ebd. In der älteren Forschung haben die These von der ›Sammelsage‹ vertreten: Petsch, Einleitung, in: ed. Petsch, S . XXXII-XXXVII; ders., Magussage und Faustdichtung; Schmidt, Faust und Luther; Palmer/More, The Sources of the Faust Tradition; Theens, Doktor Johann Faust, S. 35-61; in der jüngeren Forschung: Baron, Doctor Faustus, S. 70-82; ders., Faustus. Geschichte–
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Faustus als Exemplum eines verfehlten Lebens
worden, von denen die meisten nichts mit Faustus zu tun hatten. Eine möglichst breite Streuung von Beispielen unterschiedlicher Arten von Zauberei, durch deren Übertragung auf Faustus war offenbar aber auch nicht das Ziel, denn dafür ist die Auswahl der Exempel bei weitem zu schmal.58 Auch in dieser Hinsicht ist entschieden eine Auswahl getroffen worden, denn es hätte durchaus Beispiele für nachhaltigen und bösartigen Schadenszauber gegeben, an denen der Verfasser offenbar aber zielsicher vorbeigesteuert ist. Anders als der Titel Historia versprach, interessierte sich der Verfasser also nicht für Fausts ›wahre Geschichte‹. Er übernahm nicht alles, was seine Prätexte ihm über Faustus zu bieten hatten und einiges änderte er dezidiert gegen alle von ihm benutzten Prätexte: So war in den Exempelsammlungen nirgendwo davon die Rede, dass Faustus in Rod bei Weimar geboren worden sei, in Wittenberg studiert habe und zum Doctor der Theologie promoviert worden sei. Das erklärt natürlich einen Teil der selektiven Auswahl, denn die Entscheidung, die biographischen Grunddaten zu ändern, musste zwangsläufig zum Ausschluss aller ihnen widersprechenden Angaben aus den Exempelsammlungen führen.59 Die übrigen Selektionen und Kombinationen lassen sich daraus jedoch nicht ableiten: Aus der Verschiebung der biographischen Grunddaten folgte nicht die Notwendigkeit, bestimmte andere Exempel auf Faustus zu übertragen. Deshalb ist es, epistemologisch betrachtet, auch nicht möglich, daraus die Intention für diese Mischung aus Inklusion, Exklusion, Selektion und Kombination zu erschließen. Wohl aber lässt sich beobachten, welche Effekte sie auf der Ebene der Narration hat: Sie führt nämlich zu einer vollständigen Verschiebung der sozialen Situierung von Fausts Biographie. Durch die Übertragung bestimmter Exempel auf Faustus verbreiterte sich dessen soziale Welt enorm: Er kommt mit Vertretern der unterschiedlichsten Stände zusammen und tritt insbesondere mit Angehörigen des hohen und höchsten Adels in Verbindung, was in den zuvor überlieferten Exempeln nicht vorgegeben war. Betrachtet man zunächst die Exempelsammlungen unter dem Aspekt, in welcher sozialen Welt Faustus angesiedelt wird, dann ist es die Welt der Bauern und der Wirtshäuser. Bei den Reformatoren, denen er begegnet, stößt er auf wenig Gegenliebe, ————— 58
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Sage–Dichtung, S. 49-97; Hartmann, Faustgestalt–Faustsage–Faustdichtung, S. 13-33; Mahal, Faust, bes. S. 332-345; Henning, Faust im 16. Jahrhundert. Das 40. Kapitel »D. Faustus frist ein Fuder Haeuw« wiederholt Kapitel 36; das 56. Kapitel »Von einem Versammleten Kriegßheer wider den Freyherrn/so Doctor Faustus an des Keysers Hoff ein Hirschgewicht auff den Kopff gezaubert hatte/in seinem 19. Jahr« redupliziert im Prinzip Kapitel 35. Diese als Redundanzen gedeuteten Wiederholungen sind in der älteren Forschung als Beleg für die mangelnde künstlerische Fähigkeit des Verfassers genommen worden. Vgl. Petsch, Einleitung, in: ed. Petsch, S. XXXII-XXXVII. Darin dürfte wohl auch der Grund dafür liegen, dass die bei Manlius angeführten Angaben Melanchthons über Fausts Herkunft nicht berücksichtigt werden konnten. Vgl. Tille, Faustsplitter, Nr. 12 u. 14, S. 14-16 u. S. 17-19.
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sondern auf mahnende, wenn auch nicht drohende Ansprache und ist der Verfolgung durch verschiedene Obrigkeiten ausgesetzt, deren er sich nur mit Hilfe seines teuflischen Ratgebers zu entziehen vermag. In der Historia dagegen begegnen ihm zwar auch Bauern, jüdische Händler und Wirtsleute, aber das ist nur ein kleiner Ausschnitt seiner sozialen Umwelt. Von der Obrigkeit ist weit und breit nichts zu sehen. Faustus zecht häufig mit Studenten, aber er fungiert auch als ihr Lehrer und Erzieher, genießt in den Kreisen der Gelehrten höchste Anerkennung, behandelt erkrankte Adlige und stellt ihnen zutreffende Horoskope, ist in den Kreisen des hohen und höchsten Adels ein gerne gesehener Gast und verbringt selbst seinen letzten Abend im Kreise ihm zugetaner Studenten und Magistri.60 Für eine solche Ausdehnung bot ein einziger, bislang noch nicht erwähnter Prätext ein die veränderten sozialen Bezüge schlaglichtartig erhellendes Exempel: Wolfgang Büttners Epitome Historiarum. Das 1576 erschienene Epitome Historiarum erzählte von Faustus nur zwei kurze Exempel, von denen eines nicht nur für das 49. Kapitel der Historia, die Beschwörung Helenas, als Prätext fungiert haben dürfte, sondern auch für die Erweiterung von Fausts sozialen Bezügen.61 Helena selbst kommt in Büttners Exempel freilich nicht vor, aber die soziale Situierung entspricht der des ersten Helenakapitels in der Historia.62 Büttner siedelt die Beschwörung der antiken Helden in Wittenberg an und lässt Faustus das Zauberkunststück vollbringen: So habe ich auch gehört / das Faustus zu Wittenbergk / den Studenten vnd einem hohen Mann N. habe Hectorem / Ulyssem / Herculem / Aeneam / Samson / Dauid / vnd andere gezeiget / die denn mit grausamer geperde / vnd ernsthafftem angesichte herfür gangen / vnd wider verschwunden / vnd sollen (welches Luth. nicht gelobt) dazumal auch Fürstliche Personen dabey gesessen / vnd zugesehen haben.63
Er bildet damit in zweierlei Hinsicht eine Ausnahme gegenüber allen anderen Exempelsammlungen: Bei Luther, Weier und Lercheimer erfolgt die Beschwörung am Hofe Maximilians I. und der Zauberer, der sie mit Hilfe des Teufels zuwege bringt, ist nicht Faustus, sondern Johannes Trithemius (Luther, Lercheimer) bzw. ein namenloser Schwarzkünstler (Weier).64 Nur Büttner berichtet von der Vorführung vor Wittenberger Studenten, schreibt das Ereignis Faustus zu und betont, dass adelige Personen zugegen gewesen sei————— 60 61
62 63 64
Einer der wenigen, die sich mit diesem Aspekt bislang beschäftigt haben, ist Hanns Henning. Vgl. ders., Gesellschaftliche Gruppen im Faustbuch. Das zweite Exempel (Epitome Historiarum, Bl. 59a.) ist extrem kurz und wird unter dem locus »Hexenflug« abgehandelt: »Zu Halberstadt/ist mir recht/so war es Faustus/vnd sprach nach dem essen/wolan/waschet die hende/zu Lubeck wollen wir sie treugen.« Zu Helena siehe ausführlich Kap. 7. Büttner, Epitome Historiarum, Bl. 115a. Siehe zu den hypertextuellen Transformationen dieses Exempels in den Faustbüchern Kap. 7.
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en, was die Kritik Luthers hervorgerufen habe. Die Verbindung von Studenten, Adel und Wittenberg ist hier erstmals hergestellt, aber eben in einem einzelnen Exempel, das nur punktuell, nicht zeitlich gedehnt erzählt wird. Am nächsten Tag, d. h. im nächsten Exempel, war Faustus schon wieder in seine normale Lebenswelt zurückgekehrt. In der Historia dagegen bildet diese Kombination den Kern seiner sozialen Welt. Begreift man Selektion und Kombination mit Niklas Luhmann als Kommunikation, dann kommuniziert die Historia damit, dass Faustus keine marginale Gestalt war, keiner von den vielen Gauklern, die die Straßen und Wirtshäuser bevölkerten. Faustus erscheint als Schnittpunkt der in der stratifikatorischen Gesellschaft strikt hierarchisch getrennten Stände, deren Lebenswelten sich kaum berührten. Für Faustus, den Bauernsohn, lässt der Verfasser solche Schranken nicht gelten. Er ist überall dabei. Er ist damit in einer Weise in der Welt, die es verhindert, dass man ihn so leicht wieder hinausschaffen könnte. Die Multiplizität seiner sozialen Bezüge mochte zwar für die mögliche Kohärenz einer Biographie problematisch, aber für ihre exemplarische Funktion konnte sie durchaus anschlussfähig sein.65 Um diese Anschlussfähigkeit in ihren unterschiedlichen Aspekten aufzeigen zu können, bedarf es jedoch zunächst des Rekurses auf die Funktionen, die Möglichkeiten und Einschränkungen des Exempels unter narratologischen und argumentativen Aspekten. Das Exempel im Allgemeinen und die protestantischen Exempelsammlungen im Besonderen, sollen im Folgenden daher nicht hinsichtlich ihrer prätextuellen, sondern ihrer architextuellen Bezüge betrachtet werden.66 Dabei soll die Frage berücksichtigt werden, welche Folgen es hat, wenn die Funktion eines in der Regel ausschnitthaften Exempels auf eine umfangreiche Erzählung übertragen wird, wenn also aus einem Mikro-Exempel ein Makro-Exempel wird.67 Um die narratologischen und funktionalen Aspekte berücksichtigen zu können, will ich zunächst auf die Definition des Exempels in der jüngeren Forschung, die Differenzierung zwischen unterschiedlichen Gebrauchsformen und die möglichen Funktionalisierungen exemplarischen Erzählens eingehen. ————— 65 66
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Zum Problem der biographischen Kohärenz und den Aspekten von Individualität, die sich aus Fausts sozialen Bezügen ergeben, siehe Kap. 7. Die narratologischen Konsequenzen aus der Zusammensetzung zahlreicher Einzelexempel zu einer biograpischen Erzählung sind in der Forschung bislang kaum berücksichtigt worden, worauf Jan-Dirk Müller im Kommentarteil zu seiner Edition des Faustbuches hin-gewiesen hat: »Selten nur wurde die Frage nach der Funktion der mehr oder minder über-zeugenden ›Entlehnungen‹ innerhalb der Gesamtanlage gestellt.« (Faustbuch, ed. Müller, Kommentar, S. 1326). Von einem Makro-Exempel hat Jan-Dirk Müller in Bezug auf Jörg Wickrams Knabenspiegel gesprochen. Er hat in diesem Kontext jedoch angedeutet, dass er die Historia eher den Texten zuordnet, in denen »pädagogische Wirkungsabsicht und eine in keinerlei Lehrsätze auszumünzende Suggestion des Geschehens […] in Spannung zueinander treten«. Vgl. ders., Romane des 15. und 16. Jahrhunderts, in: Faustbuch, ed. Müller, S. 998.
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Narrativik und Systematik: Zur Funktionalität von Exempeln Gerd Dicke hat das Exempel charakterisiert als »eine in einem argumentativen oder narrativen Zusammenhang von außen beigezogene, durch ihn in Sinn und Funktion festgelegte und von ihm isolierbare, zumeist narrative (kurze) Texteinheit, die über ein tertium comparationis auf den Kontext bezogen ist.«68 Nach Dicke sind für das Exempel demnach der Inseratcharakter, die Isolierbarkeit und das tertium comparationis kennzeichnend, welche die Inserierung in einen argumentativen oder narrativen Zusammenhang ermöglichen. Hinsichtlich der Funktionalisierbarkeit herrscht in der Forschung weitgehend Konsens, nicht jedoch hinsichtlich der Frage, ob die Gattungsdefinition in der Funktion aufgeht oder ob es darüber hinaus zumindest gattungshafte Aspekte des Exempels im Sinne einer Kurzerzählung gibt. Über dieses Problem hat sich in den 1990er Jahren eine noch unabgeschlossene Forschungsdiskussion entsponnen. Insbesondere Peter von Moos hat betont, dass »das Exemplum, wie immer man es fasse, ursprünglich einen literarischrhetorischen Funktionsbegriff darstellt, nicht aber einen Gattungsbegriff. Exempla sind Teile verschiedener sie verwendender Gattungen. Gleichviel ob ›Histörchen‹ oder historische Gestalten: Exempla sind stets auf den sinngebenden argumentativen Kontext angewiesen.«69 Daher sei das Exempel »eine rhetorische Form oder Funktion, mit der vergangenes Geschehen in persuasiver Absicht auf einen gegenwärtigen Problemfall bezogen wird«.70 Burghart Wachinger hat dieses Primat der Funktion gegenüber gattungshaften Aspekten auf die Formel gebracht: »Exempel ist, was als Exempel für etwas anderes dient. Erst die Funktion im Kontext macht das Exempel zum Exempel.«71 Dieser Position hat sich auch Christoph Daxelmüller angeschlossen, wobei er versucht hat, unterschiedliche Funktionen der prinzipiellen Funktionalisierung exemplarischen Erzählens zu benennen: Das Exemplum ist eine funktionale Einheit, die sich durch den Kontext definiert und in Regestform eine Geschichte in belehrender (educatio), beweisender (demonstratio), illustrierender (illustratio), überzeugender (persuasio), argumentierender (argumentatio), moralisierender (moralisatio) und unterhaltender (delectatio) Absicht erzählt. Es konkretisiert eine abstrakte Aussage oder dient der Deduktion wissenschaftlicher Thesen.72
Die argumentative Funktion gehört nach seiner Auffassung eher in den Bereich der Rhetorik, die moralisch belehrende in den Bereich der Homiletik und der Paränese. Demgegenüber hat Walter Haug die Frage aufgeworfen, ————— 68 69 70 71 72
Dicke, Exempel, S. 536. von Moos, Geschichte als Topik, S. 44. Vgl. auch S. 332. von Moos, Das argumentative Exemplum, S. 58. Wachinger, pietas vel misericordia, S. 229f. Vgl. auch Haug, Exempelsammlungen, S. 264f. Daxelmüller, Narratio, Illustratio, Argumentatio, S. 80f.
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Faustus als Exemplum eines verfehlten Lebens
ob nicht bestimmte narrative Formen besser als andere geeignet seien, die argumentative oder moralisch belehrende Funktion zu erfüllen, und ob es von daher nicht doch möglich sein müsse, »eine bestimmte Typen-Gruppe oder gar einen einzelnen optimalen Typus« heraus zu filtern.73 Die rhetorische Tradition Als Argumentationsmittel hat das Exempel eine alte Tradition. Die antike Rhetorik unterscheidet für das genus iudicale zwischen technischen (künstlichen / artificiales) und nicht-technischen (natürlichen / inartificiales) Beweisen. Technisch sind Beweise oder Belege, die der Redner selbst mit seiner Kunst auf den Fall bezieht, nicht-technisch (natürlich) jene Argumente, die im Fall selbst liegen (wie etwa Indizien). Nach diesem Schema gehört das Exemplum nominell zu den künstlichen Beweisen, denn es hängt mit dem Fall nicht genetisch, sondern erst durch ein vom Redner herbeigezogenes tertium comparationis zusammen.74 Damit ist freilich nur die formale Logik des Exemplums festgelegt, nicht jedoch seine spezifische Funktion oder sein möglicher Gegenstand. Peter von Moos differenziert daher zwischen dem monumentalen und dem anekdotischen Exemplum, Volker Mertens zwischen dem emblematischen und dem narrativen Exempel.75 Das monumentale oder emblematische Exempel verweist mittels eines Stichwortes oder des Namens lediglich auf einen historisch überlieferten casus oder eine Person, während das anekdotische oder narrative Exempel den Sachverhalt oder die Geschichte mehr oder minder kurz erzählt.76 Das Exempel definiert sich demnach aus seiner Funktion, nicht aus seiner jeweiligen Funktionalisierung. »Das Prinzip besteht, formal betrachtet, gerade in irgendeiner Verbindung von Wort und Tat zum Zweck einer Anführung, ›Benützung‹, ›Erwähnung‹ fremden Guts im eigenen Zusammenhang.«77 Woher dieses ›fremde Gut‹ genommen werden sollte, war durch die Funktionalität des Exempels im argumentativen Zusammenhang der Rede nicht festgelegt. Allerdings gab es schon in der antiken Rhetorik eine deutliche Tendenz, Exempel der Geschichte zu entnehmen. So definierte Aristoteles in der Rhetorik das historische Exempel als illustratives Argumentations————— 73 74 75
76 77
Haug, Exempelsammlungen, S. 265. Vgl. von Moos, Geschichte als Topik, S. 73. Vgl. ebd., S. 79; Mertens, Das Verhältnis von Glosse und Exempel, S. 229. Ähnlich formuliert Michael Menzel (Predigt und Geschichte, S. 14): »Einfache Namensnennungen historischer Persönlichkeiten, womit beim Hörer assoziativ bestimmte Erzählinhalte präsent gemacht werden sollen, sind ebenso als Exempel anzusehen wie breit ausgeführte Episoden.« Vgl. Daxelmüller, Narratio, Illustratio, Argumentatio, S. 90ff. von Moos, Geschichte als Topik, S. 161.
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Narrativik und Systematik: Zur Funktionalität von Exempeln
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mittel, dem er die Fabel als erfundenes Argumentationsmittel gegenüberstellte.78 Anders als der Fabel räumte er dem Exemplum den Rang eines Erfahrungsbeweises ein.79 Diese Bevorzugung des historischen Exempels wurde noch deutlicher bei Cicero und in der Rhetorica ad Herennium (um 85 v. Chr.). Ciceros Vorstellung von der historia als magistra vitae machte diese zum hervorragenden Fundus lehrhafter Beispiele.80 »Geschichte oder das geschichtliche Exempel, so heißt es, sei ad institutionem praesentium oder dazu da, aut hortamur aut dehortamur.«81 Mit Geschichte konnten dabei sowohl vergangene und gegenwärtige Ereignisse gemeint sein, von denen der Redner mittels glaubwürdiger Zeugen Kenntnis hatte, als auch für glaubwürdig gehaltene historiographische Berichte. »In weitaus den meisten Fällen hat historia den Sinn einer erzählten, insbesondere schriftlich fixierten, autorisierten »Geschichte« und kann darum mit der abgeleiteten Bedeutung des »Geschichtenbuchs« oder des historiographischen Werks verschmelzen.«82 Zur Ausbildung der Redner dienten seit Valerius Maximus Exempla-Sammlungen, die den Rednern die nötigen Beispiele und Gegenbeispiele zur Verfügung stellten. Die Masse der Geschichten fiel unter bestimmte Rubriken, die von bestimmten Tugenden, Lastern und Affektzuständen abgeleitet waren. Das gleiche Exemplum konnte dabei unter verschiedenen Einteilungsgesichtspunkten mehrfach zur Verfügung gestellt werden. Seit der Antike bestand eine Hauptaufgabe des rhetorischen Unterrichts darin, berühmte Gestalten mit bestimmten moralischen Themen in Verbindung zu bringen.83
Fungierte das Exempel in der Rhetorik als Beweis- oder Belegbeispiel (confirmatio), diente es in der Pädagogik und der Ethik als erzieherisches Vorbild- oder Warnbeispiel (exhortatio / admonitio oder dehortatio).84 Von daher, so Peter von Moos, kann heuristisch zwischen dem rhetorischargumentativen und dem moralisch-pädagogischen Exempelgebrauch unterschieden werden.85
————— 78 79 80 81 82 83 84 85
Vgl. Aristoteles, Rhetorik, A.2. 1356b, 2-3. Vgl. ebd., B.20.1393a, 22-1393b, 4. Vgl. dazu von Moos, Das argumentative Exemplum, S. 62. Vgl. Koselleck, Historia magistra vitae; Stierle, Geschichte als Exemplum. Menzel, Predigt und Geschichte, S. 23f. von Moos, Geschichte als Topik, S. 150. Ebd., S. 343. Ebd., S. 67. Vgl. ebd., S. 67f. Christoph Daxelmüller unterscheidet in ähnlicher Weise die homiletischpastorale von der wissenschaftlich-argumentativen Funktion des Exempels. Vgl. ders., Narratio, Illustratio, Argumentatio, S. 84.
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Typisierung durch exempla Beiden Funktionen des Exempelgebrauchs, der rhetorisch-argumentativen wie der moralisch-pädagogischen, eignet eine Tendenz zur Typisierung, die beim monumental-emblematischen Exempel besonders deutlich ist, aber auch für das anekdotisch-narrative Exempel gilt. Die hermeneutisch ausschlaggebende Kontextabhängigkeit ist ein Hauptmerkmal allen Exempla-Gebrauchs seit der Antike. Immer und überall wurden Personen und Ereignisse künstlich aus der historischen Wirklichkeit herausgelöst und ihrer individuellen Identität entkleidet. Derart zu Typen, Symbolen, Emblemen, Metaphern transformiert, vertraten sie als Ganze nur noch bestimmte Einzeleigenschaften.86
Während im römischen Exempelgebrauch wegen dessen Verbindung zum Ahnenkult die Personen fast immer positive Helden waren, setzte sich im Mittelalter mit der Anbindung der Exempla an die verbreiteten Tugendenund Lasterkataloge ein nach beiden Seiten offener Exempelgebrauch durch: die Exempel konnten sowohl Tugenden als auch Laster repräsentieren. Häufig waren bestimmte Personen mit einer bestimmten Tugend oder einem Laster verbunden, für das sie emblematisch standen. Verschiedentlich konnten die Zuschreibungen aber auch wechseln und eine exemplarische Gestalt, wie etwa Alexander der Große, konnte sowohl als Beispiel für Tugenden als auch für Laster in Anspruch genommen werden.87 Darin zeigt sich die Nähe des Exempels zum Topos, der stets in bonam et in malam partem ausgelegt werden kann.88 »In vereinfachter Form lebt das rhetorische Verfahren auch in den spätmittelalterlichen artes praedicandi fort, die im Rahmen der inventio locorum Exempla als handliche metonymische Tugendchiffren – David für Demut, Job für Geduld – anzuwenden empfehlen.«89 Belege für diese Art des Exempelgebrauchs finden sich in der Historia an zahlreichen Stellen. So zieht schon die Vorred die Beispiele Zoroasters und des »Graffen von Matiscona« heran, um deutlich zu machen, dass »der Teuffel seinen Dienern / wie der Hencker seinem Knecht« lohnt. Freilich sind diese Beispiele nicht »monumental« genug, um ohne die in einen Satz gepresste Erzählung der Ereignisse, nämlich auf welche Weise sie vom Teufel getötet worden sind, auskommen zu können.90 Im ersten Kapitel, in dem Fausts Eltern von dem Vorwurf entlastet werden, sie hätten sich nicht genügend um die Erziehung ihres Sohnes gekümmert, sondern diesem »allen ————— 86 87 88 89 90
von Moos, Geschichte als Topik, S. 337. Vgl. ebd, S. 339. Vgl. Bornscheuer, Topik, S. 121. von Moos, Geschichte als Topik, S. 344. Zum Einsatz (historischer) exempla in den artes praedicandi vgl. Menzel, Predigt und Geschichte, bes. S. 48-62. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 10; Faustbuch, ed. Müller, S. 839.
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Narrativik und Systematik: Zur Funktionalität von Exempeln
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Mutwillen in der Jugend zugelassen«, werden mehrere biblische Namen herangezogen, um zu belegen »daß fromme Eltern Gottlose / vngerahtene Kinder haben / wie am Cain / Gen. 4. An Ruben / Genes. 49. Am Absolon / 2. Reg. 15. vnd 18. zusehen ist«.91 Hier genügt die Namensnennung mit dem Verweis auf die jeweilige Bibelstelle, weil die biblischen Namen hinreichend monumental waren, um die gewünschten Konnotationen auszulösen. Wichtige monumentale Exempel finden sich auch in der Bekehrungsansprache des frommen Nachbarn, der den zweifelnden Faustus davon zu überzeugen sucht, dass es noch möglich sei, »Gnad vnd verzeihung zusuchen / dessen jhr viel scho֏ner Exempel habt / als an dem Scha֏cher / Item / an S. Petro / Mattheo vnd Magdalena«.92 Freilich konterkariert der Erzähler die monumentalen Exempel des Nachbarn durch die ebenfalls monumentalen Exempel von Kain und Judas, wenn er Fausts Reue wiederholt als »Cains- vnd Jude Reuw vnd Buß« denunziert. Zwar werden im Text monumentale Exempel sowohl als positive als auch als negative Beispiele eingesetzt, aber die Negativbeispiele dominieren, insbesondere deshalb, weil sie in der Regel von der Stimme des Erzählers getragen werden oder paratextuell als quasi-objektive Marginalglosse erscheinen: Die Monumentalität der Exempel wird in diesen Fällen zu einer Festschreibungsformel. Sie legt fest, dass Faustus nicht durch wahre Reue zu Gott zurückfinden kann. Exempel im Kontext religiöser Unterweisung Diese Form der Festschreibung durch Monumentalisierung war jedoch insgesamt nicht typisch für die Verwendung des Exempels in der religiösen Kommunikation. Insbesondere für die mündliche Kommunikationsform der Predigt bevorzugten vorreformatorische wie reformierte Seelsorger das narrative Exempel.93 Volker Mertens hat für die religiöse Kommunikation vier Funktionen des Exempels unterschieden: die theologische Lehre, die moralische Anweisung, die Erbauung und die Erregung von Emotionen, denen er als fünfte die Unterhaltung beigesellt.94 Diese vier Funktionen hat er aus den theoretischen Äußerungen mittelalterlicher Prediger extrahiert, als deren Aufgabe formuliert wurde: 1. doctrinam pronuntiare (die Lehre verkünden); 2. ad virtutes inducere, a malo retrahere (zum Guten hinführen, vom Schlechten wegführen); 3. aedificare (erbauen); 4. movere (bewegen).95 Während das ————— 91 92 93 94 95
Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 13; Faustbuch, ed. Müller, S. 843. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 102; Faustbuch, ed. Müller, S. 914. Vgl. Menzel, Predigt und Geschichte, S. 65-112. Vgl. Mertens, Das Verhältnis von Glosse und Exempel, S. 238. Vgl. ebd., S. 231.
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Faustus als Exemplum eines verfehlten Lebens
Exempel für die Verkündigung der Lehre nur eine untergeordnete Funktion hatte, war es für die Hinführung zum Guten, die Entfernung vom Schlechten, die Erbauung und die Affektion von entscheidender Bedeutung. Diese vier Funktionen blieben auch nachreformatorisch grundlegend für den Exempelgebrauch in der Homiletik.96 Luther hat – anders als Melanchthon – den Stellenwert von Exempeln in der Homiletik nicht systematisch behandelt.97 Er hat sich jedoch in verschiedenen Werken über die Nützlichkeit von Exempeln geäußert. Grundsätzlich schrieb er dem Exempel eine größere Effektivität zu als der Belehrung, wobei er sich auf Senecas berühmten Sinnspruch stützte: longum iter est per praecepta, breve et efficax per exempla.98 So betonte er beispielsweise in der Vorrede zu der von Wenzeslaus Linck angefertigten Übersetzung der Historia Galeatii Capellae (1538) ausdrücklich die Nützlichkeit narrativer Exempel: Denn die selben [i. e. die Exempel] machen, das man die rede klerlicher verstehet, auch viel leichter behelt. Sonst, wo die rede on Exempel gehört wird, wie gerecht und gut sie jmer ist, beweget sie doch das hertz nicht so seer, ist auch nicht so klar und nicht so fest behalten. Darümb ists ein seer köstlich ding umb die Historien. Denn was die Philosophi, weise Leute und die gantze vernunfft leren oder erdencken kann, das zum ehrlichen leben nützlich sei, das gibt die Historien mit Exempeln und Geschichten gewaltiglich und stellet es gleich fur die augen, als were man dabey, und sehe es also geschehen, alles, was vorhin die wort durch die lere jnn die ohren getragen haben.99
In dieser Beschreibung des Nutzens von Exempeln sind drei Aspekte zusammengefasst: 1. die bessere Verständlichkeit von Geschichten gegenüber Erklärungen, 2. die größere Eindringlichkeit, die zu einer besseren Verankerung im Gedächtnis führt, und 3. die affektive Wirksamkeit. Alle drei Aspekte der Attraktivität und Nützlichkeit des Exempels gründen für Luther ————— 96 97
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Vgl. Rössler, Beispiel und Erfahrung. Vgl. Steiger, Fünf Zentralthemen der Theologie Luthers, S. 256. Steiger bemerkt dazu, dass diese fehlende Systematik zu einer systematischen Unterschätzung von Luthers Bewertung der Bedeutsamkeit von exempla und dessen Einfluss auf die protestantischen Exempelsammlungen zur Folge habe. Zu Melanchthons Befürwortung des Exempelgebrauchs vgl. Schwarz, Die Wahrheit der Geschichte. L. Annaei Senecae Ad Lucilium epistolae morales I. Bearb. von L. D. Reynolds, Oxford 1965 (ScriptClassBiblOxon), Brief 6, S. 11. »Es ist ein langer Weg, der durch Belehrung, ein kurzer und erfolgreicher, der durch das Beispiel wirkt«. Dt. Übersetzung zit. nach Lucius Annaeus Seneca, Dialoge: Briefe an Lucilius. Erster Teil: Brief 1-81. Übersetzt, mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Otto Apelt. (Lucuis Annaeus Seneca, Philosophische Schriften, Bd. 3, Hamburg 1993), Brief 6, S. 14. Apelt merkt dazu an (S. 358, Anm. 16), es handele sich um eines der meistzitierten Worte Senecas. Luther, Vorrede zur Historia Galeatii Capellae, WA 50, S. 383.
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Narrativik und Systematik: Zur Funktionalität von Exempeln
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in der Kraft der Narration, eine Vorstellung zu erzeugen »als were man dabey und sehe es also geschehen«.100 Diese affektive Wirksamkeit konnte sowohl durch das Vorbild (exhortatio) als auch durch die Abschreckung (dehortatio) erzielt werden. Freilich hatte letztere Funktion zur Voraussetzung, dass Geschichten erzählt wurden, die man durchaus für bedenklich halten konnte. In seinem Polycraticus hatte Johann von Salisbury deshalb auf die Unterscheidung Wert gelegt, dass die Dichter Laster beschrieben, nicht aber lehrten (notant, non docent). »Sie gehen durch die bösen Sitten hindurch, um der Tugend Raum zu schaffen, so wie Odysseus durch allerlei Gefahren in die Heimat zurückgekehrt ist. Die Freunde, die er auf seinen Irrfahrten verloren hat, waren ihm exempla, nützliche Lehren zur Vorsicht.«101 Eine vergleichbare Funktion hat Luther in Aurifabers Tischreden negativen Beispielen unter dem locus »Wie man der Historien von des Teufels Tyranney brauchen sol« zugewiesen: Das sind warlich nicht vnnütze vnd vergebliche Historien vnd Geschichte / die Leute damit furchtsam zu machen / Sie sind trawen schrecklich/vnd gar kein Kinderwerck / wie die Klüglinge meinen / Darumb wollet solche Historien vnd dergleichen wol mercken / das jr bescheidener / züchtiger /vnd vleissiger seid / vnd euch hütet für Fluchen vnd Gotteslesterung / vnd ladet den Teufel nicht zu Gaste / Er ist vns viel neher / denn wir gedencken.102
Die Paränese sollte dabei im Prinzip auf zwei unterschiedlichen Wegen erreicht werden. Zum einen sollte die angestrebte Wirkung mittels der rational begründeten Distanzierung des Lesers von den Beispielen erzielt werden. Wie Andreas Hondorff kurz und bündig bemerkt, sollte das Exempel »nach dem gemeinen Sprichwort: Mit ander Leuten schaden wird man klug« seine paränetische Wirkung erzielen.103 Zum anderen dienten Exempel aber auch dazu, affektive Erschütterung beim Leser oder Hörer auszulösen und darüber eine quasi-kathartische Kraft zu entfalten: Historien und Exempel müssen uns Gottes wort gleich scherffen, das wir uns der guten und gnedigen Exempel zu trösten, der schrecklichen und ungnedigen zu entsetzen und zu fürchten haben […] so sollte uns solch erkenntnis je billich zur furcht und gehorsam Gottes zwingen und treiben. Denn wir sonsten durch wunderbarliche und unzehliche ergernis und sündtliches verdamliches leben gnugsam geergert und verfürt werden.104
————— 100 Zur Funktion des Exempels, die Affekte der Menschen anzusprechen, vgl. Steiger, Fünf Zentralthemen der Theologie Luthers, S. 257f. 101 von Moos, Geschichte als Topik, S. 177f. 102 Aurifaber, Luthers Tischreden, Bl. 299r. 103 Hondorff, Promptuarium Exemplorum (1585), Vorrede, unpag. [IVa]. Zur allgemeinen Funktion der Vorrede vgl. Schwitzgebel, Noch nicht genug der Vorrede, S. 25f. 104 Hondorff, Promptuarium Exemplorum (1568), S. 661.
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Transgression des Exempels durch das Exempel Dem narrativen Exempel kam von daher in der protestantischen Homiletik eine entscheidende Bedeutung zu. Auch daraus erklärt sich die große Zahl protestantischer Exempelsammlungen, die nicht zuletzt als Handbücher zur Predigtvorbereitung gedacht waren. Die narrativen Exempel innerhalb der Predigten unterlagen freilich durch die Performanz der paränetischen Ansprache und die homiletische Auslegung einer intensiven normierenden Kontrolle ihrer Sinnbezüge, die ihre Komplexität erheblich reduzierte. Die Komplexität von Narration war hier nicht nur durch ihre Funktionalisierung, sondern auch durch ihre spezifische Einbindung begrenzt. Ohne eine solche spezifische Einbindung allerdings entziehen sich die Sinnbezüge der Kontrolle. Zweifellos lässt sich Narration nie vollständig in ihren Sinnbezügen und Deutungsmöglichkeiten kontrollieren. Aber diese können doch so umstellt werden, dass eine Kontrolle wahrscheinlich ist, zumal die Anschlussfähigkeit von Kommunikation durch die spezifische Vortragssituation der Predigt und die Amtsträgerschaft des Predigers – die Laienpredigt blieb auch im Protestantismus, zumindest dem lutherischer Prägung, ein kurzes Intermezzo – zusätzlich gesichert werden konnte. Man könnte das Exempel innerhalb der Predigt deshalb auch als kontrollierte Kurzerzählung definieren.105 Die Kontrolle, d. h. die Rezeptionssteuerung, wird auf dreierlei Weise ausgeübt: zum einen durch die bloße Kürze der Erzählung, zum anderen durch die Einbindung in einen performativen Rahmen und zum dritten durch die Auslegung. Daran wird freilich auch deutlich, dass die Kontrolle von Sinnbezügen unwahrscheinlicher wird, je stärker ein Exempel aus diesem normierenden Kontext heraustritt. Von daher definiert eine sich als »wahrhaftiger Bericht« gerierende Langerzählung völlig andere Kommunikationsbedingungen als eine exemplarische Kurzerzählung: Langerzählungen sind sperrig gegenüber allen drei Formen der in der Predigt ausgeübten Kontrolle. Gegenüber der ersten, weil sie durch die schiere Dauer der Lektüre den Leser zu tief in die Welt der Erzählung involvieren; gegenüber der zweiten, weil sie aus dem performativen Rahmen der seelsorgerlichen Ansprache zwangsläufig herausgelöst werden müssen; und gegenüber der dritten, weil eine Langerzählung die Auslegung bestenfalls als Kommentar ermöglicht, diesen aber sowohl quantitativ als auch hinsichtlich seiner Platzierbarkeit marginalisiert. Letzteres ist durchaus wörtlich zu nehmen: Die in den Paratexten wie Vorrede und Nachwort mögliche Rezeptionssteuerung wird von der Erzählung ————— 105 Vgl. Menzel, Predigt und Geschichte, S. 112.
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Transgression des Exempels durch das Exempel
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an die Ränder verwiesen; im Raum der Erzählung selbst bleiben nur die Marginalnotizen als Kontrollraum. Die Beziehungen der Historia zum Exempel sind unter diesen Voraussetzungen überaus komplex. Als Prätexte bilden die Exempel der protestantischen Exempelsammlungen die Vorlage für die inhaltliche Gestaltung einzelner Kapitel. Damit werden sie funktionalisiert – was der Definition des Exempels ja durchaus entspricht. Aber sie werden eben nicht für die narrative Unterfütterung einer Argumentation oder für die narrative Ausgestaltung der Paränese funktionalisiert, sondern für die Konstruktion einer biographischen Erzählung. Eine solche Funktionalisierung von Exempeln ist ungewöhnlich und im Hinblick auf die Bewahrung der Funktionalisierbarkeit nicht unproblematisch. Als Intertexte repräsentieren die protestantischen Exempelsammlungen die Möglichkeit der Verwendung monumentaler und narrativer Exempel sowie die Konzentration auf ein negatives Beispiel. Im Hinblick auf die argumentative Funktionalisierung von Exempeln innerhalb der Historia ist das relativ unproblematisch – sofern man davon absieht, dass der Erzähler mit diesen Exempeln ein Urteil über Faustus fällt, das eigentlich Gott vorbehalten ist. Als Architext steht das Exempel für die strikte Funktionalisierung des Erzählens und die Kürze und Ausschnitthaftigkeit der Narration. In diesem architextuellen Bezug liegt, narratologisch betrachtet, das eigentliche Problem: In ihrer Mikrostruktur, den einzelnen Kapiteln, bildet die Historia das Exempel unmittelbar ab. In ihrer Makrostruktur als umfangreiche biographische Erzählung transgrediert sie es jedoch. Sie nimmt den Leser mit auf eine affektive Odyssee, bei der nicht mehr sicher ist, dass dieser Odysseus aus dem Untergang seiner Gefährten lernt und aus deren Schaden klug wird. Der Verlust an rezeptionssteuernder Kontrolle ist für die Funktion exemplarischen Erzählens aber überaus prekär, und es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Georg Rudolf Widman, der erste Bearbeiter der Historia, der den Text fundamental transformiert hat, sich diese Kontrollmöglichkeiten gegenüber der Erzählung nahezu gewaltsam zurückeroberte, indem er an jedes einzelne Kapitel einen umfangreichen Kommentar angehängt hat.
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Heterologe Prätexte, Intertexte und fiktive Figuren Heterologe Prätexte der Historia Trotz der grundsätzlichen Anlehnung der Historia an die Funktion des Exempels bilden die den Exempelsammlungen entnommenen homologen Prätexte nur einen Teil der als ›Quellen‹ der Historia von D. Johann Fausten bezeichneten Texte.106 Ohne Herkunftsnachweis werden daneben zahlreiche Ausschnitte aus völlig heterogenen Texten wörtlich inseriert oder paraphrasiert: Hartmann Schedel: Weltchronik; Hans Sachs: Lobspruch der Stadt Nürnberg; Elucidarius; Jacobus de Theramo: Belial; Jacobus de Gruytrode: Spiegel der armen sündigen Seele; Heinrich Seuse: Büchlein der Ewigen Weisheit; Petrus Dasypodius: Dictionarium Latino Germanicum; Sebastian Brant: Narrenschiff; Johannes Agricola, Sebastian Franck und Christian Egenolff: Sprichwörter.107 Diese heterologen Prätexte unterscheiden sich von den homologen Prätexten der Exempelsammlungen in erster Linie dadurch, dass sie per se weder einen Bezug zu Faustus noch zu Erzählungen von anderen Zauberern haben. Außerdem sind sie sämtlich keine narrativen Texte. Dennoch füllen sie teilweise ganze Kapitel: So sind beispielsweise dem Schedel’schen Weltchronik und dem Elucidarius die Stadt- und Länderbeschreibungen des ersten Teils sowie die Beschreibungen der Gestirne und der Hölle entnommen.108 Die ältere Forschung hat sich nach der Aufdeckung dieser ›Quellen‹ vorwiegend darüber empört, dass der Verfasser scham- und hemmungslos abgeschrieben ————— 106 Vgl. die Auflistung bei Füssel, Die literarischen Quellen, S. 19f. sowie bei J.-D. Müller, Faustbuch, ed. Müller, Kommentar, S. 1326-1329. 107 Die ältere Forschung hat überhaupt nur die Texte, die ich heterologe Prätexte nenne, als ›Quellen‹ bezeichnet. Nachdem Ende des 19. Jahrhunderts die ersten dieser Quellen aufgedeckt waren, kam es zu einem regelrechten Wettlauf um die Aufdeckung der verwendeten Vorlagen – mit dem Ziel, den Verfasser als plagiierenden Stümper zu entlarven. Vgl. Szamatólski/Hartmann/Stuckenberger/Bauer/Schmidt, Zu den Quellen des ältesten Faustbuchs; Ellinger, Zu den Quellen des Faustbuches von 1587; Fränkel/Bauer, Entlehnungen im Ältesten Faustbuch; Meyer, Das Faustbuch von 1587, S. 336-347; Milchsack, Einleitung, in: Wolfenbütteler Handschrift, ed. Milchsack, S. XVIII-CCXCVI. Vgl. auch die Zusammenstellung im Anhang der Ausgabe von Robert Petsch: Das Volksbuch vom Doctor Faust, ed. Petsch, S. 158-235. J.-D. Müller (Faustbuch, ed. Müller, Kommentar S. 1326-29) führt in seiner in vier Bereiche unterteilten Beschreibung der Quellen (Schriften der Reformatoren, Schriften über Teufel und Zauberei, protestantische Exempelsammlungen, naturkundliche, geographische und kosmographische Werke) einige der von mir als heterologe Prätexte klassifizierten Texte als vierten Bereich auf. Die Sprichwörtersammlungen, Verse aus Sebastian Brant, Ausschnitte aus dem Belial und anderem »religiösen Erbauungsschrifttum« integriert er nicht in diesen Bereich, wohl weil sie an verschiedenen Stellen unterschiedlich eingesetzt werden. 108 Siehe dazu ausführlich unten Kap. 6. Mit Quellenangabe zitiert wird allein die Bibel, getreu nach Luthers Biblia Deudsch
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Heterologe Prätexte, Intertexte und fiktive Figuren
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habe und folglich das Prädikat »Dichter« nicht verdiene.109 Szamatólski hat von der »blinden Habsucht des zusammenstoppelnden Verfassers« gesprochen, seinem »kümmerlichen Geist« und ihn eines »gänzliche[n] Mangel[s] an Fähigkeit und Verständnis für sinnliche Schilderung« geziehen.110 Die heterologen Prätexte sind vorwiegend danach zu unterscheiden, um welche Textsorten es sich handelt und wie sie eingesetzt werden. Insgesamt lassen sich die eingesetzten heterologen Prätexte weitgehend als Wissenstexte beschreiben. Allerdings präsentieren sie dieses Wissen in sehr unterschiedlicher Weise. Der Elucidarius ist ein Lehrdialog zwischen Schüler und Meister zu unterschiedlichen Fragen der Kosmologie. Die Antworten des Meisters sind stark erläuternd und auslegend, wodurch das Gefälle zwischen dem Wissen des Meisters und dem des Schülers deutlich herausgehoben wird.111 Der Elucidarius ist als heterologer Prätext für die Beschreibung der Hölle, des Firmaments und kosmologischer Fragen verwendet worden. Aufgrund seiner dialogischen Struktur kommt es jedoch zu einer Vermischung prätextueller und architextueller Bezüge. Zum einen werden die Inhalte von Mephostophiles’ Antworten dem Elucidarius entnommen, zum anderen nehmen die Dialoge zwischen Faustus und Mephostophiles über die Hölle die im Elucidarius gepflegte Form des Lehrer-Schülerdialogs wieder auf. Die Schedel’sche Weltchronik integriert Weltwissen und Weltbeschreibung in eine linear geordnete Geschichte der Welt von der Schöpfung bis in die unmittelbare Gegenwart ihrer Entstehung und endet mit einem Ausblick auf das Jüngste Gericht.112 Die Sprichwörter markieren zur festen Fügung
————— 109 Vgl. Ellinger, Zu den Quellen des Faustbuches von 1587; Fränkel/Bauer, Entlehnungen im Ältesten Faustbuch; Szamatólski/Hartmann/Stuckenberger/Bauer/Schmidt, Zu den Quellen des ältesten Faustbuchs. 110 Vgl. den Abschnitt von Szamatólski in: Szamatólski/Hartmann/Stuckenberger/Bauer/Schmidt, Zu den Quellen des ältesten Faustbuchs, S. 162ff. Wissenschaftsgeschichtlich sind diese harschen Werturteile nicht uninteressant, denn es gelang ihnen, die von Heinrich Kurz schon 1876 in seiner Geschichte der deutschen Litteratur (Leipzig 1876, Bd. 2, S. 165) vertretene Auffassung, die Inserierung der Texte habe eine Funktion innerhalb des Aufbaus der Historia, vollständig vom Tisch zu wischen und quasi bis in die jüngere Forschung zu blockieren. 111 Der Elucidarius oder Lucidarius war einer der langlebigsten Vertreter des mittelalterlichen Lehrdialogs. Entstanden um 1190 in Auftrag Heinrichs des Löwen, wurde er bis ins 16. Jahrhundert immer wieder abgeschrieben bzw. gedruckt. Der Verfasser der Historia verwendete die sich stärker auf kosmologische Fragen konzentrierende Neubearbeitung (zuerst Camerlander 1539), zu deren Gunsten die theologischen Auslegungen zurücktraten. Zum Elucidarius vgl. Steer, Der deutsche Lucidarius. 112 Zur Schedel’schen Weltchronik vgl. Füssel, Komposition und Inhalt der Schedelschen Weltchronik, in: Hartmann Schedel, Weltchronik 1493, S. 634-667; ders., Die Welt im Buch; ders., Die Weltchronik – eine Nürnberger Gemeinschaftsleistung. Zu Hartmann Schedel vgl. Hernad/Worstbrock, [Art.] Schedel, Hartmann.
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Faustus als Exemplum eines verfehlten Lebens
geronnenes Wissen, das in unterschiedlichen Situationen belehrend, kommentierend oder warnend angewendet werden kann.113 Jan-Dirk Müller hat im Kommentar zu seiner Edition bereits angemerkt, dass die »Behandlung der Quellen und Funktion der Zitate nicht durchweg gleich« seien.114 Er geht davon aus, dass ein erheblicher Teil der verwendeten ›Quellen‹ benutzt wird, um das von Faust mit Hilfe des Teufels erworbene Wissen bloßzustellen.115 Dabei bezieht er sich insbesondere auf die von mir als heterologe Prätexte klassifizierten geographischen und naturkundlichen Quellen, die zum Zeitpunkt der Entstehung der Historia bereits völlig veraltet waren, was insbesondere an den naturkundlichen und chorographischen Beschreibungen auffällt. So fehlt bei den bereisten Ländern Amerika, was nahezu ein Jahrhundert nach dessen Entdeckung und der Publikation einer endlosen Reihe von Americana, die dem Verfasser ohne weiteres zugänglich gewesen wären, als erhebliche Einschränkung von Fausts Erkenntnismöglichkeiten erscheinen muss.116 Dagegen hat Uwe Ruberg zu zeigen versucht, dass die kosmographischen, geographischen und naturkundlichen »Wissenssummen« innerhalb des Textes nicht eingesetzt und funktionalisiert worden sind, um Faustus und sein durch den Teufelspakt erlangtes Wissen zu diskreditieren, sondern dass sie durchaus als Autoritäten angesehen worden seien.117 Er verteidigt den Verfasser damit auch gegen die Kritik der älteren Forschung, er habe nur acht- und interesselos, mechanisch kompilierend aus seinen Quellen abgeschrieben.118 Dabei hat er die Auffassung vertreten, dass die Historia bei der älteren Enzyklopädik nicht nur stoffliche und stilistische, sondern auch strukturelle Anleihen mache.119 Neben der narrativen biographischen Struktur werde dem Text – freilich unterbrochen durch die ›Schwankfolge‹ – eine systematische Struktur unterlegt, die sich aus der Abfolge der durchlaufenen Wissensgebiete ergebe. Diese thematischen Stationen durch Disputation und Welterkundung hindurch sind im Stenogramm: Luzifer – Engel – Hölle – Teufel – Seele des Menschen – Astronomisches – Meteorologie – Kosmologie – Lebewesen – Geographie – Mirabilia.120
————— 113 Zu den Sprichwortsammlungen des 16. Jahrhunderts vgl. Kiesant, Kalenderliteratur und Sprichwortsammlungen, S. 605-616. 114 Faustbuch, ed. Müller, Kommentar, S. 1326. 115 Vgl. Müller, Ausverkauf menschlichen Wissens, bes. S. 180ff. Auf diesen Aspekt, der mit der Semantik der curiositas verbunden ist, will ich an dieser Stelle noch nicht ausführlich eingehen. Er wird ausführlich in Kap. 6 behandelt. 116 Vgl. Münkler, »[Art.] Ethnographie«, in: Herfried Münkler/Marina Münkler, Lexikon der Renaissance, S. 101-107. 117 Vgl. Ruberg, Zur narrativen Integration enzyklopädischer Texte. 118 Vgl. Milchsack, Einleitung, in: ed. Milchsack, S. 38; Henning, Das Faust-Buch von 1587, S. 26f.; Könneker, Faust-Konzeption und Teufelspakt, S. 199ff. 119 Ruberg, Zur narrativen Integration enzyklopädischer Texte, S. 79f. 120 Ebd.
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Heterologe Prätexte, Intertexte und fiktive Figuren
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Diese Reihenfolge erscheint jedoch gezwungen, weil sie die narrative Integration der Quellen unterschätzt und außerdem ignoriert, dass ein Teil der enzyklopädischen Texte nicht nur zitiert, sondern durch ihre Personalisierung auch als falsch ausgewiesen wird. Auch deshalb kann Rubergs Schlussfolgerung, die mittelalterlichen Enzyklopädien seien zwar zur Erscheinungszeit des Faustbuchs bereits auf dem Weg gewesen, zu Fossilien zu werden, aber sie hätten immer noch das Zeug gehabt, Leitfossilien zu sein, nicht recht überzeugen.121 Die Personalisierung der heterologen Prätexte ist die entscheidende Bearbeitungsform, denn sie entscheidet letztlich darüber, welche Glaubwürdigkeit und welcher Status ihnen jeweils zugemessen werden.122 Lange Abschnitte aus der Schedel’schen Weltchronik etwa werden nahezu unverändert inseriert, aber dadurch, dass sie entweder Mephostophiles oder Faustus in den Mund gelegt werden bzw. aus der Feder fließen, wie Fausts Brief über die Gestirnsfahrt, oder indem sie transfokalisiert werden, verschiebt sich ihr Sinn völlig: Es geht nicht mehr darum, was beschrieben ist, sondern was Mephostophiles sagt, was Faustus sieht, was er beschreibt, wie er die Dinge erfährt und erlebt.123 Im Kapitel 26 beispielsweise, dem längsten Kapitel mit den umfangreichsten verdeckten Zitaten, das Fausts »Fahrt in etliche Ko֏nigreich vnnd Fu֏rstenthumb / auch fu֏rnembste La֏nder vnd Sta֏tte« beschreibt, folgt die von Faustus bestimmte Reiseroute der Reihenfolge der Schedel’schen Weltchronik, aber diese chronologische, nach dem Alter der Städte geordnete Reihe wird durch die selektive Auswahl und die Inserierung in eine Reiseroute zu einer willkürlichen Abfolge, die von Fausts plötzlichen Einfällen bestimmt wird:124 Doct. Faustus nimpt jm 16. jar ein Reyß oder Pilgramfahrt für / vnd befihlt also seinem Geist Mephostophili / daß er jn / wohin er begerte / leyte vnd führe.[...]./war 25. Tag außen darinnen er nit viel sehen kondte / darzu er Lust hette. Derhalben name er ein Widerfuhr / vnd ritte auff seinem Pferde auß / kam gen Trier / dann jm diese Statt erstlich einfiel zusehen / weil sie so altfränkisch anzusehen war / da er nichts sonderlichs gesehen / [...]. Darnach wendet er sich gen Pariß in Franckreich / vnd gefielen jm die Studia vnnd hohe Schul gar wol. Was nu dem Fausto für Stätt vnd Landschafften in Sinn fielen / die durchwandert er. Als vnter andern auch Meyntz / da der Mayn in Rhein fleußt / er saumpt sich aber da nicht lang / vnd kam in Campanien / in die Statt Neapolis / […].125
————— 121 Ebd., S. 80. 122 Jan-Dirk Müller (Ausverkauf menschlichen Wissens, S. 179) hat in diesem Zusammenhang von »Wissenstrümmern« gesprochen, man könnte auch von der »Zertrümmerung von Wissen« sprechen. 123 Siehe dazu ausführlich Kap. 6. 124 Vgl. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 60-70; Faustbuch, ed. Müller, S. 901-915. 125 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 60; Faustbuch, ed. Müller, S. 901 (Hervorhebung MM).
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Faustus als Exemplum eines verfehlten Lebens
Auch auf der Binnenebene des Kapitels gibt es bemerkenswerte Verschiebungen der Fokalisierung, die vorwiegend der Beobachtung der Figuren dienen. Während Mephostophiles konstant eifrig erklärt, alternieren bei Faustus interessiertes Nachfragen (»fraget er seinen Diener: Wo Augspurg jren namen her habe«) und desinteressiertes Abhaken (»er saumpt sich aber da nicht lang«) oder Vorbeischweifen (»Vnd dieweil sie [die Stadt Augsburg, M. M.] D. Faustus zuvor auch gesehen / ist er fu֏ru֏ber gefahren / vnd sich gelendt gen Regenspurg. Dieweil D. Faustus auch fu֏ru֏ber wolte reysen«).126 Diese Art der Überführung von Schedels Beschreibung in die Figurenrede Mephostophiles’ hat eine pragmatische Seite, denn da Schedel die Städte nach den sieben Weltaltern anordnet, ist seine Städtebeschreibung nicht in erster Linie chorographisch, sondern vorwiegend historisch ausgerichtet. Da solches historisches Wissen über die Gründung einer Stadt in der Regel nicht augenscheinlich ist, muss es in die Figurenrede Mephostophiles’ transformiert werden, der als »uralter Geist« über solches Wissen selbstverständlich verfügen und es Faustus als dessen Reiseführer mitteilen kann. Mephostophiles übernimmt damit eine Doppelrolle: Einerseits ermöglicht er Faustus die Überwindung räumlicher Schranken, denn er erhebt sich mit ihm in die Lüfte und fliegt ihn von Ort zu Ort, andererseits versorgt er ihn mit historischen Informationen, die Faustus zugänglich machen, was er durch bloße Autopsie nicht erfahren könnte. Die Städte und Länder fliegen förmlich vorbei, nur Nürnberg, wo zusätzlich zu Schedels Weltchronik als heterologer Prätext Hans Sachs’ Lobspruch der Stadt Nürnberg verwendet wird, ist etwas mehr Aufmerksamkeit gewidmet.127 Allerdings entsteht dadurch ein Bruch zwischen Schedels katholischem Text, der die Stadt in erster Linie durch ihre verschiedenen Heiligen gewidmeten Kirchen und Reliquien kennzeichnet, und dem ganz auf kaufmännisch-bürgerliche Prosperität und Wohlhabenheit setzenden Lobspruch, den Hans Sachs auf seine Vaterstadt verfasst hat. Die Beschreibung Nürnbergs beginnt zunächst mit Schedel, dessen Darstellung Mephostophiles in den Mund gelegt wird. Mephostophiles spricht auf diese Weise als eine Art Reiseführer, welcher eilfertig sein Wissen (»Fauste / wisse / daß Nu֏rnberg der name von Claudio Tyberio Nerone entspringt / vnd von Nero Nu֏rnberg genannt worden«128) weitergibt, um den Reisenden auf das nächste Ziel vorzubereiten. Die Beschreibung Nürnbergs wird dann ganz dominiert von seiner Stellung im Heiligen Römischen Reich und in der Heilsgeschichte. In diesem ————— 126 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 66; Faustbuch, ed. Müller, S. 906. 127 Vgl. Schedel, Weltchronik 1493, ed. Füssel/Kreutzer, Bl. CIa. 128 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 66; Faustbuch, ed. Müller, S. 906.
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Heterologe Prätexte, Intertexte und fiktive Figuren
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Abschnitt sind die gegenüber Schedel durch Kürzung entstandenen Abweichungen merklich. So heißt es in der Weltchronik: Auch ein konigclicher wolgezierter sal der allerhailigsten iunckfrawen Marie aɣ marck mitsambt einem aller scho֏nsten prunn·. Dise statt frewet sich nicht wenig irs konigclichen patrons sant Sebalds der in seinem leben vnd mit wunderwerken also erleu֏chtet gewest ist das er auch dise statt erleu֏chtet hat. Sie frewet sich auch der keyserlichen zaichen. als des mantels. schwerter. scepters. der o֏pffel vnd kron des großen keyser Karls die die zu Nu֏rnberg bey ine haben. vnd die in der kro֏nung eins ro֏mischen konigs von der heiligkeit vnnd alters wegen einen glawben geben. so wirdt auch dise statt sunderlich hohgezieret mit dem vnerschetzlichen vnd go֏tlichen sper. das die seyte Jhesu cristi am creu֏tz geoffent hat. Auch mit einem mercklichen stuck des creu֏tzs vnd andern بin der gantzen welt zewirdigen heilthumen. die ierlich zu o֏sterlicher zeit offentlich daselbst mit großer solennitet vn بzierlichkeit gezaigt werden.129
In der Historia ist zwar nach wie vor von den Heiligen und Reliquien die Rede, aber in der von Mephostophiles gegebenen Beschreibung sind Maria verschwunden, das Lob auf den Heiligen St. Sebald gestrichen und die Erwähnung der Christusreliquien mit einem hingeworfenen »sol seyn« relativiert: Darinnen sind 2. Pfarrkirchen / S. Seboldt / der da begraben ligt / vnd S. Lorentz Kirchen / darinnen hangt deß Keysers Zeichen / als der Mantel / Schwerdt / Scepter / Apfel vnd Kron / deß grossen Keysers Caroli. Es hat auch drinnen ein scho֏nen vbergu֏lten Brunnen / der scho֏n Brunn genannt / so auff dem Marck steht / darinnen ist oder sol seyn der Sper / so Longinus Christo in die Seyten gestochen / vnd ein stu֏ck vom H. Creutz.130
Dennoch wird eine katholische Stadt beschrieben; der Verfasser hat sich, ebenso wenig wie im Falle von Genf, das nahezu siebzig Jahre nach der Reformation als Bischofssitz erscheint, keine Mühe gemacht, seine Darstellung der veränderten konfessionellen Situation anzupassen.131 Diese historischen Inkonsistenzen belegen aber weniger, dass der Verfasser nachlässig mit den heterologen Prätexten umgegangen wäre, als vielmehr, dass die Inserierung dieses Prätextes nicht dafür funktionalisiert wird, Fausts besonderen, mit Hilfe des Teufels erlangten, ›Weitblick‹ und die sagenhaften Reisemöglichkeiten durch den Teufelsflug zu evozieren. Nur ein kleiner Teil dieses Kapitels wird unmittelbar in Fausts Blick verlegt; der größere Teil kommt aus dem Mund des Reiseführers Mephostophiles, so dass das Sehen das Gespräch keineswegs vollständig ablöst. Manche Texte werden abschnittsweise vollständig zitiert, andere werden ›verstümmelt‹ wiedergegeben oder um den entscheidenden Aspekt verkürzt. So ist die Antwort Mephostophiles’ im Disputationskapitel auf die »Frage ————— 129 Schedel, Weltchronik 1493, ed. Füssel/Kreutzer, Bl. CIa. 130 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 65f.; Faustbuch, ed. Müller, S. 906. 131 Vgl. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 64; Faustbuch, ed. Müller, S. 905.
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Faustus als Exemplum eines verfehlten Lebens
Doctor Fausti / wie Gott die Welt erschaffen / vnd von der ersten Geburt deß Menschen« weitgehend aus Schedels Weltchronik abgeschrieben, wo freilich die von Mephostophiles gegebene Antwort »die Welt / mein Fauste / ist vnerboren vnnd vnsterblich«132 als »drey irrÖg Platonis Aristotilis vn بEpicuri«133 ausgewiesen ist. Diese Feststellung wird nicht zitiert, aber sie erscheint in deutlich verschärfter Form in der Historia als paratextuelle Markierung bereits in der Kapitelüberschrift mit dem kommentierenden »darauff jme der Geist / seiner art nach / ein gantz falsche Antwort gab«. Aus der »irrÖg« wird so eine Lüge des Teufels. Das wird zusätzlich hervorgehoben durch die Marginalglosse »Teuffel du leugst / Gottes wort lert anders hievon«, in der der Erzähler den Teufel in einer narrativen Metalepse unmittelbar anzusprechen scheint.134 Diese erneute Markierung ist eigentlich überflüssig, denn innerhalb des Kapitels, direkt neben der Marginalglosse, wird Mephostophiles’ Antwort mit der extradiegetisch-heterodiegetischen Stimme des Erzählers bereits als Lüge ausgewiesen: »Der Geist gab Doctor Fausto hierauff ein Gottlosen vnd falschen Bericht«.135 Als wäre damit noch nicht deutlich genug das Falsche der Behauptung von der Ewigkeit der Welt markiert, fokalisiert die Erzählung am Schluss des Kapitels auf Fausts Wahrnehmung des »gottlosen Berichts«: Doctor Faustus speculierte dem nach / vnnd wolte jhme nicht in Kopff / Sondern wie er Genesis am Ersten Capitel gelesen / daß es Moyses anders erzehlet / also daß er Doct. Faustus nicht viel darwider sagte.136
Das ist insgesamt kennzeichnend für den Umgang mit den heterologen Prätexten, die entweder Mephostophiles in den Mund oder Faustus in die Feder gelegt werden. Differenziert man genauer danach, welcher Stimme die jeweiligen Prätexte in der Diegese zugeordnet werden, so ergeben sich markante Effekte. Ein erheblicher Teil ist Mephostophiles in den Mund gelegt. Dazu gehören insbesondere die in den Disputationskapiteln gegebenen Antworten des Geistes. Da der Teufel unentwegt als »Lügengeist« gebrandmarkt wird, muss das zwangsläufig zu einer Diskreditierung der Quellen führen. Dem arbeitet der Erzähler zwar stellenweise entgegen, indem er ge————— 132 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 48; Faustbuch, ed. Müller, S. 887. 133 Schedel, Weltchronik, ed. Füssel, Bl. IIa. Schedel beginnt seine Darstellung des mit der Erschaffung der Welt beginnenden ersten Weltalters nicht mit der Erzählung des Liber Genesim, sondern mit einer Diskussion der unterschiedlichen Theorien über die Entstehung der Welt seit der Antike, die er zum größten Teil kompilierte. Anschließend bezeichnet er diese Theorien als »alte Irrtümer« und wendet sich dem 1. Buch Mose und dessen Schöpfungsbericht zu, den er dann von mehreren Holzschnitten begleitet darstellt. Vgl. zu Schedels Verfahren Füssel/Kreutzer, Komposition und Inhalt der Schedelschen Weltchronik, S. 634f. 134 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 48; Faustbuch, ed. Müller, S. 886. 135 Ebd. 136 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 49; Faustbuch, ed. Müller, S. 887.
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legentlich Erläuterungen von Mephostophiles als zutreffend ausweist, aber er tut das dann, wenn der negative affektive Effekt, den diese Erläuterungen auf Faustus haben, bereits hinreicht, um den Status des Prätextes zu unterminieren.137 Diese Inserierung in die intradiegetisch-homodiegetische Rede des Teufels ist von der Forschung zumeist ignoriert worden. Solche narrativdiskursiven Operationen sind aber ein entscheidender Faktor in der Funktionalisierung der heterologen Prätexte. Ein weiteres Verfahren bei der Inserierung dieser Texte ist ihre Nutzung für satirische Effekte. Diese Effekte entstehen gerade dort, wo die Nachlässigkeit des hemmungslos abschreibenden Verfassers den Gipfelpunkt zu erreichen scheint: Wenn Faustus im Kapitel 44a der Historia den Grafen von Anhalt und seine Gemahlin in seinem Luftschloss mit einem »herrlich vnd Ko֏niglich mal / mit Essen vnd allerley Getra֏ncke / so man erdencken mo֏gen« bewirtet, werden die Speisen in einer kruden Aufzählung nach den alphabetisch gelisteten Anhängen »Nomina Aquatilium, seu Piscium« und »Volatilium vel Avium Nomina« zum Wörterbuch des Dasypodius aufgeführt, die Weine nach den Listen der Landschaften: Von heymischen Thieren (wie es dann D. Faustus alles erzehlete) setzte er auff / von Ochsen / Bu֏ffeln / Bo֏cken / Rindern / Ka֏lbern / Ha֏meln / La֏mmern / Schafen / Schweinen / etc. Von wilden Thiern gab er zu essen / Gembsen / Hasen / Hirschen / Reh / Wild / etc. Von Vischen gab er Aa֏l / Barben / Bersing / Bickling / Bolchen / Aschen / Forell / Hecht / Karpffen / Krebs / Moschel / Neunaugen / Platteisen / Salmen / Schleyen vnd dergleichen. Von Vo֏geln ließ er aufftragen / Capaunen / DauchEnten / Wildenten / Tauben / Phasanen / Auhrhanen / Jndianisch Go֏ckel / vnd sonst Hu֏ner / Rebhu֏ner / Haselhu֏ner / Lerchen / Crambetsvo֏gel / Pfawen / Reiger / Schwanen / Straussen / Trappen / Wachteln / etc. Von Weinen waren da / Niderla֏nder / Burgunder / Braba֏nder / Coblentzer / Crabatischer / Elsa֏sser / Engella֏nder / Frantzo֏sische / Rheinische / Spanische / Hola֏nder / Lu֏tzelburger / Vngerischer / Osterreicher / Windische / Wirtzburger oder Francken Wein / Rheinfall vnd Maluasier / in summa von allerley Wein / daß bey hundert Kanten da herumb stunden. Solch herrlich Mahlzeit nam der Grafe mit Gnaden an / zog nach dem essen wider gen Hof / vnd dauchte sie nit / daß sie etwas gessen oder getruncken solten haben / so o֏d waren sie.138
Diese in der älteren Forschung als stümperhaft und plump klassifizierte Aufzählung ist in der Tat grotesk.139 Es werden nicht einmal Gerichte genannt, die aus den verschiedenen Tieren zubereitet worden sein sollen, sondern es werden einfach deren Namen aufgelistet. Darin freilich nur Unfähigkeit er————— 137 Vgl. etwa die Höllendisputation in Kapitel 16. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 36-42; Faustbuch, ed. Müller, S. 870-879. Siehe dazu ausführlich, Kap 6. 138 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 91f.; Faustbuch, ed. Müller, S. 940f. Vgl. den Quellentext Nr. 41, S. 264 in ed. Füssel/Kreutzer, bzw. den Stellenkommentar bei Müller. 139 Vgl. Szamatólski/Hartmann/Stuckenberger/Bauer/Schmidt, Zu den Quellen des ältesten Faustbuchs, S. 192f.; Petsch, Die Entstehung des Volksbuches, S. 212.
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Faustus als Exemplum eines verfehlten Lebens
kennen zu wollen, greift entschieden zu kurz, denn die Absurdität der Aufzählung erschließt sich ja nicht erst bei näherem Hinsehen, sondern ist durch die Mischung aus überbordender Fülle und mangelnder Zurichtung förmlich ausgestellt: Grotesker lässt sich die Üppigkeit eines Festessens wohl kaum schildern. Überdies ist die Ironie in der angefügten Bemerkung, »solch herrlich Mahlzeit nahm der Grafe mit Gnaden an«, unüberhörbar. Wogegen sich diese absurde Aufzählung richtet – gegen die schamlose Üppigkeit adeliger Ess- und Festkultur oder gegen die lachhafte Hypertrophie der Freigebigkeit eines bürgerlichen Parvenus in adeligen Kreisen, wofür die Bemerkung bezüglich des Weins spricht: »bey hundert Kanten da herumb stunden«140– mag nicht völlig eindeutig sein, aber dass die Aufzählung satirisch ist, kann wohl kaum bestritten werden. Ähnliche Ironie kommt zum Teil auch bei der Inserierung der Sprichwörter aus den Sprichwörtersammlungen Johannes Agricolas, Sebastian Francks und Christian Egenollfs zum Tragen. Die Sprichwörter, mit denen Mephostophiles Faustus nach dessen zweiter Wehklage verhöhnt, repräsentieren zwar unbestrittene Lebensweisheiten, die zum Gemeinplatz geronnenes Erfahrungswissen mitteilen, aber aus Mephostophiles’ Mund werden sie zum hämischen Kommentar des Teufels auf das, was Faustus hätte wissen können.141 Der Verfasser übt mit diesen heterologen Prätexten eine überaus subtile, freilich auch prekäre Form der Kontrolle aus, denn durch die Art ihrer Inserierung bleiben sie einerseits auffällig unbearbeitet, andererseits werden sie radikal funktionalisiert. Sie erfordern höchste Aufmerksamkeit hinsichtlich der ihnen jeweils zugeordneten Erzählstimme und der Fokalisierung auf Faustus oder Mephostophiles. Im Prinzip sind sie ein Instrument zur Beobachtung der Figuren, die in subtiler Weise eine Beobachtung zweiter Ordnung organisiert: Gerade durch ihre blockartige Inserierung kann der Leser Fausts Blick, seine Beobachtungen, seine Affekte und Empfindungen oder aber Mephistopheles’ Sprache, seine falschen Auskünfte und listigen Antworten, letztlich seine Herrschaft über Faustus beobachten.142 Doppelter Intertext: Luthers Tischreden Angeleitet wird diese Beobachtung zweiter Ordnung durch jene Texte, die ich mit Genette und in Erweiterung seines Modells als Intertexte bezeich————— 140 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 91; Faustbuch, ed. Müller, S. 940. 141 Siehe dazu ausführlich, Kap. 7. 142 Vgl. hierzu Kap. 7.
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ne.143 Nach Genettes engem Verständnis von Intertextualität müssen solche Texte durch Zitate oder Anspielungen unmittelbar in den sekundären Text eingegangen sein. In meinem eigenen, weiteren Verständnis von Intertextualität können sie auch als Stichwortgeber oder als semantische und normative Basis fungieren. Im Falle der Historia lässt sich in diesem doppelten Sinne vor allem ein Text als Intertext ausmachen: Johannes Aurifabers Tischreden D. Martin Luthers. Das ist, bezogen auf Intertextualitätsphänomene im Allgemeinen, ungewöhnlich. In der Regel verknüpfen sich Einzeltexte und Diskurse über ein Aussagefeld, das sehr viel breiter angelegt ist als über Einzeltextbezüge.144 Das ist üblicherweise nur dann anders, wenn der Intertext als Autorität ausgewiesen wird, an deren Glaubhaftigkeit oder diskursiver Dominanz der rezipierende Text partizipieren soll.145 An Luthers Autorität versucht die Historia aber nicht zu partizipieren. Auch ohne jede Nennung wird man aber zweifellos davon ausgehen dürfen, dass Luthers Tischreden in der 1566 erstmals gedruckten Ausgabe Johannes Aurifabers als Intertext der Historia von herausragender Bedeutung waren. Dass der Verfasser sie eingehend benutzt hat, belegt schon die Funktionalisierung einzelner Exempel als Prätexte für verschiedene Kapitel.146 Außerdem bieten die Tischreden in Aurifabers Edition einen bequemen Zugang zu Luthers Teufelslehre, weil Aurifaber gegenüber seinen Vorläufern entscheidende Änderungen vorgenommen hatte. Der Kern von Luthers Teufelslehre war die Grundannahme, dass der Mensch entweder das Reittier Gottes oder des Teufels sei. Und der Teufel sei überaus raffiniert, weil er den Menschen bevorzugt dort angreife, wo er sich besonders sicher fühle.147 Um Luthers Lehre vom Teufel, auch in ihren einzelnen Auffächerungen zu kennen, musste der Verfasser der Historia weder Theologe noch mit allen
————— 143 Eine Ausnahme in der Einschätzung des ›Quellenbezugs‹ war in der älteren Forschung Gustav Milchsack, der zwar ebenfalls von ›Quellen‹ sprach, über die Verwendung von Milichius’ Zauberteuffel aber äußerte (Einleitung, in: ed. Milchsack, S. CLXXXII), »diese untersuchungen würden offenbar nicht vollständig sein, wenn wir sie lediglich auf diejenigen einschränken wollten, die zur komposition besonderer kapitel des Faustbuches geführt haben. […] Der verfasser sah ja den Zauberteufel auch nicht an als eine bloße stoffquelle, gerade gut genug, seine in der hauptsache schon abgeschlossene sammlung faustischer erzählungen und sagen um den einen oder anderen unechten, dafür aber desto interessanteren zug zu vermehren. Er studierte ihn vielmehr (…) aus sehr gewichtigen gründen sorgfältig; […].« 144 Vgl. Foucault, Die Ordnung der Dinge, bes. S. 82-91; ders., Die Ordnung des Diskurses, bes. S. 37ff.; ders., Die Archäologie des Wissens, bes. S. 156-175. 145 Vgl. Foucault, Was ist ein Autor? 146 Das hat schon Erich Schmidt eingehend belegt. Vgl. Schmidt, Faust und Luther. 147 Zu Luthers Teufelslehre vgl. Barth, Der Teufel und Jesus Christus; ders., Zur inneren Entwicklung von Luthers Teufelsglauben; Obendiek, Der Teufel bei Martin Luther; ders., Der alt böse Feind.
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seinen Schriften vertraut sein.148 Luthers Teufelslehre konnte er den Hauptstücken der Tischreden in der Edition Aurifabers bequem entnehmen. Ursprünglich waren Luthers Tischgespräche, die von einigen seiner stets zahlreichen Tischgäste aufgezeichnet wurden, nur dazu gedacht, die Worte des Reformators festzuhalten, damit sie nicht verloren gingen. Deshalb wurden sie mit- bzw. nachgeschrieben, aber nur chronologisch, so wie sie bei Tisch gefallen waren, geordnet. Erst Johannes Aurifaber machte aus Luthers okkasionellen Äußerungen ein »nach den Heubtstu֏cken vnserer Christlichen Lere« zusammengetragenes Lehrbuch, indem er sie nach loci communes in zweiundachtzig Hauptstücke ordnete.149 Außerdem übersetzte Aurifaber alle Äußerungen Luthers, der bei Tisch häufig lateinisch oder gemischt lateinisch-deutsch sprach, ins Deutsche, was seiner Ausgabe der Tischreden eine breite Rezeption ermöglichte.150 Besonders einschlägig für die Historia sind zunächst die loci »Vom Teuffel vnd seinen Wercken«, »Von Zauberey« und »Von Anfechtungen und Versuchung«, die als das XXV. bis XXVII Hauptstück direkt aufeinander folgten. Das Hauptstück »Vom Teuffel vnd seinen Wercken« untergliedert sich in einhundertfünfundzwanzig untergeordnete Punkte, von denen ein Teil systematisch zugeordnet ist und einzelne Aspekte des Hauptkapitels thematisiert.151 In diesen Abschnitten werden Fragen erwogen, wie »Warumb der Teufel den rechten Christen feind ist« oder »Ob der Teufel Christum nach dem Fleisch gekandt habe«.152 Andere Abschnitte haben eher paränetisch-seelsorgerlichen Charakter und sind zumeist als Aufforderungen zu verstehen, wie etwa »Den Teufel soll man nicht zu Gaste laden«, »Dem Teufels mus man mit dem Wort vnd Gebet wieder stand thun / sonst kann man jm nichts abbrechen«, »Wie man der Historien von des Teufels Tyranney ————— 148 Die Vermutung, der Verfasser müsse Theologe gewesen, mit Luthers Schriften bestens vertraut und in »Controversen der damaligen Theologie wohlbewandert« gewesen sein, haben Schmidt (Faust und Luther, S. 569) und im Anschluss an ihn Petsch (Die Entstehung des Volksbuches) vertreten. 149 Aurifaber, der erst ab 1545 Luthers letzter Famulus und Hausgenosse war, stützte sich für seine Ausgabe auf seine eigenen Aufzeichnungen sowie die Mit- und Nachschriften von Anton Lauterbach, Veit Dietrich, Hieronymus Besoldi, Johann Schlaginhaufen, Johannes Mathesius, Ludwig Rabe, Georg Röhrer, Johann Stoltz und Jakobus Weber. Vgl. das Nachwort von Helmar Junghans zur Faksimileedition von Aurifabers Tischreden D. Martin Luthers, S. 15ff. 150 In seiner Vorrede wendet sich Aurifaber an die Bürgermeister, Ratsherren und Amtspfleger der deutschen Reichsstädte. Insbesondere für dieses Publikum dürfte er alle Äußerungen Luthers ins Deutsche übersetzt haben. In der Einleitung (WA TR, Bd. 1, S. 8) zu seiner Ausgabe sämtlicher Tischreden (6 Bde.) innerhalb der Weimarer Lutherausgabe hat Ernst Kroker zur Rezeption von Aurifabers Editon der Tischreden angemerkt: »Jahrhundertelang haben Luthers Tischreden ihre segensreiche Kraft fast nur in der Gestalt wirken lassen können, die Aurifaber ihnen gegeben hat.« 151 Aurifaber, Luthers Tischreden, Bl. 277a-308a. 152 Vgl. ebd., Bl. 280a, 285a.
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brauchen sol« oder »Welchs die gro֏ssest anfechtung desTeufels sey / vnd wie man sie sol vberwinden«. Andere Unterkapitel ergänzen als narrativanekdotisch strukturierte Exempel die Erörterungen. Teilweise bewahren die Unterkapitel die Gesprächsstruktur und werden mit Wendungen eingeleitet, wie »Doct. Luther ward gefragt« oder »Doctor Mart. sagte viel von«. Auffällig ist zunächst, wie viele Formulierungen Luthers aus den Tischreden unmittelbar in die Historia eingegangen sind: Formulierungen, wie »er meynet der Teuffel wer nit so schwartz / als man jhn mahlet / noch die Hell so heiß / wie mann davon sagte« oder »vnnd war jhm ein unmu֏glich ding / daß er wider zur Hulde GOttes kommen sollte«, finden sich nahezu wörtlich bei Luther wieder.153 Aber auch von den erläuternden und den paränetischen Unterkapiteln lassen sich zahlreiche, wie etwa »Der Teufel ist ein geschwinder / listiger Geist« oder »Der Teufel plagt vns mit vnsern Su֏nden / da er doch aller Su֏nden vnd Bo֏ses ein vrsach ist«, auf die Historia beziehen.154 Wie sehr die Tischreden aber auch im weiteren Sinne einen intertextuellen Bezugspunkt bildeten, belegt die Stelle, an der Luther Faustus erwähnt. Luther hat des »weytbeschreyten« Zauberers, wie bereits angeführt, nur an einer einzigen Stelle gedacht; dabei aber nicht wirklich über Faustus, sondern über sich selbst gesprochen: DA vber Tisch zu abends eines Schwartzku֏nstlers Faustus genant gedacht ward / saget Doctor Martinus ernstlich / der Teufel gebraucht der Zeuberer dienst wider mich nicht / hette er mir gekont vnd vermocht schaden zu thun / er hette es lange gethan. 155
Über Faustus gibt diese Erwähnung nichts her, außer dass Luther ihn für ein Instrument des Teufels und damit einen Teufelsbündner gehalten hat, wenngleich auch das nicht sicher ist, denn Faustus ist ja nur der Anlass der Äußerung; als Instrumente des Teufels gegen ihn bezeichnet Luther ganz allgemein die Zauberer. Die Fortsetzung dieser Stelle allerdings, die unter den ›Quellen‹ nicht zitiert zu werden pflegt, ist als Intertext hoch aufschlussreich, denn sie liest sich wie eine Zusammenfassung der Historia: Ich hab in wol versucht was er fur ein Gesell ist / er hat mir offt so hart zugesetzet / das ich nicht gewust hab /ob ich tod oder lebendig sey /er hat mich auch wol in verzweifelung gebracht / das ich nicht wuste ob auch ein Gott were / vnd an vnserem lieben Herrn Gott gantz vnd gar verzagte.156
————— 153 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 21; Faustbuch, ed. Müller, S. 852; Aurifaber, Luthers Tischreden, Bl. 287a u. Bl. 299b. 154 Vgl. Aurifaber, Luthers Tischreden, Bl. 280a u. b. 155 Aurifaber, Luthers Tischreden, Bl. 16a. 156 Ebd.
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Der Unterschied zwischen Luther und Faustus besteht lediglich darin, dass Luther von sich sagt, er habe sich gegen den Teufel erfolgreich zur Wehr setzen können: Aber mit Gottes wort hab ich mich seiner erwehret / es ist sonst auch keine hu֏lffe noch rat / denn das Gott (mit einem wo֏rtlin durch einen Menschen gesprochen / oder das einer sonst ergreifft) einem hilfft. Hat man aber Gottes wort nicht / so ists balde vmb vns geschehen / denn da kann er die Leute nach seinem willen reiten vnd treiben.157
Diese Anfechtungen durch den Teufel, denen sich Luther Zeit seines Lebens ausgesetzt sah, hat er eingehend in seiner Schrift Von Winckelmess vnd Pfaffenweih beschrieben.158 Er berichtet darin, wie der Teufel »in seinem hertzen« eine Disputation mit ihm angefangen und ihm vorgeworfen habe, fünfzehn Jahre lang habe er alle Tage »Winckelmessen« gehalten, bloße Abgötterei getrieben, Wein und Brot angebetet. Daraus entspinnt sich ein Dialog zwischen Luther und dem Teufel, der sowohl in der wechselseitigen Ansprache (»lieber sage mir«) als auch in den affektiven Wirkungen stark an die Dialoge zwischen Faust und Mephostophiles erinnert.159 Luther erzählt, wie ihm der Angstschweiß auf der Stirn stand, wie der Teufel ihm mit immer neuen Argumenten zusetzte, ihm seine Sünden vorwarf und behauptete, er könne keine Gnade mehr erhoffen. Wohl wissend, welche Polemik ihm das von katholischer Seite eintragen würde, lobt Luther daraufhin die argumentative Kunstfertigkeit des Teufels: Ein lu֏gener ist er, das ist war. Aber besser kann er liegen, denn sonst ein schlechter lu֏gener, vnd ku֏nstlicher, wedder ein mensch verstehen kann. Denn er nimpt für sich eine warheit, die man nicht leugnen kann, vnd scherfft da mit seine lu֏gen, das man sich nicht weren kann. Es war die lauter warheit, da er Juda ins hertz sties, Er hette vnschu֏ldig blut verrathen, das kundte Judas nicht leugnen. Es war die warheit. Aber das war erlogen, das er jn verzweyveln hies an Gott. Noch scherfft er solch verzweiueln durch die warheit so gewaltig, das Judas must daru֏ber dahin vnd sich hencken. Nein lieber bruder, da leugt der Teuffel nicht, Wenn er vnser offentliche bo֏se werck vnd leben vns fu֏r helt, Da hat er zween zeugen, die niemand straffen kann. Nemlich, Gottes gebot vnd vnser gewissen. Hie ist mir nicht mu֏glich, Nein zu sagen. Sol ich denn Ja sagen, als ich thun mus, so bin ich des tods vnd des Teuffels. Aber da leugt er, wenn er daru֏ber mich treibt, Ich solle verzweiuelen, wie Cain sprach, Meine sunde ist gro֏ßer / denn Gottes gnade.160
Mit dieser raffinierten Schuld-Rhetorik beherrscht der Teufel auch Faustus, der ihm jedoch weniger entgegenzusetzen hat als der streitbare Reformator. ————— 157 Ebd. 158 Luther, Von der Winkelmess vnd Pfaffenweih, WA 38, S. 195-256. 159 Vgl. etwa das 17. Kapitel der Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 42f.; Faustbuch, ed. Müller, S. 879ff. 160 Luther, Von der Winkelmess vnd Pfaffenweih, WA 38, S. 205.
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Um von dieser spezifischen Ausgestaltung der teuflischen Anfechtungen zu wissen, musste der Verfasser der Historia nicht unbedingt auf die Schrift Von der Winckelmess vnd Pfaffenweih zurückgreifen, denn durch die spezifische Entstehung der Tischreden waren Luthers Abhandlungen, darunter auch Von der Winckelmess vnd Pfaffenweih, in ihnen außerordentlich präsent. Luther sprach häufig über das, worüber er gerade geschrieben hatte, so dass die Tischreden quasi einen Gesamtüberblick über seine Positionen in zentralen Fragen der reformierten Lehre ermöglichten. Auch die Teufelsdisputationen aus Von der Winckelmess vnd Pfaffenweih werden in den Tischreden paraphrasiert, so dass von daher auch ohne Kenntnis des Lutherschen Gesamtwerkes der Weg für ein Teufelsbild offen war, das nicht durch Hässlichkeit und Bedrohlichkeit schreckte, sondern durch freundliche Ansprache und klug gesetzte Argumente.161 Neben Luthers Tischreden treten als weitere Intertexte dämonologische Schriften die ebenfalls schon als Prätexte benutzten dämonologischen Schriften von Weier und Lercheimer sowie mindestens zwei der im 16. Jahrhundert den Buchmarkt überschwemmenden protestantischen Teufelbücher: Ludwig Milichius’ Zauber Teuffel und Simon Musaeus’ Melancholischer Teuffel.162 Hier ist die Beziehung sehr viel loser, aber aus Weier und Milichius konnte der Verfasser Überlegungen zu den Möglichkeiten des Hexen- oder Teufelsfluges entnehmen und daneben die weitgehende Beschränkung der teuflischen Zauberkünste auf Sinnestäuschungszauber.163 Die gemeinsame Verwendung dieser Intertexte mit Luthers Tischreden wirft freilich ein Problem hinsichtlich der Deutung der Historia auf, die in der Forschung nahezu unisono als streng gnesiolutheranischer Text gedeutet wird.164 Milichius, Weier und Lercheimer müssen aber der philippistischen Fraktion zugerechnet werden. Deswegen ist es einigermaßen verwunderlich, zumindest aber begründungsbedürftig, wie diese Texte – wenn man denn die Historia im Kontext der Auseinandersetzungen zwischen Gnesiolutheranern und Philipisten liest – neben Luther die entscheidenden Intertexte der ————— 161 Zu den Wandlungen des Teufelsbildes bei Luther vgl. Barth, Der Teufel und Jesus Christus; ders., Zur inneren Entwicklung von Luthers Teufelsglauben; Obendiek, Der Teufel bei Martin Luther; ders., Der alt böse Feind. 162 Zur Beziehung zwischen dem Zauber Teuffel und der Historia hat Milchsack (ed. Milchsack, Einleitung, S. XCVI) angemerkt: »Allerdings liegen die obschon recht bedeutenden beziehungen beider etwas versteckt und es ist nur zu begreiflich, dass sie den in der geltenden sagentheorie befangenen faustforschern, von denen mancher den Zauberteuffel hoffnungsvoll in die hand genommen haben mag, entschlüpften. Auch ich habe ihn dreimal durchlesen müssen, ehe ich sie fand.« Zum Einfluss von Milichius vgl. auch Opitz, Die Historia von D. Johann Fausten, S. 242ff.; d’Agostini/Silvani, Faustbuch, S. 10ff. Zur Tradition der Teufelbücher vgl. Brüggemann, Die Angst vor dem Bösen; Osborn, Die Teufelliteratur des XVI. Jahrhunderts. 163 Siehe dazu ausführlich Kap. 6. 164 Vgl. Schmidt, Faust und Luther. Schmidts These dominiert die Forschung bis heute.
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Historia bilden konnten. Möglicherweise ist das ein erstes Indiz dafür, dass die Bezüge der Historia auf die innerreformatorischen Auseinandersetzungen so eindeutig nicht sind, wie dies häufig behauptet wird. Frei erfunden: Mephostophiles Für die Hypostasierung dieser Bezüge war die Erfindung der zweiten Zentralfigur der Historia von entscheidender Bedeutung: Mephostophiles. Er ist gegenüber der vorgängigen Überlieferung die alles verändernde Erfindung. Die protestantischen Exempelsammlungen hatten Faustus entweder als allein umherziehenden Zauberer beschrieben oder ihn lediglich mit einem schwarzen Hund ausgestattet, der von Agrippa von Nettesheim auf ihn übertragen worden war und von dem es bei Manlius und bei Hondorff hieß, »das war ein Teuffel«. Von einem teuflischen Hausgeist, einem permanenten Begleiter, Gefährten, Lehrer, war nirgendwo die Rede. Dass diese Veränderung tief in die Struktur der Historia eingeschrieben ist, hat bereits Wilhelm Meyer treffend kommentiert: Einen Hund konnte der Verfasser des Faustbuches nicht brauchen. Hier sollten große Disputationen und Belehrungen über philosophische Gegenstände stattfinden: deshalb gab er dem dienenden Teufel den Körper eines Menschen, das Äußere eines Mönches und nannte ihn Mephostopheles. Das sind alles seine Erfindungen […].165
Mephostophiles ist in nahezu allen seinen Eigenschaften ungewöhnlich: Schon sein Name ist nicht der Vielzahl bekannter Teufelsgestalten entnommen, wie sie etwa in den geistlichen Spielen die Bühnen bevölkerten oder im Alten Testament oder dem Belial benannt worden waren, sondern wurde offensichtlich eigens konstruiert.166 Zwar kann keine der in der Forschung bislang vorgeschlagenen etymologischen Ableitungen aus griechischen, lateinischen oder hebräischen Wortsplittern völlig überzeugen, weil stets ein nicht auflösbarer Rest bleibt, aber dass Mephostophiles ein sprechender Name ist, scheint unbestreitbar und ist in der Forschung auch unstreitig.167
————— 165 Meyer, Das Faustbuch von 1587, S. 359. 166 Zu den Teufelsfigurationen im geistlichen Spiel vgl. Massip, L’inferno in scena; für die Beschreibungen der verschiedenen Teufel, die in den Kapiteln 13 und 15 von Mephostophiles nach dem Alten Testament und nach dem Belial genannt werden vgl. Faustbuch, ed. Müller, Stellenkommentar, S. 1387. 167 Zu den unterschiedlichen Deutungen des Namens vgl. Mahal, Mephisto-Splitter; Russel, Mephistopheles, S. 61.
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Die Rückführung des Namens auf eine Zusammensetzung aus der griechischen Vorsilbe ͑͟ (nicht) ͩͬͥ (Licht) ͩ͒͘͜͞͠ (lieben) mit der Bedeutung »der das Licht nicht Liebende« gilt gemeinhin als die überzeugendste Erklärung, aber auch hier bleibt mit ͧo ein nicht erklärbarer Rest. Dieser Rest lässt sich nur auflösen, wenn man auf das hebräische tophel (Lügner) zurückgreift, das dann in Verbindung mit dem lateinischen mephitis (unrein, stinkend) die ebenfalls nicht unpassend erscheinende Wortbedeutung »stinkender Lügner« ergäbe.168 Unabhängig von der Namensetymologie macht der Verfasser der Historia aus dem Teufelspakt eine Teufelsbeziehung. Frühere Teufelsbündner schlossen den Pakt, genossen oder bereuten diesen Akt und bekehrten sich rechtzeitig oder verfielen dem Teufel.169 Keiner von ihnen hatte eine längere, schon gar nicht eine vierundzwanzig Jahre währende eheähnliche Beziehung mit dem Teufel. Auf diese Nähe zur Ehe weist der Erzähler explizit hin, wenn er im neunten Kapitel notiert, »der Teuffel hat bey jhme einforiert / vnd gewohnet«,170 was im elften Kapitel zur Identität von Teufelsbeziehung und Ehe vereindeutigt wird: Nach solchem / wie oben gemeldt / Doct. Faustus die scha֏ndtliche vnd greuwliche Vnzucht mit dem Teuffel triebe / vbergibt jhme sein Geist bald ein grosses Buch / von allerley Zauberey vnnd Nigromantia / darinnen er sich auch neben seiner Teuffelischen Ehe erlustigte/ […].171
Aber nicht nur diese Beziehung an sich, sondern auch Ebenen der Beziehungs- und der Selbstreflexivität werden in die Teufelsfigur Mephostophiles eingezogen, die so zuvor in keiner Teufelsbündnererzählung thematisiert worden waren: Keine der früheren Teufelsfigurationen war mit einer vergleichbar komplexen Individualität und Subjektivität ausgestattet.172 Ernst Osterkamp hat darauf hingewiesen, dass sich die Figurenzeichnung Lucifers in der Malerei des 16. und der Literatur des 17. Jahrhunderts in ähnlicher Weise hin zu einer deutlich höheren Komplexität entwickelt »und mit der Erweiterung ums Psychologische um Bedeutungsdimensionen bereichert wird, die zusehends über die Wiedergabe des ungebrochenen Bösen hinaus————— 168 Diese Deutung hat freilich das Problem, dass der höllische Geist der Historia Mephostophiles, nicht Mephistophiles heißt. Vgl. Russel, Mephistopheles, S. 61. Anm. 59. Der Name »Mephistophiles« bzw. »Mephistopheles« erscheint aber bereits in Marlowes Tragicall History und in Shakespeares Merry Wives of Windsor, was nicht auf das English Faustbook zurückgeht; dort heißt Fausts teuflischer Geist konsequent Mephostophiles. 169 Vgl. Daxelmüller, Teufelspakt; Haug, Der Teufelspakt vor Goethe; Fischer, Geschichte der Teufelsbündnisse. 170 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 26; Faustbuch, ed. Müller, S. 859. 171 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 29; Faustbuch, ed. Müller, S. 862f. 172 Siehe hierzu und zum Folgenden ausführlich Kap. 7.
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Faustus als Exemplum eines verfehlten Lebens
gehen«.173 Mit Luhmann gesprochen: der Teufel wurde aus einem Beobachter Gottes und des Menschen zu einem Beobachter seiner selbst, und sich selbst beobachten konnte er nur, wenn er in Beziehung gesetzt und damit individualisiert wurde.174
————— 173 Osterkamp, Lucifer, S. 59; ders., Darstellungsformen des Bösen. 174 Zum Teufel als Beobachter Gottes vgl. Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, S. 167f.
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3. Vom Exemplum zur biographischen Erzählung
Der Aufbau der Historia Neben der Individualisierung des Teufels bedurfte es zahlreicher anderer Mittel, um aus einer Sammlung von Exempeln, die mit anderen Prätexten verknüpft worden waren, die Geschichte eines verlorenen Lebens zu konstruieren.1 Ob es dem Verfasser der Historia gelungen ist, die für ein solches Projekt erforderliche Kohärenz der Erzählung herzustellen, ist in der Forschung umstritten. Sowohl in der älteren als auch der jüngeren Forschung ist wiederholt die These vertreten worden, dem Autor sei es nicht gelungen, das völlig heterogene Material seiner ›Quellen‹ zu einer kohärenten biographischen Erzählung zu vereinen.2 Insbesondere wurde behauptet, dass die einzelnen Teile der Erzählung völlig unterschiedlich strukturiert und nur durch den von außen hergestellten biographisch-linearen Ablauf verbunden seien, also keine innere Kohärenz aufwiesen. Als Beleg dafür wurde hauptsächlich die Differenz zwischen dem dritten und dem vierten Teil, zwischen den ›Zauberschwänken‹ und den »Weheklagen« hervorgehoben.3 Dem standen ————— 1 2
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Teile des nachfolgenden Kapitels habe ich bereits in einem kürzlich erschienen Aufsatz vorgestellt. Vgl. Münkler, Semantische Kohärenz, narrative Inkohärenz. Insbesondere in der Forschung des 19. Jahrhunderts war diese Überzeugung gespeist aus Werturteilen über die Qualität narrativer Texte, die vorwiegend am zeitgenössischen Roman orientiert waren; vgl. ed. Scherer, Einleitung, S. XIII; vgl. auch Ellinger, Zu den Quellen des Faustbuchs, S. 157f.; Szamatólski/Hartmann/Stuckenberger/Bauer/Schmidt, Zu den Quellen des ältesten Faustbuchs, S. 162. Ähnlich negative Einschätzungen finden sich auch noch in der jüngeren Forschung. So hat Frank Baron der Historia attestiert, den Ansprüchen einer literarischen Erzählung nicht zu genügen: »When we examine the Historia on its own terms, we find that the prose lacks the harmony and unity of a literary text« (Baron, Faustus on Trial, S. 95). In seinen früheren Untersuchungen hatte er sie denn auch konsequent nicht der Faust-Dichtung, sondern der Faust-Sage zugerechnet; vgl. Baron, Doctor Faustus from History to Legend, S. 49ff.; ders., Faustus. Geschichte, Sage, Dichtung, S. 70-83. So hat Könneker (Faust-Konzeption und Teufelspakt, S. 196) den ›Schwankteil‹ als Unterhaltungsteil betrachtet; Dohm (Emanzipation aus der Didaxe, S. 168) ist dagegen davon ausgegangen, dass sich die Historia im ›Schwankteil‹ von der Festlegung auf die belehrende Funktion emanzipiere. Stephan Füssel (Die literarischen Quellen, S. 34) hat aus der Erweiterung des Schwankteils in den späteren Druckfassungen geschlossen, dass »die christlich belehrende Funktion der Historia nicht akzeptiert worden« sei. Dieser Auffassung hat sich Doris WalchPaul angeschlossen (Trugbilder - Gegenbilder, S. 95-98), aber dennoch daran festgehalten, dass Faustus insgesamt ein Gegenbild des Schwankhelden sei. Selbst Frank Baron (Faustus on Trial, S. 107), der die Historia im Kontext der Hexenverfolgung liest, hat die Überzeugung geäußert, »the function of this part of the book is primarily to entertain«. Gerald Strauss
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Vom Exemplum zur biographischen Erzählung
und stehen Forschungsmeinungen gegenüber, die von einer hohen Kohärenz der Erzählung ausgehen, die sie entweder aus der Psychologie der Figur oder aus den eingesetzten rhetorischen Mitteln ableiten.4 Erschwert wurde die Forschungsdebatte dadurch, dass die Kohärenzfrage innerhalb dieser Diskussion auf ganz unterschiedlichen Ebenen verhandelt worden ist, ohne dass dies jedoch präzise benannt worden wäre. Auf diese Weise haben sich Fragen unter anderem nach der narrativen Kohärenz des Romans, der identitären Kohärenz der Figur, der diskursiven Kohärenz der eingearbeiteten Prätexte, der epistemischen Kohärenz der in die Erzählung integrierten Wissensbestände und der ideologischen Kohärenz der paränetischen Funktionalisierung des Romans miteinander vermischt. Die narrative Kohärenz des Romans hat dabei die geringste Rolle gespielt, gerade sie aber könnte zur Aufklärung der Frage nach der identitären Kohärenz der Figur sowie der ideologischen Funktionalisierung und der diskursiven Kohärenz der eingesetzten Semantiken beitragen. Die Kohärenz des Faustbuches soll daher im Folgenden zunächst auf drei Ebenen untersucht werden: auf der Ebene des discours im Sinne der syntagmatischen Verknüpfung der einzelnen Erzählelemente, auf der Ebene der histoire im Sinne der zeitlichen Abfolge der Ereignisse und auf der Ebene der Zeiterfahrung der Hauptfigur. Letztere funktioniert als intradiegetischer Verknüpfungsmodus, der über die Fokalisierung auf Faust gesteuert wird. Wie in den Prosaromanen, aber auch den Schwankromanen der Frühen Neuzeit durchaus üblich, ist die Historia in einzelne Kapitel unterteilt, von denen jedes mit einer Überschrift versehen ist. Insgesamt umfasst die Historia 69 Kapitel, deren Überschriften zusätzlich in einem an den Schluss gestellten Register durchnummeriert aufgeführt sind.5 Auf der Oberfläche be—————
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(How to Read a ›Volksbuch‹, S. 36) und Gerhild Scholz Williams (Magie und Moral, S. 18) haben dem Autor dagegen einen »double standard« unterstellt, bei dem er einerseits mit dogmatischer Härte auf Ermahnung gesetzt, andererseits seinem Publikum gelegentlich Momente der Entspannung von der Paränese gegönnt habe. Auch Peter Philipp Riedl (vgl. Nützliches Erschrecken, S. 551) hat die These vertreten, die christliche Belehrung habe es gegenüber der weltlichen Unterhaltung des ›Schwankteils‹ erkennbar schwer gehabt. Laura Auteri (L’empia devianza, S. 13) ist sogar zu dem Ergebnis gelangt, der ›Schwankteil‹ habe aus Faust einen zweiten Dil Ulenspiegel gemacht. Einen Vergleich mit den Helden der Schwankromane, wie etwa Dil Ulenspiegel und dem Pfaffen vom Kalenberg, hat auch Stephan Füssel (Die literarischen Quellen, S. 32) gezogen. Zur psychologischen Kohärenz vgl. English Faustbook, ed. Jones, Introduction, S. 9; zur Annahme rhetorischer Kohärenz vgl. Das Volksbuch, ed. Petsch, Einleitung, S. XXV; Roloff, Artes et doctrina, S. 92; vgl. auch M. E. Müller, Poiesis und Hexerei, S. 54. Hans Joachim Kreutzer hat die These vertreten, in der Historia vollziehe sich der Übergang vom seriellen zum sequentiellen Erzählen, was Faust die »Fortexistenz in der Neuzeit« ermöglicht habe (Kreutzer, Nachwort, in: Historia, ed. Füssel/Keutzer, S. 342). Das Register verzeichnet nur 68 Kapitel, weil die im Text vorhandene Überschrift des Kapitels über Fausts Wirken am Hofe des Grafen von Anhalt nicht aufgenommen worden ist (»Von einer andern Abenthewer / so auch diesem Grafen zu gefallen durch D. Faustum ge-
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trachtet signalisiert die Unterteilung einer biographischen Erzählung in einzelne, teilweise sehr kurze Kapitel eher die paradigmatische Reihung einzelner Episoden als die syntagmatische Verknüpfung solcher Episoden zu einem kohärenten Ganzen. Neben der Gliederung in einzelne Kapitel finden sich innerhalb des Textes allerdings auch größer gesetzte Zwischenüberschriften, welche die Historia in drei beziehungsweise vier Teile unterteilen. Der erste Teil, der selbst noch nicht mit einer separaten Überschrift betitelt ist, beschreibt in den Kapiteln 1 bis 17 nach einem Überblick über Fausts Herkunft, Studium und theologischer Promotion seinen Abfall von Gott, die Beschwörung des Teufels und den Abschluss des Teufelspaktes nach längeren Verhandlungen als ersten Höhepunkt der Erzählung. Daran schließen sich Konflikte über die Vertragsbedingungen sowie die Disputationen mit Mephostophiles an, die sich ganz auf den Teufel und seine Macht sowie die Hölle und das Los der Verdammten konzentrieren. Teil II schildert unter der Überschrift »Folget nun der ander Theil dieser Historien / von Fausti Abenthewren vnd andern Fragen«6 in den Kapiteln 18 bis 32 Fausts Tätigkeit als Kalendermacher und Astrologe, seine Lehrgespräche mit Mephostophiles über Fragen der Kosmologie, die Fahrten in die Hölle und hinauf zu den Gestirnen sowie seine Reisen durch die alte Welt. Im Anschluss folgen Lehrgespräche zu unterschiedlichen Naturphänomenen, in denen Faustus nicht mehr als ›Schüler‹, sondern als Belehrender auftritt und nunmehr Fragen beantwortet, die von Gelehrten, vorwiegend von Ärzten und Astrologen, an ihn gerichtet werden. Der dritte Teil umfasst zwei Unterabschnitte: »Folgt nun der dritt vnnd letzte Theil von D. Fausti Abenthewer / was er mit seiner Nigromantia an Potentaten Ho֏fen gethan vnd gewircket. Letzlich auch von seinem ja֏mmerlichen erschrecklichen End vnnd Abschiedt.«7 Teil III/1 schildert in den Kapiteln 33 bis 59 Fausts in unterschiedlichen sozialen Kontexten vollbrachte Zauberkunststücke, wobei deren Funktion und soziale Einbindung sehr unterschiedlich sind. Manche Zauberkunststücke führt Faustus auf Nachfrage der höheren Stände vor, andere zur Belustigung der sich um ihn scharenden Studenten, mit denen er an Fastnacht und über den Aschermittwoch hinaus bacchanalische Gelage feiert. Wieder andere setzt er zu Zwecken des Betrugs, der Hilfe, der moralischen Belehrung oder der Bestrafung ein. Daneben erzählt dieser Abschnitt aber auch von dem Bekehrungsversuch des Nachbarn, von Fausts Bereitschaft zur Umkehr und den —————
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schehen / da er ein ansehenlich Schloß auff ein Ho֏he gezaubert«) und das Kapitel folglich nicht mitgezählt wird. In den kritischen Ausgaben (Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 127; Faustbuch, ed. Müller, S. 983) wird es unter der Nummer [44a] geführt. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 44; Faustbuch, ed. Müller, S. 881. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 77; Faustbuch, ed. Müller, S. 923. Der zweite Teil der Überschrift ist im Schriftbild abgesetzt.
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Vom Exemplum zur biographischen Erzählung
darauf folgenden Drohungen des Teufels, die in die zweite Verschreibung münden. Dieser Teil endet mit der Erzählung von der Buhlschaft mit Helena (Kap. 59), deren erstmalige Beschwörung (Kap. 49) zu den Verblendungen gehört, mit denen Faustus die ihn bewundernden Wittenberger Studenten bezaubert hat. Teil III/2, der nochmals durch eine Überschrift abgesetzt ist (»Folget nu was Doctor Faustus in seiner letzten Jarsfrist mit seinem Geist vnd andern gehandelt / welches das 24. vnnd letzte Jahr seiner Versprechung war«),8 umfasst in den Kapiteln 60 bis 68 das Aufsetzen des Testaments und das Gespräch mit Wagner über Fausts materielles und geistiges Erbe, die drei Weheklagen, die beiden letzten Begegnungen mit Mephostophiles und schließlich Faustens Bekenntnis und Abschied vor seinen Freunden mit der »Oratio Fausti ad Studiosos« sowie sein »greuwliche[s] vnd erschreckliche[s] Ende«.9 Die Gliederung in vier Teile, denen nicht nur bestimmte Zeitabschnitte, sondern auch bestimmte Ereignis- und Handlungsabläufe zugeordnet werden, unterläuft also bereits die paradigmatische Reihung und signalisiert auf der Ebene des narrativen discours eine syntagmatische Verdichtung der Erzählung. Ordnendes Grundprinzip der histoire ist Fausts Vita, deren chronologisch-linearer Ablauf dem ordo naturalis von der Geburt bis zum Tod folgt. Allerdings hat dieses biographische Verlaufsschema markante Einschnitte: Von Kindheit und Jugend aus, in der sich die viel versprechende Begabung des Knaben zeigt, wird in einem knappen Summary eine steil aufsteigende Linie zum Doktor der Theologie gezogen, die mit dem Beiseitelegen der Bibel (»hat die H. Schrifft ein weil hinder die Thu֏r vnnd vnter die Banck gelegt«10) einen jähen Bruch erfährt. Faustus gerät zur »bo֏sen Gesellschafft«11, wird ein »Weltmensch«12, der sich als Arzt ausgibt und sich der Astrologie sowie der Mathematik widmet. Was davon zu halten ist, macht der Erzähler auf der Ebene des Kommentars sogleich deutlich: Wer die Bibel unter die Bank legt, wendet sich von Gott ab und damit automatisch dem Teufel zu. Folgerichtig schließt sich die dreifache Beschwörung des Teufels und die Aushandlung des Teufelspakts an. Danach wird Fausts Leben im Bann des Teufels gezeigt. Der teuflische Geist Mephostophiles ist für lange Zeit Fausts einziger Gesprächspartner und Gefährte: In langen Disputationen vermittelt er Faust scheinbar gelehrtes Wissen und mittels seiner Zauberkräfte ermöglicht er ihm Reisen durch die alte Welt sowie Fahrten hinab in die Hölle und hinauf zu den Gestirnen. Anschließend erscheint Faustus in den Zaubereikapiteln, die ihn wieder im Kontakt mit anderen Menschen ————— 8 9 10 11 12
Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 111; Faustbuch, ed. Müller, S. 964. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 119 u. 118; Faustbuch, ed. Müller, S. 974 u. 973. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 14; Faustbuch, ed. Müller, S. 839. Ebd. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 15; Faustbuch, ed. Müller, S. 840.
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zeigen, als ein mit den Fähigkeiten des Teufels ausgestatteter Zauberer, der in seiner sozialen Umgebung erhebliche Reputation genießt. Im letzten Teil erfolgt ein Rückzug von der Gesellschaft, der mit dem Verfall der Person unter dem Druck des erwarteten Endes verbunden ist. Obwohl der anonyme Verfasser in den Paratexten, im Widmungsschreiben wie in der Vorrede, behauptet, die Historia sei die wahrhaftige Lebensbeschreibung jenes »Doct. Johannis Fausti / deß weitbeschreyten Zauberers vnnd Schwartzku֏nstlers, nach dessen Geschichte allenthalben ein grosse nachfrage […] bey den Gastungen vnnd Gesellschafften geschicht«13 und »der noch bey Menschen Geda֏chtnuß gelebet«,14 werden seine Lebensdaten nicht angegeben. Auch lineare Zeitangaben sind nicht sehr häufig, nehmen aber im Verlauf der Erzählung zu und sind alle auf den Ablauf der vierundzwanzigjährigen Paktdauer bezogen. Zwischen dem ersten Zyklus der Disputationen über die Hölle und die Verdammten und dem zweiten Zyklus der Gespräche über kosmologische Fragen liegen zwei Jahre, in denen Faustus »Practicam vnd Calender« erstellt.15 Im achten Jahr enden die Disputationen mit Mephostophiles und es beginnen die eingebildeten oder tatsächlichen Reisen durch die Hölle und zu den Gestirnen. Im sechzehnten Jahr unternimmt Faustus seine Reisen durch Europa und Asien, bei denen er zunächst nur für einen kurzen Zeitraum von fünfundzwanzig Tagen und dann eineinhalb Jahre unterwegs ist; im siebzehnten Jahr verschreibt er sich zum zweiten Mal dem Teufel. Danach haben alle Kapitel Zahlenangaben für die bereits abgelaufene Zeit innerhalb der vierundzwanzigjährigen Paktzeit, das heißt: die Zeit erscheint als ablaufende Frist. Im letzten Jahr setzt Faust sein Testament auf, im letzten Monat fängt er an zu phantasieren und schreibt sein Elend in drei Weheklagen auf, am vorletzten Tag erscheint ihm der Geist, am letzten Abend legt er vor den befreundeten Studenten und Magistern sein Bekenntnis ab. Es kommt also auf der Ebene des discours zu einer Dehnung der Zeit, bei der die erzählten Zeitabschnitte immer kürzer, die Narration jedoch immer umfangreicher wird. Gerade dies hat jedoch den Effekt einer gefühlten Akzeleration der Zeit auf der Ebene der histoire, denn Fausts letzte Lebenstage scheinen durch die Dichte der Ereignisfolge förmlich auf das Ende zuzustürzen. Das Zentrum des Verlaufsschemas, auf das alles zu- und von dem alles wegläuft, ist ein performativer Sprechakt: der Pakt, in dem Faustus dem Teufel seine Seele verschreibt.16 Dieser Pakt, von dem der Erzähler vorgibt, ihn wörtlich zu zitieren, ist mit allen Signifikanten eines juristisch verbindli————— 13 14 15 16
Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 5; Faustbuch, ed. Müller, S. 833. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 11; Faustbuch, ed. Müller, S. 839. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 44; Faustbuch, ed. Müller, S. 882. Vgl. zur Performativität des Teufelspakts Münkler, Historia von D. Johann Fausten.
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chen illokutionären Sprechaktes ausgestattet: »Jch Johannes Faustus D. bekenne mit meiner eygen Handt offentlich / zu einer Bestettigung / vnnd in Krafft diß Brieffs […]«.17 Die juristisch korrekte Form dieses Sprechaktes ist aber nicht nur im Hinblick auf die formale Gültigkeit des Vertrages zwischen Faust und dem Teufel performativ wirksam, sondern auch für den weiteren Verlauf der Erzählung.18 Die Erzählung folgt in erheblichen Teilen den Paktbedingungen und verwirklicht so die detaillierten Festlegungen der ihm vorausgehenden Verhandlungen: Vom Abschluss des Pakts an hat Faustus vierundzwanzig Jahre, innerhalb derer ihm der Teufel zu Diensten ist, seine Fragen beantwortet, ihn belehrt, ihm außergewöhnliche Erfahrungsmöglichkeiten verschafft und die Fähigkeiten eines Geistes verleiht. Am Ende dieser vereinbarten Zeit kommt der Teufel, holt sich Fausts Seele und vernichtet seinen Leib: Er zerschmettert ihn an der Wand, so dass sein Blut in der Stube verspritzt wird, das Hirn an der Wand klebt, Augen und Zähne auf dem Boden verteilt sind; den Rest des Körpers wirft er auf den Misthaufen. An dieser Stelle widmet der Erzähler Fausts Körper bemerkenswert große Mühe: Bis dahin steht eher Fausts Seelenleben im Mittelpunkt, aber während die Seele am Ende sang- und klanglos verschwindet, wird der gemartere Körper als ihre zerstörte Hülle eindringlich beschrieben. Die Abfolge der Erlebnisse und Ereignisse innerhalb der Paktzeit wird nicht gleichförmig erzählt. Grundprinzip des narrativen discours ist die Variation der Dauer der Erzählung, also der Wechsel unterschiedlicher Erzähltempi, die von extrem kurzen Summaries bis zu szenisch breit auserzählten, dem dramatischen Modus angenäherten Sequenzen reichen.19 Das Summary von Fausts Jugend und Studium ist ganz danach organisiert, auf den Teufelspakt hinzuführen. Faustus wird als hochbegabt beschrieben (»eins gantz gelernigen vnd geschwinden Kopffs / zum studiern qualificiert vnd geneigt«),20 aber auch als unbelehrbar, leichtfertig und hochmütig (»daneben ————— 17
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Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 22; Faustbuch, ed. Müller, S. 854. Zum Begriff des (konventional) illokutionären Sprechaktes und zu seiner Unterscheidung vom (intentional) perlokutionären Sprechakt vgl. Austin, How to do Things with Words, S. 112-124. Unter dem Aspekt der Auflösbarkeit von Verträgen ist die Einhaltung des Vertrages durch Faustus eigentlich unwahrscheinlich, denn er hält einen Vertrag ein, der für ihn so erhebliche Nachteile hat, dass dies die illokutionäre Kraft des Vertrages im Prinzip aushebeln müsste. Da Verträge Versprechen auf die Zukunft sind, bei denen unterstellt wird, dass beide Vertragsparteien von der Einhaltung des Vertrages profitieren, und wo dies nicht der Fall, die Einhaltung des Vertrages unwahrscheinlich ist, bedarf die von Austin unterstellte illokutionäre Kraft von Verträgen einer ganzen Reihe institutionell garantierter Zusatzbedingungen. Grundsätzlich zum Problem der illokutionären Kraft von Verträgen in Auseinandersetzung mit Austins Position vgl. Werber, Vor dem Vertrag, S. 368f. Zur Performativität und Performanz des Teufelspakts in der Historia vgl. Münkler, Historia von D. Johann Fausten. Zu den unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Erzählung vgl. Genette, Diskurs der Erzählung, S. 61-80. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 14; Faustbuch, ed. Müller, S. 843.
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hat er auch einen thummen / vnsinnigen vnnd hoffertigen Kopff gehabt / wie man jn denn allezeit den Speculierer genennet hat«),21 sodass sein Weg in den Teufelspakt als eine konsequente Folge der ihm zugeschriebenen Eigenschaften erscheint, was der Erzählerkommentar durch das Zitieren eines Apophthegmas markiert: »Aber es ist ein wahr Sprichwort: Was zum Teuffel wil / das la֏ßt sich nicht auffhalten / noch jm wehren.«22 Sowohl auf der Performanz- als auch der Kommentarebene arbeitet der Erzähler hier mit einer dichten syntagmatischen Verknüpfung, welche die Beschwörung des Teufels als konsequenten, aus den Faustus zugeschriebenen Eigenschaften motivierten Schritt erscheinen lässt: sein Fu֏rwitz / Freyheit vnd Leichtfertigkeit stache vnnd reitzte jhn also / daß er auff eine zeit etliche za֏uberische vocabula / figuras / characteres vnd coniurationes / damit er den Teufel vor sich mo֏chte fordern / ins Werck zusetzen / vnd zu probiern jm fu֏rname.23
Die Beschwörung selbst ist szenisch breit ausgestaltet und über das rituelle Muster der Trigemination, der dreifachen Wiederholung, mit der Bedeutung des unbedingten Wollens aufgeladen. Sie zeichnet sich durch eine dichte Folge von Präsenzeffekten aus, die etwa durch die Beschreibung von Blitzen, Donnern, unheimlichen Lauten und bedrohlichen Erscheinungen erzielt werden.24 Allerdings werden diese Präsenzeffekte durch Kommentare des Erzählers gebrochen. Denn als D. Faustus den Teuffel beschwur / da ließ sich der Teuffel an / als wann er nicht gern an das Ziel vnd an den Reyen ka֏me / wie dann der Teuffel im Wald einen solchen Tumult anhub / als wolte alles zu Grund gehen / daß sich die Ba֏um biß zur Erden bogen.25
Im Sinne einer Theorie magisch-rituellen Sprechens lässt sich der Akt der Teufelsbeschwörung als illokutionärer Sprechakt verstehen. Solche Sprech————— 21 22 23
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Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 14; Faustbuch, ed. Müller, S. 844. Ebd. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 15; Faustbuch, ed. Müller, S. 845. Zur curiositas als der zentralen Begründung für Fausts Pakt mit dem Teufel in der Historia vgl. Müller, ›Curiositas‹ und ›erfarung‹; ders., ›Erfarung‹; ders., Ausverkauf menschlichen Wissens; Münkler, ›allezeit den Spekulierer genennet‹. In den letzten Jahren ist solchen Präsenzeffekten des Narrativen jenseits des Signifikativen in der Forschung breiterer Raum gewidmet worden. Auf einzelne Ergebnisse dieses hochinteressanten Forschungsgebiets kann hier nicht eingegangen werden, verwiesen sei nur auf Largier, Präsenzeffekte und Lechtermann, Berührt werden. Als theoretische Grundlegung ist hier nur zu nennen Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik; vgl. auch Kiening, Zwischen Körper und Schrift, S. 7-31. Einen Überblick über die spezifisch altgermanistische jüngere Forschung bietet in einem thematisch auf Minnereden bezogenen Aufsatz Waltenberger, ›Diß ist ein red als hundert‹; eine kritische Würdigung des Ansatzes findet sich bei Peters, Texte vor der Literatur, S. 70f. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 16; Faustbuch, ed. Müller, S. 846.
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akte verknüpfen Handlungsanweisungen und –Vollzüge mit rituellen Formeln.26 Der Erzähler distanziert sich freilich von der Unterstellung einer illokutionären Kraft der rituellen Handlungen, indem er der Beschreibung der ersten Beschwörung die folgende Bemerkung voranstellt: Da wirdt gewißlich der Teuffel in die Faust gelacht haben / vnd den Faustum den Hindern haben sehen lassen / vnd gedacht: Wolan / ich wil dir dein Hertz vnnd Muht erku֏hlen / dich an das Affenba֏ncklin setzen / damit mir nicht allein dein Leib / sondern auch dein Seel zu Theil werde.27
Damit demaskiert der Erzähler die erst im Anschluss beschriebene Beschwörungszeremonie und das Widerstreben des Teufels von Beginn an als Täuschung: Um Faustus glauben zu machen, er könne den Teufel beherrschen, gibt dieser sich widerstrebend und entfacht auf diese Weise Fausts Machtwillen nur umso mehr. Solche Performanzen im Sinne mehr oder minder aufwendiger zeichenhafter Inszenierungen werden als ein wichtiges Element der Machtmittel des Teufels beschrieben. Zumeist haben sie einen perlokutionären Effekt auf Faustus, indem sie affektive Zustände der Freude und der Gier, vor allem aber auch der Furcht auslösen. Nach der Beschwörung führt Faustus mit dem teuflischen Geist Mephostophiles szenisch breit inszenierte Verhandlungen über den Gegenstand und die Bedingungen eines möglichen Pakts. Bemerkenswerterweise erscheint das Auslösen von Furcht bereits vor dem Abschluss des Vertrags als einer der vom Teufel intendierten perlokutionären Effekte. Schon bei ihrem ersten Gespräch erläutert der teuflische Geist Faustus, er könne über die Herrschaft und das Regiment des Teufels erst nach seinem Tod als Verdammter etwas erfahren. Faustus reagiert darauf entsetzt und erklärt, »jch wil darumb nicht verdampt seyn / vmb deinet willen«, worauf der Teufel mit dem Merkvers repliziert: Wiltu nit / so hats doch kein Bitt / Hats denn kein Bitt / so mustu mit / Helt man dich / so weistu es nit / Dennoch mustu mit / da hilfft kein Bitt / Dein verzweiffelt Hertz hat dirs verschertzt.28
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Tambiah, Eine performative Theorie des Rituals, S. 213f. Tambiah definiert das Ritual als »kulturell konstruiertes System symbolischer Kommunikation. Es besteht aus strukturierten und geordneten Sequenzen von Worten und Handlungen, die oft multi-medial ausgedrückt werden und deren Inhalt und Zusammenstellung mehr oder weniger charakterisiert sind durch: Formalität (Konventionalität), Stereotypie (Rigidität), Verdichtung (Verschmelzung) und Redundanz (Wiederholung)«. Zur möglichen Verknüpfung zwischen den hier angewendeten Ritualtheorien, sprechakttheoretischen Überlegungen und der Konstatierung von Präsenzeffekten vgl. Münkler, Historia von D. Johann Fausten. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 15; Faustbuch, ed. Müller, S. 846. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 19; Faustbuch, ed. Müller, S. 850.
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Dieser Merkvers ruft bei Faustus widersprüchliche Reaktionen hervor: Zunächst jagt er den Geist davon, aber gleich darauf wird er »eines andern zweiffelhafftigen Gemu֏hts«29 und beschwört den Teufel erneut. Diesen Widerspruch markiert der Erzähler dann in einem Kommentar: »Es ist hie zu sehen deß Gottlosen Fausti Hertz vnd Opinion / da der Teuffel jhm / wie man sagt / den armen Judas sang / wie er in der Hell seyn mu֏ste / vnd doch auff seiner Halßstarrigkeit beharret.«30 Der hier beobachtbare Dreischritt von Performanz, perlokutionärem Effekt und illokutionärem Erzählerkommentar, der das Ende proleptisch vorwegnimmt, ist eines der Grundprinzipien, nach denen die Kommunikation zwischen Faustus und dem Teufel organisiert und kommentiert wird.31 Nach dem Paktschluss wird der Erzählverlauf mithilfe von Ellipsen wieder beschleunigt.32 Diese Ellipsen werden zumeist in den die Kapitel einleitenden Situierungen durch Erzählerbemerkungen wie »Doct. Faustus name jm widerumb ein Gespa֏ch fu֏r […]«33 oder »Doctor Faustus / nach dem jhme sein Vnmuht ein wenig vergienge / fragte er seinen Geist […]«34; »Doctor Faustus hatte wol jmmerdar eine Rew im Hertzen […]«35 expliziert, zeitlich aber unbestimmt gelassen. Durch diese zeitliche Unbestimmtheit machen sich auf der Ebene der histoire die Ellipsen kaum bemerkbar, denn die auf den Pakt folgenden Disputationskapitel des ersten Teils zeichnen sich insgesamt durch einen szenischen Modus aus und widmen sich alle der Hölle, sodass eine metaphorische Similarität der Kapitel erzeugt wird. Daneben verbindet die Kapitel aber auch metonymische Kontiguität, denn sie sind durch Fausts Frageinteresse kausal miteinander verknüpft.36 Darüber sind auch die zeitlichen Ellipsen funktionalisiert, denn sie evozieren Fausts Probleme, die Antworten des Teufels auf seine Fragen zu ver————— 29 30 31 32
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Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 19; Faustbuch, ed. Müller, S. 850. Ebd. Dazu ausführlich Münkler, Historia von D. Johann Fausten. Solche Ellipsen können nach Genette (Diskurs der Erzählung, S. 76ff.) explizit oder implizit sein: der Leser wird im ersten Fall auf die Auslassung hingewiesen, im zweiten Fall kann er sie nur erschließen. Explizite Ellipsen können außerdem zeitlich bestimmt oder unbestimmt sein. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 32; Faustbuch, ed. Müller, S. 865. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 34; Faustbuch, ed. Müller, S. 868. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 36; Faustbuch, ed. Müller, S. 870. Ich verwende die Begriffe metaphorische Similarität und metonymische Kontiguität in Anlehnung an Roman Jacobson. Jakobson benennt damit unterschiedliche sprachliche Verknüpfungsmodi: metaphorische Similarität bezeichnet die Substituierbarkeit, metonymische Kontiguität die prädikative Verknüpfung von Worten (vgl. Jakobson, Zwei Seiten der Sprache, S. 133-139). Diese Differenzierung ist in der Erzähltheorie zur Beschreibung der Verknüpfung freier Motive übernommen worden. Freie Motive in metaphorischer Verwendung sind jene, die eine semantische Identität oder Ähnlichkeit aufweisen, freie Motive in metonymischer Verknüpfung dagegen solche, die durch räumliche, zeitliche oder kausale Nähe oder durch eine synekdochische pars pro toto-Beziehung, also durch Kontiguität, verbunden sind. Vgl. Martinez/Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 114-116.
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arbeiten und zu bewältigen. Die ersten Jahre von Fausts Vertragszeit vergehen mit Gesprächen, die Faustus affektiv so betroffen machen, dass er dazwischen Pausen benötigt, die mit Grübeln oder Ablenkungen gefüllt sind. Diese Zwischenphasen werden in der Regel nicht ausführlich erzählt, aber durch einleitende oder abschließende Erzählerkommentare angedeutet, einmal auch in einem kurzen Summary beschrieben: D. Faustus gieng abermals gantz Melancholisch vom Geist hinweg / wardt gar Verwirret vnd Zweiffelhafftig / gedacht jetzt da / dann dorthin / trachtete diesen dingen Tag vnnd Nacht nach / Aber es hatte kein bestandt bey jme / Sondern wie oben gemeldet / hat jhn der Teuffel zu hart Besessen / Verstockt / Verblendt vnd Gefangen. Zu dem / wann er schon allein war / vnd dem Wort GOttes nachdencken wolte / schmu֏cket sich der Teuffel in gestalt einer scho֏nen Frawen zu jme / ha֏lset jn / vnd trieb mit jm all Vnzucht / also daß er deß Go֏ttlichen Worts bald vergaß / vnd in Wind schluge / vnnd in seinem bo֏sen Fu֏rhaben fortfuhre.37
Nach dem resignativen Abschluss der Disputationskapitel (»Doct. Faustus / als er von Gottseligen Fragen vom Geist keine Antwort mehr bekommen kondte […]«38) beginnt der zweite Teil mit einem Summary, das Fausts Tätigkeit als Kalendermacher und Astrologe zusammenfasst. Danach wechselt die Erzählung wieder in den ›langsameren‹ szenischen Modus des Dialogs, der weitgehend demselben Schema folgt wie die Disputationen des ersten Teils: Faustus fragt, Mephostophiles antwortet und lässt Faustus beunruhigt oder verzweifelt zurück. Der diskursive Gesprächsmodus wird dann durch den Bewegungsmodus abgelöst, denn nach dem Abschluss dieser zweiten Disputationsreihe beginnen Fausts Reisen in die Hölle, zu den Gestirnen sowie durch Europa und Asien. Hier arbeitet der Verfasser mit einer Mischung aus Beschleunigung und Verlangsamung, denn durch die Fülle der beschriebenen Elemente wird einerseits der Eindruck rasender Geschwindigkeit vermittelt, andererseits aber ein narrativer Stillstand erzeugt, weil die umfangreichen Deskriptionen narrative Pausen erzeugen, in denen Ereignislosigkeit dominiert. In den anschließenden Kapiteln mit den von Faustus beantworteten kosmologischen Fragen setzt der Verfasser dann erneut vorwiegend szenische Kapitel ein, wobei auch hier, wie bei den ersten Gesprächskapiteln, die thematische Uniformität der Fragen nach kosmologischen Phänomenen metaphorische Ähnlichkeiten erzeugt. Dagegen nimmt die metonymische Kontiguität im Sinne kausaler oder finaler Motivierung der einzelnen Episoden ab, denn die letzten Kapitel des zweiten Teils sind bereits auf Kontingenz umgestellt (»Zu Eißleben ist ein Comet gesehen worden […]. Da fragten etliche seine gute ————— 37 38
Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 42; Faustbuch, ed. Müller, S. 879. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 44; Faustbuch, ed. Müller, S. 881.
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Freundt D. Faustum / wie das zugieng«;39 »Ein fu֏rnemmer Doctor N. V. W. zu Halberstatt / lude D. Faustum zu Gast […]«).40 In diesen Kapiteln, in denen Faustus Fragen beantwortet, sind die Frageanlässe kontingent und die Inszenierungen seines Antwortens verweisen zwar darauf, dass er in der Zwischenzeit zu sozialem Ansehen und einer gewissen Reputation als Astrologe gekommen ist, aber dieses Ansehen wird nicht in der Form einer charismatisch gestalteten Lehrerrolle inszeniert. Mit dem Übergang zum dritten Teil, der mit dem Auftritt am Hofe Kaiser Karls V. zunächst Fausts Reputationskarriere in einer steil ansteigenden Linie fortführt, scheint Kontiguität völlig zu verschwinden. Die Kapitel sind im Vergleich zu den vorherigen Teilen häufig relativ kurz, Szenen werden eher kurz angerissen als breit auserzählt. Grundsätzlich dominiert hier elliptischszenische Erzählweise, es fehlen jedoch Summarys, welche die einzelnen Szenen verknüpfen könnten und die Ellipsen zwischen den Kapiteln werden kaum durch einleitende Bemerkungen explizit gemacht, sondern können nur implizit erschlossen werden. Einige der Kapitel werden mit Floskeln wie, »er kam einmal gen Gotha in ein Sta֏ttlein«41 oder »Doctor Faustus kam in ein Statt / Zwickaw genannt«42 lediglich räumlich, nicht aber zeitlich situiert, sodass sich zwischen den Kapiteln zeitliche Ellipsen zwar erahnen, nicht aber festmachen lassen. Die paradigmatische Reihung überwiegt hier gegenüber der syntagmatischen Verknüpfung. Allerdings sind die Kapitel alle durch metaphorische Ähnlichkeit verknüpft, denn sie zeigen Faustus als Zauberer, der vorwiegend mit Hilfe von Sinnestäuschungszaubern seine soziale Umgebung täuscht und dabei positiv oder negativ beeindruckt. Insgesamt lässt sich dieser Teil als eine Phase der äußeren Ereignishaftigkeit beschreiben. Während der erste und der zweite Teil ausgesprochen ereignisarm, aber erlebnisintensiv sind, ist der dritte Teil außerordentlich ereignisreich, aber erlebnisarm. Faustus wird im Kontext immer neuer Situationen gezeigt, in denen er mit Hilfe der ihm vom Teufel verliehenen Zauberkräfte innerhalb des sozialen Systems agiert. Diese Situationen werden zu einem erheblichen Teil als kontingent und Fausts Verhalten darin als okkasionell beschrieben. Faustus reagiert häufig auf vorgegebene Situationen, die ihm zufällig begegnen, wie etwa im Kapitel 41, »Von einem Hader zwischen 12. Studenten«, in dem er zwölf vor seinem Haus streitende Studenten wegen der ungleichen Zahl der Kontrahenten (sieben gegen fünf) kurzzeitig verblendet.43 Solche Ereignisse, die im Grunde belanglos sind und keinerlei intentionale Richtung der Hauptfigur mehr erkennbar werden las————— 39 40 41 42 43
Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 73; Faustbuch, ed. Müller, S. 918. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 73; Faustbuch, ed. Müller, S. 919. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 81; Faustbuch, ed. Müller, S. 928. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 87; Faustbuch, ed. Müller, S. 935. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 87; Faustbuch, ed. Müller, S. 936.
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sen, finden sich im dritten Teil gehäuft. Die Kontingenz und die Abundanz solcher Ereignisse führen dazu, dass sich die Reihenfolge eines Teils der Kapitel ändern ließe, ohne dass dies die narrative Logik der Erzählung stören würde. Anders als im ersten und zweiten Teil ist Faustus in diesen Kapiteln affektiv auch kaum betroffen: Angst scheint ihm ebenso fern gerückt, wie der Wunsch, »alle Gru֏nd am Himmel vnd Erden zu erforschen«.44 Kontingente Reihenfolge und Austauschbarkeit gelten allerdings nicht für alle Kapitel: Einige Kapitel sind zeitlich-kausal,45 andere nur zeitlich46 oder kausal47 so eng miteinander verknüpft, dass sich zumindest ihre innere Abfolge nicht umkehren ließe. Auch fehlende affektive Betroffenheit ist nicht für alle Kapitel zutreffend, denn mitten in die Reihe der Zauberepisoden sind der Bekehrungsversuch durch den »Gottesfo֏rchtige[n] Artzt / vnd Liebhaber der H. Schrifft / auch ein Nachbawr deß D. Fausti«48 (Kap. 52) und die darauf folgende zweite Verschreibung ( Kap. 53) integriert. Das Bekehrungskapitel ist wie die Gesprächskapitel des ersten Teils szenisch breit gestaltet und zeigt Fausts affektive Beeinflussbarkeit in beide Richtungen. Nachdem ihm der Nachbar freundlich zugeredet hat, ist Faustus bereit sich zu bekehren, aber im unmittelbaren Anschluss zeigt sich, dass er nicht fähig ist, dem Teufel zu widerstehen: Mit einer Performanz aggressiver Gewalt (»[…] tappet nach jm / als ob er jhme den Kopff herumb drehen wollte«49) und der Androhung der ihm zu Gebote stehenden Machtmittel (»Wo nit / wo֏lle er jn zu stu֏cken zerreissen«) erreicht Mephostophiles eine erneute Ausfertigung des Teufelspaktes: »D. Faustus gantz erschrocken / bewilligt jm widerumb auffs newe / setzt sich nider / vnd schreibt mit seinem Blut […]«.50 Unter dem Aspekt der Performanz folgt der Abschluss des zweiten Vertrages dem Muster der syntagmatischen Verknüpfung von affektauslösender Inszenierung des Teufels, perlokutionärer Wirkung auf Faust und ver————— 44 45
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Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 15; Faustbuch, ed. Müller, S. 845. Zeitlich-kausale Verknüpfung gilt etwa für die Kapitel 44 und 44a, in denen Faustus beim Grafen von Anhalt wohlwollend empfangen wird und sich vor seiner Abreise mit einem Zauberspektakel bedankt, sowie für die Kapitel 49 und 59: Faustus beschwört für die Studenten am Weißen Sonntag das Bild der Helena herauf (Kap. 49); daran erinnert er sich im letzten Paktjahr und lässt sie daraufhin von Mephostophiles für sich selbst darstellen (Kap. 59). Die kausale Verknüpfung wird in diesem Fall also durch eine Analepse hergestellt, die mittels einer Fokalisierung auf Faustus erzählt wird. Zum Begriff der Analepse vgl. Genette, Diskurs der Erzählung, S. 32-45. Zeitliche Verknüpfung findet sich insbesondere in den Kapiteln 45 bis 48, in denen Faustus mit Wittenberger Studenten über mehrere Tage Fastnachts-Bacchanalien veranstaltet. Kausale Verknüpfung wird zwischen den Kapiteln 34, 35 und 56 hergestellt, in denen Faustus einem Baron am Kaiserhof ein Hirschgeweih auf den Kopf zaubert (Kap. 34), wofür sich dieser zweimal zu rächen versucht (Kap. 35 u. 56). Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 101; Faustbuch, ed. Müller, S. 952. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 103; Faustbuch, ed. Müller, S. 955. Ebd.
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diktivem Sprechakt des Erzählers, der hier allerdings ex negativo funktioniert und mit einem Fokuswechsel einhergeht: Nach der zweiten Verschreibung trachtet Mephostophiles aus Rache dem Nachbarn nach dem Leben, aber dieser verspottet und vertreibt ihn. Der Erzählerkommentar (»also beschu֏tzet GOtt alle fromme Christen / so sich GOtt ergeben vnnd befehlen wider den bo֏sen Geist«51), kommt einem Verdikt über Faustus gleich. Im vierten und letzten Teil schließlich sind sämtliche Kapitel final motiviert, denn sie sind alle auf Fausts nahenden Tod bezogen. Summarische und szenische Darstellung wechseln sich ab oder gehen ineinander über, so dass neben die finale Motivierung aller Kapitel häufig noch die kausale Motivierung einzelner Kapitel tritt. Daraus ergibt sich eine extrem hohe syntagmatische Verdichtung der Narration. Dennoch gibt es auf der Ebene des narrativen discours zwischen den Kapiteln hinsichtlich der Performanz von Fausts Reaktionen auf das Näherrücken des Ablaufs der ihm zugestandenen Frist erhebliche Differenzen: Ein Teil der Kapitel inszeniert die soziale Dimension des nahenden Todes, ein anderer Teil die affektive Dimension. Bezogen auf das soziale System agiert Faustus gemäß den Regeln der sozialen und der religiösen Funktionssysteme: Er setzt ein Testament auf, in dem er seinem Famulus Christoph Wagner sein Haus und sein sonstiges Vermögen vermacht (Kap. 60), er regelt sein Nachleben im Gedächtnis der Gemeinschaft, in dem er Wagner aufträgt, er solle seine Geschichte »auffzeichnen / zusammen schreiben / vnnd in eine Historiam transferiren«52 (Kap. 61), und lädt für den letzten Tag seine »vertraweten Gesellen / Magistris / Baccalaureis / vnd andern Studenten mehr / die jn zuvor offt besucht hatten«53 zu einem gemeinsamen Mahl ein (Kap. 67). An seinem letzten Abend schließlich legt er in seiner »Oratio […] ad Studiosos« ein Bekenntnis seiner Teufelsbündnerschaft ab (Kap. 68). Die ersten Kapitel des vierten Teils zeigen damit einen zweckrational agierenden Faustus, der ganz im Sinne einer bürgerlichen ars moriendi verfährt, die den Sterbenden dazu anhält, vor seinem Tod seine Angelegenheiten zu regeln. Im letzten [68.] Kapitel folgt er den Imperativen der religiösen Kommunikation und deren ars moriendi, indem er eine Generalbeichte ablegt. In den zwischen diese Kapitel eingespannten Weheklagen wird jedoch mittels der Fokalisierung auf Fausts Wahrnehmung ein anderer Faustus gezeigt, der sich von der Gesellschaft zurückzieht, über keine geordnete Sprache mehr verfügt und völlig von Angst und Verzweiflung beherrscht wird: Dem Fausto lieff die Stunde herbey / wie ein Stundglaß / hatte nur noch einen Monat fu֏r sich / […] / da ward Faustus erst zame / vnd war jhme wie einem gefangenen Mo֏rder oder Ra֏uber / so das vrtheil im Gefa֏ngnuß empfangen / vnd der Straffe des
————— 51 52 53
Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 105; Faustbuch, ed. Müller, S. 957. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 112; Faustbuch, ed. Müller, S. 966. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 119; Faustbuch, ed. Müller, S. 974.
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Todes gewertig seyn muß. Dann er ward gea֏ngstet / weynet vnd redet jmmer mit sich selbst / fantasiert mit den Ha֏nden / a֏chtzet vnd seufftzet / nam vom Leib ab / vnnd ließ sich forthin selten oder gar nit sehen / wolte auch den Geist nit mehr bey jm sehen oder leyden.54
Die so erzeugte Sprachlosigkeit und damit der Austritt aus der diskursiven Vermittelbarkeit wird in den anschließenden Kapiteln aber wieder aufgehoben, weil Faustus sein Leid »auffzeichnet […] / damit ers nicht vergessen mo֏chte«55 und durch die Inserierung dieser Aufzeichnung in das Buch vorübergehend in die Rolle des Erzählers eintritt. Beredsamkeit und Sprachlosigkeit des Leidens, schriftliche Aufzeichnung und mündliche Klage wechseln sich dabei ab, inszenieren aber alle mit intensiven Präsenzeffekten Fausts Verzweiflung, seine Angst, aber auch den Schmerz über seine verlorene Seele. Dabei adressiert er sich in seiner Not selbst als jenes Gegenüber, das ihm fehlt (»Ach Fauste / du verwegenes vnnd nicht werdes Hertz«56), indem er Fragen an sich beziehungsweise einzelne Instanzen seines Körpers und seiner Seele richtet (»Ach jhr Glieder / vnnd du noch gesunder Leib / Vernunfft vnd Seel / beklagen mich«57). Der einzige Adressat, den er in dieser Zwischenphase der Isolation und Verzweiflung erreicht, ist Mephostophiles, der »auff solche obgeho֏rte Weheklag«58 zu ihm tritt und ihn in einer Szene gnadenloser Kommunikationsverweigerung mit einer Serie von Sprichwörtern überschüttet (Kap. 65), die alle nur eines sagen: Du hättest es wissen können und müssen, jetzt aber ist es zu spät: »Dein Vnglu֏ck keinem Menschen klag. Es ist zu spat / an Gott verzag«.59 Allerdings gesteht die Logik der Erzählung Mephostophiles nicht zu, damit die Inszenierung von Fausts Ende festzulegen. Zwar wird Faustus am Schluss vom Teufel geholt, aber in dem mit der Oratio inszenierten Bekenntnis tritt Faustus auf der intradiegetischen Ebene wieder in die Regeln der religiösen Kommunikation ein, die Sprache an das Geständnis bindet.60
Die syntagmatische Funktion der Semantiken Schon aus der Betrachtung des syntagmatischen Verknüpfung der vier Teile wird deutlich, dass die Kapitel nicht nur durch ein Erzählsyntagma miteinan————— 54 55 56 57 58 59 60
Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 113; Faustbuch, ed. Müller, S. 966. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 113; Faustbuch, ed. Müller, S. 967. Ebd. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 114; Faustbuch, ed. Müller, S. 967. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 115; Faustbuch, ed. Müller, S. 969. Ebd. Zur Funktion des Geständnisses und der Beichte für die Etablierung eines Regimes der Selbstbeobachtung vgl. Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 75ff., und Hahn, Zur Soziologie der Beichte.
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der verschränkt sind, sondern auch durch Semantiken, die die einzelnen Teile dominieren. Diese Semantiken legen dem narrativen Syntagma der Vita ein systematisches Syntagma zugrunde, das den narrativen discours deutlich prägt. Dass der Historia neben einer zeitlichen auch eine systematische Ordnung zugrunde liegt, hat bereits Gustav Milchsack angenommen, der Entdecker und erste Herausgeber der Wolfenbütteler Handschrift des Faustbuchs. Milchsack hielt allerdings eine andere Unterteilung als die von den Zwischentiteln vorgegebene für erforderlich, um diese systematische Ordnung offen legen zu können. Er unterteilte die Historia in fünf Teile: den ersten Teil mit Herkunft, Studium und Abschluss des Teufelspaktes, den zweiten Teil mit den Disputationen über die Hölle, den dritten Teil mit den Reisen in die Hölle, zu den Gestirnen sowie durch Europa und Teile Asiens, den vierten Teil mit den Zauberkunststücken und den fünften und letzten mit den Weheklagen, der Oratio Fausti ad studiosos und Fausts Tod.61 Milchsack charakterisierte den nach seiner Zählung zweiten Teil mit den Disputationen über die Hölle als den theologischen Teil, den dritten Teil mit den Reisen als den naturwissenschaftlichen Teil und den vierten Teil mit den Zauberkunststücken als dämonologischen oder zauberischen Teil. Auch wenn Milchsacks Zuordnung des ersten Teils als »theologisch« und es zweiten als »naturwissenschaftlich« inadäquat gewesen sein mögen, weil sie die konzeptionellen Aspekte überdehnten, so veranschaulichte seine Beschreibung doch zutreffend, dass sich über die zeitliche Ordnung der Vita eine systematische Ordnung legt, die bestimmte Aspekte von Fausts Interessen und Handlungen syntagmatisch eng miteinander verknüpft und in den einzelnen Teilen konzentriert hat. Eine Verknüpfung der chronologischen mit einer sachlichsystematischen Ordnung hat in der jüngeren Forschung auch Jan-Dirk Müller konstatiert. Anders als Milchsack ist er jedoch von der durch die Kapitelüberschriften vorgegebenen Vierteilung ausgegangen, aber zu ähnlichen Ergebnissen wie Milchsack gelangt: Den ersten Teil nach dem Teufelspakt ordnete er der Erkundung der »letzten religiösen Gemeinnisse« zu, den zweiten naturkundlichen Fragen sowie der Erforschung der Natur und des Kosmos, den dritten einer lockeren Folge von Zauberschwänken und den vierten Teil schließlich Fausts Ende mit Testament, Weheklagen, Verspottung durch den Teufel und Tod.62 Müllers Systematisierung folgt damit durchaus ähnlichen Kategorien wie Milchsack: die Fragen nach der Hölle werden als theologische oder religiöse Fragen klassifiziert, die Fragen nach den Gestirnen und die Reisen als naturwissenschaftlicher bzw. naturkundlicher Teil rubriziert und die Zauberepisoden als zauberisch-dämonologischer Teil, den Müller um den Aspekt des Schwankhaften ergänzt. Sowohl bei ————— 61 62
Vgl. Milchsack, Einleitung, zu: Historia D. Johannis Fausti, ed. Milchsack, S. CCCXXVIIf. Vgl. Faustbuch, ed. Müller, Kommentar, S. 1334f..
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Milchsack als auch bei Müller bleibt der letzte Teil systematisch eigentümlich unterbelichtet und wird lediglich deskriptiv erfasst. Die Verknüpfungen der aufeinanderfolgenden Teile lassen sich aber nicht nur systematisch ordnen, sondern auch semantisch verdichten. Betrachtet man die vier Teile der Historia unter dem Aspekt der mit ihnen verbundenen Semantiken, so wird deutlich, dass die Narration von drei Semantiken gesteuert wird: curiositas, magia und melancholia. Diese drei Semantiken bilden Fausts identitäre Markierungen, die je einem Teil zentral zugeordnet werden: Der erste und der zweite Teil präsentieren Faustus als curiosus, der dritte Teil beschreibt ihn als magus und der vierte Teil zeigt ihn als melancholicus. Der Beginn des ersten und der vierte Teil bilden zugleich die semantische Klammer, die den Mittelteil integriert: Um seine curiositas zu befriedigen, lässt sich Faustus auf einen Bund mit dem Teufel ein, am Ende der ihm zugestandenen Frist aber ist er von Angst beherrscht und verfällt in Trauer und tiefe Melancholie. Die semantische Klammer erweist sich damit als kausale Verknüpfung von Ursache und Wirkung. Teilaspekte der Semantik von Melancholie lassen sich aber bereits im ersten Teil finden. Das hängt zum einen damit zusammen, dass Melancholie prinzipiell bipolar codiert ist und nicht nur Aspekte der Verzweiflung (desperatio), sondern auch der Vermessenheit (praesumptio) umfasst.63 Neben der curiositas ist es die Vermessenheit von Fausts Annahme, er könne sich »das ho֏chste Haupt auff Erden«64 untertan machen, ohne einen Preis dafür zahlen zu müssen (»er meynet der Teuffel wer nit so schwartz als man jhn mahlet / noch die Hell so heiß / wie mann davon sagte«65), die ihn in die Arme des Teufels treibt. Zum anderen finden sich aber auch bereits im ersten Teil Elemente der melancholischen desperatio, die Faustus insbesondere in den Teufelsgesprächen immer wieder ergreift. Die Gelenkstelle dieser semantisch-syntagmatischen Verknüpfungen bilden der Pakt und die ihm vorausgehenden Verhandlungen, in denen die Beantwortung der Fragen Fausts durch den Teufel, das »Spekulieren der Elementa« sowie die Weitergabe aller Fähigkeiten des Geistes als Bedingungen und Bestandteile des Paktes ausgehandelt werden.66 Betrachtet man die Teile im Licht des Pakts und der zuvor ausgehandelten Bedingungen, so wird deutlich, dass der erste Teil mit den szenisch dargestellten Disputationen Fausts mit Mephostophiles die Beantwortung seiner Fragen erfüllt, der zweite mit den Reisen in die Hölle und zu den Gestirnen das »Spekulieren der Elementa« und der dritte mit den Zauberkunststücken die Ausübung ————— 63 64 65 66
Zu den Begriffen praesumptio und desperatio und ihren Semantiken vgl. Ohly, Desperatio und Praesumptio. Zu Fausts Melancholie vgl. ausführlich Kap. 8. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 16; Faustbuch, ed. Müller, S. 849. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 21; Faustbuch, ed. Müller, S. 853. Vgl. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 17-23; Faustbuch, ed. Müller, S. 848-853.
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der Fähigkeiten des Geistes. Auch der vierte Teil steht in einem engen Bezug zum Pakt, denn er bezieht seine dichte syntagmatische Verknüpfung aus dem Ablauf der vereinbarten Paktzeit und Fausts Angst vor den Strafen der Hölle. Der zentrale Stellenwert der curiositas zeigt sich an den drei Paktbedingungen, die Faustus nach der zweiten Beschwörung dem Teufel stellt: Der Geist solle ihm »1. vntertha֏nig und gehorsam sein / in allem war er bete / fragte / oder zumuhte […]«; 2. »das jenig / so er von jm forschen wu֏rd / nicht verhalten« und 3. »auff alle Interrogatorien nichts vnwarhafftiges respondiern«.67 Auf der intradiegetischen Ebene von Fausts Intentionen, dienen die Paktbedingungen offenkundig dazu, seine Absicht, mit Hilfe des Teufelspaktes verborgenes Wissen zu erlangen, durch zusätzliche Bedingungen abzusichern. Der Erzähler legt so die Annahme nahe, Faustus sei sich des Risikos bewusst, dass der Teufel die Befriedigung seiner curiositas hintertreiben könne, indem er ihm unvollständig antworte, ihm etwas verschweige oder ihn belüge. Folgerichtig bringt Faustus als Verfasser des Pakttextes die zuvor genannten Bedingungen nach dem Grundmotiv der curiositas erneut ein: Jch Johannes Faustus D. bekenne mit meiner eygen Handt offentlich / zu einer Bestettigung / vnnd in Krafft diß Brieffs / Nach dem ich mir fu֏rgenommen die Elementa zu speculieren / vnd aber auß den Gaaben / so mir von oben herab bescheret vnd mitgetheilt worden / solche Geschickligkeit in meinem Kopff nicht befinde / vnnd solches von den Menschen nicht erlehrnen mag / So hab ich gegenwertigen gesandtem Geist / der sich Mephostophiles nennet / ein Diener des Hellischen Prinzen in Orient / mich vntergeben / auch denselbigen / mich solches zu berichten vnd zu lehren / mir erwehlet / der sich auch gegen mir versprochen / in allem vnderthenig vnd gehorsam zuseyn.68
Die Befriedigung seiner curiositas verspricht sich Faustus demnach in erster Linie mittels der traditionellen Form des Lernens durch mündliche Belehrung und Dialog (»mich solches zu berichten vnd zu lehren«69). Neben der Wahrhaftigkeit der Antworten setzt diese Form des Lernens allerdings voraus, dass Faustus in der Lage ist, frei zu entscheiden, wonach er zu fragen gedenkt. Genau dies aber entlarvt die histoire als falsche Voraussetzung, denn Fausts Fragen werden von Beginn an nicht von seinem Interesse bestimmt, »alle Gründ am Himmel und auf Erden zu erforschen«, sondern von Angst.70 Schon die ersten Fragen richten sich nicht auf den Himmel und die Erde, sondern auf die Hölle, deren Beschaffenheit, ihre Ordnung sowie die Ewigkeit der Strafen. Auch diese Fragen lassen sich zweifellos der Semantik ————— 67 68 69 70
Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 20; Faustbuch, ed. Müller, S. 852. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 22; Faustbuch, ed. Müller, S. 854. Ebd. Vgl. Münkler, Höllenangst und Gewissensqual, S. 254-257.
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von curiositas zuordnen, aber sie sind eben nicht von einem naturkundlichen Interesse geleitet, sondern von Sorge und Angst. Diese Verschiebung des Interesses markiert der Erzähler auf der Ebene des narrativen discours in der Regel durch die einleitende Situierung der Kapitel, in denen er auf Fausts jeweiligen Gemütszustand und damit den affektiven Ausgangspunkt der nachfolgenden Frage fokalisiert. Schon die zweite Frage wird von Angst bestimmt: Dem Doct. Fausto / wie man zu sagen pflegt / Traumete von der Helle / vnd fragte darauff seinen bösen Geist / auch von der Substanz / Ort vnd Erschaffung der Hellen / wie es damit geschaffen seye.71
Fausts ›Frageinteresse‹ hat damit einen Ausgangspunkt, der in der Etymologie von curiositas durchaus angelegt ist, in den anfänglich geschilderten Intentionen Fausts aber völlig ausgeblendet wird. Curiositas erscheint hier im Sinne von cura, der Sorge, und spezieller: der Sorge um sich.72 Diese Sorge um sich ist hier freilich nicht im Sinne einer ethisch-ästhetischen Sozialtechnik zu verstehen, sondern als Ausdruck der Furcht, von der Faustus anfänglich noch meint, sie instrumentalisieren zu können.73 Einerseits präsentiert der Erzähler Faustus als von Angst beherrscht, andererseits zeigt er in der Fokalisierung auf Faustus aber auch, wie dieser versucht, seine Furcht als Sozialtechnik zu instrumentalisieren, weil er hofft, dass er durch die Schrecken der Hölle »einmal zur Besserung / Rew und Abstinentz gerahten mo֏chte«.74 Freilich liefert ihn das umso mehr der Affektbeherrschungstechnik des Teufels aus, der mit Hilfe unterschiedlicher Strategien Faustus immer tiefer in die Beschäftigung mit der Hölle verstrickt. Die Verzögerungsstrategien des Teufels, inszeniert als Unkenntnis (»So ko֏nnen wir Teuffel auch nit wissen / was gestalt vnd weiß die Hell erschaffen ist«75) oder Besorgnis (»Darumb lieber Fauste / laß anstehen / viel von der Helle zu fragen / frage ————— 71 72
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Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 30; Faustbuch, ed. Müller, S. 864. Zur Geschichte des curiositas-Begriffs und seiner wechselnden Semantiken vgl. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit; Bös, Curiositas; Münkler, curiositas, S. 49-54. Zum Gebrauch des curiositas-Begriffs speziell in der frühen Neuzeit vgl. Kenny, Curiosity in Early Modern Europe. Vgl. zur curiositas ausführlich Kap. 6. Zur Sorge um sich als ethisch-ästhetischer Sozialtechnik vgl. Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 3, bes. 53-94. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 36; Faustbuch, ed. Müller, S. 871. Fausts Versuch, durch die Beschäftigung mit der Hölle »zur Besserung / Rew vnd Abstinentz« zu gelangen, kann zugleich als ironisches Spiel mit der von katholischer Seite für die Beichte teilweise als hinreichend betrachteten attritio, der Angst-Reue, gedeutet werden, während Luther nur die contritio, die wahrhafte Zerknirschung des Sünders gegenüber Gott, gelten ließ. Zur Gegenüberstellung von attritio und contritio innerhalb der Diskussion um die Beichte vgl. Hahn, Zur Soziologie der Beichte, S. 204ff. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 36; Faustbuch, ed. Müller, S. 871.
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ein anders dafu֏r / Dann glaube mir darumb / da ich dirs erzehle/ wirdt es dich in solche Rew / Vnmuht / Nachdencken vnnd Ku֏mmernuß bringen / daß du wolltest / du hettest die Frage vnterwegen gelassen«76), vertiefen den Fragedrang und führen ihn gezielt in die falsche Richtung.77 Gleichzeitig bestätigen sie, dass eben jenes eintritt, was Faust mittels der Paktbedingungen zu verhindern versucht hat: dass der Teufel ihm unvollständig antwortet, Dinge verschweigt oder ihn anlügt. Während Faustus aber mit seinen die Vertragserfüllung durch den Teufel absichernden Paktbedingungen lediglich auf die Ebene der Wissensvermittlung abgezielt hat, über die er trotz dieses Bemühens letztlich nicht verfügt, liegt die sehr viel wirkungsvollere Affektbeherrschungstechnik des Teufels außerhalb seiner Vorstellungskraft. Ihr gegenüber zeigt ihn der Erzähler als völlig hilflos. Als Faustus dem Schweigen und den falschen Antworten des Teufels zu entkommen sucht, zeigt sich diese Hilflosigkeit dann auch auf der Ebene des Wissens. Nachdem ihn ein Traum in Angst versetzt hat und sich der Teufel weigert, ihm noch weitere Auskünfte über die Hölle zu erteilen, erbittet Faustus die Erlaubnis, die Hölle selbst zu besuchen, damit er »der Hellen Qualitet / Fundament vnd Eygenschafft / auch Substanz [...] sehen / vnd abnemmen« könne.78 Die Fahrt in die Hölle bildet damit in mehrfacher Hinsicht eine Zäsur: Sie leitet von einer Erkenntnisform in eine andere über, sie versucht den Teufel als Vermittler von Erkenntnis durch die eigene Augenzeugenschaft abzulösen, und sie strebt nach Erfahrung im doppelten Sinne: einerseits der Erfahrung im Sinne von Wahrnehmung, andererseits der Erfahrung im Sinne des Überprüfens und der Überprüfbarkeit von Erkenntnis.79 Während Faustus auf der intradiegetischen Ebene versucht, den veralteten Quellen durch Autopsie zu entkommen, diskreditiert der Verfasser auf der Ebene des narrativen discours dieses Bemühen dadurch, dass er hier dieselben heterologen Prätexte einsetzt wie in den Gesprächen zuvor.80 Ähnliches gilt auch für die Gestirnsbewegung, der Faustus sich im Anschluss zuwendet: Er sieht nicht mehr, als bereits im Elucidarius beschrieben ist, und vermag deshalb auch am Ende des Briefes an einen Freund, in dem er selbst von der Gestirnsfahrt berichtet und den er als »Doctor Faustus der Gestirnseher« unterzeichnet, nur darauf zu verweisen, er könne, was er ihm berichtet habe, in seinen Büchern nachprüfen, »ob dem nicht so seye«.81 An dieser ————— 76 77 78 79 80 81
Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 37; Faustbuch, ed. Müller, S. 872. Vgl. Münkler, Höllenangst und Gewissensqual, S. 254ff. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 52; Faustbuch, ed. Müller, S. 886. Zum Begriff der Erfahrung vgl. Müller, Erfarung. Grundsätzlich zur Differenzierung zwischen Erfahrung und Wahrnehmung vgl. Münkler, Erfahrung des Fremden, S. 266-282. Als Quelle für die Beschreibung der Hölle in Höllenfahrt dient wie bei den Auskünften des Teufels zuvor der Elucidarius. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 59; Faustbuch, ed. Müller, S. 901.
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Stelle dekonstruiert der vorübergehend in die Erzählerrolle eingerückte Faustus selbst seinen autoptischen Erkenntnisgewinn durch den Verweis auf die Bücher: Was anhand der überlieferten Texte nachprüfbar ist, kann keine darüber hinaus weisende Erkenntnis erbracht haben. Auch die Reisen belegen nicht die schrankenlosen Erkenntnismöglichkeiten des Teufelsbündners, sondern dekonstruieren sie: Wo durch den Teufel scheinbar ermöglichte Autopsie keinen Erkenntnisgewinn bringt, weil sie nicht mehr in Erfahrung zu bringen mag, als das ohnehin schon Bekannte, wird sie als Möglichkeit der Wissensakkumulation diskreditiert, die gegenüber dem tradierten Buchwissen in irgendeiner Weise zu bevorzugen wäre. Die Semantik von curiositas wird damit in die Struktur eines verfehlten Lebens und seiner narrativen Darstellung subtil integriert. Sie bildet die Ursache für Fausts Überschreitung der Grenzen des Erlaubten und markiert gleichzeitig sein Scheitern in dem Versuch, herausragendes Wissen zu erlangen. Das hängt nicht zuletzt mit der Auswahl der Prätexte zusammen. Die für die Inszenierung der Semantik von curiositas zugrunde gelegten Texte lassen sich weitgehend als populäre volkssprachliche Wissenstexte beschreiben. Innerhalb der Erzählung werden sie eingesetzt, um das von Faustus mittels des Teufelspaktes erlangte Wissen mimetisch zu repräsentieren. Insoweit haben diese Wissenstexte innerhalb der Erzählung einen hochgradig prekären Status, denn auf ihnen basiert die Performanz der Vertragserfüllung durch den Teufel. Betrachtet man die Auswahl der heterologen Prätexte unter diesem Aspekt, so fällt auf, dass gerade solche Texte fehlen, die man für die Präsentation des Faustus durch Mephostophiles vermittelten Wissens am ehesten erwarten würde: Texte der hermetischen oder okkulten Wissenschaften und zeitgenössische astronomisch-astrologische Traktate.82 Solche Texte waren zum Zeitpunkt des Erscheinens der Historia ebenso einflussreich wie umstritten und in ihnen hätte man mit Grund die entscheidenden Quellen für Fausts Versuche, alle »Gru֏nd am Himmel vnd Erden [zu] erforschen«83 erwarten dürfen, aber keiner von diesen Texten hat als Prätext für die Historia fungiert. Vielmehr hat der Verfasser ausnahmslos Texte herangezogen, die in dieser Hinsicht nichts Einschlägiges zu bieten hatten. Damit diskreditiert er subtil, was der Teufel an Wissen zu vermitteln hatte: kein Spezialistenwissen, sondern ein Wissen, das allgemein zugänglich war und keine Geheimnisse barg. Kein Wissen also, um dessentwillen es lohnenswert hätte erscheinen können, sich mit dem Teufel einzulassen. ————— 82
83
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Historia gab es in lateinischer, aber auch in deutscher Sprache auf dem deutschen Buchmarkt zahlreich alchimistische, kabbalistische und astrologische Traktate. Vgl. Buntz, Deutsche alchimistische Traktate; Trepp, Religion, Magie und Naturphilosophie, S. 474-485; von Greyerz, Alchemie, Hermetismus und Magie, S. 417421; Yates, Die okkulte Philosophie, S. 27-33 u. 43-55. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 15; Faustbuch, ed. Müller, S. 848.
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Sehr viel attraktiver konnte dagegen die Semantik der magia wirken, die im dritten Teil die curiositas vollständig ablöst. Den sich aus dieser Ablösung ergebenden Bruch hat der Erzähler auf der Ebene der histoire dadurch abgefedert, dass er mittels der Astrologie eine Brücke zwischen curiositas und Magie geschlagen hat. Diskurstheoretisch betrachtet bildet die Astrologie, die Faustus bereits zu Beginn des zweiten Teils aufnimmt, in der Frühen Neuzeit ein Band zwischen der Erforschung der Natur und Ihrer Beherrschung.84 Auch hier verschiebt jedoch der narrative discours die Motivation des Protagonisten. In der Fokalisierung auf Faust macht der Erzähler deutlich, dass dieser kein genuines Interesse an der Astrologie hat, sondern lediglich darauf ausweicht, »als er von Gottseligen Fragen vom Geist keine Antwort mehr bekommen kondte«.85 Sein Ziel ist aber nicht, nunmehr aus den Sternen abzulesen, was der Geist ihm mitzuteilen sich weigert oder aus Berechnungen der Planetenbahnen und -konjunktionen Schlussfolgerungen zu ziehen. Die Hinwendung zur Astrologie ist nicht final, sondern kausal motiviert, aber diese kausale Motivierung ist so schwach ausgezeichnet, dass es so scheint, als suche Faustus lediglich nach einer anderen und weniger beängstigenden Beschäftigung. Fienge demnach an Calender zu machen / ward also derselben zeit ein guter Astronomus oder Astrologus / gelehrt vnd Erfaren / von seinem Geist in der Sternkunst / vnd Practicken schreiben / wie ma֏nniglichen wol bewust / daß alles / was er geschrieben / vnter den Mathematicis das Lob darvon gebracht.86
Zwar erweisen sich seine »Pracktiken« als zutreffend und verschaffen ihm erhebliche Reputation, aber das liegt nicht daran, dass Faustus tatsächlich komplizierte astrologische Berechnungsverfahren beherrscht und aus dem Lauf der Sterne die Zukunft vorhersagen könnte, sondern daran, dass der Teufel aus Erfahrungen schöpfen kann, die keinem Menschen zugänglich sind. Erst nachdem Faustus »seine Practicam vnd Calender zwey Jahr gerichtet / vnd gemacht hatte« fragt er seinen Geist, »was es fu֏r eine gelegenheit hab mit der Astronomia oder Astrologia / wie die Mathematici zu stellen pflegen?«87 Hier überlässt der Erzähler erstmals unwidersprochen und unkommentiert Mephostophiles eine Erklärung, in der dieser exklusives Wissen für sich reklamiert: Es hat ein solch Judicium / daß alle Sternseher vnnd Himmelgucker nichts sonderliches gewiß Praciticieren ko֏nnen / Denn es sind verborgene Werck GOTtes / welche die Menschen nicht / wie wir Geister / die wir im Lufft / vnter dem Himmel schwe-
————— 84 85 86 87
Zur Verbindung von Astrologie und Magie in der Frühen Neuzeit vgl. Claudia Brosseder, Im Bann der Sterne, bes. S. 210-231; Copenhaver, Astrology and Magic. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 44; Faustbuch, ed. Müller, S. 879. Ebd. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 45; Faustbuch, ed. Müller, S. 880.
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ben / die Verha֏ngnuß Gottes sehen / vnd abnemmen / ergru֏nden ko֏nnen. Dann wir seyn alte vnnd erfahrne Geister in deß Himmels Lauff.88
Der Effekt dieser unwidersprochenen Erklärung besteht darin, dass Faustus auf dem Gebiet der Astrologie erneut als völlig vom Teufel abhängig gezeigt wird. Diese Abhängigkeit ist jedoch keine kommunikative oder affektgesteuerte wie im Falle der curiositas, sondern eine epistemologische. Tatsächlich ist Faustus auf dem Gebiet der Astrologie völlig unerfahren, aber selbst wenn er darin geübt wäre, würde das nach dem Urteil des Teufels nicht zu brauchbaren Ergebnissen führen, weil »alle Sternseher vnnd Himmelgucker nichts sonderlich gewiß Practicieren ko֏nnen«.89 Die nur vorgebliche Beherrschung der Astrologie ebnet Faustus aber den Weg in die Gesellschaft und verschafft ihm soziale Anerkennung. Der narrative Fokus liegt damit nicht auf einer neuen Form des Wissenserwerbs, sondern auf Fausts durch den Teufel begründetem innerweltlichen Erfolg. Dieser Erfolg setzt sich fort im dritten Teil, der nahezu vollständig der Semantik der Magie zugeordnet werden kann. Schon im ersten Kapitel des dritten Teils wird Faustus als anerkannter medicus und »erfahrner der schwartzen kunst«90 am Hofe Kaiser Karls V. in Innsbruck gezeigt und damit mit der Spitze der Gesellschaft in Verbindung gebracht. Als Zauberer bewegt sich Faustus grundsätzlich innerhalb der Gesellschaft, die ihm Raum, Gelegenheit und Anerkennung für die Ausübung seiner Zauberkünste bietet. Die Magie oder Schwarzkunst ist in den Kapiteln des dritten Teils eine eindeutig gesellschaftsbezogene Kunst, sie dient nicht der Naturbeherrschung im engeren Sinn, sondern hat eine gesellschaftliche Funktion. Für Faustus wird sie zur Erfolgsgarantie: Sie macht ihn zu einem geachteten Mitglied der Gesellschaft. Als Astrologe, Ratgeber und Unterhaltungskünstler an den Höfen des Kaisers, des Fürsten von Anhalt und weiterer hoher Adliger, sowie als Gastgeber und »Bacchus« von Wittenberger Studenten und Magistri, die sich als Tischgesellschaft um ihn scharen, üppige Gelage mit Speis und Trank im Überfluss sowie Musik und Tanz mit ihm feiern und zu ihrer Unterhaltung seine Zauberkünste genießen, steht Faustus im Zentrum unterschiedlicher sozialer Bezüge. In diesen szenischen Episoden wird die Zauberei als ein Gesellschaftsspiel gezeigt, an dem kaum jemand Anstoß nimmt. Mehrfach wird in der histoire deutlich, dass Faustus die Herkunft seiner zauberischen Fähigkeiten keineswegs zu verbergen trachtet: Ganz offen spricht er gegenüber den Wittenberger Studenten davon, er habe seinem »Geist befohlen / einen ————— 88 89 90
Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 45; Faustbuch, ed. Müller, S. 880. Ebd. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 77; Faustbuch, ed. Müller, S. 912. Als »erfahrner der schwartzen kunst« erkennt ihn der Kaiser.
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Vngerischen / Jtalianischen vnd Hisapanischen Wein zuholen« und versichert ihnen, sie sollten ihm »glauben / daß es keine Verblendung seye / da jhr meynet jhr esset / vnd seye doch nicht natu֏rlich«.91 Auch dem Fürsten von Anhalt (Kap. 44) erklärt er, dass er einen Geist habe, »der ein fliegender vnd geschwinder Geist ist / sich in einem Augenblick / wie er will / verändern kann« und deshalb für die schwangere Fürstin von Anhalt im Winter frisches Obst vom anderen Ende der Welt herbeischaffen könne.92 Anders als auf dem Gebiet der Astrologie legt der Erzähler an diesen beiden Stellen Faustus in der Differenzierung zwischen nur vorgetäuschten und tatsächlich herbeigebrachten Speisen ein Wissen über die Möglichkeiten und Grenzen der Teufelsmacht in den Mund, das ihn auf der Höhe der dämonologischen Schriften der Zeit zeigt. So betonten etwa Weier und Lercheimer übereinstimmend, dass der Teufel nicht in der Lage sei, selbst etwas zu schaffen. Deswegen könne er entweder nur durch »Verblendung« vorgetäuschte Dinge vorzeigen oder aber gestohlene Gegenstände herbeischaffen. Wohl aber könne der Teufel fliegen und deshalb sei es ihm möglich, in Windeseile aus der ganzen Welt Gegenstände verfügbar zu machen.93 Zwischen diesen beiden Möglichkeiten, der Sinnestäuschung und dem Zauberflug, bewegen sich größtenteils die Zauberepisoden des dritten Teils. In den dämonologischen Schriften der Zeit wird auch die Heraufbeschwörung von Toten als unmöglich betrachtet und betont, der Teufel könne lediglich Ihre Gestalt annehmen und auf diese Weise den Eindruck erwecken, sie seien von den Toten auferstanden.94 Auch hier macht der Erzähler durch Fausts Aussagen dessen Wissen um die Grenzen der magischen Künste deutlich. Als Faustus am Hof Karls V. auf dessen Wunsch Alexander den Großen und seine Gemahlin heraufbeschwören soll, erklärt er dem Kaiser, »doch sollen Ew. May. wissen / daß jre sterblichen Leiber nicht von den Todten aufferstehen / oder gegenwertig seyn ko֏nnen / welches dann vnmu֏glich ist«.95 Trotz der Anbindung an dämonologische Intertexte und der auch auf der Ebene der histoire stellenweise verdeutlichten Abhängigkeit von den Fähigkeiten des Teufels, wirkt es so, als habe Faustus sich im dritten Teil mit seinen Zauberkunststücken weitgehend der Macht des Teufels entzogen. Sieht man von dem in diesen Teil integrierten Bekehrungsversuch des Nachbarn (Kap. 52) und den anschließenden Drohungen des Teufels ab, die in die zweite Verschreibung (Kap. 53) münden, dann scheint Faustus als Zauberer ————— 91 92 93
94 95
Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 94; Faustbuch, ed. Müller, S. 948. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 90; Faustbuch, ed. Müller, S. 939. Vgl. etwa Weier, De Praestigiis Daemonum, S. 50 (Sinnestäuschung), S. 101 (Sinnestäuschung); S. 106 (Teufel kann nichts schaffen), S. 415 (Teufelsflug); Lercheimer, Eyn Christlich Bedencken von Zauberey, ed. Binz, S. 25 (Sinnestäuschung), S. 62 (Teufelsflug). Vgl. Weier, De Praestigiis Daemonum, S100f.; Lercheimer, ed. Binz, S. 38f. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 78; Faustbuch, ed. Müller, S. 932.
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weitgehend unabhängig vom Teufel agieren zu können. Mephostophiles ist im dritten Teil in kaum einem der Kapitel präsent, Faustus handelt in aller Regel ebenso selbständig wie selbstbewusst.96 Unter der Semantik der Magie erscheint somit in erster Linie die Selbstbemächtigung des Zauberers. Dämonologisch betrachtet ist Faustus als Zauberer selbst ein Teil der Teufelsmacht geworden, und die Episoden dieses Teils erfüllen damit die erste der von Faustus in den zweiten Verhandlungen vor Abschluss des Teufelspakts gestellten Bedingungen, »daß er auch ein Geschickligkeit / Form vnnd Gestalt eines Geistes mo֏chte an sich haben vnd bekommen«.97 Auf der Ebene der histoire aber ist das durch Fausts selbständiges Agieren weitgehend verdeckt und es entsteht der Eindruck, als habe sich Faustus von der Macht des Teufels weitgehend gelöst. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass Faustus so gut wie keinen Schadenszauber ausübt, sondern zumeist Sinnestäuschungszauber, der zur Beeindruckung oder Unterhaltung der Gesellschaft dient, verschiedentlich auch zur Hilfe, moralischen Belehrung, Bestrafung oder Stigmatisierung einzelner Gruppen. Damit fehlen in dem der Zauberei gewidmeten Teil jene Aspekte der teuflischen Bösartigkeit, die in den zeitgenössischen Hexenprozessen den Hexen und Zauberern unterstellt wurden.98 Wenn Faustus einzelnen Schaden zufügt, dann handelt es sich zumeist um vorübergehenden, auf Sinnestäuschung beruhenden Schaden, den er selbst wieder aufhebt. Von Faustus scheint hier weder für sich noch für andere eine wirkliche Gefahr auszugehen. Sein Handeln ist gesellschaftsbezogen, aber es wirkt nicht gesellschaftszerstörend. Es zeigt einen selbstgewissen und der Gesellschaft zugetanen Faustus, der den verängstigten und verstörten Faustus der Teufelsgespräche weit hinter sich gelassen zu haben scheint. Folglich spielt auch seine Innenseite keine Rolle.99 Während curiositas und melancholia semantisch eng mit Fausts Affekten verknüpft sind und seine Innenseite offenbaren, blendet magia diese Innenseite weitgehend aus. Faustus ist hier ganz nach außen gerichtet und Zauberei ist die Garantin für seinen Erfolg in der Welt. Fausts Innenseite tritt dann aber im vierten Teil, der von der Semantik der Melancholie beherrscht wird, mit umso größerer Wucht in den Mittelpunkt. Der vierte Teil, der Fausts letztes Lebensjahr schildert, wird von der
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Die Absenz von Mephostophiles im dritten Teil hat auch Andreas Kraß konstatiert. Vgl. Schwarze Galle – schwarze Kunst, S. 543f. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 20; Faustbuch, ed. Müller, S. 853. Siehe dazu ausführlich Kap. 6. Vgl. Könneker (Faust-Konzeption und Teufelspakt, S. 172), die betont hat, dass in den Kapiteln des dritten Teils reine Außensicht vorherrsche.
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Beschreibung seiner melancholischen Zustände dominiert.100 Faustus zieht sich völlig von der Gesellschaft zurück und starrt angstvoll und völlig gelähmt auf das ihn erwartende Ende. Anders als curiositas und magia lässt sich die melancholia aber nicht ausschließlich dem vierten Teil zuordnen.101 Bereits im ersten Teil der Historia, nach dem von Mephostophiles herbeigeführten Abschluss der Höllen-Disputationen, war davon die Rede, dass Faustus melancholisch geworden sei: D. Faustus gieng abermals gantz Melancholisch vom Geist hinweg / wardt gar Verwirret vnd Zweiffelhafftig / gedacht jetzt da [-] / dann dorthin / trachtete diesen dingen Tag vnnd Nacht nach / Aber es hatte kein bestandt bey jme / Sonder wie oben gemeldet / hat jhn der Teuffel zu hart Besessen / Verstockt / Verblendt vnd Gefangen.102
Schon zuvor – und darauf bezieht sich das temporale Adverb »abermals« offenbar – war er als schwermütig und traurig beschrieben worden. Auch hier war der Rückzug kennzeichnend: Nach dem Gespräch mit Mephostophiles über die Gestalt der verstoßenen Engel (Kap. 14) ging Faustus »stillschweigendt vom Geist in seine Kammer / leget sich auff sein Beth / hub an bitterlich zu weinen vnd seufftzen / vnd in seinem Hertzen zu schreyen«.103 Auch nach der darauffolgenden Disputation (Kap. 15) »von Gewalt deß Teuffels« »gieng D. Faustus trawrig von jme«.104 In seinen letzten Lebenswochen sind die Aspekte der Melancholie wie Traurigkeit, Angst, Verzweiflung und Rückzug auf sich selbst jedoch hochgradig verdichtet. In den letzten Wochen vor Ablauf der vierundzwanzigjährigen Frist präsentiert die Historia Faustus als völlig auf sich selbst zurückgeworfenes Individuum. Der Rückzug auf sich selbst, wird dadurch besonders markiert, dass ihn der narrative discours in der Fokalisierung auf Faust auf dessen eigene Entscheidung zurückführt: Dem Fausto lieff die Stunde herbey / wie ein Stundglaß / hatte nur noch einen Monat fu֏r sich / darinnen sein 24. Jar zum ende lieffen / in welchen er sich dem Teuffel ergeben hatte / mit Leib vnd Seel / wie hievorn angezeigt worden / da ward Faustus erst zame / vnd war jhme wie einem gefangenen Mo֏rder oder Ra֏uber / so das vrtheil im Gefa֏ngnuß empfangen / vnd der Straffe des Todes gewertig seyn muss. Dann er ward gea֏ngstet / weynet und redet jmmer mit sich selbst / fantasiert mit den Ha֏nden /
————— 100 Die Dominanz der Innensicht im vierten Teil hat bereits Barbara Könneker konstatiert. Vgl. ebd., S. 173. Sie hat diese Beschreibung jedoch mit einem Qualitätsurteil über die Historia verknüpft und nur dem ersten und vierten Teil literarische Qualität attestiert. 101 Maria E. Müller hat denn auch mit guten Gründen die These vertreten, die Melancholie fungiere in der Historia als textstrukturierende Kategorie. Vgl. Maria E. Müller, Der andere Faust, bes. S. 599-602. Siehe dazu auch Münkler, Höllenangst und Gewissensqual, S. 102 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 42; Faustbuch, ed. Müller, S. 879. 103 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 32; Faustbuch, ed. Müller, S. 866. 104 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 35; Faustbuch, ed. Müller, S. 868.
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Vom Exemplum zur biographischen Erzählung
a֏chzet und seufftzet / nam vom Leib ab / vnnd ließ sich forthin selten oder gar nit sehen / wolte auch den Geist nit mehr bey jm sehen oder leyden.105
Nachdem der Erzähler zunächst Fausts Erfahrung der Zeit mittels enger Fokalisierung auf ihn beschreibt, evoziert er sodann seine Gefühle und deren performative Effekte: Faustus wird »zame«, womit markiert ist, dass er jenes Selbstbewusstsein einbüßt, dass ihn im dritten Teil ausgezeichnet hat; er fühlt sich wie ein gefangener Mörder oder Räuber, der nur noch auf die Vollstreckung der Todesstrafe wartet, und erkennt damit an, dass er rettungslos dem Teufel verfallen ist. Daraus resultieren dann körperliche Reaktionen wie weinen, ächzen und seufzen, Selbstgespräche, unkontrollierte Bewegungen und Gewichtsverlust, die eine somatische Reaktion auf seine Angstzustände anzeigen und mit dem medizinischen Strang des Melancholiediskurses verknüpft sind.106 Angst und Verzweiflung lösen anschließend eine Phase der vertieften Introspektion aus, in der Faustus unter Ausschaltung der Erzählerstimme durch das Aufschreiben seines Elends in drei Weheklagen zu sich selbst spricht. In der ersten Weheklage klagt er sein »verwegenes unnd nicht werdes Hertz« an, das ihn »in ein Urteil deß Feuwers« geführt habe.107 Wie im medizinischen Diskurs der Zeit begreift er das Herz offenbar als den Sitz der widersprüchlichen und widerstreitenden Gefühle, die sein Leben seit dem Beschluss, einen Pakt mit dem Teufel zu schließen, dominiert haben. Das zeigt sich daran, dass die erste Klage um Binäroppositionen emotionaler Ausdrücke kreist: Ach Lieb vnnd Haß warumb seyd jhr zugleich bey mir eingezogen / nach dem ich euwer Gesellschaft halb solche Pein erleiden muß / Ach Barmhertzigkeit vnd Rach / auß was vrsach habt jr mir solchen Lohn vnd Schmach vergo֏nnet? O Grimmigkeit vnd Mitleyden / bin ich darvmb ein Mensch geschaffen / die Straff / so ich bereit sehe / von mir selbsten zu erdulden?108
————— 105 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 113; Faustbuch, ed. Müller, S. 967 (Hervorhebung MM). 106 Der Melancholie als zentralem Aspekt von Fausts Charakterisierung in der Historia haben sich in der jüngeren Forschung zahlreiche Aufsätze gewidmet. Vgl. Maria E. Müller, Der andere Faust; Kraß, Schwarze Galle – Schwarze Kunst; Frömming, Satan und Saturn; Søholm, Historia von D. Johan Fausten; Forster, Faust und die acedia. Allerdings ist dabei eher auf den humanistischen Diskurs der genialischen Melancholie oder den in den dämonologischen Traktaten der Hexenverfolgungsgegner entwickelten Diskurs der Melancholie als exkulpierender Krankheit Bezug genommen worden. Dagegen hat der reformatorisch-lutherische Begriff der Melancholie, in dem Melancholie mit der Frage des Freien Willens, mit Anfechtung und Gewissen verknüpft wurde, eine eher untergeordnete Rolle gespielt. Vgl. aber Münkler, Höllenangst und Gewissensqual; dies. Ubi melancholicus – ibi Diabolus. Siehe dazu ausführlich Kap. 8. 107 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 113; Faustbuch, ed. Müller, S. 967. 108 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 114; Faustbuch, ed. Müller, S. 967.
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In der zweiten Weheklage klagt Faustus seine Vernunft und seinen freien Willen an. Über die Aufspaltung seiner selbst in ein »Ich« und ein »Du« übernimmt er die Rolle des Anklägers und des Delinquenten in einem: Ach / ach / ach / ich arbeitseliger Mensch / O du betru֏bter vnseliger Fauste / du bist wol in dem Hauffen der Vnseligen / da ich den vberma֏ssigen schmertzen des Todes erwarten muß / Ja viel einen erbaermlicheren dann jemals eine schmertzhaffte Creatur erduldet hat. Ach / ach Vernunfft / Mutwill / Vermessenheit vnnd freyer Will / O du verfluchtes vnd vnbesta֏ndiges Leben / O du Blinder vnd Vnachtsamer (…). O zeitlicher Wollust / in was Mühseligkeit hastu mich gefu֏hret / daß du mir meine Augen so gar verblendet vnd vertuckelt hast. Ach mein schwaches Gemu֏t / du meine betru֏bte Seel / wo ist dein Erka֏ndtnuß?109
Die verzweifelte Suche nach Erlösung (»wer wirdt mich erloesen? wo sol ich mich verbergen? wohin sol ich mich verkriechen oder fliehen?«110) und die Aufgabe jeder Hoffnung (»Ja / ich seye wo ich wo֏lle / so bin ich gefangen«111) signalisieren aber nicht nur Fausts Verzweiflung, sondern auch die Übernahme der Perspektive des Teufels, der ihn schon im ersten Teil zu überzeugen versucht hatte, dass es für ihn keine Rettung geben könne.112 Die dritte Weheklage unterscheidet sich deutlich von den beiden vorigen. Sind diese auf Fausts Sündhaftigkeit ausgerichtet, so formuliert die »Weheklag von der Hellen / und jrer vnaußsprechlichen Pein vnd Quaal«113 Fausts Angst vor den Strafen der der Hölle. Auffällig ist hier, dass Faustus in seiner Klage sehr schnell vom »Ich« seiner eigenen Person zum »wir« der verdammten Seelen wechselt: Er imaginiert sich als Teil der Verdammten und der unter ihren Strafen Leidenden. Mit dieser Imagination schließt er unmittelbar an die Berichte seines Geistes über die Verdammnis und ihre Qualen aus dem ersten Teil an, die ihn bereits damals in Melancholie gestürzt hatten. Unter der Semantik der Melancholie wird damit gezeigt, dass Faustus emotional auf der Stelle tritt. Aber anders als im ersten Teil artikuliert sich in den Weheklagen die Bedrängnis eines Menschen, den die Verzweiflung über das eigene Selbst und seine Sündhaftigkeit in die Subjektivität getrieben hat, in der Selbstreflexivität und Selbstverurteilung unauflöslich ineinander verschlungen sind. In diesen Momenten der Entäußerung von Subjektivität, in denen sich Faustus mit seinem eigenen Leben und Seelenheil auseinandersetzt, wird dem Leser als Beobachtung erster Ordnung eine Innensicht ermöglicht. Er vollzieht so ————— 109 110 111 112
Ebd. Zum Konzept der »arbeitseligkeit» vgl. Jaeger, Melancholie und Studium. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 114; Faustbuch, ed. Müller, S. 967. Ebd. Vgl. etwa Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 36f., u. S. 43; Faustbuch, ed. Müller, S. 871 u. S. 878. 113 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 114; Faustbuch, ed. Müller, S. 967.
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Vom Exemplum zur biographischen Erzählung
den Weg nach, den auch Faust in der histoire zurücklegen muss – von den äußeren Ereignissen nach innen, von der Betrachtung der Welt zur Betrachtung des eigenen Selbst. Insgesamt gesehen, leisten die drei Semantiken von curiositas, magia und melancholia damit nicht nur durch die Herstellung metaphorischer Similarität zwischen den einzelnen Kapiteln entscheidendes für die Kohärenz der Erzählung, sondern auch für die Beschreibung und Reflexion von Identität, Individualität und Subjektivität des Teufelsbündners. Das macht sie zu einer hochgradig aufschlussreichen Grundlage für die weitere Untersuchung. Es wird zu zeigen sein, in welcher Weise diese Semantiken mit den Diskursen der Zeit über Neugier, Zauberei und Melancholie vernetzt sind und wie sie in den nachfolgenden Faustbüchern aufgenommen, erweitert, transformiert oder negiert worden sind. Zuvor möchte ich jedoch beschreiben, welche interpretatorischen Festlegungen aus der in der Forschung getroffenen architextuellen Beschreibung des dritten Teils als ›Schwankteil‹ resultieren und welches literarischen Musters sich die Historia bedient, um das Leben und Sterben eines Teufelsbündners zu erzählen.
Zauberei oder Schwankhaftigkeit Obwohl sich der dritte Teil der Historia eindeutig der Semantik von Magie und Zauberei zuordnen lässt, wird er in der Forschung unisono als ›Schwankteil‹ bezeichnet.114 Daraus ergibt sich das Problem der narrativen Anschlussfähigkeit des dritten Teils, die sich auf zwei verschiedene Aspekte bezieht: Zum einen auf die architextuelle Vereindeutigung des dritten Teils der Historia als ›Schwankteil‹ und nicht als ›Zaubereiteil‹ oder ›Exempelteil‹, zum anderen auf die Reduktion des Schwanks auf Unterhaltsamkeit.115 Letztlich hängt die Annahme der ideologischen Vereinbarkeit des ›Schwankteils‹ mit der exemplarischen Funktion des Exempels daran, wie man das Kommunikationsmedium Schwank beschreibt. Von daher nämlich ergeben sich bestimmte kommunikative Anschlussmöglichkeiten, deren Bedeutsamkeit in der Forschung meines Erachtens bislang unterschätzt worden ist. Ähnlich wie im Falles des Exempels ist sich die Forschung weitgehend darüber einig, dass »Schwank« kein Gattungsterminus ist, sondern vielmehr ————— 114
Vgl. etwa Könneker (Faust-Konzeption und Teufelspakt, S. 164) sowie in der jüngeren Forschung Kraß (Schwarze Galle, schwarze Kunst), die beide von einer Zweiteilung der Vita in Roman und Schwanksammlung ausgehen. Stephan Füssel (Die literarischen Quellen, S. 32f.) betont nicht nur die Ähnlichkeit des ›Schwankteils‹ mit den Schwankerzählungen der Zeit, sondern ordnet die Historia insgesamt dem Schwankroman zu. 115 Zum Begriff des Architextes vgl. Genette, Palimpseste, S. 13f.
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eine besondere Funktionalisierung des Erzählens.116 Peter Strohschneider hat in einem knappen, aber luziden Artikel erläutert, dass sich der Schwank in der Vielfalt seiner Stoffe und narrativen Formen zwar traditioneller deskriptiver wie präskriptiver Gattungspoetik entziehe, das sogenannte »Schwankhafte«, nämlich spezifische Formen des kurzepischen Handlungsaufbaus, aber doch eine Einheit stifte: Schwänke »gehen stets von einer allgemein konfliktträchtigen und öfters (sozial, intellektuell, sexuell) asymmetrischen Konfiguration zweier Handlungsträger aus und transformieren sie. (…) Dies ist im Regelfall auf eine Pointe hin und mit komischen Effekten inszeniert, die bevorzugt das Spannungspotential des sexuellen Tabu-, des sozialen Norm- oder des logischen Konsistenzbruchs ausbeuten.«117 Eine ähnliche Gattungsdefinition hat auch Werner Röcke formuliert, wobei er jedoch größeren Wert auf die Aggressivität solcher Tabu- und Normbrüche legt. Insbesondere in seiner Untersuchung zum spätmittelalterlichen Schwankroman hat er hervorgehoben, dass »die Freude am Bösen« nicht einfach in der Unterhaltsamkeit des Schwanks durch die witzige Pointe aufgehe, sondern vielmehr Aggressivität, Bösartigkeit und List repräsentiere. »Nicht befreiendes Lachen zeichnet deshalb des ridiculum des Schwanks aus, sondern eine höchst ‚paradoxe Verknüpfung von Freude und Bösartigkeit’, komischem Vergnügen und Aggressivität, Lachen und Lust am Schadentrachten.«118 Nach dieser Definition kann der Schwank keineswegs nur eine unterhaltsame, sondern auch eine exemplarische Funktion haben, die dazu dienen kann, sowohl die Verworfenheit des Schwankhelden als auch die der ihn umgebenden Gesellschaft zu demonstrieren.119 In diesem Zusammenhang hat Werner Röcke bereits darauf hingewiesen, dass man die Schwänke in der Historia nicht zu sehr vereinheitlichen dürfe, denn der Anonymus zitiere zwar typische Erzählmuster der Schwankdichtung, nehme ihnen stellenweise aber ihre komische Wirkung.120 »Dabei geht die Komik der Schwankdichtung in dem Maße verloren, wie sie der Warnung vor Zauberei und ›fürwitz‹, Magie und Empörung gegen Gott geopfert wird.«121 Nicht jede asymmetrische Konfrontation kann jedoch sinnvoll als ›schwankhaft‹ beschreiben werden. Am deutlichsten schwankhaft im Sinne ————— 116 Vgl. Ziegeler, Art. Schwank, S. 407f. 117 Strohschneider, Art. Schwank, S. 354f. Strohschneider unterscheidet je nach den Konstellationen des Konflikts zwischen den Protagonisten drei Typen von Schwankerzählungen: den »Ausgleichstyp«, den »Steigerungstyp« und den »Spannungstyp« (ebd.). Vgl. auch Ziegeler, Art. Schwank, S. 408. 118 Röcke, Die Freude am Bösen, S. 24. 119 Vgl. Röcke, Aggression und Disziplin. 120 Vgl. Röcke, Die Freude am Bösen, S. 81. 121 Ebd., S. 83.
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einer »asymmetrischen Konfiguration zweier Handlungsträger« und ihrer »Inszenierung auf eine Pointe hin« sind die beiden Kurzerzählungen von Fausts Auftritten an der Kurie und am Kaiserhof in Konstantinopel.122 Hier dienen die von Faustus auf Kosten seiner unfreiwilligen Gastgeber angerichteten Verwirrungen offensichtlich dem Verlachen zweier pejorativ besetzter Institutionen. Diese Kurzerzählungen finden sich aber gerade nicht im sogenannten ›Schwankteil‹, sondern in der Beschreibung von »D. Fausti dritte[r] Fahrt in etliche Ko֏nigreich vnnd Fu֏rstenthumb / auch fu֏rnembste La֏nder vnd Sta֏tte«.123 Die Erzählung von Fausts Treiben »drey tag vnd Nacht vnsichtbar in deß Bapsts Palast« gibt den katholischen Aberglauben der Fürbitte und der Macht des Papstes, Seelen zu verdammen, dem Gelächter preis:124 Einmal lachte D. Faustus / daß mans im gantzen Saal ho֏rete / dann weynete er / als wenn es jm ernst were / vnd wusten die Auffwarter nit was das were. Der Bapst beredete das Gesinde / es were ein verdampte Seele / vnd bete vmb Ablaß / Darauff jhr auch der Bapst Busse aufferlegte. Doct. Faustus lachte darob / vnd gefiel jm solche Verblendung wol. Als aber die letzte Richten vnd kosten auff des Bapsts Tisch kamen / vnd jn / D. Faustus / hungerte er / hub er / Faustus / seine Hand auff / alsbald flogen jm Richten vnd Kosten / mit sampt der Schu֏ssel in die hand / vnd verschwand also damit / sampt seinem Geist / auff einen Berg zu Rom / Capitolium genannt / ass also mit Lust. Er schickte auch seinen Geist wider dahin / der must jm nur den besten Wein von des Bapsts Tisch bringen / sambt den silbernen Bechern vnd Kanten. Da nun der Bapst solchs alles gesehen / was jm geraubt worden / hat er in derselbigen Nacht mit allen Glocken zusammen leuten lassen. Auch Meß vnd fu֏rbitt fu֏r die verstorbene Seel lassen halten / vnd auff solchen Zorn des Bapsts / den Faustus / oder verstorbene Seel in das Fegfeuwer condemniert vnd verdampt. Doctor Faustus aber hette ein gut fegen mit des Bapstes Kosten vnd Tranck.125
Ähnlich funktioniert auch der Abschnitt über den Besuch am Hof des »Tu֏rckischen Keyser[s] Solimanno« in Konstantinopel. Faustus tritt in prachtvollem päpstlichem Ornat auf und gibt sich als »Mahomet« aus, beschläft anschließend die Frauen des Kaisers und schwängert sie, was dieser als ein großes Geschenk betrachtet: Morgen am andern Tage fuhr D. Faustus in deß Keysers schloß ein / darinnen er seine Weiber vnd Hurn hat / (…) Dieses Schloß verzauberte er mit einem solchen dicken Nebel / daß man nichts sehen kundte. D. Faustus / wie auch vor sein Geist / namen
————— 122 Vgl. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 62f.; Faustbuch, ed. Müller, S. 904f. 123 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 69; Faustbuch, ed. Müller, S. 913. 124 Frank Baron hat dazu angemerkt, Fausts Besuch in Rom habe dem lutherischen Autor eine unwiderstehliche Gelegenheit für eine Satire auf den Papst gegeben. »The pope’s capricious use of indulgences confirms Luther’s rightful rebellion against church corruption.« (Baron, Faustus on Trial, S. 100). 125 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 62; Faustbuch, ed. Müller, S. 905.
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solche gestalt vnd wesen an / vnd gab sich vor den Mahomet auß / wonet also 6. tag in diesem Schloß / so war der Nebel so lang da / als er da wonete. Wie auch der Tu֏rck dißmal sein volck vermanet / diese Zeit mit viel Ceremonien zubegehen. Dr. Fausts der assz / tranck war gutes muts / hatt seinen Wollust / fuhre im Ornat vnd Zierde eines Bapsts in die Höhe / daß jhn männiglich sehen kondte. Als nun D. Faustus widerumb hinweg / vnd der nebel vergangen war / hat sich der Türck in das Schloß verfüget / seine Weiber gefordert / vnd gefragt / wer allda gewesen were / daß das schloß so lang mit einem Nebel vmbgeben gewest / Sie berichten jn / es were der Gott Mahomet gewest /vnd wie er zu Nacht die vnd die gefordert / sie beschlaffen / vnnd gesaget: Es würde auß seinen Samen ein groß Volck vnd streitbare Helden entspringen. Der Türck nam solchs für ein groß Geschenck an / daß er jm seine Weiber beschlaffen / fraget auch hierauff die Weiber / ob er eine gute Prob / als er sie beschlaffen bewiesen? Ob es Menschlicher weise were zugegangen? Ja antworteten sie / es were also zugangen / er hett sie geliebet / gehälset und were mit dem Werck wol gestaffieret / sie wollten solches all Tage annemmen (…).126
Diese in der Tradition schwankhaften Erzählens geradezu klassische Übertölpelungsszene, bei der der Gehörnte noch meint, belohnt worden zu sein, ist in der Tat typisch für schwankhaftes Erzählen, nicht jedoch für den so genannten ›Schwankteil‹ der Historia.127 Keines der Kapitel dieses Teils hat eine vergleichbare Pointenstruktur. Vergleicht man etwa die in den Reiseteil inserierten Schwänke mit dem 50. Kapitel, in dem Faust einem Bauern die Räder seines Wagens durch die Luft zaubert, so wird deutlich, dass es hier nicht um eine komische Pointe geht, in der ein Konflikt zwischen zwei ungleichen Parteien zu Ungunsten der einen und damit zum Lachen des Beobachters dritter Ordnung aufgelöst wird.128 Als Faustus nach Braunschweig unterwegs ist, um »einem Marschalck / der die Schwindsucht hatte / (…) zu helffen«, begegnet jm ein Bawr mit vier Pferden / vnd einem leeren Wagen. Disen Bawrn sprach D. Faustus gütlich an / daß er jn auffsitzen lassen / vnd vollends biß zu dem Statt Thor führen wollte / welches jm aber der Do֏lpel wegerte vnd abschluge / sagende / Er wu֏rde one das genug herauß zuführen haben. D. Fausto ward solch begeren nicht Ernst gewest / sondern hatte den Bauren nur probieren wo֏llen / ob auch ein Gu֏tigkeit bey jme zufinden were. Aber solche Vntrew / deren viel bey den Bauren ist / bezahlte D. Faustus wider mit gleicher Mu֏ntze / vnd sprach zu jhme: Du Do֏lpel
————— 126 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 69; Faustbuch, ed. Müller, S. 913f. 127 Zu diesem Aspekt schwankhaften Erzählens vgl. Röcke, Aggression und Disziplin, S. 113f; ders., Die Freude am Bösen, S. 73f.; Strohschneider, Art.Schwank, S. 354. 128 Mit dem Beobachter dritter Ordnung ist hier der Leser gemeint; Beobachter zweiter Ordnung ist der Erzähler, Beobachter erster Ordnung sind die Parteien innerhalb des Schwankes, wobei die unterlegene Partei häufig gerade dadurch gekennzeichnet ist, daß ihre Beobachterposition unterminiert wird, zumeist weil ihre Beobachtungen in eine falsche Richtung gesteuert werden, die es ihr unmöglich macht, die richtigen Schlüsse zu ziehen.
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vnd nichtswerdiger Vnflat / dieweil du solche Vntrew mir beweisest / dergleichen du gewiß auch andern thun / vnd schon gethan haben wirst / soll dir dafür gelohnet werden / vnd solt deine vier Ra֏der bey jeglichem Thor eins finden. Drauff sprangen die vier Ra֏der in die Lufft hinweg (…) Es fielen auch deß Bauwren Pferd darnider / als ob sie sich nicht mehr regten (...) Darob der Bauwer sehr erschracke / masse jhme solches fu֏r ein sondere Straff Gottes zu / der Vndanckbarkeit halb / auch gantz beku֏mmert vnd weynet / bate er den Faustum mit auffgereckten Ha֏nden / vnd neigung der Knie vnd Bein / vmb Verzeihung / vnd bekannte / daß er solche Straff wol wirdig were / Es sollte jhm auff ein andermal ein erjnnerung seyn / solcher Vndanckbarkeit nit mehr zu gebrauchen / Darvber Faustum die Demuth erbermete / jm antwortete: Er solts keinem andern mehr thun / dann kein scha֏ndtlicher ding were / als Vntrew vnd Vndanckbarkeit / darzu der stoltz so mit vnderla֏ufft (…).129
Im Anschluss macht Faust den Schaden wieder gut und stellt den status quo ante wieder her, nicht ohne jedoch dem Bauern die Mühe zuzumuten, die Räder einzeln aufzusammeln, was der Erzähler am Schluss des Kapitels mit der Bemerkung kommentiert, »also traff Vntrew jhren eygenen Herrn«.130 Trotz der Belehrung des Bauern innerhalb der Geschichte ist hier jede komische Konfrontation zwischen einem Überlegenen und einem Unterlegenen durch den moralisierenden Ausgangpunkt der Inszenierung (»D. Fausto ward solch begeren nicht Ernst gewest«) und durch Fausts Erbarmen mit dem reuigen Bauern ›wegerzählt‹.131 Interessant ist in diesem Zusammenhang nichtsdestoweniger Fausts Funktionalisierung innerhalb eines moralischen Exempels: Der Verfasser der Historia ignoriert hier zumindest partiell, dass Faustus als moralische Instanz nicht fungieren kann, und setzt ihn in die Systemstelle des moralischen Belehrers ein – das funktioniert aber nur dann, wenn das System der Religion vom Code der Moral punktuell entbunden wird.132 Eine ähnliche Entbindung des Systems der Religion vom Code der Moral zeigt sich in dem Kapitel, in dem Faustus am Kaiserhof einem Ritter ein Hirschgeweih auf den Kopf zaubert, »welches der Keyser warname / daru֏ber lacht / vnd jm wol gefallen liesse / biß endtlich D. Faustus jhme die Zauberey widerumb auflöste«.133 Hier ist das schadenfrohe Gelächter in die ————— 129 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 99; Faustbuch, ed. Müller, S. 949f. 130 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 100; Faustbuch, ed. Müller, S. 951. 131 Vergleicht man etwa dieses Exempel mit der 88. Historie aus Dil Ulenspiegel, so werden die Unterschiede deutlich: Dil fäkaliert einem Bauern, der ihn freundlicherweise auf seinem Fuhrwagen mit Pflaumen mitnimmt, auf dessen kostbare Handelsware und macht sie damit unverkäuflich. Eine moralische Lehre ist aus solch anstößig unmoralischem Verhalten nicht zu ziehen, vielmehr ein überlegendes Gelächter, denn die Lehre, die aus diesem Schwank zu ziehen wäre, könnte bestenfalls lauten: Denk immer nur an dich, denn die anderen wollen dich ohnehin nur bescheißen. Aber das ist keine Moral, die sich außerhalb des Komischen formulieren ließe. 132 Zum Verhältnis von Religion und Moral vgl. Luhmann 2000, 173-184. 133 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 79; Faustbuch, ed. Müller, S. 926.
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Zauberei oder Schwankhaftigkeit
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Erzählung integriert und der Erzähler beteiligt sich an der Verspottung des geschädigten Adeligen, in dem er in einem innerhalb der Erzählung inserierten Kommentar zwar betont, er habe ihn »mit Namen nicht nennen wo֏llen / denn es ein Ritter vnd geborner Freyherr war«, direkt daneben in der Marginalglosse »Erat Baro ab Hardeck« dessen angebliche Identität offen legt.134 Es gibt hier aber keine Pointe, die aus der Konfrontation eines Stärkeren mit einem Schwächeren resultierte, in der dieser den Schwächeren überlisten würde: der schlafende Baron ist der Macht des Zauberers einfach hilflos ausgeliefert. Wenn es denn eine Pointe gibt, dann besteht sie darin, dass ein Mitglied der Hofgesellschaft der Lächerlichkeit preisgegeben wird, und dass an diesem Spiel nicht nur Faustus und der Kaiser, sondern mit der nebenhin erfolgten Preisgabe des angeblichen Namens auch der Erzähler beteiligt ist. Dass dieses Machtspiel nicht eines unter vielen ist, zeigt sich daran, dass aus ihm zwei weitere Kapitel hervorgehen, eines direkt im Anschluss und eines am Ende des vierten Teils, in denen der Baron zweimal versucht, sich zu rächen, beide Male aber an Faustens magischer Überlegenheit scheitert.135 Entscheidend ist hier, dass der narrative Diskurs der Erzählung die soziale Stigmatisierung einer Figur in deren Gedächtnis verankert und auf diese Weise zwei Episoden miteinander verknüpft. Zwar hat der Erzähler kein Mitleid mit dem Baron und kommentiert in einer erneuten Marginalglosse am Schluss der zweiten Begegnung, in welcher der Baron erneut den Kampf verloren hat, hämisch: »Wer sich an Kessel reibt / empfeht gerne Ron [Ruß]«136. Aber es bleibt doch zu konstatieren, dass Faustus nicht nur amüsiert, sondern auch verletzt, und darin nicht nur Aspekte magischer Überlegenheit, sondern auch teuflischer Bosheit zeigt, selbst wenn es sich nur um Sinnestäuschungszauber handelt und der Erzähler seine Schadenfreude teilt. Wenn man denn den dritten Teil architextuell zuordnen will, dann erscheint es sinnvoller ihn nicht dem Schwank, sondern dem Exempel zuzuordnen. Alle hier versammelten Kapitel sind nicht nur den protestantischen Exempelsammlungen entnommen, sondern sie sind auch exemplarisch funktionalisiert, was nicht heißt, dass ihre Funktionalisierung einsinnig wäre. Die Kapitel des dritten Teils zeigen vielmehr ganz unterschiedliche Aspekte möglicher Funktionalisierung des Teufelsbündners und der Semantik von Zauberei und Magie. Diese Semantik mit ihren dämonologischen Implikationen aber ist eindeutig dominant, sie ist eine der Leitsemantiken unter denen das Leben des Teufelsbündners zu lesen ist. ————— 134 Ebd. 135 Füssel/Kreutzer 1999, 107; Faustbuch, ed. Müller, S. 960. 136 Füssel/Kreutzer 1999, 108; Faustbuch, ed. Müller, S. 961.
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Historia – Der Wahrheitsanspruch und seine Konsequenzen Mit der Bezeichnung als Historia wird bereits im Titel angezeigt, dass Fausts Vita als wahrhaftiger Bericht verstanden werden soll. Diese Selbstauszeichnung als Historia ist bei Romanen des 15. und 16. Jahrhunderts durchaus geläufig.137 Aber sie wird selten so aufwändig fingiert wie in der Historia von D. Johann Fausten.138 Narrativ abgesichert wird dieser Anspruch auf der Ebene der Diegesis durch wiederholt eingestreute Bemerkungen des Erzählers, die nachfolgende oder vorangegangene Stelle beruhe auf den schriftlichen Aufzeichnungen Fausts selbst. Dass der Historia von D. Johann Fausten ein Leben vorangeht, ist deshalb von zentraler Bedeutung für ihren Anspruch, Historia zu sein. Dennoch findet sie ihren eigentlichen Bezugspunkt in vorgängigen Texten. Und diese Texte sind, wie oben gezeigt, nicht einmal diejenigen, welche als Überreste der Faustschen Existenz bezeichnet werden dürfen, nämlich die wenigen dokumentarischen Quellen, in denen er erwähnt wird, oder diejenigen, die schon von Faustus erzählen, in denen also seine Fama bereits durch narrative Verdichtung aufscheint. Es sind vielmehr größtenteils solche, die nicht von Faustus handeln und damit den Anspruch auf wahrheitsgetreues Erzählen von Beginn an konterkarieren. Das heißt freilich nicht, dass der Anspruch faktengetreu zu erzählen, folgenlos wäre. Vielmehr ist dieser Anspruch einer der zentrale Aspekt der narrativen Gestaltung von Fausts Vita. Eines der Kennzeichen der Historia besteht darin, dass sie sich auf hinterlassene Dokumente, Augenzeugen oder deren Berichte beruft.139 Schon im Titel heißt es, die Historia sei »mehrertheils auß seinen [Fausts, MM] eygenen hinderlassenen Schrifften […] zusammen gezogen«. In der Oratio erklärt Faustus den Studenten, sie würden seine Abenteuer nach seinem Tod aufgezeichnet finden, was die Erzählung dann auch bestätigt: Sie fanden auch diese deß Fausti Historiam auffgezeichnet / vnd von jhme beschrieben / wie hievor gemeldt / alles ohn sein Ende / welches von obgemeldten Studenten vnd
————— 137 Vgl. J.-D. Müller, Volksbuch/Prosaroman, S. 61-75; Knape, ›Historie‹ in Mittelalter und früher Neuzeit; Braun, Historie und Historien, bes. S. 317-322. 138 In der Vorrede zu Eyn Kurtzweilig Lesen von Dil Ulensspiegel (ed. Lindow, S. 8) etwa legt der Verfasser den fiktionalen Status seiner Erzählungen gezielt offen, indem er erklärt, er erzähle von Ulenspiegels Leben »mit Zulegung etlicher Fabulen des Pfaff Amis und des Pfaffen von dem Kalenberg«. 139 Erzähltheoretisch betrachtet, weist sich die Historie damit als eine hypertextuelle Gattung aus, denn sie rekurriert stets auf vorgängige Texte, die sie zum Zwecke der Beglaubigung des Berichteten als ihre Quellen ausweist. Zur Historia als historiographischer Gattung vgl. Melville, Historia.
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Historia – Der Wahrheitsanspruch und seine Konsequenzen
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Magistris hinzu gethan / vnd was sein Famulus auffgezeichnet / da auch ein neuw Buch von jhme außgehet.140
Häufig ist denn auch von einzelnen erhaltenen Notizen und Dokumenten die Rede: Die beiden Verschreibungen zitiert die Historia angeblich wörtlich, was im Falle der ersten Verschreibung durch die Behauptung gestützt wird, der Teufel habe darauf bestanden, dass Faustus eine »Copey« seiner Verschreibung anfertige und bei sich behalte, während die zweite Verschreibung »nach seinem Todt / hinder jm gefunden worden«.141 Angeblich zitiert werden auch der Bericht von der Höllenfahrt, den Faustus »selbs auffgeschrieben«142 habe und der nach seinem Tod in einem Buch »verschlossen liegendt« aufgefunden worden sei, und sein an »Ionae Victori / Medico zu Leiptzig« gerichteter Brief über die Fahrt in die Gestirne, welchen »man auch bey jm funden / so mit seiner eygen Hand concipiert vnd auffgezeichnet worden«,143 und schließlich seine Weheklagen. Allerdings ist in diesen Fällen die durch die fingierten Dokumente im Prinzip geforderte intradiegetisch-autodiegetische Perspektive nicht immer durchgehalten worden. So wird der Bericht von der Höllenfahrt nicht von der intradiegetisch-autodiegetischen Stimme Fausts, sondern von der extradiegetisch-heterodiegetischen Stimme des Erzählers getragen, der den Bericht zwar auf Faust fokalisiert, aber ohne ihn zu Wort kommen zu lassen und damit seine Perspektive konsequent zu fingieren. Konsequent verwirklicht ist die dokumentarisch gestützte Wahrheitsbehauptung im Falle des Briefes von Faustus an seinen Studienfreund Ionas Victor über die Fahrt in die Gestirne, der ganz mit seiner Stimme erzählt wird. Bemerkenswert hinsichtlich der narrativen Effekte ist dabei, dass der Brief mit einer Erinnerung an die gemeinsame Studienzeit in Wittenberg eröffnet wird: Jnsonders lieber Herr vnd Bruder / Jch weiß mich noch / deßgleichen jr auch / zu erjnnern vnsers Schulgangs von Jugendt auff / da wir zu Wittenberg mit einander Studierten / vnnd jhr euch anfa֏nglich der Medicinae / Astronomiae / Astrologiae / Geometriae beflissen / wie jhr dann auch ein guter Physicus seydt / Jch aber euch vngleich war / vnd wie jhr wol wißt / Theologiam studierte / so bin ich euch doch in dieser Kunst noch gleich worden / demnach jr mich etlicher sachen vmb Bericht rahts gefragt.144
Die Fingierung eines wahrhaften Berichts wird hier nicht nur genutzt, um etwas zu beschreiben, was außer Mephostophiles kein anderer beobachtet ————— 140 141 142 143 144
Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 123; Faustbuch, ed. Müller, S. 979. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 103 u. 55; Faustbuch, ed. Müller, S. 955 sowie S. 896. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 55; Faustbuch, ed. Müller, S. 896. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 56; Faustbuch, ed. Müller, S. 896. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 56; Faustbuch, ed. Müller, S. 896f.
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Vom Exemplum zur biographischen Erzählung
haben kann, sondern auch, um Aspekte des Gedächtnisses der Figur, der Selbstreflexivität und der Affektivität zu inszenieren. Völlig in die Figurenrede gerückt sind schließlich die Wehklagen, die Faustus aufgezeichnet haben soll, »damit ers nicht vergessen mo֏chte«.145 Logisch betrachtet ist diese Begründung natürlich absurd, denn Faustus hat nur noch drei Tage zu leben. Narratologisch betrachtet ist diese Erklärung aber zentral für die Fingierung des Beobachtungsmodus, der dem Leser in dieser Situation zugestanden wird. Stärker als an jeder anderen Stelle wird der Erzähler als Beobachter erster Ordnung hier ausgeblendet. Wenn Faustus, scheinbar völlig allein und auf sich selbst zurückgeworfen, zu sich spricht und dabei in ein »Ich« und ein »Du« zerfällt, soll der Leser ihn direkt beobachten können. Der Leser wird hier zum Beobachter erster Ordnung, so als blicke er Faustus über die Schulter und lese unmittelbar beim Aufschreiben mit. Dazu aber bedarf es der Fingierung hinterlassener Dokumente. Neben Fausts vorgeblich hinterlassenen Dokumenten wird vor allem Fausts Famulus Christoph Wagner als beglaubigender Augenzeuge eingesetzt. Prinzipiell kann er als ein Effekt des Anspruchs betrachtet werden, historisch wahr zu berichten, denn der Verfasser braucht mindestens eine so nahe bei Faustus platzierte Figur, dass sich über sie der Inhalt der Erzählung als wahrer Bericht absichern lässt. Die funktionale Verwendung Wagners zeigt sich schon daran, dass er im 8. Kapitel als Zeuge für die unterschiedlichen Gestalten, in denen der Teufel Faust erscheint (»D. Fausti Famulus sagt / daß er einem Lindwurm gleich gesehen habe«146) benannt wird, noch ehe er narrativ als Person eingeführt worden ist, was erst im nachfolgenden Kapitel geschieht. Dafür wird Wagner aber gleich zwei Mal eingeführt: Einmal im 9. Kapitel, wo er als »verwegne[r] Lecker / Christoph Wagner genannt« vorgestellt wird, der immer in Fausts Nähe ist (»bey jhme hett er ta֏glich ein jungen Schu֏ler zum famulo«147), und dann noch einmal im 60. Kapitel, in dem Faustus sein Testament aufsetzt: Doct. Faustus hatte diese zeit hero biß in diß 24. vnnd letzte Jahr seiner Versprechung / einen jungen Knaben aufferzogen / so zu Wittemberg wol studierte / der sahe alle seins Herrn / Doct. Fausti / Abentheur / Za֏uberey vnd Teufelische Kunst / war sonst ein bo֏ser verloffner Bube / der anfangs zu Wittenberg Betteln vmbgangen / vnnd jhne / seiner bo֏sen art halben / niemandt auffnemmen wolte. Dieser Wagener ward nun
————— 145 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 113; Faustbuch, ed. Müller, S. 967. 146 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 24; Faustbuch, ed. Müller, S. 857. Wagner wird schon vorher einmal erwähnt (ed. Füssel/Kreutzer, S. 22; ed. Müller S. 854), allerdings in einem proleptischen Erzählereinschub vor dem Zitat des Pakts im nachfolgenden Kapitel: »Solches will ich zur Warnung vnd Exempel aller frommen Christen melden/damit sie dem Teuffel nicht statt geben/vnd sich an Leib vnd Seel mögen verkürzen/wie denn D. Faustus bald hernach seinen armen famulum vnnd Diener auch mit diesem Teuffelischen Werck verführt hat.« 147 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 26; Faustbuch, ed. Müller, S. 859.
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Historia – Der Wahrheitsanspruch und seine Konsequenzen
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deß Doct. Fausti Famulus / hielte sich bey jhm wol / daß jhn D. Faustus hernach seinen Son nannte / er kam hin wo er wolte / so schlemmete vnd demmete er mit.148
Dass diese iterative Einführung nicht einfach aus erzählerischer Nachlässigkeit geschieht, zeigt sich schon daran, dass dabei unmittelbar auf Wagners Augenzeugenschaft hingewiesen wird (»der sahe alle seins Herrn / Doct. Fausti / Abentheur / Za֏uberey vnd Teufellische Kunst«) und dass sie an einer für den Anspruch faktengetreuen Erzählens funktional äußerst bedeutsamen Stelle erfolgt, denn gleich im Anschluss an die Abfassung des Testaments zu Wagners Gunsten beauftragt Faust seinen Famulus damit, sein Leben aufzuzeichnen: Darneben bitte ich / daß du meine Kunst / Thaten / vnd was ich getrieben habe / nicht offenbarest / biß ich Todt bin / alsdenn wo֏llest es auffzeichnen / zusammen schreiben / vnnd in eine Historiam transferiren darzu dir dein Geist vnd Auwerhan helffen wirt / was dir vergessen ist / das wirdt er dich wieder erjnnern / denn man wirdt solche meine Geschichte von dir haben wo֏llen.149
Bemerkenswert ist aber nicht nur der Schreibauftrag und das sichere Wissen Fausts, man werde seine Lebensgeschichte lesen wollen, sondern auch der eingeführte zweite Augenzeuge neben Wagner: Da Wagner erst nach dem Teufelspakt auftaucht, müssen die vorhergehenden Kapitel anders abgesichert werden. Der einzige Beobachter, der dafür aber in Frage kommt, ist der Teufel. Auwerhan hat hier also eine doppelte Funktion: Innerhalb der Logik der Diegese wird er auf Wunsch Wagners eingeführt, der ebenfalls einen ihm stets dienstbaren teuflischen Geist haben möchte. Für die Ebene der Diegesis ist seine Einführung erforderlich, weil er neben Mephostophiles der einzig denkbare Beobachter ist, der alles gesehen haben kann. Dass die Wahl auf ihn fällt und nicht auf Mephostophiles ist narratologisch betrachtet insofern konsequent, als Mephostophiles durch seine Funktion als zweite Hauptfigur zu sehr belastet ist, um als Erzähler fungieren zu können. Auwerhan dagegen ist ein unbeschriebenes Blatt. Insofern ist er eine optimale Möglichkeit, die Erzählung zu beglaubigen – wenn man von dem Problem absieht, dass der Teufel in allen seinen Figurationen ein »verdambter Lu֏gen vnd Mordgeist« ist, bei dem man keine Wahrheit suchen sollte. Dieses Problem hat der Anonymus freilich ausgeblendet. Offenbar wollte der Erzähler lieber selbst quasi einen narrativen Pakt mit dem Teufel schließen, als Teile seiner Erzählung unbeglaubigt zu lassen. Ohne Auwerhan wäre für große Teile der Erzählung nur die Möglichkeit geblieben, eine intradiegetisch-autodiegetische Erzählung abzufassen, die dann aber unvermeidlich völlig aus der Perspektive Fausts hätte geschrieben sein müssen. Damit ————— 148 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 111; Faustbuch, ed. Müller, S. 964. 149 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 112f.; Faustbuch, ed. Müller, S. 966.
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Vom Exemplum zur biographischen Erzählung
wäre sie in eine äußerst prekäre Erzählform eingetreten, nämlich die der Autobiographie, die dem Teufelsbündner in einer Weise eine Stimme verliehen hätte, die weit über das hinaus gegangen wäre, was der dritte Teil mit den Weheklagen leistet. Nun könnte das zweifellos auch für Wagner gelten, der ja selbst zum Teufelsbündner wird, aber in eine intradiegetisch-homodiegetische Erzählerstimme ist Wagner in der Historia nicht überführt worden: Er bleibt auf der Stufe eines benannten und zu diesem Zwecke in den Text eingeführten Augenzeugen stehen, der innerhalb der Historia noch nicht zum Erzähler aufsteigt. Das ändert sich erst bei Widman, der dieses Manko zwar nicht vollständig beseitigt, aber doch mit erkennbarem Bemühen zu minimieren versucht.
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4. Das narrative Muster legendarischen Erzählens
Wie bereits aus der Kombination von homologen und heterologen Prätexten sowie aus den intertextuellen Bezügen deutlich geworden ist, ist die Gattungszuordnung des ersten Faustbuchs zum Schwankroman nicht sonderlich sinnvoll. Die vom Verfasser vorgenommene Selbstauszeichnung der Faustvita als Historia ist für sich betrachtet ebenfalls keine hinreichende architextuelle Grundlage. Sie reguliert lediglich bestimmte Möglichkeiten der Diegesis und der Erzählmodi sowie die Sequenzialität der Erzählung nach dem ordo naturalis. Gegenüber den Semantiken aber, unter denen das Leben eines Teufelsbündners erzählt werden kann, ist sie blind. Diese Semantiken basieren auf der religiösen Kommunikation. Wie Luhmann gezeigt hat, beruht deren Grundprinzip auf der basalen Scheidung von Immanenz und Transzendenz.1 Kommunikation ist dann religiös fundiert, wenn sie auf der Entgegensetzung von Immanenz und Transzendenz beruht. Der spezifische Code dieser basalen Operation ist im katholischen wie im protestantischen Christentum die Semantik von Heil und Verdammnis. Alle menschlichen Handlungen und Bewusstseinsoperationen, die im Bereich der Immanenz stattfinden und auch nur stattfinden können, weil Transzendenz lediglich das Jenseits der Immanenz und damit eine unüberschreitbare Grenze bezeichnet, werden von den hypostasierten Regeln der Transzendenz her beobachtet und beurteilt.2 Gott ist nicht nur einfach jenseits, er markiert nicht nur das Versprechen eines jenseitigen Daseins, sondern reguliert auch die Eintrittstore in die Transzendenz: Himmel oder Hölle. Dagegen kann ein Leben in der Immanenz sich nicht abschließen: Es mag in der Immanenz Glück, Zufriedenheit und Erfolg geben, aber solange die basale Scheidung gültig ist, gibt es jenseits der Bezogenheit auf die Transzendenz nichts, was allein für sich genommen zählen könnte. Unter der Semantik von Heil und Verdammnis wird die Grundspannung von Immanenz und Transzendenz stets zugunsten der Transzendenz aufgelöst. Betrachtet man Fausts Leben unter dieser Perspektive, so zeigt sich ein entscheidender Bruch zwischen seiner sozialen innerweltlichen Identität und seiner soteriologischen außerweltlichen Identität. Sozial gesehen ist Fausts Leben durchaus ein gelungenes Leben, selbst an seinem letzten Abend ist er ————— 1 2
Vgl. Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, S. 77-92. Zu Gott als Kontingenzformel vgl. ebd., S. 147-155.
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Das narrative Muster legendarischen Erzählens
von Freunden umgeben, aber soteriologisch betrachtet ist es vollkommen gescheitert. Er lebt ein verworfenes Leben, das ihn in Hölle und Verdammnis führt.
Das legendarische Muster und Faust als Antiheiliger Das zentrale architextuelle Muster für die Narrativierung der Grundspannung von Immanenz und Transzendenz und ihrer Codierung unter der binären Semantik von Heil und Verdammnis ist die Legende. Freilich erzählt die Legende in aller Regel auf das Heil hin.3 Betrachtet man Faustus als Musterbeispiel von Transgression, so erscheint es zunächst unwahrscheinlich, dass sein Leben in der Form der Legende erzählt worden sein könnte. Er verstößt gegen alle Normen, auf denen Heiligkeit basiert. Andererseits ist Heiligkeit, von der Seite der Immanenz her betrachtet, selbst eine Form radikaler Transgression, denn die vollkommene Erfüllung der Norm in einer der Sünde verfallenen Welt ist eine so provozierende supererogatorische Leistung, dass sie von zahlreichen institutionellen Mechanismen begrenzt und kontrolliert werden muss.4 Heilig gesprochen werden kann nur, wer entweder das Martyrium für den Glauben erlitten oder Wunder gewirkt hat. Der in dem seit dem 12. Jahrhundert als Gerichtsprozess inszenierten Heiligsprechungsverfahren auftretende ›advocatus Diaboli‹ ist der institutionalisierte Ausdruck für das Bemühen um Kontrolle und Begrenzung der Heiligung.5 Gleichzeitig ist diese Form der Transgression besonders geeignet, die Norm zu stabilisieren, denn sie belegt, dass es überhaupt möglich ist, sie zu erfüllen. Der Heilige stützt die Norm gegen die Normalität, weil er ihre Geltung exemplarisch verkörpert und damit aus der Anforderung in die Evidenz transformiert. Eben deshalb bedarf das Leben des Heiligen der Verankerung im gesellschaftlichen Gedächtnis: Seine Lebensgeschichte muss als die Geschichte seiner Heiligung aufgeschrieben und gelesen werden. Aus diesem ————— 3 4 5
Teile der nachfolgenden Überlegungen habe ich bereits in meinem Aufsatz Sündhaftigkeit als Generator von Individualität dargelegt. Zur Heiligkeit als »supererogatorischer Leistung« vgl. Hahn, Transgression und Innovation, S. 455-457. Im 12. Jahrhundert ist das Heiligsprechungsverfahren von der rituellen Elevation zum kanonischen Rechtsakt umgestellt worden. Diese Umstellung kann als institutioneller Ausdruck für das Bemühen um die Begrenzung von Heiligkeitszuschreibungen gedeutet werden, seitdem in den Frömmigkeitsbewegungen immer mehr Personen in den Ruch der Heiligkeit gelangten und diese sich damit von der Institution der Kirche zu lösen drohte. Zur Geschichte des Heiligsprechungsverfahrens vgl. Kraft, Papsturkunde und Heiligsprechung; Wetzstein, Heilige vor Gericht; zum Begriff des »advocatus Diaboli«, der in den kanonischen Regeln für das Heiligsprechungsverfahrens als »promotor fidei« bezeichnet wird vgl. ebd., S. 308f. sowie 417f. Vgl. auch Gumbrecht, Die Identität des Heiligen, S. 704-708.
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Das legendarische Muster und Faust als Antiheiliger
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Grund sind Heiligenviten legenda – zu Lesende.6 Die Etymologie von Legende verweist also zuallererst nicht auf eine Erzählgattung, sondern auf deren Funktion. Der Heilige hat einen unhintergehbaren Anspruch auf eine Vita, weil erst diese Vita ihn zum Heiligen macht und als Verkörperung der Norm im Wortsinne ›verwirklicht‹. Die Legende ist insofern zentraler Bestandteil der Heiligung. Sie leistet, was der Kult selbst nicht zu leisten vermag: Sie verankert den Heiligen im Diesseits, um ihn im Jenseits anrufen zu können.7 Dennoch ist im Mittelalter immer wieder auch der Sünder, und zwar bevorzugt in seiner superlativischen Ausprägung als vollkommen böse oder als Teufelsbündner zur Ehre einer Vita erhoben worden. Allerdings war die legendarische Vita des Sünders zumeist mit der eines Heiligen verknüpft: So erscheint der Zauberer Simon Magus in der Petruslegende als dessen zeitweiliger Widersacher und die Judas-Vita wird als Auftakt zur Legende des Apostels Matthias erzählt, der Judas nach dessen Verrat an Christus und seinem anschließenden Selbstmord als zwölfter Apostel ersetzt.8 Gelegentlich wurden die Legenden von Judas und Simon Magus aber auch separat erzählt.9 Sünder-Legenden, wie die von Judas und Simon Magus, in denen es nicht zu einer Versöhnung mit der Transzendenz kam, waren freilich die Ausnahme. Sehr viel häufiger wurde von der Überwindung der Sündhaftigkeit und von der Wandlung zum Heiligen erzählt, wie etwa bei Gregorius oder dem Teufelsbündner Theophilus.10 Bestätigte die Heiligenlegende die Möglichkeit der Normerfüllung, so bekräftigte die Sünderheiligenlegende die Möglichkeit der Rekonziliation. Gleich wie groß die Sünde auch sein mochte, Gott konnte dem Sünder Gnade zu teil werden lassen und ihm nicht nur seine Sünden vergeben, sondern ihn über jeden Makel erheben. Hierzu bedurfte es bestimmter narrativer Mechanismen, die den Wechsel von der Sünde zur Heiligkeit abfederten: Durch die Tiefe seiner Reue und die Hartnäckigkeit seiner Buße wurde der Sünder geheiligt und durch die superabundans gratia mit der vollständigen Rekonziliation belohnt. Die Umkehr musste im Falle des Teufelsbündners jedoch besonders gestaltet werden, um sie nachvollziehbar zu machen. Zum einen waren extreme Bußübungen und ————— 6 7 8
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Vgl. Feistner, Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende, S. 50-65. Vgl. Strohschneider, Textheiligung, bes. S. 115. Diese Verknüpfung findet sich etwa bei Simon Magus (Legenda aurea, S. 428-433) sowie Judas (Legenda Aurea, S. 214-217). Als Widersacher von Petrus erscheint Judas bereits in der Apostelgeschichte (vgl. Apg. 8,9ff; bes. 8,13-23). Separat erzählt worden ist die Judaslegende etwa in: Der heiligen Leben: Winterteil: »Von dem bo֏sen Judas«, S. 434-437. Zur Judaslegende vgl. Eming, Judas als Held; Ohly, Der Verfluchte und der Erwählte, S. 7-43. Grundlegend zur Figur des Sünderheiligen ist nach wie vor Dorn, Der sündige Heilige; speziell zur Theophilus-Legende: Gier, Der Sünder als Beispiel; Plenzat, Die Theophiluslegende; Weber, Studien zur deutschen Marienlegende.
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Das narrative Muster legendarischen Erzählens
Selbstkasteiungen des Sünders ein entscheidendes Element für die Erringung des Heils. Zum anderen bedurften die reuigen Sünder aber häufig der Hilfe durch heilige Fürbitter oder die Gottesmutter selbst. Gerade bei Teufelsbündnern reichten Reue und Buße allein häufig nicht aus. Durch die Apostasie von Gott und die schriftliche Fixierung des Teufelspaktes war der reuige und umkehrwillige Teufelsbündner auf Hilfe von außen angewiesen, die nur Heilige oder die Gottesmutter zu leisten vermochten.11 Erst mit ihrer Hilfe konnte ihnen die Rückkehr zu Gott gelingen.
Zum Problem der Antilegende Bekanntlich ist Faustus diese Umkehr nicht gelungen. Seine Sünderbiographie beschreibt eine Transgression ohne Rekonziliation. Damit setzt das früheste Faustbuch gegenüber früheren Teufelsbündnerlegenden einen markanten Punkt, denn Faustus ist zwar nicht der erste zur Ehre einer Vita erhobene Teufelsbündner, der nicht gerettet, sondern vom Teufel in einer bemerkenswert grausam geschilderten Szene geholt wird, aber er ist der erste, der sich – von der Seite der Immanenz her betrachtet – nur wenig zuschulden kommen lässt.12 Die Historia schreibt Faustus dieses fatale Ende ein, ohne ihn, wie etwa Judas, als absolut böse auszuweisen. Ganz im Gegenteil ist der Faustus der Historia ein ausgesprochen umgänglicher und fürsorglicher Mensch. Seine magischen Zauberkräfte setzt er so gut wie nie ein, um dauerhaften Schaden zu bewirken.13 Fausts Zauberei beschränkt sich, wie bereits gezeigt, zumeist auf Sinnestäuschungen, die er nach kurzer Zeit wieder aufhebt, und wo er sie zur Bestrafung einsetzt, sind sie entweder moralisiert oder richten sich gegen gesellschaftlich stigmatisierte Gruppen (Juden und Zauberer).14 Umso unbarmherziger wirkt Fausts Ende. An ihm wird eine Form der Normdurchsetzung exekutiert, die keine mildernden Umstän-
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Vgl. Gier, Der Sünder als Beispiel, S. 46. Wie oben gezeigt, ist dieses Ende in den Prätexten der Historia vorgegeben: Sowohl Manlius als auch Weier und Lercheimer berichten von Fausts einsamem Tod, dem keine Rekonziliation vorangegangen ist. Das ist für das Exempel, zumal in dämonologischen Traktaten und in Exempelsammlungen, die nach dem Dekalog gegliedert sind, nicht ungewöhnlich. Wohl aber ist es ungewöhnlich innerhalb des Erzählmusters der Legende. Eine Ausnahme hiervon bildet die Tötung eines anderen Zauberers, die der Erzähler sowohl narrativ (Faustus »verdroß de[r] Hochmuth des Principal Zauberers/wie er so frech mit Gotteslastern vnd lachendem Mund jm ließ den Kopff herab hawen«) als auch auf der Kommentarebene (»wie dann der Teuffel allen seinen Dienern letztlich solchen Lohn gibt«) ausdrücklich legitimiert. Vgl. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 101; Faustbuch, ed. Müller, S. 951f. Siehe dazu ausführlich Kap. 6.
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Zum Problem der Antilegende
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de mehr gelten lässt und die Ansprüche an Reue und Buße derart gesteigert zu haben scheint, dass ein Rückweg so gut wie ausgeschlossen ist.15 Dabei finden sich durchaus entscheidende Voraussetzungen zur Umkehr in der Erzählung seines Lebens: Schon bald nach Abschluss des Teufelspaktes bereut Faustus seine Tat, weint und klagt, »daß ich als ein Gescho֏pff Gottes von jme gewichen bin / vnd mich den Teuffel bereden lassen / daß ich mich jhme mit Leib vnd Seele ergeben / vnd verkaufft habe«.16 Am Ende seines Lebens klagt er sich in seinen drei Weheklagen selbst an, bereut zutiefst seinen Sündenfall und richtet verzweifelt die Frage an sich selbst: »Wer wil mich Elenden erretten?«17 Schließlich legt Faustus am letzten Abend vor Ablauf der vierundzwanzigjährigen Paktzeit vor seinen »liebe[n] Vertrawete[n] vnd gantz gu֏nstige[n] Herren«18 ein Geständnis seiner Schuld ab und bekennt ihnen in einer »Oratio«, dass er einen Pakt mit dem Teufel geschlossen habe, der in der kommenden Nacht ablaufe. Obwohl er ihnen versichert, «daß ich eine hertzliche Reuwe habe / vnd im Hertzen jmmer vmb Gnade bitte«19, vollzieht sich in der folgenden Nacht ein »greuwlich[es] vnd erschrecklich[es] Spectackel«20: der Teufel zerschmettert seinen Leib und wirft ihn auf den Misthaufen, das Gehirn klebt in der blutbespritzten Stube an der Wand, Augen und Zähne liegen auf dem Boden zerstreut. Das Urteil über Faustus aber fällt nicht Gott im individuellen Gericht, sondern der Erzähler. Und mit ihm verurteilt sich Faustus quasi im Gleichklang selbst. Der Erzähler hat sein Urteil, wie oben gezeigt, bereits in der Vorred formuliert. Narratologisch betrachtet, holt Faustus nur ein, was der Erzähler paratextuell ohnehin schon festgelegt hat. Das wird innerhalb der Erzählung allerdings durch die Umkehrung der Reihenfolge von Figurenstimme und Erzählerstimme verdeckt. Es ist stets zuerst Faustus, der über sich selbst das Urteil spricht, welches dann vom Erzähler gebetsmühlenhaft wiederholt wird. Schon in der ersten Reueszene wird dieses Verfahren deutlich. Nachdem Mephostophiles Faustus auf dessen Wunsch hin berichtet hat, warum Lucifer aus dem Himmel verstoßen worden ist, zieht dieser sich »stillschweigendt« in seine Kammer zurück, beginnt »bitterlich zu weinen vnd seufftzen / vnd in seinem Hertzen zu ————— 15
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Diese Unbarmherzigkeit hat bis in die jüngere Forschung für Irritation gesorgt. So bemerkt etwa Walter Haug (Der Teufelspakt vor Goethe, S. 205), »man sieht sich schließlich vor die Frage gestellt, weshalb Faustus eigentlich verdammt wird«, denn »er tut kaum etwas wirklich Böses«. »Man stößt sich an dem Missverhältnis zwischen dem, was Faustus’ Zusammenspiel mit dem Teufel an mehr oder weniger harmlosen Boshaftigkeiten zeigt und der Verurteilung zur ewigen Höllenqual.« Vgl. auch Könneker, Der Teufelspakt im Faustbuch, S. 4-7. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 33; Faustbuch, ed. Müller, S. 867. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 118; Faustbuch, ed. Müller, S. 972. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 119; Faustbuch, ed. Müller, S. 973. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 121; Faustbuch, ed. Müller, S. 975. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 123; Faustbuch, ed. Müller, S. 977.
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Das narrative Muster legendarischen Erzählens
schreyen«21 und vergleicht sich selbst mit Lucifer und schlussfolgert: »Darumb kann ich keiner Gnade mehr hoffen / Sondern werde wie Lucifer in die ewige Verdampnuß vnd Wehe verstossen.«22 Der Erzähler kommentiert daraufhin, Faustus habe weder Glauben noch Hoffnung zu schöpfen vermocht, dass er durch Buße zur Gnade gebracht werden könne.23 Nachdem Faustus sich selbst verurteilt hat, kann im Anschluss die extradiegetischheterodiegetische Stimme des Erzählers die Funktion des Richters übernehmen und Faustus der Kains- und Judasreue bezichtigen.24 Was dem Erzähler erlaubt ist, darf Faustus aber gerade nicht. Erst durch seine Selbstverurteilung nämlich macht er sich der Sünde der desperatio schuldig und verwirkt damit tatsächlich die Möglichkeit der Gnade, die nach der Luther’schen Lehre nur an eine Voraussetzung gebunden ist: den Glauben an ihre Möglichkeit wider alle Normativität. Das lässt mindestens zwei Schlussfolgerungen zu: zum einen, dass eine Erzählung von Transgression ohne Rekonziliation tragbar ist, ohne die Norm selbst zu gefährden, und zum anderen, dass die Historia das Sünderlegendenmodell von Transgression und Rekonziliation negiert. Wohl auch deshalb wird die Historia in der Forschung häufig auch als Antilegende bezeichnet.25 Allerdings ist der Begriff der Antilegende, trotz seiner häufigen Verwendung, terminologisch uneindeutig. Anders als der Legenden-Begriff hat er keine mit der oben gezeigten pragmatischen Rahmung der Heiligenvita eng verknüpfte Etymologie. Eingeführt in die Diskussion wurde er 1930 von André Jolles in seiner berühmt gewordenen Untersuchung Einfache Formen.26 Jolles hat den Begriff der Antilegende quasi deduktiv aus seiner Definition der Legende als der »Geistesbeschäftigung der imitatio« abgeleitet: Wenn nun in der Geistesbeschäftigung der imitatio der Heilige eine Gestalt ist, in der die Tugend messbar, greifbar, fassbar wird, die uns zum Bewusstsein bringt, was wir auf dem Wege der Tugend tun, erfahren und sein möchten, und die uns sachlich als Maßstab die Möglichkeit gibt, ihr zu folgen, so muß es andererseits in derselben Form Gestalten geben, in denen das Verbrechen messbar, greifbar, faßbar wird und in
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Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 32; Faustbuch, ed. Müller, S. 866. Vgl. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 33; Faustbuch, ed. Müller, S. 867. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. etwa Baron, Die Hexenprozesse, S. 68f.; ders., The Faust Book’s Indebtedness, S. 536f.; Ohly, Der Verfluchte und der Erwählte; Faustbuch, ed. Müller, Kommentar, S. 1346f. Umgekehrt ist der Faust-Stoff gelegentlich auch als Legende bezeichnet worden. Der Bezugspunkt ist in diesen Fällen dann aber nicht die Legende, sondern das Legendäre der Figur, ohne dass dies freilich eingehender reflektiert worden wäre. Vgl. Tacconelli, Faust, S. 10. Im Englischen hat der Begriff der Legende ohnehin eine stärkere Polysemie, die von der Sage nicht deutlich getrennt ist. Eine mittlere Position nimmt Marguerite de Huszar Allen ein, die einerseits von der »Faust Legend« spricht, sie andererseits aber als »inverted hagiography« bezeichnet. Vgl. dies., The Faust Legend, S. 53; siehe auch Baron, Faustus on Trial, S. 125. Aufschlussreich sind nach wie vor die kritischen Bemerkungen von Hans Robert Jauß zu Jolles’ »Theorie der einfachen Formen«. Vgl. Jauß, Alterität und Modernität, S. 37-41.
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Zum Problem der Antilegende
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denen sich das Böse, das strafbare Unrecht in derselben Weise vergegenständlicht. Dem Nachahmenswerten, Unnachahmbaren muß sich eine Figur gegenüberstellen lassen, der wir unter keiner Bedingung folgen sollen, die uns das konkrete Bewusstsein dessen gibt, was wir nicht nachahmen dürfen. Dem Heiligen muß ein Unheiliger, der Legende eine Antilegende gegenüber stehen.27
Als einen dieser Unheiligen führt Jolles auch Faust an und stellt ihn in eine Reihe mit Simon Magus, Robert dem Teufel, Ahasver, dem fliegenden Holländer, Don Juan und dem Grafen von Luxemburg.28 Die Heterogenität dieser Reihe macht bereits deutlich, wie vage der Begriff der Antilegende bleibt. Jolles bezieht den Unterschied zwischen der Legende und der Antilegende allein auf ihren Protagonisten und die Funktion der imitatio. Wird von einem Heiligen erzählt, der als Vorbild dienen soll, so handelt es sich um eine Legende; wird von einem Sünder erzählt, der als abschreckendes Beispiel fungieren soll, so handelt es sich um eine Antilegende. Die Antilegende ist bei Jolles somit nicht im eigentlichen Sinne eine negative Umkehrung der Legende, sondern ihres Protagonisten. Anstelle der Vita eines Heiligen wird die eines Antiheiligen erzählt.29 Damit lässt Jolles’ Begriff völlig offen, ob und in welcher Weise die Antilegende an den Erzählformen der Legende partizipiert.30 Unter Antilegende ist denn auch Verschiedenes subsumiert worden. Als Antilegenden sind die Geschichten von Sünderheiligen bezeichnet worden, die sich nach einer sündhaften Phase ihres Lebens zu Gott bekehrten und schließlich Heilige wurden; die Geschichten von Sündern, die von Gott abfielen und nie zu ihm zurückfanden, und schließlich die Viten, in denen Heiligkeitsbehauptungen widerlegt werden sollten, wie die protestantischen »Lügenden«. Und auch die polemischen katholischen Luther-Viten, die Luther gegen die schon bald nach seinem Tod entstandenen protestantischen Legenden als Ketzer oder Teufelsbündner auszuweisen suchten, sind als Antilegenden bezeichnet worden. Eine Antilegende kann also alles sein, was irgendwie von Sündern oder Verworfenen erzählt oder aber bestehende Legenden abzuwerten oder zu widerlegen versucht. Eine solch heillose Begriffsverwirrung legt nahe, den Begriff der Antilegende gänzlich zu verabschieden. Damit aber würde man zugleich die Möglichkeit vergeben, aufzuzeigen, in welcher Weise Faustus am Maßstab des Heiligen gemessen wird, inwiefern Elemente legendarischen Erzählens in seine Vita eingeflossen sind und welches Licht seine Vita auf die Legende selbst zurückwirft. ————— 27 28 29
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Jolles, Einfache Formen, S. 51. Ebd., S. 53. Jolles hat denn auch nicht nur die Antilegende erfunden, sondern auch das Antimärchen, auf die dann im Anschluss an ihn auch die Gegensage (engl. antilegend) gefolgt ist. Vgl. Moser-Rath, Antimärchen, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 1, Berlin/New York 1977, Sp. 609-611. Vgl. Jolles, Einfache Formen, S. 36f.
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Das narrative Muster legendarischen Erzählens
Um den Begriff der Antilegende und seine Brauchbarkeit zu klären, bedarf es daher zunächst des Rekurses auf die Geltungsbedingungen sowie die Morphologie der Legende im Mittelalter und ihrer Transformationen durch die Reformation.
Legende und legendarisches Erzählen im Mittelalter Die Legende erzählt vom Durchbruch des Heiligen im Leben eines als historisch verbürgt angenommenen Menschen. Insofern greift es zu kurz, sie nur als die Vita eines Heiligen zu bezeichnen.31 Denn die Legende präsentiert nicht einfach nur den Heiligen, sondern sie repräsentiert das Heilige. »Sie vergegenwärtigt das Heilige in Gestalt der viten- oder biographieförmigen Erzählung von einem oder einer Heiligen.«32 Das unterscheidet sie von anderen Formen der biographischen Erzählung. Selbst wenn der Heilige von Beginn an ein sündenfreies, gottergebenes Leben führt, muss sich das Heilige doch erst im Laufe seines Lebens verwirklichen und nach seinem Tod bestätigen. Der Durchbruch des Heiligen im Leben eines Menschen kann sich in unterschiedlicher Weise ereignen: als Martyrium, als Wunder, als Weltabkehr etc. Deshalb geht es in der Legende zumeist nicht um das Kontinuum eines Lebens, sondern um die Brüche und Umbrüche, um den Einbruch der Heiligkeit in das Leben.33 Die Identität des Heiligen gibt der Legende somit nicht unbedingt ein einheitliches Erzählschema vor, sie lässt sich vielmehr mit den beiden grundsätzlichen morphologischen Bauprinzipien der mittelalterlichen Legende verknüpfen, die Edith Feistner aufgezeigt hat: dem Prinzip der syntagmatischen Verknüpfung der Erzählelemente und dem ihrer paradigmatischen Reihung.34 Nach der Form der Verknüpfung der Erzählelemente lassen sich zwei Legendentypen grundlegend unterscheiden. Die Märtyrerlegende, die dem Prinzip der syntagmatischen Verknüpfung der Erzählelemente folgt, und die Bekennerlegende, die sich des loseren Erzählprinzips der paradigmatischen Reihung bedient. Das hängt in erster Linie damit zusammen, dass das Martyrium eine syntagmatische Verknüpfung schon dadurch erforderlich macht, als es an der Logik einer dramatischen Klimax orientiert ist, die dem Basisnexus ————— 31
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Zur gattungstheoretischen Diskussion, die nicht zuletzt darunter leidet, dass ein Teil der Forschung die Legende als eine weitgehend auf das christliche Mittelalter beschränkte Gattung betrachtet, während ein anderer Teil sie als universale Erzählform begreift, vgl. Ecker, Die Legende; Decuble, Die hagiographische Konvention; Wolpers, Die englische Heiligenlegende; Wyss, Legenden; Ringler, Zur Gattung Legende; Gumbrecht, Faszinationstyp Hagiographie. Strohschneider, Textheiligung, S. 113. Vgl. Jolles, Einfache Formen, S. 39. Vgl. Feistner, Historische Typologie, S. 26-49.
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Legende und legendarisches Erzählen im Mittelalter
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Verhör – Haft – Hinrichtung folgt.35 Die einzelnen Episoden des Bekennertypus können dagegen mehr oder weniger beliebig ergänzt werden, weil sie als Paradigmen der sukzessiven Heiligung fungieren, deren Reihung nicht unbedingt einer bestimmten Anordnung unterliegt. Nach Feistners überzeugender Darlegung ist das Prinzip ihrer Anordnung bis auf den Rahmen von Herkunft, Geburt und Tod weitgehend frei verfügbar und kann sich entweder an der rhetorischen Disposition der Reihung in chronologischer Abfolge (ordo naturalis) oder der Reihung nach bestimmten Themenbereichen bzw. Tugenden (ordo artificialis) orientieren.36 Ergänzt wird dieser Rahmen häufig durch die Selbstexklusion des Heiligen, die den Prozess der Heiligung einleitet oder als ihr erster vernehmlicher Ausdruck erscheint.37 Beide Legendentypen können aber unterschiedliche biographische Modelle entwickeln: das Geburtsmodell und das Konversionsmodell. Im linearen Geburtsmodell ist der Heilige von Geburt an frei von Sünde und von der Aura der Heiligkeit umgeben (Nikolaus, Alexius), im rupturalen Konversionsmodell hingegen vollzieht sich in seinem Leben ein Bruch: Anfänglich lebt der künftige Heilige in Sünde und Gottesferne, findet dann zu Gott und lebt von da an ein heiligmäßiges Leben in Buße und Reue (Maria Aegyptica) oder erlangt das Martyrium für den Glauben (Paulus).38 Das Konversionsmodell kann noch einmal unterteilt werden in die Vita des gewöhnlichen Sünders, der Gott nicht achtet, dann aber zu ihm findet, und die des Apostaten, der Gott anhängt, dann aber von ihm abfällt, sich mit dem Teufel einlässt, dies bitter bereut, um sich dann erneut und endgültig Gott zuzuwenden.39 Es ergibt sich daraus ein einfaches (Sünder) oder ein doppeltes (Teufelsbündner) Konversionsmodell. Das einfache Konversionsmodell ist auf Umkehr angelegt, das doppelte Konversionsmodell auf Abfall von Gott und ————— 35 36
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Vgl. ebd., S. 27. Vgl. ebd., S. 35. Feistner zeigt, dass sich die Legende mit diesen beiden möglichen Dispositionsformen an den beiden in der antiken Rhetorik vorgegebenen Biographiemodellen orientiert. Zur Selbstexklusion als Aspekt der Exklusionsindividualität des Heiligen vgl. Münkler, Sündhaftigkeit als Generator von Individualität, S. 36-38. In ähnlicher Weise unterscheidet Hans Ulrich Gumbrecht im Anschluss an Max Scheler die »Einmalgeborenen« Heiligen (Heilige, die von ihrer Geburt bis zum Tod ein heiligmäßiges Leben führen) von den »Zweimalgeborenen« (Heilige, die vor ihrer conversio ein sündhaftes Leben geführt haben, wie Paulus, Augustinus, Franziskus und Maria Magdalena), denen nach seiner Auffassung eine persönliche Identität und damit Biographie eignet. Vgl. Gumbrecht, Die Identität des Heiligen, S. 706. Dorn unterteilt seine Untersuchung der Sünderheiligen danach, woran sie sich versündigen. Vgl. Dorn, Der sündige Heilige, S. 20. Die einzelnen Typen heiliger Sünder sind: Sünder wider Gott und den Glauben: infidelitas, S. 28-40; abnegatio fidei, S. 40-51; Sünder wider den Leib: luxuria, S. 52-80, incestus, S. 80-89; Sünder wider das Leben: homicidium, S. 90-97; parricidium, S. 97-103; Sünder wider das Eigentum: avaritia, immisericordia, latrocinium, S. 104-110. Zu den Sündern wider das Eigentum zählen auch die Zöllner (immoderatus appetitus divitiarum), S. 110-114.
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Das narrative Muster legendarischen Erzählens
Umkehr.40 Beide Modelle sind aufgrund ihrer Anlage eng mit Reue und Buße verknüpft, wobei das doppelte Konversionsmodell des Teufelsbündners in der Regel mit einem Geständnis einhergeht und zugleich eine der wichtigsten Funktionen der Heiligen narrativ verdichtet: die des fürbittenden Vermittlers bei Gott. Teufelsbündnerlegenden erzählen deshalb, wie oben bereits angedeutet, nicht nur von der Heiligung des Sünders, sondern auch von der Funktion der Heiligen als Heilsvermittler für diejenigen, die in Sünde leben. Sie integrieren in die Narration, was eigentlich jenseits der Legende steht: die Anrufung der Heiligen um des eigenen Heils willen.41 In dieser Rolle erscheint bevorzugt die auf das Mitleid mit dem armen Sünder festgelegte Gottesmutter. In zahlreichen Marienlegenden tritt sie immer wieder als Heilsvermittlerin auf, die den Zorn Christi besänftigt und ihn dazu bringt, dem reuigen Sünder gnädig zu sein.
Protestantische Legendenkritik und Bekennerhistorie Gerade diese Verknüpfung von Geltungsbedingungen und Geltungserzählungen des Heiligen ändert sich mit der Reformation fundamental. Mit dem von Luther begründeten dreifachen »sola«-Prinzip – sola fide, sola scriptura, sola gratia – verlieren die Heiligen ihre Funktion als Fürbitter und Heilsvermittler. Luther, der von sich selbst bekannt hat, er habe die Heiligen in seiner Zeit als Augustinermönch häufig angerufen, sieht in der Heiligenverehrung zunehmend eine Form der Negierung Christi als dem einzigen Heilsvermittler. Insbesondere die Verfügung der Kirche über die Heiligen mittels der Reliquien und der durch sie begründeten Wallfahrten betrachtet er als eine Aneignung der Heilsvermittlung, die den Glauben unterminiert, weil sie ihn durch abergläubische Praktiken ersetzt. Luthers Ablehnung der Heiligenverehrung hat sich langsam vollzogen, aber immer schärfer ausgeprägt. Noch in der 1519 erschienen Schrift Unterricht auff etlich Artickell befürwortete er die Anrufung der Heiligen und bekräftigte die Auffassung, dass Gott an ihren Gräbern Wunder tue. Von der lieben heyligen furbit. Sag ich und halt fest mit der gantzen Christenheyt / das man die lieben heiligen eeren vnd anruffen soll. Dan wer mag doch das widderfechten / das noch heuttigis tagis / sichtlich / bey der lieben heyligen corper vnd greber / got durch seyner heyligen namen wunder thut? 42
————— 40 41 42
Für die imitatio ist nur das Konversionsmodell geeignet – ein Geburtsheiliger kann nicht nachgeahmt werden. Vgl. Weber, Studien zur deutschen Marienlegende, passim. Luther, Unterricht auff etlich Artickell, in: WA 2, S. 69.
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Protestantische Legendenkritik und Bekennerhistorie
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Schon im Sermon von der bereytung zum sterben, ebenfalls von 1519, kritisierte er jedoch die Tendenz, die Heiligen bei Krankheiten oder in der Todesstunde um Hilfe anzurufen.43 Die Heiligen sollten vielmehr als Glaubensvorbilder fungieren, die der Seele durch die Festigkeit ihres Glaubens Trost spenden: »Also fleucht Tod, Sünd und Höll mit all ihren Kräften, so wir nur Christi und seiner Heiligen leuchtende Bilder in uns üben in der Nacht, d. i. im Glauben.«44 In den Jahren zwischen 1521 und 1525 lehnte Luther die Heiligenverehrung dann immer dezidierter ab. Das wird besonders deutlich an seiner zunehmenden Kritik am Marienkult. 1521 pries er in seinem Magnificat verdeutscht und außgelegt Maria zwar noch als Vorbild echter humilitas, wies aber bereits darauf hin, dass man ihrer nur achtungsvoll gedenken, sie aber nicht als mediatrix (Vermittlerin) verehren solle.45 1522 bemerkte er zum Ave Maria des Betbüchleins, der Gläubige solle seine Zuversicht nicht auf Maria richten, denn solche Zuversicht gebühre allein Gott.46 Er betrachtete Maria nicht mehr als die wichtigste Heilsvermittlerin und Himmelskönigin, sondern nur noch als Exempel des Glaubens, der Demut und des Trostes.47 In seiner Schrift Etliche Artikel, so von den Papisten jetzt neulich verfälscht und böslich gerühmt wider uns Lutherischen aus dem Jahre 1535 formulierte er dann, dass die Heiligen dem Menschen nicht helfen könnten, da allein die Erlösungstat Christi den Weg zum Heil gebahnt habe.48 Als Anspruch an jeden wahren Christen formulierte er nunmehr, dass er sich nicht mehr an die Heiligen wenden dürfe, sondern lässt solches alles anstehen, als der da gelernet hat, dass nirgends keine Hülfe auf Erden ist, wider den Tod […], schreit aber allein zu Gott mit solchem Glauben, dass er ihm durch Christus davon helfen werde.49
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46 47
48 49
Vgl. Luther, Eyn Sermon von der bereytung zum sterben, in: WA, Bd. 2, S. 690. Ebd. Luther, Das Magnificat verdeutscht und außgelegt, in: WA, Bd. 7, S. 568f. Vgl. auch Christoph Burger, Marias Lied in Luthers Deutung, Tübingen 2007, bes. S. 16f.; Helmut Riedlinger, Einführung, in: ders. (Hg.), Das Magnificat verdeutscht und außgelegt durch D. Martin Luther, Freiburg i. Br. u. a. 1982, S. 1-29; zur Mühlen, Luthers Frömmigkeit und die Mystik. Seine Auslegung des »Magnificat« von 1521, in: ders., Reformatorisches Profil. Studien zum Weg Martin Luthers und der Reformation, hg. v. Johannes Brosseder u. a., Göttingen 1995, S. 86-100. Vgl. WA, Bd. 10/II, S. 407. Vgl. auch S. 409, wo sich Luther zum Marienkult noch deutlich schärfer äußert. Vgl. Steiger, Fünf Zentralthemen der Theologie Luthers, S. 221-223 u. 230-233; zu Maria als Exempel des angefochtenen Glaubens vgl. ebd., S. 234-236. Zur Auseinandersetzung mit der Marienverehrung siehe auch: Hans Düfel, Luthers Stellung zur Marienverehrung, Göttingen 1968; Günther von Horw, Das Marienbild Martin Luthers. Eine Untersuchung über das Zeugnis der Quellen, in: Ephemerides Mariologicae 24 (1974), S. 179-209. Vgl. WA, Bd. 38, S. 393ff. Ebd., S. 394.
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In den Schmalkaldischen Artikeln von 1538 brandmarkte er die »Anruffung der Heiligen« schließlich als Abgötterei, als der »der End Christischen Misbreuche einer und streitet wider den ersten Heubtartikel und tilget die erkenntnis Christi.«50 Dadurch wuchsen im Protestantismus die Anforderungen an den Gläubigen. Der Weg zum Heil musste nunmehr allein beschritten werden. Dieser Weg war mit Ängsten und Anfechtungen gepflastert, in denen der Christ allein auf Gott vertrauen musste und keine Heiligen mehr um Hilfe anrufen durfte. Gerechtfertigt werden konnte der Mensch allein durch den Glauben. Dieser Glaube wurde von jeder institutionellen Verbindlichkeit gelöst und von allen Praktiken, wie Heiligenverehrung und Wallfahrten zu ihren Gräbern, entbunden, die mit Heilsgarantie versehen waren.51 Damit änderten sich auch die Geltungsbedingungen der Legende fundamental. Die Erzählungen von dem im Leben der Heiligen sich verwirklichenden Heil, vom Hineinragen der Transzendenz in die Immanenz, von den Wundern, die die Heiligen vor und nach ihrem Tod vollbracht haben sollten, von der Selbstheiligung durch Askese und der mutwilligen Negierung der gesellschaftlichen Anforderungen erschienen nunmehr aus evangelischer Sicht als Negierung des sola gratia- Prinzips und damit als ein Mittel zur Beförderung des Aberglaubens. Der Legende wurde zweierlei vorgeworfen: Sie vermittle ein falsches Bild von der Verwirklichung des Heils, womit sie falsche Sicherheit erzeuge, und sie sei bloße Erfindung, um die Gläubigen vom Weg des Heils abzubringen und sie in der Illusion der Heilsvermittlung durch die kirchlichen Institutionen zu halten. Luther, dessen Einstellung zur Legende sich parallel zu seiner Einstellung gegenüber den Heiligen wandelte, bezeichnete die Legende seit den 1530er Jahren als Lügende und verspottete sie in seiner 1537 erschienenen Lügend von S. Johanne Chrysostomo als unglaubwürdige Erfindung boshafter oder einfältiger Autoren, die das Volk in Aberglauben und Götzenanbeterei halten wollten.52 ————— 50
51 52
Schmalkaldische Artikel, WA, Bd. 50, S. 210, col. 2. Die Manuskriptgeschichte der von einer großen Zahl von Protestanten unterzeichneten Schmalkaldischen Artikel ist überaus verworren, so dass ihre Zuschreibung zu Luther nicht eindeutig ist. Luther dürfte wohl den ursprünglichen Text verfasst haben, der dann unter den Unterzeichnern zirkulierte. Zumindest Spalatin und Melanchthon haben nachweislich Änderungen vorgenommen, der Tenor des Textes dürfte aber auf Luther zurückgehen. Für die Liste der Unterzeichner vgl. ebd., S. 253-254. Die Ablehnung der katholischen Praxis der Heilsvermittlung durch die Institution der Kirche hat Luther ausführlich in seiner polemischen Schrift Von den Schlüsseln (1530) dargelegt. Luther, Die Lügend von S. Johanne Chrysostomo, in: WA 50, S. 48-64. Vgl. dazu Schnyder, Legendenpolemik und Legendenkritik; Ecker, Die Legende, S. 238-243. Luthers scharfe Kritik an einzelnen Heiligenlegenden findet sich auch bereits in: De votis monasticis (1521), in: WA, Bd. 8, S. 623.
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Luther wendete hier ein polemisches Verfahren an, das sich in der Kontroverstheologie großer Beliebtheit erfreute. Er entnahm dem Prosapassional, das 1471/72 in Augsburg bei Günther Zainer unter dem Titel Der Heiligen Leben im Druck erschienen war, die Legende des Heiligen Johannes Chrysostomus, versah sie mit einer an Papst Paul III. adressierten Vorrede, einem Nachwort und ironischen Randglossen und veröffentlichte sie als »Vordrab« auf weitere Aufdeckungen ›papistischer Lügen‹.53 Dass er sich eine Legende aus Der Heiligen Leben ausgesucht hatte, begründete sich nicht zuletzt darin, dass diese zumeist mit einer Fürbitte endeten, so auch die Legende Von St. Johannes Guldenmund (Chrysostomo): Nun bitten wir den heiligen Sankt Johannes, daß er uns auch um Gott den Allma֏chtigen wo֏lle erwerben das Ewige Leben. Das verleih uns Gott! Amen.54
Genau diese Fürbittfunktion lehnte Luther ab. An der Legende von St. Johannes Chrysostomo provozierte ihn aber nicht nur die Fübitte, sondern auch die erzählte Geschichte selbst: Eines Tages reitet der Papst durch den Wald, da hört er eine jämmerlich Stimme, die sich ihm als arme unerlöste Seele zu erkennen gibt. Der Papst, der Mitleid mit ihr hat, will sie unter Verweis auf seine Gewalt, Sünden zu vergeben, erlösen, aber die Seele entgegnet ihm, ihr sei geweissagt worden, dass sie nur von einem am selben Tag in Rom gezeugten Kind erlöst werden könne. Dieses Kind solle einst Priester werden und wenn es sechzehn Messen gelesen habe, dann werde sie erlöst sein. Das Kind wird nach seiner Geburt am Papsthof groß gezogen. Weil der Junge kein gelehriger Schüler ist und darunter leidet, betet er jeden Tag vor einem Bild der Gottesmutter, die eines Tages zu ihm sagt, er solle das Bild küssen, dann werde er gelehrter als irgenjemand sonst auf Erden. Danach ist der Knabe, dessen Mund nun golden umrandet ist, von höchster Gelehrsamkeit. Der Papst, der ihn sehr gern hat, lässt ihn schon mit sechzehn Jahren zum Priester weihen, damit er die arme Seele mit dem Lesen der Messe erlösen kann. Weil er sich des Priesteramts jedoch noch nicht würdig fühlt, zieht sich Johannes in eine Einsiedelei im Wald zurück, wohin sich eines Tages die Tochter des Kaisers verirrt. Johannes nimmt sie in seine Klause auf, zieht aber in der Mitte des Raumes einen Strich, damit er nicht durch sie verführt würde. Der »böse Feind« stiftet ihn jedoch an, ihr beizuwohnen, was beide wenig später bitter bereuen. Um weiterer Verführung zur Sünde zu entgehen, stößt Johannes die Jungfrau von einem Felsen, begibt sich danach zum Papst und beichtet seine Sünden. Der Papst verweigert ihm die Absolution, worauf Johannes sich erneut in ————— 53 54
Vgl. Luther, Die Lügend von S. Johanne Chrysostomo. Der Heiligen Leben, Bd. 1: Winterteil, S. 330.
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seine Klause zurückzieht und beschließt, sich die Gnade des Herrn durch Buße wieder zu erwerben. ›Herre, empfang die Buß gna֏diglich von mir! Wann ich will auf Ha֏nden und Fu֏ßen gehen, biß daß ich allhie deine Gnad erwerb. Und wann ich meine Su֏nd gebu֏ßet hab, so lass mich das inne werden von deiner Gnaden.‹ Und kroch zuhand auf allen Vieren als ein Tier in dem Walde. Und wann er ruhen wo֏llt, so kroch er in seine Zell. Und kroch manniches Jahr nach seiner Leibesnahrung, daß es sich nicht auf richtet. Und sein Gewand faulet schier von ihm. Und war überall rauh an seinem Leib, daß ihn niemand erkennen mocht.55
Fünfzehn Jahre später wird der Büßer, der mittlerweile einem wilden Tier gleicht, von Jägern des Kaisers gefangen. Seine menschliche Identität wird schließlich durch den neugeborenen Sohn des Kaisers aufgeklärt, der erklärt, er wolle nicht vom Papst, sondern nur von »Sankt Johannes, dem Heiligen Mann« getauft werden, und das wilde Tier anspricht. Johannes verweigert sich zunächst, aber nachdem das Kind ihm verkündet, Gott habe ihm seine Sünde vergeben, »stund er auf von der Erden, und zuhand fiel das Kraut und das Moos von ihm, das an seinem Leib gewachsen war, und ward sein Leib so scho֏n als eines jungen Kindes«.56 Wenig später wird dann auch die verführte und ermordete Kaiserstochter wohlbehalten »und so schön, als sie vor war«, auf dem Felsen gefunden. Johannes übernimmt daraufhin sein Priesteramt wieder und der Papst erinnert sich nun, dass er ihn vordem eigentlich zum Priester hatte weihen lassen, weil er einst die jämmerliche Stimme einer Seele gehört hatte, die ihm versicherte, nur Johannes könne sie durch sechzehn von ihm gelesene Messen von ihrer Pein erlösen. Er bittet Johannes daraufhin, nunmehr die sechzehn Messen zu lesen, »das ta֏t Sankt Johannes gar mit großem Ernst fu֏r die Seel. Darnach ward sie von aller Pein erlo֏set«.57 Johannes wird daraufhin zum Bischof ernannt und predigt so süß, dass er Johannes Goldenmund genannt wird. Und wenn ihm die Tinte ausgeht, schreibt er aus seinem Mund, und es werden »eitel gülden Buchstaben« daraus. So lebt er bis Gott ihn zu sich ruft und er »sa֏liglich stirbt«.58 Diesen ›Gnadenerwerb‹ durch absurde Bußübungen, die ›wunderbaren‹ Wünsche von Neugeborenen und das Losbeten durch abgezählte Messen kommentierte Luther in seinen Marginalglossen ironisch und gab sie so dem Gelächter preis. In seinem Nachwort hob er aber auch hervor, mit welchem Zwang der Glaube an die erlogenen Geschichten in der katholischen Kirche verbunden gewesen sei: ————— 55 56 57 58
Ebd., S. 327. Ebd., S. 329. Ebd., S. 330. Ebd.
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Itzt zwar lacht man solcher lu֏gen, und wils niemand gleuben, Aber wol euch, lieben jungen Leute, die jr jtzt das liecht habt und unter dem Lu֏genreich des Bapsts nicht gewest seid, wie ich und meines gleichen. Hette noch vor zwentzig jaren einer sollen von dieser Legenden Chrysostomi halten, das ein einiges stücklin drin erlogen were, Er hette mu֏ssen zu asschen verbrand werden…So ernstlich musten wir die lu֏gen gleuben und jren Vater, den Teufel furchten und anbeten, dazu seiner Scho֏rlinge und Plattinge feiren. Lachet nu und spottet getrost solcher auffgedeckten lu֏gen (denn jhr tut recht und wol daran), seid auch fro֏lich, das jrs nu erkennet.59
Seine ›Bearbeitung‹ der Legende hatte also zwei Ebenen: einerseits den ironischen Kommentar in den Marginalglossen und andererseits die harsche Kritik und Mahnung in der Vorrede und dem Nachwort. Aus dem Geist dieser Kritik entstand eine ganze Reihe polemischer Legendensammlungen, wie etwa Hieronymus Rauschers Sammlung Außerwelte, große, vnuerschempte, feiste, wolgemeste, erstunkene Papistische Lügen, Welche aller Narren Lugend [...] weit vbertreffen, damit die Papisten die fürnemsten Artickel jhrer Lehre verteidigen, die armen Christen aber verblenden, vnd in abgrund der Hellen verfüren. Deren Funktion bestand darin, den Glauben an die Fürbittfunktion der Heiligen und den Gnadenschatz, über den die »Papisten« zu verfügen behaupteten, zu unterminieren.60 Da die Mönche als Urheber der »Lügenden« galten, erzählte Rauscher zahlreiche Exempel von Mönchen, in denen er sie als Erfinder verlogener Geschichten brandmarkte. Diese Phase aggressiver Polemik wurde schon wenige Jahre später von einer Restitution mancher Legenden abgelöst, die jedoch von den »schändlichsten Lügen gereinigt« werden sollten.61 Luther wollte jene Legenden für die evangelische Kirche bewahren, die als exempla fidei dienen konnten, und beauftragte deshalb Georg Maior damit, sie kritisch zu sichten und diejenigen herauszubringen, die den Angefochtenen im Glauben Trost vermitteln konnten, wenn sie sähen, dass auch Heilige unter solchen Anfechtungen zu leiden hatten.62 Zu dem 1544 erschienenen Druck von Maiors Vitae Patrum steuerte Luther ein Vorwort bei, ebenso zu den im selben Jahr veröffentlichten Exempla et sententiae ex vitis et passionibus sanctorum, die Georg Spalatin zusammengestellt hatte.63 ————— 59 60
61 62 63
Luther, Lügend von St. Johanne Chrysostomo, WA 50, S. 63. Von Hieronymus Rauschers Hundert Außerwelte[n …] erstunkene[n] Papistische[n] Lügen erschienen 1562 und 1563 mehrere Ausgaben an verschiedenen Orten. Vgl. Schenda, Hieronymus Rauscher, S. 183-187. Rauscher setzte seine »Lügenden«-Sammlung in den darauffolgenden Jahren fort, sie firmierten zumeist unter dem Obertitel »Centuria«. Insgesamt legte Rauscher fünf »Centurien Außerwelte[r …] erstunkene[r] Papistische[r] Lügen« vor. Vgl. Steiger, Fünf Zentralthemen der Theologie Luthers, S. 263-265. Vgl. ebd., S. 264. Vgl. Luther, Vorrede zu Georg Maior, Vitae patrum [1544], in: WA, Bd. 54, S. 109-111; ders., Vorrede zu Georg Spalatin, Magnifice consolatoria exempla et sententiae ex vitis et passionibus sanctorum [1544], in: WA 54, S. 113-115.
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Nach seinem Tod im Jahr 1546 wurde Luther selbst zum bedeutendsten evangelischen Bekenner, dessen Leben mit seinen Kämpfen und Anfechtungen neben anderen Glaubenszeugen in zahlreichen Legenden geschildert wurde.64 Da der Terminus mit dem Wortspiel von den »Lügenden« zu sehr diskreditiert war, wurden die legendarischen Erzählungen von den protestantischen Märtyrern und Bekennern nicht mehr als Legenden bezeichnet, sondern als Exempla oder als Historien. Sie galten als wahrhaftige Erzählungen und leuchtende Beispiele vorbildlichen Lebens und Sterbens im Kampf für den wahren Glauben.65 Um den Abstand gegenüber der katholischen Legende deutlich zu machen, wurden diese Sammlungen stets mit Vorreden eingeleitet, die den Unterschied zwischen den katholischen »Lügenden« und den evangelischen »Historien« hervorhoben. So distanzierte sich Caspar Goldtwurm in der Vorrede zu seinem Kirchen Calender nachdrücklich von den alten »Lügenden«, deren Erfinder der Teufel sei: Also hat er sich mit gleicher arglistigkeit vnnd Tyranney beflissen / vnnd dahin gearbeit / wie er nur viel Gottloser / fauler / vnd gefra֏ssiger Mu֏nche / vnnd jhres gleichen erwecken mo֏cht / welche die Christliche Kirchen mit vnzehligen vnnd grossen Bu֏chern / voller Lu֏gen vnd Fabeln mo֏chten beschweren / welchs dem leydigen Teuffel auch ein zeitlang geraten / Dann die Welt mit solchen offentlichen erlognen vnnd erdichten schrifften vnd Lu֏genden dermasen beladen vnnd vberschu֏ttet worden […] vnd das arme einfeltige vo֏lcklein allein auff jr Lu֏genden vnd Altweibische Fabeln vnd Ma֏rlins Prediger gewiesen.66
Um seine eigene Sammlung vor dem Vorwurf zu schützen, die Anbetung der Heiligen zu restituieren, hob Goldtwurm das lutherische Dogma, zwischen Gott und den Menschen sei Christus der einzige Vermittler, besonders hervor, indem er betonte, daß wir keine Creatur auff Erden / lebendig oder todt / ja auch die Engel im Himmel nicht anbeten / sondern allein den einigen ewigen Gott / den Vatter vnseres Heylandts Jesu Christi / sollen lernen erkennen vnd anruffen / wie er sich durch seinen lieben Son hat geoffenbart / vnd auff das verdienst desselbigen Heylands vnnd Mitlers vnser vertrauen stellen vnd setzen / welches auch alle Heiligen Gottes vns zum Exempel gethan vnd bewiesen haben.67
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67
Vgl. Hieber, Legende, protestantische Bekennerhistorie, Legendenhistorie, S. 35-55; Brückner/Brückner, Zeugen des Glaubens. Zum vorwiegend in den Vorreden formulierten Wahrheitsanspruch der Historien und Exempel vgl. Schwitzgebel, Noch nicht genug der Vorrede, S. 36-39. Goldtwurm, Kirchen Calender, fol A IIIrf. Zu Goldtwurm und seinem Kirchenkalender vgl. Pohlig, Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung, S. 440-451; Fuchs, Protestantische Heiligen-memoria, S. 607-614. Ebd., fol. A VIv. (unpag.). Vgl. zu diesem Aspekt der Vorreden in protestantischen Heiligenkalendern Schwitzgebel, Noch nicht genug der Vorrede, S. 27.
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Dreißig Jahre später betonte Andreas Hondorff in der Vorrede zu seinem Calendarium sanctorum et historiarum, die Exempel der Heiligen sollten den Christen lehren auff wasserley weise vnd arth / er sein gantzes / leben ausrichten sol / damit vnd dass es möge Gott gefallen / sich auch in seinen zugeschickten anfechtungen richten / stercken vnd trösten / auff dass er nicht von seinen Ertzfeinden / dem teufel fleisch vnd welt / mit denen wir (nach laut der Schrifft) täglich zukampffn / vberwunden werden / besondern die Krone der Bekenneren / Christlicher warheit erlangen möge.68
Als ein solches Exempel diente insbesondere Luther selbst. Die Vita des Reformators erschien in Hondorffs Calendarium Sanctorum unter den Exempeln zum dritten Gebot als Bekennerlegende mit unverkennbar hagiographischen Elementen.69 Ähnliches gilt auch für Melanchthon, dessen Leben und Sterben Hondorff ebenfalls unter den Exempeln zum dritten Gebot beschrieb.70 Auf diese protestantischen Bekennerhistorien wiederum reagierte die katholische Seite mit scharfer Polemik und Parodien. Insbesondere Luther war die bevorzugte Zielscheibe der antiprotestantischen Legendenparodien.71 Der Franziskaner Johannes Nas beschrieb Luther in seinen 1570 in Ingolstadt veröffentlichten Quinta Centuria als vom Teufel gezeugten72 und mit ihm vertrauten Umgang pflegenden »Teufels Prophet[en]«73, der »mit vil Teu֏ffeln vnd ho֏llischen Geistern ein dapffere hochzeit gehabt«74 und nächtens in seinem Schlafzimmer mit dem Teufel disputiert habe.75 Nas widmete sich der Legendenpolemik mit Inbrunst in zahlreichen seiner Schriften.76 In diesem Rahmen tauchte auch Faustus auf. Nas benutzte den bei Manlius und Lercheimer berichteten Versuch Melanchthons, Faustus zu bekeh————— 68 69 70 71
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Hondorff, Calendarium Sanctorvm, Vorrede, unpag. [1]. Zu Hondorffs Heiligenkalender vgl. Pohlig, Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung, S. 451-455. Vgl. ebd., S. 667. Vgl. Hondorff, Promptuarium (Frankfurt 1595), fol. 122v. Vgl. Hondorff, Promptuarium (Frankfurt 1595), fol. 127r. Vgl. Brückner, Ausprägungen und Nachwirkungen von Legende und Antilegende, S. 278294. Brückner plädiert hier dafür, nur solche Legendenpolemiken als Antilegenden zu bezeichnen, die sich konkret und eindeutig auf eine vorgängige Legende beziehen. Vgl. Nas, Quinta Centuria, Bl. 30b. Ebd., Bl. 65b. Ebd., Bl. 364a. Ebd., Bl. 416a-419b. Nas bezieht sich hier explizit auf Luthers Schrift Von Pfaffenweih und Winckelmess, in der Luther beschreibt, wie ihm der Teufel vorgehalten habe, dass er mit der »Winckelmess« sein Heil verwirkt habe. Auf Bl. 417a findet sich dazu eine Illustration, die den nackten Luther neben seiner unbekleideten Ehefrau, die als »loses Fleisch« tituliert wird, im Bett liegend zeigt. Neben ihm sitzt der ebenfalls nackte Teufel und disputiert mit ihm. Zu Johannes Nas vgl. Wolfgang Brückner, Ausprägungen und Nachwirkungen von Legende und Antilegende, S. 278-294. Brückner plädiert hier dafür, nur solche Legendenpolemiken als Antilegenden zu bezeichnen, die sich konkret und eindeutig auf eine vorgängige Legende beziehen.
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ren, zu einer Satire auf den »Solnglauben«77 der »Euangellosen«78. Nach Manlius und Lercheimer hatte Faustus Melanchthon damit gedroht, wenn er ihm noch einmal so hart zusetze, um ihn zur Umkehr zu bewegen, werde er ihm alle Töpfe aus dem Schornstein fliegen lassen. Nas ersetzte Melanchthon durch dessen Frau, die Töpfe durch Würste und steigerte seine polemische Wendung vom »Solnglauben« zum »Wurstglauben«: Diese Gesellen haben den Solnglauben von Simone Zauberer, von Aërio und Eunomio. Ist ein rechter Wurstglauben, wie von des Ph. Melanch. Weib ein Histori erza֏hlt wird, ihren großen Glauben aufzubutzen. Dann da ihr der Zauberer Faustus trohet, er wollte ihr die Wu֏rst fliegen machen, darauf sprach sie im Glauben: Ich traue dem getreuen Gott, er werde mir meine Wu֏rst wohl vor dem Zauberer Fausto behu֏ten. Und also sagen sie, hab er nicht zaubern ko֏nnen, vor des kleinen Weibleins großem Glauben.79
Nas benutzte Faustus hier in doppelter Weise: einerseits um die evangelische Überzeugung zu karikieren, dass allein der Glaube zu Gott führen könne, andererseits um die »Euangelosen« selbst mit den Teufelsbündnern in Verbindung zu bringen, die sie folglich auch nicht zu bekehren vermochten.
Antilegende und Legendenkontrafaktur Erst von dieser Geschichte der Legende und ihren veränderten Geltungsbedingungen her und unter Berücksichtigung der Legendenpolemiken lässt sich die Frage beantworten, ob es sinnvoll ist, die Historia von D. Johann Fausten als Antilegende zu bezeichnen. Im Hinblick darauf, dass in der protestantischen Bekennerlegende die imitatio im Sinne der Vorbildlichkeit des Heiligen, die Jolles schon für die mittelalterliche Legende angenommen hat, überhaupt erst zum entscheidenden Aspekt wird, könnte es gerechtfertigt scheinen, sie in seinem Sinne als Antilegende zur protestantischen Bekennerhistorie zu charakterisieren. Man brauchte dann nur als Hypotext die Legenda aurea gegen Rabus’ Historien der Heyligen Außerwölten Gottes Zeügen / Bekennern vnd Martyre auszutauschen, um die Historia als Antilegende auszuweisen, bei der nicht imitatio, sondern dehortatio gefordert wäre. Damit aber würde man die pragmatische Dimension zum zentralen Kriterium erheben und andere Konstituenten außer Acht lassen. Zwar wäre es sicher im ————— 77
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Das von Nas immer wieder verwendete Wort »Solnglauben« war eine parodistische Polemik auf Luthers »sola fide« und bezeichnet den Glauben der Protestanten zweideutig als »Sohlenglauben«, also einen Glauben, der nur an den Fußsohlen haftet, und als »Sie sollen glauben«, was in Parenthese mit ›tun es aber nicht‹ zu ergänzen wäre. Mit der Bezeichnung als die »Euangelosen« polemisierte Nas parodistisch gegen die Selbstauszeichnung der Protestanten als »eu[v]angelisch«, also nur dem Evangelium folgend. Nas, Examen, Bl. 379a.
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Antilegende und Legendenkontrafaktur
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Sinne des Erzählers der Historia, wenn man seine paränetische Mahnschrift in dieser eindeutigen Weise lesen würde, aber damit würde man gerade jene Bezugnahmen auf die Legende verdecken, in der nicht nur der Heilige, sondern die legendarische Form als Bezugspunkt fungiert. Erst bei einer solchen Betrachtung erweist sich die Verknüpfung der Historia mit der Legende in ihrer ganzen Komplexität. Grundlegend ist zunächst zu konstatieren, dass das morphologische Bauprinzip von Fausts Vita dem von Edith Feistner für die mittelalterliche Bekennerlegende herausgearbeiteten Prinzip der paradigmatischen Reihung folgt, bei dem sich, wie oben gezeigt, im Falle der Historia die Reihung in chronologischer Abfolge und die Reihung nach bestimmten Semantiken überschneiden.80 Von der Struktur seiner Biographie her betrachtet, folgt Fausts Vita dem Modell der doppelten Konversion vom wohlgefällig christlichen Leben zum Teufelspakt und anschließender Umkehr. Mit dem Modell der doppelten Konversion lehnt sich die Historia eng an die Theophiluslegende an.81 Wie Theophilus beschwört Faustus den Teufel und schreibt den Teufelspakt mit seinem eigenen Blut nieder. Wie Theophilus bereut er seine Tat und beklagt sein Schicksal. Anders als Theophilus aber, kann er sich nicht vom Teufel lösen, sondern verwirkt die Möglichkeit der Rekonziliation und ergibt sich endgültig dem Teufel. Das biographische Muster wird damit zur doppelten Apostasie hin gebrochen, denn Fausts Bekehrungsversuch scheitert und mündet nicht in die Aufkündigung des Paktes, sondern in die Unterzeichnung eines zweiten Pakts. Von daher wäre es naheliegend, die Faustlegende im Sinne Brückners als Antilegende zur Theophiluslegende zu deuten. Der Begriff der Antilegende wäre insofern plausibel, als die Theophiluslegende als eindeutiger Hypotext ausgewiesen werden könnte. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die sie Berührungspunkte mit zahlreichen anderen Teufelsbündnerlegenden hat.82 Überdies ist das Handlungsgerüst der Theophiluslegende relativ frei verfügbar. Seine Basiselemente bestehen lediglich darin, dass Theophilus mit dem Teufel in Kontakt tritt, ein schriftliches Bündnis mit ihm schließt, dann bereut und von Gott auf die Fürbitte Marias hin begnadigt wird.83 Solche Elemente finden sich in zahlreichen mittelalterlichen Marienlegenden. Das spräche also gegen einen unmittelbaren Bezug. Signifikant an der Theophiluslegende ist aber die Schriftlichkeit des Teufelspakts, »denn durch die ————— 80 81 82
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Edith Feistner spricht allerdings nicht von Semantiken, sondern von Themenbereichen. Vgl. Feistner, Historische Typologie, S. 35. Vgl. Baron, Faustus, S. 65-68. Zur Theophiluslegende und ihren zahlreichen Bearbeitungen in der mittelhochdeutschen Literatur vgl. Plenzat, Theophiluslegende; Gier, Der Sünder als Beispiel; Weber, Studien zur deutschen Marienlegende. Vgl. Gier, Der Sünder als Beispiel, S. 73.; Weber, Studien zur deutschen Marienlegende, S. 20f.
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Das narrative Muster legendarischen Erzählens
Verschreibung unterscheidet sich Theophilus von den meisten anderen Teufelsbündnern, sie ist gleichsam das Signum seiner Legende«84. Die Schriftlichkeit des Teufelspakts ist auch für die Historia überaus wichtig, insoweit könnte dies den Bezug auf die Theophiluslegende bekräftigen. Der Pakt ist jedoch gänzlich anders motiviert als bei Faustus und die Theophiluslegende konzentriert sich weitgehend auf den Augenblick der Umkehr und den erlösenden Auftritt Marias. Theophilus hat daher keine wirkliche Biographie; diese tritt nur momenthaft in den Blick, um den Basisnexus abnegatio fidei und Bekehrung zu verwirklichen. Außerdem haben die durch die Semantiken von curiositas, magia und melancholia in der Faust-Vita vorgebenen Aspekte keinerlei Beziehung zur Theophiluslegende. Folglich unterscheiden sich auch die Begründungen für den Pakt fundamental. Während Faustus seine curiositas befriedigen möchte, geht es Theophilus um die Wiedererlangung seines Amtes als Vizedominus.85 Insofern erscheint es nicht sinnvoll, von einer Antilegende zu sprechen, denn dafür enthält die Historia zu viele Elemente, die sich nicht auf die Theophiluslegende beziehen lassen. Betrachtet man die einzelnen Kapitel der Historia, so scheinen eine ganze Reihe von Legenden und legendarischen Erzählelementen als homologe Prätexte bzw. architextuelles Modell für die Erzählung von Fausts Leben gedient zu haben. Die Historia ist damit auch ein Musterbeispiel architextueller Praktiken, indem sie sich der Bauformen der Legende bedient, ohne darin aufzugehen.86 In dieser Hinsicht ist es sinnvoller und terminologisch präziser, nicht von einer Antilegende, sondern von einer Legendenkontrafaktur zu sprechen, in der einzelne paradigmatische Elemente unterschiedlicher Legenden übernommen und mit anderen Bedeutungen versehen werden. Sie ist damit eine Kontrafaktur im wörtlichen Sinne, bei der auf eine heilige Melodie ein unheiliges Lied gesungen wird. Als Legendenkontrafaktur hat bereits Friedrich Ohly die Historia bezeichnet, allerdings hat er den Begriff synonym mit dem der Antilegende verwendet und damit auf die naheliegende Differenzierungsmöglichkeit zwischen pragmatischer Funktion und morphologischen Bauelementen verzichtet: Das Faustbuch ist wie die Viten von Simon Magus, Pilatus und Judas eine Legendenkontrafaktur, deren Held nicht Wunder Gottes, sondern Zauber aus des Teufels Kraft
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Gier, Der Sünder als Beispiel, S. 74. Vgl. ebd. Die These, die Faust-Historia folge dem Erzählmuster der Legende, hat auch Marguerite de Huszar Allen vertreten. Vgl. Allen, The Faust Legend, bes. S. 13-42. Sie betrachtet Fausts Vita als »Reversal of the Saint’s Life« und geht davon aus, dass Faustus das populäre Erzählmuster der Legende nach der Reformation quasi beerbt habe (vgl. ebd., S. 18f.).
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Antilegende und Legendenkontrafaktur
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wirkt, dann statt zur Seligkeit in die ewige Verdammnis eingeht, da seine Judasreue ihm nicht hilft.87
An mehreren Stellen hat er aber einzelne Elemente als Kontrafaktur gedeutet, so etwa Fausts letzte Mahlzeit mit den Studenten als Abendmahlskontrafaktur.88 Für solche paradigmatischen Reihungselemente, die als Kontrafaktur einzelner Legendenelemente gedeutet werden können, lassen sich verschiedene Beispiele anführen: Fausts Bestrafungszauber gegenüber aufmüpfigen Bauern, seine Totenerweckung am Hof Karls V., der Blumenzauber in seinem Garten etc. Solche »Wunder« wurden auch in den Legenden des Passionals berichtet. So findet sich eine ähnliche Aktion wie das Beinabschneiden, das Faustus benutzt, um den jüdischen Kaufmann zu betrügen, in der Legende von St. Loy als ein Wunder. Als St. Loy das Pferd des Königs mit silbernen Hufeisen beschlagen soll, schneidet er ihm die Beine ab, beschlägt sie mit silbernen Hufeisen und setzt sie wieder an, was als eines der von ihm vollbrachten Wunder berichtet wird.89 Damit wirft die Historia ein überaus gleißendes Licht auf die katholische Legende, lässt sie doch gerade das als Zauberei erscheinen, was dort als Wunder verhandelt wurde. Die Kontrafaktur hat hier stellenweise parodistische Effekte und diskreditiert so legendarische Erzählungen von den Wundern der Heiligen.90 Anders verhält es sich mit jenen Elementen, die als Kontrafaktur des Widerstandes erscheinen, den die Heiligen dem Teufel unter Inkaufnahme körperlicher Pein entgegensetzt haben. Faustus dagegen unterwirft sich jedes Mal ängstlich, sobald ihn der Teufel körperlich bedroht.91 Hier versagt er vor dem Maßstab der protestantischen Bekennerhistorie, die Heiligkeit gerade dadurch ausweist, dass der Bekenner allen Anfechtungen des Teufels widersteht, die Unversehrtheit seines Leibes nicht achtet, sondern dem Teufel heroisch mit Hohn und Spott begegnet.92 Fausts Versagen wird umso deutlicher, als der Nachbar, der ihn bekehren wollte, sich gegenüber den An————— 87 88
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Vgl. Ohly, Der Verfluchte und der Erwählte, S. 103. Vgl. ebd., S. 102. Vgl. auch Riedl, Nützliches Erschrecken, S. 544. Andreas Kraß (Schwarze Galle, schwarze Kunst, S. 540) hat Ohlys These dahingehend verschärft, dass er Fausts Vita grundsätzlich als Antilegende zum Leben Jesu deutet: »Die unheilige Analogie zur Vita des Gottessohnes regiert die gesamte Handlungsfolge der Historia.« Dafür scheinen mir die Analogien jedoch zu schwach ausgeprägt und allzu assoziativ zu sein. Vgl. Ecker, Die Legende, S. 240. In Anlehnung an Genette verstehe ich unter Parodie die Transformation eines Textes oder Textteils zum Zwecke seiner Lächerlichmachung. Allerdings setzt das voraus, dass ein solcherart transformierter Text erkennbar ist. Das scheint mir konkret nicht unbedingt der Fall zu sein. Deshalb spreche ich hier von »parodistischen Effekten«. Vgl. hierzu Genette, Palimpseste, S. 40. Vgl. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 28 u. S. 103; Faustbuch, ed. Müller, S. 861 u. S. 955. Dieses Legendenelement erscheint bereits in der mittelalterlichen Legende. Es gehört bezeichnenderweise zu jenen Elementen, die auch die protestantische Bekennerhistorie noch gelten lässt und die manchen Heiligen den Weg in protestantische Sammlungen öffnet.
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Das narrative Muster legendarischen Erzählens
fechtungen des Teufels als völlig immun erweist: »[S]ein Christlich Gebett vnd Wandel / hat dem bo֏sen Feindt ein solchen Stoß gethan / daß er jm nit hat beykommen mo֏gen.«93 Er verspottet ihn, ähnlich wie in verschiedenen protestantischen Bekennerlegenden, und hält ihm vor, dass er »nit zwen tag im Paradeyß hat ko֏nnen bleiben ko֏nnen«.94 Die Kontrafaktur trifft hier nicht die Legende, sondern den Anti-Heiligen. Damit aber partizipiert die Legendenkontrafaktur in völlig anderer Weise an der Legende als der Terminus ›Antilegende‹ suggeriert. Sie ist ihr nämlich nicht eindeutig entgegengesetzt, sondern konstruiert aus der Umbesetzung einzelner paradigmatischer Elementen der katholischen wie der protestantischen Legende das Bild eines Sünders, der zwar Pseudo-Heiligen-›Wunder‹ zu vollbringen vermag, aber an den an wahre protestantische Heiligkeit gestellten Ansprüchen scheitert, und dem, anders als in der katholischen Legende, kein heiliger Intercessor mehr zu Hilfe kommt. Aber dieses Scheitern wird im Muster der Legende erzählt. Daran ändert die Umbesetzung des Heiligen in einen Antiheiligen nichts. Die Elemente legendarischen Erzählens bleiben erhalten und damit auch jene Faszination, die den Heiligen in der Legende trägt. Das Faustbuch ist keine Antilegende, sondern eine Legendenkontrafaktur, die im Erzählmodus der Legende verbleibt. Als Kontrafaktur tritt sie aus dem legendarischen Erzählen nicht aus, sondern besetzt die einzelnen Elemente der Legende lediglich um.
Bekenntnis, Geständnis und die Sünderheiligenlegende Im Erzählmodus der Legende wird Faustus aber auch durch den Konnex von Reue, Klage und Bekenntnis gehalten. Diese Verbindung ist charakteristisch für Sünderheiligenlegende: Der reuige Sünder bekennt seine Sünden, bevor er wieder in den Schoß der Kirche aufgenommen wird und schließlich das Heil erlangt. In der Teufelsbündnerlegende ist dieses Schema bedeutend erweitert: Auf Reue und Selbstbezichtigung folgt die Aufkündigung des Paktes, zumeist mit Hilfe Marias, daran schließt sich dann das öffentliche Bekenntnis des Teufelspaktes und die anschließende Rückkehr in den Schoß der Kirche an, die in der Regel mit Heiligkeitszeichen für den ehemaligen Teufelsbündner einhergeht. Gegenüber der Sünderheiligenlegende ist demnach das Bekenntnis der Sünden verdoppelt. Zunächst ergeht sich der Teufelsbündner in stiller, aber tränenreicher Reue und Selbstbezichtigungen, worauf Maria erscheint und ihn vom Teufelspakt löst und daran schließt sich dann das öffentliche Sündenbekenntnis an. Für den Hörer oder Leser ————— 93 94
Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 104; Faustbuch, ed. Müller, S. 956. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 104f.; Faustbuch, ed. Müller, S. 957.
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Bekenntnis, Geständnis und die Sünderheiligenlegende
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wird das Bekenntnis durch das retardierende Element des Auftritts der Gottesmutter verdoppelt: Vom Bekenntnis foro interno wird es in ein Bekenntnis foro externo überführt.95 Eben dieses syntagmatische Verknüpfungsschema findet sich auch in der Historia von D. Johann Fausten. In der Abfolge von Reue, Selbstbezichtigung, Suche nach Beistand sowie anschließendem öffentlichem Bekenntnis erweisen sich die Schlusskapitel der Historia als dichte Kontrafaktur der Theophiluslegende. Theophilus bereut schon nach kurzer Zeit tränenreich seinen Teufelspakt. Daran schließt sich ein zweiteiliger Reuemonolog im stummen, aber tränenreichen Gebet an, der mit Selbstbezichtigungen und Angstreue einsetzt, sich dann jedoch an Maria wendet und trotz der Scham des Befleckten gegenüber der Reinen schließlich auf ihre Hilfe vertraut. Maria sichert ihm anschließend die Vergebung Christi zu und steigt sogar selbst in die Hölle hinab, um dem Teufel die Verschreibung zu entreißen. Anschließend bekennt Theophilus öffentlich vor der Gemeinde seine Schuld, empfängt das Messopfer, wird verklärt und stirbt drei Tage nach der Sündenvergebung.96 Diese Verknüpfung von Reue und Selbstbezichtigung sowie die Angst vor der Strafe finden sich auch in den Weheklagen der Historia.97 Ach Leyd vber Leyd / Jammer vber Jammer / Ach vnd Wehe / wer wirdt mich erlo֏sen wo sol ich mich verbergen? Wohin sol ich mich verkriechen oder fliehen?98
Auf Faustens Klagen erscheint, anders als in der Theophiluslegende, jedoch nicht die trost- und gnadenreiche Maria, sondern der hämische Mephostophiles, der Faustus mit Sprichwörtern verspottet, die alle darauf gemünzt sind, dass seine Reue zu spät komme und vergeblich sei: Ein gebratene Wurst hat zween Zipffel / Auff des Teuffels Eyß ist nicht gut gehen / Du hast eine bo֏se Art gehabt / darumb la֏ßt Art von Art nicht / also la֏ßt die Katz das Mausen nit / Scharpff fürnemmen macht scha֏rtig / weil der Lo֏ffel neu ist / braucht jn der Koch / darnach wenn er alt wirt / so scheißt er dreyn / dann iß mit jm auß / Ist es nicht also auch mit dir? der du ein newer Kochlo֏ffel deß Teuffels warest / nun nu֏tzet es dich nimmer / denn der Marckt hett dich sollen lehren Kauffen/ […] Es geho֏rt mehr zum Tantz / denn ein roht par Schuch / hettestu Gott vor Augen gehabt / vnd dich mit den Gaben / so dir verliehen / begnu֏gen lassen / do֏rfftestu diesen Reyen nicht tanzten / […] / jetzt wischt der Teuffel das Mail / vnnd gehet davon / du hast dich zum Bu֏rgen
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Auf den Zusammenhang der Theophiluslegende und ihrer starken Verbreitung im 13. Jahrhundert mit der Reform der Bußpraxis hat bereits Gier, Der Sünder als Beispiel, S. 46 hingewiesen. Vgl. Plenzat, Theophiluslegende, S. 21f. Vgl. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 113-118, Faustbuch, ed. Müller, S. 967-973. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 114f., Faustbuch, ed. Müller, S. 968.
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Das narrative Muster legendarischen Erzählens
gesetzt / mit deinem eigenen blut / so sol man Bu֏rgen wu֏rgen / hast es zu einem Ohr lassen eingehen / zum andern wider auß.99
Die zum großen Teil dem Code der Haus- und Marktökonomie entlehnten Sprichwörter, deren semantische Heteronomie Faustus selbst noch den Code der Religion verweigert, bilden einen scharfen Kontrast zu den tröstlichen Worten der Gottesmutter in der Theophiluslegende und können damit als unmittelbares Kontrafakturelement betrachtet werden. Auch das anschließende Bekenntnis seines Teufelspakts ist eine direkte Kontrafaktur zum Geständnis in der Theophiluslegende: Faustus legt es nicht wie Theophilus öffentlich in der Kirche vor dem Bischof und der Gemeinde ab, sondern semi-öffentlich in einem Wirtshaus als »Oratio Fausti ad Studiosos«. Dennoch bleibt der performative Akt als Generalbeichte erhalten. Anders als bei Theophilus erfolgt aber keine Rekonziliation. Faustus wird anschließend nicht verklärt und in den Himmel erhoben, sondern sein Leib wird vom Teufel zerschmettert und landet auf dem Misthaufen, seine Seele verfällt dem Teufel. Indem Faustus unter vollständiger Ausschaltung der extradiegetisch-heterodiegetischen Erzählerstimme in ausführlichen Monologen auf seine Sünden reflektiert und diese öffentlich bekennt, wird er aber in das Dispositiv der Geständnispraktiken eingeschrieben, die ein wichtiger Bestandteil nicht nur der Theophiluslegende, sondern der Sünderheiligenlegende im allgemeinen sind. Insofern kann man durchaus von einer Reintegration Fausts sprechen, aber diese Reintegration erfolgt nicht durch Rekonziliation, sondern durch die Performanz seiner Unterwerfung unter das Regime der christlichen Geständnispraktiken, die ein zentrales Element legendarischen Erzählens in der Sünderheiligenlegende sind.
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Historia, ed. Füssel Kreutzer, S. 116f.; Faustbuch, ed. Müller, S. 969f.
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5. Die Transformationsleistungen der Faustbücher
Wolfenbütteler Handschrift und Historia Nach der Grundlegung des ersten Teils will ich mich nunmehr den Transformationen widmen, die die Traditionsgeschichte der Faustbücher auszeichnet. Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob und wie die auf das erste Faustbuch folgenden Bearbeitungen in die narrative Grundstruktur mit ihren drei Semantiken curiositas, magia und melancholia eingegriffen haben, ob und wo sie Textstellen, Episoden oder ganze Teile ausgelassen oder ergänzt haben und in welcher Weise sich dies auf die Identität der Hauptfigur ausgewirkt hat. Die Tradition der Faustbücher reicht von den 1580er Jahren bis 1725, als mit dem Faustbuch des Christlich Meynenden die letzte Prosabearbeitung erschien, die unmittelbar in der Tradition des ersten Faustbuches stand. Dieses erste Faustbuch war allerdings nicht die 1587 bei Johann Spies erschienene Historia von D. Johann Fausten, sondern höchstwahrscheinlich eine wenig ältere, verloren gegangene Fassung. Sie ist nicht vollständig rekonstruierbar, aber dass sie existiert haben muss, geht schon daraus hervor, dass etwa zeitgleich mit oder kurz vor dem Erscheinen des Spies’schen Erstdruckes in Nürnberg eine Handschrift entstanden ist, die offenbar auf eine frühere Quelle zurück ging. Diese 1890 von Gustav Milchsack entdeckte Fassung stimmt in großen Teilen, aber nicht vollständig, mit der editio princeps überein. Milchsack hat zu belegen versucht, dass die nach ihrem Aufbewahrungsort Wolfenbüttel benannte Wolfenbütteler Handschrift (W) bereits in den 1570er Jahren entstanden sei, dem Spies’schen Druck (A1) als Vorlage gedient habe und folglich als Ausgangspunkt der gesamten FaustTradition zu betrachten sei.1 Dazu musste er freilich Augustin Lercheimers erst 1585 erschienenes Christlich Bedencken von Zauberey als Prätext der Wolfenbütteler Handschrift (W) ausschließen, obwohl es zahlreiche Übereinstimmungen, wie etwa den Bekehrungsversuch des alten Mannes, gibt,
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Die Siglen folgen dem Verzeichnis bei Henning, Beiträge zur Druckgeschichte der Faustund Wagnerbücher; vgl. auch ders., Faust-Bibliographie, S. 113-123; Gotzkowsky, Faustbuch (Prosafassungen).
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Die Transformationsleistungen der Faustbücher
die sonst nirgendwo überliefert worden sind.2 Überdies machte schon Georg Witkowski in seiner Rezension von Milchsacks Edition und ihrer nahezu vierhundert Seiten langen Einleitung deutlich, dass die Zahl der Trennfehler zwischen W und A1 so groß ist, dass W als Vorlage ausgeschlossen werden kann, auch wenn beide Fassungen sehr eng miteinander verwandt sind.3 Die von Stephan Füssel vorgenommenen Untersuchungen der Wasserzeichen und der Schreiberhand haben diese Annahme weiter bekräftigt, denn das Wasserzeichen wurde erst in den 1580er Jahren verwendet und die Schreiberhand ist bis 1590 belegt.4 Entstanden ist die Handschrift mit ziemlicher Sicherheit in Nürnberg, was den Schluss zulässt, dass Nürnberg in der Entstehung des Textes insgesamt eine nicht unwesentliche Rolle gespielt hat; hier sind auch die Faustgeschichten Christoph Rosshirts entstanden.5 Außerdem ist die Beschreibung Nürnbergs besonders breit ausgeführt und nicht, wie die anderen Städtebeschreibungen, Schedels Weltchronik entnommen, sondern dem Lobspruch der Stadt Nürnberg von Hans Sachs.6 Sowohl W als auch A1 berufen sich auf eine Vorlage, aber diese Vorlagenberufung trug eher zur Irritation als zur Klärung der Abhängigkeitsverhältnisse bei.7 Beide evozieren, dass es eine lateinische Vorlage gegeben habe: Spies erklärt in seiner Widmungsvorrede, die Vorlage für seinen Druck sei ihm »newlich durch einen guten Freundt von Speyer mitgetheilt vnd zugeschickt worden«, was zunächst über deren Sprache noch nichts sagt; die Vorred an den Christlichen Leser kündigt am Schluss jedoch an, der Leser könne »auch in kurtzem deß Lateinischen Exemplars von mir gewertig sein«.8 Der Verfasser der »Vorred an den Leser« in der Wolfenbütteler Handschrift behauptet, er habe den vorliegenden Text »auss dem Lateinn jnn das Teutsch«9 übersetzt. Zwar weist die Wolfenbütteler Handschrift sehr viel mehr Latinismen auf als der Spies’sche Druck, aber eine lateinische Vorlage ist höchst unwahrscheinlich, da nahezu alle nachgewiesenen Prätexte ————— 2
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Vgl. Milchsack, Einleitung zu: ed. Milchsack, S. CCLXVIII-CCXCVI. Zu den Übereinstimmungen zwischen Lercheimer, der Handschrift und dem Druck vgl. Baron, The Faust Book’s Indebtedness; ders., Faustus on Trial, S. 136f. u. 141f. Vgl. Witkowski, Rezension zu: Gustav Milchsack (Hg.), Historia D. Johannis Fausti. Vgl. Füssel, Eine erschröckliche Geschicht, S. 167ff. Zu Christoph Rosshirt und seinen Nürnberger Faustgeschichten vgl. das Nachwort von Meyer, in: Rosshirt, ed. Meyer, S. 372f. sowie Petsch, Die Entstehung des Volksbuches, S. 210. Vgl. Füssel, Eine erschröckliche Geschicht, S. 171-177. Von einer gemeinsamen Vorlage für beide Texte gehen aus: Milchsack (Milchsack, Faustbuch und Faustsage, SP. 144f.); Petsch (ed. Petsch, Einleitung, S. XXIII), Haile, (Vorwort zu: Wolfenbütteler Handschrift, ed. Haile, S. vi); J.-D. Müller, Faustbuch, ed. Müller, Kommentar, S. 1321). Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 5; Faustbuch, ed. Müller, S. 833. Wolfenbütteler Handschrift, ed. Haile, S. 7.
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Wolfenbütteler Handschrift und Historia
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volkssprachliche Texte sind.10 Die Kombination aus überaus enger Verwandtschaft zwischen beiden Fassungen – teilweise stimmen die Texte fast wörtlich überein – und bemerkenswerten Abweichungen im Detail legen eine gemeinsame deutschsprachige Vorlage nahe.11 Außer der Vorrede und einigen kürzeren Stellen enthält die Wolfenbütteler Handschrift drei in der editio princeps fehlende Kapitel. Das eine (Kap. 32) vervollständigt das in A1 nur fragmentarisch als Dialog erkennbare Lehrgespräch über Fragen der Astronomie zwischen Faustus und einem »Furneme[n] Doctor zu Halberstatt«, bei dem Faustus erstmals als Lehrender auftritt.12 Die anderen sind eine breit ausgearbeitete Geschichte von Fausts Befreiung eines Adligen aus türkischer Gefangenschaft und die Verhinderung der Wiederverheiratung seiner ihn für tot haltenden Ehefrau (Kap. 62) sowie Fausts Prophezeiung der Bartholomäusnacht (Kap. 70) und anderer künftiger Ereignisse, die mit den reformatorischen Auseinandersetzungen zu tun hatten.13 Aufschlussreich sind die unterschiedlichen Leseransprachen in den Vorreden von A1 und W. Die Spies’sche Vorrede ist ausgesprochen paränetisch und appelliert an ihre Leser, sich solch mahnendes Schreckbild vor Augen zu führen, damit es ihnen nicht ähnlich ergehe. Die Vorrede der Handschrift dagegen stellt Vermutungen an, warum der Text bislang noch nicht im Druck erschienen sei, und erwägt, dass er für die Studenten, die sich ohnehin gerne solcher »notku֏nste« befleißigten, als zu gefährliche Lektüre betrachtet worden sein könne. Der Freund, an den die Vorrede adressiert ist, wird allerdings als unempfänglich für solche Verführungen betrachtet, denn ————— 10
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Robert Petsch schenkte der Behauptung einer lateinischen Vorlage deshalb zwar Glauben, ging aber davon aus, dass die Wolfenbütteler Handschrift nicht direkt darauf zurückging. Er vermutete, dass zwischen der lateinischen Originalfassung (L) und der Wolfenbütteler Handschrift bzw. der Editio princeps zwei weitere Bearbeitungen lagen; als erstes die Übersetzung (U) des lateinischen Textes, sodann eine Bearbeitung (X), die die volkssprachlichen ›Quellen‹ integrierte. Die letztere Bearbeitung betrachtete er als Vorlage der Handschrift wie der Druckfassung. Vgl. Petsch, Einleitung zu: ed. Petsch, S XXIII-XXV. Wenn man die Handschrift oder den Erstdruck um die ›Quellen‹ kürzt, bleibt allerdings kaum etwas übrig. Von daher ist es höchst unwahrscheinlich, dass es von der Faustvita jemals eine lateinische Fassung gab. Nichtsdestoweniger sind Petschs Überlegungen wissenschaftsgeschichtlich nicht uninteressant. Marguerite de Huszar Allen (The Reception of the Historia) hat in ihrem Überblick zur älteren Forschung gezeigt, dass Petschs Annahme einer lateinischen Vorlage für die ältere Forschung einen Scheidepunkt bildete, der darüber entscheidet, ob man der Historia in der älteren Forschung den Rang eines literarischen Kunstwerks zugebilligt oder sie als stümperhafte Kompilation betrachtet hat. Vgl. Haile, Die bedeutenderen Varianten. Für das Gespräch mit dem »Doctor von Halberstadt« vgl. Wolfenbütteler Handschrift, ed. Haile, Kap. 29-32, S. 59-62; Faustbuch, ed. Müller, Kap. 29-31, S. 919-921. Vgl. Wolfenbütteler Handschrift, ed. Haile, S. 59-61; Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 73-75; Faustbuch, ed. Müller, S. 919-921. Vgl. Haile, Vorwort zu: Wolfenbütteler Handschrift, ed. Haile, S. xvi, Anm. 14.
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Die Transformationsleistungen der Faustbücher
ihm empfiehlt der Verfasser den Text »zu ainer kurtzweil fur ein Garten gesprech«.14 A1 ist im Allgemeinen wortreicher, um Faustus immer wieder als abschreckendes Beispiel hinzustellen und den christlichen Leser von diesem Pfad abzumahnen.15 Narrativ eingehender motiviert werden in A1 gegenüber W Stellen wie das Einverständnis zwischen den jungen Grafen, dass sie Faustus bestechen wollen, damit er sie zur Fürstenhochzeit nach München bringe (Kap. 38), sowie die Tötung des Zauberers in Frankfurt durch sympathetische Magie (Kap. 51). Breiter ausgeführt sind in A1 die Bestimmung der genauen Orte der Hölle (Kap. 16) und der Versuch des Alten Mannes, Faustus zu bekehren (Kap. 52). Dafür bietet W öfter ironische Bemerkungen, die in A1 durch moralische Urteile ersetzt sind. So sieht Faustus in Rom in W (Kap. 27) »alle schöne Gottseligkeitten des Pabsts vnd seins Geschmeiss«, während es in A1 (Kap. 26) heißt, er habe »alles Gottloses Wesen deß Bapsts vnd seines Geschmeiß« gesehen. Fausts »teuflische Buehlschafften« waren nach W (Kap. 59) so schön, dass »mancher darab geergert wer worden«, bei A1 (Kap. 57) »daß nicht davon zusagen«. A1 vermeidet an bestimmten Stellen erotische Anspielungen, die sich in W finden. Alexanders »Gemahl« hat nach W (Kap. 34) »hinder dem Ruckhӥ ein große wartzen gehabt, und Kaiser Karl V. geth also herzu / hebt jr den Rockh auf / vnnd fand also die wartzen / Dann Sie jm wie stockh still hielt«. In A1 ist diese Wartze »hinden im Nacken«, so dass das Aufheben des Rocks entfallen kann.16 Das in A1 fehlende Kapitel 62 über den in der Türkei gefangenen Ehemann, dessen Frau sich wieder verheiraten will, weil sie ihn für tot hält, zeigt Faustus als treuen Freund, der seine Zauberkunst einsetzt, um einem anderen zu helfen. Überdies demonstriert es ein erkennbares Vergnügen an dem Impotenzzauber Fausts gegenüber dem zweiten Mann der Ehefrau seines Freundes, dann als er zu jr jnns Bett sprang Die Frucht der Liebe zugenuessen / Dann Sie Die hembder auszugen sich zusamen schmucktӥ / Da ward & alles verlohren / Die guett Fraw als sie sahe das er nicht dran wolt vnnd verzohe / greifft sie selbs nach dem Patron & vnd wolt jm darzu helffen / aber sie kundt auch nichts gewinnen.17
Insgesamt lässt sich konstatieren, dass die Wolfenbütteler Handschrift die paränetische Wirkungsabsicht weniger deutlich formuliert und öfter Ele————— 14 15 16 17
Vgl. Wolfenbütteler Handschrift, ed. Haile, S. 7-10; Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 8-12; Faustbuch, ed. Müller, S. 836-841. Vgl. Haile, Vorwort zu: Wolfenbütteler Handschrift, ed. Haile, S. xvf., Anm. 11 Vgl. Haile, Vorwort zu: Wolfenbütteler Handschrift, ed. Haile, S. xvf., Anm. 11. Wolfenbütteler Handschrift, ed. Haile, S. 92. Prätext dieses Kapitels könnte eine knappe Bemerkung bei Büttner sein. Vgl. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, Quellentexte, Nr. 65, S. 286. Siehe dazu ausführlich Kap. 7.
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Die unterschiedlichen Druckfassungen der Historia
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mente zulässt, die geeignet sind, die Paränese zumindest stellenweise zu untergraben. Die wirkmächtigere Fassung war jedoch der Spies’sche Erstdruck.
Die unterschiedlichen Druckfassungen der Historia Insgesamt sind zwischen Herbst 1587 und 1598 einundzwanzig Ausgaben (davon eine niederdeutsche) der Historia von D. Johann Fausten erschienen, allein sechs davon im Jahr der Editio princeps. Die Historia war damit eines der erfolgreichsten deutschen Bücher des ausgehenden 16. Jahrhunderts.18 Trotz des beachtlichen Erfolges hat Spies selbst bestenfalls noch einen Nachdruck herausgebracht, während zahlreiche andere Drucker sich beeilten, an seinem Erfolg zu partizipieren.19 Seitdem sich mit der Erfindung des Buchdrucks nach und nach ein Markt für Literatur mit Messen und rasch sichtbar werdenden Verkaufserfolgen herausgebildet hatte, war es zunehmend üblich geworden, von anderen Druckern und Verlegern herausgebrachte Werke, die sich als erfolgreich erwiesen, möglichst schnell nachzudrucken, um am ökonomischen Erfolg eines Buches teil zu haben.20 Ob es daran lag, dass Spies aus dem Druck offenbar ökonomisch keinen, jedenfalls nicht den zu erwartenden Vorteil zog, lässt sich nicht genau sagen. Jedenfalls musste er schon 1588 einen Kredit aufnehmen, für den er drei Pressen, 40 Zentner Schriften und seine gesamte fahrende Habe als Sicherheit einsetzte; 1591 belieh er mit einem anderen Kredit sein Haus und seinen Garten. Zwischen 1607 und 1609 hat er schließlich alle seine Habe eingebüßt und das Frankfurter Bürgerrecht verloren.21 Möglicherweise brachte er die Historia, die eigentlich nicht in sein Verlagsprogramm passte, auch nur deshalb heraus, weil er sich mit einem erfolgreichen Buch aus seiner prekären wirtschaftlichen Situation zu befreien suchte.22 ————— 18
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Vgl. Henning, Beiträge zur Druckgeschichte, S. 37. Ähnlich auch Gotzkowsky, Faustbuch, S. 402, der vom »erfolgreichsten deutsche[n] Volksbuch« spricht. Zur Problematik des Terminus »Volksbuch«, vgl. J.-D. Müller, Volksbuch/Prosaroman, S. 1-15. Peter Philipp Riedl (Nützliches Erschrecken, S. 555) hat dies mit einem Wechsel in Spies’ Einstellung gegenüber der Historia begründet: »Johann Spies wollte diese so farbenfroh ausgestaltete Anti-Legende eines Teufelsbündners nicht länger in seinem theologischen Verlagsprogramm dulden.« Worauf diese These beruht, begründet Riedl nicht. Vgl. Eisenstein, The printing press, S. 87-90 u. 377. Vgl. Baron, Faustus on Trial, S.80-83; Berger, Neue Funde zur Biographie, S. 70-73. Die Namen von Spiesens Gläubigern sind im Hinblick auf die Historia nicht ganz ohne pikante, freilich nur scheinbare Bezüge: Seine Druckerei verpfändete Spies an den Frankfurter Juden Hayum zum Halben Mond, sein Haus an einen Frankfurter Junker namens Dr. Johann Faust. Zum Spies’schen Verlagsprogramm vgl. Baron, Faustus on Trial, S. 26- 5; Zarncke, Johann Spies, S. 289-294.
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Die Transformationsleistungen der Faustbücher
Bei den zwanzig Druckausgaben unterscheidet man drei Gruppen von Drucken: die Gruppe A, die aus sechs Druckausgaben besteht, die Gruppe B, von der drei Drucke bekannt sind, und die Gruppe C, die mit elf Ausgaben zwischen 1587 und 1598 die am meisten verbreitete Gruppe gewesen ist.23 Dazu kommt noch eine 1588 in Lübeck bei Johann Ballhorn d. J. erschienene niederdeutsche Übersetzung.24 Zur Gruppe A gehören neben der editio princeps fünf weitere Drucke, von denen einer noch 1587 bei Spies erschienen ist, der 1588 auch noch eine Ausgabe bei Wendel Homm herausbrachte. Die übrigen drei Drucke der A-Reihe waren Nachdrucke, die ohne sein Zutun erfolgten.25 Die Veränderungen innerhalb dieser Gruppe sind minimal, die einzige bemerkenswerte Hinzufügung hat Spies selbst vorgenommen, der der Ausgabe bei Wendel Homm 1588 nach der zweiten Vorrede ein in anderer Schrift und kleinerem Schriftgrad gesetztes »Zeugnuß der H. Schrifft / von den verbottenen Zauberkünsten« einfügte: dreizehn Zitate, getreu nach Luthers Biblia Deudsch, überwiegend aus dem Alten Testament sowie dem Liber Actorum Apostolorum.26 In der C-Gruppe dagegen wurden bereits bedeutsame Transformationen vorgenommen. Schon auf dem Titelblatt des frühesten Drucks der CGruppe wurde betont, dass es sich um eine »jetzt auffs newe vbersehene vnd mit vielen Stücken gemehrete« Auflage handelt.27 Derartige Erklärungen waren typisch für Nachdrucke, die häufig für sich reklamierten, die neuere, erweiterte und bessere Fassung zu bieten. Daneben wurden beim C-Druck auch optische Reize gesetzt, um Käufer anzusprechen. Der Druck wurde mit einem Titelholzschnitt geschmückt, der Faustus in mehreren im Bild synchron zusammengefügten Situationen zeigt: in der Mitte übergibt Faustus in humanistischer Gelehrtentracht den Pakt dem Teufel, der nicht ————— 23
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Vgl. die Auflistung bei Gotzkowsky, Faustbuch, S. 404-414 sowie die Zusammenfassung in Faustbuch, ed. Müller, Nachwort, S. 1321f. Unverzichtbar ist auch nach wie vor die Beschreibung der Drucke bei Henning, Faust-Bibliographie, Bd. I, S. 113-123, Nrr. 1009-1031 sowie ders., Beiträge zur Druckgeschichte, S. 9-52. Vgl. Gotzkowsky, Faustbuch, Nr. 21, S. 414. Vgl. Ebd., S. 405-407, Nrr. 1-4 sowie 8-9. Vgl. auch die Liste bei Henning, Beiträge zur Druckgeschichte, S. 27, S. 38 und 40-43. Vgl. auch Henning, Faust-Bibliographie, Nrr. 10101016. Spies brachte nach der editio princeps (Gotzkowsky, Faustbuch, Nr. 1, Henning, FaustBibliographie, Nr. 1010; Henning, Druckgeschichte, A1) 1587 eine zweite Auflage, heraus (Gotzkowsky Nr. 2, Henning, Faust-Bibliographie, Nr. 1011, Henning, Druckgeschichte, a1) und verlegte im Jahr darauf bei Wendel Homm in Frankfurt eine weitere Ausgabe (Gotzkowsky, Nr. 9, Henning, Faust-Bibliographie, Nr. 1015, Henning, Druckgeschichte, A2) Zwei weitere Drucke erschienen noch 1587 bei unbekannten Druckern (Gotzkowsky, Nrr. 4 u. 8, Henning, Faust-Bibliographie, Nrr. 1013 u. 1014 Henning, Druckgeschichte, a3 und a4), eine weitere, ebenfalls 1587 bei Heinrich Binder in Hamburg (Gotzkowsky, Nr. 3, Henning, Faust-Bibliographie, Nr. 1012, Henning, Druckgeschichte, a2). Vgl. ed. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, Zusatztext III, S. 149f. Historia C, ed. Riedl, S. [5].
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als Mönch, sondern als schwarzes Mischwesen aus Mensch und Tier gezeigt wird, im Hintergrund links oben fliegt er mit dem Teufel durch die Lüfte, links unten übergibt der Teufel ihm einen Geldbeutel und ein astronomisches Gerät, rechts oben stürzt er ihn in die Hölle hinab und rechts unten steht Faustus an einem Fluss, der als der Styx der griechischen Unterwelt gedeutet werden kann.28 Das legt zumindest das als Paratext unmittelbar nach dem Titelblatt folgende lateinische Epigramm nahe, in dem Faustus als der Unglückliche (»infaustus«) bezeichnet wird, »sub Styge in omne ævum quem stata pœna manet«29 (»dem tief unten am Styx auf alle Ewigkeit die festgesetzte Strafe bleibt«30). Ein weiterer lateinischer Paratext schloss den Text ab. In vierundzwanzig lateinischen Distichen, die anders als die Spies’sche Vorrede nicht die Semantik der Magie, sondern die der curiositas aufrufen, wurde beklagt, dass Faustus seine nicht geringen Geistesgaben (»ingenii non parvis«31) missbraucht habe, die bei seinen Freunden zu der Hoffnung Anlass gegeben hätten, er werde große Bedeutung für sein Vaterland haben (»Momentum patriæ se fore grande suæ«). Weder seine Geisteskraft noch sein rhetorisches Geschick (»nec vigor ingenii, nec lepor eloquii«), treffe die Schuld an seinem Untergang, sondern verderblicher Umgang, Ehrgeiz und blinde Leidenschaft (»Turpe sodalitium, ambitio & temerarius ardor«). Damit rückte die Historia C in den Paratexten einen Aspekt in den Mittelpunkt, der im ADruck zwar zu den wichtigen Semantiken innerhalb der Erzählung gehörte, in den paratextuellen Markierungen aber von der Semantik der Zauberei verdeckt worden war. Gleichzeitig wurde die Historia C schon durch die lateinische Sprache der Paratexte und die Evokation der antiken Unterwelt in den Kontext humanistischer Gelehrsamkeit gerückt.32 Zu diesem Zweck diente offenbar auch die Hinzufügung von zwei Kapiteln, die im universitären Milieu in Erfurt (Erffordt) spielen.33 In Erfurt gehört Faustus zum Kreis der Universitätslehrer und hält Vorlesungen über Homer (Kap. 52), in denen er die griechischen Helden so plastisch beschreibt, dass in den Studenten der Wunsch entflammt, sie wahrhaftig zu ————— 28
29 30 31 32 33
Vgl. Historia C, ed. Riedl, S. [5]. Siehe auch die Abbildung 13 in: Faustbuch, ed. Müller. Dort finden sich auch noch das Titelblatt eines B-Druckes von 1588 (Abb. 14) sowie ein einzeln überlieferter Holzschnitt (Abb. 12), der als Vorlage für den Titelholzschnitt des C-Druck gedient haben könnte. Die Ersetzung der Hölle durch die griechische Unterwelt evoziert einen humanistischen Gelehrtenkontext. Historia C, ed. Riedl, S. 6. Deutsche Übersetzung nach Historia C, ed. Riedl, S. 134. Für dieses und die nachfolgenden lateinischen Zitate siehe ebd. Vgl. Historia C, ed. Riedl, Kommentar, S. 133f. Vgl. die Hinzufügungen des C-Drucks gegenüber dem A-Druck in: Historia C, ed. Riedl: Titelblatt, unpaginiert [S. 5]; Epigramm, S. 6 (dt. Übers. im Kommentar, S. 134); Distichen, S. 118f. (dt. Übers. im Kommentar, S. 199-201) sowie die Kapitel 51-56, S. 83-93.
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Die Transformationsleistungen der Faustbücher
sehen, was ihnen Faustus für die nächste Vorlesung verspricht, die dann einen großen Zulauf an Studenten hat. Mitten in der Vorlesung lässt er die griechischen Helden dann erscheinen. Zuletzt führt er auch noch Polyphem vor, der die Studenten so erschreckt, dass »sie vor schrecken vnd zittern schier nicht gewust haben / wo sie naus sollten«34. Faustus lässt den Spuk dann sogleich verschwinden und den Studenten ist ihre Furcht eine Lehre: »begerten fortan kein solche Gesichte mehr von jhme / weil sie erfahren / was fu֏r Gefahr hiebey zu fu֏rchten.«35 Im nächsten Kapitel verspricht Faustus seinen Universitätskollegen die verlorenen Komödien des Terenz und des Plautus, deren Verlust von ihnen worteich beklagt wird, für kurze Zeit herbeizuschaffen, damit eine Gruppe von Studenten sie abschreiben und so der Gelehrtenwelt zurückgeben könne. Bei dem Gespräch über Terenz und Plautus kommentiert der Erzähler anerkennend, Faustus habe »von beyden Poeten vil vnnd mehr / dann die andern alle / zu reden gewust«36. Auch wenn die Theologen Fausts Vorschlag, die verlorenen Komödien kurzzeitig herbeizuschaffen, unter Hinweis auf mögliche Verfälschungen durch den Teufel zurückweisen und betonen, es seien auch so genügend lateinische Schriften vorhanden, welche die Jugend belehren könnten, verstärken die beiden Kapitel den Aspekt von Fausts humanistischer Gelehrsamkeit gegenüber der A-Version deutlich. In den beiden nachfolgenden, ebenfalls hinzugefügten Kapiteln wird Faustus dann als beliebter Gast und Gastgeber im vertrauten und geselligen Umgang mit Stadtjunkern gezeigt, die sich an seinen »Schwencken«37 erfreuen. Hier ist erstmals explizit von Schwänken die Rede, aber es handelt sich hierbei um die Einschätzung von Fausts Gästen; der Erzähler lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass es sich dabei um Zauberkunststücke handelt. An diese Kapitel schließt sich im 56. Kapitel der Bekehrungsversuch eines Mönchs an (»Ein Münch will Doctor Faustum bekehren«38), der jedoch anders als der Nachbar der A-Version, der hier zwei Kapitel später (Kap. 58) ebenfalls noch auftritt, nicht vorwiegend aus Besorgnis um Fausts Seelenheil agiert, sondern weil dieser sich solchen Zulaufs von »Adelspersonen vnne jungen Ritter[n] von der benachbarten Fu֏rsten vnd Graven Ho֏fen erfreut, […] das zubesorgen / es mo֏chte die zarte Jugend dadurch geergert / vnd etliche verfuhrt werden«39. Dieser Versuch bleibt jedoch ohne jeden Erfolg.40 ————— 34 35 36 37 38 39 40
Historia C, ed. Riedl, S. 85. Ebd. Ebd., S. 86. Ebd., S. 90. Ebd., S. 91f. Ebd., S. 91. Der Name des Mönchs wird mit D. Klinge angegeben. Die Historia C integriert damit eine historische Gestalt in die Erzählung. Doktor Konrad Klinge, der Luther persönlich kannte,
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Der C-Druck nahm durch die Hinzufügungen deutliche Umbesetzungen vor, rückte den Zusammenhang von curiositas und antiker Gelehrsamkeit stärker in den Vordergrund und ergänzte das naturkundliche Interesse durch die klassisch humanistische Hinwendung zur römischen Literatur. Sie erhöhte damit den Anspruch an Faustus und steigerte zugleich seine Attraktivität für gelehrte Kontexte. Die B-Version schlug demgegenüber die entgegengesetzte Richtung ein. Der erste Druck der Ausgabe B (B1) erschien wahrscheinlich noch 1587. Er war mit der Ortsangabe Franckfurt am Main versehen und angeblich in der Offizin von Johann Spies herausgebracht worden. Tatsächlich hat Spies mit dieser veränderte Version jedoch nichts zu tun; sein Name wurde lediglich benutzt, der Name des wirklichen Druckers und der Verlagsort sind unbekannt.41 Im B-Druck wurde noch viel deutlicher in die Vorlage eingegriffen als in der C-Version. Auch der B-Druck bietet acht zusätzliche Kapitel, vor allem aber hat er gegenüber dem Erstdruck eine veränderte Kapitelfolge zwischen dem 35. und 59. Kapitel.42 Die Geschichte von dem späten Racheversuch des Freiherrn (A-Druck, Kap. 56), dem Faustus ein Hirschgeweih auf den Kopf gezaubert hatte (Historia, Kap. 34), die erst unmittelbar vor den Buhlschaften im neunzehnten und zwanzigsten Jahre erzählt wurde, tritt damit unmittelbar nach die beiden Kapitel von Fausts Besuch am Kaiserhof in Innsbruck, bei dem er den Freiherrn zur Belustigung des Kaisers verunstaltet hat. Die in A1 folgende Erzählung »D. Faustus frißt einem Bawren ein Fuder Häuw sampt Wagen und Pferden«, die dort unmittelbar auf die Kaiserhofepisode folgte, ist im B————— 41
42
war nach dem Übertritt Erfurts zur Reformation der einzige katholische Geistliche, der noch Messen in Erfurt lesen durfte. Vgl. Historia C, ed. Riedl, Kommentar, S. 187f. Vgl. Gotzkowsky, Faustbuch, S. 407f. u. S. 412; Henning, Beiträge zur Druckgeschichte, S. 27. Die Fassung B war Henning allerdings lediglich in einem Druck bekannt. Bei ihm fehlen der unveränderte Nachdruck von 1593 (Gotzkowsky Nr. 16, S. 412) sowie der erst 1987 von Peter Amelung entdeckte Druck (Gotzkowsky, Nr. 7, S. 407), der 1588 in Rorschach, vermutlich bei Leonhard Straub, erschienen ist. Vgl. zu diesem Druck Amelung, Ein unbekanntes Faust-Buch von 1588. Da der erste B-Druck das Titelblatt sowie die Widmungsvorrede von Spies und die Vorred an den Christlichen Leser unverändert übernommen hat, ist die Datierung nicht gesichert. Amelung (ebd., S. 178) hält es für möglich, dass der Druck erst 1588 erschienen ist. Der B-Druck wurde 1846 von Johann Scheible nach dem in der Stadtbibliothek Ulm befindlichen Exemplar ediert (Das Kloster, Bd. 2, S. 933-1072) – im Prinzip irrtümlich, weil Scheible ihn für den Erstdruck hielt. Dem Ulmer Exemplar sind auch die bei Füssel/Kreutzer abgedruckten zusätzlichen Kapitel entnommen (vgl. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, Zusatztexte, S. 141-148). Bislang ist der B-Druck nicht neu ediert worden. Die Reihenfolge der Kapitel ist gegenüber dem Erstdruck (A1) folgendermaßen umgestellt: Nach Kap. 35 folgen zunächst die Kap. 56, 37, 44, 44a (das im Register der Erstausgabe fehlt und deshalb künstlich gezählt werden muss), dann 45-50, 36, 40, 42, 43, 39, 38, 41. Nach Kap. 41 sind die ersten sechs neuen Kapitel eingeschoben. Dann folgen die Kapitel 51, 58, 55, 54, 52, 53. Danach kommen zwei weitere neue Kapitel und anschließend Kap. 57. Den Schluss bilden die Kapitel 59-68 wieder in der Reihenfolge von A1.
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Druck weiter nach hinten verschoben und unmittelbar vor das ähnliche Exempel »D. Faustus frißt ein Fuder Häuw« gerückt. Die sechs Episoden mit dem Juden, dem Roßtäuscher etc., die in A auf die Luftfahrt nach München folgten, stehen hier nach dem Exempel, in dem Faustus dem Bauern die Räder vom Wagen zaubert, aber in anderer Reihenfolge, so dass an dieser Stelle die Bauerngeschichten beginnen, zu denen auch der Verkauf der Schweine gehört, und dann der Roßtäuscher, der Jude und die lärmenden Studenten auftreten. Nach diesen sind sechs Geschichten eingeschoben, zwei aus Weier, die übrigen aus Lercheimer, der sie aber von nicht von Faustus, sondern von anderen Zauberern erzählt. Das Schatzgraben, das früher in das »verlauffene 22. Jahr« gesetzt war, folgt jetzt auf die Tötung des Zauberers in Frankfurt. In umgekehrter Reihenfolge schließen sich sodann die zuvor erst nach der zweiten Verschreibung erzählten Exempel von einem Liebeszauber aus dem 17. Jahr (die auch hier in A1 in der Überschrift gegebene Jahreszahl ist ebenfalls weggefallen) und von dem blühenden Garten im Winter an, so dass diese unmittelbar vor dem Bekehrungsversuch des Nachbarn und die dadurch veranlasste zweiten Verschreibung stehen. Im Anschluss an die Verschreibung sind dann wieder zwei Kapitel eingefügt, von denen das eine Weier von Faustus, das andere Lercheimer von einem Zauberer in H[eidelberg?] berichtet hatte.43 Insgesamt gehen die hinzugefügten Kapitel weitgehend auf Exempel zurück, die zuvor bei Weier oder Lercheimer über Faustus oder auch andere Zauberer berichtet worden waren. Offensichtlich hat der Redaktor oder Drucker noch einmal die Prätexte durchforstet und geeignet scheinende Exempel aus Weier und Lercheimer übernommen, die der Erstdruck ausgelassen hatte.44 Durch die Veränderung der Reihenfolge entsteht in Fausts Begegnungen mit Angehörigen unterschiedlicher Stände eine klar strukturierte hierarchische Abfolge: Auf die Begegnungen mit dem Adel, denen sich Fausts Anerkennung in adligen Kreisen entnehmen lässt, folgen die Exempel von Fausts wüsten Gelagen mit den Studenten und die Beschwörung Helenas in ihrem Kreis, an die sich dann die Konflikte und Betrügereien mit Bauern und Händlern anschließen. Aus dieser hierarchisch absteigenden Stufenfolge scheinen das Kapitel 52 »Von einem Hader zwischen 12. Studenten« (in A ————— 43
44
Diese Veränderungen hat bereits Heinrich Düntzer in der Einleitung zu seiner WidmanAusgabe schon einmal kurz zusammengefasst. Vgl. Einleitung zu: Fausts Leben, ed. Düntzer, S. 21. Das ist in der Forschung weitgehend unbemerkt geblieben. Vgl. zu den Veränderungen auch Amelung, Ein unbekanntes Faust-Buch. Roloffs These, die Geschichten aus dem B-Druck würden gegenüber denen der Editio princeps deutlich abfallen und hätten bloßen ›Schwankcharakter«, ohne Faust ernsthaft im Sinne negativer Intention zu kennzeichnen, ist wenig überzeugend. Das aus Weier entnommene Exempel, wie Faustus einen Pfaffen dazu bringt, sich den Bart mit Arsen zu scheren, womit sich dieser erheblich verletzt, kann wohl kaum als belustigender Schwank bezeichnet werden. Vgl. Roloff, Artes et Doctrina, S. 75.
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Kap. 41) und das neue Kapitel 55 »D. Faustus ein guter Schütz« herauszufallen, aber die Studenten treten hier als nächtliche Ruhestörer hervor, und bei dem »grossen Herrn und Könige« in Kapitel 55 ist Faustus nur vorübergehend als Artillerist in Dienst gestellt und kein freundlich empfangener Gast.45 Aus dieser Umstellung ergibt sich also eine klar absteigende Linie in Fausts Sozialbeziehungen: Zunächst erfreut er sich beim Adel großer Anerkennung, aber seine Beliebtheit scheint rasch zu schwinden, denn wenig später ist er nur noch der Patron haltloser und verlotterter Studenten, um sich zuletzt als unstet umherziehender, auf Betrügereien angewiesener Gaukler auf den Straßen und in den Wirtshäusern wiederzufinden. Die letzten Kapitel zeigen ihn nach dem Auffinden des Schatzes in Kapitel 59 wieder in besseren Verhältnissen. Er ist nach Wittenberg zurückgekehrt und hat erneut geselligen Kontakt zu den Studenten. Konsequent ist bei der Erzählung von Fausts Liebeszauber im 61. Kapitel (in A: Kap. 54) auch nicht mehr von »einem vom Adel« die Rede, den die Liebe »anficht«, sondern von einem »Studiosus«, dem Faustus mit der Bezauberung der Begehrten aus seiner Liebespein verhilft.46 Die drei in Wittenberg spielenden Kapitel sind an dieser Stelle notwendig, um den Bekehrungsversuch überhaupt noch motivieren zu können, denn bei einem umherziehenden Gaukler wären die Rolle des Nachbarn und sein Bekehrungsversuch nicht mehr plausibel gewesen. Der B-Druck hat also ausgesprochen zielgerichtete Transformationen vorgenommen und diese konsequent in ein Ablaufschema gebracht, das klare soziale Bezüge hat und weitreichende Aussagen über den Nutzen und Nachteil des Teufelspakts innerhalb der vierundzwanzig Paktjahre macht. Der innerweltliche Erfolg durch Zauberei wird damit erheblich reduziert, er ist ein nur ein kurzfristiger Erfolg, der rasch vergeht.47 Mit der Ausgabe B2 (Rorschach 1588) ist dann noch einmal eine aufschlussreiche Transformation verbunden, denn hier sind gegenüber B1 und A1 im 26. Kapitel, das Fausts Reisen schildert, bei der Beschreibung von Rom die antipäpstlichen Passagen gestrichen und bei der Beschreibung von Köln ist die spöttische Bemerkung über die Reliquien der heiligen drei Könige getilgt.48 Nach der einführenden Bemerkung »Er kam auch vnsichtbar fu֏r deß Bapsts Pallast« fehlt gegenüber dem Spies’schen Erstdruck (A1) und der Version B1 der Abschnitt: da sahe er viel Diener vnd Hoffschrantzen / vnd was Richten vnd Kosten man dem Bapst aufftruge / vnd so vberflu֏ssig / daß D. Faustus darnach zu seinem Geist sagte:
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Vgl. Historia B, ed. Scheible, S. 1041. Vgl. Historia B, ed. Scheible, S. 1046f.; Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 105f.; Faustbuch, ed. Müller, S. 957f. Es ist deshalb umso bedauerlicher, dass der B-Druck bislang nicht kritisch ediert worden ist. Vgl. Amelung, Ein unbekanntes Faust-Buch, Abb 3.
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Pfuy / warumb hat mich der Teuffel nicht auch zu einem Bapst gemacht. Doct. Faustus sahe auch darinnen alle seines gleichen / als vbermut / stoltz / Hochmut / Vermessenheit / fressen / sauffen / Hurerey / Ehebruch / vnnd alles Gottloses Wesen deß Bapsts vnd seines Geschmeiß / also / daß er hernach weiters sagte: Ich meynt / ich were ein Schwein oder Saw des Teuffels / aber er muß mich la֏nger ziehen. Diese Schwein zu Rom sind gema֏stet / vnd alle zeitig zu Braten vnd zu Kochen.49
Nach dieser Auslassung fährt B2 mit »vnd dieweil er viel von Rom gehört / ist er mit seiner Zauberey drey tag vnnd Nacht / vnsichtbar / in deß Bapsts Pallast geblieben«, fort, um anschließend erneut auszulassen, wie Faustus dem Papst mit jämmerlichen Lauten und dem Raub der Schüsseln von dessen üppig gedecktem Tisch zusetzt und sich über die daraufhin angesetzten Seelenmessen und die Verdammung der armen Seele ins Fegefeuer amüsiert. Peter Amelung, der diesen Druck entdeckt und 1988 erstmals beschrieben hat, vermutet in ihm deshalb die Version eines katholischen Druckers, denn »die Absicht dieser Änderungen ist ganz eindeutig, die antikatholischen Akzente zu entschärfen«.50 Wenn diese Deutung zutrifft, heißt das freilich, dass nur sehr geringe Transformationen erforderlich waren, um aus einer in der Forschung immer wieder als strikt gnesiolutheranisch gedeuteten Erzählung eine auch für katholische Leser akzeptable Lektüre zu machen. In der Konsequenz würde das bedeuten, dass die Konfessionalisierung für die Rezeption der Historia sehr viel weniger bedeutsam sein könnte als bislang angenommen.
Der Tübinger Reimfaust Nur wenige Monate nachdem der Erstdruck veröffentlicht worden war, erschien in Tübingen eine versifizierte Fassung der Historia, der Tübinger Reimfaust. Ursprünglich sollte der Reimfaust wohl noch im selben Jahr wie die editio princeps erscheinen, was nur um wenige Tage verfehlt wurde, denn das Kolophon am Ende des Textes gibt an: »M.I.M.G.F.S.G.S. Vollendet den / 7. Januarij / im 1588. Jar«51. Der Reimfaust ist das Werk des Tübinger Magisters und späteren lutherischen Pfarrers Johannes Feinaug52, der den Prosatext in Verse übersetzte53, ————— 49 50 51
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Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 62; Faustbuch, ed. Müller, S. 905. Amelung, Ein unbekanntes Faust-Buch, S. 181. Ebd., S. 288. Mahal hat das Kryptonym als »Magister Iohannes M. G. Feinaug Stutgardianus G. S.« zumindest zur Hälfte plausibel aufgelöst. Die ältere Forschung war von zwei oder mehreren Versifizierern ausgegangen, was Hans Widmann jedoch überzeugend widerlegt hat. Vgl. Ders., Tübingen als Verlagsstadt (II), S. 5. An Widmans Belegen orientiert sich Mahal; vgl. Reimfaust, ed. Mahal, Nachwort, S. 20-23. Zur Biographie Johannes Feinaugs vgl. Reimfaust, ed. Mahal, Nachwort, S. 4ff.
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Der Tübinger Reimfaust
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und des Druckers und Verlegers Alexander Hock, von dem wahrscheinlich die unter die Überschrift »Dem Christlichen Leser glu֏ck / heil / segen vnd alles guts vom Herrn« gestellte Vorrede und die anschließenden »scho֏ne spru֏ch / von den Zauberern vnd Warsagern / auß heiliger vnd Gottlicher schrifft« stammen.54 Den Reimfaust umweht der Ruch des Verbotenen und Gefährlichen, denn der Versifizierer Johannes Feinaug und der Drucker und Verleger Alexander Hock wurden am 18. April 1588 wegen der Veröffentlichung zu Karzerhaft verurteilt.55 Es ist verschiedentlich gemutmaßt worden, der Grund hierfür liege im Inhalt der Faust-Vita, die als gefährlicher Text betrachtet worden sei.56 Diese Annahme kann sich zumindest teilweise auf einen überlieferten Brief stützen, den Feinaug im Kerker geschrieben hat und in dem er erklärt: Cumque eundem etiam aliis in locis iam dudum venalem viderim, nec ego eius author sim, rem non ingratam ac odiosam, sed utilem potius futuram existimavi.57
Worin diese »hassenswerte Sache« bestehen könnte, wird nicht klar: die Aussage kann sich ebensowohl auf den unerlaubten Nachdruck als auch auf den Inhalt der Erzählung beziehen. Feinaug versuchte damit offenbar, die Verantwortung auf den Drucker abzuwälzen. Zumindest behauptete er in dem Brief, er habe die Historia auf vielfältige Bitten in Verse gesetzt, ohne die Gesetze und Regeln zu kennen, die von einem Drucker zu beachten seien.58 Bei diesen Gesetzen und Regeln handelte es sich um die Statuten der Universität Tübingen, die ab 1537 vorschrieben, dass für jedes in Tübingen erscheinende Buch beim Rektor und den vier Dekanen der Universität die Imprimatur eingeholt werden müsse. Auf die Einholung dieser Imprimatur hatte Hock verzichtet und damit das Verfahren ausgelöst, das am 15. April 1588 zu seiner und zu Feinaugs Verurteilung führte.59 Nun wäre es durchaus denkbar, dass Hock wegen des Inhaltes der Teufelsbündnererzählung das Buch nicht zur Vorzensur vorlegen wollte, denkbar ist aber auch, dass er sich nicht mit einem unter Umständen langwierigen Imprimaturverfahren ————— 53
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Feinaug versifizierte den Text in vierhebige Jamben mit häufigen Elisionen, überwiegend männlich endend und paarig gereimt, wobei die Reime jedoch häufig nur in der schwäbischen Mundart funktionieren. Einem Teil der Verse merkt man an, unter welchem Zeitdruck sie entstanden sind. Zu Hocks Lebensdaten vgl. Reimfaust, ed. Mahal, Nachwort, S. 3-4. Vgl. Reimfaust, ed. Mahal, Nachwort, S. 12. Vgl. ed. Henning, Einleitung, S. LIV sowie Kiesewetter, Faust in der Geschichte, S. 70. Reimfaust, ed. Mahal, Nachwort, S. 7. »Da ich auch dieses Buch schon längst an verschiedenen Orten zum Kauf angeboten gesehen habe, bin ich auch nicht als sein Verfasser zu betrachten; der Gedanke, daß es sich um eine unwillkommene und gar hassenswerte Sache handle, ist mir dabei nicht gekommen – viel eher habe ich geglaubt, daß sie künftig von Nutzen sein könnte.« (Ebd., S. 8) Ebd. Zu den Senatsprotokollen des Verfahrens vgl. Reimfaust, ed. Mahal, Nachwort, S. 12-15.
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aufhalten wollte, weil er den Text so schnell wie möglich auf den Markt zu werfen gedachte, wofür eine weitere Verurteilung Hocks wegen Verletzung der Imprimatur-Vorschriften spricht.60 Es ist insofern wahrscheinlich, dass der Reimfaust auf die Initiative des Druckers zurückging. Er war eines jener für das 15. und 16. Jahrhundert typischen Werke, in denen ein Drucker und Verleger am publizistischen Erfolg eines Werkes durch eine populäre Neufassung zu partizipieren versuchte. Versifikationen waren im späten 15. und 16. Jahrhundert relativ beliebt und wurden durchaus auch auf historische Bücher angewendet: So versifizierte Hans Sachs nahezu das gesamte Alte Testament und große Teile des Neuen Testaments und es gab die beliebten Reimchroniken. Auch Mahnliteratur, wie Matthias Hütlins 1510 erschienenes Liber Vagatorum, wurde von Pamphilius Gengenbach und Kunz Has unter dem Titel Der valschen Bettler Teuscherei nicht nur ins Deutsche übersetzt, sondern auch versifiziert. Zeitlich am nächsten steht dem Reimfaust Johann Fischarts Eulenspiegel Reimenweiss von 1572. Solche Versifikationen waren teilweise recht erfolgreich; dem Reimfaust blieb ein ähnlicher buchhändlerischer Erfolg durch die Strafe für Hock und den Einzug der bereits gedruckten Exemplare allerdings verwehrt. Inhaltlich ist der Reimfaust der am wenigsten transformierte Text überhaupt, denn abgesehen von der formalen Transformationsarbeit der Versifizierung finden sich hier die geringsten Veränderungen gegenüber der Vorlage. Der Reimfaust hat zwar vier Teile, aber das setzt lediglich die in der Historia bereits angelegte Zweiteilung des dritten Teils um. Ansonsten ist weder an der Kapitelfolge etwas verändert noch an den Inhalten der Kapitel. Zweifellos gibt es auch hier subtile inhaltliche Transformationen, die aber in der Regel durch das Metrum oder den Reim erzwungen sind. Die Versifikation ist freilich für den Anspruch, Historia zu sein, ein problematisches Verfahren, weil sie das, was sich als unmittelbare textuelle Hinterlassenschaft des Protagonisten gibt, in eine diesem Anspruch fremde Sprachform übersetzt und damit implizit der Behauptung widerspricht, Faust spreche selbst, gleichzeitig aber am Anspruch wahren Berichtens festhält. Die Form produziert so einen performativen Selbstwiderspruch, denn die artifizielle Sprache des Verses verweist bereits darauf, dass eben nicht einfach so erzählt wird, wie es sich zugetragen hat, und wenn Faust selbst zu Wort kommt, schreibt er seinem ehemaligen Kommilitonen nicht einfach einen Brief über die Gestirne, der den Anspruch erhebt, außergewöhnliches Wissen zu demonstrieren, sondern ein Gedicht, das dieses Wissen in Merkverse transformiert. So heißt es in der Historia: ————— 60
Die Verurteilung erfolgte am 20. Oktober 1598 wegen der ungenehmigten Publikation eines Abend- und Morgensegens für Jungfrauen. Vgl. Reimfaust, ed. Mahal, Nachwort, S. 10.
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Das English Faustbook
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Das Gewu֏lcke / so wir vnten in der Welt gesehen / ist so fest vnd dick / wie eine Mawer vnnd Felsen / klar wie ein Cristall / vnd der Regen / so darvon kompt / biß er auff die Erden fa֏llet / so klar / daß man sich darinnen ersehen kann.61
Im Reimfaust ist diese Stelle fast wörtlich übernommen, aber die Transformation in Reime erzeugt im zweiten Teil des Abschnitts Merkverse, die wie zum auswendig Lernen gemacht scheinen: Das gwülck / so ich sah in der welt/ War dick vnd fest/ als ich vermeld/ Gleich wie ein Felß vnd mawren groß/ Hell/ wie Crystall in gleicher maß/ Auch ist der reg / so sich da helt/ Biß das er auff die Erden felt/ So hell vnd klar / das jederman / Sich wol darinn ersehen kann.62
Freilich ist dieser performative Selbstwiderspruch durch den Hinweis in der Vorrede abgemildert, diese Historie, die vor einem halbem Jahr im Druck erschienen sei, werde hier noch einmal in Reimform präsentiert, damit sie dem Christlichen Leser anmutiger und kurzweiliger zu lesen sei, denn dieser Stil werde von vielen bevorzugt.63 Hock setzte damit offenbar auf Gefälligkeit und Unterhaltsamkeit des Stils, was aber keineswegs gleichbedeutend mit einer Verabschiedung des paränetischen Anspruchs ist.
Das English Faustbook The History of the Damnable Life and Deserved Death of Doctor John Faustus ist eine der frühesten Übersetzungen der Historia von D. Johann Fausten, und sie war mit Sicherheit die folgenreichste.64 Sie wurde nicht nur zum Hypotext für eine Reihe weiterer Prosaromane über Teufelsbündner, sondern auch für die Dramatisierung des Faust-Stoffes durch Christopher Marlowe. Hypotext des English Faustbook war vermutlich ein der editio princeps sehr nahestehender Druck der A-Reihe. Zwar scheint das English Faustbook der Wolfenbütteler Handschrift an einigen Stellen näher zu stehen als dem ————— 61 62 63 64
Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 59; Faustbuch, ed. Müller, S. 900. Reimfaust, ed. Mahal, S. 102. Ebd., Vorrede, IIIIb. Zeitlich machen dem English Faustbook nur die niederdeutsche (Lübeck 1588, Henning, Nr. 1031) und die dänische Übersetzung (zuerst Kopenhagen 1588, Henning, Nr. 1052) Konkurrenz. Diese wurden, wie auch die Übersetzung ins Französische (zuerst Paris 1598, Henning, Nr. 1097-1116), zwar mehrfach und bis ins achtzehnte Jahrhundert nachgedruckt, nicht aber zur Vorlage weiterer Bearbeitungen. Diese Übersetzungen waren also nur Hypertexte, nicht ihrerseits wieder Hypotexte.
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Die Transformationsleistungen der Faustbücher
A-Druck65, aber im Druck des English Faustbook von 1592 ist in der Titelei angegeben, die Übersetzung sei gefertigt »according to the true Copie printed at Franckfort«.66 Außerdem fehlen die zusätzlichen Kapitel der Wolfenbütteler Handschrift, was sie als Vorlage ebenso ausschließt wie den Bund C- Druck, denn keines der zusätzlichen Kapitel aus B und C erscheinen im English Faustbook. Da der letzte nachgewiesene Druck der A-Reihe 1588 erschienen ist, ist dies der erste Hinweis auf einen Terminus post quem, möglicherweise aber auch einen Terminus ante quem, denn mit dem Erscheinen der Druckfassung C 1589 löste diese die A-Reihe im Druck komplett ab. Die Übersetzung erschien vermutlich im Sommer oder Herbst 1588, wenngleich der früheste überlieferte Druck von 1592 stammt.67 Genette konstatiert zwar, dass »keine Übersetzung vollständig treu sein kann und jedes Übersetzen an den Sinn des übersetzten Textes rührt«,68 aber abgesehen vom sprichwörtlichen traduttore traditore geht er eher auf Fragen der Übersetzbarkeit grundsätzlich berührende Probleme des lyrischen oder prosaischen Stils ein als auf gezielte semantische und inhaltliche Transformationen. Zweifellos ist es zutreffend, dass solche Transpositionen eine Übersetzung eher begleiten, als dass sie von ihr ipso facto bedingt würden. Historisch betrachtet ist aber zu bedenken, dass die Transposition zumindest in der Frühen Neuzeit die Zwillingsschwester der Übersetzung war.69 Unabhängig davon, ob die Übersetzer für sich reklamierten, sie übersetzten wort- oder sinngemäß, ist Vorlagentreue bei Übersetzungen der Frühen Neuzeit keineswegs die Regel, vielmehr werden Übersetzungen in der Regel zu weitreichenden Transformationen genutzt. John Henry Jones hat die Transformationsfreiheit von der Übersetzung im Umgang mit ihrem Hypotext folgendermaßen zusammengefasst: PF’s translation is by no means exact. Like other Elizabethan translators, he felt free, even impelled, to improve on the original and tailor it to his own design in a manner which would be unthinkable today. But his handling is rarely cavalier; his paraphrasings show a concern for the intention of the source text and, apart from a few clear mistranslations, all his amendments are deliberate, their nature dictated by the gravity of the particular material. Thus while he is prone to paraphrase the short anecdotal tales which probably held little interest for him, his renderings of the dialogues
————— 65 66 67 68 69
Vgl. d’Agostini/Silvani, Faustbuch, S. 34, Anm. 18. English Faustbook, ed. Jones, S. 91 (siehe auch das faksimilierte Titelblatt S. 90). Zum vermutlichen Entstehungsdatum vgl. Jones, Einleitung zu: English Faustbook, ed. Jones, S. 52-71; zur Drucküberlieferung ebd., S. 34-52. Genette, Palimpseste, S. 289. Das gilt zweifellos nicht minder für das Mittelalter und insbesondere im Umgang mit volkssprachlicher Literatur. Zur mittelalterlichen Übersetzungspraxis vgl. Vermeer, Das Übersetzen im Mittelalter; zur frühneuzeitlichen Übersetzungspraxis ders., Das Übersetzen in Renaissance und Humanismus. Zur spätmittelalterlichen Übersetzungspraxis vgl. auch Münkler, Volkssprachlicher Früh- und Hochhumanismus, S. 84-90.
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Das English Faustbook
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and what he considered significant matter are often exact; his departures from his source in these weightier sections are motivated by his own beliefs or incredulities and by a strongly developed dramatic sense which informed some important remodelling.70
Von den quantitativen Transformationen finden sich alle Möglichkeiten nahezu vollständig versammelt: Auslassungen, Hinzufügungen, Ersetzungen, Kürzungen. Ausgeschieden ist etwa das Kapitel 36 des A-Textes (»D. Faustus frist einem Bawern ein fuder Ha֏w / sampt dem Wagen vnd Pferden«), das weitgehend mit dem etwas kürzeren Kap. 40 (»D. Faustus frist ein Fuder Ha֏uw«) identisch ist und eine der mehrfach in der Historia vorkommenden Doppelungen von Anekdoten bildet.71 Es fehlt außerdem das zwischen Fausts zweiter und dritter »Weheklag« stehende Kapitel 65 des A-Textes, in dem Mephostophiles Faust mit höhnischen Sprichwörtern zusetzt.72 Ausgelassen sind auch die sich an die Teufelsverschreibung anschließenden mahnenden Verse (Kap. 7), die drei der gnomischen Eingangsverse aus Sebastian Brants Narrenschiff variieren.73 Der Übersetzer hat neben Doppelungen also alle Kapitel und Abschnitte ausgelassen, die ihm durch ihre Reimform oder idiomatische Prägung Schwierigkeiten hätten bereiten können. Er hat aber auch die Vorrede nicht übersetzt und keine andere Vorrede an ihre Stelle gerückt, so dass der Leser vor der Erzählung keine mahnende Schwelle mehr überschreiten musste, sondern unmittelbar in das Leben des Teufelsbündners eintauchen konnte. Gekürzt oder ersetzt sind die Kapitel 19-21 der Historia (19. »Ein Frag oder Disputatio von der Kunst Astronomia oder Astrologia«; 20. »Vom Winter vnd Sommer«; 21. »Von des Himmels Lauff / Zierde vnnd Vrsprung«), die den Übergang der Fragen von der Hölle zur Astronomie und Astrologie markieren. Diese Kapitel sind im English Faustbook zu einem Kapitel zusammengefaßt (18. »A question put forth by Doctor Faustus to his spirit concerning astronomy«). Hier sind aus der Historia nur wenige einzelne Sätze übersetzt, der größte Teil ist neu hinzugefügt. Mephostophiles’ Antworten auf Fragen der Astronomie und Astrologie entstammen in der Historia dem Elucidarius und präsentieren damit ebenso populäres wie überholtes Wissen. Im English Faustbook stützen sich die Antworten dagegen auf Agrippa von Nettesheim und sind sehr viel elaborierter. Außerdem fordert Mephostophiles in diesem Zusammenhang mehrfach auf, alles ————— 70 71 72 73
English Faustbook, ed. Jones, Introduction, S. 12. Vgl. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 81 u. S. 87; Faustbuch, ed. Müller, S. 928. Vgl. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 115ff.; Faustbuch, ed. Müller, S. 969. Vgl. Brant, Das Narrenschiff, Kap. 3, S. 118 (»Von gytikeit«), Kap. 43, S. 247 (»Verachtung ewiger freyt«), Kap. 45, S. 253 (»Von mutwilligem vngfell«), mit Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 23f.; Faustbuch, ed. Müller, S. 855f.
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Wissbare zu erlernen, um auf diese Weise zu Lebzeiten berühmt zu werden und es über den Tod hinaus zu sein: So, the more thy art is famous whilst thou art here, the greater shall be thy name when thou art gone. Learn, Faustus […] Learn of me, Faustus. I will teach thee, so shalt thou be famous, renowned, far-spoken of and extolled for thy skill.74
Weitgehend durch eigene Hinzufügungen substituiert sind die im 19. Kapitel des English Faustbook zusammengezogenen Kapitel 22 und 23 der Historia über die Erschaffung der Welt (Kap. 22) und die Visitation durch den Teufel mit der Vorführung der »fu֏rnembsten Hellischen Geister« (Kap. 23), was schon an der Überschrift deutlich wird: »How Doctor Faustus fell into despair with himself: for having put forth a question unto his spirit, they fell at variance, whereupon the whole rout of devils appeared unto him, threatening him sharply.«75 Eine entscheidende inhaltliche Transposition besteht darin, dass Faustus nicht den Teufel beschwört, der ihm dann den »Geist« Mephostophiles schickt, sondern er beschwört diesen direkt. Faustus »began to call on Mephostophiles the spirit to charge him in the name of Beelzebub to appear there personally without any long stay«.76 Dadurch wird die im 5. Kapitel der Historia von Faustus gestellte Frage nach dem Namen des Geists sinnlos. Da der Übersetzer sie aber nicht gestrichen hat, führt sie im English Faustbook zu einer spöttisch Bermerkung des Teufels: »My name is as thou sayest, Mephostophiles, and I am a prince but servant to Lucifer.«77 Bemerkenswert ist insgesamt die rhetorische Geschliffenheit in der Kommunikation zwischen Faustus und Mephostophiles. Beide bedienen sich einer sehr viel kunstvolleren Rhetorik als in der Historia. Indirekte Rede ist sehr häufig durch direkte Rede ersetzt, zahlreiche der Erklärungen Mephostophiles’ in den Disputationskapiteln sind umfokalisiert.78 Die Vervielfältigung der Anreden Fausts durch Mephostophiles (»sweet Faustus«, »My Lord Faustus«, »dear Faustus«) ist insgesamt kennzeichnend für das English Faustbook, das die dialogischen Teile seines Hypotextes nicht nur deutlich ausweitet, sondern auch intimer und subtiler gestaltet. So schließt etwa das 11. Kapitel in der Historia mit der knappen Bemerkung Mephostophiles’ »Vnnd also hast du ku֏rtzlich mein Bericht vernommen«,79 während er im English Faustbook seinen Bericht mit der höflichen Bemer————— 74 75 76 77 78 79
Vgl. English Faustbook, ed. Jones, S. 114f. Zur Transposition, die sich damit hinsichtlich der curiositas ergibt, siehe ausführlich Kap. 6. Vgl. English Faustbook, ed. Jones, S. 116-119. Ebd., S. 93. Ebd., S. 97. Siehe dazu ausführlich Kap. 7. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 30; Faustbuch, ed. Müller, S. 864.
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Georg Rudolff Widmans Warhafftige Historien
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kung abschließt: »I have shortly resolved thy request, and more will I do for thee at thy pleasure«80, was Faustus mit einem nicht minder höflichen und vertraulichen »›I thank thee Mephostophiles‹, quoth Faustus, ›Come let us now go rest, for it is night‹«81 quittiert. Die affektiven Wirkungen, die diese Form der Kommunikation auf Faustus hat, werden denn auch deutlich und in Absetzung von der Historia hervorgehoben. Nach einer der Auseinandersetzungen zwischen Faustus und Mephostophiles über den Umfang der Antworten, zu denen Mephostophiles sich Faustus gegenüber verpflichtet hat, verschwindet Mephostophiles abrupt (»he vanished away«) und lässt den ob dieses scheinbaren Beziehungsabbruchs verzweifelten Faustus allein zurück. Whereat Faustus all sorrowful for that he had put forth such a question, fell to weeping and to howling bitterly, not for his sins towards God, but for that the devil was departed from him so suddenly and in such a rage.82
Der Übersetzer des English Faustbook gestaltet damit insbesondere die Beziehung zwischen Faustus und Mephostophiles um und macht sie zu einer sehr viel intimeren Beziehung, in der die kommunikativen Möglichkeiten und Risiken der Teufelsbeziehung deutlich ausgebaut sind. Außerdem bringt er Fausts Wissen auf die Höhe der astronomischen Kenntnisse der Zeit, indem er überholte Prätexte durch aktuellere ersetzt. Das bleibt, wie in den nachfolgenden Kapiteln zu zeigen sein wird, nicht ohne nachhaltige Wirkung auf die Aspekte von curiositas und Melancholie.
Georg Rudolff Widmans Warhafftige Historien Am tiefsten in seinen Hypotext eingegriffen hat Georg Rudolff Widman mit seinen 1599 in Hamburg in der Offizin Hermann Mollers erschienenen Warhafftigen Historien von den grewlichen vnd abschewlichen Su֏nden vnd Lastern / auch von vielen wunderbarlichen vnd seltzamen ebentheurern: So D. Iohannes Fasutus Ein weitberuffener Schwartzku֏nstler vnd Ertzzauberer / durch seine Schwartzkunst / bis an seinen erchrecklichen end hat getrieben.83 Widman ————— 80 81 82 83
English Faustbook, ed. Jones, S. 104 Ebd. Ebd., S. 116. Über die Identität Georg Rudolff Widmans gehen die Meinungen in der Forschung auseinander. Während Carl Kiesewetter davon ausging, dass es sich um den 1570 geborenen dritten Träger dieses Namens der Schwäbisch Haller Familie Widman handelt, hat Gerd Wunder (Georg Rudolf Widman, S. 12) zu zeigen versucht, dass dessen 1550 geborener Vater das Faustbuch abgefaßt hat. Das hat allerdings das Problem, dass Georg Rudolff II. spätestens 1594 verstorben war, folglich die Drucklegung seiner 1599 in Hamburg erschienen Warhafftigen Historien nicht mehr erlebt haben könnte und demnach auch die Datierung der Wid-
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Die Transformationsleistungen der Faustbücher
unterteilte das Werk in drei große, separat gezählte Teile, stellte teilweise die Reihenfolge der Episoden um, strich zahlreiche Kapitel seiner Vorlage, ersetzte sie durch neue und fügte an nahezu jedes einzelne Kapitel einen umfangreichen Kommentar an. Widmans Hypotext war ein Druck der C-Reihe, was schon daraus ersichtlich wird, dass er einige Kapitel aus der C-Reihe aufgenommen hat. Die Kapitel 37 (»Doctor Faustus schencket den Studenten zu Leipzig ein faß Weins«), 38 (»Wie Doctor Faustus zu Erffurdt den Studenten etliche Griechische Helden hatt fuergestellet«) und 39 (»D. Faustus kompt vnuersehens in eine Gaestery«) des C-Drucks finden sich auch bei Widman. Wie in der C-Reihe fehlt bei ihm das Kapitel über den Kometen.84 Widman bietet aber auch zwei Kapitel, die mit den beiden zusätzlichen Kapiteln der Wolfenbütteler Handschrift übereinstimmen: Das Kapitel II, 20 (W Kap. 62) »Doctor Faustus fuehrt einen gefangen vom Adel wieder zu hauß / da sein Weib / ein andere Hochzeit hielt«85 und Kapitel III, 3 bzw. III, 4 (W. Kap. 70) »Doctor Faustus propheceyet / was zukuenfftig gesche—————
84
85
mungsvorrede auf den 12. September 1599 falsch sein müsste. Wunder hat dieses Problem mit der Behelfskonstruktion zu lösen versucht, der Hamburger Verleger oder auch die Söhne Georg Rudolffs II. hätten das falsche Datum unter die Widmung ihres Vaters gesetzt »weil es nicht ungefährlich war, die Geschichte vom Teufelspakt zu veröffentlichen«. Für Wunders Annahme spricht, dass Widman in der Widmungsvorrede von seinem Vater Dr. Georg Rudolff Widman als dem Rat und Advokaten des Grafen von Hohenlohe spricht. Dabei müsste es sich dann zweifellos um den ersten Träger dieses Namens gehandelt haben. Georg Rudolff II. hat allerdings nach den überlieferten Nachrichten, anders als sein Vater und sein Sohn, kein Universitätsstudium absolviert, was m. E. gegen seine Autorschaft spricht, denn der Autor der Warhafftigen Historien war, nach seiner breiten, in die »Erinnerungen« eingebrachten Literaturkenntnis zu urteilen, zweifellos universitär gebildet. Außerdem läge zwischen dem Erscheinen des erkennbar ebenfalls als Prätext verwendeten Wagnerbuches (1598) und Widmans Tod nicht mehr als ein Jahr, was für die Abfassung eines so umfangreichen Werkes ein zu knapper Zeitraum ist. Wenn man überhaupt von dem Versuch, die wahre Autorschaft zu verschleiern, ausgehen will, dürfte ihn wohl eher Georg Rudolff III. unternommen haben, indem er das Werk seinem verstorbenen Vater unterschob. Daneben gäbe es noch die dritte Möglichkeit, dass Georg Rudolff III. das nicht vollendete Werk seines Vaters Georg Rudolff II. überarbeitete, die »Erinnerungen« vor allem um Exempel aus der antiken Literatur ergänzte und zum Abschluss brachte, die Widmung aber im Namen seines Vaters abfasste oder die bereits abgefasste Widmung übernahm und mit dem aktuellen Datum versah. Gewisse Widersprüche zwischen den vorangestellten Paratexten und dem dritten Teil im Hinblick auf die Datierung von Fausts Leben ließen sich so plausibel erklären. Dagegen hat Julius Dumcke angenommen, dass Widmans Hauptquelle ein A-Druck war und er einen C-Druck hinzugezogen hat. Freilich kann er nur zwei Stellen benennen, in denen der Wortlaut bei Widman mit C gegen A übereinstimmt, wohingegen er sechs Stellen anführt, in denen der Wortlaut C und nicht A entspricht. Vgl. Dumcke, Faustbücher, S. 37-40. Zu den bei Widman vorgenommenen Veränderungen vgl. auch Gaertner, Volksbücher und Faustbücher. Widman, Warhafftige Historien, II, S. 104-107. Die Kapitel entsprechen denen der Wolfenbütteler Handschrift nicht vollständig, Widman hat sie, wie die übrigen Kapitel auch, transformiert.
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Georg Rudolff Widmans Warhafftige Historien
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hen solle«86, an die sich die Kapitel »Eine andere Weissagung« sowie »Die dritte Weissagung in gemein«87 anschließen.88 Neben der Widmung und einer »Vorrede an den Christlichen Leser« stellt Widman den Warhafftigen Historien zwei weitere Paratexte voran: die knappe historische Erörterung »Zu welcher zeit Doctor Faustus seine Schwartzkunst hab bekommen vnd geübet«, und die ausführliche »Erzehlung / was D. Luther von D. Fausto gehalten hab«, die sich auf Aurifabers Ausgabe von Luthers Tischreden stützte.89 Neben solchen paratextuellen Hinzufügungen sind insbesondere die Auslassungen bemerkenswert.90 Von den insgesamt 73 Kapiteln des C-Druckes sind 19 Kapitel ganz ausgelassen. Es handelt sich um die Kapitel: 7. Wider D. Fausti Verstockung / ist dieser Verß und Reymen wol zusagen; 16. Ein Disputation von der Hell/ Gehenna genandt/ wie sie erschaffen vnd gestalt seye / auch von der Pein darinnen; 19. Ein Frag oder Disputatio von der Kunst Astronomia oder Astrologia; 20. Vom Winter vnd Sommer; 21. Von des Himmels Lauff / Zierde vnnd Vrsprung; 23. Doct. Fausto wurden alle Hellische Geister in jhrer Gestalt fu֏rgestellet / darunter sieben Fuernembste mit Namen genennet; 24. Wie Doct. Faustus in die Hell gefahren; 25. Wie Doct. Faustus in das Gestirn hinauff gefahren;
————— 86 87 88
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Ebd., III, S. 6-10. Ebd., III, S. 11-14. Das hat in der Forschung schon früh zu Spekulationen geführt, welche Vorlagen Widman zur Verfügung standen. So ist Petsch etwa davon ausgegangen, dass Widman neben dem C-Druck der Historia eine Zwischenstufe des Faustbuches vorlag, die zwischen dem von ihm angenommenen lateinischen Urtext (L) und der Fassung (X) lag, auf die Spies zurückgriff. Vgl. Petsch, Einleitung zu: ed. Petsch, S. XXIII. Ähnlich auch Kiesewetter, Faust in der Geschichte, S. 79. Haile hat diese Auffassung jedoch mit guten Gründen zurückgewiesen. Er ging davon aus, dass Widman dieselbe Quelle wie X oder W benutzt habe, es sich dabei jedoch nicht um eine Zwischenstufe des Faustbuches, sondern um eine unabhängige Quelle gehandelt habe. Daneben nahm er an, dass es Aufzeichnungen gegeben haben müsse, die unter Wagners Namen umliefen (womit er nicht das Wagnerbuch meinte) und dass die von Widman angeführten weiteren Quellen zumindest teilweise keine fingierten, sondern ›echte Quellen‹ seien. Ähnlich wie Petsch war auch Haile der Überzeugung, dass Widman eine größere Zahl von Faust-Dokumenten vorlag, weshalb er ihn als den ersten Faust-Forscher bezeichnete: »Faust research began in earnest with Georg Rudolff Widman.« Vgl. Haile, Widman’s »Wahrhafftige Historia«, S. 355. Dagegen hat schon Düntzer mit merklichem Widerwillen von Widmans »Anmaßung, überall die quellenmäßige Geschichte zu geben«, gesprochen. Vgl. Düntzer, Einleitung zu: Fausts Leben, ed. Düntzer, S. 27. Vgl. Widman, Warhafftige Historien, unpaginiert [XIV-XXI]. Einen knappen Überblick über die Veränderungen bietet Düntzer in der Einleitung zu seiner um die Kommentare gekürzten Ausgabe von Pfitzers Bearbeitung. Vgl. Einleitung zu Fausts Leben, ed. Düntzer, S. 23-27. Vgl. auch Dumcke, Die deutschen Faustbücher; Dirks, Über Widmans Volksbuch vom Doktor Faust.
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Die Transformationsleistungen der Faustbücher
26. D. Fausti dritte Fahrt in etliche Ko֏nigreich vnnd Fu֏rstenthumb / auch fu֏rnembste La֏nder und Sta֏tte; 28. Von einem Cometen; 29. Von den Sternen; 30. Ein Frage von gelegenheit der Geister / so die Menschen plagen; 31. Ein ander Frag /von den Sternen / so auff die Erden fallen; 32. Vom Donner; 57. Von Doct. Fausti Bullschafften in seinem 19. vnd 20. Jahre; 59. Von der Helena auß Griechenland / so dem Fausto Beywohnung gethan in seinem letzten Jahre; 63. Doctor Fausti Weheklag / daß er noch in gutem Leben vnd jungen Tagen sterben mu֏ste; 64. Widerumb ein Klage D. Fausti; 65. Wie der bo֏se Geist dem betru֏bten Fausto mit seltzamen spo֏ttischen Schertzreden vnd Sprichwoertern zusetzt.
Dass diese Auslassungen nicht zufällig erfolgt sind, zeigt schon die ihnen zugrunde liegende Systematik. Ausgeschieden ist der Bereich der sinnlichen Erfahrung mit Höllenfahrt, Gestirnsfahrt und den Reisen durch Europa und Asien; die Darstellung von Faust als naturkundigem Gelehrten, der die Fragen anderer beantwortet; der Bereich von Fausts Sexualität und Teile des Rückzugs auf sich selbst. Daneben sind 9 Kapitel erheblich gekürzt: 3. Folget die Disputation D. Fausti mit dem Geist; 4. Die andere Disputation Fausti mit dem Geist / so Mephostophiles genennet wirdt; 8. Welcherley gestalt der Teuffel Fausto erscheinet; 10. D. Faustus wolte sich verheyrathen; 14. Frag / in was Gestalt die verstossenen Engel gewest; 15. D. Faustus disputirte ferner mit seinem Geist Mephostophile / von Gewalt deß Teuffels; 27. Vom Paradeiß; 44. Was D. Faustus fu֏r ein Abendthewer an deß Fuersten zu Anhalt Hof getriben; 53. Doct. Fausti zweyte Verschreibung / so er seinem Geist vbergeben hat.
Einige Auslassungen werden von Widman in Anmerkungen begründet, die von den übrigen Kommentaren durch die Überschrift NOTA abgegrenzt werden. Die unter dem Titel NOTA firmierenden Kommentare haben grundsätzlich einen textkritischen Charakter gegenüber dem Hypotext der Historia; in ihnen begründet Widman, warum er bestimmte Teile auslässt. So erläutert er in einer NOTA am Ende des zweiten Teils: ICh mag den Christlichen Leser nicht fu֏renthalten / das ich an diesem orte etliche Historien von D. Johanne Fausto gefunden / welche ich auß hochbedencklilchen christlichen Vrsachen nicht hab hieher setzen wollen / als / das ihn der Teuffel noch fortan vom Ehestand abgehalten / vnd in sein hellisch / abschewliche Hurennetz gejagt / jm
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Georg Rudolff Widmans Warhafftige Historien
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auch die Helenam auß der hellen zur beyschlefferin zugeordnet hat / die jhm auch fu֏rs erst ein erschrecklich monstrum / vnnd darnach einen Sohn mit namen Justum gezehlet / wie er auch seine lufftfarth gethan vnd ins gestirn gefahren / vnd hernach ein grosse reise fu֏rgenommen / vnd durch Teutschlandt / Franckreich / Indien / Egypten / Türckeyen vnd Italien gezogen sey / auch was er an etzlichen o֏rtern für ebentheure außgerichtet. Weil ich dann erachtet / das ich solchs ohne beleidigung zu֏chtiger ohren vnd hertzen nicht wol erzehlen ko֏ndte / ein theil auch solcher geschicht geringlich vnd leppisch sind / vnd nit werth oder auch no֏tig / dz derselben sonderlich gedacht werden mu֏chte / als hab ich derselben vmbgang wolmeinentlich nehmen wollen […].91
Die durch die erheblichen Streichungen verursachten Umfangsverluste hat Widman durch 31 neue Kapitel jedoch mehr als ausgeglichen. In Teil I sind folgende Kapitel hinzügefügt: 2. Wie Doct. Faustus durch Wolleben und Muessiggang / zur Zauberkunst ist vervrsachet worden; 4. Faustus sucht in seinen Bu֏chern / was Complexion er habe; 5. Wie Faustus / ehe er den Teuffel beschworen / allerley Za֏uberische stu֏cke vnd Teuffels beschwerungen bekommen / geprobiret / vnd sich in der prob gesterckt habe; 8. Vom Gesprech Doctor Fausti mit dem Geist; 12. Doctor Faustus vertrawet seinem Mephostophili nicht; 14. Folgt wie D. Fausti behausung beschaffen gewesen / vnd was fu֏r ferners gesprech / er mit seinem diener Mephostophiles gehalten hat. Antwort und gegen bericht so Mephostophiles thut; 15. Ein beschreybung / das D. Faustus sich vnterstanden / das er mo֏cht mit seinem Geist von allerley disputiren / was ihm ungefehrlich einfallen mo֏cht / darauff seins Dieners Mephostophilis antwort und verguenstigung folget; 17. Die ander disputation / ob der Geister viel sindt; 23. Die neunde Disputation / ob die Teuffel sehlig werden; 25. Wie Doctor Faustus einen Huendt bey jhm gehabt; 26. Von dem Lust und Zier des D. Fausti behausung; 29. Von des Doctor Fausti Warsagerey; 30. M. Friedrich Bronauer vnterstehet sich seinen Preceptorem D. Faustum auß Gottes Wort zu defendiren; 40. Doctor Faustus verschafft / das die bo֏lckenden Kuehe stille werden; D. Faustus kompt hinein in eine verschlossene Stadt; D. Faustus ergreifft einen Regensbogen mit der Handt; 41. Doctor Faustus hat einen Teuffel geschissen.
In Teil II sind ergänzt: 4. Doct. Faustus machet einem Wirte einen Poltergeist in seiner behausung; 5. Doct. Faustus nimpt einen jungen Schu֏ler zu seinem Famulo und Diener auff / mit namen Johan Waeiger;
————— 91
Widman, Warhafftige Historien, II, S. 135.
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Die Transformationsleistungen der Faustbücher
8. Ein Copey eines Schreibens an den D. Faustum / von einem gespenst in einem Hause; 10. D. Faustus jagt in dem lufft; 12. Von einem zugerichten schoenen Saal; 13. Von einem schonen Gewu֏lck; 16. D. Faustus macht einem Freyherrn / eine scho֏ne lust von vielerley Vogeln; 21. Doctor Faustus fu֏hrete einen Jungen Pfaltzgrauen gehn Heydelberg.
Teil III ist um folgende Kapitel erweitert: 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Der Teuffel gibt dem Fausto seinen dienst vnnd Bundt auff; Ein Theologus kompt zu dem Doct. Fausto jhn zu tro֏sten; Der Teuffel erscheinet dem D. Fausto / vnd disputiret mit jhm; Von Doct. Fausti Schwermu֏tigkeit; Anfechtung Doct. Fausti von der versehung Gottes; Wie Doctor Faustus sich daheim gantz still vnd einsam gehalten hat / da jhme alle schwermu֏tigkeit / trawrigkeit vnd verzweifflung fu֏rgefallen; 11. Von einem Gesprech des Teuffels mit Doct. Fausto; 12. Doctor Faustus gedencket an sein Ende; 14. Doctor Faustus / als er seiner Seligkeit halben in verzweiffelung gefallen vnterstehet sich / die handt an sich zu legen / damit er seines bo֏sen Gewissens abkommen mo֏chte.
Daneben hat Widman in sieben Kapiteln Ergänzungen vorgenommen. In Teil I bei den Kapiteln: 19. Die vierte disputation / weiter von dem Fall der Engel / vnd andere mehr fragen; 19. Die fu֏nffte disputation / was der Geist in dem Himmel gesehen hab; 22. Die achte disputation / von Doct Fausti Seligen und vnseligen standt / darinnen er erstlich gewesen;
In Teil II im Kapitel: 1. Von der andern verschreibung / so Doct. Faustus seinem Geist vbergeben hat;
In Teil III in den Kapiteln: 13. Eine ernstliche Klage Doct. Fausti von der ewigen Quale; 16. Doctor Faustus erkla֏ret sich endtlich fuer den beruffenen gesten / warumb er sie habe fo֏rdern lassen. Gegenantwort: Nach diesem antwortet jhme der Theologus also; 17. Was des Doct. Fausti fernere letzte Bitte gewesen ist.
Die wichtigsten inhaltlichen Transformationen einzelner Aspekte sind die Verlegung des Geburtsortes in die Mark Sondwedel in der Grafschaft Anhalt und des Studienortes von Wittenberg nach Ingolstadt sowie die Änderung des Studienfachs von Theologie zu Medizin, die Einfügung des teuflischen Hunds Praestigiar, der Faustus begleitet, und die Änderung von Wagners
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Namen: Fausts Famulus heißt bei Widman nicht Christoff Wagner, sondern Johann Wäiger (auch Wayger geschrieben, einmal auch Wäigner). Von zentraler Bedeutung ist insbesondere die Verlegung des Studienortes von Wittenberg nach Ingolstadt. Faustus studiert damit nicht mehr an der Universität der Reformatoren, sondern im Zentrum der katholischen Gegenreformation. Mit dieser Transformation wird das Zentrum der Reformation davon entlastet, jenen berüchtigten Teufelsbündner hervorgebracht zu haben, für den es keine Rettung gab. Außerdem konnte Widman auf diese Weise einen generischen Zusammenhang zwischen dem katholischen Segensprechen, das von den Protestanten als magische Handlung denunziert wurde, und der Vorliebe für Zauberei herstellen. Die Verlegung von Fausts Studienort von Wittenberg nach Ingolstadt geht mit einer Modifikation der Diegese einher, nämlich der Veränderung des Paktmotivs, was nach dem Wechsel des Studienortes eigentlich gar nicht mehr nötig gewesen wäre. Da sie aber dennoch stattfindet, muss die Veränderung des Paktmotivs eine stärker determinierte Transformation sein: Bei Widman schließt Faustus den Pakt nicht mehr um seiner curiositas willen, sondern weil er in Saus und Braus leben will. Die narrative Grundstruktur ist durch die Änderungen in der Reihenfolge der Kapitel erheblich verändert. Das biographische Muster von Herkunft, Jugend und Studium, Teufelspakt, vierundzwanzig Paktjahren, Todesangstkrisen und Ermordung durch den Teufel ist zwar beibehalten, aber innerhalb der vierundzwanzig Paktjahre sind entscheidende Umstellungen vorgenommen worden, die sich auf die Aufteilung der Erzählung in insgesamt drei Teile erheblich auswirken. Übernommen ist grundsätzlich die Aufteilung in drei Teile (die für die Historia durch die Zweiteilung des dritten Kapitels aber nicht wirklich gilt), die Zusammensetzung der Teile ist durch die Umstellungen der Kapitelreihenfolge sowie die Auslassungen und Hinzufügungen jedoch deutlich transformiert. Schon im ersten Teil sind vor der Beschwörung des Teufels vier Kapitel eingefügt, in denen Fausts Weg zur Zauberei in einzelnen Schritten beschrieben ist. Als Ursache für sein Interesse an der Zauberkunst werden Wohlleben und Müßiggang angeführt. Anschließend schildert der Erzähler ausführlich, wie Faustus dieses Interesse durch die Beschaffung eines Vorrats von Zauberbüchern und das Studium derselben, die Untersuchung seiner Komplexion und das Einüben der Zauberei zur Vorbereitung auf die Beschwörung des Teufels konsequent umsetzt. Hinzugefügt ist nach der Beschwörung außerdem die Beschreibung von Fausts »Haushaltung« in zwei Kapiteln, an die sich die ersten zehn Disputationskapitel anschließen. Nach dem Teufelspakt stehen zunächst Fausts Haushaltung und sein Verhältnis zu Mephostophiles im Mittelpunkt. Da die Verheiratungsabsicht, die in den vorhergehenden Druckfassungen schon bald nach dem Pakt-
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schluss den ersten scharfen Konflikt zwischen Faustus und Mephostophiles auslöst, hier noch nicht erscheint, sondern weiter nach hinten verschoben ist, entfällt eigentlich die Grundlage für den Streit zwischen Faustus und Mephostophiles. Auf den Konflikt verzichtet Widman allerdings nicht. Er hat in der histoire nur andere Ursachen, nämlich das anfängliche Misstrauen zwischen Faustus und Mephostophiles. Die Zahl der ersten Gespräche zwischen Faustus und Mephostophiles ist von sieben auf zehn ausgedehnt. Auf diese Disputationen folgen bei Widman 6 Kapitel (II, Kap. 25- 30), die sich teilweise in der Historia im dritten Teil finden, teilweise auch neu eingefügt worden sind. Daran schließen sich noch einmal zwei Disputationskapitel an. Im Anschluss an die beiden letzten Disputationskapitel folgen dann fünfzehn Kapitel (I, Kap. 33-47), von denen dreizehn auf den dritten Teil der Historia (inklusive dreier neuer Kapitel aus der C-Reihe, Kap. 37-39) zurückgehen und vier neu hinzugefügt worden sind, wobei sich Kap. 40 im Prinzip in drei Unterkapitel unterteilt,92 die allerdings als eines gezählt werden. Verschoben aus dem zweiten Teil der Historia in den ersten Teil ist bei Widman die Beschreibung von Fausts Tätigkeit als Astronom und Wahrsager, aus dem dritten Teil die Bauernund Betrugs-Exempel, die Abenteuer mit den Erfurter und Leipziger Studenten sowie die Begegnung mit den vier Zauberern. Das führt dazu, dass Fausts Disputationen mit Mephostophiles und Fausts Erlebnisse in der Welt nicht mehr, wie in der Historia, klar voneinander getrennt und in eine zeitliche Ordnung gebracht worden sind, sondern ineinander fließen. Der zweite Teil, der insgesamt 24 Kapitel umfasst, von denen 8 neu sind und eines (Kap. II, 20) inhaltlich mit der Wolfenbütteler Handschrift übereinstimmt, erzählt weitgehend von den Begegnungen mit Adligen und den Vergnügungen mit den Studenten. Die acht neuen Kapitel, deren Herkunft nicht geklärt ist, erzählen Geschichten aus Eisleben, Gotha, Zwickau und Leipzig.93 Der zweite Teil beginnt mit dem Bekehrungsversuch des Nachbarn, dessen Erzählung auf drei Kapitel ausgedehnt und stellenweise von der Figurenrede so stark dominiert wird, dass der Erzähler völlig zurücktritt. In Kap. II, 1 »Von der andern verschreibung / so Doct. Faustus seinem Geist vbergeben hat« berichtet der extradiegetisch-heterodiegetische Erzähler zunächst von dem erfolgversprechenden Versuch des frommen und gottesfürchtigen alten Mannes, Faust zu bekehren. Als Faust dem folgen will, erscheint der Teufel, bedroht und nötigt ihn, mit seinem Blut einen zweiten Pakt niederzuschreiben. Die zweite Verschreibung wird nicht zitiert, obwohl der Erzähler erklärt, sie sei nach seinem »grewlichen todt […] gefunden worden«, ————— 92 93
Vgl. Widman, Warhafftige Historien, I, Kap. 40, S. 303-306. Vgl. die Einleitung zu: Fausts Leben, ed. Düntzer, S. 24.
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um anzufügen, »jedoch hab ich solchs auß vielen beweglichen vrsachen nicht hieher setzen wollen«.94 Stattdessen wird im nächsten Kapitel der bereits gescheiterte Bekehrungsversuch mit der ausführlichen, angeblich nach der Aufzeichnung eines Caspar Moir überlieferten Mahnpredigt des Nachbarn an Faustus wiederholt.95 Der Bekehrungsversuch wird durch die Figurenrede des Nachbarn nicht nur erheblich ausgedehnt, sondern auch argumentativ deutlich vertieft. Damit verwandelt er sich bei Widman in eine nach den rhetorischen Regeln der Homiletik strukturierte Predigt, die zugleich als Exempel möglicher Bekehrungsanstrengungen zu fungieren vermag. Im dritten Kapitel wird – dann wieder mit der extradiegetisch-heterodiegetischen Stimme des Erzählers – von Fausts zweiter Verschreibung erzählt und anschließend darauf hingewiesen, wie er »gegen diesem frommen Mann in ein solche feindtschafft [geriet] / das er endtlich vermeinte jn an leib vnd leben zu schedigen«.96 Der zweite Teil endet dann mit Fausts Wunsch, sich zu verheiraten, der in der Historia unmittelbar auf den Paktschluss folgt.97 Teil zwei beginnt (Bekehrungsversuch) und endet (Heiratswunsch) also mit zentralen Kulminationspunkten der histoire und bildet damit ein zentrales Gelenkstück von Fausts Vita. Am stärksten ausgedehnt und verändert ist der dritte Teil, der im Zuschnitt mit Teil III, 2 der Historia übereinstimmt und ebenfalls mit dem Aufsetzen des Testaments im 24. Paktjahr beginnt. Wie in der Historia folgt darauf die Einsetzung Wagners (Waigers) als Erbe und Nachfolger, woran sich bei Widman die Prophezeiungen anschließen, die in der Wolfenbütteler Handschrift erst unmittelbar vor Fausts Tod stehen. In der Historia erfolgt nach dem Wagner-Kapitel ein großer Zeitsprung, denn im nächsten Kapitel (Kap. 62) hat Faust nur noch einen Monat zu leben, während er bei Widman, der sich zu Beginn des entsprechenden Kapitels eng an die Historia anlehnt (Kap. 5), noch ein halbes Jahr zu leben hat, was Faust selbst berechnet (»vnd rechnete / daß er kein halbes Jahr mehr dahin hette«).98 Dieser Eingriff in den zeitlichen Ablauf hat vor allem die Funktion, Raum zu schaffen für Fausts Schwanken zwischen Reue und Verzweiflung auf der einen und erneuter Sicherheit und Vermessenheit auf der anderen Seite. In den Phasen der Verzweiflung erhält Wagner hier eine völlig neue Rolle als Tröster und Mahner.99 In den ersten beiden Kapiteln des dritten Teils wird er zwar noch ————— 94 95
96 97 98 99
Widman, Warhafftige Historien, II, Kap. 1, S. 3-5. Pfitzer teilt Argument und Auslassung. Die Ansprache des Nachbarn wird in einer Marginalglosse explizit als Predigt bezeichnet: »Wie ein alter Christlicher Man dem Fausto von seinem Gottlosen wesen ein predig thut« (Widman, Warhafftige Historien, II, Kap. 2, S. 11). Widman, Warhafftige Historien, II, Kap. 3, S. 14. Vgl. ebd., II, Kap. 25, S. 124-126. Vgl. Widman, Warhafftige Historien, III, S. 75. Vgl. ebd., III, S. 77f.
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von Faust zu seinem Erben eingesetzt (III, S. 1-3) und wünscht sich einen Geist (III, S. 6), aber danach spricht er Faustus immer wieder Trost zu und fordert ihn auf, sein Seelenheil nicht aufzugeben. Als dies nicht hilft, bringt er schließlich befreundete Theologen zu Faust, damit sie ihn umstimmen. In den anschließenden Disputationen versuchen die Theologen Faustus mit breit dargelegten Argumenten und zahlreichen Exempeln davon zu überzeugen, dass er der Gnade Gottes noch teilhaftig werden könne, wenn er sich vom Teufel abwende und sein Vertrauen gläubig auf Gott richte. Hier sind die stärksten Transformationen gegenüber der Historia vorgenommen, denn Faust ist nicht allein und auf sich selbst zurückgeworfen, sondern in kommunikative Zusammenhänge gerückt. Nicht nur Wa֏iger/Wagner erscheint als sein Tröster, sondern auch der neu eingeführte Theologe tröstet und belehrt ihn mit dem wiederholten Hinweis, er könne immer noch der Gnade Gottes teilhaftig werden. Der Teufel tritt dagegen in eigener Sache als advocatus diaboli auf, d. h. er versucht, Faustus im Gegenzug davon zu überzeugen, dass er verworfen sei. Die Oratio Fausti ad Studiosos schließlich ist bei Widman nicht der Auftakt zu Verwirrung und betretenem Schweigen bei den Freunden und dem Hinweis, man hätte ihm gerne geholfen, aber jetzt sei es zu spät, sondern zu einem extrem umfangreichen Argumentationsgang, in dem der anwesende Theologe Faustus noch einmal davon zu überzeugen versucht, dass es noch Rettung für ihn geben könne. Insgesamt ist Faust bei Widman stärker auf Ambivalenz hin angelegt. Während der Faust der Historia im Teil III, 2 völlig verzweifelt ist, schwankt der Faust des dritten Teils bei Widman zwischen Hoffnung, Verzweiflung, die im Selbstmordversuch gipfelt, und erneuter heilloser Sicherheit, die zur Wiederaufnahme des »epikurischen Lebens« führt, um dann in Überdruss zu münden. Die drei Schlusskapitel beschreiben dann Fausts Tod, seine Beisetzung sowie das Verschwinden seines Sohnes und Helenas, was bei Widman insofern eine besondere Schwierigkeit bildet, als Helena zuvor in keinem Kapitel erscheint. Ihre Beschreibung ist in eine Erzähleranmerkung verbannt.100 Das letzte, neu hinzugefügte Kapitel berichtet von Fausts Wiedererscheinen nach seinem Tod. Bei Widman finden sich auch deutliche Ansätze dazu, Wa֏iger narrativ stärker zu integrieren oder ihn zumindest sehr viel häufiger als Augenzeugen einzusetzen. Das Kapitel »Von einem zugerichten schönen Saal«, den Faustus für Kaiser Maximilian herbeigezaubert hat, gibt sich als die unmittelbare Wiedergabe eines Berichts, den Johan Wäiger abgefasst haben soll: »Also schreibt Johan Wa֏iger«.101 In dieser Funktion wird er auch im nächs————— 100 Vgl. Widman, Warhafftige Historien, II, S. 135. 101 Ebd., II, S. 76.
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ten Kapitel eingesetzt, das die Zaubereien für Kaiser Maximilian fortführt, wenn es am Ende des Kapitels heißt, »Diese geschicht hat Joh. Wa֏iger auch fleißig auffgezeichnet.«102 Wa֏iger wird insgesamt öfter als Zeuge angeführt, so etwa in Teil II, Kap. 7: »Wa֏iger des Fausti Diener meldet«, was noch mit der Marginalglosse »Johan Wa֏igers Faustus Famuli zeugnus« bekräftigt wird.103 Widman fügt neben Wa֏iger aber auch drei weitere Zeugen ein, denen er verschiedentlich Dokumente unterschiebt: Christoff Haylinger (I, 23), den Prälaten Azzolini (I, 229) sowie Caspar Moir (Vorrede 3, I, 202203, 204-207; II, 23). Als Widman seine Historien abfasst, ist das Wagnerbuch bereits auf dem Markt und Widman nutzt es als zusätzliche Quelle, die er in den »Erinnerungen« immer wieder anführt.104 Er widmet der Aufnahme Wagners / Wäigers bei Faust und dem Fortgang der Beziehung zwischen Faust und seinem Famulus aber auch ein eigenes Kapitel, das weit über die dürftigen Worte in der Historia hinausgeht.105 Auffällig, aber kaum überraschend ist, dass Widman das Verfahren der Einsetzung neuer Zeugen vor allem bei den Kapiteln nutzt, die er hinzugefügt hat. Von den siebzehn zusätzlichen Kapiteln bei Widman gibt er bei sieben als Quellen Fausts Freunde an, vier von ihnen werden als Briefe zitiert.106 Die Einsetzung weiterer Zeugen verstärkt zweifellos Widmans Anspruch, historisch wahr zu berichten. Den Anspruch, er habe die ›wahre‹ Historie nach den ›wahren‹ Quellen erstmals aufgezeichnet, formuliert Widman bereits in der Widmungsvorrede: Ob nun aber / wolgeborner gnediger Herr / die geschichten vnd Historien / des verwegnen vnd Gottlosen Manns Doctoris Johannis Fausti / sich vor vielen jahren zugetragen vnd begeben haben / davon auch viel sagens bey den Leuten gewest / so sindt doch dieselben noch biß daher nicht recht fu֏rhanden / sintemahl sie vnter den studenten lange zeit verborgen haben gelegen / vnd ob sie wol dermal eins zusammen sindt geraffelt / auß den brieffen derjennigen / so vmb Faustum gewest sindt / alss Thomas Wolhalt / Thomas Hamer / Christoff Hayllinger / Caspar Moir / Friederich Bronauer / Gabriel Renner / Johann Victor / vnd ander die es jhren Freundten vnd verwandten zugeschrieben / wie dann auch Doctor Faustus selbst befahle seinem Diener / dem er sein gut vnd erbschafft legierte / Johann Wa֏iger genant / das er alles fleissig seim thun / leben vnd wandel betreffend / sollte beschreiben / so ist doch noch biß auff dise zeit die warhafft Histori von gedachtem Fausto nit recht an tag kommen. Weil ich dann die recht warhafft Histori / im rechten original in meinen henden vnnd gewaltsam gehabt / vnd no֏tig erachtet / das sie menniglichem zur warnung an tag mo֏cht gebracht
————— 102 103 104 105 106
Ebd., II, S. 80. Ebd., II, Kap. 7, S. 40. Vgl. ebd.., II, S. 60, 89. Ebd., II, S. 30-32. Vgl. die Auflistung bei Haile, Widmans »Wahrhafftige Historia«, S. 354.
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werden / hab ich dieselb mit nothwendigen erinnerungen publicieren wollen / der gewissen zuuersicht vnd hoffnung / weil es ein newe Historia vnd werck / es wu֏rd seine Telemachos finden / die es mit lust durchlesen / und anho֏ren / vnnd Gottesfurcht darauß lehrnen wu֏rden.107
Und in der anschließenden »Vorrede an den Christlichen Leser« bekräftigt er diesen Anspruch noch einmal: Solches hab ich zum eingang dem Christlichen Leser erinnern wollen / dabey ich dann auch nicht mag vnuermeldet lassen / ob wol die Historien des Doctoris Fausti schon vor diesem in den Truck ist verfertigt worden / jedoch weil dieselbe wunderlich daher rauscht / vnnd auch die gantze Histori darinnen nicht ist all begriffen / daß in diesem Buch dargegen ein genu֏ge geschehen soll / jedoch das auch nicht alles / was zu֏chtige ohren vnnd hertzen betru֏ben mu֏cht / sol erzehlet werden. Mag auch mit warheit vnd gutem gewissen sagen / das diese meine edition dem rechten vnnd warhafften Original / so von Johan Wäyger / vnnd andern Fausti bekandten ist hinderlassen / gemeß sey.108
Freilich konterkariert Widman den Anspruch wahrhaftigen Erzählens hier bereits durch das Eingeständnis, das er ausgelassen habe, »was zu֏chtige ohren vnnd hertzen betru֏ben mu֏cht«. Am auffälligsten unterscheiden sich Widmans Warhafftige Historien von der Historia durch die als »Erinnerungen« bezeichneten Kommentare, die er nahezu jedem Kapitel anfügt.109 Jedes einzelne Kapitel wird mit einem kürzeren oder längeren Kommentar versehen, der kleiner gesetzt ist als die Erzählung. Widman kommentiert dabei nicht nur die an Faustus deutlich werdenden Aspekte exemplarischer Sündhaftigkeit; zumeist implizit, gelegentlich aber auch explizit kommentiert er auch den zugrunde liegenden Hypotext, die Historia von D. Johann Fausten. Das zeigt sich am deutlichsten, wenn Widman in den kommentierten Kapiteln inhaltliche Transformationen vorgenommen hat, die er dann wieder kommentiert. Das ausführliche Kommentieren einer Langerzählung ist zu diesem Zeitpunkt eher ungewöhnlich.110 Es begegnet vorwiegend in homiletischen Werken, in Exempelsammlungen etc. So findet sich im 6. und 7. Buch von Hans Wilhelm Kirchhofs Wendunmuth (1563/1602) eine Reihe von Kapiteln ————— 107 Widman, Warhafftige Historien, Widmungsvorrede, unpaginiert [S. IIf.] Widmans insgesamt vier Vorreden (die Widmungsvorrede, die Vorrede an den Christlichen Leser, die Notiz »Zuwelcher zeit Doctor Faustus seine Schwartzkunst hab bekommen vnd geu֏bet« und schließlich die »Erzehlung/was D. Luther von D. Fausto gehalten hab«) sind unpaginiert, ich gebe sie zum leichteren Auffinden der zitierten Textstellen deshalb in eckigen Klammern mit römischen Ziffern nach meiner eigenen Zählung an, beginnend mit dem Anfang der ersten Vorrede als Seite I (»Dem Wolgeborenen Herrn/Herrn Georg Friedrichen/Grauen von Hohenloe/vnd Herrn zu Langenburg/meinem gnedigen Herrn«). 108 Widman, Warhafftige Historien, Vorrede an den Christlichen Leser, unpaginiert [S. XII]. 109 Genette bezeichnet dieses Verfahren des Kommentierens eines vorgängigen Textes als Metatextualität. Vgl. Genette, Palimpseste, S. 13. 110 Vgl. Gaertner, Volksbücher und Faustbücher, S. 136f.
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mit dem Titel »Erinnerungen«, welche die je vorhergehenden Kapitel kommentieren.111 Die Kommentare bestehen zumeist aus allgemeineren moralisierenden Betrachtungen. Allerdings handelt es sich bei Kirchhofs Wendunmuth um eine aus einzelnen abgeschlossenen Kurzerzählungen bestehende Fazetien- und Exempelsammlung, weshalb die Kommentare, anders als bei Widman, nicht den Erzählfluss unterbrechen. Kirchhofs Verfahren des moralischen Kommentars entspricht der geläufigen Praxis der Homiletik, denn der auslegende Kommentar ist eines der zentralen Verfahren der Predigt. Das Verfahren gehört also grundlegend der religiösen Kommunikation an. Es findet sich auch in Hieronymus Rauschers polemischer Lügendensammlung Hundert Außerwelte, große, vnuerschempte, feiste, wolgemeste, erstunkene Papistische Lügen [..].112 Rauscher verwendet für seine Kommentare denselben Terminus wie Kirchhof und Widman: »Erinnerungen«. Er kommentiert jede einzelne der berichteten »Lügenden« mit dem Ziel, ihre Unglaubwürdigkeit aufzuweisen. Bei ihm sind die Kommentare jedoch ein klar zuzuordnendes Verfahren des polemisch-denunziatorischen Programms der »Lügenden«-sammlung, während bei Widman die Funktion der Kommentare sehr viel differenzierter ist. Widmans Kommentare sind überaus gelehrt, gelegentlich fügt er Exempel aus der antiken Literatur an.113 Daneben erläutert er vorwiegend, ob bestimmte Zauberkunststücke möglich seien, woher gewisse Praktiken stammen, warum sie verwerflich seien, was die Bibel dazu äußere und ergeht sich in langen Ausführungen über das Papsttum und dessen verwerfliches Treiben, das er als Ursache für das Überhandnehmen des Zaubereiwesens in der Welt betrachtet.114 Ich will das exemplarisch an der »Erinnerung« zu Kapitel I, 33 über den Mantelflug zu »des Beyern Fu֏rsten Sohns Hochzeit« erläutern. Der Kommentar untergliedert sich in drei Teile: eine pädagogische Erwägung über die Kinder »grosser Herrn«, eine Erörterung der Frage, ob der Mantelflug möglich sei, und schließlich ein ursprünglich von Caspar Hedio berichtetes Exempel über die Gefangenschaft Herzog Friedrichs, aus der ihn ein Zauberer zu befreien versprach. Über die Kinder »großer Herrn« urteilt Widman in Anlehnung an Luther außerordentlich milde: ————— 111 Kirchhofs Wendunmuth erschien in zwei Teilen: Teil 1 kam 1563 heraus, die Teile 2-7 1602/03. Vgl. Röcke, Fiktionale Literatur und literarischer Markt, S. 475ff. 112 Vgl. Hieronymus Rauscher, Hundert Außerwelte, große, vnuerschempte, feiste, wolgemeste, erstunkene Papistische Lügen […], Regenspurg M.D.LXII. Zu den Erinnerungen bei Rauscher vgl. Schenda, Hieronymus Rauscher, S. 252-254 113 Gaertners (Volksbücher und Faustbücher, S. 133) Einschätzung, die »Erinnerungen« hätten »subjektiv-belehrenden Charakter« scheint mir nicht überzeugend. 114 Vgl. beispielsweise Widman, Warhafftige Historien, II, S. 127-131.
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Was nun auch von dieser Histori zu handeln sey / wollen wir nur kurtzlich vberlauffen / vnnd sehen anfenglich / was arth in der jugendt / sonderlich grosser Herren Kinder stecke / nemlich das sie geartet sint / nur nach dem so hoch vnd prechtlich einher gehet. […] Aber wenn sie hernach in das regiment vnd alter koɤen / so vergehet jnen der kutzel etlicher massen / wie D. Luther sagt / Junge Herrn mu֏ssen gute tag haben / vnd ein frischen muth biß ins 20. jar / aber darnach tro֏ste sie Gott / wenn Sie ins Regiment kommen / da werden jhnen die guten tage versaltzen / Item die jugendt oder ein junger Mensche / ist wie ein newer Most / der lest sich nicht halten / muß gehen vnd vbergehen / […].115
Als wäre er besorgt über die mögliche Missverständlichkeit dieser Erklärung fügt Widman am Ende des Abschnitts an, »mit diesem aber wil ich sie darumb nicht loben / als das sie sich in so֏lche gefahr haben begeben«116, was freilich den Akzent weniger auf die Verurteilung ihres verwerflichen Tuns legt, als auf das Risiko, das sie damit eingegangen sind. Daran schließt sich dann die Erörterung über die Möglichkeit des Mantelfluges an, die, wie schon der erste Teil des Kommentars, von einer am Anfang stehenden Marginalnotiz begleitet wird, in dem der Inhalt des Abschnitts zusammengefasst ist. Es ist aber in der Histori begriffen / wie D. Faustus die drey junge Herrn / in einen Mantel gesetzt / vnnd sie in den Lu֏fften dahin gefu֏hrt hab. Darauff folget die frag / ob solches hab mu֏glich sein können: antwordt / ja / denn da stehet das Exempel Matth. 4. Marc. 1. Luce 4. das der Sathan den Herrn Christum in der Wu֏sten hat genommen / vnd jhn gen Jerusalem auff die spitzen oder Zinnen des Tempels geführt […]. Ists nun dem teuffel mu֏glich gewesen ein lufftfart mit dem sohn Gottes zutreiben / viel mehr ist jhm das auch mu֏glich. Auch geschach es geistlicher weiß / wie dann die Engel Geister sindt / […]. So֏lche Exempel siehet man viel an dem Zoroastre / wie er in den Lu֏fften hin vnnd wieder ist gefahren / an dem Simone Mago / an dem Virgilio / vnd andern / […] / so war zu Halberstatt ein Nigromanticus Johannes Teutonicus ein Chorherr / der fu֏hret etliche gesellschafften auch in einem Mantel an ein ort / da sie essen vnd trincken gnug vnd volauff gehabt haben / vnd in dieser histori wirdt auch gemeldt werden / wie D. Faustus etliche Studenten gehen Salzburg in den keller gefu֏hrt hat. Das kondte ich auch weitleuffiger außfu֏hren / wann ich auch schreiben wolt von den Hexen und vnholden / wie gar mancherley weis sie hin und wieder fahren / aber ich wils ku֏rtze halber einstellen.117
Den dritten Teil der Erinnerung bildet dann eine Erzählung Caspar Hedios über die Gefangenschaft Herzog Friedrichs in Österreich.118 Die lehrhafte Geschichte erzählt von der Verlockung der Hilfszauberei und dem Sieg der Frömmigkeit über sie. Ein Zauberer verspricht dessen Bruder Lupold, er ————— 115 116 117 118
Widman, Warhafftige Historien, I, S. 264. Ebd. Ebd., I, S. 263f. Ebd., I, S. 264f.
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könne ihn befreien, aber als sein Geist bei Herzog Friedrich in der Zelle auftaucht, weigert sich dieser, sogleich mitzugehen und fragt nach, wer er sei. Gleichzeit überfällt den Herzog eine große Angst, er bekreuzigt sich und daraufhin ist der Geist verschwunden. Danach, so berichtet Widman, habe Herzog Lupold König Ludovicum so lange mit Feuer und Schwert verfolgt, bis dieser nach langen Unterhandlungen seinen Bruder schließlich freigelassen habe. Diese mehrteilige Struktur ist typisch für die Kommentare. Jedes Kapitel der Historie bietet Anlass für unterschiedliche Erörterungen, die mit dem erzählten Sachverhalt in Zusammenhang stehen. Sie können sich sowohl auf den Kern des erzählten Sachverhalts beziehen als auch auf bestimmte Nebenaspekte, die sich aus der Erzählung ergeben. Häufig mischt Widman dämonologische und moralische Erörterungen, die er dann mit einem Exempel abrundet. Dabei bewertet er nicht nur Fausts Handlungen moralisch, sondern auch die Handlungen anderer, wobei keineswegs klar ist, wer dabei schlechter abschneidet. Der grundlegende Effekt der Kommentare ist, dass sie den Fluss der Narration permanent unterbrechen und damit die narrative Kohärenz der Erzählung unterminieren. Insbesondere verhindern die Kommentare auf diese Weise, dass die Erzählung einen narrativen Sog entwickeln kann, der den Leser allzu sehr in die Welt der Erzählung involviert. Widmans Kommentare kontrollieren insofern zugleich die Erzählung und den Leser, der nicht mehr frei ist, seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Nicht zuletzt werden auf diese Weise die Affekte des Lesers unter Kontrolle gehalten. Seine Identifikation mit dem Teufelsbündner, vor der schon die Vorreden der vorhergehenden Faustversionen vielfach gewarnt haben, wird relativ wirkungsvoll blockiert. Wann immer Faustus oder auch Mephostophiles übermäßig interessant oder attraktiv erscheinen könnten, tritt der Kommentator dazwischen, ordnet, erläutert und mahnt. Der Leser ist nie mit Faustus und Mephostophiles allein. Wenn er sich in seine Kammer zurückzieht, um in der stillen Lektüre mit dem Teufelsbündner in einen Dialog zu treten, ist Georg Rudolff Widman immer schon da, blickt ihm über die Schulter und sagt ihm, was er denken soll.
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Christian Nikolaus Pfitzers Das ärgerliche Leben Hypertextualität erreicht in der Geschichte der Faust-Bücher mit der 1674 erschienenen Bearbeitung des Nürnberger Arztes Christian Nikolaus Pfitzer ihren Höhepunkt, denn Pfitzer hat als Hypotext nicht nur die Historia, sondern auch Widmans Bearbeitung. Pfitzers Das ärgerliche Leben und schreckliche Ende deß viel-berüchtigten Ertz-Schwartzkünstlers Johannis Faust ist also ein Hyper-Hypertext. Pfitzers Hypotext ist vorwiegend Widman, stellenweise aber auch die Historia, und zwar vermutlich der A-Text, wie ein Vergleich mehrerer Kapitel zeigt. So beruht das 22. Kapitel des II. Teils bei Pfitzer »Wie der Geist Mephostophiles dem D. Fausto auf sein Begehren, weiln er sich nicht verheurathen dörffen, die schöne Helena aus Griechenland, zu einer Beyschläfferin geschaffet; mit welcher er einen Sohn erzeuget«119, das bei Widman fehlt, auf dem 59. Kapitel des A-Textes der Historia, und Kapitel 9 des III. Teils »Dem D. Fausto träumet von der Hölle«120 transformiert Kapitel 64 des A-Textes der Historia. Daneben enthält Pfitzers Ärgerliches Leben auch das weder in der A-Reihe noch bei Widman vorkommende Kapitel 57 der B-Reihe »D. Faustus frißt einen Hausknecht«, das bei ihm das 44. Kapitel des ersten Teils bildet. Er könnte dieses Exempel allerdings auch Lercheimer, der es zuerst erzählt hat, oder Freudius, den er in den Anmerckungen zu den Kapiteln wiederholt anführt, entnommen haben.121 Ein weiteres Kapitel der B-Reihe (Faustus zaubert Weinstöcke) findet sich als Exempel in der Anmerkung zum 11. Kapitel des II. Teils unter der Überschrift »Von einem schönen Saal, den D. Faustus durch Zauberey dem Käiser Maximiliano zubereitet hat«.122 Bemerkenswert ist auch, dass Fausts Famulus bei Pfitzer wieder Wagner heißt. Kürzungen hat Pfitzer in verschiedenen Kapiteln vorgenommen, auffällig sind sie insbesondere bei dem Bekehrungsversuch des Nachbarn, dessen von Widman vorgeblich nach den Aufzeichnungen von Caspar Moir wörtlich zitierte Predigt Pfitzer auslässt.123 Das erklärt sich in erster Linie aus der im Kommentar geäußerten Überzeugung Pfitzers, dass die Verfolgung der Zauberer Aufgabe der Obrigkeit sei, was in der Bemerkung gipfelt, der Nachbar habe Faustus deshalb zu bekehren versucht, weil er ihn vor der Verfolgung durch die Obrigkeit schützen wollte: ————— 119 Pfitzer, Das ärgerliche Leben, S. 522-523; Kommentar S. 523-530. 120 Ebd., S. 578f. 121 Die entsprechenden Stellen bei Lercheimer und bei Freudius sind bei Tille aufgenommen. Vgl. Tille, Faustsplitter, Nr. 30, S. 58f. (Lercheimer) sowie Nr. 120, 219f. S. (Freudius). 122 Vgl. Pfitzer, Das ärgerliche Leben, S. 439. 123 Vgl. Widman, Warhafftige Historien, II, Kap. 2, S. 10-13; Pfitzer, Das ärgerliche Leben, S. 357-359.
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Christian Nikolaus Pfitzers Das ärgerliche Leben
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Darnach und zum andern, ist bey der Person dieses frommen Alten, deme nemlich das beschreyte Zauberwesen D. Fausti nunmehr etlicher massen bekannt war, und der deßwegen zu ihm kommen, ihn davon abzumahnen, damit er nicht in der Obrigkeit Hände gerathe, die es gewislich straffen würde, zu lernen, daß es in allwege einer Christlichen Obrigkeit gebühre und zustehe, wenn sie vermercket, daß in ihren Gerichten und Gebiete sich solche verdächtigen Personen aufhalten, nach dieser Verhalten eigentliche Nachforschung anzustellen, und darzu die ihnen in den Rechten geweisete zulässige Mittel ohne Verzug zu gebrauchen.124
Komplett gestrichen hat Pfitzer in Teil I die von Widman eingefügte Verteidigung Fausts durch den »gelarten Magister Friderich Bronauer von Schweinitz«125 sowie den falschen Schöpfungsbericht des Teufels.126 Getilgt ist außerdem das nur bei Widman vorkommende, eher grobianisch zu nennende Kapitel »Doctor Faustus hat einen Teuffel geschissen« mit lokalen Bezügen auf Widmans Heimatstadt Schwäbisch Hall. Es schildert einen angeblichen Aufenthalt Fausts in Schwäbisch Hall, bei dem er mit einer Gruppe von Salzsiedern aneinander gerät, die von Widman als boshafte Spötter präsentiert werden: denn es ist vmb die Sieder ein solches volck / wie in solcher Stadt ein sprichwordt ist / das / wenn Christus selbsten solt durch das Hall gehen / er ohn gespo֏tt / oder vnbeschissen nicht daruon kommen wu֏rd / also wiederfuhr es dem D. Fausto auch / denn einer sagt / wer ist dieser klein hockend Mann / der ander antwortet / es ist der Esopus / der dritte sagt / es ist der Bandelstrobel. Solches gespott ist dem D. Fausto durch seine kunst bewust gewesen / vnd als er auch zimlich bezecht war / redet er sie an / was er jhrs gespo֏tts bedo֏rfft / sie wollten gerne das er jhnen einen Teuffel schisse / Des musten die Sieder erst recht lachen. D. Faustus nicht vnbehend / zeucht die Hosen ab / zeigt jnen den hindersten / da fuhr heraus ein gantz fewriger strahl / auff die Sieder zu / […] / da sie solches sahen / sie nicht vnbehend / vnd lieffen von dem geheng.127
Widman lässt dieses Kapitel unkommentiert, was neben der Ortsangabe zusätzlich darauf verweist, dass es auf lokale Überlieferung zurückgeht. Obwohl es sich durchaus für einen hinzuzufügenden Kommentar geeignet hätte, der eine Verbindung zu Luthers teilweise nicht minder grobianischen Ratschlägen für die Vertreibung des Teufels hätte herstellen können, hat Pfitzer es ausgelassen; möglicherweise, weil er das Exempel für nicht originär hielt, sondern als auf Faustus übertragen betrachtete, insofern es dem üblichen Erzählduktus nicht entsprach. An anderen Stellen erklärt Pfitzer gelegentlich, diese oder jene Erzählung könne auch auf Faustus übertragen worden sein. So notierte er zur Auferweckung Alexanders des Großen vor Kaiser Maximilian: ————— 124 125 126 127
Pfitzer, Das ärgerliche Leben, S. 372. Widman, Warhafftige Historien, I, S. 229 [recte 239] -242. Vgl. Ebd., I, S. 252-254. Ebd., I. S. 310f.
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Die Transformationsleistungen der Faustbücher
Eine gleichmässige Geschicht melden andere Scribenten von Joh. Trithemio, daß er dem Kaiser Maximiliano (ob es nun eben diese D. Fausti Geschicht ist, nur daß die Namen verändert worden, oder aber solche sich nach Fausti Tod bey dem Kaiser zu getragen, stehet dahin).128
Pfitzer weist damit auf den prätextuellen Charakter der Erzählung hin und legt so implizit die Axt an die Wurzel ihrer Glaubwürdigkeit. Gegenüber Widman ergänzt und erweitert er insbesondere die Paratexte erheblich. Die Paratexte umfassen neben einer weiteren Vorrede, einem ausführlichen Inhaltsverzeichnis und einem Register insbesondere Texte, die sich dem Hexen- und Zauberwesen widmen. 1. Vorrede an den günstigen Leser; 2. Verzeichniß so wol der Capitel deß ganzen Buches als aller daselbst befindlichen Anmerckungen129; 3. Kurtzer, nothwendiger und wolgegründeter Bericht von dem Zauberischen Beschweren und Segensprechen Durch den seligen Herrn Conradum Wolff: Platzium, weiland der heiligen Schrifft Doctorn und Predigern zu Bibrach, vor vielen Jahren gantz lehrreich verfasst und zusammen getragen: Anjetzo allen und jeden Christen, zu einer nützlichen Vermahnung und Warnung, für solchen bösen Sachen, wiederum aufgelegt.130
Nachgestellt sind: 1. Register der vornemsten Sachen, so in dieser Historien, vor-nemlich aber in den Anmerckungen begriffen;131 2. Anhang oder kutzer Bericht von der Lappländer Zauber-Kunst, Hexerey, und Wahrsagerey; wie auch von den Werck-Mitteln, die sie entweder zum Wahrsagen, oder zur Beschädigung anderer Leute, gebrauchen: Aus der neuen Lapponischen Beschreibung Herrn Johannis Schefferi, weiland Professorn der Hohen Schul zu Upsal, in Schweden, zusammen gezogen, und verteutschet, durch C. Fr.132 (651-720) 3. Register über den Anhang.133
Die Kommentare heißen bei Pfitzer nunmehr »Anmerckungen«. Zu ihrer Struktur und Funktion äußert Pfitzer sich in der »Vorrede«, wo er sie entgegen der sonstigen Verwendung in Anlehnung an Widman »Erinnerungen« nennt: Über das ist auch diese Edition mit vielen Christlichen Erinnerungen, welche obbesagter Autor vor Jahren darzu gethan, stattlich, und hoffentlich erbaulich versehen: an-
————— 128 129 130 131 132 133
Pfitzer, Das ärgerliche Leben, S. 433. Dadurch ist das Inhaltsverzeichnis mit 22 Seiten extrem lang. Pfitzer, Das ärgerliche Leben, S. 31-60. Ebd., S. 633-649. Ebd., S. 651-720. Ebd., S. 721-724.
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Christian Nikolaus Pfitzers Das ärgerliche Leben
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jetzo aber fast durch und durch vermehret, verbessert, und mit vielen merckwürdigen Begebenheiten und Exempeln, nachdencklichen Fragen und deren kurtzer Erörterung, aus berühmter Leute, die von dergleichen Materie geschrieben, hinterlassenen Schrifften, ausgezieret: daß also verhoffentlich nichts desideriret werden mag, was so wohl zu Gemüts-Ergötzung dem günstigen Leser, bey habender Zeit und Gelegenheit dienen, als solchem zugleich einige Warnung und Unterricht abgeben könne.134
Auch Pfitzer verbindet dabei Warnung und Unterricht, wenngleich die Semantik der von ihm verwendeten Begriffe für die Funktion des »ausgezierten« Kommentars, nämlich Erbaulichkeit und Gemüts-Ergötzung, in eine andere Richtung weisen als jene, in die sich die Kommentare de facto bewegen. Tatsächlich entfalten die Kommentare eine Systematik des Argumentierens, die jedem Ankläger in einem Hexenprozeß zur Ehre gereicht hätte, und in den Exempeln inszenieren sie narrativ ein Theater des Schreckens, das man kaum angemessen als »erbaulich« bezeichnen dürfte.135 Bemerkenswert ist insbesondere, in welchem Umfang Pfitzer juridische und dämonologische Traktate herangezogen hat, die im Zusammenhang der Hexenverfolgung stehen.136 Entscheidend verändert ist die Relation zwischen Erzählung und Kommentar. Insgesamt hat Pfitzer den Gesamtumfang gegenüber Widman nur unwesentlich gekürzt, aber die Relation von Erzählung und Kommentar ist deutlich zugunsten des Kommentars verschoben. Während bei Widman das Verhältnis von Erzählung zu Kommentar 39,2 % zu 60,8 % beträgt, hat Pfitzer ein Verhältnis von ca. 27 % zu 73 %. Durch die Anmerkungen und deren genaue Auflistung im Inhaltsverzeichnis wird die exemplarische Vita des Teufelsbündners endgültig zu einer Exempelsammlung. Fausts Leben wird in einzelne Elemente und Aspekte zerlegt, von denen jeder für sich auslegbar ist. Pfitzers Anmerkungen haben jedoch nicht nur eine argumentative Funktion, sondern sind daneben sehr stark narrativ geprägt und verdoppeln insofern stellenweise die Erzählung.
————— 134 Ebd., S. 6. 135 Vgl. Gaertner, Volksbücher und Faustbücher, S. 160f. 136 Gerhild Scholz Williams hat die These vertreten, dass Widman und Pfitzer Faustus damit zur »Hexe« gemacht hätten. Vgl. Williams/Schwarz, Existentielle Vergeblichkeit, S. 120f.
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Das Faustbuch des Christlich Meynenden Mit der Version des Christlich Meynenden ist 1725 das letzte der Prosafaustbücher entstanden. Wie beim ersten Faustbuch ist auch bei diesem letzten der Name des Verfassers anonym geblieben. Allerdings wird er im Titel als Christlich Meynender charakterisiert, was die Vermutung nahelegt, dass Fausts Vita auch in der Zeit der Frühaufklärung noch unter der Semantik von Heil und Verdammnis gelesen werden sollte. Wie die übrigen Fassungen hat der Christlich Meynende auf die jüngste der möglichen Vorlagen zurückgegriffen und Pfitzers Ärgerliches Leben als Hypotext verwendet. Im Umgang mit seinem Hypotext hat er jedoch den gegenteiligen Weg als dieser eingeschlagen. Hatte Pfitzer die Kommentare gegenüber Widman noch einmal deutlich ausgedehnt, so hat der Christlich Meynende sie vollständig gestrichen und daneben auch die Erzählung erheblich verkürzt.137 Größtenteils hat er Pfitzers Kapitel zusammengefasst, teilweise hat er aber auch ganze Kapitel bzw. Kapitelteile komplett ausgelassen oder sie nur kurz erwähnt.138 Von einem Gesamtumfang der Historia in der editio princeps von 227 Seiten, den Widman und Pritzer auf 671 bzw. 635 Seiten aufgebläht hatten, blieben beim Christlich Meynenden ganze 46 Seiten übrig, auf denen er die Erzählung knapp zusammenfasste. Durch das Verfahren der Verknappung sind die Kapitel als solche überhaupt nicht mehr zu erkennen, ihre Struktur aus betitelnden Paratexten und Narration ist zugunsten einer durchgängigen Erzählung aufgelöst. Das führt etwa in den Gesprächen zwischen Faust und Mephistophiles zu einer grundsätzlichen Verdichtung bestimmter Aspekte von Fausts Gemütsverfassung und zu konsequenterer Fokalisierung. Von den langen Disputationen Fausts mit Mephostophiles über die Hölle, das Regiment der Teufel und die Frage, ob der Teufel selbst hoffe, noch einmal selig zu werden, sind nur Fausts Fragen aufgeführt und die Antworten des Teufels gestrichen. Dadurch verschwindet der Aspekt der Mitteilung möglicher curiosa, während Fausts Motivation, nach der Hölle zu fragen (»Doch war er nicht von der Krafft, seine Gewissens-Angst gantz und gar zu verstecken. Denn bald fragte er den Geist«139), in den Vordergrund tritt. Dadurch wird trotz der drastischen Verkürzung der Aspekt der Gewissensnot in den Disputationskapiteln deutlich hervorgehoben. ————— 137 Wohl deshalb hat Günther Mahal das Faustbuch des Christlich Meynenden als ein »lustlos notiertes Exzerpt aus Pfitzer« charakterisiert, auch wenn er ihm auf der »Ebene der aneignenden und selbständig kommentierenden Darbietung, Auswahl und Gewichtung« durchaus »eigene Anteile« zugesteht. Vgl. Faustbuch des Christlich Meynenden, ed. Mahal, Nachwort, S. 74. 138 Nach Genettes Terminologie hat der Christlich Meynende damit Verknappung und Aussparung kombiniert. Vgl. Genette, Palimpseste, S. 323f. 139 Faustbuch des Christlich Meynenden, ed. Mahal, S. 15.
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Irritierend ist in diesem Zusammenhang freilich, dass der Christlich Meynende in der Vorrede an den Unpartheyische[n] Leser einen Ton anschlägt, der in deutlichem Widerspruch zur Orientierung an der Gewissensmahnung zu stehen scheint. Gegenwa֏rtige Bla֏tter solten billig entweder die Wahrheit der Historie des Welt - bekannten Schwartz - Ku֏nstlers Doctor Johann Faustens, mit unverwerfflichen Gru֏nden behaupten, oder wo dieses ja nicht mo֏glich, die Falschheit derselben der galanten Welt deutlicher vor Augen legen; welches auch Anfangs mein Absehen selbst gewesen. Weil aber so unzehlig viel Schrifften pro & contra davon heraus, die theils ex professo, theils incidenter diese intricate Materie beru֏hret, und nicht ohne Verwunderung viele von denen Gelehrtesten unserer Zeit hierinnen Schiffbruch gelitten, so habe solches zu einer reiffern Meditation ausgesetzet, und bloß die von ihm erzehlten Fata zusammen getragen, damit ich dem Verlangen einiger, welche seine Lebens-Beschreibung nur in etlichen Bogen zu haben gewu֏ndschet, ein Genu֏gen thun mu֏ge. 140
Die Vorrede richtet sich offenbar implizit gegen Pfitzer und dessen Überflutung der Erzählung durch den Kommentar, mit dem er »Schiffbruch« erlitten habe. Mit den »unzehlig viel Schrifften pro & contra« über die »intricate Materie« ist aber offenbar nicht Pfitzer, sondern ein Diskurs gemeint, der sich in den letzten Jahrzenten des 17. Jahrhunderts über das Faustbuch herausgebildet hatte. Dieser Diskurs hatte sich in erster Linie daran entzündet, dass Faustus mit Wittenberg in Verbindung gebracht wurde. Die Kritik an dieser Verbindung war freilich nicht neu. Schon Augustin Lercheimer hatte in der dritten Auflage seines Christlich Bedencken von Zauberey (1597) eine überaus scharfe Kritik an der Historia von D. Johann Fausten eingefügt und ihren anonymen Autor als »lecker«141 beschimpft, der »lügen und teufelsdreck«142 verbreite, »damit fürnemlich die schule und kirche zu Wittenberg geschmehet und verleumdet«143 werde. Lercheimer bezog sich dabei in erster Linie darauf, dass Faustus nach den Angaben der Historia in Wittenberg studiert habe, zum Magister und schließlich zum Doktor der Theologie promoviert worden sein sollte: Saget daß der Faust sey bey Weimar vnd Jena geboren, zu Wittenberg erzogen instituirt Magister artium vnd Doctor Theologiæ gemacht: habe daselbst in der vorstatt beym eusseren thor in der scheergassen hauß vnd garten gehabt: sey im dorffe Kimlich ein halbe meile von Wittenberg vom teufel erwürget in beyseyn etlicher Magister
————— 140 Ebd., S. 3. 141 Lercheimer, Christlich Bedencken, ed. Binz, S. 41. Lercheimers Kritik an der Historia ist auch abgedruckt in: Historia, ed. Füssel/Kreutzer, Zeugnisse zur zeitgenössischen Wirkung I, S. 297-299. 142 Lercheimer, Christlich Bedencken, ed. Binz, S. 43. 143 Ebd., S. 41.
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Die Transformationsleistungen der Faustbücher
Baccalarien vnd Studenten am karfreitage. Diß alles ist bößlich vnd bübelich erdichtet vnd erlogen.144
Insbesondere die angebliche Promotion Fausts zum Doctor der Theologie an der Leucorea, der Musteruniversität des Protestantismus, erregte Lercheimers Zorn: Dass man in solcher Vniversitet einen solchen / den Melanchthon ein scheißhauß vieler teufel pflag zu nennen / sollte zum Magister / ich geschweige zum Doctor Theologiae gemacht haben / welches dem grad vnd ehren titul ein ewige schmach vnd schand flecke were / wer glaubet das? 145
Möglicherweise in Reaktion auf diese Kritik hatte bereits Widman Fausts Studienort von Wittenberg nach Ingolstadt, in das Zentrum der katholischen Gegenreformation verlegt. Durch das vom Onkel ererbte Wohnhaus blieb Wittenberg aber auch bei Widman und nach ihm bei Pfitzer der räumliche Mittelpunkt von Fausts teuflischem Treiben. Auch in der Überarbeitung durch Pfitzer wurde die Historia deshalb verdächtigt, eine katholische Verleumdung des Protestantismus zu sein. So äußerte der Altdorfer Professor der Theologie Johann Konrad Dürr 1676, die Faust-Historia sei eine der »fabulae papistis figmentis«, um die Kirche zu Wittenberg zu schmähen.146 Zu den Argumenten gegen die Verbindung von Faust und Wittenberg gehörte auch, den Wahrheitsgehalt der Erzählung grundsätzlich zu bestreiten und sie als fiktive Erzählung auszuweisen. Dieses Argument findet sich insbesondere in der 1683 erstmals gedruckten und 1693 neu aufgelegten Disqvisitio Historica prior de Fausto præstigatore147, der ersten Abhandlung »ex professo«148 über die Historia von D. Johann Fausten, die aus der Feder des Wittenberger Professors für Poetik und späteren Theologen Johann Georg Neumann149 und des Baccalaureus Carl Christian Kirchner stammte. Neumann und Kirchner gaben in der Vorrede als Begründung für ihre Behandlung der »historiam adeo dubiam« an, sich dem Thema nur gewidmet zu haben, weil sie sich darüber geärgert hätten, »daß man unser Vaterland ————— 144 Ebd. 145 Ebd., S. 42. 146 Vgl. Wolff, Faust und Luther, S. 169. Dürr behauptete allerdings auch, bei dem historischen Faust handele es sich um den Buchdrucker Johann Fust. 147 Der Text firmierte lange Zeit allein unter dem Namen Johann Georg Neumanns als die erste »Dissertation« über Faust. Um eine Dissertation im heutigen Sinne hat es sich aber wohl nicht gehandelt, sondern um eine universitäre Disputation, als deren Vorsitzender Neumann fungierte und deren Respondent, von dem üblicherweise auch die Thesen stammten, Carl Christian Kirchner war. Mahal hat die These geäußert, dass es sich dabei um Kirchners Baccalaureatsthese gehandelt haben könnte. Vgl. Mahal, Nachwort zu: Kirchner/Neumann, ed. Mahal, S. 103f. 148 Kirchner/Neumann, ed. Mahal, S. 3. 149 Zu Johann Georg Neumann vgl.
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und insonderheit Wittenberg überall die Mutter eines so unglücklichen Sohnes nennt«.150 Auch die einzelnen Argumente belegen, dass es Kirchner/Neumann in erster Linie darum ging, Wittenberg vom Ruch des Teufelsbündners zu befreien: De VVittenberga verò, qvod fingit Historia Fausti, eo nihil fabulosius esse arbitror. Nominis enim errore adductus auctor impegit, ut, si VVirtenbergensis civitas appellanda fuit, ôb evidentem vocum affinitatem VVittenbergæ nomen allegaret. Nichts aber, glaube ich, ist mehr erfunden als das, was die Lebensgeschichte Fausts über Wittenberg erdichtet. Durch eine Namensverwechslung nämlich ist der Autor ins Stolpern geraten, so daß er, wo er von Württemberg hätte sprechen sollen, aufgrund der offensichtlichen Ähnlichkeit im Klang Wittenberg nennt. 151
Sie untergliederten ihre Disputation in drei Teile, in denen sie im ersten Kapitel zunächst die unterschiedlichen Quellen zu Fausts Leben auflisteten und ihre Wahrhaftigkeit einer kritischen Betrachtung unterzogen, im zweiten Kapitel die von Faust bei Widman bzw. Pfitzer berichteten Taten kritisch überprüften, um im dritten und letzten Kapitel schließlich ihre Bewertung der Historia zu präsentieren. In ihrer Bewertung beriefen sie sich insbesondere auf die gundlegene Differenz zwischen der Freiheit der religiösen Literatur, zum Zwecke der Erbauung Geschichten zu erfinden, und dem Anspruch der Historia, wahr zu berichten. Vendicat sibi hanc immunitatem pietas, ut animos demulcendi causâ quidvis ennarret fingatque: Historia vero supremam sibi legem posuit veritatem. Quare si Domitium Sec. XV. Scriptorem, quòd veris fabulosa commisceret, Politianus, ceu foveam viatoribus ostendere solitus est, (Vid. L. III. Epist. 19.) qvidni scriptum istud de Fausto integrâ
————— 150 Kirchner/Neumann, ed. Mahal, S. 5* (Die Seitenzählung des edierten Textes ist stets mit einem * versehen, um sie von der Zählung des Kommentars abzugrenzen.): »illud autem iniquètuli, Patriam hanc nostram, ipsamqve VVittenbergam tam infausti filii matrem vulgo nuncupari«; (dt. Übers. S. 6*). Kirchner und Neumann kannten nach Mahals Überzeugung das Faust-Buch in der Pfitzerschen Bearbeitung und daneben eine Reihe weiterer Quellen, deren wichtigste die Collectanea des Johannes Manlius waren. Vgl. Mahal, Nachwort zu: Kirchner/Neumann, ed. Mahal, S. 95. In ihren Ausführungen geben sie allerdings zu erkennen, dass sie Georg Rudolf Widman für den Verfasser halten, dem sie nicht nur die erste Ausgabe, sondern auch die erweiterten späteren Druckausgaben zuschreiben: »Prius vero qvàm ceterorum nectamus seriem, Liber de Vita Factisqve Fausti primum sibi locum vendicat; qui vernacula Lingva conscriptus, fallor an compilatus qvondam est à Georgio Rudolpho Widemanno, obscurissimi nominis viro; cujus scripti, sæpe iterata editione, iteratæ qvoqve, magisqve & magis auctæ sunt fabulæ:« (S. 7*) »Ehe wir uns aber die anderen Zeugen der Reihe nach ansehen, beansprucht das Buch Vom Leben und den Taten Fausts die erste Stelle; dieses ist, wenn ich mich nicht täusche, damals auf Deutsch von einem ganz und gar unbekannten Georg Rudolph Widemann zusammengeschmiert worden; diese Schrift wurde immer wieder aufgelegt, und jedesmal sind auch die Erfindungen mehr und mehr geworden.« (S. 8*) Auch Pfitzer wurde in Neumanns und Kirchners Darlegung negativ eingeschätzt (vgl. ebd.). 151 Kirchner/Neumann, ed. Mahal, S. 25* u. 26*.
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fabularum mole refertam, aliis qvoque non ut foveam modò, sed ut scillam & charybdim ostendamus. Diese Freiheit, etwas zu erzählen und zu erdichten, kann religiöses Schrifttum für sich beanspruchen, um die Gemüter zu erbauen; die Historie aber versteht als ihr oberstes Gesetz die Wahrheit. Wenn daher Politianus den Domitius, einen Schriftsteller des 15. Jahrhunderts, als Fallgrube für Reisende zu bezeichnen pflegte, weil er Wahres und Erfundenes vermenge (vgl. Buch III, Epist. 19), wie sollen wir dann jene Schrift über Faust, in der es von Erfindungen nur so wimmelt, anders bezeichnen denn als Fallgrube für andere, ja mehr noch, als Skylla und Charybdis? 152
In Anlehnung an Gabriel Naudé kamen sie zu dem Schluss, dass es sich bei der vita Fausti um einen »Roman magique« handele, der zwischen Erfahrung und Erfindung angesiedelt sei.153 Interim Naudæus emunctae naris est, qui vitam Fausti nec fabulam planè nec Historiam, sed verbo ab utrâq; parte paulum discendente; Roman Magique, Gallicâ lingvâ vocat (in Apol. C. 15, p. 419) Qvod vocabulum cùm magna gaudeat emphasi, doleo Romanæ facundiæ esse ignotum; forsan narrationem dixeris scenicam, mutatis circumstantiis confictam, de personá artibus quidem magicis celebri, sed accedentibus sive fabulis sive Historiis celebriori. Cui proinde nostrummet calculum, solvô aliorum judicio adjungimus. Indessen ist Naudaeus doch so gewitzt, das Leben des Faust weder eindeutig als Erfindung noch als historisch zu bezeichnen, vielmehr wählt er einen Begriff, der dazwischen liegt, und nennt es einen Roman Magique (in Apol., Kap. 15, S. 419). Da diese Bezeichnung große Ausdruckskraft besitzt, bedaure ich, daß sie im Lateinischen unbekannt ist; vielleicht könnte man von einer dramatischen Erzählung sprechen, die unter frei erfundenen und veränderten Umständen von einer Person handelt, welche durch ihre Zauberkünste bereits berühmt war, durch zusätzliche Erfindungen und Geschichten aber noch berühmter wurde. Dem wollen wir uns anschließen, unbeschadet der Meinung anderer.154
Die Einschätzungen des späten 17. Jahrhunderts schwankten also zwischen dem Bemühen, die Verbindung zwischen Wittenberg und Faustus zu kappen, und dem Versuch, den Wahrhaftigkeitsanspruch seiner Vita grundsätzlich zu bestreiten und sie als fiktive Erzählung zu qualifizieren oder zu diskreditieren. ————— 152 Kirchner/Neumann, ed. Mahal, S. 37 u. S. 38 (Hervorhebung im Original). 153 Der berühmte Bibliothekar und Gelehrte Gabriel Naudé, der die erste Richtlinie für den systematischen Aufbau einer Bibliothek verfasst hat, beschäftigte sich auch mit der Magie und insbesondere der Differenzierung zwischen weißer und scharzer Magie. In diesem Zusammenhang verfasste er auch sein Werk Apologie pour tous les grands personnages qui ont esté faussement soupçonnez de magie (La Haye, Chez Adrian Vlac, 1625 u. 1653), in der er auch auf Faust einging. Zu Naudé vgl. Jack A. Clarke, Gabriel Naudé. 1600-1653, Hamden (Connecticut) 1970. 154 Kirchner/Neumann, ed. Mahal, S. 39 u. S. 40 (Hervorhebung im Original).
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Das Faustbuch des Christlich Meynenden
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In dieser Tradition steht offenbar der Christlich Meynende, der damit eine eigentümliche Zwischenstellung einnimmt. Einerseits stellt er immer wieder die Glaubwürdigkeit der Erzählung in Frage, andererseits hält er an der Mahn- und Warnfunktion des Exemplums fest, das die früheren Faustbücher noch in dessen Wahrhaftigkeit verankert hatten. Auf dem Titelblatt wird die Erzählung wie in den früheren Fassungen »allen vorsetzlichen Su֏ndern zu einer hertzlichen Vermahnung und Warnung«155 empfohlen. Schon zu Beginn der Narration aber streut der Erzähler wiederholt Zweifel an deren faktischer Richtigkeit ein, indem er die Erzählung mit »und soll dieser Johann Faust« eröffnet, und wenig später Zweifel daran äußert, dass Faustus in Ingolstadt der Titel Doctoris Medicinae verliehen worden sei, »woran viele, auch selbst diejenigen, welche dieser Geschichte noch einigen Glauben beylegen, zweifeln«.156 In der älteren Forschung hat die Infragestellung der Glaubwürdigkeit der Erzählung dem Christlich Meynenden den Ehrentitel eines ›Aufklärers‹ eingetragen, aber eine eindeutig aufklärerische Position ist daraus keineswegs ableitbar.157 Gerade von den Zauberkunsttücken, die einer aufklärerischen Betrachtungsweise kaum hätten glaubwürdig erscheinen können, sind die meisten ohne jeden Anflug von Skepsis zusammengefasst, wenngleich ihre Motivierung grundlegend verändert ist. Die Zauberepisoden werden beim Christlich Meynenden konsequent darüber motiviert, dass Faust sich Geld beschaffen muss, um seinen ›liederlichen‹ Lebensstil zu finanzieren. Zunächst sieht es so aus, als spiele die Reihenfolge der Epidsoden und ihre Motivation keine Rolle, sondern solle nur rasch aufgelistet werden: Nun wollen wir, ehe wir zu dem erschrecklichen Ende seines Lebens eilen, etliche la֏cherliche Possen von ihm anfu֏hren, und mit dem curieusen Mantel-fahren dreyer jungen Frey-Herren auff das Fu֏rstliche Beylager nach Mu֏nster [sic!] den Anfang machen: […].158
Schon im nächsten Satz erweist sich aber, dass die Bemerkung am Ende der Episode, Faust habe für dieses Kunststück eine »ansehnliche Verehrung« erhalten, die grundlegende Remotivierung der Zauberepisoden zur Folge hat:
————— 155 Ebd., S. 3. 156 Faustbuch des Christlich Meynenden, ed. Mahal, S. 5. Der Christlich Meynende lässt auch dahingestellt sein, »ob das ô homo fuge in seiner lincken Hand eingegraben dreymal von jhm gesehen worden« (S. 12). 157 Vgl. Dumcke, Die Deutschen Faustbücher, S. 84; Henning, Die Fausttradition, S. 190. Günther Mahal hat der These vom Christlich Meynenden als Frühaufklärer entschieden widersprochen. Vgl. Faustbuch des Christlich Meynenden, ed. Mahal, Nachwort, S. 97-100. 158 Ebd., S. 18.
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Die Transformationsleistungen der Faustbücher
Allein so grosse Summen ihn seine Kunst und der Geist zu wege brachten, so groß wolte manchmal der Mangel einreissen, welches Fausten, auff abgeschlagene Antwort seines Mephostophilis, auff neue List und Ra֏ncke zu sinnen no֏thigte.159
Auf diese Weise verstärkt der narrative discours die metonymische Kontiguität zwischen den Zauberepisoden und motiviert sie kausal und nicht final. Damit tritt allerdings gegenüber der Zauberei der Aspekt des Betruges in den Vordergrund: »Wie nun dieses Geldchen auch verthan, so muste ein Roßta֏uscher auf dem o֏ffentlichen Markte herhalten«160. Das ändert aber nichts daran, dass die Vorstellung von der realen Möglichket der Zauberei keineswegs in Frage gestellt wird. Und es verhindert auch nicht, dass der Christlich Meynende sich die Freiheit der religiösen Erzählung aneignete, um die Funktion der frommen Ermahnung weiter auszubauen. Das zeigen die überaus bemerkenswerte Eingriffe in die Diegese, in denen der Erzähler keineswegs als unbeteiligter, skeptischer Beobachter auftritt, sondern als emotional hochgradig involvierter Erzähler, der die Grenzen des extradiegetisch-heterodiegetischen Erzählers mehrfach überschreitet und sich in die Welt der Erzählung einmischt.161 Es ist dir ja kein rechter Ernst, gienge dir deine Bekehrung recht zu Hertzen, so wu֏rdest du dich nicht aller Gesellschafft entschlagen, und dem Geistlichen dich weiter zu besuchen nicht verbieten. Wilst du in der Einsamkeit deiner Andacht desto besser nachha֏ngen? Warum sagest du denn bey jedem Trost-Spruche: Das gehet mich nicht an? Weist du nicht, daß wo der Zaun am niedrigsten, am allerleichtesten dru֏ber zu steigen ist? Und was das Hertz mit Schwermu֏thigkeit beklemmt, daß solches in der Einsamkeit desto besser zu u֏berwa֏ltigen? Greiffst du doch selbst nach dem Messer, und wilst dich entleiben, aber warte, warte! es wird dir noch nicht so gut, du wirst zu einer ha֏rteren Rache vorbehalten.162
Solche dramatischen Metalepsen häufen sich in der Narration von Fausts letzten Lebenstagen. Der Erzähler tritt hier in die Rolle eines Mahners ein, der direkt zu Faust zu sprechen vermag, so als gebe es keine Grenze zwischen dem Erzähler und der Welt der Erzählung. Trotz der verschiedentlich geäußerten Skepsis des Christlichen Meynenden hinsichtlich des Wahrheitsgehalts der Erzählung wird hier deutlich, dass auch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die paränetische Funktion, vor der Grausamkeit des Teufels zu warnen, noch nicht obsolet geworden war.
————— 159 160 161 162
Ebd., S. 19. Ebd., S. 20. Vgl. ebd., S. 40-42. Faustbuch des Christlich Meynenden, ed. Mahal, S. 41f.
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6. Identitäre Semantiken
An die basale Scheidung von Immanenz und Transzendenz in der religiösen Kommunikation schließen die beiden Leitsemantiken an, unter denen Fausts Identität beschrieben wird: Zauberei und curiositas. Beide Semantiken kennzeichnen illegitime Transgressionen in das dem Menschen verschlossene Gebiet der Transzendenz: Curiositas, indem sie diese Grenzlinie als Grenze des Wissbaren nicht anerkennt, Zauberei, indem sie die Trennlinie als Grenze des Möglichen negiert. Damit installieren die beiden identitären Markierungen von Zauberei und curiositas Faustus als Grenzverletzer im doppelten Sinne: als Grenzüberschreiter, der sich qua Erkenntnis exklusiven Zutritt zur Seite der Transzendenz zu verschaffen versucht, und als Grenznegierer, der Aspekte der Transzendenz in die Immanenz herüberholen möchte. Damit ist ein doppeltes Bewertungskriterium innerhalb der Tradition der Faustbücher verbunden: Sie können beide Grenzverletzungen hinsichtlich ihrer Möglichkeit wie auch hinsichtlich ihrer Bewertung thematisieren, aber sie können beide Aspekte auch getrennt voneinander betrachten. Aber in jedem Fall werden die beiden Semantiken vollständig personalisiert; es geht in den Faustbüchern nicht um Zaubererei und curiositas, sondern um den magus und den curiosus.
Faustus der Zauberer Die rezeptionssteuernden Paratexte: Titel und Vorreden Die Identität als Zauberer ist die erste und entscheidende Markierung, die Faustus aufgeprägt wird. Das belegen schon die Titel, die mit Ausnahme der Historie of the damnable life, and deserued death of Doctor John Faustus allesamt Faustus als Zauberer und/oder Schwarzkünstler bezeichnen. Die Wolfenbütteler Handschrift kündigt die »Historia vnd Geschicht Doctor Johannis Faustj des Zauberers«1 an, der Spies’sche Erstdruck spricht von dem »weytbeschreyten Zauberer vnd Schwartzku֏nstler«2, der C-Druck von »Doct. Johann Fausti / de[m] ausbu֏ndigen Za֏uberer […] vnd Schwartzkünstler«3, der Tü————— 1 2 3
Wolfenbütteler Handschrift, ed. Haile, unpag. [S. 1]. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, unpag. [S. 3]; Faustbuch, ed. Müller, S. 831. Historia C, ed. Riedl, unpag. [S.6].
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Identitäre Semantiken
binger Reimfaust vom »weitbeschreiten Zauberer vnd Schwarzkünstler«4, Widman vom »weitberuffene[n] Schwartzku֏nstler vnd Ertzza֏uberer«5, Pfitzer vom »viel-berüchtigten Ertz-Schwartzkünstler«6, der Christlich Meynende schließlich von dem »durch die gantze Welt Beruffenen Ertz-SchwartzKünstlers und Zauberer Doctor Johann Faust«. Zum Zauberer und Schwarzkünstler gesellt sich dabei wie selbstverständlich die Berühmtheit oder das Berüchtigtsein, wobei die Konnotationen durchaus unterschiedlich sind: »weytbeschreyt« und »viel-berüchtigt« sind sehr viel stärker pejorativ als »weitberuffen« oder »durch die gantze Welt beruffen«. Während die letzteren Epitheta auch neutral konnotiert sein können, hat »beschreyung« eine eindeutig negative Konnotation, gehört es doch als Rechtsterminus zu den Präliminarien von Hexenprozessen: Wenn eine Person als Hexe oder Zauberer ›beschrieen‹ wird, kann Anklage gegen sie erhoben werden. So nennt Theodor Graminaeus in seiner juristischen Abhandlung Inductio sive directorium: das ist Anleitung oder Vnderweisung / wie Richter in Criminal / vnd peinlichen Sachen / die Zauberer vnd Hexen belangendt / sich zuverhalten vnd der Gebu֏r damit zu verfaren haben (Köln 1594) unter den sieben Grundvoraussetzungen für richterliche Nachforschung an zweiter Stelle den Verdacht und die »Beschreyung«.7 »Famous« hat dagegen keine vergleichbare negative Konnotation. Diese semantische Differenz des English Faustbook gegenüber den deutschsprachigen Versionen setzt sich fort in der Art der paratextuellen Markierung durch die Vorreden. Das English Faustbook holt zwar auf dem zweiten Blatt in einer Kurzzusammenfassung des Inhalts die Markierung als Beschwörer und Schwarzkünstler nach, in der es »A Discourse of the Most Famous Doctor John Faustus of Wittenberg in Germany, Conjurer, and Necromancer«8 ankündigt, aber es verzichtet völlig auf eine Vorrede, die bei den anderen Faustbüchern dazu dient, die Markierung weiter auszubauen, zu präzisieren und mit mahnenden Worten einzukleiden. Die Vorrede der Wolfenbütteler Handschrift beklagt insbesondere die Popularität der Zauberei bei den Studenten, »so wol Magistri mechten genennt werden«, und widerspricht deren vorgeblicher Behauptung, die Zauberey gehöre zu den »Nott stuckh«, was der Verfasser kurz und bündig kommentiert: »Diss alles ist nichts annders Somnia vnnd Lugen / Laruen / Damit sie sich selbs betriegen.«9 Der Verfasser hebt hervor, dass Zauberei ————— 4 5 6 7 8 9
Reimfaust, ed. Mahal, unpag. [A1r]. Widman, Warhafftige Historien, unpag. [A1r]. Pfitzer, Das ärgerliche Leben, S. 1. Graminaeus, Inductio sive directorium, S. 25f. Vgl. Siefener, Hexerei im Spiegel der Rechtstheorie, S. 193. English Faustbook, ed. Jones, S. 91 [A2r]. Wolfenbütteler Handschrift, ed. Haile, S. 8.
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Faustus der Zauberer
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grundsätzlich Teufelswerk sei, aus dem nichts Gutes erwachsen könne. Dieses wohl eher pragmatisch zu nennende Argument mündet sodann in die paränetische Mahnung, ein jeder Christ solle sich »Gottes Forcht befleissen / vnnd solliche sünd vnnd Misbrauch nicht in sich einwachsen lassen«.10 Am Ende der Vorrede schließen sich dann noch zwei Textstellen aus dem Alten Testament an, Leviticus 19 und 20, in denen Gott die Zauberei verbietet und im Falle der Zuwiderhandlung die Todesstrafe androht: »Wann sich ein Seel zu den Zaichendeuttern / vnnd Warsagern wenden wirt / Das Sie jnen nachhenget / So will ich mein Andlitz wider dieselb Seel setzen / vnnd will Sie auss jrem Volckh rotten.«11 Die Vorrede des Spies’schen Erstdrucks dagegen entwickelt zunächst den Begriff der Zauberei und ordnet diesem im zweiten Schritt Faustus als Exempel zu.12 Wiewol alle Su֏nde in jhrer Natur verdammlich sind / vnnd den gewissen Zorn vnd Straffe Gottes auff sich tragen / so ist doch von wegen der vngleichen Vmbsta֏nde jmmer eine Su֏nde gro֏sser vnd schwerer / wirdt auch beydes hie auff Erden / vnnd am Ju֏ngsten Tag ernstlicher von Gott gestrafft / denn die andern / […]. Ohn allen zweiffel aber ist die Zauberey vnd Schwartzku֏nstlerey die gro֏ste vnnd schwereste Su֏nde fu֏r Gott vnd fu֏r aller Welt / […].13
Als größte und schwerste Sünde ist die Zauberei ein Verstoß gegen das erste Gebot und verdient deshalb die Todesstrafe. Zur Verdeutlichung dieser unmittelbar von Gott festgelegten Strafe verweist die Vorrede auf mehrere Textstellen aus dem Alten Testament (Levit. 19,31 u. 20,6; Deut. 18,10f.), die belegen sollen, dass Gott selbst für das Delikt der Zauberei die Todesstrafe verhängt hat.14 In der von Spies bei Wendel Homm herausgegebenen zweiten Auflage des A-Textes der Historia wird dieser Bezug noch deutlicher, denn nach der Vorrede ist ein »Zeugnuß der h. Schrifft / von den verbottenen Zauberku֏nsten« mit zahlreichen Textstellen aus dem Alten Testament eingefügt, das ganz den Strafen für Zauberei gewidmet ist.15 Eine Textstellensammlung aus dem Alten Testament fügt auch der Reimfaust zwischen der Vorrede und der Erzählung ein, wobei die hier angeführten Textstellen sich mehr auf die ————— 10 11 12 13 14
15
Ebd., S. 9. Ebd. Die Druckfassung B übernimmt die Vorrede unverändert. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 8; Faustbuch, ed. Müller, S. 836. Der Einbezug von Zitaten aus den Gesetzestexten des Alten Testaments ist eines der markanten Kennzeichen der Vorreden, das bis zu Pfitzer immer wiederkehrt und erst im Faustbuch des Christlich Meynenden keine Rolle mehr spielt. Zu den entsprechenden Textstellen im Alten Testament vgl. Haustein, Bibelauslegung und Bibelkritik, S. 250-252. Vgl. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 149-151.
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Identitäre Semantiken
göttlichen Verbote beziehen als auf die angedrohten Strafen.16 Auch hier aber dominiert die Einschätzung der Zauberei als Verstoß gegen das erste Gebot. Dass Zauberei als Verstoß gegen das erste Gebot zu werten sei und folglich mit dem Tode bestraft werden müsse, betont auch Widman: Zudem mag Zauberey wegen ihres grewels genant werden / Crimen læsæ Majestatis divinæ / eine Rebellion / vnnd ein solch laster / damit man sich fu֏rnehmlich an der Go֏ttlichen Mayestat zum ho֏chsten vergreifft. Denn wie die Juristen fein ku֏nstlich disputiren vnnd reden / von mancherley art der Rebellion / vnnd mißhandlung wieder die hohe Obrigkeit / vnnd vnter anderen zehlen sie auch diese / wenn einer von seinem Herrn Feldtflu֏chtig vnnd trewloß wirdt / vnd begibt sich zu den Feinden / denselbigen erkennen sie zu der peinlichen straff / an Leib vnnd leben / also auch / weil zauberey ein schendtlicher grewlicher abfall ist / da einer sich von GOtt / dem er gelobt vnnd geschworen ist / zum Teuffel / der GOTTES feindt ist / begibt / so wirdt er billich an leib vnnd leben gestrafft / vnnd sollte billich alle Obrigkeit jr ampt hierinnen gebrauchen / das man der Zauberey mit allem gewalt wehrete vnd sie außrottete.17
Widman fügt dieser Zuordnung und Strafbewertung aber noch einen anderen Aspekt bei, der in den früheren Versionen keine Rolle spielt. Er verknüpft das Crimen laesae majestatis mit der ›papistischen‹ Praxis des Segensprechens und Teufelaustreibens: Solten denn zu vnserer zeitten auch wol bey den Christen Zauberer und Schwartzku֏nstler gefunden werden? Oder sind es nur allein die armen Weiber und Hexen / die man ta֏glich dahin verbrent / oder D. Faustus? Nein / jhrer ist leider Gottes mehr. Man findet warhafftige vnd glaubwirdige Historien / das auch die heiligen Va֏ter vnd Stadthalter Christi / die frommen Ba֏pste zum theil grosse Za֏uberer gewesen sindt / wie dann auß jrem Decretal erscheinet / in vermeldung / wie sie nicht allein den Engeln zugebieten / sonder auch den Teuffel zu zwingen haben.18
Als Beispiele listet er eine große Zahl von Päpsten auf: Sylvester II., Benedikt IX., Johannes XIII., XIX., XX., XXI., Gregor VII., Clemens II., Damasus II., Leo IX., Victor II., Gregor XI., Paulus II., Alexander VI. »vnd dergleichen / die doch alle bezu֏chtigt / das sie Teuffels beschwerer gewesen seyn«.19 Daraus ergibt sich ein zusätzlicher Verstoß der Zauberei gegen das zweite Gebot (du sollst den Namen des Herrn nicht missbrauchen), der in den interkonfessionellen Auseinandersetzungen eine zentrale Rolle spielt. Bei Widman folgt diese zusätzliche Zuordnung schon daraus, dass er Fausts Studien————— 16 17 18 19
Vgl. Reimfaust, ed. Mahal, unpag. [Bl. 7a-b]. Widman, Warhafftige Historien, unpag. [S. XI-XII]. Ebd. [S. XI]. Ebd. Als Exempel eines päpstlichen Teufelsbündners führt die Wolfenbütteler Handschrift wie Widman Alexander VI. an und bezeichnet ihn als »Pestis Maxima«. Vgl. Wolfenbütteler Handschrift, ed. Haile, S. 7.
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Faustus der Zauberer
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ort ins katholische Ingolstadt verlegt hat, wo dieser, auch wenn er sein Studium der katholischen Theologie abbricht, durch die Praxis des Segensprechens und des Messzaubers auch seine Neigung zur Zauberei erwirbt. Als aber domals das alt Ba֏pstisch wesen noch im gang war / vnnd man hin vnd wieder viel segensprechen vnd ander abergla֏ubisch thun und Abgo֏tterey treib / beliebte solchs dem Fausto vberauß sehr. Weil er dan in Geselleschaft vnd an solche Burße geriete / welche mit abergla֏ubischen Characteribus oder Zeichenschrifften vmbgiengen / war er bald vnd gar leicht verfu֏hret.20
Pfitzers Vorrede setzt dagegen einen anderen Schwerpunkt. Ihm geht es nicht um die Zuordnung zum ersten oder zweiten Gebot und die angedrohten Strafen, sondern um die Frage, ob Zauberei überhaupt möglich sei. Deshalb haben die bei ihm angeführten Bibelstellen auch eine völlig andere Funktion: Sie belegen, dass es Zauberei gibt. Daß aber Zauberey seye, ist nicht nur aus der Heyden, bey welchen sie vorzeiten gar gemeine gewesen, […] hinterlassenen Schriften, sondern auch aus der H. Schrift, welche der H. Geist selbst hat aufzeichnen lassen, bekandt und offenbar.21
Ob diese Neuorientierung den Schluss nahelegt, dass 1674 die Behauptung, es gebe Zauberer und Hexen, nicht mehr selbstverständlich akzeptiert wurde, ist keineswegs gesichert. In Nürnberg, wo es in der Hauptzeit der Hexenverfolgung zwischen 1580 und 1630 nur sehr wenige Hexenprozesse mit vergleichsweise moderatem Ausgang gegeben hat, fanden die beiden spektakulärsten Prozesse, die mit Todesurteilen endeten, in den Jahren 1659 und 1660 statt, relativ kurz also vor Pfitzers Bearbeitung des Faustbuchs.22 Jedenfalls betont Pfitzer mit wiederholten Exklamativa im Anschluss an die Aufzählung zahlreicher Beispiele aus der Heiligen Schrift, dass Zauberei keineswegs ein vergangenes Delikt sei: Und wäre nochmaln zu wünschen, daß solche vermaledeyte Kunst nur bey den aberglaubigen Unglaubigen verblieben wäre, nimmermehr aber auf die Christen, pfui der Schande! transferiret und gebracht worden: immassen denn solches leider! nicht nur vorige von unsern Vättern hingelegte, sondern auch unsere Zeiten beglaubet, und mit Entsetzen erfahren müssen, viel, ach! sehr viel der verführten verstockten Leute, Zauberer, Hexen und Unholden, welche man ihrem Verdienst nach, meistentheils lebendig, verbrennet.23
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Vgl. ebd., S. 2. Pfitzer, Das ärgerliche Leben, S. 4. Zur Hexenverfolgung in Nürnberg vgl. Laura Stokes, Laura: Nürnberg, in: Lexikon zur Geschichte der Hexenverfolgung, hg. v. Gudrun Gersmann, Katrin Moeller und Jürgen-Michael Schmidt, in: historicum.net, URL: http://www.historicum.net/no_cache/persistent/artikel/6082/ (letzter Zugriff: 30.6.2011). Pfitzer, Das ärgerliche Leben, S. 5.
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Das mag einer der Gründe dafür sein, dass Pfitzer sein Faustbuch mit zusätzlichen Paratexten bewehrt hat. Im Anschluss an die »Vorrede an den günstigen Leser« integriert er den Kurtze[n], nothwendige[n] und wolgegründete[n] Bericht, von dem Zauberischen Beschweren und Segensprechen, Durch den seligen Herrn Conradum Wolff: Platzium, weiland der heiligen Schrift Doctorn und Predigern zu Bibrach, vor vielen Jahren gantz lehrreich verfaßt und zusammen getragen: Anjetzo allen und jeden Christen, zu einer nützlichen Vermahnung und Warnung, für solchen Sachen, wiederum aufgelegt.24
Außerdem präsentiert er im Anhang einen Kurtze[n] Bericht von der Lappländer Zauber-Kunst, Hexerey und Wahrsagerey; wie auch von den Werck-Mitteln, die sie entweder zum Wahrsagen, oder zur Beschädigung anderer Leute gebrauchen: Aus der neuen Lapponischen Beschreibung Herrn Johannis Schefferi, weiland Professorn der Hohen Schul zu Upsal, in Schweden, zusammen gezogen und verteutschet, durch C. Fr.25
Die Paratexte verdeutlichen damit nicht nur, dass Fausts identitäre Markierung als Zauberer zentral ist, sondern sie legen auch nahe, dass sie aus einer Perspektive bewertet wird, die den sogenannten ›Schwankteil‹ von jeder Form von harmloser Unterhaltung weit distanziert. Faustus und das Zeitalter der Hexenverfolgung Die These, dass die Historia im Kontext der Hexenverfolgung gelesen werden müsse, ist in der jüngeren Forschung zunächst von Frank Baron nachdrücklich vertreten worden. Nach Barons Überzeugung war die Hexenverfolgung der entscheidende Katalysator für die Entstehung der ›Faustsage‹. »Die überlieferten historischen Begebenheiten wurden revidiert, um sie mit den herrschenden Vorstellungen des Hexenzeitalters in Einklang zu bringen.«26 Baron geht davon aus, dass die protestantischen Exempelsammlungen und die Äußerungen Luthers im Prozess der Umgestaltung der Faustfigur von einem Possenreißer zum Zauberer und Teufelsbündner eine entscheidende Rolle gespielt haben. Sie hätten Faustus überhaupt erst mit dem Teufel und der Zauberei in Verbindung gebracht, die dann von Johann Weiers ————— 24 25 26
Ebd., S. 31-60. Ebd., S. 651-720. Baron, Faustus, S. 94. Baron hat deshalb (vgl. Die Hexenprozesse und die Entstehung des Faustbuchs, S. 59) beklagt, die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Hexenverfolgung und dem Fauststoff sei als Forschungsaufgabe nicht ernstgenommen worden. Er hat dies auf das Stereotyp der Hexe als alter, armer und ungebildeter Frau zurückgeführt, das den Blick auf den gelehrten, nach Erkenntnis strebenden Magier verstellt habe.
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Faustus der Zauberer
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De Praestigiis Daemonum (1568) und Augustin Lercheimers Christlich Bedencken von Zauberey (1585) weiterentwickelt worden sei: Er war immer noch der teuflische Zauberer, wie ihn Luther bezeichnete, aber jetzt gehörte er einer ganz bestimmten neu definierten Zauberer-Kategorie an, die Weier mit heftiger Polemik angriff. Im Gegensatz zu den Hexen, die unwissend und unschuldig waren, sah Weier die gelehrten Zauberer wie Faustus und Trithemius als die großen Sünder, die trotz ihres reichen Wissens sich der Hilfe des Teufels bedienten.27
Daher, so Barons Forderung, müssten bestimmte Elemente der Erzählung, wie die Flüge und die Liebeshändel, aber auch der Bekehrungsversuch des Nachbarn, im Kontext der Hexenverfolgung in einem anderen Licht betrachtet werden.28 Barons These, dass die Historia im Kontext der Hexenprozesse gelesen werden müsse, hat Gerhild Scholz Williams dahingehend verschärft, dass die Faustbücher, neben der Historia insbesondere Widman und Pfitzer, ihn selbst zu einer Hexe gemacht hätten.29 »Like Widman and the Faustbook author before him, but with much greater clarity of detail, Pfitzer constructs the story of Faustus as that of a male witch.«30 Williams’ Begründung für diesen terminologischen Wechsel, den die Faustbücher selbst nicht vornehmen, ist der Teufelspakt: Because such a pact is witchcraft’s most egregious affront to divine majesty; Faust’s and Wagner’s pacts, twice confirmed and twice signed in blood, more than any other wickedness they commit makes them kith and kin to witches.31
Gerade der Teufelspakt ist aber eher ein typisches Merkmal der Verbindung von Zauberern mit dem Teufel, während die Beziehung zwischen Hexen und Teufel als Unterwerfungsakt beschreiben wird, der in der Regel mit obszönen Gesten, nicht aber mit einem Vertrag bekräftigt wird.32 So wichtig und richtig mir Barons und Williams These, die Faustbücher müssten im Kontext der Hexenverfolgung betrachtet werden, zu sein scheint, halte ich doch ihre Schlussfolgerung, dass diese den ›Masterdiskurs‹ bilde, dem alle anderen Aspekte unterzuordnen seien, für fragwürdig. Zum einen scheint mir darin eine erhebliche Unterschätzung der grundsätzlichen Polysemie und Ambiguität des Narrativen zu liegen, zum anderen reduziert die These die Komplexität der Figuren in einer durch die Erzählung schwer————— 27 28 29 30 31 32
Baron, Die Hexenprozesse und die Entstehung des Faustbuchs, S. 66. Vgl. ebd., S. 69f. Vgl. Williams, Faust as Witch; dies., Magie und Moral: Faust und Wagner; dies., Semiotics and the Magic Sign: Faust’s Contract; dies./Schwarz, Existentielle Vergeblichkeit, S. 109-144. Williams, Faust as Witch, S. 220. Ebd., S. 222; vgl. auch Williams/Schwarz, Existentielle Vergeblichkeit, S. 120ff. Auf diese Differenz hat Williams an anderer Stelle selbst hingewiesen; Williams/Schwarz, Existentielle Vergeblichkeit, S. 116.
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Identitäre Semantiken
lich zu rechtfertigenden Weise.33 Hinzu kommt, dass Baron und Williams die unterschiedlichen Positionen in den theologischen und juridischen Diskursen über Zauberei einebnen, was noch durch die Identifikation dieser Diskurse mit der Verfolgungspraxis verschärft wird. Schon die prätextuelle Bezugnahme des A-Druckes der Historia auf Weier und Lercheimer, die entschiedene Gegner der Hexenverfolgung waren, macht diese Identifikation fragwürdig.34 Es scheint mir daher geboten, zunächst die theologischen und juridischen Diskurse und ihre Wahrnehmung von Hexerei und Zauberei sowie die Praxis der Hexenverfolgung näher zu betrachten, um anschließend die narrative Bearbeitung von Fausts Markierung als Zauberer zu analysieren.35 Die Ausbildung des kumulativen Hexenbegriffs Etwa ab der Mitte des 15. Jahrhunderts wurde die Hexenverfolgung zunehmend institutionalisiert und die einzelnen Bestandteile des crimen magiae zu Anklagepunkten gegen die Hexen zusammengefügt. Man spricht in diesem Zusammenhang von einem »kumulativen Hexenbegriff«, der sich um 1400 aus einzelnen Elementen früherer Vorstellungen zu einer »elaborierten Hexenvorstellung« formte.36 »Dazu gehört der theologisch notwendige Pakt der Hexen mit dem Teufel (Teufelspakt), dann die immer wieder mit Bezug zu Thomas von Aquin angeführte geschlechtliche Vermischung der Hexen mit den Dämonen (Teufelsbuhlschaft), der Flug durch die Luft (Unholdenflug) zur großen Hexenversammlung (Hexensabbat) und schließlich der Schadenzauber.«37 Danach lässt sich ein deutlicher Wandel des Hexenbildes vom 15. bis ————— 33
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Die einer solchen Vereindeutigung widersprechende Komplexität trifft auch für den Wagner des Wagnerbuchs zu, der zwar gegenüber Faustus die erheblich einsinnigere Figur ist, aber selbst ihm werden bei den Begegnungen mit den Indianern der neuen Welt affektive Regungen zugeschrieben, die verhindern, dass er in der Bezeichnung als »Hexe« aufgeht. Hinzu kommt, dass die im Wagnerbuch erfolgte Ausdehnung des chorographischen Horizonts auf die neue Welt dem Text einen informativen Status zuweist, der durch die Markierung Wagners als »Hexe« keineswegs gedeckt ist. Vgl. zu diesem Aspekt Ehrenfeuchter, Es ward Wagner zu Wissen getan. Baron (Die Hexenprozesse und die Entstehung des Faustbuchs, S. 71) hat dieses Problem durchaus gesehen, daraus aber eine überaus merkwürdige und seiner eigenen These widersprechende Schlussfolgerung gezogen: »Der Faustbuchautor übernahm die Polemik gegen den gelehrten Zauberer [von Weier und Lercheimer, MM], ohne die menschenfreundliche Absicht seiner Vorgänger empfinden oder mitteilen zu wollen. Er trennte Faust von der Gattung des Exempels und von der Hexendebatte.« Eine solche Betrachtung kann im Rahmen dieser Arbeit, zumal angesichts der unübersehbaren Forschungsliteratur zu diesem Thema, nur verkürzt und gestützt auf die einschlägige jüngere Forschungsliteratur erfolgen. Vgl. Behringer (Hg.), Hexen und Hexenprozesse, S. 35; Blauert, Frühe Hexenverfolgungen, S. 17-59; Levack, Hexenjagd, S. 39-58. Kleinöder-Strobel, Die Verfolgung von Zauberei und Hexerei, S. 19.
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zum Ende des 16. Jahrhunderts rekonstruieren. So unterscheidet Richard van Dülmen vier chronologisch aufeinander folgende Hexenbilder: Aus den Prozessen des 15. Jahrhunderts geht zunächst das Bild einer Hexe hervor, die vor allem Schaden stiftet. Zwar »taucht auch der Teufel auf, aber er spielt nur eine periphere, jedenfalls keine substantielle Rolle. Es fehlen der Teufelspakt und die Teufelsbuhlschaft.«38 Um 1500 beginnt sich dann unter dem Einfluss dämonologischer Schriften die Vorstellung vom Teufelspakt und der Teufelsbuhlschaft auszuformen, die neben die Fähigkeit zum Schadenszauber tritt. In der dritten Phase geht es zunehmend um das Verhältnis der Hexe zum Teufel; Teufelspakt und Beischlaf treten ins Zentrum. Der Schadenszauber wird nun im Auftrag des Teufels ausgeführt. Eine letzte Steigerung bildet das diabolische Hexenbild, das die Hexe als Teufelsdienerin zeigt, die sich der Macht des Bösen vollkommen unterworfen hat, dem Satanskult anhängt und Mitglieder einer Teufelssekte ist.39 Der Teufel versprach den Hexen in der Regel Macht, Einfluss, Reichtum, Gesundheit sowie die Schädigung ihnen verhasster Nachbarn und die Erfüllung sexueller Begierden. Die Gegenleistung der Hexen bestand in der Absage gegenüber dem christlichen Glauben, der Anbetung des Teufels, der Unterwerfung unter seinen Willen und dem Bestreben, anderen Menschen nachhaltig zu schaden und Böses zu tun.40 Dass der Teufel sich bevorzugt an Frauen wandte, wurde damit begründet, dass diese neugieriger als Männer seien und sich leichter überreden ließen.41 Die Reformation bewirkte in dieser Entwicklung keinen entscheidenden Bruch. Das hing zum einen damit zusammen, dass die einschlägigen Bibelstellen für die Begründung der Verurteilung des crimen magiae schon vor der Reformation herangezogen worden waren. Von daher bot sich keine Gelegenheit zu argumentieren, die Verfolgung von Hexen und Zauberern sei eine Erfindung der katholischen Kirche, die der Bibel widerspreche. Zum anderen war diese Kontinuität eine Folge von Luthers Teufelsglauben.42 Nicht zuletzt war der Vorwurf der Zauberei gegenüber dem Papsttum und der katholischen Kirche eine griffige Waffe. Allerdings lehnte Luther den Generalverdacht ab, dass überall dort, wo jemandem Leid geschehe, Hexen und Zauberer ihre Hand im Spiel hätten.43 Neben systematisch theologischen Gründen beruhte diese Ablehnung nicht zuletzt darauf, dass die ubiquitäre Warnung vor Hexen und Zauberern kei————— 38 39 40 41 42 43
Van Dülmen, Dienerin des Bösen, S. 387. Ebd., S. 388. Vgl. Siegfried Leutenbauer, Hexerei- und Zaubereidelikt, S. 39. Vgl. ebd. Zur Verbindung von Luthers Teufelsglauben und seiner Einstellung gegenüber dem Zauberund Hexenwesen vgl. Haustein, Martin Luthers Stellung, bes. S. 107-128. Vgl. ebd., S. 181f.
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neswegs nur erschreckend wirkte, sondern den Zauberern vielmehr Menschen zutrieb, die sich vor dem angeblich allgegenwärtigen Schadenszauber durch weiße Magie zu schützen hofften. Das war einer der Kritikpunkte, die Andreas Osiander in der Nürnberg-Ansbacher Kirchenordnung von 1533 unter der Überschrift »Vom kreutz und leyden« formulierte. Wenn irgendwo ein Leid geschehe so sprechen sie alsbald, es sey durch zauberey geschehen; und sollicher aberglaub regiert sunderlich bey dem einfeltigen paursvolck. Darauß folgt dann auch, das sie warsager, zauberer, brillenseher, teuffelsbeschwerer und andere solche gotlose leüt rats fragen, und nicht allein fragen, sunder iren lügen auch glauben und gemainklich die frümbsten, undschuldigisten leüt im verdacht haben und hynterrück gegen andern leüten vermeeren, darzu ihre teüffelskünst und hilf annemen, folgen und gebrauchen derselben, dardurch sie in abgötterey fallen, welliches alles solliche große und greüliche sünde sein, darumb gewißlich Gottes zorn kumbt über die kinder des unglaubens, wie Paulus spricht.44
Die Macht des Teufels und die Zulassung Gottes Für den theologischen Diskurs über Zauberei und Hexenwesen waren sechs Fragen von besonderer Bedeutung: 1. Die Frage nach der permissio dei; 2. die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes; 3. die Frage nach der Wirklichkeit der Zauberei; 4. die Frage nach der Willensfreiheit des Menschen; 5. die Frage nach den Gegenmitteln und 6. die Frage der Sanktionen.45 Im 16. Jahrhundert wurde die Frage nach der permissio dei in der Regel nach wie vor von Augustinus her beantwortet. Für ihn waren Dämonen, zu denen er insbesondere die antiken heidnischen Götter rechnete, gestürzte Engel, die sich aus eigener Willensfreiheit gegen Gott aufgelehnt hatten. Der Teufel war ihr Oberhaupt und zusammen bildeten sie das Reich des Widergöttlichen, das freilich nur aufgrund der Zulassung Gottes entstehen konnte.46 In seiner Auslegung zu Exodus 8 betonte Augustinus deshalb, die Zauberer hätten nicht die Macht der creatio ex nihilo, sondern könnten nur Geschaffenes verändern.47 An dieser Deutung orientierte sich Luther, denn so mächtig der Teufel ihm auch erschien, hielt er doch daran fest, dass er ein Geschöpf Gottes sei und ohne dessen Zulassung nichts bewirken könne.48 Daraus leite————— 44
45 46 47 48
Andreas Osiander, Nürnberg-Ansbacher Kirchenordnung von 1533, in: ders., Gesamtausgabe, Hg. von Gerhard Müller und Gottfried Seebaß, 8 Bde., Gütersloh 1975ff., Bd. 5, S. 64-177, hier S. 98. Vgl. zu diesem Fragenkatalog Kleinöder-Strobel, Die Verfolgung von Zauberei und Hexerei, S. 73-85. Vgl. Aurelius Augustinus, De doctrina christiana, II, 30. Ebd. Vgl. Kleinöder-Strobel, Die Verfolgung von Zauberei und Hexerei, S. 74f. Vgl. Haustein, Martin Luthers Stellung zum Zauber- und Hexenwesen, S. 107.
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te Luther die Aufforderung an jeden Christen ab, dem Teufel Widerstand zu leisten und nicht Gott allein den Kampf gegen den Teufel zu überlassen: Ja, er kans wol [i. e. den Teufel überwinden, MM], er wil es aber nit allein thun, er wil, das wir mit yhm wircken, unnd thut uns die ehre, das er mit uns und durch uns sein werck wil wircken.49
Die theologische Frage nach der Gerechtigkeit Gottes war von den Kirchenvätern dahingehend beantwortet worden, dass Gott vollkommen gut und gerecht und das Böse durch den freien Willen in die Welt gekommen sei. In diesem Punkt freilich vollzog Luther eine entscheidende Wende. Das Böse gehörte nach seiner Auffassung zum undurchdringlichen Heilsplan Gottes. Die Beweggründe des deus absconditus, des verborgenen Gottes, waren nach Luthers Überzeugung undurchdringlich; nur in Jesus Christus konnte daher Heilsgewissheit erlangt werden. Nach seiner Überzeugung war der deus absconditus zugleich der Gott des Gesetzes, der zürnende und richtende Gott. Ihm aber trat der deus revelatus zur Seite, der Christus, der sich für die Menschheit geopfert und sie damit von der Erbsünde befreit hatte. Deshalb sollte der Christ der göttlichen Güte gewiss sein und unerschütterlich an den deus revelatus glauben, jede Spekulation über den deus absconditus aber unterlassen.50 In der Frage der Realität der Zauberei gab es bereits vor der Reformation zwei einander widersprechende Traditionslinien. Ausgehend vom Canon Episcopi behauptete die erste Traditionslinie, dass es keine reale Zauberei gebe, sondern diese nur auf Eingebungen des Teufels beruhe, und verbot von daher die Annahme des realen Hexenfluges, des Wettermachens oder der Verwandlung von Menschen in Tiere u. ä.51 Diese Auffassung teilten etwa Ulrich Molitor, Johann Fichard, Andreas Alciatus, Samuel de Cassinis sowie der Rostocker Jurist Georg Gödelmann. Der Canon-Episcopi-Tradition stand seit Sprenger und Institoris die Linie des Malleus Maleficarum gegenüber, die alle Hexenwerke sowie Flug und Verwandlung für real und bewiesen hielt.52 Teilweise wurden beide Traditionen aber auch verbunden. So vertrat Weier die Auffassung, dass sich die als Hexen beschuldigten Frauen den Flug in der Regel nur einbildeten, schloss ihn andererseits aber nicht völlig aus, weil auch die Bibel verschiedene Beispiele von Teufelsflug erwähnte, zu denen unter anderem die Versuchung Christi gehörte, den der Teufel auf einen hohe Zinne brachte.53 ————— 49 50 51 52 53
Luther, Von den guten Werken (1520). In: WA 6, S. 227. Vgl. Barth, Der Teufel und Jesus Christus, S. 204. Vgl. Midelfort, Witch Hunting in Southwestern Germany, S. 23-29. Vgl. Kleinöder-Strobel, Die Verfolgung von Zauberei und Hexerei, S. 79. Vgl. Weier, De Praestigiis daemonum, S. 492f. Zur Versuchung Christi durch den Teufel, von dem alle drei synoptischen Evangelien erzählen, vgl. Mt. 4,1-11; Mk 1,12-13, Lk 4,1-13.
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Das Problem der Willensfreiheit, dessen Bedeutsamkeit für die juridische Bewertung eines Teufelspaktes von entscheidender Bedeutung war, wurde mit der Reformation erheblich komplexer, denn Luther gestand dem Menschen in der Frage des Heils keinen freien Willen zu. Der Hexenhammer hatte, wie Gerd Schwerhoff gezeigt hat, demgegenüber betont, dass der Teufelspakt ein freiwilliger Vertrag sei, der auf Gegenseitigkeit beruhe und zu dem der Teufel die Hexe nicht zwingen könne.54 Diese Linie blieb in den Hexenprozessen dominant, denn von ihr hing die Möglichkeit ab, den Hexen Verantwortung zuzurechnen und sie nicht einfach als bedauernswerte Opfer des Teufels erscheinen zu lassen. Bei Luther stellte sich die Frage komplizierter dar, denn in der Rechtfertigungsdiskussion verneinte er ausdrücklich den freien Willen des Menschen im Hinblick auf die göttliche Gnade. Andererseits bestritt er deswegen jedoch keineswegs die Fähigkeit des Menschen, die göttliche Gnade anzunehmen oder auszuschlagen: si vim liberi arbitrii eam diceremus, qua homo aptus est rapi spiritu et imbui gratia Dei, ut qui sit creatus ad vitam vel mortem aeternam, recte diceretur; hanc enim vim, hoc est, aptitudinem, seu ut Sopphistae loquuntur dispositivam qualitatem et passivam aptitudinem et nos confitemur.55
In Bezug auf die Erlangung des Heils lehnte er die Willensfreiheit ab, nicht aber in Bezug auf das Böse. »Für ihn blieb das Böse als Willenshandlung eine Wirklichkeit, ein Widerspruch des menschlichen Eigenwollens gegen Gott.«56 Haec igitur eorum voluntas et natura sic a Deo aversa non est nihil. Neque enim Satan et impius homo nihil est aut nullam naturam aut voluntatem habent, licet corruptam et aversam naturam habeant.57
Luther ging in konsequenter Durchführung des Gedankens der Allmacht Gottes so weit zu sagen, dass Gott auch im Teufel gegenwärtig sei: ————— 54
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Vgl. Schwerhoff, Rationalität im Wahn, S. 64f. Dieser Linie folgte auch Petrus Binsfeld, der betonte, dass der Teufel ohne den freien Willen machtlos wäre. Vgl. Binsfeld, Tractat von Bekanntnuß der Zauberer, S. 30-33. Luther, De Servo arbitrio, in: WA 18, S. 636: »Wenn wir dasjenige als Kraft des freien Willens bezeichnen sollen, wodurch der Mensch, als derjenige, der zum ewigen Leben oder Tod erschaffen ist, befähigt ist, vom Geist Gottes ergriffen und mit seiner Gnade erfüllt zu werden, so wäre das richtig gesagt. Diese Kraft nämlich, das heißt Fähigkeit, oder was die Sophisten dispositivam qualitatem oder passivam aptitudinem nennen, bekennen auch wir.« Karl Holl, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1: Luther. 2. u. 3. vermehrte und verbesserte Auflage, Tübingen 1923, S. 47 (zuerst in: Zeitschrift für Theologie und Kirche XXI (1911), Ergänzungsheft 1). Luther, De servo arbitrio, WA 18, S. 709. »Denn weder sind der Satan und der gottlose Mensch nichts, noch haben sie keine Natur oder keinen Willen, mögen sie auch eine verderbte und verkehrte Natur haben. Jener Rest der Natur, von dem wir beim Gottlosen und beim Satan sprechen, ist, da er Schöpfung und Werk Gottes ist, nicht weniger der göttlichen Allmacht und Wirkung unterworfen, als alle anderen Schöpfungen und Werke Gottes.«
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Illud igitur reliquum quod dicimus naturae in impio et Satana, ut creatura et opus Dei non est minus subiectum omnipotentiae et actioni divinae quam omnes alia creaturae et opera Dei. Quando ergo Deus omnia movet et agit, necessario movet etiam et agit in Satana et impio.58
Nach seiner Überzeugung bestand das wirksamste Gegenmittel gegen Hexerei und Zauberei in der Predigt des Evangeliums. Insbesondere in den reformatorischen Auseinandersetzungen mit der römisch-katholischen Kirche betonte Luther, dass die Predigt des Evangeliums die einzige Form der Heilsvermittlung sein könne und dass mit dem Hervorholen der Heiligen Schrift unter der Bank das Hexenwesen entscheidend abgenommen habe (»nunc Evangelio revelato est tanta non audiuntur«).59 Dennoch verwarf Luther – wie auch andere evangelische Theologen – die Todesstrafe für Hexen und Zauberer nicht grundsätzlich.60 In einer Reihe von Predigten über Exodus 22, die er ab Herbst 1524 in der Wittenberger Stadtkirche hielt, forderte er mehrfach die Todesstrafe für Hexen.61 In der Vorlesung über das Zwölfprophetenbuch verlangte er allerdings lediglich den Ausschluss der Delinquenten aus der Gemeinde.62 Anders als die Constitutio Criminalis Carolina machte Luther keinen Unterschied zwischen schädigender und nicht-schädigender Magie, da für ihn das eigentliche Verbrechen der Zauberei im Verstoß gegen das erste Gebot bestand, d. h. nicht im Schadenszauber, sondern im Abfall von Gott.63 Denn wie die Juristen fein künstlich disputiren und reden von mancherlei Art der Rebellion und Mißhandlung wider die hohe Majestät, und unter anderen zählen sie auch diese, wenn einer von seinem Herrn feldflüchtig, treulos wird, und begibt sich zu den Feinden; und denselbigen allen erkennen sie zu die peinliche Strafe von Leib und Leben. Also auch, weil Zäuberei ein schändlicher, gräulicher Abfall ist, da einer sich von
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Ebd., S. 709. Ähnlich äußert sich Luther auch in den Tischreden (WA Tr 1, S. 101): »Ibi alter: Ergo est etiam in Diabolo? – Ita, et essentialiter quidem etiam in inferno, sicut. 2. Thess. 1: qui poenas dabunt in interitu aeterno a facie domini.« Luther, Galaterkommentar, WA 40 II, S. 12f. An anderen Stellen betont Luther jedoch im Gegenteil, das Hexenwesen habe extrem zugenommen. Vgl. Haustein, Martin Luthers Stellung zum Zauber- und Hexenwesen, S. 68-95. Kleinöder-Strobel, Die Verfolgung von Zauberei und Hexerei, S. 35. Vgl. WA 16, S. 551f.. Vgl. Haustein, Martin Luthers Stellung zum Zauber- und Hexenwesen, S. 123-126. Vgl. Vorlesung über das Zwölfprophetenbuch von 1524, WA 13, S. 697. Siehe dazu auch Haustein, Martin Luthers Stellung zum Zauber- und Hexenwesen, S. 127. Vgl. Kleinöder-Strobel, Die Verfolgung von Zauberei und Hexerei, S. 36. Luther bildete mit dieser Position keine Ausnahme, sie war vielmehr im theologischen Diskurs bei Protestanten wie Katholiken die Mehrheitsmeinung.
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Gott, dem er gelobt und geschworen ist, zum Teufel, der Gottes Feind ist, begibt, so wird sie billig an Leib und Leben gestraft.64
Wiederholt übte Luther deshalb auch Kritik an weltlichen Herren, denen er vorwarf, das Verbrechen der Magie nicht nur nicht zu verfolgen, sondern es an ihren Höfen praktizieren zu lassen.65 Angesichts von Luthers wiederholten Stellungnahmen zum Zaubererund Hexenwesen sowie seiner Annahme, dass der Teufel der »Fürst dieser Welt« sei, von dem er sich selbst permanent belauert und bedroht fühlte, ist es nicht verwunderlich, dass der Hexen- und Zaubereidiskurs des 16. Jahrhunderts nahezu vollständig von Protestanten bestritten worden ist. Die katholische Dämonologie hatte dagegen seit Institoris und seinem Gegner Molitor keine neuen Aspekte entwickelt.66 Ende des 16. Jahrhunderts erschienen aber wieder verstärkt Traktate katholischer Autoren, wie die Schriften von Jean Bodin (1580), Nicolaus Remigius (1595), Petrus Binsfeld (1590) oder Martin Delrio (1599), die vornehmlich lateinisch abgefasst waren, aber rasch übersetzt wurden. Der Tractatus de confessionibus maleficorum des Trierer Weihbischofs Peter Binsfeld (1589), der 1590 unter dem Titel Tractat von Bekanntnuß der Zauberer vnnd Hexen in einer von ihm selbst übersetzten deutschen Ausgabe erschien, lieferte die Legitimation für härteste Verfolgungen, die Binsfeld in seinem Trierer Bistum auch selbst in Gang setzte. Bei Binsfeld lässt sich die Verbindung zwischen dämonologischen Traktaten und der Verfolgungspraxis deutlich ablesen, denn er behandelte genau die Fragen, die zur Legitimation gerichtlicher Verfolgung erforderlich waren, wobei er das zeitgenössische Prozessrecht, das strenge Auflagen für den Einsatz der Folter vorsah, weitgehend ignorierte. Schon eine einzige Denunziation sollte ein Indiz zur Folter sein, zwei oder mehrere »Besagungen« konnten den Einsatz fortgesetzter Folter legitimieren.67 Definitionen von Hexerei Die Definition dessen, was genau eine Hexe und was ein Zauberer sei und wie sie unterschieden werden könnten, war im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert keineswegs eindeutig. Es kursierten verschiedene Begriffe, mit denen unterschiedliche Typen von Hexen und Zauberern bezeichnet wur————— 64 65 66 67
WA TR 6, S. 222 (=6836); vgl. dazu Haustein, Martin Luthers Stellung zum Zauber- und Hexenwesen, S. 126. Vgl. ebd., S. 65. Vgl. Behringer (Hg.), Hexen und Hexenprozesse, S. 184. Vgl. Binsfeld, Tractat von Bekanntnuß der Zauberer, S. 179.
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den. Die geläufigsten lateinischen Begriffe für Hexen und/oder Zauberer waren laniae, lamiae, striges, maleficus, veneficus, sortilegi, superstitiosi und negromantici. Als laniae, lamiae, striges wurden solche Personen bezeichnet, die ein Bündnis mit dem Teufel schlossen, diesen als Gott verehrten und mit ihm zu Zusammenkünften durch die Luft ritten. Diese Bezeichnungen wurden eher für Frauen verwendet.68 Maleficus und veneficus bezeichnete dagegen die flugfähigen Zauberer, die zumeist, aber nicht allen Fällen auch als Schadenszauberer wirkten.69 Sortilegi, superstitiosi oder negromantici waren dagegen jene, die die Zukunft weissagten und Auskunft über die unbekannte Vergangenheit gaben; die diese Kunst Ausübenden wurden auch als sortilegi proprie oder incantatores bezeichnet, bei denen wiederum zwei Gruppen unterschieden wurden: die negromantici, welche den Teufel ausdrücklich anriefen, und die augures, die ihr Wissen aus der Betrachtung von Dingen, Tieren oder Menschen zogen.70 Betrachtet man die frühneuhochdeutschen Übersetzungen, so entsprechen den lamiae und striges die Hexen, den sortilegi und magi die Wahrsager und Schwarzkünstler und den malefici die Zauberer.71 Zusammenfassend ist bei der Benennung der Hexen zu bemerken, daß im Gegensatz zu den Zeiten des Hexenhammers die maskulinen Bezeichnungen ›magus‹, ›Zauberer‹, ›sorcier‹ bei weitem häufiger als die femininen ›lamia‹, ›striga‹, ›Hexe ‹ vorkommen. Eine Zuspitzung auf das weibliche Geschlecht ist also in den späteren Schriften nicht mehr zu beobachten. Dies gilt vornehmlich für die Autoren, die sich nur theoretisch mit dem Hexenwesen auseinandersetzen. Bei den Praktikern Graminaeus und Remy auch beim Hexenprozeßgegner Godelmann hingegen überwiegt die weibliche Bezeichnung […].72
Sechs Komplexe wurden, wie bereits erwähnt, zur Definition der Hexerei herangezogen und spielten in den Prozessen eine entscheidende Rolle: 1. der Pakt mit dem Teufel; 2. das maleficium, der Schadenszauber; 3. der Flug zum Sabbat; 4. die Teilnahme am Sabbat; 5. die Teufelsbuhlschaft; 6. die Tierverwandlung.73 Diese sechs Bestandteile bildeten zusammen oder einzeln die Hauptanklagepunkte des crimen magiae.74 Die kontinuierlichste Anschuldigung war die des maleficiums, die für unterschiedliche Formen von Schadenszauber verwendet wurde, wobei umstritten blieb, ob nur der Teufel den Schaden bewirken könne oder ob er dazu der Mitwirkung der Hexe oder des Zauberers bedürfe. Die Befürworter der Hexenprozesse gingen da————— 68 69 70 71 72 73 74
Vgl. Leutenbauer, Hexerei- und Zaubereidelikt, S. 5; Lecouteux, Hexe und Hexerei als Sammelbegriff. Vgl. Leutenbauer, Hexerei- und Zaubereidelikt, S. 7. Vgl. ebd., S. 12f. Vgl. ebd., S. 15. Siefener, Hexerei im Spiegel der Rechtstheorie, S. 31. Vgl. Siefener, Hexerei im Spiegel der Rechtstheorie, S. 34f. Ebd., S. 35.
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von aus, dass die Hexen oder Zauberer das maleficium nach dem Pakt auch selbständig ausüben konnten, weil der Teufel ihm die Macht dazu verliehen habe, während die Gegner der Hexenprozesse, zu denen Weier und Lercheimer zählen, die Annahme einhellig ablehnten, das maleficium könne allein in der Macht des Zauberers oder der Hexe liegen.75 Die meisten Verfasser dämonologischer Traktate waren aber davon überzeugt, dass es dem Teufel möglich sei, Zauberer und Hexen durch die Luft zu führen. So schreibt etwa der Trierer Weihbischof Petrus Binsfeld (ca. 1540-1598) in seinem Tractat / Von Bekanntnuß der Zauberer vnd Hexen: »Die Zauberer und Hexen werden offt dem Leib nach warhafft vnd wesentlich von einem Ort zum andern / zu jhrer Versamblung getragen.«76 Gelegentlich seien die Flüge aber auch nur eingebildet: »Sie werden nit allzeit leiblich zu jhrer Versamblung geführet / sonder geschehe bißweilen Verblendung in der Imagination vnd Fantasey.«77 Auch Anton Praetorius, der dem Hexenflug eher skeptisch gegenüberstand und Flugsalben als Unfug betrachtete, hielt es durchaus für möglich, dass der Teufel Menschen durch die Luft führe: »Das glaub ich wol / vnd ist erfahren / daß der Teuffel selbst etliche hie und dorthin bißweilen führe.«78 Der Unterschied zwischen Verfolgungsbefürwortern und Verfolgungsgegnern bestand hier vorwiegend darin, dass die Verfolgungsgegner nicht an die Existenz des Hexensabbats glaubten und dessen detailierte Ausmalung in den Traktaten der Verfolgungsbefürworter selbst für perverse teuflische Eingebungen hielten. Als gesichert galt dagegen auf beiden Seiten die Lehre vom sexuellen Verkehr mit dem Teufel in der Gestalt von den Incubi / (»der Aufliegende«; männliche Form) und Succubi (»die Unterliegende«; seltenere weibliche Form). Schon Thomas von Aquin war davon ausgegangen, dass es zwischen Menschen und dem Teufel zu sexuellem Verkehr kommen konnte.79 Thomas hatte auch nicht an der Möglichkeit gezweifelt, durch den Verkehr mit dem Teufel Nachkommen zu zeugen. Diese Kinder seien menschlich, da die Dämonen keinen eigenen Samen besäßen, sondern ihn als (weibliche) Succubi aufnehmen und ihn als (männliche) Incubi weitergeben würden.80 Diese Auffassung blieb bei den katholischen wie protestantischen Verfolgungsbefürwortern dominant, wohingegen die protestantischen Verfol————— 75 76 77 78 79 80
Vgl. ebd., S. 127. Binsfeld, Tractat von Bekanntnuß der Zauberer, S. 135. Ebd., S. 141. Praetorius, Von Zauberei und Zauberern gründlicher Beweis, S. 58. Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I, qu. 51. Siehe dazu Thomas Linsenmann, Die Magie bei Thomas von Aquin, Berlin 2000, S. 227f. Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I, qu. 51. Siehe dazu auch: Siefener, Hexerei im Spiegel der Rechtstheorie, S. 129f.
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gungsgegner, wie Weier und Lercheimer, sie bestritten. Nach ihrer Überzeugung konnte der Teufel auch mit Hilfe aufgenommenen männlichen Samens keine Kinder zeugen, sondern lediglich Kinder durch Sinnestäuschung vorspiegeln.81 Die vorgesehenen Strafen für das crimen magiae In den dämonologischen Traktaten begründete der Verkehr mit der Hölle, der sich im Pakt mit dem Teufel manifestierte, die Todesstrafe. Allerdings bestand hier eine entscheidende Differenz zum weltlichen Recht, das für die Verfolgung der Hexen und Zauberer zuständig war. Die wesentliche Strafvorschrift der Constitutio Criminalis Carolina, der Artikel 109 »Straff der zaubery«, machte hinsichtlich der Strafen einen deutlichen Unterschied zwischen schädlicher und nicht schädigender Magie: Item so jemandt den leuten durch zauberey schadenn oder nachtheill zufuegt, soll man straffen vom lebenn zum tode. Vnnd man solle solliche straff mit dem feuer thun. Wo aber jemant zauberey gepraucht, vnd damit nymandt schadenn gethon hete, soll sunst gestrafft werden, nach gelegennheit der sache. Darjnne die vrtheiler Raths geprauchen sollen, alls vom Rathsuchen hernach geschribenn steet.82
Eine ähnliche Position hatte auch schon der Artikel 131 der Bamberger Halßgerichtsordnung von 1507 über die Bestrafung der Zauberer eingenommen: Straff der Zauberey. So yemant den lewten durch Zauberey schaden oder Nachteyl zufüget, sol man straffen vom leben zum tode, und man sol sölche straff gleich der ketzerey mit dem fewer thun. Wo aber yemant Zauberey gebraucht, und damit niemant keinen Schaden gethan hette, sol sunst gestrafft werden, nach Gelegenheit der sach, darinnen die Urteyler Rats gebrauchen söllen, als vom radtsuchen geschrieben stet.83
Beide Kodifikationen sahen also nur für Schadenszauber die Todesstrafe vor.84 In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts kam es jedoch zu einer deutlichen Verschärfung der Strafbestimmungen. Mit der Kursächsischen Kriminalordnung von 1572 wurde erstmals nicht nur für die Ausübung von ————— 81 82 83
84
Vgl. Weier, De Praestigiis Daemonum, S. 215; Lercheimer, Christlich bedencken, ed. Binz, S. 68-71. Constitutio Criminalis Carolina, Art. 109. Zur Carolina und ihrer Funktion im Kontext der Hexenverfolgung vgl. Ströhmer, Carolina. Bambergische Halßgerichts und Rechtliche Ordnung/inn peinlichen sachen zu volnfarn, o. A. 1543 (1507), zit. nach Leutenbauer, Hexerei- und Zaubereidelikt, S. 97. Die Übereinstimmung zwischen der Bamberger Halßgerichtsordnung und der Constitutio Crimiminalis Carolina ist kein Zufall, denn die letztere stützte sich weitgehend auf erstere. Vgl. Siefener, Hexerei im Spiegel der Rechtstheorie, S. 223.
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Schadenszauber, sondern bereits für den Teufelspakt die Todesstrafe vorgesehen: Alldieweil die Zauberei hin und wieder heftig einreißt, und nicht allein in gemeinen beschriebenen kaiserlichen Rechten, sondern auch in göttlicher Schrift zum höchsten verboten ist, demnach ordnen wir, so jemand in Vergessung seines christlichen Glaubens mit dem Teufel Verbündnis aufrichtet, umgeht oder zu schaffen hat, daß dieselbige Person, ob sie gleich mit Zauberei niemand Schaden zufügt, mit dem Feuer vom Leben zum Tode gerichtet und gestraft werden soll.85
Dieser Verschärfung folgten auch die Bayerische Halsgerichtsordnung, das Kurpfälzische Landrecht von 1587 sowie das Bayerische Landgebott wider Aberglauben, Zauberey, Hexerey vnd andere sträffliche Teuffelskünste von 1611.86 Die Verfolgungswellen Ab 1560 kam es in Deutschland zu den ersten größeren Hexenverfolgungen seit der Reformation, die sowohl in protestantischen als auch in katholischen Gebieten stattfanden. Die größte Verfolgung fand in der protestantischen Herrschaft Wiesensteig auf der Schwäbischen Alb statt, wo zwischen 1562 und 1564 sechzig Frauen als Hexen verbrannt wurden.87 Diese erste Verfolgungswelle, die jedoch nur der Auftakt zu der sehr viel größeren der achtziger Jahre war, war der Anlass für Johann Weiers 1563 erschienenen Traktat De Praestigiis Daemonum. Freilich gelang es Weier mit seinem Manifest nicht, die Wellen der Verfolgungen entscheidend zu beeinflussen. Nach der europäischen Hungerkrise von 1570 entwickelte sich eine zweite Verfolgungswelle, die von der in den 1580er Jahren bei weitem übertroffen wurde. Deutschland war nicht das einzige europäische Land, in dem Hexen verbrannt wurden, aber es bildete einen Schwerpunkt der Hexenverfolgung. Insgesamt kann man sagen, dass die Hexenverfolgung dort besonders um sich griff, wo sich seit der Reformation zwei verfeindete Konfessionen gegenüberstanden, die die jeweils andere für jede Notlage und den Verfall der göttlichen Ordnung verantwortlich machte. Die Verfolgung mit den höchs-
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Des (…) Fürsten (...) Augusten von Sachsen (...) Verordnungen und Constitutionen des Rechtlichen Proces, Dresden 1572, S. 74f. Zit. nach Behringer (Hg.), Hexen und Hexenprozesse, S. 158. Vgl. Siefener, Hexerei im Spiegel der Rechtstheorie, S. 28. Vgl. Behringer (Hg.), Hexen und Hexenprozesse, S. 135f. Behringer geht, wie ein großer Teil der jüngeren Forschung, davon aus, dass diese Welle der Hexenverfolgung mit dem Aufeinanderfolgen von Schlechtwetterperioden, Missernten, Teuerung und Seuchen zu tun hat. Jedenfalls lässt sich zwischen beiden eine ökologische Korrelation herstellen.
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ten Opferzahlen ereignete sich zwischen 1585 und 1593 im Erzstift Trier unter dem Weihbischof Peter Binsfeld.88 Die Kurtrierer Verfolgung setzte völlig neue Maßstäbe. Erstmals wurden in Deutschland in einer langjährigen Verfolgung mehrere hundert Personen wegen Hexerei hingerichtet, außerdem wurden dabei alle sozialen Schranken fallengelassen, auch Adlige und Mitglieder der bischöflichen Regierung mußten die Scheiterhaufen besteigen. Kurtrier wurde deshalb zum reichsweiten Exempel.89
Die vermutlich größten Hexenprozesswellen überhaupt aber fanden zwischen 1626 und 1630 in den fränkischen Hochstiften Bamberg und Würzburg sowie im Kölner Erzstift90 und dem Herzogtum Westfalen statt. Ihr fielen mehrere Tausend Menschen zum Opfer.91 Es gab daneben aber auch Gebiete, wie etwa die reformierte Kurpfalz, in der die Kurfürsten die Durchführung von Hexenprozessen weitgehend verhinderten. Die Kurfürsten Friedrich IV. (1583-1610) und Friedrich V. (1610-1623/32) und ihre Regierung, Administration und Universität in Heidelberg stellten sich bereits im 16. Jahrhundert auf den Standpunkt, daß es keine Hexen gebe. Sie führten daher keine Hexenprozesse und verhinderten mit Macht, daß lokale Gerichte in der Oberpfalz solche zuließen.92
Die Kurpfalz war jenes Territorium, in dem der Melanchthonschüler Augustin Lercheimer unter seinem richtigen Namen Hermann Witekind an den Universitäten Heidelberg und Neustadt Griechisch und Mathematik lehrte und wo er seinen Traktat Ein Christlich Bedencken von Zauberey abfasste, der vermutlich nicht wenig zu diesem Verzicht auf die Hexenverfolgung beigetragen hat.93 Gegen die Verfolgungswelle, die unter der Ägide des Kölner Erzbischofs Ferdinand von Bayern (1577-1650) stattfand, richtete sich Friedrich Spee mit seiner 1630 erschienen Cautio Criminalis. Den Zeitgenossen war die Reichweite der Hexenverfolgungen durchaus bewusst, wobei sich dieses Bewusstsein in zwei Richtungen entwickelte: Die einen sahen das Hexenwesen, je mehr in den Prozessen »aufgedeckt« wurde, als noch viel bedrohlicher an, als man es bislang schon vermutet hatte, und forderten eine Ausdehnung der Untersuchungen und Verfolgungen ————— 88
89 90
91 92 93
Zur Hexenverfolgung in Kurtrier vgl. Walter Rummel, Phasen und Träger kurtrierischer und sponheimischer Hexenverfolgungen, in: Gunther Franz und Franz Irsigler (Hg.): Hexenglaube und Hexenprozesse im Raum Rhein - Mosel - Saar, Trier 1995, S. 255-331. Behringer (Hg.), Hexen und Hexenprozesse, S.180f. Vgl. Gerd Schwerhoff: Hexenverfolgung in einer frühneuzeitlichen Großstadt - das Beispiel der Reichsstadt Köln, in: Hexenverfolgung im Rheinland. Ergebnisse neuerer Lokal- und Regionalstudien (Bensberger Protokolle 85), Bensberg 1996, S.13-56. Vgl. Behringer (Hg.), Hexen und Hexenprozesse, S. 186-188. Vgl. ebd., S. 193. An einzelnen Orten kam es aber doch zu Hexenprozessen, weil lokale Gerichte sich nicht immer an die Weisungen hielten. Vgl. Schmidt, Hexenprozesse in der Kurpfalz. Zu Lercheimers Position vgl. Ulbricht, Der sozialkritische unter den Gegnern.
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Identitäre Semantiken
auch auf ihr Gebiet94; die anderen beobachteten die sich ausbreitende Hysterie und die zunehmende Grausamkeit der Verfolgungen mit Entsetzen und sahen das Wirken des Teufels, wenn überhaupt, dann in den Folterungen und Hinrichtungen selbst.95 Während in den dämonologischen Traktaten des späten 16. Jahrhunderts der Schadenszauber keine große Rolle spielte und stattdessen der Teufelspakt die entscheidende Markierung bildete, war in den Hexenprozessen der Schadenszauber der entscheidende Ausgangspunkt. In der Regel kam es an einem Ort dann zur Eröffnung von Prozessen, wenn ein Gemeindemitglied verdächtigt wurde, ein Unwetter, eine Missernte oder ein familiäres Unglück durch Schadenszauber herbeigeführt zu haben. Die großen Verfolgungswellen sind zunächst häufig durch schlechte Wetterlagen, Missernten, Hungersnöte und Seuchen ausgelöst worden, so dass der angenommene Schadenszauber als Ursache fast zwangsläufig den Ausgangspunkt bildete. Das konnte sich freilich im Laufe einer Prozesswelle ändern: Zunächst wurde sie häufig von der Anschuldigung ausgelöst, jemand habe sich des Schadenszaubers schuldig gemacht, aber aus den unter der Folter erpressten Geständnissen, bei denen stets Komplizen genannt werden sollten, folgten weitere Prozesse, in denen nicht mehr der unbedingt der Schadenszauber, sondern Hexensabbat und Teufelsbuhlschaft in den Mittelpunkt traten. Fausts Delikte Da die Historia im Kontext einer der schwersten Hexenverfolgungswellen des 16. Jahrhunderts erschien, in der das crimen magiae durch eine Reihe unterschiedlicher Aspekte definiert wurde, scheint es mir sinnvoll, im Anschluss an Frank Baron und Gerhild Scholz Williams der Frage nachzugehen, welcher der in den Prozessen und den dämonologischen Traktaten mit der Zauberei verbundenen Delikte Faustus sich schuldig macht und ob ihn dies, wie Williams behauptet, zu einer »Hexe« macht. Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass auf Faustus eine ganze Reihe der in den Hexenprozessen üblichen Anschuldigungen zutreffen: die Teufelsbeschwörung und der Teufelspakt, die Teufelsbuhlschaft und der Teufelsflug sowie eine große Zahl von Zaubereien. Mehrere denkbare Delikte fehlen aber auch, so etwa der Flug zum Hexensabbat und die Teilnahme daran. Außerdem bedarf es einer genaueren Analyse, welcher Art von Zauberei sich Faustus bedient, denn die oben gezeigten Widersprüche zwischen den rechtlichen Bestimmungen, den ————— 94 95
Vgl. etwa Behringer (Hg.), Hexen und Hexenprozesse, Nr. 224, S. 372f. Vgl. ebd. Nr. 228, S. 377f.
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Faustus der Zauberer
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dämonologischen Traktaten und der juristischen Praxis in den Hexenprozessen machen eine genauere Differenzierung erforderlich. Da der Sabbatflug und die Teilnahme am Hexensabbat mit seinen perversen sexuellen Praktiken jene Delikte waren, die sowohl in den Prozessen als auch in den die Verfolgungen befürwortenden dämonologischen Traktaten den Hexen angelastet wurden, keines der Faustbücher aber Faustus mit solchen Praktiken in Verbindung bringt, ist auszuschließen, dass die Faustbücher ihn zu einer »Hexe« gemacht hätten.96 Vielmehr findet hier offenbar eine scharfe Grenzziehung statt, denn zum Hexensabbat gehört nicht nur die Teilnahme daran, sondern auch das Verlocken und Anwerben anderer Teilnehmerinnen zu den orgiastischen Praktiken des Teufels, die erst den Aspekt der Teufelsverschwörung hervorbringt.97 Faustus befindet sich zwar häufig in Gesellschaft und veranstaltet mit Studenten in der Fastenzeit Essund Trinkgelage, aber diese haben einen rein innerweltlichen Bezug, der Teufel fungiert hier lediglich als Beschaffer von Speis und Trank oder als Unterhaltungskünstler, eine Unterwerfung unter seine Herrschaft mittels sexueller Handlungen findet nicht statt. Der Teufelspakt kann in seiner konkreten Ausgestaltung ebenfalls kaum als Beleg für diese These dienen. Wenngleich den Hexen in den Prozessen ein Pakt mit dem Teufel nachgewiesen werden sollte, wurde der Pakt als schriftlich abgefasster Vertrag vorwiegend männlichen Teufelsbündnern zugeschrieben. Das lag nicht in erster Linie an der misogynen Einstellung der Hexenverfolger, sondern daran, dass die meisten der als Hexen angeklagten Frauen weder lesen noch schreiben konnten und es von daher angezeigt war dem Pakt einen anderen Vollzug zuzuschreiben.98 Bei den beschuldigten Frauen ging man in der Regel davon aus, dass ihnen der Teufel den Pakttext vorsprach und sie diesen dann beschwören mussten, oder dass er durch sexuelle Unterwerfung und perverse Handlungen, wie den Anuskuss, vollzogen wurde.99 Diese Praktiken galten jedoch seit der Mitte des 16. Jahrhunderts nicht als Ausdruck weiblichen Begehrens, sondern als vom Teufel erzwungen. Auch der Verkehr mit dem Teufel wurde für die Hexen ————— 96
97
98 99
Das gilt auch für Christoph Wagner. Zwar hat Rolf Schulte von den Zauberern als »Hexenmeistern« gesprochen, aber auch daraus lässt sich keine Identifizierung von Zauberer und Hexe ableiten. Vgl. Schulte, Hexenmeister, bes. S. 107-110. Zum Sabbat und dem Sabbatflug vgl. van Dülmen, Imaginationen des Bösen; Roper, Hexenwahn, S. 148-161. Zum Aspekt geschlechtsspezifischer Zuschreibungen im Rahmen der Hexenverfolgung vgl. Labouvie, Männer im Hexenprozeß. Zum Hexensabbat als orgiastischer Zusammenkunft vgl. van Dülmen, Imaginationen des Teuflischen; Brackert, Zur Sexualisierung des Hexenmusters; Clark, The »Gendering« of Witchcraft. Vgl. Fischer, Geschichte der Teufelsbündnisse; Daxelmüller, Teufelspakt. Beispiele für das Vorsprechen des Pakttextes durch den Teufel finden sich bei Wilde, Die Zauberei- und Hexenprozesse, S. 267-274.
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Identitäre Semantiken
nicht als lustvoll, sondern als schmerzhaft beschrieben.100 Bei den Hexen ging man auch nicht davon aus, dass sie den Teufel beschworen, weil sie zu diesen – den dämonologischen Abhandlungen zufolge häufig mit Formeln der Kabbala oder verkehrten lateinischen Messformeln ausgeführten – Beschwörungen überhaupt nicht fähig waren. Deshalb trat der Teufel nach den dämonologischen Beschreibungen in der Regel von sich aus an die Frauen heran, wobei deren Armut und Ungebildetheit – bei den Verfolgungsbefürwortern freilich auch ihre natürliche Bosheit – als Grund dafür angeführt wurde, dass die Wahl des Teufels auf sie fiel.101 Weier102 und Lercheimer103 führten insbesondere die Armut und Verzweiflung der Hexen als Grund an, weshalb sie sich einbildeten, ein schöner Jüngling sei an sie herangetreten und habe ihnen die Erlösung aus ihrer Not versprochen, wenn sie ihm zu Willen wären. Auch der Zauberflug und die Teufelsbuhlschaft geben keinen Anlass, in Faustus eine Hexe zu sehen, denn beide Delikte wurden regelmäßig auch männlichen Zauberern zugeschrieben. Die zentrale Differenz waren das Ziel und der Kontext: Flug und Buhlschaft wurden dann zu klassischen Hexendelikten, wenn sie mit dem Hexensabbat verbunden waren.104 Das Argument, dass dem Teufel am Zusammenführen der Hexen sehr gelegen sei, findet sich auch außerhalb des Kontextes der Gerichtsverfahren: So hob Ludwig Milichius in seinem Zauber Teuffel hervor, dass der Teufel die Zusammenführung der Hexen dazu nutze, ihre Unterwerfung unter seinen Willen fortgesetzt zu bestätigen.105 Innerhalb der Gerichtspraxis wurde der Hexensabbat benötigt, um die Hexenverschwörung belegen und damit die Folter und weitere Verfolgungen legitimieren zu können.106 Die Vorstellung der Verschwörung war es auch, aus der die Verfolgungswellen erwuchsen: Eine einzelne Hexe wäre von örtlichen Gerichten leicht abzuurteilen und die Sache damit erledigt gewesen. Erst der Verschwörungsgedanke legitimierte die Vervielfachung der Prozesse, so dass ein erster Prozess zahlreiche weitere nach sich ziehen konnte.107 Üblicherweise kamen Hexenprozesswellen erst dann an ihren Kulminations- und Endpunkt, wenn die Frauen unter der Folter die Namen immer höher gestellter Personen weiblichen oder männli————— 100 101 102 103 104
Vgl. Siefener, Hexerei im Spiegel der Rechtstheorie, S. 143. Vgl. Schwerhoff, Rationalität im Wahn, S. 75-77. Vgl. Weier, De Prastigigiis Daemonum, S. 157f. Vgl. Lercheimer, Eyn Christlich Bedencken, ed. Binz, S. 13 u. S. 122-125. Gelegentlich wurde aber auch Männern die Teilnahme am Hexensabbat vorgeworfen. Vgl. Schulte, Hexenmeister, S. 249f. 105 Vgl. Milichius, Zauber Teuffel, ed. Stambaugh, S. 99f. Zu Milichius’ Zauber Teuffel vgl. Brüggemann, Die Angst vor dem Bösen, S. 189f. 106 Vgl. Wilde, Die Zauberei- und Hexenprozesse in Kursachsen, S. 274-278; Behringer, Geschichte der Hexenforschung, S. 94. 107 Vgl. Schwerhoff, Vom Alltagsverdacht zur Massenverfolgung.
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Faustus der Zauberer
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chen Geschlechts als Teilnehmer an der Verschwörung preisgaben. Wenn die Verfolgungen dann bis weit in die bürgerliche Oberschicht und den Adel hinein reichten, machten höhere Instanzen den Verfolgungen durch örtliche Gerichte oder die Inquisition, die in den katholischen Gebieten die Untersuchungen führte und die Delinquenten anschließend den weltlichen Gerichten übergab, in der Regel ein Ende.108 Die Beschwörung des Teufels und der Teufelspakt waren die schwerwiegendsten Anschuldigungen, denn sie beinhalteten das intendierte und mit vollem Bewusstsein vollzogene crimen laesae maiestatis. Das volle Bewusstsein des Vollzugs galt sowohl bei den Verfolgungsbefürwortern als auch den Befolgungsgegnern als besonders schwerwiegend und machte jede Form der Exkulpation unmöglich. Da man davon ausging, dass Männer sich eher auf die magischen Rituale und den Gebrauch von Messformeln verstanden, wurde ihnen die gezielte und absichtsvolle Beschwörung des Teufels häufiger vorgeworfen als Frauen.109 Die dreimalige Beschwörung des Teufels und die Verhandlungen vor dem Paktabschluss sind in allen Faustbüchern sehr breit auserzählt, womit die Intention des Paktschlusses narrativ extrem verdeutlicht wird.110 Die doppelte Blutverschreibung im ersten und zweiten Pakt ist sowohl in kirchrechtlicher als auch in dämonologischer Hinsicht von entscheidender Bedeutung, denn sie begründet die Vorstellung von der Unauflöslichkeit des Teufelspakts.111 In einem Zaubereiprozess wäre ein Angeklagter schon allein dafür hingerichtet worden. Das zentrale Delikt, das Faustus neben Beschwörung und Pakt zur Last hätte gelegt werden können, ist die Buhlschaft mit dem Teufel. Dieses Delikt wurde in den dämonologischen Schriften wie auch den Prozessen sowohl Hexen als auch Zauberern zugeschrieben.112 Allerdings bleibt auf der ————— 108 Vgl. Behringer, Hexen und Hexenprozesse, bes. S. 314-330; ders., Hexenverfolgung in Bayern, bes. S. 167-192; Wilde, Die Zauberei- und Hexenprozesse in Kursachsen, S. 284-327. 109 Vgl. Wilde, Die Zauberei- und Hexenprozesse in Kursachsen, S. 31; magische Akte wurden bei Frauen in der Regel anders gekennzeichnet als bei Männern. Vgl. Schwerhoff, Rationalität im Wahn, S. 60. 110 Schon Thomas von Aquin unterscheidet in seiner Summa theologiae zwischen dem ausdrücklichen Pakt (»pactum expressum«), der durch die Anrufung des Teufels und den Schluss eines Vertrags zustande kommt, und und dem stillschweigenden Pakten (»pactum tacitum«), der durch den Vollzug einer zauberischen Handlung ohne Anrufen des Teufels begründet wird. Vgl. Summa theologiae, II, II, 92-97. 111 So hat Renate Zelger darauf hingewiesen, dass die Blutverschreibung auf Selbstvergeiselung hindeute, die den Vertrag per se wirksam mache. Vgl. Zelger, Teufelsverträge, S. 88. Faustus schreibt den Pakt vollständig mit seinem eigenen Blut: »D. Faustus last jhm das Blut herauß in einem Tiegel / setzt es auff warme Kolen / vnd schreibt« (Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 22; Faustbuch, ed. Müller, S. 854). Zur allgemeinen Beschreibung und Einschätzung des Teufelspakts im Kontext der Hexenverfolgung vgl. auch Siefener, Hexerei im Spiegel der Rechtstheorie, S. 96f.; zur Geschichte des Teufelspakts vgl. Neumann, Verträge und Pakte. 112 Vgl. Schulte, Hexenmeister, S. 249.
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Identitäre Semantiken
Ebene der Erzählung in der Historia, der Wolfenbütteler Handschrift und dem B-Druck unklar, ob Faustus sich bewusst ist, dass er mit dem Teufel sexuell verkehrt. Als Mephostophiles ihm den Heiratswunsch abgeschlagen und ihn mit Drohungen davon abgehalten hat, diesen Wunsch weiter zu verfolgen, verspricht er Faustus, [w]o du hinfu֏ro in deiner Zusagung beharren wirst / sihe / so will ich deinen Wollust anders ersa֏ttigen / daß du in deinen Tagen nichts anders wu֏nschen wirst / vnd ist dieses: So du nit kanst Keusch leben / so will ich dir alle Tag vnd Nacht ein Weib zu Bett fu֏hren / welche du in dieser Statt oder anderßwo ansichtig / vnd die du nach deinem Willen zur Vnkeuschheit begeren wirst / Jn solcher Gestalt vnnd Form sol sie bey dir wohnen. Dem D. Fausto gieng solchs also wol ein / daß sein Hertz fu֏r frewden zitterte / vnd rewte jn / was er anfa֏nglich hatt fu֏rnemmen wo֏llen / Geriehte auch in eine solche Brunst vnd Vnzucht / daß er Tag vnnd Nacht nach Gestalt der scho֏nen Weiber trachtete / daß / so er heut mit dem Teuffel Vnzucht triebe / Morgen einen andern im Sinn hatte.113
Faustus verliert sich mit dieser Ankündigung in ungezügeltem Begehren, aber es bleibt ein Widerspruch in der Fokalisierung auf Faustus bestehen, der offen lässt, was er tatsächlich weiß. Einerseits verspricht Mephostophiles ihm, er wolle ihm »Tag vnd Nacht ein Weib zu Bett fu֏hren«, was auf tatsächliche Frauen verweist, andererseits erklärt der heterodiegetisch-extradiegetische Erzähler in der Fokalisierung auf Faustus aber auch, »daß er Tag vnnd Nacht nach Gestalt der scho֏nen Weiber trachtete / daß / so er heute mit dem Teuffel Vnzucht triebe / Morgen einen andern im Sinn hatte«.114 Von daher ist unklar, ob Faustus bewusst mit dem Teufel verkehrt oder annimmt, dass dieser ihm die Frauen wirklich zuführe.115 Der Verfasser der C-Version hat hier eine Vereindeutigung für den Leser vorgenommen, denn er fügt nach »sol sie bey dir wohnen« ein: »Es war aber der Teufel selbst.«116 Das English Faustbook dagegen hat die Erzählung dagegen dahingehend transformiert, dass Mephostophiles Faustus die Frauen tatsächlich zuführt: ›It is no jesting with us. Hold thou that which thou hast vowed and we will perform as we have promised: and more than that, thou shalt have thy heart’s desire, of what women soever thou wilt, thou shalt keep her by thee.‹ These words pleased Faustus wonderful well and he repented himself that he was so foolish to wish himself married, that might have any woman in the whole city brought to him at his command; the which he practised and preserved in a long time.117
————— 113 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 29; Faustbuch, ed. Müller, S. 862. 114 Ebd. 115 Nahezu identisch wird dies in den anderen Historia-nahen Versionen dargestellt. Vgl. Wolfenbütteler Handschrift, ed. Haile, S. 22; Historia B, ed. Scheible, S. 958; Reimfaust, ed. Mahal, S. 36. 116 Historia C, ed. Riedl, S. 24. 117 English Faustbook, ed. Jones, S. 103.
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Faustus der Zauberer
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Widman und Pfitzer wiederum thematisieren den Verkehr mit dem Teufel nur am Rande. Das hängt zum einen mit der Verschiebung von Fausts Ehewunsch an das Ende des zweiten Teils zusammen, zum anderen mit der Inklusion Fausts in einen katholischen Kontext, der Widman und Pfitzer Gelegenheit gibt, ausführlich über das Zölibat zu räsonieren. Widman bemerkt lediglich in einer »Erinnerung an den Leser«, dass der Teufel Faustus »in sein hellisch / abschewlich Hurennetz gejagt«118 habe, und Pfitzer hält fest, Faustus habe »die Wollust deß Fleisches für sein höchstes Gut gehalten«119 und diese »Wollust deß Fleisches ist eben die Ursach gewesen, daß sich Faustus dem Teuffel mit Leib und Seel ergeben«.120 Das ist zwar moralisch verwerflich, aber es setzt einen anderen Akzent und verzichtet auf den hexentypischen Verkehr mit dem Teufel. Dieser wird erst wieder mit Helena thematisiert, denn hier sind sich alle Faustbücher einig, dass es sich um Sinnestäuschungszauber des Teufels handelt und Faustus tatsächlich mit dem Teufel verkehrt. Allerdings bleibt auch hier unklar, ob es sich dessen wirklich bewusst ist. Dadurch wird die Markierung von Faustus als Zauberer nicht harmloser. Hexe ist keine Steigerung gegenüber Zauberer, es ist lediglich eine andere Denomination, die mit einer anderen geschlechtsspezifischen Zuschreibung einhergeht. Der Zauberer ist grundsätzlich ebenso des Teufels wie die Hexe. Auffällig ist aber, dass in der Wolfenbütteler Handschrift, der Historia in den Druckfassungen A, B und C und den vorwiegend formal transformierten Texten, die sich eng an die Historia anlehnen, die Markierung Fausts als Zauberer schon bald für einen längeren Zeitraum aus seinem Leben und damit aus der Erzählung entfernt wird und curiositas an ihre Stelle tritt. Erst im dritten Teil wird die identitäre Markierung als Zauberer zentral. Sie ist narrativ aber erstaunlich weit vom Teufel entfernt, denn der Teufel spielt in diesem Teil keine große Rolle. Mephostophiles tritt in den Zauberhistorien kaum auf. Das lässt sich in zweifacher Weise deuten: einerseits in dem Sinne, dass Faustus schon so weit ein Glied des Teufels geworden ist, dass er dessen Anleitung im Einzelfall nicht mehr benötigt; andererseits in dem Sinne, dass seine Zaubereien harmlose, nicht wirklich diabolische Streiche sind, wofür die weitgehende Abwesenheit des Teufels auf der Ebene der Diegese ein Zeichen wäre. Nichtsdestoweniger trifft es zweifellos zu, dass sich vor dem Hintergrund des Hexen- und Zaubereidiskurses auch harmlos wirkende Zaubereien als unverzichtbarer Bestandteil einer Markierung als Zauberer erweisen können. Betrachtet man Fausts Zaubereien vor dem Hintergrund des juridischen und theologischen Diskurses über das Hexen————— 118 Widman, Warhafftige Historien, II, S. 135. 119 Pfitzer, Das ärgerliche Leben, S. 512. 120 Ebd., S. 515.
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Identitäre Semantiken
und Zauberer-Wesen, dann stimmen sie einerseits mit den strafwürdigen Taten der Zauberer durchaus überein und werden auch nicht dadurch harmlos, dass sie keinen großen Schaden verursachen, weil sie das strafwürdigste Verbrechen, nämlich das crimen laesae maiaestatis, auf jeden Fall implizieren. Von diesem schwersten Verbrechen, der Rebellion gegen Gott, spricht Widman in seiner Vorrede explizit und fordert die Obrigkeit zur Ausrottung der Zauberer auf: Zu dem / mag die Zauberey von wegen jhres grewels genant werden / Crimen laesae Majestatis divinae, eine Rebellion / vnnd ein solch laster / damit man sich fürnehmlich an der Göttlichen Mayestat zum höchsten vergreifft Denn wie die Juristen fein künstlich disputieren vnnd reden / von mancherley art der Rebellion / vnnd mißhandlung wieder die hohe Obrigkeit / vnnd unter andern zehlen sie auch diese / wenn einer von seinem Herrn Feldtflüchtig vnd trewlos wirdt / vnd begibt sich zu den Feinden / denselbigen erkennen sie zu der peinlichen straff / an Leib vnnd leben / also auch / weil zauberey ein schendtlicher grewlicher abfall ist / da einer sic von Gott / dem er gelobt vnd geschworen ist / zum Teuffel / der GOTTES feindt ist / begibt / so wirdt er billich an leib vnnd leben gestrafft / vnnd sollte billich alle Obrigkeit jr ampt hierinnen gebrauchen / das man der Zauberey mit allem gewalt wehrete vnd sie außrottete.121
Damit ist der Bezug zu den Hexenprozessen explizit hergestellt. Widman scheint in seiner Positionierung als Verfolgungsbefürworter völlig eindeutig zu sein. Allerdings erhebt sich auch für seine Transformation der Historia die Frage, ob die paratextuell vorgenommene vereindeutigende Markierung auch auf der Ebene der Erzählung präsent bleibt. Deshalb bedürfen die in den Faustbüchern angeführten Zauberexempel einer dichten Beschreibung, um zu klären, ob der erste Eindruck zutrifft, dass Faustus so gut wie keinen Schadenszauber ausübt und dadurch eher harmlos wirkt. Man könnte hierin durchaus eine erzählerische Strategie sehen, die Figur aus dem Kontext der Hexen- und Zaubererprozesse herauszuhalten. Aber es ist fraglich, ob das für alle Faustbücher gilt, und es bleibt zu untersuchen, in welchem Maße und wofür die Zauberexempel je funktionalisiert werden. Die Frage des Schadenszaubers ist daher insgesamt sehr viel komplexer, als es zunächst scheint. Prinzipiell ist festzuhalten, dass verschiedene von Fausts harmlos wirkenden Streichen in einem Hexen- oder Zaubererprozess völlig hinreichend gewesen wären, um den Delinquenten zu verurteilen. So galt das Stehlen von Speisen und Getränken mit Hilfe von zauberischen Mitteln als durchaus nicht gering zu veranschlagendes Delikt. Während man Hexen bevorzugt vorwarf, sie würden Milch stehlen, was insbesondere im Kontext der armen Dorfbevölkerung als schwerwiegendes Verbrechen galt, weil es den ohnehin unter Mangel Leidenden eines ihrer für die Ernährung der Kinder wichtigsten Lebensmittel raubte, wurden Zauberer häufi————— 121 Widman, unpag. [S. XI].
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Faustus der Zauberer
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ger als Diebe anspruchsvollerer Speisen und Getränke von den Tischen der Reichen und Mächtigen beschrieben.122 Ein weiteres zentrales Delikt ist der Zauberflug, der zu den wichtigsten vom Teufel zustande gebrachten Kunststücken zählt: Faustus fliegt auf dem Rücken des Teufels durch die Welt, fährt auf einem Drachenwagen hinauf in die Gestirne und führt mehrfach andere Personen mit ihrem Einverständnis oder gegen ihren Willen durch die Luft.123 Das entspricht der von Verfolgungsbefürwortern wie Verfolgungsgegnern übereinstimmend vertretenen Meinung, dass der Zaubererflug tatsächlich geschieht. Hier hält sich der Verfasser weitgehend an Lercheimers Erwägungen hinsichtlich des Zauberfluges. Für Lercheimer waren die meisten Zaubereien bloße Sinnestäuschung, aber den Flug hielt er für möglich. Darin stimmte er mit Milichius, aber auch dem Hexenhammer überein.124 Allerdings ging Lercheimer davon aus, dass die meisten der als Hexen angeklagten Weiber vom Teufel getäuscht worden seien und die angeblichen Flüge zum Hexensabbat lediglich geträumt hätten.125 Wenn die Behauptung zutrifft, bei den als Hexen angeklagten Frauen habe es sich häufig, wenn auch keineswegs ausschließlich, um ältere, allein lebende, sozial isolierte Frauen gehandelt, dann ist auch im Vergleich hierzu Faust in einen völlig anderen Kontext gerückt. Er ist keineswegs sozial isoliert, sondern vollbringt viele seiner Zaubereien auf Bitten, zur Hilfe, Belustigung oder Unterhaltung seiner sozialen Umgebung. Viele der Zaubereien werden nachgefragt und zwar von Personen bis in die höchsten Stände. Seine Fähigkeit zu zaubern, bringt Faustus – neben seinen Kenntnissen – erhebliche soziale Anerkennung ein. Und das wird in der Historia mit keinem Wort kritisch oder negativ kommentiert. Wie schillernd und damit letztlich dem Urteil entzogen Fausts Zauberkunststücke durch ihre diegetische Funktionalisierung in den unterschiedlichen Varianten der Faustbücher werden, möchte ich im Folgenden an einigen wenigen Beispielen demonstrieren. Überdeutlich ist die funktionale Inanspruchnahme von Fausts Zauberfähigkeiten in der Historia bei dem berichteten Diebstahl von Essen von der Tafel des Papstes: Als aber die letzte Richte vnd kosten auff deß Bapsts Tisch kamen / vnd jn / D. Faustum / hungert / hub er / Faustus / seine Hand auff / als bald flogen jm Richten vnd Kosten / mit sampt der Schu֏ssel in die hand / vnd verschwand also damit / sampt seinem Geist / auff einen Berg zu Rom / Capitolium genannt / asse also mit Lust. Er
————— 122 Vgl. etwa Milichius, Zauber Teuffel, ed. Stambaugh, S. 97f. 123 Allgemein zum Zauber- bzw. Teufelsflug allgemein vgl. Tschacher, Der Flug durch die Luft, S. 264-67 124 Vgl. Milichius, Zauber Teuffel, ed. Stambaugh, S. 98. 125 Vgl. Lercheimer, Christlich Bedencken (1586), Bl. 279v.
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Identitäre Semantiken
schickte auch seinen Geist wider dahin / der must jm nur den besten Wein von deß Bapsts Tisch bringen / sambt den silbern Bechern vnd Kanten.126
Dieser Zauberdiebstahl wird anschließend sowohl auf der Ebene der Narration als auch der Ebene der Geschichte durch die Fokalisierung auf Fausts Wahrnehmung legitimiert, so dass die Stimme des Erzählers und Fausts Blick übereinstimmend ihr Urteil über den Papst fällen: Er kam auch vnsichtbar fu֏r des Bapsts Pallast / da sahe er viel Diener vnd Hoffschrantzen / vnd was Richten vnd Kosten man dem Bapst aufftruge / vnd so vberflu֏ssig / daß D. Faustus darnach zu seinem Geist sagte: Pfuy / warumb hat mich der Teuffel nicht auch zu einem Bapst gemacht. Doct. Faustus sahe auch darinnen alle seines gleichen / als vbermut / stoltz / Hochmut / Vermessenheit / fressen / sauffen / Hurerey / Ehebruch / vnnd alles Gottloses Wesen deß Bapstes vnd seines Geschmeiß / also / daß er hernach weiters sagte: Ich meynt / ich were ein Schwein oder Saw des Teuffels / aber er muß mich la֏nger ziehen. Diese Schwein zu Rom sind gema֏stet / vnd alle zeitig zu Braten vnd zu Kochen.127
Das English Faustbook hat diese Stelle sehr genau übersetzt, im Anschluss aber noch verschärfend hinzugefügt, »the devil might do well now to spit them all and have them to the fire«.128 Die Verwerflichkeit des Treibens an der Kurie überbietet Fausts eigene Verworfenheit und absorbiert so dessen Verurteilung. Was in einem Zaubererprozess hinreichend gewesen wäre, um ein Todesurteil zu begründen, setzt der Erzähler hier funktional ein, um die Üppigkeit der römischen Kurie bloßzustellen, die schon in den Gravamina der deutschen Nation eine entscheidende Rolle gespielt hatte.129 Die Zauberkunst wird hier funktionalisiert, um Faustus zum Augenzeugen des sündhaften Treibens des Papstes zu machen und als Beweis für die Richtigkeit der Gravamina zu fungieren. In der Fokalisierung auf seine Wahrnehmung wird er sogar dazu eingesetzt, ein Urteil über die römische Kirche zu fällen. Diese Funktionalisierung wendet nicht nur den Blick von Faustus auf das Papsttum, sondern entbindet ihn auch von der Verurteilung durch den Erzähler, der an dieser Stelle Fausts teuflische Zauberkunst ungehemmt affirmiert. ————— 126 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 62.; Faustbuch, ed. Müller, S. 904. 127 Ebd. 128 English Faustbook, ed. Jones, S. 131. Widman und Pfitzer, die im Reiseteil erhebliche Streichungen vorgenommen haben, erzählen diese Episode nicht. Die Fokalisierung auf Faustus Beobachtung der päpstlichen Prachtentfaltung wäre aber auch nicht leicht damit vereinbar gewesen, dass Faustus bei ihnen katholisch ist. 129 Zu den Gravamina nationis germanicae, die sich u.a. gegen die höfische Prachtentfaltung der Päpste richteten und schon in der Vorgeschichte der Reformation eine wichtige Rolle gespielt hatten, vgl. Eike Wolgast, Gravamina nationis germanicae, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 14, Berlin, New York, 1985, S. 131-133; Caspar Hirschi, Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Göttingen 2005, S. 143-157.
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Faustus der Zauberer
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Fausts übrige Schadenszaubereien werden fast durchgängig als Sinnestäuschungszauber ausgewiesen, bei denen der scheinbare Schaden nach kurzer Zeit wieder aufgehoben wird. Damit sind sie zwar theologisch nicht entschärft, aber sie sind innerhalb der Erzählung als erzieherische Maßnahmen oder als angemessene Bestrafungen aufmüpfiger Bauern funktionalisiert, so dass der Erzähler quasi zu Fausts Verteidiger wird. Von daher ist Jan-Dirk Müllers Einschätzung zuzustimmen, der Schwankheld werde »weit weniger negativ gezeichnet als der Spekulierer und der skrupellose Genußmensch.«130 Das hat seinen Grund freilich nicht im Schwankcharakter der Erzählungen, sondern vielmehr in der Funktionalisierung Fausts innerhalb der Exempel.131 Religiöse und moralische Kommunikation Diese Funktionalisierung der Zauberexempel erzeugt auf der Ebene der Narration Ambiguitäten, die auf der Ebene der Geschichte teilweise auch als solche kenntlich gemacht werden. Besonders bemerkenswert ist das von Widman aus der Wolfenbütteler Handschrift entnommene Kapitel über den von Faustus aus türkischer Gefangenschaft befreiten Edelmann. Das 62. Kapitel der Wolfenbütteler Handschrift erzählt von einem in der Türkei gefangenen Edelmann, dessen Frau sich wiederverheiraten will, weil sie ihn für tot hält. In diesem Kapitel wird Faustus als Hilfszauberer präsentiert, der aus eigenem Antrieb und ohne auf einen Lohn zu spekulieren hilft, weil »er jn [den Edelmann, MM] gar Lieb hett«.132 Der Prätext könnte eine nur kurz angerissene Anekdote in Wolfgang Bütners Epitome Historiarum sein, die sich jedoch nicht auf Faustus bezieht, sondern ein Exempel für die bei den Türken verbreitete Zauberkunst bietet: Vnter den Tu֏rcken / sollte die Zauberey mechtig vnd starck sein / vnd hat auff eine nacht / vnd in einer Stunde / der Tu֏rcke einen Welschen Edelman vber das hohe große Meer gefu֏hret / vnd zu seinem Weibe heimbringen lassen.133
Diese Anekdote ist in der Wolfenbütteler Handschrift auf Faust und einen deutschen Edelmann übertragen, dessen Name mit »Johann Werner von Reuttpuffel zu Bennlingen«134 angegeben wird. Der Fokus der Erzählung ist gegenüber Bütner jedoch völlig verschoben: Es geht nicht mehr um einen ————— 130 Faustbuch, ed. Müller, Kommentar, S. 1329. 131 Dagegen hat Hans-Gert Roloff betont, dass Faustens Zaubereien moralisch allesamt verwerflich seien. Vgl. Roloff, Artes et doctrina, S. 93. Diese vereindeutigende Perspektive übersieht, dass Faustus in den Zauberexempeln durch den Erzähler unterschiedlich funktionalisiert wird. 132 Wolfenbütteler Handschrift, ed. Haile, S. 91. 133 Bütner, Epitome historiarum, Bl. 59r. 134 Wolfenbütteler Handschrift, ed. Haile, S. 91.
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Identitäre Semantiken
türkischen Zauberer und seine Fähigkeit, einen Edelmann mittels seiner Zauberkraft innerhalb von einer Stunde zu seiner Frau zurückzubringen, sondern um Fausts Mitleid mit einem in Ägypten gefangenen Freund, den er mit Hilfe von Mephostophiles zunächst aufspürt und dann mittels seiner Zauberkraft zurückbringt. Diesem Hilfszauber ist dadurch eine dramatische Komponente verliehen, dass Reuttpuffels Ehefrau, »ein vberauß Scho֏n Weibsbild«135, ihn für tot hält und sich wieder verheiraten will. Das erst veranlasst Faustus, dem das »Wehe [thett], Dann Er jn gar Lieb hett«136, dem Verbleib des Ehemanns nachzuforschen und mit Hilfe von Mephostophiles in Erfahrung zu bringen, »er wer bey Leben / vnnd in Egypten jnn der Statt Lÿlopolts gefanngen«137. Unterdessen findet die Hochzeit bereits statt, wie Faust aus seinem »Spiegell darjnnen er alles sehen kondt»138 erfährt, und als die Zeit des Beischlafs näher rückt, »da braucht der Geist sein spiel«139 und die Ehe kann nicht vollzogen werden. Die Unfähigkeit des zweiten Ehemannes, die Ehe zu vollziehen, wird eingehend beschrieben. Erst dann bringt Faustus den ersten Ehemann zurück, dem sich die Frau angesichts der Impotenz ihres zweiten Ehemanns reuig zu Füßen wirft. Die Anekdote präsentiert Faustus überaus schillernd als mitfühlenden Freund, tendenziell allwissenden Magier sowie als Hilfs- und Schadenszauberer zugleich, wobei der Schadenszauber durch die Hilfe für den Freund und den Irrtum der Ehefrau narrativ de facto gerechtfertigt wird.140 Widman hat diese Episode übernommen, sie allerdings in die metadiegetische Erzählung eines intradiegetisch-autodiegetischen Erzählers umgewandelt. Das Ereignis wird nun von dem geretteten Edelmann selbst erzählt. Der Rahmen dieser Erzählung wird von einer Wirtshausszene gebildet, wo der einst von Faustus Gerettete von dessen Ableben erfährt und daraufhin die Geschichte seiner Rettung und der Rettung seiner Ehe durch Faustus erzählt.141 Es kam ein stattlicher vom Adel / gehn Leiptzig / vnd ließ jm in dem Wirtshauß ein herrliche mahlzeit zurichten / in dem wirdt jhm angezeigt / wie D. Faustus gestorben / vnd er ein schrecklich ende genommen hett / da erschrack diser vom Adel hertzlich / vnd sprach / ach das ist mir leidt / er war dennoch ein guter dienstwilliger Mann / vnd
————— 135 136 137 138 139 140
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Es muss hier nicht näher dargelegt werden, dass der Impotenzzauber zu den klassischen Hexen- und Zaubereiverbrechen zählt. Vgl. etwa Milichius, Zauber Teuffel, ed. Stambaugh, S. 36. 141 Zum Wirtshaus und seiner Funktion als sozialem Ort in der Frühen Neuzeit vgl. Tlusty, ›Privat‹ oder ›Öffentlich‹? Das Wirtshaus in der deutschen Stadt.
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Faustus der Zauberer
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mir hat er eine gutthat bewiesen vnd erzeigt / das ich solches zeit meines lebens nimmer vergessen kann / vnd hat mir auß grosser dienstbarkeit in Turckey geholffen.142
Der Adlige erzählt sodann, wie ihm Faustus seinen Geist schickt, der ihn zurückholt und zunächst zu Faustus bringt: […] kam also schlaffendt in des Doctor Fausti behausung / der empfing mich stattlich / zeigt mir an / wie sich mein Haußfraw verheyratet hette / vnd diese nacht were der erst beyschlaff gewesen / aber es wer jhnen nicht wol gerathen / denn er hette dem Breutigam sein Ma֏nliche krafft genommen / also das die Braut erst nach jrem ersten mann geseuffzet habe/ […].143
Dann habe er ihn zu seiner Ehefrau zurückgebracht, wofür er ihm Zeit seines Lebens dankbar sei und weswegen ihm sein Tod herzlich leid tue. Dieses Ausbrechen aus der narrativen Ordnung mittels einer eingefügten Prolepse – die Erzählung von Fausts Tod ist ja zu dem Zeitpunkt, als der Edelmann in einem Leipziger Wirtshaus von dessen Ableben erfährt, überhaupt noch nicht erfolgt – ist ein bemerkenswertes Beispiel für die Freiheit im Umgang mit Transformationen und deren Funktionalisierung im Hinblick auf den Kommentar. Was der Wechsel der Erzählerstimme schon nahe legt, bestätigt sich nämlich im Kommentar. Widman findet an der Einschätzung des Edelmannes nichts auszusetzen, er lobt ihn sogar ausdrücklich und bemerkt lediglich einleitend, dass Fausts Handlung natürlich Zauberei und von daher verwerflich sei. Das hält ihn aber nicht davon ab, von einer Guttat zu sprechen, für die ihm der Edelmann dankbar sein sollte: Obschon diese gutthat D. Fausti nicht ist zu loben / weil ers alles nicht mit Gotts hu֏lff / sonder durch Zauberey vollbracht hat / so ist dennoch das nicht zu straffen / sondern hoch zu ru֏hmen / das dieser der wolthat nicht vergisset. Darumb sollen wir lernen / das wir in keinen vergeß stellen sollen / wenn uns von einem guten freund ein gutthat / sonderlich in der zeit der noth ist wiederfahren.144
Dieser Kommentar ist einer der wenigen, den Pfitzer von Widman unmittelbar übernommen hat.145 Beide affirmieren damit moralisch, was aus theologischer Sicht verdammenswert und aus dämonologischer Sicht als besonders gefährlich zu betrachten wäre, weil es dem Zauberer und seinem teuflischen Tun den Deckmantel der guten Tat umhängt. Ein ähnliches Verfahren nutzt Widman im 44. [recte: 42.] Kapitel des ersten Teils bei der Erzählung von einem Bauern, dem Faustus die Räder seines Wagens durch die Luft gezaubert hat. Hier schließt er eine Erörterung ————— 142 143 144 145
Widman, Warhafftige Historien, II, S. 104f. Ebd., II, S. 106. Ebd., II, S. 107. Vgl. Pfitzer, Das ärgerliche Leben, S. 487
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Identitäre Semantiken
über ungebührliches Verhalten an, bei dem nicht Faustus sondern der Bauer in der Kritik steht: Hie hat man ein exempel eines vnbescheidenen vndiensthafften Menschen vnnd seiner straffe. Denn wie dienstwilligkeit eine feine nu֏tze tugendt ist / also hinwiederumb ists ein groß vnd schendtlich laster / wenn man dem negesten / er sey auch wer er wolle / mit vnbescheidener vnfreundrlichkeit begegnet / vnd jm nicht gerne oder wol nichts dienet / da mans doch ohne schaden wol thun kondte. Hette dieser Bawr guts freundtliche wort geben / vnd den Faustum / weil er doch einen leeren wagen gehabt / einen geringen weg gefu֏hret / jhm wer diese mu֏he nicht wiederfahren.146
Wie das Exempel zeigt, war selbst Widman durchaus bereit, Exempel von Fausts Zaubereien dem Bewertungskriterium der Theologie und der Dämonologie zu entziehen, wenn er es moralisch funktionalisieren wollte. Es öffnet sich damit eine Kluft zwischen bürgerlicher Moral und theologischer Verurteilung, die verdeutlicht, wie mühelos Semantiken der religiösen Kommunikation von Semantiken der moralischen Kommunikation abgelöst werden konnten. Erkennbar ist allerdings auch, dass Widman versucht hat, die gegensätzlichen Positionen zu harmonisieren. An seine Erläuterungen schließen sich Exempel aus Freydanck und Ovid an, mit denen er zu belegen versucht, dass Gott dem Teufel manchmal erlaubt, Menschen zu schädigen, weil er an ihrem unmoralischen Verhalten Anstoß nimmt. Zu dem zeugt die heilig schriftt klar / das Gott dem Sathan hab verhengt den frommen Hiob am Leib anzugreiffen. So den der Teuffel solchs an den heiligen Gottes hat vermo֏cht / wie solt er dann nicht auch etwas vermo֏gen / an andere Menschen die Gottloß sind / oder am Viehe / die kein vernunfft haben? 147
Anschließend nimmt Widman Luthers Erörterungen über die Frage auf, ob der Teufel aus eigenem Antrieb oder nur auf Zulassung Gottes handeln könne.148 Dazu geht er zunächst der Frage nach, wie es komme, dass Zauberer den angerichteten Schaden manchmal wieder gut machten. Er stellt das Exempel damit in den Kontext einer von Gott »verhengten« (zugelassenen) Strafe, bei welcher der Teufels als Instrument Gottes fungiert. Nun mo֏cht diese frag auch fu֏rlauffen / dieweil die Zauberer oder Hexen den schaden an menschen vnd viehe thun / sie kra֏ncken vnd lehmen / wie es doch geschehe / als es denn oft geschicht / das solche Za֏uberer vnd Za֏uberin / den schaden zu jhrer bequemen zeit wider hinweg nehmen. Darauff antwort ich also / der Teuffel ist ein sehr geschwinder vnd fu֏rsichtiger Geist / vnd wenn er sich mit Za֏uberey an jemandt will machen / so ersicht er zuvor / wie jhm zuthun / so ferrn es jhm Gott verhengt / wirdt ihm dann vo֏llige
————— 146 Widman, Warhafftige Historien, I, S. 313. 147 Ebd., I, S. 315. 148 Aurifaber, Luthers Tischreden, Bl. 282.
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Faustus der Zauberer
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gewalt vber den menschen gegeben / so to֏dtet er jhn alsbaldt / oder martert jhn so lang / biß er stirbt / wirdt jhm aber weiter nicht verhenget / denn vber die gesundtheit des Menschen / so trachtet er nach solchem schaden / welchen er wieder heilen kann […].149
Die Erinnerung schließt denn auch mit der Ermahnung, Gott um Schutz vor bösem Zauber anzurufen: Letztlich soll vnser ta֏glich gebett sein / das der liebe Gott vns vnsere hu֏ttlin / hauß vnd hoff / Viehe / vnd alles was er vns aus milter gu֏te bescheret hat / durch seine liebe Engel beschu֏tzen / beschirmen vnd bewahren wil / vmb seines lieben Sohnes / vnsers HErrn Jesu Christi willen / Amen.150
Das gehört zum üblichen Standard der Erläuterungen auch in den Schriften der Hexenverfolgungsgegner. Allerdings folgen auf diese Erläuterung zahlreiche weitere Exempel, die Widman von Jobus Fincel und Johannes Manlius übernommen hat. Diese Exempel aber erzählen von tödlichem Schadenszauber, nicht von vorübergehendem Schaden. Desgleichen Anno 1558. ein halb meil von Jhena / ist ein zauberer gewesen / der mit seiner Nachbarn einem / so ein Zimmermann gewesen / in feindtschafft gerahten / also das der Zauberer jhm so auffsetzig wardt / dass er jhm ein su֏pplin gab / darauff er baldt in kranckheit fiel / derhalben schicket er zu diesem Zauberer / mit bitte / das ers jhm vergeben wolle / das er wieder jhn zur zeit gewesen / mit ferner bitt / Er wolle jhm in seiner gefehrlichen kranckheit hu֏lff beweisen. Solches hat er jhm auß betrug zuthun verheissen / gab jhm etliche kreuter / die er solte in einem tranck einnehmen / als er solchs gebraucht / ist jhm noch vbeler im Leib worden / also das er auch daru֏ber hat sterben mu֏ssen / […].151
Durch diese Kontextualisierung von harmlosem Sinnestäuschungszauber auf der Ebene der Faustepisoden mit drastischen Exempeln von Schadenszauber im Kommentar wird die mögliche Deutung entschieden verschoben. Der zunächst harmlos erscheinende Akt eines vorübergehenden Schadenszaubers wird deskriptiv wie narrativ überwältigt: der Eindruck von böswilligem Schadenszauber wird dominant und was auf der Ebene der Diegese noch harmlos wirkt und anfänglich im Kommentar auch legitimiert wird, erscheint durch die hinzugefügten Exempel in einem düsteren Licht. Dieses Verfahren wird bei Pfitzer, der ohnehin weitaus mehr Exempel aus dämonologischen Quellen ergänzt, noch sehr viel deutlicher. Selbst der Teufelspakt, der aus theologischer Perspektive in seiner Verwerflichkeit kaum zu überbieten ist, wird von der Technik der narrativen Überwältigung durch die Hinzufügung anderer Exempel auf der Ebene des Kommentars nicht ausgenommen. Pfitzer verzichtet darauf, die Blutverschreibung, ihren bindenden ————— 149 Widman, Warhafftige Historien, I, S. 316. 150 Ebd., I, S. 321. 151 Ebd., I, S. 317.
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Charakter, ihre Effektivität etc. zu erläutern, obwohl ihm dafür die herangezogenen zusätzlichen dämonologischen Quellen zahlreiche Argumente geliefert hätten.152 Stattdessen zählt er andere Exempel von Blutverschreibungen auf. Zunächst nennt er eine Reihe von Kardinälen und erwähnt auch Wagner als Beispiel.153 Dann aber berichtet Pfitzer mehrere Exempel von der angeblichen Blutgier der Juden, was eine deutliche Dämonisierung des Verschreibungsaktes und der Funktion des Blutes zur Folge hat. Das gipfelt dann in einem Exempel, in dem ein angeblicher jüdischer Säuglingsmord beschrieben wird. Anno 1573 war ein jud den 28. Januari zu Berlin hingerichtet, Jud Leupold genannt, der war ein grosser Teuffels-Beschwörer und Zauberer und ergabe sich auch dem Teuffel mit Leib und Seel. Denn der Teuffel hatte ihm verheissen grossen Reichtum, Ehre und Ansehen. Dieser hatte nun von einem Gottes vergessenen Bettler ein Kind erkaufft, welches er denn zur Stunde den andern Juden ansagte; derhalben sie das Kind creutzigten, und thäten jhme allerdings wie ihre Vorvätter dem HErrn Christo, sie geisseltens, sie verspottetens, und nagelten es an ein Creutz, und namen das Blut darvon.154
Anschließend iteriert und steigert Pfitzer dieses Exempel durch die Legende des Simon von Trient, die 1475 eines der ersten internationalen Medienereignisse war.155 Die Legende vom »Judenmärterlein«, das den angeblich blutrünstigen Juden zum Opfer fiel, wurde Ende des 15. Jahrhunderts in zahlreichen Einblattdrucken verbreitet.156 In einem aufsehenerregenden Prozess wurden 14 Juden zum Tode verurteilt, nachdem ihnen unter der Folter das Geständnis abgepresst worden war, sie hätten das Kind langsam zu Tode gequält.157 Die Schedel’sche Weltchronik repräsentierte den Ritualmord bei der Beschreibung von Trient mit einem Bild, das die Folter des Knaben zeigte.158 Das eigentliche Thema, nämlich der Teufelspakt, spielt in seiner als Kommentar fungierenden Erzählung überhaupt keine Rolle mehr. Im Vergleich zu diesem Exempel wirkt der Pakt wie ein lächerliches ›Affenspiel‹. Die theologische Dimension des Teufelspaktes als Abfall von Gott und Bund mit dem Bösen ist hier völlig ausgelöscht zu Gunsten der gezielten Stigmatisierung der Juden und ihrer Markierung als hinterhältig, extrem ————— 152 Pfitzer zieht zahlreiche dämonologische Schriften von Verfolgungsbefürwortern, wie Bodin, Remigius, Goldastus, Binsfeld u. a. heran. Dazu gehören auch Rechtsquellen wie Benedict Carpzovs Practicae novae imperialis Saxonicae rerum criminalium, ein systematisches Kompendium des Strafrechts, das um die Mitte des 17. Jahrhundert zum Standardwerk des inquisitorischen Verfahrens geworden war. 153 Pfitzer, Das ärgerliche Leben, S. 123-126. 154 Ebd., S. 126. 155 Vgl. Hsia, Trient 1475. 156 Vgl. Schöner, Judenbilder. 157 Vgl. Hsia, Trient 1475, S. 59-80 u. 113-129. 158 Schedel, Weltchronik 1493, Bl CCLIIIIv.
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grausam und blutrünstig. Das verknüpfende Funktionselement ist das Blut, das hier zum Blut des »unschuldige[n] Märterlein[s]« wird. Pfitzer instrumentalisiert damit den Teufelspakt, den schlimmsten Abfall von Gott, um die Juden zu denunzieren und zu dämonisieren.159 An dem Charfreytag um Vesperzeit, sasse dieses [ein dreijähriger Junge, MM] Kind vor seines Vattern Thüre, in Abwesenheit der Eltern; da nahete sich Tobias, ein jüdischer Verrähter zu ihm, gab ihm gute Wort, daß es zu ihm lieffe, da trug ers, als er niemand warname, der es sehen kundte, in deß Rabbi Samuels Haus. Als nun die Nacht heran nahete, da freueten sich der Rabbi und sämtliche Juden über dieses unschuldige Christen-Blut, und legeten ihm ein Faciletlein um sein Hälslein, auf daß man es nicht schreyen möchte hören; spanneten ihm bald seine Aermlein aus, und schnitten ihm erstlich aus, was ihn sollte einsten zu einem Mann machen, darnach stachen sie es allenthalben mit spitzigen Pfriemen, einer die Hände, der ander die Füsse haltende. Als sie nun sehr viel Bluts gesamlet hatten, da huben sie an einen Lobgesang zu singen und zu dem Kind mit hönischen Drohworten zu sprechen: Nimm hin du gehangter Christe, also haben dir etwan unsere Voreltern gethan, also sollen alle Christen, im Himmel und auf Erden, noch mehr geschändet werden. Indessen verschiede das unschuldige Märterlein, und eileten die Juden mit dem aufgefangenen Blut zu ihrem Nachtmahl, allwo sie in solches ihr ungeseuertes Brod eintauchten und assen: Zur Nachts-Zeit aber wurffen sie den todten Leichnam in ein fliessendes Wasser, nahe bey ihrem Haus und hielten also die Ostern mit Freuden.160
Die Kommentare sind also keineswegs nur dazu da, Fausts Markierung als Zauberer und Teufelsbündner zu verstärken. Sie können umgekehrt wirken und Faustus als Zauberer entlasten; sie können im Hinblick auf seine Zaubereien aber auch verschärfend wirken, indem sie diese mit Fällen von echtem Schadenszauber verknüpfen. Aber sie können auch vollständig instrumentalisiert werden, um Geschichten zu erzählen, für die Faustus und seine Handlungen nur noch als Stichwortgeber fungieren. Sicherlich ist auch das im Kontext der Hexenverfolgung zu sehen, denn Juden wurden bei Prozesswellen häufig angeklagt und hingerichtet, wobei kein Unterschied zwischen Männern und Frauen gemacht wurde. Aber die angeführten Exempel weisen doch über diesen Kontext der Diskussion um Hexen und Zauberer und der Hexenprozesse hinaus. Die Exempel zielen nicht mehr auf ein geordnetes juristisches Verfahren, wie es der von Pfitzer herangezogene Jurist Benedict ————— 159 Im Kommentar zu dem Kapitel über Fausts Betrug an dem jüdischen Kaufmann (vgl. ebd., S. 266) schildert Pfitzer mit merklicher Begeisterung die Folterung und Hinrichtung eines nur vorgeblich bekehrten Juden, der sich des »Hostienfrevels« schuldig macht. Pfitzer übernimmt damit klassische katholische Legenden. Zum Anti-Judaismus in der frühen Neuzeit vgl. Rainer Erb, Die Legende vom Ritualmord, Köln 1995; Hsia, The Myth of Ritual Murder; Stefan Rohrbacher/Michael Schmidt, Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile, Reinbek 1991, bes. S. 304-368. 160 Ebd., S. 126f.
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Carpzov entwickelt hat. Sie sind Aufforderungen zu Pogromen, zu regelloser, entfesselter Gewalt. Auch das ist eine Entbindung von Religion und Moral. Durch die unterschiedlichen Funktionalisierungen entsteht in der Tradition der Faustbücher eine bemerkenswerte Ambiguität in der Betrachtung der Zauberei, in der die unterschiedliche Aspekte in unauflösliche Widersprüche zueinander treten. Das gilt, wie gezeigt, selbst für die entschieden die Verfolgung und Bestrafung der Zauberer befürwortenden Widman und Pfitzer, deren Kommentare dazu angetan hätten sein sollen, die narrative Ambiguität der früheren Faustbücher zu begrenzen.
Faustus der Curiosus Immanenz, Transzendenz und curiositas Neben Zauberei ist curiositas die zweite zentrale identitäre Markierung, mit der die Historia Faustus versieht. Es dürfte wohl unstreitig sein, dass die Markierung durch curiositas Faustus überhaupt erst jene Größe verlieh, die seine Persistenz als literarische Gestalt über Jahrhunderte gesichert hat.161 Das ist freilich ein paradoxer Effekt des ersten Faustbuchs: die Historia hat überhaupt erst hineingebracht, was sie zu bekämpfen trachtete.162 In den vorgängigen Exempeln war eine solche Markierung – anders als die des Zauberers – nicht angelegt; sie ist die entscheidende Erfindung des Faustbuch-Autors. Dass diese Erfindung so folgenreich werden konnte, hängt freilich weniger mit der Performanz von curiositas in der Historia, als vielmehr mit ihrer Semantik zusammen. Curiositas ist eine Leitsemantik bei der Autopoiesis von Gesellschaft; sie fungiert als Scheidelinie zwischen verschiedenen Evolutionsstufen der Gesellschaft. Deshalb wird die Veränderung dieser Semantik auch als ein zentraler Aspekt im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit angesehen: Während das Mittelalter, so die fast unisono vertretene Forschungsmeinung, curiositas weitgehend perhorreszierte, sei sie in der Neuzeit als Aufgabe menschlicher Selbstbestimmung begriffen worden.163 Dass diese Auffassung nicht zutreffend ist, sondern eher einer emphatischen Selbstbeschreibung der Moderne entspringt, ist in der jüngeren Forschung durchaus konstatiert worden.164 Die Neubewertung der curiositas ist freilich bei der Interpretation der Faust-Figur noch nicht hinreichend berücksichtigt worden. Es scheint mir daher wichtig, zunächst einige prinzipielle Überle————— 161 Vgl. etwa Ziolkowski, The Sin of Knowledge, S. 56. 162 Vgl. dazu Münkler, Höllenangst und Gewissensqual, S. 249f. 163 Vgl. Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, insbes. S. 166ff.; Ziolkowski, The Sin of Knowledge, bes. S. 69-73. 164 Vgl. Bös, Curiositas, bes. S. 12-39; Münkler, »allezeit den Spekulierer genennet«, S. 61f.
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Faustus der Curiosus
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gungen zum Begriff der curiositas anzustellen, bevor ich mich der Geschichte des curiositas-Begriffs zuwende. Curiositas gehört nach Niklas Luhmann zu den zentralen Semantiken religiöser Kommunikation, die auf der Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz basiert. Diese basale Scheidung ist im Hinblick auf curiositas entscheidend: Da Transzendenz zunächst nur eine Grenze anzeigt, hinter der das Unerreichbare beginnt, lässt sich über dieses Unerreichbare im Prinzip alles behaupten. Deshalb richten Religionen hier Kommunikationssperren ein. Das Problem wird durch die einzige Operationsweise gelöst, die dem Sozialsystem Gesellschaft zur Verfügung steht: durch Kommunikation, und zwar durch den Doppelprozess des Ausweitens und Inhibierens von Kommunikationsmöglichkeiten. Das Heilige wird als Geheimnis, also als Verbot oder als Unmöglichkeit einer die Sache bestimmenden Kommunikation dargestellt. Und das neugierige Nachfragen (curiositas) wird untersagt oder entmutigt mit der Auskunft, man würde nur triviale Ergebnisse erzielen, die erkennen lassen, daß man am Wesentlichen vorbeigegriffen habe.165
In Luhmanns Bemerkungen wird implizit die ganze Komplexität der mit der Scheidung von Immanenz und Transzendenz verbundenen curiositas-Problematik deutlich. Der erste Effekt der basalen Scheidung ist das Verbot: Es ist verboten, Transzendenz ergründen zu wollen, weil das die Grenze zwischen Transzendenz und Immanenz aufheben würde. Daraus ergibt sich in der Autopoiesis des Systems der Religion aber ein weiterer Effekt: Das Verbot nämlich kehrt auf dem Wege des re-entry als Problem der Immanenz wieder, wo es dann als die Unmöglichkeit ausgewiesen wird, Transzendenz angemessen zu repräsentieren. Die Grenze wird damit an einen anderen Ort verlegt: Jeder Versuch, Transzendenz zu repräsentieren, muss insofern an eine Grenzen geraten, als Transzendenz nur in der Sprache der Immanenz repräsentiert werden kann. Das hat den paradoxen Effekt, dass jeder Versuch, Transzendenz zu diskusivieren, sie nicht repräsentiert, sondern negiert. Das könnte nahe legen, das Transzendenzproblem einfach zu ignorieren. Da dies die basale Scheidung aber sinnlos machen und religiöse Kommunikation ihres Gegenstandsbereichs berauben würde, muss ein zweites Verbot errichtet werden: Auch die Abwendung von der Transzendenz ist verboten, woraus dann als positive Kehrseite des Verbots folgt, dass Transzendenz in der Immanenz das Ziel allen Strebens zu sein hat. Damit ist die Paradoxie in einer klassischen autopoietischen Operation voll entfaltet: Man darf Transzendenz nicht ergründen wollen, aber man darf sich von ihr auch nicht abwenden. Daraus erwächst Theologie. Theologie ist innerhalb der religiösen Kommunikation ein autopoietischer Effekt der Mischung von Verbot und Gebot. Die Beschäftigung mit Transzendenz wird funktional ausdifferen————— 165 Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, S. 81.
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ziert und an eine spezifische Gruppe delegiert, die für alle anderen Gruppen die Umgangsregeln mit der Transzendenz definiert. Theologie lizensiert als Spezial- und Spezialistendiskurs eine bestimmte, mit Zugangsbeschränkungen versehene Gruppe dazu, Transzendenz zu thematisieren, wobei ein zentraler Aspekt dieser Thematisierung aber stets die Erklärung der letztlichen Unergründlichkeit ihres Gegenstandsbereichs bleibt. Auch die Theologen können Transzendenz nicht vollständig ergründigen. In der Sprache der Theologie: Der Wille Gottes ist auch ihnen unzugänglich und die Wissenschaft von Gott bietet nur Möglichkeiten, sich ihm auf den Wegen der Vernunft oder des Glaubens anzunähern, ohne ihn aber je vollständig ergründen zu können. Inbegriff dieser Unergründlichkeit ist die Kontingenzformel Gott.166 Für alle anderen Teilsysteme der Gesellschaft heißt das zunächst, dass im Einzelnen nicht unbedingt festgelegt ist, welche Gegenstände unter das curiositas-Verbot fallen. Da die Transzendenz der Erkenntnis prinzipiell verschlossen ist, muss versucht werden, sie in der Immanenz zu erfassen, wobei die Immanenz der Raum ist, den Gott dem Menschen zur Erkenntnis zugänglich gemacht hat und was folglich, zumindest teilweise, auch vom curiositas-Verbot ausgenommen werden muss. Dass hier permanente Grenzjustierungen und Liminalitätsdiskurse erforderlich sind, kann nicht verwundern. Nur wenige Begriffe haben deshalb historisch eine so wechselvolle und umkämpfte Semantik, wie curiositas, und diese semantischen Kämpfe gehen keineswegs darin auf, daß das Mittelalter sie als eine prinzipiell sündhafte Überschreitung der Grenzen menschlichen Wissens betrachtete, während die Neuzeit sie als Voraussetzung allen wissenschaftlichen Fortschritts feierte.167 Vielmehr wird schon in der vorchristlichen Antike die Neugierde sowohl im Hinblick auf ihre Nützlichkeit als auch auf ihre ethische Bedeutung befragt und der Begriff damit in eine Selbstthematisierung des Menschen eingeschrieben, die sich stets entlang der Grenzziehung von Genesis und Geltung, von Intention und Prätention menschlicher Selbstbestimmung bewegt.168
————— 166 Zu Gott als Kontingenzformel vgl. Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, S. 147ff. 167 So behauptet etwa Götz Müller (Art. »Neugierde«, S. 732): »Neugierde ist ein von Augustinus gegen die antike Philosophie eingeführter Kampfbegriff, der zu einem Signal neuzeitlicher Emanzipation von der Theologie wurde.« So wenig diese Behauptung zutrifft, so belegt sie doch die Bemühungen um semantische Eindeutigkeit des curiositas-Begriffs und seine Inanspruchnahme für eine pathetische Selbstbeschreibung der Neuzeit. 168 Einige dieser Grundprobleme sind knapp angerissen bei Klaus Krüger: Einleitung zu: ders. (Hg.), Curiositas; Einen brauchbaren Überblick über die Geschichte des curiositas-Begriffs bietet Vinken, Art. Curiositas/Neugierde.
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Wechselnde Semantiken von curiositas Etymologisch betrachtet hat das lateinische Nomen curiositas zunächst noch keine Verbindung zu Immanenz und Transzendenz. Curiositas ist eine Ableitung aus dem Adjektiv curiosus, das auf das Nomen cura (Sorge, Kümmernis, Fleiß, angestrengte Aufmerksamkeit) zurückgeht.169 Curiosus konnte sowohl positive Konnotationen haben, wie etwa bei dem römischen Gelehrten Varro, der es als Adverb zu facere und administrare synonym für attente (aufmerksam), diligenter (sorgsam) oder accurate (sorgfältig) gebrauchte, als auch negative Konnotationen, wenn es substantivisch, wie etwa in der kaiserlichen Verwaltungssprache, in der Bedeutung von »Spion« oder »Denunziant« verwendet wurde.170 Der Bezug zur Neugierde im Sinne des Ausforschens von Verborgenem war hier also in erster Linie in der negativ denotierten Bedeutung gegeben und stand relativ unverbunden neben der positiven Denotation. Diese negative Bedeutung war in der römischen Literatur relativ häufig mit dem Begriff der cupiditas, der Begierde, verbunden. Von daher war dem curiosus dreierlei eingeschrieben: die Aufmerksamkeit, die Suche nach dem Verborgenen und die Gier nach dem Unbekannten. Als Nomen ist curiositas erstmals bei Cicero belegt, der in einem seiner Briefe an Atticus von sich schreibt, »sum in curiositate oxypeinos«171. Damit ist an dieser Stelle in deutlicher semantischer Nähe zu cupiditas der Heißhunger des von den politischen Entwicklungen abgeschnittenen Verbannten bezeichnet, der gierig auf Neuigkeiten aus Rom wartet. Dieser enge Bezug auf konkrete Nachrichten, der in Ciceros Korrespondenz eine gewisse Rolle spielt, ist freilich nur ein untergeordneter Aspekt seiner Deutung des Wissensstrebens. In De Officiis bezeichnet Cicero das Streben nach Wissen in Anlehnung an den ersten Satz der aristotelischen Metaphysik als natürliches Verlangen aller Menschen: »Inprimisque hominis est propria veri inquisitio atque investigatio.«172 Der Bezug auf Aristoteles ist insofern bedeutsam, als dieser »das menschliche Erkenntnisstreben aus der Zuordnung zur Selbsterkenntnis und zum sittlichen Handeln«173 gelöst und als legitime Aufmerksamkeit für die den Menschen umgebende Natur gekennzeichnet hatte. Im ersten Satz der Metaphysik hatte Aristoteles konstatiert: »Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen.«174 Er beründete diesen performativen Satz mit der natürlichen Freude des Menschen am Sehen, die er als zentrale Voraussetzung der Erkenntnis aber auch der Künste betrachtete. Die Au————— 169 170 171 172 173 174
Vgl. Bös, Curiositas, S. 12. Vgl. ebd., S. 13. Cicero, Epistula ad Atticum 2,12,2. Vgl. Bös, Curiositas, S. 40f. Cicero, De officiis, 1,4,13. Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, S. 38. Aristoteles, Metaphysik, I, 1. 980 a 21.
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genlust war für ihn demnach keine Ablenkung von wahrhafter Erkenntnis, sondern ihre Voraussetzung. Anders als Aristoteles sah Cicero in der Lust, Neues zu betrachten, jedoch durchaus eine Gefährdung des Wissensstrebens. Nach seiner Auffassung musste curiositas durch Maßhalten, Sorgfalt und Lernbereitschaft gebändigt werden, weil sie sonst in Sensationsgier, Zerstreuung und Zeitvertreib ausarte. Wissensstreben, an sich gut und tugendhaft, kann zu einem Laster werden, wenn beim Erkennen voreilig falsche Schlüsse gezogen werden oder andererseits im Übermaß Schwieriges und Unnützes erforscht wird.175
Cicero siedelte die Grenze des Wissens denn auch an der Grenze von Immanenz und Transzendenz an. Göttliches Recht und Vorsehung seien auch von der verwegenen Neugier des Menschen als Grenzen zu respektieren. Bereits mit der Einführung des Begriffs zeichnet sich dieser also durch eine gewisse Ambivalenz aus: Es wird positiv konnotiert, aber mit Einschränkungen versehen. Diese Einschränkung wird bereits von Seneca verstärkt, der die curiositas vor dem Hintergrund der stoischen Kosmologie und Theologie betrachtet. Positiv besetzt bezieht sich curiositas bei ihm in erster Linie auf die innerweltliche Ebene, während das Eindringen in die Geheimnisse der Natur unter dem Primat der pantheistischen Gleichsetzung von Kosmos und Logos, von Welt und göttlichem Prinzip, negativ besetzt ist.176 Das Thema der curiositas bekommt einen neuen Hintergrund, als die christliche Lehre in die Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen des Menschen eintritt, der sich theoretisch die ihn umgebende Welt vertraut machen möchte.177
Bei Tertullian (ca. 160-220) richten sich die Bedenken, ähnlich wie bei den nichtchristlichen Autoren, vorwiegend auf das Kriterium der Nützlichkeit, um die Legitimität der curiositas zu begründen. So bezeichnet er beispielsweise das Studium der heidnischen Autoren als Ausdruck einer iusta et necessaria curiositas. Neu und negativ besetzt ist bei ihm jedoch der Aspekt der Ruhelosigkeit des Neugierigen, der sich durch eine enormis et otiosa curiositas auszeichnet, welche dem Kriterium der utilitas nicht mehr genügt.178 Aurelius Augustinus (354-430) unterzieht den curiositas-Begriff dann einer gründlichen Erörterung, die zur Grundlage für die gesamte mittelalterliche theologische Diskussion wird. Für ihn ist curiositas nach einem Wort des Evangelisten Johannes concupiscentia oculorum, Augenlust, die sich mit der voluptas carnis und der superbia verbindet und den Tugenden der humi————— 175 176 177 178
Bös, Curiositas, S. 46. Vgl. ebd., S. 51-57. Ebd., S. 17; vgl. Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, S. 89-96. Vgl. Bös, Curiositas, S. 85-90.
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litas (Demut), simplicitas (Einfachheit) und temperantia (Mäßigung) entgegengesetzt ist.179 Insbesondere die Kennzeichnung der curiositas als concupiscentia oculorum verknüpft sie mit der sinnlichen Erfahrung; deswegen hat sie bei Augustinus zahlreiche negative Aspekte und steht in der Nähe zu Müßiggang, unnützen Studien, Einmischung in fremde Angelegenheiten und Sensationslust. Die negativen Aspekte sind dabei aber stets mit der Intention des curiosus verknüpft, wodurch curiositas für sich genommen wieder entlastet wird. Curiositas kann bei Augustinus auch als Sorgfalt, Antrieb für nützliche Taten und Experimentierfreudigkeit verstanden werden. Die Neugierde treibt zum Erkunden der Natur, des Kosmos, der vergänglichen Welt, was an sich nicht schädlich ist. Nur wer sich darin verliert, wer Wahrsagerei, Aberglauben und Häresie anhängt, kehrt sich ab von Gott und seiner Vorsehung.180 Augustinus verwirft also nicht das Wissensstreben an sich, sondern die Wissensgier, die dem Laster der superbia entspringt, weil ihr wahres Ziel nicht in der Erkenntnis der Schöpfung, sondern in der Selbstüberhebung des Menschen besteht. Wo die Welterkenntnis als uti der Erkenntnis Gottes durch die Offenlegung des transzendenten Verweisungszusammenhangs der Schöpfung auf ihren Schöpfer dient, kann sie bei Augustinus durchaus auch als pia curiositas erscheinen, die Gott in seinen Werken zu erkennen sucht.181 Die somit noch bei Augustinus erkennbare Ambivalenz des curiositas-Begriffs bleibt für dessen Verwendung im theologischen Diskurs insgesamt kennzeichnend, auch wenn sich die argumentative Begründung teilweise verschiebt. Gänzlich negative Auslegungen der curiositas sind in der mittelalterlichen Theologie eher selten, auch wenn sie sich gelegentlich finden lassen. Der englische Kirchenlehrer Beda Venerabilis (672/73-735) etwa legt die curiositas vollständig negativ aus, indem er sie mit verbotenen Künsten, dem Betrachten unsittlicher und unnützer Schauspiele, der Jagd auf vergängliche Güter und der Untersuchung der Fehler anderer verbindet. Er ordnet curiositas damit einem ausschließlichen Interesse an der Immanenz zu, das Transzendenz negiert. In der Scholastik nimmt Albertus Magnus dann einige der Ambivalenzen des Begriffs bei Augustinus wieder auf, und entflicht die Ambiguität der curiositas, indem er ihr einen neuen Begriff zur Seite stellt. Curiositas ordnet er, wie Beda Venerabilis, der Seite der Immanenz, und zwar mit den bekannten Eigenschaften unnütz, maßlos, falsche Einstellung, ergänzt sie aber ————— 179 Vgl. Oberman, Contra vanam curiositatem, S. 19; Bös, Curiositas, S. 99-103 ; Krüger, Einleitung zu : Curiositas, S. 12-14. 180 Vgl. Blumenberg, Augustins Begriff der theoretischen Neugier. 181 Vgl. Bös, Curiositas, S. 127f., sowie Oberman, Contra vanam curiositatem, S. 18.
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um das Eindringen in die Geheimsse der Transzendenz als deren Archetyp der den Sündenfall begreift. Er übernimmt jedoch bestimmte Aspekte der augustinischen curiositas in den Begriff der studiositas, die er als Sorgfalt, Eifer in geistlicher Lehre und Studium beschreibt. Für Albertus ist studiositas das rechte Wissensstreben (virtus intellectualis), dem utilitas, ratio und continentia zugeordnet werden.182 Studiositas ist aber keineswegs nur auf die Gotteserkenntnis beschränkt, sondern bezieht sich auch auf die Erkenntnis der Natur, sie ist also sowohl nach der Seite der Immanenz als auch nach der Seite der Transzendenz hin erkenntnisoffen. Diese Überlegungen werden von seinem Schüler Thomas von Aquin fortgeführt, der die negative Konnotation der curiositas einerseits über die Seite der Transzendenz weiter vertieft und mit der Verwerflichkeit menschlichen Begehrens nach gottähnlichem Wissen begründet, andererseits aber im bloßen Interesse an der Immanenz fundiert. Sinnliche Erkenntnis ist deswegen aber weniger noch als bei Augustinus per se negativ konnotiert, denn alle Erkenntnis geht für Thomas im Anschluß an Aristoteles von den Sinnen aus. Nur wenn sich die sinnliche Erfahrung auf die Augenlust beschränkt, die nicht der Erkenntnis, sondern allein der Zerstreuung dient, ist sie negativ besetzte curiositas, die der tugendhaften studiositas entgegengesetzt ist. 183 Curiositas zeichnet sich hier durch eine Mischung von Mangel und Unmäßigkeit aus: Sie ist unmäßig, wo der Mensch sich auf der Suche nach Zerstreuung im Übermaß der Gegenstände und ihrer Oberflächlichkeit verliert, aber sie ist ein Mangel, wo sie die Mühen der Erkenntnis der Schöpfung scheut, die zur Erkenntnis des Schöpfers hinführt.184 Wo der Betrachtung der Schöpfung und der Beschreibung ihrer Mannigfaltigkeit aber ein uti zugeordnet werden kann, wird curiositas als studiositas überaus positiv konnotiert. Insbesondere ist studiositas die Voraussetzung für die via rationis, den Weg vernunftgeleiteter und geordneter Erkenntnis Gottes.185 Diesen Weg hält Thomas im Prinzip allen Menschen offen, denn so wie die Erkenntnis bei allen Menschen von den Sinnen ausgeht und allen Menschen natürliche Vernunft eignet, können auch alle die via rationis beschreiten. Lässt sich bis hierher eine einigermaßen klare Linie ziehen, so verändert sich die Semantik von curiositas noch einmal bei Nikolaus von Kues und später bei Luther. Der Cusaner begründet das Streben nach Welterkenntnis, über Thomas hinausgehend, insofern positiv, als Gott die Menschen durch ————— 182 Vgl. Bös, Curiositas, S. 169-175. 183 Thomas von Aquin, Summa Theologiae II-II, qu. 166 (studiositas) und qu. 167 (curiositas). Vgl. auch die ausführliche Darlegung bei Bös, Curiositas, S. 176-192. 184 Vgl. Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, S. 131f. 185 Vgl. Heinzmann, Die Theologie auf dem Weg zur Wissenschaft; vgl. auch Hamburger (Idol Curiosity, S. 42-44), der den Aspekt der utilitas als Beschränkung besonders hervorhebt.
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seine wunderbare Schöpfung zum Staunen hinführen wolle.186 Der Schöpfer selbst könne zwar nicht durchdrungen werden, aber die durchdringende Erkenntnis seiner Werke lobe das Werk des Schöpfers. Einer forschenden Neugierde sind damit keine Grenzen auferlegt, sofern sie Welterkenntnis nicht mit Gotteserkenntnis verwechselt oder an ihre Stelle gesetzt werde. Die eigentlich bemerkenswerte Umbesetzung bestand nun aber darin, dass Nikolaus von Kues für dieses Streben nach Welterkenntnis nicht den Begriff der studiositas, sondern den der curiositas verwendet und damit für ein positiv zu bewertendes Streben einen zu diesem Zeitpunkt weitgehend negativ besetzten Begriff verwendet.187 Der Begriff der curiositas war damit in gewisser Weise rehabilitiert, während der Begriff der studiositas umgekehrt zu einer Leerstelle wurde. In diese Leerstelle stieß dann folgerichtig Martin Luther, denn für ihn wurde studiositas zum eigentlich problematischen Terminus, während curiositas zumindest ambivalente Züge erhielt. Einerseits trennte Luther die Naturerkenntnis radikal von der Gotteserkenntnis (»quae supra nos, nihil ad nos«188), womit die Naturerkenntnis von Bezügen auf Gott sowie Gott von den Bezügen auf die Vernunft als Erkenntnismittel freigesetzt wurde. Andererseits unterteilte er freilich die curiositas in eine negative curiositas carnis und eine positive curiositas spiritualis. Die curiositas carnis war das ungerichtete Begehren, das der curiositas schon bei Augustinus eingeschrieben war, während die curiositas spiritualis der Hunger nach Gott war, der seine Rechtfertigung jedoch allein im Glauben finden konnte. Die bei Luther negativ besetzte studiositas richtete sich dagegen exakt gegen die via rationis in der Scholastik, den Versuch, sich Gott auf dem Weg über die Vernunft zu nähern, was er als sinn- und haltloses Spekulieren begriff. Luther hat dieses haltlose Spekulieren an der Scheidung zwischen dem Deus absconditus und dem Deus revelatus, dem verborgenen und dem geoffenbarten Gott festgemacht. Über den Deus absconditus können keine Aussagen gemacht werden, er wird sich erst im Jüngsten Gericht offenbaren, aber der Deus revelatus ist in der Heiligen Schrift zugänglich. In Aurifabers Tischreden hat Luther diesen Kerngedanken unter dem locus »GOTT in seiner Maiestat ist Menschlicher vernunfft vnbegreiflich / darumb sol man mit der verseheung zufriede sein / vnd sich nicht damit bekümern« präzise zusammengefasst: Menschlich vernunfft vnd Natur kann GOTT in seiner Maiestat nicht begreiffen / darumb sollen wir nicht weiter suchen noch forschen was GOTTES Wille / Wesen vnd Natur sey / denn so fern ERS vns befohlen hat. Sein Wort hat er vns gegeben / darin
————— 186 Zur Bedeutsamkeit des Staunens in der mittelalterlichen Theologie vgl. Daston/Park, Wunder und die Ordnung der Natur, S. 127-158. 187 Vgl. Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, S. 160-165. 188 Vgl. Jüngel, »Quae supra nos nihil ad nos«.
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er reichlich offenbaret hat / was wir von jm wissen / halten / gleuben / vnd wes wir vns zu jm versehen sollen / nach demselben sollen wir vns richten / so konnen wir nicht irren. Wer aber von Gottes Willen / Natur vnd Wesen gedancken hat ausser dem Wort / wils mit menschlicher vernunfft vnd weisheit aussinnen / der macht jm viel vergeblicher vnruge vnd arbeit / vnd feilet weit / denn die Welt / spricht Sanct Paulus / Durch jre Weisheit / erkennet GOTT nicht in seiner Weisheit j.Corinth.j.189
Nach einer anderen Mitschrift der Tischgespräche äußerte er über die studiositas: Wie sind wir denn so vermessen und unsinnig, ausser uns uber die wolcken zu fladdern von göttlicher Majestat, Wesen und Wullen zu speculieren, die unser blinden tollen Vernunft viel zu hoch, unbegreiflich und unerforschlich ist.190
Mit dem »speculieren von göttlicher Majestät« ist hier jene Form der Gotteserkenntnis gemeint, die Albertus Magnus und Thomas von Aquin mit dem Begriff der studiositas positiv belegt hatten. Luthers doppeltes Credo des sola scriptura und sola fide ist denn auch die Gegenposition zu jenen Formen der scholastischen studiositas, nicht aber unbedingt ein curiositasVerbot im Sinne eines Verbotes der Naturerkenntnis, auch wenn sie, wie bei Nikolaus von Kues, kein Weg sein konnte, um Gottes unerforschlichen Ratschluss auszukundschaften. Curiositas als unverzichtbare identitäre Markierung? Bevor ich mich der Frage zuwende, welche semantischen Aspekte der curiositas in den Faustbüchern je im Vordergrund stehen, will ich zunächst klären, ob curiositas in allen Faust-Viten für die Markierung der Figur überhaupt die angenommene zentrale Rolle spielt und welche volkssprachlichen Begriffe für den lateinischen Terminus verwendet werden. Auf den ersten Blick scheint die negative Besetzung der curiositas wie auch ihre zentrale Funktion für die Charakterisierung des »weitbeschreyten Zauberers« völlig eindeutig zu sein. Schon auf dem Titelblatt der Historia werden alle »hochtragenden, fu֏rwitzigen und Gottlosen Menschen« als Leser adressiert, denen Faust »zum schrecklichen Beyspiel / abscheuwlichen Exempel / und treuwhertziger Warnung«191 dienen soll, um sie davor zu bewahren, denselben Fehler zu machen. Die »fu֏rwitzigen« sollen also mit dem Exempel eines »fu֏rwitzigen«, der »endtlich seinen wol verdienten Lohn empfangen« hat, davor gewarnt werden, ähnlichen Neigungen nach————— 189 Aurifaber, Luthers Tischreden, Bl. 40a-b. 190 WA TR 1, S. 612, Nr. 1230. 191 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, faksimiliertes Titelblatt, unpaginiert [3]. Vgl. auch ed. Schmitt/ Noll-Wiemann, Titelblatt, unpaginiert.
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zugeben, womit die paränetische Funktion der Historia bereits auf dem Titelblatt deutlich wird. Fürwitz ist eine der möglichen mittelhochdeutschen und frühneuhochdeutschen Übersetzungen von curiositas, zu denen daneben auch verwitz, vorwitzigkait, suberlichkeit, hoflicheit, curioßheit und erneste zählen. Curiosus kann übersetzt werden mit fürwitzig, vorwiczig, virwiczick, weydelich, wanchlig, vermessen, hoflicher, hoffelich, houesch, sorgsam, sorgfeltig und sorchuoldich.192 Wie im philosophisch-theologischen Diskurs zeigt sich auch hier an den möglichen Synonymen für curiositas die Auslegbarkeit »in bonam et in malam partem«, die Robert Estienne in seinem 1531 erstmal erschienenen Dictionarium latinogallicum konstatiert hatte.193 Dabei bezeichnet fürwitzig neben vermeßen und wanchlig eher die negativen Konnotationen, während hoffelich, sorgsam und sorgfeltig positiv besetzt sind. In der Historia wird für curiositas nahezu ausschließlich das Nomen fürwitz bzw. das Adjektiv fürwitzig verwendet. Allerdings ist fürwitzig nicht so eindeutig negativ konnotiert wie vermeßen. Deshalb bedarf es in der Regel der Kombination mit anderen Epitheta, um eine negative Bedeutung unmissverständlich auszuweisen. So erscheint curiositas als Motiv des Teufelspaktes und damit als Ursache des schrecklichen Exempels in den Wortfeldern des »hochtragenden / fu֏rwitzigen« oder auch des »Ubermu֏tigen / vnnd fu֏rwitzigen«, wie auf dem Titelblatt des Tübinger Reimfaust von 1588.194 Allerdings kann fürwitzigkeit in solchen Kontextualisierungen die Bedeutung von Neugier ganz ablegen und ausschließlich Versessenheit denotieren, wie das etwa in Ludwig Milichius’ Zauber Teuffel der Fall ist. Milichius bezeichnet es als eine »Zauberische fu֏rwitzigkeyt / daß man zu֠ allen gescha֏fften besondere tag und stunden erwehlet«, was fu֏rwitzigkeyt als Aspekt abergläubischer Vermessenheit ausweist.195 Eine vergleichbare explizite Adressierung fehlt in der Titelüberschrift der Wolfenbütteler Handschrift, die zwar auch den verdienten Lohn für den Teufelspakt erwähnt und die paränetische Funktion der »Historia vnd Geschicht« in den Mittelpunkt rückt, sie aber nicht an die fürwitzigen adres————— 192 Vgl. Diefenbach, Glossarium Latino-Germanicum, S. 163. Siehe auch die entsprechenden Einträge im Grimmschen Wörterbuch. Für die englischen Übersetzungen von curiositas vgl. die Einträge unter »curiosity« im Oxford English Dictionary; für die französischen Übersetzungen die Einträge unter »curiosité« im Dictionnaire historique de la langue française. Zur griechischen und lateinischen Herkunft vgl. auch Labhardt, Curiositas. 193 Vgl. Kenny, Curiosity in Early Modern Europe Word Histories, S. 53. 194 Reimfaust, ed. Mahal, Titelblatt [unpaginiert]; vgl. auch ed. Milchsack, S. 1. 195 Milichius, Zauber Teuffel, ed. Stambaugh, S. 127. An anderer Stelle (ebd., S. 131) verwendet er das Nomen spricht fu֏rwitzigkeyt im Sinne von Vermessenheit in Bezug auf die Heiligen: »Der Festen aber/so den Heiligen durch fu֏rwitzigkeyt der Menschen seind zu֠geeygnet/soll sich keyn Christ irren/soll die selben auch nicht fu֏r heylig, sondern viel mehr fu֏r Gottloß halten.«
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siert.196 Innerhalb der Narration wird freilich sowohl in der Historia als auch in der Wolfenbütteler Handschrift der fürwitz als Grund für den Teufelspakt angeführt. Entscheidend ist dabei die Verbindung von fürwitz mit anderen Eigenschaften, wie Hochmut und Leichtfertigkeit: Wie obgemeldt worden / stunde D. Fausti Datum dahin / das zulieben / das nicht zu lieben war / dem trachtete er Tag vnd Nacht nach / name an sich Adlers Flu֏gel / wolte alle Gru֏nd am Himmel vnd Erden erforschen / dann sein Fu֏rwitz / Freyheit vnd Leichtfertigkeit stache vnnd reitzte jhn also / daß er auff eine zeit etliche za֏uberische vocabula / figuras / characteres vnd coniurationes / damit er den Teufel vor sich mo֏chte fordern / ins Werck zusetzen / vnd zu probiern jm fu֏rname.197
Die Wolfenbütteler Handschrift kombiniert anstelle von »Freyheit«, »Frechheit« mit »fu֏rwitz« und »Leichtfertigkeit«198 und setzt damit einen anderen Akzent, den man nicht nur als Hörfehler oder Verschreibung deuten muss. »Frechheit« konnotiert stärker als »Freyheit« den Aspekt der wissentlichen und willentlichen Vermessenheit und damit das Aufsässige des Anspruchs »alle Gründ am Himmel vnd Erden erforschen« zu wollen. Deutliche Veränderungen sind demgegenüber bereits im English Faustbook festzustellen. Eine mit der Historia vergleichbare Publikumsadressierung im Titel fehlt, und der knappe Vorspann reizt im Gegenteil die curiositas seiner Leser mit dem Hinweis auf die »many strange things that he himself hath seen and done in the earth and in the air« und markiert damit eine erste Transformation im Hinblick auf deren Funktion.199 In der Begründung für die Teufelsbeschwörung taucht denn auch der Terminus curiosity weder allein noch in Verbindung mit anderen Epitheta auf. An seine Stelle tritt speculation: You have heard before, that all Faustus’ mind was set to study the arts of necromancy and conjuration, the which exercise he followed day and night: and taking to him the wings of an eagle, thought to fly over the whole world and to know the secrets of heaven and earth; for his speculation was so wonderful, being expert in using his vocabula, figures, characters, conjurations and other ceremonical actions, that in all the haste he put in practice to bring the devil before him.200
Durch das Beiseiteschieben des Wortfeldes wird curiositas damit semantisch entlastet. Dagegen rückt speculation (»his speculation was so wonderful«201) ————— 196 Wolfenbütteler Handschrift, ed. Haile, unpaginiert [1]. 197 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 15; Faustbuch, ed. Müller, S. 845. Der Hinweis auf die »Adlers Flügel« hat zu langen Diskussionen um die Herkunft und Bedeutung dieses Bildes geführt. Vgl. Schwerte [recte: Schneider], Adlers Flügel. 198 Wolfenbütteler Handschrift, ed. Haile, S. 13. 199 English Faustbook, ed. Jones, S. 91 [A2r]. 200 Ebd., S. 93. 201 Ebd.
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stärker in den Fokus und taucht an Stellen auf, an denen der deutsche Text fürwitz verwendet. Der englische Gentleman P. F. hat offenbar gezielt die Stellen ausgelassen, an denen explizit fürwitz in Kombination mit anderen Epitheta als Begründung für den Teufelspakt angeführt wurde. Das gilt auch für die Stellen, an denen »Verwegung vnd Vermessenheit«202 alleine als Grund für den Teufelspakt genannt werden. Eine vollständige Umcodierung erfolgt dann bei Widman.203 Zwar benutzt er im Kommentar zum ersten Kapitel einmal das Adjektiv fürwitzig, aber es hat durch die Kontextualisierung mit der Vorhersage der Zukunft eine spezielle Denotation, in der nicht allgemein das Wissenstreben bezeichnet wird, sondern das Streben nach der Kenntnis zukünftiger Dinge: Aus der magischen Praxis der Prognostik geht der Wunsch hervor, die Zukunft zu beherrschen. Also fanget der hellische Verfu֏hrer an die leute zu betriegen / […] / als das er sie erstlich leret segnen vnd bu֏ssen / vnd dabey Gottes namen vnd Wordt gebrauchen / […] das sie meinen / solchs sey neine Su֏nde / weil ja Gotteswort dabey gefu֏ret wirt / so gehet er per gradus vnd kompt weiter / macht sie fu֏rwitzig / das sie zuku֏nfftige dinge zu wissen begeren.204
Außerdem führt hier nicht der fürwitz zum Teufel, sondern der Teufel bedient sich des fürwitzes, um den Sünder an sich zu fesseln. Curiositas als Wissensstreben ist damit nicht negativ konnotiert; vielmehr bezeichnet Widman das Wissensstreben unter Berufung auf »die aller scharpffsinnigsten Philosophi vnd Naturku֏ndiger« in seiner Vorrede als »ein natu֏rliche begierd / lust vnd liebe von mancherley dingen zu wissen und zu erfahren«, welche dem Menschen »gleichsam angeboren sey«.205 Curiositas fungiert hier denn auch nicht als die Ursache für Fausts Hinwendung zum Teufel, sondern als Begründung für die Publikation seiner Vita: Hab ich dieselb mit nothwendigen erinnerungen publicieren wollen / der gewissen zuversicht vnd hoffnung / weil es ein newe Historia vnd werck / es wu֏rd seine Telemachos finden / die es mit lust durchlesen / vnd anho֏ren / vnd Gottes furcht darauß lehrnen wu֏rden.206
Widman begründet den Teufelspakt denn auch nicht mit Fausts curiositas, sondern seinem Drang nach »Mu֏siggang«207, den er im Kommentar zum zweiten Kapitel als ein »groß vnd schendtlich laster«208 beschreibt, von dem ————— 202 203 204 205 206 207 208
Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 21 u. 22; Faustbuch, ed. Müller, S. 853 u. 854. Vgl. J.-D. Müller, Ausverkauf menschlichen Wissens, S. 175f. Widman, Warhafftige Historien, I, S. 7. Ebd., Vorrede, unpaginiert [II]. Ebd. Ebd., I, S. 7. Ebd., I, S. 9.
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schon die Heiden gesagt hätten, »er sey ein vrsache vieler schande / laster vnd Su֏nde«209. Deutlicher noch als Widman verschiebt Nikolaus Pfitzer den Ausgangspunkt für Fausts Transgression von der curiositas zum Müßiggang, dem Wohlleben in Saus und Braus und dem Abweichen vom geordneten Pfad eines zügig zu Ende gebrachten Studiums. So berichtet er in Anlehnung an Widman, dass Faustus das Studium der Theologie »beyseits« gesetzt habe und sich, nachdem ihm sein verstorbener Onkel eine ansehnliche Erbschaft hinterlassen habe, »also umgewendet und verkehret, daß er von dieser Zeit an, wie von ihm ein Theologus zeuget, der damals um ihn gewesen, nimmer viel nüchtern gewesen, ja zu fast allem unlustig und verdrüssig worden«210. Die Vergeudung der Erbschaft wegen »täglichen Fressens, Saufens, Spielens« führt dann schließlich zu dem Wunsch, den Teufel zu beschwören, damit er »durch solcher Hülffe, zeitliche Freude und tägliches Wolleben, möchte überkommen und erlangen«211. Der Kommentar hebt die Ursächlichkeit des Müßiggangs denn auch deutlich hervor: Nicht ohne Ursach aber wird der Müßigang ein Hauptküssen deß Satans genennet, alldieweil aus solchem, als aus einer bösen Wurtzel, viel Sünde, Schand und Laster hervorsprossen mögen: Otia dant vitia, Müßigang bringet Laster mit sich. Item, homines nihil agendo male agere discunt, durch nichts thun, lernet man nur Böses thun.212
Müßiggang wird zuallererst ermöglicht durch fehlende Sozialdisziplinierung. Insbesondere bei Studenten, so Pfitzer, die an Orten fern der elterlichen Aufsicht studierten und von ihren weichherzigen Müttern mit zu viel Geld ausgestattet würden, geschehe es oft, daß sie anstatt der Bücher die Damen aufblätterten, was sie dann schließlich nicht nur in deren Arme, sondern auch in die des Teufels führe.213 Das Nomen Fürwitz und das Adjektiv fürwitzig tauchen bei Pfitzer überhaupt nur an einer Stelle auf, nämlich im Kommentar zum einunddreißigsten Kapitel »Von dreyen jungen Freyherrn, welche D. Faustus auf ihr Begehren gen München, das Fürstliche Beylager zu sehen, auf dem Mantel führete«.214 Während die Narration noch eine Beziehung zur Augenlust herstellt, weil die drei Freyherrn die Hochzeit des Bayrischen Fürsten sehen wollen (»waren sehr begierig etwas von solchem zu sehen«215), rückt der ————— 209 210 211 212 213 214 215
Ebd. Pfitzer, Das ärgerliche Leben, S. 67. Ebd. Ebd., S. 69. Ebd., S. 68f. Ebd., S. 67f. Ebd., S. 250ff, Kommentar S. 254-261.
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Faustus der Curiosus
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Kommentar fürwitz in die Nähe von Übermut und Zauberei, deren Ziel jedoch nicht der Wissenserwerb ist: Bey diesen dreyen jungen fürwitzigen Freyherren ist zu behalten, in welcher SeelenGefahr zu mancher Zeit die studierende Jugend stecke, wenn sie Belieben träget, entweder auf dem Mantel lernen zu fahren, oder dieses und jenes sonst nicht so gar mügliches zu wegen zubringen, oder welches etwan am gemeinlichsten geschihet, aus lauterm Fürwitz zauberische und schwartzkünstlerische Bücher zu lesen.216
Das ohnehin begründungsarme, weil auf einen narrativen Kern zusammengekürzte Faustbuch des Christlich Meynenden von 1725 schließlich unterstellt als Grund für den Teufelspakt ebenfalls Wollust und Müßiggang, ohne fürwitz überhaupt noch zu erwähnen.217 Curiositas ist also, betrachtet man die Reihe der Faustbücher, keineswegs die unverzichtbare Eigenschaft des Teufelsbündners, die ihn überhaupt erst dazu bringt, einen Pakt mit dem Teufel zu schließen. Sehr viel häufiger werden Müßiggang und der Wunsch nach einem Leben in Saus und Braus angeführt. Das stimmt überein mit den mittelalterlichen Teufelsbündnerlegenden, in denen curiositas als Begründung für einen Teufelspakt so gut wie nicht vorkommt, sondern Geld- und Machtgier als Motiv angeführt werden.218 Die Polysemie des curiositas-Begriffs in den Faustbüchern In der Historia ist curiositas die Voraussetzung für die Transgression Fausts in sozialer (er negiert seinen legitimen, durch das Studium der Theologie begründeten sozialen Aufstieg), beruflicher (er wird »zum Glimpff« Arzt), normativer (er fällt von Gott ab und unterwirft sich dem Teufel), wie kosmologisch-metaphysischer Hinsicht: Er fährt hinab in die Hölle, hinauf in die Gestirne und reist schließlich kreuz und quer durch die alte Welt. Schon im ersten Kapitel der Historia unterscheidet der Erzähler zwischen pia und impia curiositas. Fausts Unheil ist nicht die Folge seines »gantz gelernigen und geschwinden Kopffs«, der dem Bauernkind das Studium der Theologie ermöglicht hat, sondern vielmehr seiner Leichtfertigkeit und Hoffart (»daneben hat er auch einen thummen /vnsinnigen vnnd hoffertigen Kopff gehabt«219), wodurch die Neugierde von den ihr erlaubten Gebieten abgewichen ist. Nach seiner glänzenden Promotion in Theologie legt ————— 216 Ebd., S. 254. 217 Faustbuch des Christlich Meynenden, ed. Mahal, S. 5f. 218 Vgl. Baron, Faustus, S. 87. In den mittelalterlichen Teufelsbündnerlegenden wurden im Allgemeinen Hochmut, Macht- und Geldgier als Motiv für den Teufelspakt angeführt. Vgl. Haug, Der Teufelspakt vor Goethe. 219 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 14; Faustbuch, ed. Müller, S. 845.
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Identitäre Semantiken
Faustus die Bibel »hinder die Thu֏r vnnd vnter die Banck« und lebt »ruch vnd Gottloßh. Die sündhafte Abkehr von Gott, die zugleich die Abkehr von seiner Profession ist, wird direkt mit curiositas in Verbindung gebracht, denn durch den Umgang mit Seinesgleichen lernt Faustus zahlreiche Bücher der verborgenen und verbotenen magischen Künste kennen.220 Zugleich rückt damit »Speculieren« in einen anderen Kontext: Das gefiel D. Fausto wohl / speculiert und studiert Nacht vnd Tag darinnen / wollte sich hernacher keinen Theologum mehr nennen lassen / ward ein Weltmensch / nandte sich ein D. Medicinae / ward ein Astrologus vnnd Mathematicus / vnd zum Glimpff ward er ein Artzt / […].221
Durch die Ruhelosigkeit wird eine erste Verbindung von curiositas und Melancholie angedeutet: Faustus »speculiert« Nacht und Tag, wobei die Nacht, anders als in der Wolfenbütteler Handschrift,222 in auffälliger Verkehrung zur üblichen sprachlichen Wendung zuerst genannt wird.223 Bemerkenswert ist dabei die terminologische Verengung auf das »Speculieren«, die zwar eine Anlehnung an Luther indiziert, hier allerdings nicht die von Luther bekämpfte scholastische via rationis, sondern die aufgeregte und ruhelose Beschäftigung mit verbotenen Gegenständen bezeichnet.224 Mit dem »Speculieren« und »Studieren« verbotener Bücher ziehen dann jener »Fu֏rwitz / Freyheit vnd Leichtfertigkeit« bei Faustus ein, die ihn dazu bringen »zu probiern«, ob es ihm gelinge, den Teufel »zu fordern«. Dieser konfrontiert ihn zwar zunächst mit einem Höllenspektakel, »deß dann D. Faust auch gar hoch erschracke«, aber umso mehr »liebete jm sein Fu֏rnemmen […] daß jhm der Teuffel vntertha֏nig seyn sollte«.225 Faustus rühmt sich denn auch vor anderen Studenten, »es seye jhm das ho֏chste Haupt auff Erden vntertha֏nig« und beschwört den Teufel erneut. Da er sich ————— 220 Das bedeutet freilich nicht, dass damit, wie auch in der jüngeren Forschung verschiedentlich noch behauptet wird (vgl. etwa Ziolkowsky, The Sin of Knowledge, S. 56; Kreutzer, »Der edelste der Triebe«) das grundsätzliche Verbot verbunden gewesen wäre, Wissen außerhalb der Bibel zu suchen. Dagegen schon Könneker, Faust-Konzeption und Teufelspakt, S. 175f.; vgl. auch J.-D. Müller, Ausverkauf menschlichen Wissens, S. 163-165. 221 Historia, ed. Füssel-Kreutzer, S. 14f.; Faustbuch, ed. Müller, S. 845. Zur Verbindung von Medizin und Astrologie vgl. Müller-Jahncke, Astrologisch-magische Theorie und Praxis; Kästner, Fortunatus und Faustus, S. 107-112. 222 Vgl Wolfenbütteler Handschrift, ed. Haile, S. 12. 223 Zur Verbindung von curiositas und Melancholie in der Historia vgl. Münkler, Höllenangst und Gewissensqual; dies., Ubi Melancholicus – Ibi Diabolus; Röcke, Die Faszination der Traurigkeit, S. 115. 224 Barbara Könneker hat demgegenüber die These vertreten, »spekulieren« habe hier überhaupt keinen Bezug zur curiositas, sondern beziehe sich nur auf den grundsätzlich falschen Gebrauch der Vernunft in Glaubensfragen. Vgl. Könneker, Faust-Konzeption und Teufelspakt, S. 176ff. Belege für Luthers Verwendung des Terminus »Spekulieren« finden sich unter dem gleichnamigen Stichwort im Grimmschen Wörterbuch, Bd. 16, Leipzig 1903, Sp. 2136. 225 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 16; Faustbuch, ed. Mülller, S. 849.
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Faustus der Curiosus
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im Besitz der Macht fühlt, gibt er dem Geist, der am nächsten Morgen in seiner Kammer erscheint, sogleich die Bedingungen auf, unter denen er künftig mit ihm zu verkehren gedenkt. In diesen drei Paktbedingungen hat curiositas einen zentralen Stellenwert. Der Geist, so Faustus selbstbewusst, solle ihm 1. »vntertha֏nig und gehorsam seyn / in allem was er bete / fragte / oder zumuhte«; 2. »das jenig / so er von jm forschen wu֏rd / nicht verhalten« und 3. »auff alle Interrogatorien nichts vnwarhafftigs respondiern«.226 Mephostophiles reagiert auf diese Forderungen mit einer Faustus überraschenden und seinen Machtanspruch irritierenden Wendung, die in der Wolfenbütteler Handschrift am detailliertesten aufgefächert ist: Darauff jm der Gaist solchs abschlueg / weygert sich dessen / gab sein Caution vnnd vrsach / er habs keinen Volkomnen Gewalt / Dann Souerr ers von seinem herren / Der vber jn hersche erlangen kann / Vnnd sprach Lieber Fauste Dein beger zue erfullen / stett nit jn meiner Chur noch gewalt / sonndern zu dem Hellischen Gott: Antwurt Doctor Faustus darauff / Wie so / vnnd wie soll jch es verstehn / bistu nicht mechtig gnueg deins gewalts / Nein antwurt der Geist / Da spricht Doctor Faustus wider / Lieber sag mir solche vrsach. So solstu wissen Fauste / Das vnder vns gleich so wol ein Regiment vnnd herrschaft / wie auf Erden / Dann wir haben Vnnsere Regierer Regenten vnnd Dienner / wie jch auch ainer bin / […].227
Während dieser erste Teil von Mephostophiles’ Antwort nahe legt, dass es ihm aufgrund seiner subalternen Stellung nicht erlaubt ist, solche Forderungen zuzusagen, zeigt sich im zweiten Teil, dass vielmehr die Scheidung von Immanenz und Transzendenz den Grund für die teuflische Zurückhaltung bildet. Wie Gott – oder vielmehr als dessen äffischer Nachahmer228 – reklamiert auch der Teufel Transzendenz für sein Reich und erklärt, es werde dem Menschen erst nach dem Tode geoffenbart: zwar wir niemahlen Den Menschen offenbart haben / Das Recht Fundament vnnserer Wohnung / Regierung / vnnd herrschafft / es waiß auch niemandt was sich findet nach absterben des verdampten Menschen der es erfert vnnd jnnen wirt.229
Erst mit dieser Reklamierung von Transzendenz für das Reich des Teufels erkennt Faustus die Dimension seines Tuns, »entsetzt sich darab / vnnd sprach / jch will nit verdampt sein Vmb deinet willen«.230 Die Fokalisierung durch den Erzähler legt nahe, dass Faustus sich zuvor in einer Art Verbotsirrtum befunden habe: Er wollte »alle Gru֏nd am Himel vnd Erden erforschen«, d. h. den Bereich der Immanenz, dem er auch den »Fürst dieser ————— 226 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 18; Faustbuch, ed. Mülller, S. 851. 227 Wolfenbütteler Handschrift, ed. Haile, S. 14. 228 Zu diesem dem Teufel zugeschriebenen Aspekt des »äffischen« Nachahmens vgl. Adam, Der Teufel als Gottes Affe; Böhme, Der Affe und die Magie, bes. S. 116ff. 229 Wolfenbütteler Handschrift, ed. Haile, S. 15. 230 Ebd.
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Welt« zurechnete, aber er ist unversehens im Bereich der Transzendenz gelandet, und das damit verbundene Problem erkennt der vormals exzellente Theologe sofort. Faustus kann freilich die affektiven Wirkungen seiner Grenzüberschreitung schon zu diesem Zeitpunkt nicht mehr kontrollieren, denn nachdem er den Geist, der ihm mit Reimen zusetzt (»Wiltu nit / so hats doch kein Bitt / Hats denn kein Bitt / so mustu mit«) zunächst mit einem harschen »hab dir S. Veltins Grieß vnd Crisam / heb dich von dannen« zum Teufel geschickt hat, wird er »von stund an eines andern zweiffelhafftigen Gemu֏hts«.231 Erneut beschwört er den Teufel und dieser erscheint nun mit der Ankündigung einer Antwort seines Herrn, verlangt aber auch von Faustus eine Antwort, die in dessen erneuerten Paktbedingungen besteht. Die nach der vorangegangenen kommunikativen Katastrophe variierten zweiten Paktbedingungen haben den Anspruch eingebüßt, alles fragen zu dürfen, auf alle Fragen eine Antwort zu erhalten und stets die Wahrheit zu erfahren. Hier ist nur noch die Rede davon, »daß er auch ein Geschickligkeit / Form vnnd Gestalt eines Geistes mo֏chte an sich haben«, »daß der Geist alles das thun solte / was er begert / vnd von jhm haben wolt«, »jm gefliessen / untertha֏nig vnd gehorsam seyn« und stets erscheinen solle, wenn Faustus das wünsche.232 »Fragen«, »Forschen«, »Interrogieren« ist diesen Paktbedingungen nicht mehr eingeschrieben, sondern vielmehr der Wunsch, Macht auszuüben, der sich anfänglich mit der curiositas gepaart hat.233 Dementsprechend antwortet der Geist, Faustus könne – die Erfüllung der Gegenbedingungen vorausgesetzt – »alles das haben / was sein Hertz belu֏ste vnd begerte«.234 Superbia und concupiscentia haben curiositas hier also abgelöst. Das freilich ist die Folge von Fausts Annahme, er befinde sich bereits auf der anderen Seite der Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz. Insofern scheint es nur konsequent, wenn er nun auch deren Machtmittel für sich reklamiert. Allerdings sind die sechs Punkte des Forderungskataloges merkwürdig redundant, so als wisse Faustus nicht, was er im einzelnen fordern könne und stammele stattdessen aufgeregt zusammen, was ihm gerade einfällt. Erstlich / daß er auch ein Geschickligkeit / Form vnnd Gestalt eines Geistes mo֏chte an sich haben vnd bekommen. Zum andern / daß der Geist alles das thun solte / was er begert / vnd von jhm haben wolt. Zum dritten / daß er jm gefliessen / vntertha֏nig vnd gehorsam seyn wolte / als ein Diener. Zum vierdten / daß er sich allezeit / so offt er jn forderte vnd beruffte / in seinem Hauß solte finden lassen. Zum fu֏nfften / daß
————— 231 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 19, Faustbuch, ed. Mülller, S. 850. 232 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 20, Faustbuch, ed. Mülller, S. 852. Gerhild Scholz Williams deutet dagegen die Reihe der zweiten Paktbedingungen als Spezifizierung der ersten. Vgl. Williams, Semiotics and the Magic Sign: Faust’s Contract, S. 21. 233 Ebd. 234 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 21; Faustbuch, ed. Mülller, S. 852.
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Faustus der Curiosus
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er in seinem Hause wo֏lle vnsichtbar regiern / vnd sich sonsten von niemandt als von jm sehen lassen / es were denn sein Will vnd Geheiß. Vnd letztlich / daß er jhm / so offt er jhn forderte / vnnd in der Gestalt / wie er jhm aufferlegen wu֏rde / erscheinen solt.235
Im Pakt selbst kommt Faustus dann allerdings wieder auf das Motiv der curiositas zurück und führt es als ausschließliche Begründung für dessen Abschluss an: Jch Johannes Faustus D. bekenne mit meiner eygen Handt offentlich / zu einer Bestettigung / vnnd in Krafft diß Brieffs / Nach dem ich mir fu֏rgenommen die Elementa zu speculieren / vnd aber auß den Gaaben / so mir von oben herab bescheret vnd mitgetheilt worden / solche Geschickligkeit in meinem Kopff nicht befinde / vnnd solches von den Menschen nicht erlehrnen mag / So hab ich gegenwertigen gesandtem Geist / der sich Mephostophiles nennet / ein Diener deß Hellischen Prinzen in Orient / mich vntergeben / auch denselbigen / mich solches zuberichten vnd zu lehren / mir erwehlet / der sich auch gegen mir versprochen / in allem vnderthenig vnnd gehorsam zuseyn.236
Nach dem Paktschluß aber verdrängen das »Epicurische Leben«237 und die »Aphrodisia«238, die ihn Tag und Nacht stechen, die curiositas weitgehend: Die Neugierde wird durch ein ungezügeltes Begehren abgelöst. Er gerät »in eine solche Brunst vnd Vnzucht / daß er Tag vnnd Nacht nach Gestalt der scho֏nen Weiber trachtete«.239 Als ihm der Geist nach einiger Zeit »ein grosses Buch / von allerley Zauberey vnnd Nigromantia« übergibt und damit quasi von sich aus die Neugierde wieder an die Stelle des Begehrens zu rücken versucht, spekuliert Faustus nicht darinnen, sondern »erlustiget« sich neben seiner Teufflischen Ehe daran.240 Höllische Belehrungen Bald »sticht jn der Fu֏rwitz« allerdings wieder, was auf dessen Nähe zum Begehren verweist, und er nimmt die disputationes mit dem Teufel in der Frage auf, wie Lucifer zu Fall gekommen sei. Allerdings zielen Fausts Fragen nicht darauf, »alle Gründ am Himmel und auf Erden zu erforschen«, ————— 235 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 20; Faustbuch, ed. Müller, S. 852. Sämtliche Paktbedingungen erscheinen auch im Original nicht als Fließtext, sondern gelistet, was die Redundanz natürlich unmittelbar sichtbar macht. 236 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 22f; Faustbuch, ed. Mülller, S. 854. 237 Zur Auseinandersetzung mit dem »Epikureismus« in der frühen Neuzeit und im Faustbuch vgl. Williams, Faust verführt: Epikur in der Frühen Neuzeit. 238 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 29; Faustbuch, ed. Mülller, S. 862 239 Ebd. 240 Vgl. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 29; Faustbuch, ed. Mülller, S. 863.
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sondern auf seine eigene Zukunft, denn sie richten sich auf die Beschaffenheit, die Ordnung und das System der Hölle sowie die Ewigkeit der Strafen.241 Nicht Befriedigung seiner Neugier, sondern zunehmend Sorge und Angst bestimmen sein Fragen. Schon die zweite Frage wird von Angst bestimmt: Dem Doct. Fausto / wie man zusagen pflegt / Traumete von der Helle / vnd fragte darauff seinen bo֏sen Geist / auch von der Substanz / Ort vnd Erschaffung der Hellen / wie es damit geschaffen seye.242
Damit tritt die ursprüngliche Bedeutung von curiositas im Sinne von cura, der Sorge, in den Vordergrund, die hier als Sorge um sich erscheint, wobei die Erkenntnis-Neugier, die in der Frage nach Substanz, Ort und Erschaffung der Helle aufscheint, nur noch eine Camouflage dieser Sorge ist.243 Die Sorge um sich äußert sich freilich in derselben pervertierten Weise, die auch die Erkenntnis-Neugier »des alle Gründ am Himmel und der Erd« erforschen Wollenden kennzeichnet: Durch die falsche Adressierung dieser Sorge setzt sich Faustus immer mehr dem Teufel und seinen Einflüsterungen aus, auch wenn er dabei hofft »daß er einmal zur Besserung / Rew vnd Abstinentz gerahten mo֏chte«.244 Die Antworten des Teufels werden nach anfänglichen, mit der Transzendenzentzogenheit spielenden Ausflüchten (»so können wir Teufel auch nit wissen«245) zunehmend ausführlicher und verstricken Faustus immer tiefer in Sündhaftigkeit, indem sie weitere Fragen provozieren, die ihn immer weiter von der Erkenntnis entfernen, dass nicht das Wissen um die Qualität und Beschaffenheit der Hölle und die zu erwartenden Strafen, sondern allein der Glaube ihn zu Gott zurückführen könnte. Die Verzögerungsstrategie des Teufels, inszeniert als Unkenntnis (»So ko֏nnen wir Teuffel auch nit ————— 241 In der literarischen Kommunikation der Hofgesellschaft des 17. Jahrhunderts, darauf hat KarlSiegbert Rehberg im Anschluß an Peter von Moos hingewiesen, dominiert eher die FehltrittsSemantik und macht damit sichtbar, dass hier an die Stelle der Höllenangst die Furcht vor Lächerlichkeit, also dem sozialen Tod, getreten ist. Vgl. Rehberg, Der ›Fehltritt‹ als Semantik bedrohter Integrität, S. 420; siehe auch von Moos, Fehltritt, Fauxpas und andere Transgressionen, S. 32. 242 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 30; Faustbuch, ed. Mülller, S. 864. 243 Die »Sorge um sich« ist hier denn auch nicht eine der Techniken des Selbst, wie sie Foucault (Die Sorge um sich, bes. S. 53-94) für die Spätantike aufgezeigt hat, sondern ein Ausgeliefertsein an die Affekte der Sorge und der Angst. 244 Historia, ed. Füssel-Kreutzer, S. 36; Faustbuch, ed. Müller, S. 868. Faustens Versuch, durch die Beschäftigung mit der Hölle »zur Besserung/Rew vnd Abstinentz« zu gelangen, kann als ironisches Spiel mit der von katholischer Seite für die Beichte als hinreichend betrachteten attritio, der Angst-Reue, gedeutet werden, während Luther nur die contritio, die wahrhafte Zerknirschung des Sünders gegenüber Gott, gelten ließ, aber selbst diese lediglich als Vorstufe des vertrauenden Glaubens begriff. Vgl. Hahn, Zur Soziologie der Beichte, S. 204ff.; Beintker, Die Überwindung der Anfechtung bei Luther, S. 86-93. 245 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 30; Faustbuch, ed. Mülller, S. 864.
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wissen / was gestalt vnd weiß die Hell erschaffen ist«246) oder Besorgnis (»Darumb lieber Fauste / laß anstehen / viel von der Helle zu fragen / frage ein anders dafu֏r / Dann glaube mir darumb / da ich dirs erzehle/ wirdt es dich in solche Rew / Vnmuht / Nachdencken vnnd Ku֏mmernuß bringen / daß du woltest / du hettest die Frage vnterwegen gelassen«247), vertieft nur den Fragedrang und führt ihn gezielt in die falsche Richtung.248 Daneben verdrängt Fausts Selbstbezogenheit jede Form von curiositas im Sinne eines auf Immanenz oder Transzendenz bezogenen Erkenntnisinteresses. Faustus fragt um seiner selbst willen. Damit ist seine curiositas aber nicht nur impia, indem sie sich nicht auf heilsrelevante, der Gotteserkenntnis dienende Fragen bezieht, sondern im eigentlichen Sinne anti-pia, weil sie die falsche Frageintention verfolgt und sie überdies an die grundfalsche Adresse richtet. Damit setzt er den Teufel an die Stelle Gottes. Das Selbst und der Teufel gehen hier, vermittelt durch die curiositas, eine unheilvolle Verbindung ein, denn die curiositas spiritualis im Luther’schen Sinne würde sowohl ein Absehen vom Teufel als auch von sich selbst und die vertrauensvolle Hinwendung zu den Trostworten der Bibel fordern.249 Das English Faustbook vertieft an dieser Stelle den Bezug zwischen curiositas und Melancholie, indem es Faustus das Wissen um seine fehlgeleitete Neugier selbst äußern lässt. Hereat answered Faustus: ›Thou sayest true Mephostopheles, I cannot deny it. Ah, woe is me, miserable Faustus; how have I been deceived? Had not I desired to know so much I had not been in this case: for having studied the lives of the holy saints and prophets, and therefore thought myself to understand sufficiently in heavenly matters, I thought myself not worthy to be called Doctor Faustus if I should not also know the secrets of hell and be associated with the furious fiend thereof; now therefore must I be rewarded accordingly.‹ Which speeches being uttered, Faustus went very sorrowfully away from Mephostophiles.250
Doch Fausts Reue-Phasen stehen unter dem Zeichen der Selbstbezogenheit, denn er erkennt zwar die Verbindung von curiositas und concupiscentia und beklagt, dass ihn sein »vbermu֏thig Fleisch und Blut […) an Leib vnd Seel / in Verdammlicheit gebracht / Mich mit meiner Vernunfft vnd Sinn gereitzt« hat, aber er kann »keinen Glauben noch Hoffnung scho֏pfen / daß er durch Buß mo֏chte zur Gnade Gottes gebracht werden«.251 Das höhnische »zu spat« des Teufels auf Fausts Frage, ob er doch noch zur Gnade Gottes ————— 246 Ebd. 247 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 37; Faustbuch, ed. Mülller, S. 871. 248 Jean-Marie Valentin (Le Diable, le Savoir, le Salut, S. 20) hat dies als Spiel aus wahr und falsch gedeutet. 249 Vgl. Münkler, Höllenangst und Gewissensqual, S. 254ff. 250 English Faustbook, ed. Jones, S. 108. 251 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 33; Faustbuch, ed. Müller, S. 867.
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Identitäre Semantiken
kommen könnte, wenn er sich bessere, beschließt die Disputationen über die Hölle und weist sie endgültig als fundamental fehlgerichtetes Bemühen aus, mit Hilfe des Teufels zu Gott zu gelangen. Damit erweist sie sich als eine Sünde, welche die curiositas einerseits übertrifft, andererseits aber eng mit ihre verbunden ist: desperatio.252 Die Performanz von Angst und Verzweiflung in Fausts Fragen nach der Hölle präsentieren im Prinzip alle Faustbücher, ihre Ausgestaltung ist freilich sehr unterschiedlich. Im Reimfaust erhält Mephostophiles’ Höllenbeschreibung durch die Versifizierung den Charakter einer Faust verhöhnenden Rede des Teufels: Entlich kann man nit sprechen auß Was d Ho֏ll sey fu֏r ein grewlich hauß / Ein solch gebew durch Gottes zorn Allen verdampten außerkorn/ Das wirt gnennt ein rach ohn ein grundt/ Ein schandwohnung vnd tieffer schlundt/ Dann der verdampten seel allein/ Seind nit nur in der Ho֏llen pein/ Mit zittern/ weh vnd großen klagen/ Sonder sie mu֏ssen ta֏glich tragen Schand/ hohn vnd spott in solcher pein/ Gegn Gott vnd allen heilgen sein/ Dann diese Ho֏ll ist stettiglich Ein schlund gantz vnersa֏ttiglich/ Und schnappet nach den seelen recht/ Ob sie dieselbe stu֏rtzen mo֏cht. Das sag ich Fauste von der Ho֏llen/ Weil du es nun hast wissen wo֏llen.253
Das hämische »weil Du es nun hast wissen wo֏llen« des Teufels weist Faustus auf sich selbst zurück, auf die verzweifelte Neugier einer Frage, die nur in weiterer Verzweiflung enden kann. Die Steigerung in der Performanz von Angst und Verzweiflung wird besonders deutlich, wenn man zwei kurze Abschnitte aus Mephostophiles’ Höllenbeschreibung in der sechsten Disputation »von der Hell / Gehenna genandt / wie sie erschaffen vnd gestalt seye / auch von der Pein darinnen« der Historia mit dem English Faustbook miteinander vergleicht. In der Historia liest sich die weitgehend dem Elucidarius entnommene, aber diesen verkürzende Beschreibung254 wie eine ungeordnete Aufzählung: ————— 252 Zur Semantik von desperatio vgl. Ohly, Desperatio und Praesumptio. 253 Reimfaust, ed. Mahal, S. 57. 254 Vgl. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, Quellentexte, S. 224.
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Faustus der Curiosus
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Vnnd mercke / daß die Helle ist ein Helle deß Todes / ein Hitz des Feuwers / ein Finsternuß der Erden / ein Vergessung alles Guten / der Enden nimmermehr vonGOtt gedacht / sie hat Marter vnd Wehe / vnd ewig vnerleschlich Fewer / ein Wohnung aller Hellischen Drachen / Wu֏rme vnd Vngeziffer / Ein Wohnung der verstossenen Teuffel / ein Stanck vom Wasser / Schwefel vnnd Pech / vnnd aller hitzigen Metall.255
In der Beschreibung des English Faustbook dagegen bedient sich der Übersetzer einer sehr viel kunstvolleren metonymischen Sprache; er verändert die Reihenfolge der Satzteile und führt sie in einer Klimax auf die Ewigkeit der von Gott verhängten Strafen hin: And mark, Faustus, hell is the nurse of death, the heat of all fire, the shadow of heaven and earth, the oblivion of all goodness, the pains unspeakable, the griefs unremovable, the dwelling of devils, dragons, serpents, adders, toads, crocodiles and all manner of venomous creatures; the puddle of sin, the stinking fog ascending from the Stygian lake, brimstone, pitch and all manner of unclean metals, the perpetual and unquenchable fire, the end of whose miseries was never purposed by God.256
Auch der anschließende Teil des Berichts über die Leiden der Verdammten in der Hölle ist deutlich transponiert. Während in der Historia Mephostophiles einleitend bemerkt »zum dritten / so bannest du mich / vnnd wilt von mir haben / dir einen Bericht zu thun / was fu֏r Wehe vnd Klage die Verdampten in der Hell haben oder haben werden«257, eröffnet der Mephostophiles des English Faustbook seine Ausführungen mit einer erneuten ironischen Klimax von Sollen, Müssen und Wollen, die den angeblichen Bann ad absurdum führt: Yea, yea Faustus, thou sayest I shall, I must, nay, I will tell thee the secrets of our kingdom, for thou buyest it dearly and thou must and shalt be partaker of our torments.258
Diese ironische Wendung ist jedoch nur die Einleitung, in der sich bereits die entscheidende Umfokalisierung des Berichts ankündigt. Mephostophiles spricht hier nicht mehr allgemein von den Qualen der Verdammten (»was fu֏r Wehe vnd Klage die Verdampten in der Hell haben oder haben werden«259), sondern fokussiert sie auf Faustus und die Qualen, die er in der Hölle erleiden wird. Diese Qualen schildert er außerdem durch die Akzentuierung der körperlichen Marter erheblich drastischer als in der Historia: ————— 255 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 39; Faustbuch, ed. Mülller, S. 874. Für die entsprechende Elucidarius-Stelle vgl. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, Quellentexte, S. 224. Vgl. auch Faustbuch, ed. Müller, Stellenkommentar zu 874, 22f., S. 1390. 256 English Faustbook, ed. Jones, S. 110. Jones hat an dieser Stelle die zahlreichen, wenn auch nur kleinen Hinzufügungen des Übersetzers nicht markiert. 257 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 39; Faustbuch, ed. Mülller, S. 874. 258 English Faustbook, ed. Jones, S. 110, Z. 642-644. 259 Vgl. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 39; Faustbuch, ed. Mülller, S. 875.
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There shalt thou abide horrible torments, trembling, gnashing of teeth, howling, crying, burning, freezing, melting, swimming in a labyrinth of miseries, scalding, burning, smoking in thine eyes, stinking in thy nose, hoarseness of thy speech, deafness of thine ears, trembling of thy hands, biting thine own tongue with pain, thy heart crushed as in a press, thy bones broken, the devils tossing firebrands upon thee, yea, thy whole carcass tossed upon muckforks from one devil to another, yea, Faustus, then wilt thou wish for death and he will fly from thee, thine unspeakable torments shall be every day augmented more and more, for the greater the sin, the greater is the punishment.260
Und während in der Historia Mephostophiles seine Ausführung über die Qualen der Verdammten mit einem buchhalterischen »also / mein Herr Fauste / hastu hiemit die dritte Frage / die mit der Ersten vnnd Andern vberein stimmet«261 beschließt, fragt der Mephostophiles des English Faustbook hämisch, »How likest thou this, my Faustus, a resolution answerable to thy request? «262 Widman hat dagegen die Gespräche über die Hölle extrem verkürzt. Nur eine der Disputationen, in der Faustus fragt »ob ein Hell sey oder nicht?« bezieht sich direkt auf die Hölle. Aber hier ist nur die Rede davon, dass die Teufel bereits die Schmerzen der Hölle verspüren, weil die Hölle mit ihrer Verdammnis erschaffen worden sei, aber bis zum jüngsten Gericht weder Verdammte noch Teufel schon darin seien. Diese Fokalisierung auf den Teufel führt dazu, dass hier Faustus höhnisch entgegnen kann, »Ey freundt die Hell ist schon bereit«263, sich dann aber nicht weiter mit ihr beschäftigt: »Also ließ es D. Faustus auch bleiben / denn er gedacht / es ist noch lang dahin.«264 Pfitzer ändert diese Stelle gegenüber Widman nur geringfügig, inderm er am Anfang auf Faustus fokalisiert und die »Regemachung seines Gewissens«265 als Begründung für dessen Frage nach der Hölle anführt. Aber auch bei ihm hat es damit mit der Hölle narrativ sein Bewenden. Autopsie und Erfahrung Nach dem in Verzweiflung endenden Abschluss der Höllendisputationen richtet sich Fausts Neugierde auf die elementa, und er fragt seinen Geist »was es fu֏r eine gelegenheit hab mit der Astronomia oder Astrologia«, worauf ihn dieser bescheidet, die Menschen könnten darüber nichts sonderlich ————— 260 English Faustbook, ed. Jones, S. 110, Z. 646-656 (Hervorhebung im Text). Die in Jones’ Edition fett hervorgehobenen Stellen (hier kursiv) markieren Hinzufügungen durch den Übersetzer. 261 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 40; Faustbuch, ed. Mülller, S. 875. 262 English Faustbook, ed. Jones, S. 110. 263 Widman, Warhafftige Historien, I, S. 192f. 264 Ebd., S. 193. 265 Pfitzer, Das ärgerliche Leben, S. 208.
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gewisses wissen, denn es bedürfe dazu genauer Naturkenntnis, die auf jahrhundertelanger Erfahrung beruhe, welche nur den Geistern möglich sei. »Aber alle Junge vnd Vnerfahrne Astrologi machen jhre Practica nach gutem Wohn vnd Gutdu֏ncken.«266 Faustus selbst gelingt es freilich mit Hilfe seines Geistes zutreffende Kalender und »Prakticken« zu erstellen, wie der Erzähler anerkennend vermerkt: »Es waren seine Calender nit / als etlicher Vnerfahrenen Astrologen.«267 Unter der Hand erkennt der Erzähler damit die Möglichkeit der Naturerkenntnis durch Erfahrung an, die hier lediglich insofern in den Grenzen des Verbotenen verbleibt, als sie mit dem Teufel verbunden ist.268 Folgerichtig spielt im zweiten Teil die Wahrnehmung, eine entscheidende Rolle. Auch sie wird jedoch zunächst von der Angst um das eigene Seelenheil angeleitet. Als ihm wiederum »tra֏umete oder grauwete vor der Helle«, verlangt Faustus von Mephostophiles, die Hölle wahrhaftig zu sehen.269 Die Beschäftigung mit der Hölle markiert damit den Übergang von der Disputation zur Autopsie als angestrebter Erkenntnisform: Nachdem ihn der Traum in Angst versetzt hat und sich der Teufel schließlich weigert, ihm noch weitere Auskünfte über die Hölle zu erteilen, erbittet er die Erlaubnis, die Hölle selbst zu besuchen, damit er »der Hellen Qualitet / Fundament vnd Eygenschafft / auch Substanz [...] sehen / vnd abnemmen« könne.270 Die Fahrt in die Hölle bildet damit in mehrfacher Hinsicht eine Zäsur: Sie leitet von einer Erkenntnisform in eine andere über, sie versucht den Teufel als Vermittler von Erkenntnis durch die eigene Augenzeugenschaft abzulösen, und sie strebt nach Erfahrung im doppelten Sinne: einerseits der Erfahrung im Sinne von Wahrnehmung, andererseits der Erfahrung im Sinne des Überprüfens und der Überprüfbarkeit von Erkenntnis.271 Statt einer tatsächlichen Höllenbeschreibung folgt nun freilich ein Lehrstück über die Verblendungskünste des Teufels: »Nu höret / wie jn der Teuffel verblendet / vnnd ein Affenspiel macht / daß er nit anders gemeinet / denn er seye in der Helle gewest.«272 Die sich anschließende Höllenbeschreibung liest sich stellenweise wie eine Parodie auf die zahlreichen mittelalterlichen Höllenvisionen, in denen der Visionär immer sehr genau sieht, wer dort unter den Verdammten welchen Qualen des Teufels ausgesetzt ist.273 ————— 266 267 268 269 270 271 272 273
Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 45; Faustbuch, ed. Mülller, S. 883. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 44; Faustbuch, ed. Mülller, S. 882. So auch Müller, »Curiositas« und »erfarung« der Welt, S. 257. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 52; Faustbuch, ed. Mülller, S. 892. Ebd. Zum Begriff der Erfahrung vgl. Müller, Erfahrung; ders., »Curiositas« und »erfarung«. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 52; Faustbuch, ed. Mülller, S. 892. Vgl. Vorgrimler, Geschichte der Hölle, S. 132-190; Dinzelbacher (Hg.), Mittelalterliche Visionsliteratur; zu den emotionalen Aspekten der Höllenvisionen vgl. Böhme, Himmel und Hölle als Gefühlsraum, S. 67-73.
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Faust aber kann vor all dem Wirbel, Dunst, feuriger Luft und Gestank, die der Teufel um ihn verbreitet, überhaupt nichts erkennen, außer dass es ihm zweimal so scheint, als stürze er selbst rettungslos in die Tiefe hinab, worauf er aber zweimal vom Teufel gerettet und schließlich wieder in sein Bett geworfen wird.274 Damit diskreditiert die Beschreibung die curiositas des fürwitzigen Forschers, der durch Autopsie herausfinden zu können meint, was ihm der Teufel an Auskünften verweigert: Die Definitionsmacht des Teufels lässt sich auf diese Weise jedoch nicht aushebeln, denn an die Stelle der falschen Information und des Verschweigens tritt die Sinnestäuschung, die den Primat der sinnlichen Erkenntnis nicht als Stärkung, sondern als Schwächung des Erkenntnisvermögens ausweist. Die Zweifelhaftigkeit der so gewonnenen Erkenntnis beschleicht schließlich auch den Teufelsbündner selbst: D. Faustus im Bett ligend / gedachte der Hellen also nach / Einmal nam er im gewißlich fu֏r / er were drinnen gewest / vnd es gesehen / das ander mal zweiffelt er darab / der Teufel hette jhm nur ein Geplerr vnnd Gauckelwerck fu֏r die Augen gemacht / wie auch war ist /. Denn er hatte die Hell noch nicht recht gesehen / er wu֏rde sonsten nicht darein begert haben.275
Dieser Zweifel an der Möglichkeit, qua sinnlicher Erkenntnis Gewissheit zu erlangen, ist freilich zutiefst neuzeitlich, denn er operiert eben nicht mit dem Argument der falschen Ausrichtung des Wissens, sondern vielmehr mit dem erst in der englischen Erkenntnistheorie und bei Descartes vollständig entwickelten Gedanken, dass sinnliche Wahrnehmung deshalb keine gewisse Erkenntnis zu vermitteln vermag, weil sie stets der Gefahr der Sinnestäuschung unterliegt. Der Einwand gegenüber dieser Form der curiositas ist damit ein überaus subtiler: Sinnliche Erkenntnis ist nicht im eigentlichen Sinne verboten, sondern sie ist sinnlos, wenn sie nicht systematisiert und methodisch kontrolliert wird, weil die Sinne jederzeit getäuscht werden können.276 Mit der anschließenden Gestirnsfahrt wird die sinnliche Erkenntnis einer erneuten praktischen Quasi-Überprüfung durch den Erzähler unterzogen, wobei er auch hier wieder mit überaus subtilen Mitteln der Diskreditierung arbeitet. In einem Brief an einen Freund, den die Historia zu zitieren vorgibt, beschreibt Faustus nicht nur die Fahrt in die Gestirnswelt, sondern gibt auch eine Begründung für seine Reise an: Als ich einmal nit schlaffen kondte / vnd daneben an meine Calender und Practica gedachte / wie doch das Firmament am Himel qualificiert und beschaffen were / daß der Mensch oder die Physici solches hierunten abnemmen ko֏nnten / ob sie gleich solchs
————— 274 Doris Walch-Paul hat den Faustus der Höllenfahrt als Gegenbild zum Visionär gedeutet. Vgl. Walch-Paul, Trugbilder-Gegenbilder, S. 88-91. 275 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 55; Faustbuch, ed. Mülller, S. 896. 276 Vgl. Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, S. 209f.
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nicht sichtbarlich / sonder nach gutdu֏ncken / vnd den Bu֏chern oder den opinionibus / disponiern vnd erforschen ko֏ndten. Sihe / so ho֏rt ich ein vngestu֏mb brausen vnd Wind meinem Hauß zugehen [...] darob ich nit ein wenig erschrack. Jn dem ho֏ret ich eine bru֏llende Stimm / die sagt: Wolauff / deins Hertzen Lust / Sinn vnd Begierligkeit wirstu sehen. Darauff sagt ich: Wann diß zu sehen ist / […] so will ich mit.277
Wie bei der Höllenfahrt ist es auch hier angeblich theoretische Neugierde, die Faustus antreibt, die Gestirne aus der Nähe zu beschauen, um etwas über ihren Lauf, und das heißt die Gesetze ihrer Bewegung, herauszufinden. Aber die Stimme des Teufels fungiert hier als Kommentar zu dieser Begründung und legt offen, dass es sich um Begehren handelt, das Faustus antreibt. Allerdings ist dieses Begehren nunmehr nicht mehr angst-, sondern lustzentriert. Was Faustus mit Hilfe seines teuflischen Dieners Mephostophiles zunächst sieht, ist die Welt von oben: Aus der Vogelperspektive kann Faustus die Länder, die er betrachtet, aber nicht erkennen und muss Mephostophiles deshalb bitten, »so weise vnd zeige mir nu an / wie diß vnd das Land vnd Reich genennet werde«.278 Der von Mephostophiles angeleitete Blick ist jedoch den Zufälligkeiten der Blickrichtung und der Wechselhaftigkeit des Windes ausgeliefert, so dass er bald hierhin, bald dorthin fällt, ohne dass damit mehr erreicht würde als die völlig ungeordnete Aufzählung von Ländernamen, die in ihrer Isoliertheit den Blick von oben als leeres Schweifen diskreditieren. Ähnliches gilt auch für die Gestirnsbewegung, der Faustus sich im Anschluß zuwendet: Er sieht nicht mehr, als bereits im Elucudarius und der Schedel’schen Weltchronik beschrieben ist, und vermag deshalb auch seinen Freund am Ende des Briefes, den er hochtrabend als »Doctor Faustus der Gestirnseher« unterzeichnet, nur darauf zu verweisen, er könne, was er ihm berichtet habe, in seinen Büchern nachprüfen, »ob dem nicht so seye«.279 Auch hier dekonstruiert Faustus seinen autoptischen Erkenntnisgewinn durch den Verweis auf die Bücher: Was anhand der überlieferten Texte nachprüfbar ist, kann keine darüber hinausweisende Erkenntnis erbracht haben. Humanistische Erfahrung und faustische Unlust Gleiches gilt auch für Fausts Fahrten durch Europa und Asien, bei denen er den Blick bald hierhin, bald dorthin wendet und zahllose Länder und Städte überfliegt. Zwar ließe sich das Reisen durchaus in eine humanistisch-paracelsische Tradition stellen. In seiner Selbstverteidigung, den Sieben Defen————— 277 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 57; Faustbuch, ed. Mülller, S. 897. 278 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 58; Faustbuch, ed. Mülller, S. 899. 279 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 59; Faustbuch, ed. Mülller, S. 901.
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siones, rechtfertigt Paracelsus das Reisen und das nomadische Leben als für den Arzt notwendig: Mein Wandern, das ich bisher verbracht habe, ist mir wohl erschlossen [sic?], der Ursach halben, dass keinem sein Meister im Hause wächst, noch er seine Lehrer hinter dem Ofen hat. So sind auch die Künste nicht alle in eines Vaterland eingeschlossen, sondern sie sind durch die ganze Welt ausgeteilt. Nicht daß sie in einem Menschen allein oder an einem Ort seien, sondern sie müssen zusammengeklaubt, genommen und gesucht werden, da da sie sind. Es bezeugts mit mir das ganze Firmament, daß die inclinationes sonderlich ausgeteilt sind, nicht allein einem jeglichen in seinem Dorf, sondern nach Inhalt der obersten Sphären gehen auch die radii, die Strahlungen an ihr Ziel. Ob es mir nicht billig sei und wohl anstehe, diese Ziele zu erforschen und zu durchsuchen und zu sehen, was in einem jeglichen gewirkt wird? Wenn ich dessen ein Gebrechen trüge, würd ich unbillig der Theophrast sein, der ich denn bin. Ist das nicht so? Die Kunst geht keinem nach, aber ihr muß nachgegangen werden; darum hab ich Fug und Einverständnis, daß ich sie suchen muß und sie mich nit.280
»›Wandern‹, ›sehen‹ und ›lernen‹ gehören für Paracelsus zusammen und konstituieren den Erfahrungshintergrund, aus dem sich die neue Medizin speist, die […] nicht bloß dem Schulwissen inhaltlich widerspricht, sondern ein neues Paradigma der Wissenskonstitution nach dem »Zeugnis der Augen« bildet. Buchwissen allein gilt als ›Narrenschiff‹, hindert es doch daran, daß die Dinge und Umstände ›erfahren‹ werden.«281 Allerdings ist Faust von einer solchen der Naturbeobachtung unterstellten Kunst des Erwanderns von Erfahrung weit entfernt. Zur Beschreibung seiner Reisen bedient sich der anonyme Autor erneut der Schedel’schen Weltchronik, wobei er deren Ordnungsprinzipien stellenweise beibehält, gerade dadurch aber Fausts Ziellosigkeit vor Augen führt.282 So sind die Städte in der Schedel’schen Weltchronik nach Rang und Alter geordnet und die Historia übernimmt diese Ordnung, aber sie bezeichnet sie als Folge von Fausts jeweiliger Eingebung (»Was nu dem Fausto fu֏r Sta֏tt vnd Landschafften in Sinn fielen / die durchwandert er«283), so dass, was bei Schedel als plausible Ordnung erscheint, in der Historia zur Unordnung degeneriert, die auf die Ungeordnetheit eines Erkenntnisstrebens verweist, welches lediglich, wie Jan-Dirk Müller angemerkt hat, einen »Schuttberg disparater Wissenstrümmer«284 aufhäuft, ohne daraus irgendeinen Erkenntnisfortschritt ziehen ————— 280 Paracelsus, Sieben Defensiones, S. 513f. 281 Largier, Rhetorik der Erfahrung, S. 138; zur Polysemie des Erfahrungsbegriffs vgl. Jan-Dirk Müller, Erfahrung zwischen Heilssorge, Selbsterkenntnis und Entdeckung des Kosmos. 282 Uwe Ruberg (Zur narrativen Integration enzyklopädischer Texte) hat dagegen die These vertreten, die Enzyklopädien seien als nach wie vor autoritative Quellen integriert worden. 283 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 60; Faustbuch, ed. Mülller, S. 902. 284 J.-D. Müller, Ausverkauf menschlichen Wissens, S. 179.
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zu können.285 Curiositas erscheint hier ganz im augustinischen Sinne als concupiscentia oculorum, als Augenlust, und als oberflächliche Zerstreuung im Sinne von Albertus Magnus und Thomas von Aquin, wobei freilich der Aspekt des Lustgewinns deutlich zurückgenommen ist. Schon bei der ersten »Reyß oder Pilgramfahrt«, »darinnen er nit viel sehen kondte / darzu er Lust hette«, lässt Fausts Interesse sehr schnell nach. Aber auch bei der zweiten Fahrt, die er unternimmt, um die erste vergessen zu machen (»derhalben name er ein Widerfuhr«), halten »Lust vnnd kurtzweil« nicht lange an. Häufig heißt es, er sei nur »fu֏ru֏ber gefahren« oder habe gleich wieder weg gewollt. Diese Unlust kann Mephostophiles auch mit Erklärungen nicht beseitigen. Als sie nach Regensburg kommen, wo Faustus »auch fu֏ru֏ber wolte reysen / sagt der Geist zu jhm: Mein Herr Fauste / dieser Statt hat man 7. nahmen geben«, und setzt zu einer längeren Ausführung an, um Faustus auf die Besichtigung der Stadt vorzubereiten. »D. Faustus ist aber bald wider fortgeruckt / vnd sich nit lang da geseumbt«.286 Anstelle von Lust empfindet Faust schon nach kurzer Zeit Überdruß, will nicht mehr hören, was Mephostophiles ihm über die jeweiligen Orte zu sagen hat, und nicht wirklich sehen, was er ihm zeigt, sondern strebt ziel- und ruhelos von einem Ort zum nächsten.287 Die bei Albertus Magnus und Thomas von Aquin kritisierte Zerstreuung und die Ungeordnetheit wird hier zum eigentlichen Signum der curiositas, die wahre Erkenntnis gerade durch ihr Ausleben verhindert. Auch im Detail werden die enzyklopädischen Texte nicht bearbeitet und den Verhältnissen der Zeit angepassst, so dass offenkundig veraltetes Wissen an zahlreichen der aus den heterologen Prätexten übernommenen Stellen durchscheint: Genf wird, wie schon erwähnt, nahezu siebzig Jahre nach der Reformation als Bischofssitz beschrieben, das protestantische Nürnberg erscheint als ein Hort von Reliquien. Aber dadurch, dass alle diese irritierenden, weil leicht zu korrigierenden Beschreibungen dem Teufel in den Mund und Faustus in den schweifenden Blick gelegt werden, ist es nicht erforderlich, solche Irritationen zu beseitigen. Was hier für einen zeitgenössischen Leser falsch oder überholt sein mag, ist eben genau das, was der Teufel zu bieten hat: überholte Informationen, hingeworfene Bemerkungen oder verlogene Auskünfte. Die Reisen belegen damit nicht die schrankenlosen Erkenntnismöglichkeiten des Teufelsbündners, sondern dekonstruieren sie: Wo der Teufelsbündner in seinen hinterlassenen Berichten und Briefen selbst zu Wort ————— 285 Jean-Marie Valentin (Le Diable, Le Savoir, Le Salut, S. 20) hat daraus den wenig überzeugenden Schluss gezogen, es gehe nicht um die Erfahrung des Raumes, sondern um die Wiedereinschreibung der Vergangenheit als »act démiurgique initial«. 286 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 66; Faustbuch, ed. Müller, S. 910. 287 Vgl. auch Jan-Dirk Müller, Ausverkauf menschlichen Wissens«, S.181, der konstatiert, dass Faustus nur Frustration erfahren habe.
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kommt, streut der Erzähler entweder Zweifel an seiner Erfahrung ein, indem er auf die vom Teufel bewirkten Sinnestäuschungen verweist, oder er verweist die Möglichkeiten der autoptischen Erfahrung an das tradierte Buchwissen zurück, indem er Faust selbst erklären lässt, man könne alles, was er gesehen habe, in astronomischen Standardwerken der Zeit nachlesen und überprüfen. Wo Autopsie freilich keinen Erkenntnisgewinn bringt, weil sie nicht mehr in Erfahrung zu bringen vermag als das ohnehin schon Bekannte, wird sie geschickt als Wissensform diskreditiert, die gegenüber dem tradierten Buchwissen in irgendeiner Weise zu bevorzugen ist. Und wo Erfahrung nicht einmal den interessiert, der sie macht und dafür den höchstmöglichen Preis entrichtet, wird sie auch für den Leser zur quälenden Aufzählung, die Neugierde quasi im Vorbeigehen erledigt. Freilich ist das keine einfache Perhorreszierung der curiositas, sondern ihre subtile Integration in die Struktur eines verfehlten Lebens und damit seiner narrativen Darstellung. Curiositas wird damit zum textstrukturierenden Prinzip, denn der Aufbau der Historia lässt sich durchaus nach den unterschiedlichen Aspekten der curiositas unterteilen.288 Genau das hat den Übersetzer des English Faustbook ebenso wie Widman und Pfitzer aber erheblich gestört. Sie erkannten in Fausts durch Erfahrung gewonnenen Erkenntnissen eben jene Armseligkeit, die ihnen der Verfasser des frühesten Faustbuches mit der Auswahl veralteter Quellen verliehen hatte; eine Armseligkeit, die sie freilich so nicht akzeptieren wollten. So ergänzte der englische Gentleman P. F. die Liste der Länder, in die Mephostophiles Faust auf der ersten Reise brachte, um »Tartary, Turkey, Persia, Cathay, Aleandria, Barbary, Guinea, Peru, the Straits of Magellan, India, all about the frozen zone and Terra Incognita, nova Hispaniola, the Isles of Terzera«289 und beseitigte auf diese Weise das offensichtlich als peinlich empfundene Fehlen der Neuen Welt, das er noch dazu um die Antarktis und die Terra Incognita aufpolierte, damit Faustus mit Hilfe des Teufels zumindest an Orte gelangt war, wo nicht schon Tausende vor ihm ohne die Hilfe des Teufels angekommen waren. Darüber ließ sich dann für die zweite Ausfahrt eine andere Motivation formulieren als die Hoffnung, doch noch einmal etwas interessanteres als auf der ersten Fahrt zu sehen: Weil die erste Fahrt mit fünfundzwanzig Tagen viel zu kurz war, um sich wirklich alles genau anzusehen, »he took a little rest at home, burning in desire to see more at large and to behold the secrets of each kingdom«.290 Bei der ————— 288 Maria E. Müller hat demgegenüber die These vertreten, Melancholie werde in der Historia zum textstrukturierenden Prinzip. Vgl. dies., Der andere Faust, S. 572-608. Dabei übersieht sie jedoch die enge Verknüpfung von curiositas und Melancholie. Vgl. dazu Münkler, Höllenangst und Gewissensqual; dies., »allezeit den Spekulierer genennet«, S. 73f. 289 English Faustbook, ed. Jones, S. 128. 290 Ebd.
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zweiten Fahrt ergänzt der sehr freie Übersetzer die Städtebeschreibungen häufig um plastisch-sinnliche Eindrücke (in Neapel sind die Straßen so gepflastert, dass sie glänzen, wenn es regnet) und gibt Faustus außerdem Gelegenheit, Spuren zu hinterlassen: In Padua schreibt Faustus sich in die »university of the German nation« ein »and wrote himself Doctor Faustus the insatiable speculator«.291 Was er bei der Reise mit der Integration neuer und interessanterer Beschreibungen stillschweigend vorgenommen hat, ergänzt der Verfasser des English Faustbook bei Fausts vorgeblich eigener Beschreibung seiner Gestirnsfahrt dagegen mit einem drastischen Einschreiten in die intradiegetisch-autodiegetische Beschreibung. So als sei ihm mit den läppischen Ergebnissen von Fausts Erfahrungen nun endgültig der Geduldsfaden gerissen, nimmt er ihm in einer dramatischen Metalepse quasi den Stift aus der Hand und erklärt: Yea Christian Reader, to the glory of God and for the profit of thy soul, I will open unto thee the devine opinion touching the ruling of this confused chaos, far more than any rude German author, being possessed with the devil, was able to utter.292
In der dann folgenden Erklärung bringt er die astronomische Darstellung einerseits auf das Niveau der kopernikanischen Wende und harmonisiert sie andererseits mit dem Schöpfungsbericht, um anschließend Faustus den Brief an den »good schoolfellow« fortsetzen zu lassen. Widman und Pfitzer haben die Reisebeschreibungen komplett gestrichen, ebenso wie die Höllen- und die Gestirnsfahrt sowie die auf den Elucidarius zurückgehende Erklärung über den Himmelslauf. Letzteren Vorgang kommentierte Widman in einer gesonderten »Nota«, die von der Marginalglosse begleitet ist, »Warumb der bericht von den anderen disputationibus vnterlassen«: Ich solte mit den disputationibus so noch vorhanden / fortgeschritten haben / als vom lauff / zier vnd vrsprung des Himmels / vom Winter vnnd Sommer / von Cometen Sternen / vnd Donner / vnd was da mehr sein mag / welchs ich fu֏r gar kindisch geachtet / das der Geist des Doctor Fausti / so schwach vnnd vngereumbt solte geredet haben / sintemahl der Geist der beste Astrologus ist / vnnd vnder dem Himmel oder Lufft sein wohnung hat / vnd ein erfahrner Meister des Himmels.293
Wie verschiedentlich bei solchen textkritischen Eingriffen Widmans, schließt Pfitzer sich ihnen vorbehaltlos an, verleiht dabei aber dem »Geist« nicht nur den Ehrentitel des »beste[n] Astrologus«, sondern auch des besten »Physicus«: ————— 291 Ebd., S. 129. 292 Ebd., S. 125f. 293 Widman, Warhafftige Historien, I, S. 198.
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Nota: Ob zwar wol mehrere dergleichen Fragen D. Fausti an seinen Geist in dem Originali obhanden, als vom Lauff, Zierde und Ursprung deß Himmels, item vom Winter und Sommer, u. s. w. So ist doch nimmermehr zu glauben, daß der Geist so ungereimt von der Sachen solte geredet haben, allermassen gleichwol alldorten zu ersehen, zumaln er ja der beste Astrologus und Physicus ist, unter dem Himmel seine Wohnung hat, wie bekandt ist, u. s. f. Ubergehen demnach wolbedächtlich solche […].294
Widman und Pfitzer schützen damit nicht nur eine von ihnen grundsätzlich positiv gedeutete curiositas vor der Diskreditierung durch den Teufelsbündner, sie nehmen überdies den Teufel vor der Diskreditierung durch den Verfasser des ersten Faustbuches in Schutz. Mit dem Verfahren der Exklusion einzelner heterologer Prätexte haben Widman und Pfitzer allerdings auch die Ordnung der Erkenntniswege beseitigt, welche die Historia Faustus noch zugestanden hatte, auch wenn sie aufgrund falscher Ausrichtung und unzuverlässiger Methodik mit unbefriedigenden Ergebnissen endete. In der Historia und den ihr nahe stehenden Versionen beschreitet Faustus drei unterschiedliche Erkenntniswege: Lektüre, Lehrgespräch und visuelle Erfahrung. Zwischen diesen Erkenntniswegen gibt es, wie die klar strukturierte Abfolge zeigt, die Hierarchie von Lektüre, Lehrgespräch und persönlicher Erfahrung. Auch wenn die Historia dieses Modell geordneter Erkenntnis in die Struktur eines verfehlten Lebens eingeschrieben hat, so hat sie diese im Hintergrund doch als eine akzeptierte Form der Wissensorganisation offengehalten. In ihrer konkreten Ausfüllung allerdings verweisen diese drei Erkenntniswege in der Historia auf illegitime Erkenntnisgründe: Dient die Lektüre von Zauberbüchern in erster Linie der »Erlustigung« und Selbstbemächtigung und konnotiert damit eben jene verbotenen Züge der impia curiositas, die aus der superbia resultieren, so demonstriert das Lehrgespräch, die Fragen an Mephostophiles nach der Hölle, der Hierarchie der Teufel, der Strafe für die Verdammten, nicht eigentlich den Wunsch nach Erkenntnis der irdischen oder der letzten Dinge, sondern eine Form der cura, der Sorge um sich, die sich durch die falsche Adressierung als Ausdruck melancholischer desperatio entlarvt. Als dritte Form der curiositas schließt sich die sinnliche Erkenntnis mit der Fahrt in die Hölle, zu den Gestirnen sowie durch Europa und Asien an, in der die curiositas als weder Erkenntnis vermittelnde noch Lust bereitende concupiscentia occulorum destruiert wird. Woran Faustus krankt, ist nicht der Wunsch nach Wissen, sondern der Wunsch nach Erkenntnisweisen, die an der Grenzziehung von Immanenz und Transzendenz notwendig scheitern müssen. ————— 294 Pfitzer, Das ärgerliche Leben, S. 211.
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7. Individualität: Fausts Sozialbeziehungen
Wie das vorhergehende Kapitel gezeigt hat, bilden für Fausts Identität als magus und curiosus seine sozialen Beziehungen einen unverzichtbaren Rahmen. Für den magus ist nicht die Natur, sondern die Gesellschaft der wichtigste Bezugspunkt, und für den curiosus ist die Beziehung zum Teufel als Gesprächspartner, Lehrmeister und Reiseführer von zentraler Bedeutung. Insofern sind für die Ausprägung von Fausts Identität auf der Ebene der histoire seine Sozialbeziehungen entscheidend. Diese Sozialbeziehungen sind in erster Linie Kommunikationsbeziehungen, anhand derer im nachfolgenden Kapitel beschrieben werden soll, in welcher Weise sie Faustus individualisieren. Geht man, wie ich dies in der Einleitung bereits dargelegt habe, im Anschluss an Niklas Luhmann davon aus, dass Kommunikation der elementare Code des Sozialen ist, dann greift es zu kurz, Individualität nur als Entgegensetzung zur Gesellschaft zu verstehen. Vielmehr ist Individualität ein Ergebnis der Ausdifferenzierung sozialer Systeme, d. h. ihre Entwicklung ist mit der Gesellschaft in komplexer Weise verbunden.1 Wie diese Verbindung je ausgeprägt ist, hängt mit der Evolution des Sozialsystems zusammen, das mit dem Übergang von der stratifikatorischen zur funktional differenzierten Gesellschaft Individualität nicht mehr über Inklusion in eine Familie und einen Stand, sondern über Exklusion thematisiert. Exklusionsindividualität zeichnet sich im Gegensatz zur Inklusionsindividualität dadurch aus, dass das Individuum seine Individualität nur noch relativ zu den je einzelnen Aspekten unterschiedlicher Zugehörigkeiten als partikulare Beziehungsgeflechte von Bekanntschaft, Freundschaft, Familie, Ehe, Liebe und Sexualität ausprägt.2 Die Familie gehört zwar nach wie vor zu diesen Beziehungsgeflechten, ist aber nicht mehr der entscheidende Faktor für die Formierung von Individualität. Es kommt damit nicht nur zu einer Differenzierung der Beziehungssysteme, sondern auch zu einer komplexer werdenden Individualität. Durch die unterschiedliche Struktur der jeweiligen Beziehungen ist das Individuum nicht mehr für alle anderen Individuen, mit denen es kommuniziert, dasselbe, und diese Wahrnehmung von außen schlägt auf das Individuum qua Interpenetration selbst durch. Da das Individuum nicht mehr von allen gleich wahrgenommen wird, muss es sich auch nicht mehr gegenüber allen gleich ————— 1 2
Vgl. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 81-105. Vgl. Luhmann, Individuum, Individualität, Individualismus, S. 165-173.
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Individualität: Fausts Sozialbeziehungen
verhalten. Die Steigerung von Individualität führt damit zu einer Abnahme der Kohärenz der Person und zu einer Ausdifferenzierung ihrer Wahlmöglichkeiten hinsichtlich ihres Sozialverhaltens. Je weiter sich die Gesellschaft funktional ausdifferenziert, desto unterschiedlichere Rollen kann das Individuum einnehmen. Und von keiner dieser Rollen kann mehr gesagt werden, sie bestimme die wahre Identität des Individuums. Exklusionsindividualität zeichnet sich dadurch aus, dass es innerhalb der Vielfältigkeit der Beziehungsmuster, die zwischen privat und öffentlich changieren, keine ›wahre‹ Identität mehr gibt, sondern nur noch den Gebrauch unterschiedlicher Rollenmuster, für die dann je einzeln zu bestimmen ist, welches identitäre Potential sie entfalten und welche normative Kraft ihnen zukommt. Hier liegt eines der zentralen Probleme hinsichtlich der Thematisierung von Individualität in den Faustbüchern, denn während Fausts Identität durch die Markierungen des narrativen discours ganz eindeutig sind, sind seine auf der Ebene der histoire geschilderten Beziehungen überaus vieldeutig. Faustus wird hier keineswegs nur als der Teufelsbündner wahrgenommen, sondern als Arzt, Gelehrter, Freund und Nachbar. Und der Erzähler hat dafür gesorgt, dass er nicht nur von außen so wahrgenommen wird, sondern sich auch entsprechend verhält, indem er sich den jeweiligen kommunikativen Erwartungen anpasst.
Herkunft, Familie und Erziehung Das hat zur Voraussetzung, dass Herkunft und familiäre Bindungen in ihrer Bedeutsamkeit zurücktreten und von anderen Beziehungsmodellen, die über den Beruf und die Vernetzung in der Gesellschaft gesteuert werden, in den Vordergrund treten. Ein solcher Effekt lässt sich in den Faustbüchern relativ genau beobachten, denn die Familie wird in der Historia nur aufgerufen, um sie sogleich wieder zu verabschieden. Faustus entstammt einer Bauernfamilie, von der er sich schon durch sein Studium sozial sehr weit entfernt. Zunächst ist mit dieser Entfernung aber noch keine Devianz verbunden.3 Damit grenzt sich das Faustbuch durchaus von der Literatur des 16. Jahrhunderts ab, die voll von Devianzerzählungen ist, in denen sich durch die willentlich Abkehr von der Familie eine negativ ————— 3
Ich differenziere hier im Anschluss an Luhmann zwischen Erziehung und Sozialisation. Luhmann versteht unter Erziehung zielgerichtete Kommunikation im Sinne absichtsvoller Prägung, während er unter Sozialisation die strukturelle Kopplung zwischen dem sozialen und dem psychischen System versteht, d. h. die Form der Interpenetration, bei der das autopoietische System Gesellschaft, das auf der Basis von Kommunikation operiert, seine Eigenkomplexität zum Aufbau psychischer Systeme zur Verfügung stellt. Vgl. Luhmann, Das Erziehungssystem der Gesellschaft, S. 53-57; vgl. ders., Individuum, Individualität, Individualismus, S. 161-163.
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geprägte Individualität auszubilden beginnt.4 Allerdings werden diese Devianzerzählungen von zahlreichen Rekonziliationsgeschichten konterkariert, in denen das von der Familie losgelöste Individuum reuevoll zu ihr zurückkehrt und freudig wieder aufgenommen wird. Das Muster für diese Art von Erzählungen, wie es sich etwa in Jörg Wickrams Knabenspiegel findet, bildet das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Luk. 15, 11-325), das insbesondere im Drama des 16. Jahrhunderts immer wieder aufgegriffen wurde.6 Im Protestantismus war das Gleichnis eines der beliebtesten Predigt-, Erzählund Dramenmotive, weil es sich leicht im Luther’schen Sinne als Exempel für die Unverdientheit der göttlichen Gnade deuten ließ. Faustus hingegen bricht nicht mit seiner Familie, was zur Folge hat, dass er auch nicht in ihren Schoß zurückkehren kann. Fausts negative Sozialisation beginnt daher auch nicht mit der Erziehung durch die Eltern. Deren Bemühungen um ihr außergewöhnlich begabtes Kind beschreibt der Erzähler der Historia ganz im Gegenteil als überaus positiv: »[A]ls […] die Eltern sein trefflich ingenium vnnd memoriam an jm spu֏rten / ist gewißlich erfolget / daß diese Eltern grosse Fu֏rsorg für jhn getragen haben«.7 Dass sie ihn wegen seiner Begabung in die Obhut eines vermögenden Onkels in Wittenberg geben, der Faust den Besuch der Lateinschule und danach das Studium der Theologie ermöglicht, wird in keiner Weise als illegitime Überhebung über den bäuerlichen Stand markiert, der mit besonderen Risiken einhergeht. Dass hier ein möglicher Kritikpunkt ————— 4
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7
Das Verlassen der Familie als Ursache und Aspekt von Devianzphänomenen findet sich etwa im Dil Ulenspiegel und in Jörg Wickrams Knabenspiegel. Zu Ulenspiegel vgl. Werner Röcke, Kollektive Mentalität und Individualisierung. Probleme einer historischen Poetik des ‘Ulenspiegel’. In: Hermen Bote. Braunschweiger Autor zwischen Mittelalter und Neuzeit (Wolfenbütteler Forschungen, Hrsg. von der Herzog August Bibliothek 37). Hrsg. von Detlef Schöttker und Werner Wunderlich. Wolfenbüttel 1987. S. 207-218; ders., Der Egoismus des Schalks. ‘Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel geboren uß dem Land zu Brunßwick’ (Straßburg 1515). In: Till Eulenspiegel in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. von Thomas Cramer (Beiträge zur Älteren Deutschen Literaturgeschichte 4). Bern u.a. 1978. S. 29-60; Zu Wickrams Knabenspiegel siehe Manuel Braun, Karriere statt Erbfolge. Zur Umbesetzung der Enfance in Georg Wickrams Goldtfaden und Knaben Spiegel, in: Zeitschrift für Germanistik N.F. 16 (2006), S. 296-313. Das Gleichnis findet sich nicht in den anderen beiden synoptischen Evangelien, sondern gehört zum sogenannten lukanischen Sondergut. Zu den frühen Bearbeitungen des Motivs gehört das lateinische Schauspiel Acolastus (1529) des Humanisten Gnaphaeus Guilherlmus (1534). In der im 16. Jahrhundert aus dem Fastnachtspiel und der Humanistenkomödie hervorgehenden deutschsprachigen Komödie wurde die Erzählung vom verlorenen Sohn mehrfach aufgegriffenn, so von Burkard Waldis in seinem Reformationsdrama Die Parabel vom verlorenen Sohn (1527), in Johann Ackermanns Der verlorene Sohn (1536), das 1540 in dritter Auflage unter dem Titel Der Ungeratene Sohn erschien, in Johannes Salats (1537) Der verlorene Sohn (1537), Johann Wickrams Spiel von dem verlorenen Sohn (1540), und Hans Sachs‘ Komödie Der verlorene Sohn (1557). Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 13; Faustbuch, ed. Müller, S. 842.
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liegen könnte, zeigt sich allerdings daran, dass der Erzähler die Eltern explizit gegen den vorgeblichen Anwurf verteidigt, sie trügen die Verantwortung für den weiteren Lebensweg ihres missratenen Sohnes. Die Eltern werden als »Gottselige vnnd Christliche Leut« bezeichnet: derhalben wir solche Eltern [...] / die gern alles guts vnd das best gesehen hetten / wie solches alle fromme Eltern gern sehen / vnd darzu qualificiert seind / ohne Taddel seyn lassen / vnd sie in die Historiam nicht mischen sollen. / So haben auch seine Eltern dieses Gottlosen Kindes Grewel nit erlebt noch gesehen.8
Bemerkenswerterweise finden hier zwischen der Historia, der Wolfenbütteler Handschrift, dem Reimfaust und dem English Faustbook auf der einen, sowie Widman, Pfitzer und dem Christlich Meynenden auf der anderen Seite deutliche Umbesetzungen statt.9 Während erstere Fausts Familie exkulpieren und sich explizit dagegen verwahren, bei ihr die Schuld für seinen weiteren Lebensweg zu suchen, betonen Widman und Pfitzer die Bedeutung der Sozialkontrolle durch die Eltern. Bei Widmann mischen sich die Eltern und der Onkel zumindest insoweit in die Geschichte ein, als Faustus sich bei ihnen wegen des Studienfachwechsels von der Theologie zur Medizin »notwendig entschu֏ldigen / vnd jhnen anzeigen muste / auß was vrsachen er vom studio Theologiae abgetretten were«.10 Die Rechtfertigung, »das jhm die Medicina vnd Astronomia viel ehe vnd besser / als dazu er von Natur geneigt / eingiengen«,11 wird von ihnen dann aber akzeptiert, ohne dass der Erzähler das als allzu leichtgläubig oder nachgiebig markiert oder kritisiert. Vielmehr verlangt er in seiner »Erinnerung« von der »lieben Jugendt«, sie solle es sich angelegen sein lassen zu bedenken, dass die »Eltern mit ihrem Fleiß vnd Kosten / damit sie so viel besser studieren / viel drauff gehen lassen / das sie auch solches zu Gottes ehren anwenden / vnd sich fu֏r aller bo֏sen Gesellschafft hu֏ten«.12 Widman exkludiert die Eltern und den Onkel also nicht einfach aus der Erzählung, sondern weist ihnen durchaus eine Kontrollfunktion zu – aber dass diese Kontrolle auch funktioniert, soll über die Moral der »lieben Jugendt« gesichert werden. Pfitzer hat die Darstellung und die Erklärung Widmans mit ihrem moralischen Appell übernommen und zunächst lediglich um einige Exempel ergänzt.13 Im Kommentar zu dem darauffolgenden Kapitel aber, in dem von ————— 8 9
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Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 13; Faustbuch, ed. Müller, S. 843. Das English Faustbook erwähnt lediglich, der Onkel habe Faust ermahnt, nachdem ihm zu Ohren gekommen sei, dass dieser sein Studium nicht ernsthaft betrieben habe. Es bleibt jedoch bei dieser Zwischenbemerkung; kurz darauf exzelliert Faustus, wie in den anderen Faustbüchern, mit seinem Magisterexamen. Vgl. English Faustbook, ed. Jones, S. 92. Widman, Warhafftige Historien, I, S. 3. Ebd. Ebd., S. 4. Vgl. Pfitzer, Das ärgerliche Leben, S. 61-66.
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Herkunft, Familie und Erziehung
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den Eltern gar nicht mehr Rede und der Onkel bereits verstorben ist, verschärft Pfitzer die Anforderungen an die Eltern, Kontrolle auszuüben, und damit zugleich auch deren Verantwortung für den Werdegang und das Treiben des Nachwuchses. Insbesondere die Entfernung von der Familie durch den Wunsch nach sozialem Aufstieg bzw. nach Statuserhalt führen nach seiner Auffassung dazu, dass die »jungen Leute« sich der elterlichen Kontrolle entziehen können. Insbesondere die Mütter tragen darüber hinaus durch ihren Wunsch nach statusgemäßer Repräsentation dazu bei, dass die Söhne ihr Geld verprassen und ein Leben in Saus und Braus führen: Es bezeugets leider! die tägliche Erfahrung, wie es öffters so gar übel mit jungen Leuten, so diese auf Universitäten oder an andere fremde Ort, etwas redliches zu lernen und zu erfahren, verschicket werden, gerathe und ausschlage, ob sie schon von ihren lieben Eltern gantz treulich gemeinet, auch mit aller Nothdurfft vätterlich versorget und versehen werden, bevorab wenn sie nunmehr daselbst ihres freyen Willens haben und keiner Aufsicht unterworffen seynd; da es denn bey ihnen heißet: quod libet, licet: Worzu auch manchmal die Eltern selbst, sonderlich die Mütter, stattlich helffen und eine Ursach ihres Verderbens seynd, wenn sie den Söhnen einen Wexel über den andern zu machen, sie noch darbey erinnern, sich dem Stande, dem Vermögen nach, zu halten, und vor andern sich hervorzuthun, u. s. f. Da sie denn an Statt der Bücher die Damen aufgeblättert […].14
Die Verantwortung der Eltern für die Ausbildung der Identität der nachwachsenden Generationen wird hier deutlich verstärkt, ohne freilich letztere von der Verantwortung für sich selbst zu dispensieren. Die Eltern werden in erster Linie als Instanz der Sozialkontrolle angesprochen, wobei soziale Kontrolle und religiöse Zucht, Orientierung an der reformatorisch-bürgerlichen Ordnung und Seelenheil in eins gesetzt werden. Danach aber verschwinden auch bei Pfitzer die Eltern sang- und klanglos aus der Geschichte. Herkunft und Familie spielen für Fausts weiteren Lebensweg keine Rolle. Der narrative Effekt dieses Entfernens der Familie aus der Geschichte besteht darin, dass Faustus von allen ihn bindenden sozialen Bezügen freigestellt wird, die folglich auch nicht mehr als Kern der sozialen Identität vorgestellt wird.15 Die Herkunftsfamilie bildet nicht mehr das Zentrum der sozialen Beziehungen eines Individuums. Dass dies ihre Bedeutsamkeit für seine soziale Bindung drastisch reduziert, wird in der Historia und den nachfolgenden Faustbüchern aber offenbar akzeptiert, weil die Vorstellung des sozialen Aufstiegs und damit die Semantik von Karriere bereits erheb————— 14 15
Pfitzer, Das ärgerliche Leben, S. 67f. Die Entlastung der Eltern von jeder Schuld an Fausts Werdegang ist nach Laura Auteris Auffassung (L’empia devianza, S. 16) »un’ aperta polemica contro la fiducia umanista nel valore di un’appropriata educazione«. Das vermag ich freilich nicht zu erkennen, denn dafür müsste Erziehung sehr viel umfänglicher thematisiert werden, als dies hier der Fall ist.
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Individualität: Fausts Sozialbeziehungen
liche Bedeutsamkeit erlangt hat.16 Narratologisch betrachtet hat dies zur Folge, dass Faustus sehr viel stärker für sein Tun verantwortlich gemacht wird, als dies bei einer engen Einbindung in eine familiäre Struktur der Fall wäre. Fausts weiterer Weg zum Teufelspakt wird dann von allen Faustbüchern übereinstimmend als durch »böse Gesellschaft« bestimmt beschrieben. Nach der Erziehung durch die »gottseligen« Eltern wird Faustus demnach durch seine aktuelle soziale Umgebung sozialisiert, die einen ausgesprochen negativen Einfluss auf ihn ausübt. Diese »böse Gesellschaft« wird nicht genau situiert; sie hängt aber offenbar mit dem städtischen Raum und der Universität zusammen, denn als Faustus sich in der Historia nach der ersten Beschwörung des Teufels »bey einer Gesellschafft sich selbsten beru֏hmet / Es seye jhm das ho֏chste Haupt auff Erden vntertha֏nig vnd gehorsam«, sind es Studenten, die ihm antworten, »sie wu֏ßten kein ho֏her Ha֏upt / denn den Keyser / Bapst oder Ko֏nig«.17 Faust erklärt darauf, »das Ha֏upt / das mir vntertha֏nig ist / ist ho֏her / bezeugte solches mit der Epistel Pauli an die Epheser / der Fu֏rst dieser Welt / auff Erden vnd vnter dem Himmel / etc.« und macht damit zumindest semi-öffentlich bei einer Gesellschaft bekannt, das er den Teufel beschwört. Aber diese Erklärung löst in der Historia keinerlei Reaktion bei seinen Gesprächspartnern aus. Die Studenten bilden lediglich den sozialen Rahmen, in dem man Verbotenes affirmierend thematisieren kann, ohne dass dies skandalisiert würde. Sie nehmen Faustus als vollständiges Individuum überhaupt nicht wahr, sie interessieren sich für den Sensationsgehalt und die Reichweite seiner Aussage, nicht aber für seine Person. Deswegen sorgen sie sich auch weder um sein Seelenheil noch erkennen sie eine Gefährdung für sich selbst. Den lapidaren Umgang mit diesem Aspekt von Exklusionsindividualität haben freilich nicht alle Faustbuchautoren akzeptiert. Eines der Problemlösungsmodelle war, die Situation durch Ausblendung zu entschärfen: So hat der Reimfaust die Studenten in reine Zuhörer verwandelt, die gar nichts mehr sagen, und das English Faustbook hat die ausbleibende Reaktion der Studenten durch die Erzählerbemerkung »[w]ell let us come again to his conjuration where we left him at his fiery globe« camoufliert, so als hätten nicht die Studenten, sondern der Erzähler sich desinteressiert abgewendet. Widman verstärkt demgegenüber das Beziehungsnetz der »schlechten Gesellschaft«, indem er eine ganze Reihe von Personen einführt, die Faustus ————— 16
17
Hans-Gert Roloff (Artes et Doctrina, S. 84) hat die Ansicht vertreten, Faust mache »einen für das 15. und 16. Jahrhundert typischen Aufstieg vom Bauernsohn zum in der Theologie promovierten Akademiker« (S. 84). Dass es solche Aufstiegsmöglichkeiten gegeben hat, soll hier nicht bestritten werden, als ›typisch‹ wird man einen derartigen Aufstieg aber wohl kaum begreifen dürfen. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 16f.; Faustbuch, ed. Müller, S. 847.
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Verhandlungen mit dem Teufel
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auf seinem Weg zum Teufel anleiten. Von einem Thomas Hanner erhält Faustus auf nicht beschriebenen Wegen »wunderseltzame beschwerungen […] zu seinen Henden«.18 Näher bekannt ist er mit Christoph Hayllinger, »ein[em] fu֏rtreffliche[n] berühmbte[n] Crystallseher / der sonderlich sein Praeceptor vnd lehrmeister war«19 von dem er nach dessen gewaltsamem Tod einen »Geist des Crystalls«20 erbte, »womit er viel außgerichtet / welchs nicht alles kann oder mag erzehlet werden«21. Über Namensnennungen kommen diese Figuren kaum hinaus, sie erfüllen aber die Funktion, die »bös gesellschaft« aus der Anonymität zu reißen und zurechenbare negative Einflüsse zu schaffen.
Verhandlungen mit dem Teufel Mit dem Fortgang der Beschwörungen wird in der Historia der kommunikative Rahmen der Gesellschaft zunächst völlig zurückgestellt. Faustus entwickelt die spezifischen Aspekte seiner Individualität auf der Ebene der histoire nicht mehr innerhalb eines sozialen Rahmens, sondern innerhalb der kommunikativen Sonderdyade mit Mephostophiles. Die Beziehung zu Mephostophiles löst nach den ersten Beschwörungsversuchen alle anderen Sozialbeziehungen ab und wird für die nächsten Jahre zu Fausts einziger dauerhafter und emotional relevanter Sozialbeziehung. Eine solche dauerhafte und emotional relevante Beziehung zum Teufel ist in den narrativen Mustern vorgängiger Teufelsbünderlegenden nicht angelegt. Üblicherweise bestimmen der Bund und das ihn leitende Interesse des Teufelsbündners die Beziehung zwischen Teufel und Teufelsbündner, das heißt, es handelt sich normalerweise um eine vertraglich geregelte Geschäftsbeziehung (auch wenn der Vertrag unter falschen Voraussetzungen zustande kommt) und nicht um eine Kommunikationsbeziehung.22 Das ist bei Faustus völlig anders: Mephostophiles ist die entscheidende Kommunikationsbeziehung seines Lebens. Unter dieser Perspektive ist auch bedeutsam, wie die Verwirklichung des Teufelspaktes selbst narrativ inszeniert wird.23 Einerseits zitiert der Vertrag ————— 18 19 20 21 22
23
Widman, Warhafftige Historien, I, S. 22. Ebd., S. 23. Ebd. Ebd., S. 24. Vgl. Mahal, Mephistos Metamorphosen, S. 121-136; Spreitzer, »Wie bist du vom Himmel gefallen«, S. 75-80; Fischer, Geschichte der Teufelsbündnisse; Brückner/Alsheimer, Das Wirken des Teufels. Vgl. dazu die ausführlichere Darstellung bei Münkler, Die Historia von D. Johann Fausten, S. 362f.
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Individualität: Fausts Sozialbeziehungen
juridische Formeln, welche die Verbindlichkeit von Verträgen garantieren sollen, andererseits fehlt die institutionelle Vergewisserung, die Verträgen überhaupt erst ihre Geltung verleiht. Auf dieses Fehlen weist Faustus selbst hin, wenn er eine Öffentlichkeit anruft (»Ich Johannes Faustus D. bekenne mit meiner eygen Handt offentlich / zu einer Bestettigung / vnnd in Krafft diß Brieffs«24), die in der narrativen Rahmung des Vertragsabschlusses fehlt. Faustus und Mephostophiles sind allein, es gibt keine Zeugen, keine beurkundende Instanz, auf die Faustus sich aber ebenfalls beruft (»zu festem Vrkundt vnnd mehrerer Bekra֏fftigung«25). Dieses Fehlen institutioneller Elemente wird in der Erzählung durch das Schreiben mit dem eigenen Blut ausgeglichen. Die Blutverschreibung hat den Effekt der Ersetzung von Institutionen, indem sie aus Fausts Körper entnimmt, was an institutioneller Verkörperung fehlt. Betrachtet man den Teufelspakt als Element der Kommunikation zwischen Faustus und Mephotophiles, so versucht Faustus in einem Vertrag, der seine totale Unterwerfung unter die Macht des Teufels besiegelt, ein Verhältnis wechselseitiger Verpflichtungen herzustellen, das eine Gleichrangigkeit zwischen ihm und dem Teufel voraussetzt. Unter diesem Aspekt sind die nachfolgenden Gespräche mit Mephostophiles ein zahllose Male wiederholtes Dementi dieser Gleichrangigkeit. Faustus wird damit nicht nur auf der Ebene des narrativen discours durch Kommentare des Erzählers widerlegt, sondern auch auf der Ebene der histoire, in der seine Absichten durch den Teufel zunichte gemacht werden. Unter diesem Aspekt sind auch die ausführlichen Beschreibungen der dem Vertragsschluss vorausgehenden Beschwörungen des Teufels, die aufhaltenden Aspekte des Zögerns und der Furcht vor dem Abschluss, aber auch die Verhandlungen über die Konditionen des Vertrages zu betrachten. Während in der Historia Faustus den Teufel beschwört und dann mit Mephostophiles einen von dessen Unterteufeln als seinen Hausgeist erhält,26 beschwört er im English Faustbook gezielt Mephostophiles.27 Das führt zu einer deutlichen Aufwertung von Mephostophiles, der sich im English Faustbook nicht einfach als »Diener« Luzifers vorstellt,28 sondern als »a prince but servant to Lucifer: and all the circuit from septentrio to the meridian, I rule under him«.29
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Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 22; Faustbuch, ed. Müller, S. 855. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 23; Faustbuch, ed. Müller, S. 856. Vgl. Historia, ed. Füssel-Kreutzer, S. 15; Faustbuch, ed. Müller, S. 849. Vgl. English Faustbook, ed. Jones, S. 93. Vgl. Historia, ed. Füssel-Kreutzer, S. 16; Faustbuch, ed. Müller, S. 849. Ed. English Faustbook, Jones, S. 97.
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Verhandlungen mit dem Teufel
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Bei Widman sind sowohl der Teufelspakt selbst als auch dessen Präliminarien erheblich transformiert.30 Bereits in der Beschwörung fallen erste Differenzen auf: Der Teufel erschreckt Faustus zunächst mit einem ähnlichen Spektakel wie in der Historia, erscheint ihm dann als »schatten vnɏ gespenst« und weist Faustus unmittelbar darauf hin, dass er ihm nur dienen werde, wenn er sich ihm verschreibe. Komme er dem aber nach, »so wolle er die zeit seines lebens nicht von jhm scheiden«.31 Über dieses Versprechen einer unverbrüchlichen Beziehung vergisst Faustus »alles seines vorigen schreckens vnd laidts« und bittet den Geist, am nächsten Tag in seiner Stube zu erscheinen.32 Dieser Geist ist freilich nicht Mephostophiles, sondern der Teufel selbst, der sich zunächst auch in seiner wahren abscheulichen Gestalt zeigt, weshalb Faustus ihn fragt, ob er »sich nicht anderst denn so abschewlich vnnd grewlich erzeigen köndt«, was dieser mit dem Argument verneint »er wehr kein Diener / sondern ein Fu֏rst vnter den Geistern«33. Aber wenn Faustus sich ihm verschreibe, wolle er ihm einen Geist schicken, »der jhm biß an sein ende dienen solle / vnnd nicht von jhm weichen / soll jhm allen dienst vnd wilfahrung thun / was er begehre«.34 Die Betonung auf »zeit seines lebens«, »biß an sein ende« und »nicht von jhm weichen« fungiert somit als Hinweis auf die dem Vertrag innewohnende Begrenzung von Fausts Lebenszeit, sondern als Versprechen einer kommunikativen Gemeinschaft mit dem »Geist«, die damit selbst zum wichtigsten Aspekt des Teufelspakts avanciert. Im Vergleich mit den der Historia näher stehenden unterschiedlichen Druckfassungen und dem English Faustbook wird damit die instrumentelle Funktion des Vertrages gegenüber der sozialen Funktion zurückgestellt. Die Paktbedingungen des Teufels, denen keine von Faust geforderten gegenüberstehen, lesen sich wie die Bedingungen eines Ehevertrages, in denen der Bräutigam von seiner Braut bedingungslose Treue und den Abbruch aller übrigen Beziehungen verlangt, was seinen Kulminationspunkt darin erreicht, dass der letzte Artikel Faustus ausdrücklich verbietet, zu heiraten.35 ————— 30 31 32 33 34 35
Pfitzer lehnt sich hier eng an Widman an und nimmt so gut wie keine Veränderungen vor. Vgl. Pfitzer, Das ärgerliche Leben, S. 112-114. Widman, Warhafftige Historien, I, S. 31. Ebd. Ebd. Ebd., I, S. 39. Williams (vgl. Williams/Schwarz, Existentielle Vergeblichkeit, S. 135) deutet das als einen teuflischen Kommentar auf das katholische Priesterzölibat. Zweifellos ist zutreffend, dass das in der Historia vom als Mönch verkleideten Teufel ausgesprochene Eheverbot intertextuell mit der Verwerfung des Zölibats durch Luther verbunden ist, aber bei Widman und Pfitzer spielt das an dieser Stelle m. E. keine Rolle, zumal der Teufel hier in seiner wahren Gestalt und nicht als Mönch auftritt. Es geht hier vielmehr um die Ausschließlichkeit der Bindung zwischen Faustus und dem Teufel.
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Individualität: Fausts Sozialbeziehungen
I. Er solle GOtt / vnd allem Himmlischen Heer absagen. II. Er solle aller Menschen feindt sein / vnd sonderlich der jenigen / so jhn wollen straffen. III. Clericis vnd Geistlichen Personen / solle er nicht gehorchen / sondern sie anfeinden. IV. Zu keiner Kirchen soll er gehen / sie nicht besuchen / auch die Sacramente nicht empfahen. V. Den Ehestandt sol er hassen / sich in keinen Ehestandt einlassen / noch verehelichen.36
Bevor er sich auf diese Bedingungen einlässt, erwägt Faustus, ob es ihm möglich sein werde, sie einzuhalten. Die Erzählung fokalisiert hier völlig auf Fausts Reflexionen, die als Beobachtung zweiter Ordnung umfänglich beschrieben werden. Das prinzipielle Problem, dass für den Pakt seine Seele opfern muss, was in der Historia noch von entscheidender Bedeutung war, wird dabei von Faustus nur kurz gestreift und mit einem klassisch ›katholischen‹ Argument abgetan: D. Faustus saß lang in einem tieffen bedencken / als das diese artickel hohe grewliche / beschwerliche/ Gottesvergessene vnnd gar verdamliche Artickel jme zu halten schwa֏r fallen würde. Er bedacht sich aber doch / sintemal der Teuffel ein Lu֏gner ist / so wolle er auch das wiederspiel mit jme halten / vnd wenn es dahin keme / das er sein pfandt ja haben wollte / so wolle er bey zeit außreissen / vnd sich mit der Christlichen Kirchen versühnen / […]. 37
Das aus Schwankerzählungen bekannte Motiv der Überlistung des Teufels wird hier in Fausts Kalkül transformiert, er könne sich zuletzt in die Arme der Kirche flüchten und damit seine Seele retten. Was in der Fokalisierung auf Faustus als kalkulierbares Risiko dargestellt wird, weil er meint, die Konsequenzen umgehen zu können, weist der narrative discours jedoch als Gefahr aus, weil es nachreformatorisch nicht mehr so leicht für möglich gehalten wird, den Fängen des Teufels zu entgehen.38 Faustus erhebt nur bei einem Artikel Einwände. Während er die Gefahr, sein Seelenheil zu verlieren, vollständig ignoriert, verlangt er beim zweiten Artikel eine Änderung: Der andere articul wil mir schwerlich fallen / das ich aller Menschen feindt sein solle / so muß folgen / das ich die auch hassen vnnd anfeinden muß / die mir nie nichts leides gethan haben / so hab ich die beywonung der Leut jeder zeit geliebt / vnd kann deren keines entraten / mit wem hette ich sonst mein freuwde vnnd kurtzweil / den mit guten freunden vnd geselschaften? aber das will ich zusagen / wer mich anfeinden / vnnd mir nichts guts gu֏nnen wirdt / dem wil ich auch nichts guts beweisen / […] begehrte
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Widman, Warhafftige Historien, I, S. 41. Ebd., I, S. 41f. Vgl. Widmans ausführlichen Kommentar (Ebd., I, S. 44-58) zu den Paktbedingungen.
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Verhandlungen mit dem Teufel
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derhalben man sol jm diesen Articul / zu seiner chur vnd gefallen heimstellen / er wurde sich wol darinnen wissen zu halten. 39
Die so gedachten Sozialbeziehungen (»freuwde vnnd kurtzweil / […] mit guten freunden vnd geselschaften« sind kennzeichend für die Umstellung auf Exklusionsindividualität: Es sind keine festen und festlegenden Beziehungen, sondern lose Freundschaftsbeziehungen, deren Funktion sich auf Zeitvertreib und Unterhaltsamkeit beschränkt. Bemerkenswerterweise scheint der Teufel in diesem Punkt nachgiebig und besteht nicht explizit auf der Erfüllung sämtlicher Artikel: Auff solche erklerung / hat der Teuffel nicht weiter disputirt / sonder geschwiegen / vnd diesen bescheidt geben: So komme dem / so viel dir mu֏glich / nach / aber deine eigene Handtschrifft mit deinem blute geschrieben vnd verzeichnet / wirstu mir geben / stelle es noch heut an / vnd lege sie auff den tisch / so will ich sie holen.40
Das Schweigen markiert hier freilich keine wirklich Nachgiebigkeit des Teufels, sondern dieselbe reservatio mentalis, die sich zuvor schon bei Faust findet. Beide Vertragsparteien meinen, die andere Partei überlisten und deren Intentionen zunichte machen zu können. Was Widman hier besonders breit ausführt, findet sich auch in den anderen Faustbüchern. Sie alle zeigen jedoch, dass der Teufel Faustus in dieser Hinsicht absolut überlegen ist. Faustus vermag der List des Teufels nicht wirklich etwas entgegen zu setzen, weil er in der Kommunikation mit ihm eben jene Rationalität einbüßt, die es ihm ermöglichen soll, seinen Fängen wieder zu entkommen.41 Luther betrachtete denn auch nicht die Drohungen des Teufels als die größte Gefahr, sondern seine liebenswürdige Ansprache und seine klugen Argumente.42 Diese Auffassung begründete sich daraus, dass Luther die argumentativen Fähigkeiten des Teufels für herausragend hielt und die affektive Wirkung von Gesprächen mit ihm als seelenzerstörend einschätzte.43
————— 39 40 41 42
43
Widman, Warhafftige Historien, I, S. 42f. Ebd., I, S. 43f. Pfitzer (Das ärgerliche Leben, S. 112-114) übernimmt dieses Kapitel nahezu unverändert. Für die funktional differenzierte Gesellschaft beschreibt Luhmann als typisch, dass sie von Gefahr auf Risiko umstelle, indem sie Teilsysteme ausbilde, wie etwa das Versicherungswesen, die Gefahren in Risiken transformierten. Vgl. Luhmann, Soziologie des Riskos, S. 16-23. Eine solche Umstellung hat die katholische Kirche im Prinzip mit dem Ablass a poena et a culpa bereits früher vorgenommen. Sie fungierte dabei als eine Art Heilsversicherung, und genau das war es, was Luther ihr vorwarf. Siehe dazu insbesondere Luthers Von der Winckelmess vnd Pfaffenweih [1533], in: WA 38, S. 195-256.
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»Lieber was machstu aus Dir selbs« Die Komplexität der Beziehung zwischen Faust und Mephostophiles zeigt sich denn auch in allen Faustbüchern am deutlichsten in der Komplexität ihrer Kommunikation und deren unterschiedlichen Kommunikationsformen. Zu dieser Kommunikation gehören: das Lehrgespräch, die freundschaftliche Ansprache, aber auch Auseinandersetzungen um die Vertragstreue, Streitigkeiten wegen gegenseitigen Misstrauens, Vertrauensbezeugungen, liebevolle und tröstende Worte, aber auch Kommunikationsverweigerung, Schweigen, Hohn und Spott. Die Performanz der Kommunikation zwischen Mephostophiles und Faustus folgt im Prinzip dem Modell der klassischen Rhetorik und den ihren Redeformen genus grande, genus mediocre und genus humile zugeschriebenen Funktionen des docere, delectare, movere.44 Aber sie stellt sie auf den Kopf; Mephostophiles belehrt Faustus, aber er lehrt ihn das Falsche; er erfreut Faustus, aber es ist eine kurzfristige, schale Freude, und er bewegt und erschüttert ihn, aber er erschüttert ihn nicht mit dem Ziel einer Katharsis, sondern deren Verhinderung. Ihre affektive Dynamik bezieht diese Performanz einer asymmetrischen Kommunikationsbeziehung aus Luthers Teufelslehre in Verbindung mit der zeitgenössischen Affektenlehre, also aus der religiösen und der moralischen Kommunikation. Als der Teufel in der Historia nach dem Abschluss des Paktes zum ersten Mal »gantz fro֏lich« in seiner Stube erscheint, beeindruckt er Faustus zunächst mit einem aufwändigen Spektakel, bei dem in der Stube eine Jagd stattzufinden scheint, Löwen und Drachen gegeneinander kämpfen, Orgeln, Harffen, Lauten und Geigen den Raum mit Musik erfüllen »daß D. Faustus nicht anderst gedachte / dann er wer im Himmel / da er doch bey dem Teuffel war«.45 An den teilweise ausführlichen und szenisch dargestellten Gesprächen über die Hölle, lässt sich zeigen, in welcher Weise Mephostophiles Faustus manipuliert. Mephostophiles’ Erklärungen sind anfangs meist knapp, sachlich und klingen wie das, was sie sind: Zitate aus Lexika und Sachbüchern. Mephostophiles ist eine Art veraltetes Nachschlagewerk. In der Struktur seiner Antworten auf die Fragen nach der Hölle wandelt er sich jedoch zunehmend vom gleichgültigen, wandelnden Lexikon zum hinterhältigen und lügnerischen Manipulator. Die verwendeten Prätexte bleiben in diesen Antworten dieselben, aber der kommunikative Modus wird entscheidend ————— 44
45
Vgl. Cicero, De Oratore, XXVI, 114-115 sowie Quintilian, Institutio oratoria VIII, prooemion 7. Vgl. dazu auch: Gert Ueding: Das System der antiken Rhetorik, in: ders.: Klassische Rhetorik, München 1995, S. 53-78. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 25; Faustbuch, ed. Müller, S. 857. Traditionell macht der Teufel eher dissonante Musik; insbesondere der Dudelsack gilt als Instrument des Teufels, der Tritonus, eine Terz aus drei Ganztönen, als der ihm zugeordnete Akkord. Vgl. Hammerstein, Diabolus in Musica; Böhme, Der Affe und die Magie, S. 116f.
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»Lieber was machstu aus Dir selbs«
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verändert. Während Mephostophiles in den Kapiteln 11-13 sachlich knappe Auskünfte erteilt, die mit Äußerungen wie »Vnnd also hast du ku֏rtzlich mein Bericht vernommen«46 oder »Vnd diß ist mein kurtzer Bericht«47 enden, ändert sich dieser kommunikative Modus, nachdem er auf Fausts Frage, »jn was gestalt sein Herr im Himmel geziert gewest / vnd darinnen gewohnet«, erstmals nicht spontan antwortet, sondern »vmb drey Tag auffzug« bittet. Am dritten Tag berichtet er Faustus dann, Lucifer sei im Himmel von höchster Autorität gewesen und »von Gott also erleuchtet / daß er der Sonnen Glantz vnd Stern vbertreffen tha֏te«. Aber so bald er in Vbermut vnd hoffart stiege / vnd vber Orient sich erheben wolte / ward er von Gott auß der Wohnung des Himmels vertilget / vnd von seinem Sitz gestossen […] vnd […] zur Hellen / darauß er in Ewigkeit nit mehr entrinnen mag / vervrtheilet vnnd verdammet.48
Nach dieser Antwort geht Faustus »stillschweigend vom Geist in seine Kammer / leget sich auff sein Beth / hub an bitterlich zu weinen vnd seufftzen / vnd in seinem Hertzen zu schreyen«, denn er bezieht Lucifers Himmelssturz unmittelbar auf sich selbst und schließt daraus, dass Lucifers Verdammnis das Vorbild seiner eigenen Verdammnis sei. In den nachfolgenden Kapiteln antwortet Mephostophiles’ nicht mehr so spontan und selbstverständlich wie zuvor; er warnt Faustus vor der möglicherweise negativen Wirkung seiner Antwort auf dessen Gemütszustand: »diese Disputation vnd Frage / […] wirt dich / mein Herr Fauste / etwas zu Vnmuth vnd Nachdencken treiben«.49 Die vorgebliche Besorgnis kulminiert schließlich in der an Faustus gerichteten Frage: »Lieber was machstu auß dir selbs?«50 Freilich wird der Appell an Fausts Selbstbild, das dieser doch nicht gefährden solle, sofort in sein Gegenteil verkehrt, wenn Mephostophiles ihm unmittelbar anschließend erklärt: »Vnd wenn du gleich in Himmel steigen ko֏ndtest / wolte ich dich doch wider in die Helle hinunter stu֏rtzen / denn du bist mein / vnnd geho֏rest auch in diesen Stall.«51 Sofort den Tonfall wechselnd, spiegelt er danach wieder Besorgnis um den »lieben Fauste« vor und erklärt, er wolle ihm Kümmernis durch weitere Antworten ersparen, was Faustus, der jetzt schon ganz auf die Bahn unbedingten Wissenwollens gebracht ist, zu dem Ausruf bringt: »so wil ichs wissen / oder wil nicht leben / du must mirs sagen.« Darauf antwortet Mephostophiles, nun wiede————— 46 47 48 49 50 51
Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 30; Faustbuch, ed. Müller, S. 863. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 30; Faustbuch, ed. Müller, S. 864. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 32; Faustbuch, ed. Müller, S. 866. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 34; Faustbuch, ed. Müller, S. 868. Ebd. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 36f.; Faustbuch, ed. Müller, S. 871.
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Individualität: Fausts Sozialbeziehungen
rum ganz kühl und gelassen: »Wolan […] Jch sage dir / es bringt mir wenig Kummer.«52 Die scheinbar informativen und lehrhaften Disputationen haben sich in diesen Kapiteln in eine raffinierte Machttechnik verwandelt, in der Mephostophiles meisterhaft auf der Klaviatur von Fausts Ängsten, Zweifeln und Reueattacken spielt und ihn affektiv vollkommen beherrscht. Das gipfelt im 17. Kapitel in der Antwort auf die Frage, was er selbst an Fausts Stelle tun würde. Ja / sagte der Geist seufftzendt / vnnd were hierinnen nicht viel disputierens mit dir / Denn ob ich schon gegen GOTT also gesu֏ndiget / wolte ich mich doch widerumb in seinen Gnaden erholen.53
Nachdem es damit so scheint, als habe er selbst Faustus die Tür zum Heil wieder geöffnet, was Faustus auch erkennt und mit der Bemerkung verdeutlicht »so were es mit mir auch noch fru֏h gnug / wann ich mich besserte«, schlägt er sie aber sogleich mit der Bemerkung wieder zu, »es ist nun zu spat / vnnd ruhet Gottes Zorn vber dir«.54 Durch die gewählte Erzähltechnik kann der Leser beobachten, wie sich wiederum Faustus und Mephostophiles wechselseitig beobachten und sich das Machtgefälle innerhalb der Beziehung immer weiter zugunsten vom Mephostophiles verschiebt. Dadurch wird der Leser nicht nur als Beobachter zweiter Ordnung (er beobachtet), sondern auch als Beobachter dritter Ordnung (er beobachtet beim Beobachten) etabliert. Für diese Beobachtung dritter Ordnung ist das Schweigen zentral. Das Schweigen macht erkennbar, was intradiegetisch der Beobachtung entzogen werden soll. Mephostophiles’ verzögerte Antworten, seine Hinweise, es wäre besser, wenn er schwiege, sein verärgertes Schweigen, wenn Faustus ihm allzu sehr zusetzt, legen offen, dass der Teufel nicht etwa ein Arkanwissen über Gegenstände besitzt, sondern ein Arkanwissen darüber, wie man die Affekte des Menschen unter Kontrolle bringt. Auch bei Faustus lassen sich unterschiedliche Formen des Schweigens festmachen: also dass er schweigt, weil er sich etwas denkt, das er aber nicht äußern will (»D. Faustus nicht vil darwider sagte«55) oder weil er in seiner Not die Sprache verloren hat (»gieng auch also darauff stillschweigendt vom Geist in seine Kammer «56). Bei ihm ist Schweigen demnach ein Versuch, sich zu entziehen – ein Versuch freilich, der zum Scheitern verurteilt ist. Fausts Individualität wandelt sich hier tatsächlich zur Exklusionsindividualität im engsten Sinne: Er ist von allen anderen Sozialkontakten abge————— 52 53 54 55 56
Ebd. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 43; Faustbuch, ed. Müller, S. 880. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 43; Faustbuch, ed. Müller, S. 880f. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 49; Faustbuch, ed. Müller, S. 887. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 33; Faustbuch, ed. Müller, S. 866.
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»Lieber was machstu aus Dir selbs«
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schlossen und allein den Einflüsterungen und Lügen des Teufels ausgesetzt, die nicht nur jede andere soziale Beziehung auslöschen, sondern auch verhindern, dass Faustus sich in einer anderen Zugehörigkeit als in der zum Reich des Teufels denken kann. Durch Entzug von Kommunikation mit anderen Mitgliedern der Gesellschaft wird Faustus negativ sozialisiert: Er fühlt sich der Welt nicht mehr zugehörig, sondern völlig allein einer Macht gegenübergestellt, die ihn mit bloßen Worten zu besiegen vermag. Diese Konstruktion einer negativen intimen Dyade hat das English Faustbook noch verstärkt, indem es den Erzähler öfter ausblendet und in einen szenisch-dramatischen Modus wechselt, in dem die wörtliche Rede dominiert.57 Häufig ist der Erzähler dann nur noch durch die Inquitformeln (»Faustus answered«, »the spirit replied«) präsent. Doctor Fastus revolving with himself the speeches of his spirit, he became so woeful and sorrowfull in his cogitations that he thought himself already frying in the hottest flame of hell; and lying in his mus, suddenly there appeared unto him his spirit, demanding what thing so grieved and troubled his conscience, whereat Faustus gave no answer; yet the spirit very earnestly lay upon him to know the cause, and if it were possible, would find remedy for his grief and ease him of his sorrows. To whom Faustus answered: ›I have taken thee unto me as a servant to do me service and thy service will be very dear unto me, yet I cannot have any diligence of thee further than thou list thyself, neither doest thou in any thing as it becometh thee.‹ The spirit replied: ›My Faustus thou knowest that I was never against thy commandments as yet, but ready to serve and resolve thy questions. Although I am not bound unto thee in such respects as concern the hurt of our kingdom, yet I was always willing to answer thee and so am I still: therefore, my Faustus, say on boldly, what is thy will and pleasure?‹ At which way the spirit stole away the heart of Faustus, who spake in this sort: ›Mephostophiles, tell me how and after what sort God made the world and all creatures in them, and why man was made after the image of God.‹ The spirit hearing this answered: ›Faustus thou knowest that all this is in vain for thee to ask. I know that thou art sorry for that thou hast done, but it availeth thee not, for I will tear thee in thousands of pieces if thou change not thine opinions,‹ and hereat he vanished away. Whereat Faustus all sorrowfull for that he had put forth such a question, fell to weeping and to howling bitterly, not for his sins towards God, but for that the devil was departed from him so suddenly and in such a rage.58
Die späteren Faustbearbeitungen geben diesen Aspekten eine andere Richtung. Insbesondere die affektive Beziehung zwischen Faustus und Mephostophiles wird bei Widman und Pfitzer deutlich transformiert. So finden die Gespräche zwischen Faustus und Mephostophiles in einer behaglicheren Atmosphäre statt, und Faustus macht Äußerungen wie, »lieber getrewer ————— 57 58
Gérard Genette bezeichnet dies in seiner Erzähltheorie als die berichtete Rede des dramatischen Typs. Vgl. Genette, Diskurs der Erzählung, S. 122f. English Faustbook, ed. Jones, S. 116.
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Individualität: Fausts Sozialbeziehungen
Mephostophiles / diß gesprech / so ich mit dir habe / ist mir lieber den essen vnd trincken«.59 Die Beziehung zwischen Faust und Mephostopheles ist deshalb an diesem Punkt sehr viel weniger konfliktorientiert und zumindest am Anfang auch nicht darauf ausgerichtet, Faustus durch affektive Spannungen zu beherrschen. Widman integriert auch die Gesellschaft in die Beziehung zwischen Faustus und Mephostophiles. Das geschieht nicht nur, indem sich Faustus bei ihm viel früher wieder innerhalb der sozialen Welt bewegt, sondern auch dadurch, dass Mephostophiles selbst deren Persepktive übernimmt. Während Faustus seine Umwelt nur unter dem Aspekt betrachtet, ob ihm genügend Fress-, Sauf- und Spielkameraden zur Verfügung stehen, und sich nicht darum schert, was man ansonsten über ihn denkt, übernimmt Mephostophiles die Perspektive des sozialen Systems und der von ihm ausgeübten Sozialkontrolle. So weist er Faustus wiederholt darauf hin, dass es auffällt, wenn er die von seinem Onkel ererbten Felder nicht bestellt und dennoch in Saus und Braus lebt: Ich kan nicht vnterlassen / mein Herr Fauste / dir ettlichermassen fu֏rzuhalten / wie hoch dir eines Procurators vonno֏hten sey / der dir allezeit das wordt thu / weil du dich so verdechtig machst / damit du nicht in ein gefahr kommest. Den sihe nur / wie du in der Stadt so mechtig sehr beschreit bist / da man sagt vnd mummelt / wie es doch kome / das D. Faustus erstlich so eingezogen gewesen / jetztundt aber fast nichts thu / dann das er panckethiere / mehr so habe er hie draussen liegende feldtgu֏ter / derer wardt er nicht/ vnd wenn ich durch mein geschwindigkeit die nicht hett gesammlet vnd eingebracht / so werstu noch verdechtiger.60
Erst darüber entspinnt sich dann ein Konflikt zwischen Faustus und Mephostophiles, denn Faustus ist keineswegs gewillt, sich Vorschriften machen zu lassen. Auf Mephostophiles mahnende Hinweise, er müsse jetzt endlich wenigstens so tun, als ob er arbeite, reagiert Faustus mit ironischen Dank und zwingt unter Verweis auf die Paktbedingungen Mephostophiles, klein beizugeben: D. Faustus antwortet / vnd sagt / ja / Mephostophiles / es ist nicht ohn / vnnd ich dancke dir nochmahls deiner getrewen warnung / aber es wirdt mir schwerlich fallen / darumb will ichs hiemit gentzlich herauß schu֏tten / nemlich wilstu nicht alles das jenig thun vnd verrichten / was ich haben wil / vnd mir meine vbrig zeit alle nothturfft verschaffen / so sag ja oder nein. Mephostophiles sahe / das Faustus sich sehr erzu֏rnt hette / antwortet doch darauff / wolan / mein Herr Fauste / ich bekenne es / das ich dein Diener bin / vnd schu֏ldig dir gebu֏rlichen Gehorsam zu leisten.61
Danach unterwirft sich Mephostophiles scheinbar völlig Fausts Bedürfnissen und erfüllt ihm jeden Wunsch, saust durch die Kramläden, stiehlt hier ————— 59 60 61
Widman, Warhafftige Historien, I., S. 144. Ebd., I, S. 108. Ebd., I, S. 109.
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»Lieber was machstu aus Dir selbs«
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und dort, was Faustus begehrt, und sorgt dafür, dass alles zu dessen Zufriedenheit ausgerichtet ist. Wenig später entspinnt sich dann ein neuer Konflikt, der ebenfalls von Faustus ausgeht. Faustus, der »gute tag vnd leben hat / weil jhm gahr nichts gemangelt«, entsinnt sich unvermittelt seines Seelenheils, das er durch den Besuch der Kirche und den Empfang der Kommunion ein wenig pflegen möchte: Derohalben er bey jm also disputirte / Wolan die Kirche ist mir verbotten / die sol ich fliehen vnd meiden / so will mein Geist / ich mache mich verdechtig / das ich dem wolleben oblig / da disputire man / was ist Hase oder Fuchs? […] ist das nicht viel verdechtiger / dieweil diese Vniversitet vnd Stadt Wittenberg / so auff mich sonderlich achtung gibt / mo֏cht schliessen / Doctor Faustus besucht kein Kirchen noch die Sakramenten / es wird nichts guts hinder jm stecken / sondern vermutlich / daz er ist ein Gottloser vnd vera֏chter vnser Religion / […].62
Der innere Monolog, bei dem der Leser unter Ausschaltung der Erzählerstimme Faustus direkt in den Kopf blicken kann, vereint den Blick des Lesers mit dem des Teufels, denn auch dieser liest Fausts Gedanken, erscheint daraufhin und wirft ihm vor, dass er sich nicht an die Paktbedingungen halte. Auch hier verhält sich das Machtgefälle umgekehrt proportional zu dem sonst in der Historia und den geringer transformierten Texten anzutreffenden, denn Mephostrophiles erlaubt ihm, einzelne Teile der Bibel zu lesen, verbietet nur das Buch Hiob, den Psalter, die Paulusbriefe sowie das Johannesevangelium.63 Dagegen rät er Faustus ausdrücklich die Lektüre und von Legenden an.64 Im Kommentar zu diesem Kapitel führt Widman in enger Anlehnung an die anti-katholische »Lügenden«-Polemik dann aus: Weiter geschicht meldung von den Legenden / welche auch domahls ein sonderlich plag vom Teuffel war. Es hatten die Mu֏nche in Clo֏stern / nur auß mu֏ssigen faulen tagen / solche schendtliche Lu֏gen zusammen geraspelt / das man sich daru֏ber zuverwundern / vnnd dennoch must es der gemein Mann glauben / daher man auß dem buchstaben E. ein U. gemacht / den es nicht ein Legenden / sonder Lugenden Buch in warheit ist / vnd ist droben zusehen / daß dem teuffel diß buch lieber gewesen den die Bibel. Denn in der Bibel ist die warheit / in dem legenden buch die Lu֏gen / welcher der Teuffel ein Vater ist.65
Darauf reagiert Faustus äußerst ungehalten und drängt Mephostophiles so weit in die Defensive, dass dieser nur mit einer schwachen Drohung reagiert: D. Faustus erzu֏rnt sich / sagt / Ja lieber Gesel / du werdest mir nicht allezeit maß vnd ordnung geben / was ich thun sol? Mephostophiles viel rasender vnd zorniger gab jhm diese antwordt / So sage vnd schwere ich bey meinem ho֏chsten Heren / so vnder dem
————— 62 63 64 65
Ebd., I, S. 119. Vgl. Ebd., I, S. 121. Ebd. Vgl. Ebd., I, S. 126.
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Individualität: Fausts Sozialbeziehungen
Himmel ein Fu֏rst regieret / du must diß meiden / […] oder dir sol eins begegnen / das dir beschwerlich fallen wirdt.66
Faustus reagiert darauf zwar zunächst beeindruckt (»nun leider sihe ich / wie hoch ich mich an Gott vergriffen habe«67), aber das stürzt ihn keineswegs in tiefe und anhaltende Gewissenskonflikte, sondern er ändert kurzerhand seine Meinung und verlangt nun von Mephostophiles, »das du mein Predicant seyest / […] / wen ich in hohen gedancken lig vnnd zu disputiren lust habe«.68 In den anschließenden Disputationen zeigt sich sodann, dass dieses Ausbleiben von Gewissensnöten keine vorübergehende Erscheinung ist. Als Mephostophiles ihm von Lucifers Sturz berichtet, der in der Historia Faustus in Schweigen, Weinen, tiefe Reue und Verzweiflung getrieben hat, setzt er hier das Gespräch gelassen fort, fragt noch einmal nach und versichert Mephostophiles, wie zuvor schon einmal, »diß gesprech / so ich mit dir habe / ist mir lieber den essen vnd trincken«.69 Und der Kommentar nimmt die Performanz dieser Kommunikation nicht zurück. Manchmal lobt Widman Mephostophiles sogar (»Dieses Gesprech ist kein vnebens werck gewesen«70), oder er kritisiert dessen Darstellung und seine rhetorischen Fähigkeiten (»Darauff sage ich / das der Geist gantz schlecht mit seiner disputation hindurch gehet«71) und korrigiert sie im Kommentar, aber an keiner Stelle nimmt er Anstoß daran, wie sehr hier die Semantik von Heil und Verdammnis unterminiert wird, weil Faustus völlig unangefochten bleibt. Als Individuum hat Widman Faustus sozialer Kontrolle unterworfen, ihn in zumindest angedeutete Sozialbeziehungen reintegriert und die interne Kommunikation zwischen ihm und Mephostophiles auf gepflegte Gelehrtengespräche umgestellt, so dass auf der Ebene der histoire unter Mephostophiles’ Zugriff und auf der Ebene des narrativen discours unter dem Zugriff des Erzählers das deviante Subjekt in einen gesitteten humanistischen Gesprächspartner verwandelt wird. Pfitzer schließt sich dem vorbehaltlos an. Ängste, Nöte und Verzweiflung kennt dieser Faustus eher nicht. Sie stellen sich erst ganz am Ende ein. Die Internalisierung des Schuldbewußtseins wird hier durch das System der äußeren Sozialkontrolle ersetzt. Diese bleibt aber stumpf, weil Mephostophiles für Faustus das Stigmamanagement übernimmt, und »verdechtige« Aspekte seiner sozialen Verhältnisse verbirgt.72 Aber die »virtual identity«, mit der Mephostophiles ihn versorgen ————— 66 67 68 69 70 71 72
Ebd., I, S. 121f. Ebd., I, S. 122. Ebd. Ebd., I, S. 144. Ebd., I, S. 135. Ebd., I, S. 147. Zum Begriff des Stigmamanagements und der grundlegenden Unterscheidung von »virtual« und »actual identity« vgl. Erving Goffmann, Stigma, bes. S. 56f.
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Die Semantik von Karriere
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muss, damit Faustus obrigkeitlicher Verfolgung entgeht, entwickelt sich kommunikativ zur »actual identity« – sieht man davon ab, dass Faustus mit dem Teufel verkehrt, kann man konstatieren, dass sein Sozialverhalten zusehends akzeptabler wird.
Die Semantik von Karriere In der jüngeren Forschung ist der Faustus der Historia häufig als Außenseiter begriffen worden.73 Das macht sich an den Episoden fest, in denen Faustus stellenweise als Betrüger von Bauern und sozial Depravierten auftritt. Nach Laura Auteris Überzeugung ist Faust von der bürgerlichen Ordnung ausgeschlossen.74 »Faust si è posto non solo al di fuori dell’ordine divino ma anche di quello borghese, al primo strettamento correlato nell’ottica protestante.«75 Aber das gilt bestenfalls für die Ebene der Diegesis, nicht dagegen für die der Diegese. In der Welt der Erzählung ist Faustus keineswegs ein Außenseiter, im Gegenteil, er hat eine Vielzahl gut funktionierender Sozialkontakte, die in der Historia freilich wie aus dem Nichts auftauchen, nachdem Mephostopiles ihn aus seinen kommunikativen Krallen entlassen hat. Wirft man einen ersten orientierenden Blick auf seine Sozialbeziehungen, so zeigt sich, dass er erhebliche Anerkennung genießt und Freundschaften pflegt, die das Diktum des Außenseiters nicht bestätigen. Seine Freundschaften entsprechen der hierarchischen Ordnung einer stratifikatorischen Gesellschaft: Faust ist nur mit Studenten, Gelehrten und Adligen befreundet. Wenn der Sohn eines Bauern dagegen auf Bauern trifft, fühlt er sich unangenehm berührt oder in der Position des moralischen Erziehers. Von einem Teil der Forschung ist denn auch die Meinung vertreten worden, dass Faustus erhebliche Anerkennung genießt. So spricht Mahal im Nachwort zu seiner Edition des Christlich Meynenden davon, die frühen »Volksbücher« hätten dem Publikum einen »Blick durchs Schlüsselloch« auf die »unerhörte Karriere eines Bauernsohnes« gestattet.76 Es stellt sich die Frage, wie die Forschung zu so unterschiedlichen Auffassungen hat kommen können. Betrachtet man die Argumente näher, so gehen diejenigen, die von Fausts Außenseiterrolle überzeugt sind, davon aus, dass die negative Markierung durch den Teufelspakt einen prinzipiellen Ausschluss aus der christlichen ————— 73 74 75 76
Vgl. Könneker, Faust und Wagner; Opitz, Die Historia von D. Johann Fausten; Maria E. Müller, Poiesis und Hexerei; Auteri, L’empia devianza. Auteri, L’empia devianza, S. 22. Ebd., S. 21. Vgl. Mahal, Nachwort zu: Faustbuch des Christlich Meynenden, ed. Mahal, S. 77; vgl. auch Kästner, Fortunatus und Faustus.
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Individualität: Fausts Sozialbeziehungen
Gemeinschaft begründet und Faustus folglich nichts anderes sein könne als ein Außenseiter. Diejenigen dagegen, die Faustus eine Karriere machen sehen, betrachten ihn von einzelnen Exempeln innerhalb der Erzählung her und betonen, dass ihm dort erhebliche soziale Anerkennung zuteil wird. Damit sind implizit die Ebene des Erzählens und die Ebene der Geschichte angesprochen, wobei zu fragen ist, ob es zwischen beiden Ebenen einen ungelöst bleibenden Konflikt gibt. Grundlegend befragt die Historia Fausts Identität unter der Semantik von Heil und Verdammnis. Daneben tritt aber die Semantik von Karriere. Beiden Semantiken überlagern sich, wobei die von Heil und Verdammnis als Leitsemantik erscheint. Dennoch wird die Karrieresemantik nicht einfach perhorresziert, sondern untergründig vom Erzähler durchaus anerkannt: Die Faustus zuteil werdende soziale Anerkennung wird keineswegs an allen Stellen – etwa durch Erzählerkommentare – konterkariert. Fausts sozialer Aufstieg vom Bauernsohn zum Doktor der Theologie und dann zum Arzt, Astrologen und Astronom, aber auch zum Kenner der antiken Literatur im CDruck der Historia wird durchaus positiv erzählt.77 In den Zeugnissen über den historischen Faustus wird in den Kreisen humanistischer Gelehrter ablehnend auf dessen als anmaßend begriffene Selbstbeschreibung Bezug genommen. Nach dem Zeugnis von Johannes Trithemius soll sich der historische Georgius Faustus mit den konvergierenden Titeln »Magister Georg Sabellicus, Faust der Jüngere, Quellbrunn der Nekromanten, Astrolog, Zweiter der Magier, Chiromant, Aeromant, Pyromant, Zweiter in der Hydromantie« geschmückt haben. So geht aus einem Brief hervor, den Trithemius 1507 an Johannes Virdung geschrieben hat. Trithemius hält diese Selbsteinschätzung für »Wahnsinn«, denn »wer in Wahrheit in allen guten Wissenschaften unwissend ist, hätte sich lieber einen Narren, denn einen Magister nennen sollen«.78 Ähnliche Selbstbeschreibungen, wie die von Trithemius monierte, gibt es auch in der Historia; schon bei der Unterzeichnung des Teufelspaktes bezeichnet sich Faustus als »der Geistlichen Doctor und der Erfahrene der Elementen«, seinen Brief von der Himmelsfahrt unterzeichnet er mit »D. Faustus der Gestirnseher«. Anders als beim historischen Faust aber stimmen Fremd- und Selbstwahrnehmung auf der Ebene der wissenschaftlichen Fähigkeiten und der sozialen Anerkennung überein. Fausus verkehrt in höchsten Kreisen und steht dort in erheblichem Ansehen. Was die Außenwahrnehmung, d. h. sein Ansehen als gelehrter Astro————— 77
78
Roloff (Artes et Doctrina, S. 93) hält den Aspekt der Karriere dagegen für unwesentlich: »Daß Faust nebenher ein gesuchter Arzt und Dozent war, wird nur angedeutet: sein Leben ist hier [in Teil III] ganz in den Dienst der Eitelkeiten gestellt.« Cod. Pal. Lat. 730, fol. 174r-175r. Der Brief ist auch abgedruckt in: Johannes Trithemius, Opera historica, II, S. 559-560. Dt. Übers. zit. nach: Baron, Faustus, S. 127f.
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Die Semantik von Karriere
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loge und Mediziner, angeht, genießt Faust sowohl bei städtischen Gelehrten als auch in höfischen Kreisen höchste Anerkennung. In dieser Hinsicht ist der Teufelsbund trotz der vielfältigen Bemühungen des Erzählers, Fausts Wissenserwerb durch veraltete und sinnentstellend präsentierte Quellen zu diskreditieren, ein voller Erfolg. Faustus macht zwar keine Statuskarriere, wie sie etwa mit der Übernahme eines hohen Amtes verbunden gewesen wäre, aber eine beachtliche Reputationskarriere. Andererseits rückt der Erzähler Fausts Wissen aber auch in ein schiefes Licht, wie der Brief über die Gestirnsfahrt zeigt, dessen Inhalt völlig überholt ist und den Übersetzer des English Faustbook zu einem metaleptischen Eingriff in die Diegese veranlasst hat. Das gilt freilich nur für die zweite Hälfte des Briefes, in dem Faustus seine Erkenntnisse darstellt. Im ersten Teil dagegen bestätigt die Figurenrede die Anerkennung, die der Erzähler Faustus zuvor bereits zugebilligt hatte, und Faustus verknüpft dies mit der Erinnerung an seine frühere Identität und den Wechsel, den diese seither genommen hat: insonders lieber Herr vnd Bruder / Jch weiß mich noch / deßgleichen jr auch / zu erjnnern vnsers Schulgangs von Jugendt auff / da wir zu Wittenberg mit einander Studierten / vnnd jhr euch anfa֏nglich der Medicinae / Astronomiae / Astrologiae / Geometriae beflissen / wie jhr dann auch ein guter Physicus seydt / jch aber euch vngleich war / vnd wie jhr wol wißt / Theologiam studierte / so bin ich euch doch in dieser Kunst noch gleich worden / demnach jr mich etlicher sachen vmb Bericht rahts gefragt [...]. Ewers Ruhms vnd Lobs / so jr mir zumeßt vnd gebt / thu ich mich gleichfalls bedancken / nemlich daß mein Calender vnd Prackticken so weit in das Lob kommen / daß nit geringe Priuat Personen / oder gemeine Bu֏rgerschafft / sondern Fu֏rsten / Graffen vnd Herrn meiner Practica nachfragen / dieweil alles / was ich gesetzt vnd geschrieben / also warhafftig sol vberein stimmen.79
Der Brief weist, wie Frank Baron gezeigt hat, intertextuelle Verbindungen mit einem Brief auf, den Conrad Celtis an einen ehemaligen Mitstudierenden über sein Studium in Köln schrieb, bevor er nach Heidelberg wechselte (13. Dezember 1484), wo zu dieser Zeit, wenn man Baron folgt, auch der historische Faustus studierte. Der Brief bezieht sich auch auf die Erforschung der Sterne, die Celtis als lohnenswertes, aber nicht bearbeitetes Forschungsfeld erwähnt: Hier [in Köln] lernten wir zusammen die trügerischen Künste der Syllogistik und der streitlustigen Dialektik kennen…Hier lehrt keiner Latein oder Grammatik; niemand kümmert sich um gepflogenen Stil. Unbekannt ist die Mathematik, die die Geheimnisse der Figuren und der heiligen Zahlen enthüllt. Keiner forscht am Himmel den glänzenden Sternen nach; man fragt nicht, wie sie sich exzentrisch bewegen, noch was uns mit großer Gewandtheit Ptolemäus lehrte.80
————— 79 80
Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 56; Faustbuch, ed. Müller, S. 896f. Zit. nach: Baron, Faustus, S. 19.
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Individualität: Fausts Sozialbeziehungen
Bemerkenswert daran ist aber nicht die mögliche Nähe zum historischen Faustus, sondern vielmehr die Diktion, die Faustus in der Historia erstmals in die Nähe gelehrter humanistischer Kommunikation rückt. Belege für die große Anerkennung, die Faustus genießt und die seine Fähigkeiten auf unterschiedlichen Gebieten verdeutlichen, streut der Erzähler wiederholt ein: Faustus wird hohe soziale Anerkennung zuteil, er gilt als Spezialist in Fragen der Astronomie, er wird von Freunden befragt (»zu Eißleben ist ein Comet gesehen worden / der wunder groß war. Da fragten etliche seine gute Freundt D. Faustum / wie das zugieng«81), aber auch von anderen Gelehrten: Ein fu֏rnemmer Doctor N. V. W. zu Halberstatt / lude D. Faustum zu Gast / [...]. Vnd dieser Doctor war ein Medicus / darneben ein guter Astrologus / der vrsachen er / vnd daß er von D. Fausto etliche verwandlung der Planeten vnd Stern erku֏ndigen mo֏chte / D. Faustum sonderlich beruffen hatt / […] 82
Während der Erzähler der Historia Faustus also auf der Kommentarebene die Anerkennung verweigert, etwa indem er schreibt, nur »zum Glimpf« sei er ein Arzt geworden, lässt er ihn aber auf der Ebene der Narration erfolgreich als Arzt praktizieren (so legt Faustus einem melancholischen Adligen dar, woher seine Traurigkeit komme83) und weist ihm auch große Anerkennung innerhalb seines sozialen Stratums zu. Und während er das von Faustus in Folge des Paktes erlangte Wissen durch die Verwendung veralteter Quellen und durch die Erzählerkommentare zu diskreditieren sucht, erscheint Faustus innerhalb der Erzählung als ein anerkannter Gelehrter, der immer wieder um Rat oder nach der Erklärung bestimmter Phänomene gefragt wird und dessen Auskünfte von niemandem bezweifelt werden. Auch Widman bestätigt durch die Erzählung »das D. Faustus ein fu֏rtrefflicher Astrologus vnd Mathematicus sey gewesen«, und führt das nicht einmal nur auf den Teufel, sondern auch auf Faustus’ Fleiß zurück.84 Zwar moniert Pfitzer die Tatsache, dass Zauberei hohe Anerkennung einträgt, in einem seiner Kommentare, aber innerhalb der Welt der Erzählung lässt er Fausts Karriere unangetastet.85 Es gibt also guten Grund, von einer Karriere Fausts zu sprechen und ihn nicht zum Außenseiter zu machen, denn das Karrieremuster greift nicht nur auf der Ebene der Diegese, sondern auch auf der Ebene der Diegesis. ————— 81 82 83 84 85
Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 73; Faustbuch, ed. Müller, S. 918 [ab hier beantwortet Faustus Fragen von anderen]. Ebd. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 105; Faustbuch, ed. Müller, S. 958. Vgl. Widman, Warhafftige Historien, I, S. 209. Vgl. Pfitzer, Das ärgerliche Leben, S. 95.
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Die Semantik von Karriere
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Wie sehr diese Semantik von Karriere im Einzelfall Sündhaftigkeit als Transgression zurückzudrängen vermag, zeigt sich besonders deutlich an der Kaiser-Episode, die prominent am Beginn des dritte Teils der Historia platziert worden ist, und an den Transformationen, die sie in den nachfolgenden Faustbüchern erfahren hat. Die Episode beschreibt Fausts Auftritt am Hofe Kaiser Karls V., bei dem er auf Bitten des Kaisers Alexander den Großen und dessen Gemahlin heraufbeschwört. Diese Episode wird in ähnlicher Weise zuvor in Luthers Tischreden, in Weiers De Praestigiis Daemonum und in Augustin Lercheimers Christlich Bedencken von Zauberey berichtet, allerdings nicht mit Faustus und Karl V. als Protagonisten, sondern mit Johannes Thrithemius und Kaiser Maximilian. Bei Luther führt der Schwarzkünstler dem Kaiser die großen Helden der Antike, alle verstorbenen Kaiser, sowie Maximilians verstorbene Frau Maria von Burgund vor, bei Lercheimer nur Maria von Burgund.86 Weder Luther noch Lercheimer geben einen Grund für die Anwesenheit des Schwarzkünstlers am Kaiserhof an. Demgegenüber begründet die Historia Faustus’ Anwesenheit ausführlich; er wird förmlich mit einem narrativen Geleitzug ausgestattet: Keyser Carolus der Fu֏nfft dieses Namens / war mit seiner Hoffhaltung gen Jnßbruck kommen / dahin sich D. Faustus auch verfu֏get / vnnd von vielen Freyherrn vnd Adelspersonen / denen sein Kunst vnd Geschicklichkeit wol bewust / sonderlich diesen so er mit Artzney vnnd Recepten von vielen namhafften Schmertzen vnd Kranckheiten geholffen / gen Hof zum Essen geladen vnd beruffen / gaben jhm das Geleydt dahin […].87
Fausts Anwesenheit am Kaiserhof ist damit Ausdruck einer bemerkenswerten Reputationskarriere, die es dem Bauernsohn ermöglicht, in den höchsten Kreisen zu verkehren. Selbst bis an die Ohren des Kaisers ist sein Name gedrungen, weshalb er Faustus nach dem Essen in sein Gemach befiehlt und ihn wissen lässt »wie jhm bewust / dass er ein erfahrner der schwartzen Kunst were / vnnd einen Warsager Geist hette«.88 Diese Feststellung führt jedoch nicht zu obrigkeitlicher Verfolgung des Schwarzkünstlers oder auch nur zu der Ermahnung, von solchem Tun künftig abzulassen, sondern gipfelt in dem »begern / daß er jn ein Prob sehen lassen wolt / es solte jhm nichts widerfahren / das verhiesse er bey seiner Keyserlichen Kron«.89 Auf Wunsch des Kaisers, der darüber sinniert, »wie vor mir meine Voreltern vnd Vorfahren in so hohen Grad vnd Authoritet gestiegen« und deswegen den »Lucern ————— 86
87 88 89
Vgl. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, Quellentexte, Nr. 29, 30 u. 31, S. 254-257. Als Prätext kommen alle drei Texte in Frage, denn alle sind nachweislich vom Autor der Historia benutzt worden. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 77. Faustbuch, ed. Müller, S. 923. Ebd. Ebd., S. 77.
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Individualität: Fausts Sozialbeziehungen
vnd Zierd aller Keyser« Alexander den Großen zu sehen begehrt, lässt Faustus Alexander und dessen Frau Roxane leibhaftig vor dem Kaiser auftreten.90 Entscheidend ist hierbei die Differenz in der Reaktion des Kaisers gegenüber Lercheimers Darstellung. Bei Lercheimer ist Maximilian von der Erscheinung seiner verstorbenen Gattin derart berührt, dass ihn das Grauen packt: Da ist den Keyser ein grauwen ankommen / hat dem Abt gewincket / er sol das Gespenst weg thun: vnd darnach mit zittern und zorn zu jhm gesprochen: Mönch / mache mir der Possen keine mehr: vnd hat bekannt wie schwerlich vnnd kaum er sich habe enthalten / dass er jhr nicht zu redete. Wann das geschehen were / so hette jhn der böse Geist vmbbracht. Darauff wars gespielt: aber Gott hat den frommen Gottsförchtigen Herrn gnediglich behüt vnd gewarnet / dass er hinnfort solcher schauwspiele müssig gienge.91
Durch den im Erzählerkommentar eingefügten Hinweis auf das Ziel der Beschwörung, nämlich den Kaiser durch den Bruch der kaum einzuhaltenden Schweigebedingung zu töten, wird das Exempel von der Erzählung eines harmlosen, wenn auch verbotenen Sinnestäuschungszaubers in den Bereich des Schadenszaubers verschoben. Eine solche Konnotation fehlt in der Historia völlig; weder schaltet sich der Erzähler mit einem kritischen Kommentar ein, noch ist der Kaiser irritiert oder zornig, und schon gar nicht ist von einem heimtückischen Anschlag auf sein Leben die Rede. Der Bezugsrahmen bleibt in der Narration rein innerweltlich; der Kaiser zeigt sich von dem Spektakel überaus erfreut und betrachtet es als beachtliche Leistung, mit der Faustus den ihm vorauseilenden Ruf bestätigt. Als Faustus sich vom Hof verabschiedet, wird »jhme beneben der Keyserlichen / vnnd anderer mehr Schanckungen / aller guter Willen bewiesen«.92 Die Möglichkeit, die Reputationskarriere im Glanze des Kaisers erstrahlen zu lassen, hat hier die in den Quellen vorgegebene konträre Möglichkeit, sie unter dem Aspekt sündhafter Transgression zu stellen, nahezu vollständig absorbiert.93 Damit ist eine Anschlussmöglichkeit eröffnet, die in den nachfolgenden Faustbüchern offenbar bedenkenlos wahrgenommen worden ist. Die englische Übersetzung der Historia hat den Aspekt der Reputationskarriere noch verstärkt, indem der Erzähler schon zu Beginn der Episode betont, dass Faustus nicht nur an den Hof eingeladen, sondern »even in the presence of ————— 90 91 92 93
Ebd., S. 78. Lercheimer, Christlich Bedencken, ed. Binz, S. 257; der Text findet sich auch in: Historia, ed. Füssel/Kreutzer, Quellentext 31, S. 257. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 80; Faustbuch, ed. Müller, S. 927. Frank Baron (Faustus on Trial, S. 101) interpretiert dagegen die Stelle als implizite Kritik an Karl V., »a persistent opponent of Luther and an enemy of Lutherans«. Die dieser Einschätzung zugrundeliegende binäre Codierung zweier gegnerischer ideologischer Lager, von denen das eine zur Diskreditierung durch den Teufelsbündner freigegeben ist, geht jedoch an vielen Stellen nicht auf. Schon das Studium in Wittenberg kann so nicht erklärt werden.
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Die Semantik von Karriere
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the emperor« empfangen worden sei.94 Und auch das Gespräch mit dem Kaiser ist dahingehend transformiert, dass Karl nicht mehr mit kritischem Unterton bemerkt, was ihm über Faustus bekannt sei, sondern ungehemmt lobend erklärt, »I have heard much of thee, that thou art excellent in the black art, and none like thee in mine empire«95, um dann noch hinzuzufügen, wenn die Beschwörung gelinge, »I may say I have my long desire fulfilled, and to praise thee to be a famous man in thine art and experience«.96 Auch Georg Rudolff Widman hat sich dieser Reputationssteigerungslogik nicht entzogen, sondern ihr zusätzlich einen weiteren Aspekt hinzugefügt.97 Er hat das Kapitel weitgehend unverändert übernommen, ohne den Kommentar für eine Kritik an Fausts Zaubereien oder der Wundersucht des Kaisers zu nutzen. In den beiden anschließenden, neu hinzugefügten Kapiteln hat er sogar eine Reziprozität der Gaben zwischen Faustus und dem Kaiser hergestellt, die der Karrieresemantik eine neuerlich verstärkende Facette hinzufügt. Weil sich der Kaiser Faustus gegenüber »mit einer verehrung erkent«, »hat sich D. Faustus auch wiederumb gegen jm danckbarlich verhalten« und dem Kaiser ohne Ankündigung einen bezaubernden Garten, einen locus amoenus, in sein Schlafgemach gezaubert. Auf Nachfrage des Kaisers, ob er der »Gärtner« gewesen sei, entgegnet Faustus, er habe sich wegen der stattlichen Verehrung, mit der ihn seine Key. Mey. bedacht habe, dankbar erzeigen müssen, »darob Key. M. ein wolgefallen hat getragen«.98 Diese Episode wird im Anschluss noch einmal strukturell wiederholt, indem Faustus bei einem anschließenden Bankett ein schönes Gewölk in den Saal zaubert, das die Hofgesellschaft ebenso erschreckt wie entzückt.99 Der so erfolgte Gabentausch zwischen dem Schwarzkünstler und dem Kaiser stellt eine Ebene der Reziprozität zwischen beiden her, welche die Rangunterschiede punktuell zum Verschwinden bringt und somit aus dem Teufelspakt ein innerweltliches Karrierevehikel ersten Ranges macht. Das funktioniert freilich nur, weil die Anforderungen der Transzendenz zugunsten der Immanenz an dieser Stelle zurückgestellt werden. Die Sündhaftigkeit der Transgression durch ————— 94 95 96 97
98 99
English Faustbook, ed. Jones, S. 147. Ebd. Ebd. Vgl. Widman, Warhafftige Historien, II, S. 70f. Widman übernimmt das Kapitel nahezu unverändert, die einzige explizite Korrektur erfolgt in einer Marginalglosse, in der er unter Berufung auf das »rechte Original« der Historie darauf hinweist, dass es sich bei dem Kaiser nicht um Karl, sondern um Maximilian gehandelt habe. Auch diese Marginalglosse spricht gegen Barons These, Karl V. habe mit der Erzählung diskreditiert werden sollen, denn Maximilian erfreute sich bei den Protestanten größter Wertschätzung, und Widman hat sich durch diese Umbesetzung keineswegs davon abhalten lassen, die Geschichte zu übernehmen und sie sogar noch auszudehnen. Widman, Warhafftige Historien, II, S. 78. Ebd., II, S. 79f.
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Individualität: Fausts Sozialbeziehungen
Teufelspakt und Teufelszauber ist zwar nicht vergessen oder gar negiert, aber sie wird momenthaft von der Faszination der Reputationskarriere überlagert. Damit könnte durchaus Kritik an der Leichtfertigkeit des Adels und der Vernachlässigung obrigkeitlicher Verpflichtungen durch den Kaiser geübt werden, aber weder die Narration noch der ausführliche Kommentar bei Widman geben darauf irgendeinen Hinweis. Vielmehr hat die Vorstellung des phänomenalen Erfolges bei Hofe die sündhaft transgressiven Aspekte der Geisterbeschwörung so sehr beiseite gedrängt, dass sie nahezu vollständig aus deren narrativer Logik herausfallen. Die Semantik der Karriere tritt damit zeitweilig an die Stelle der Semantik von Heil und Verdammnis, ohne dass dies auf der Ebene der Diegese noch einmal harmonisiert würde.
Begehren, Liebe und Ehe Es gibt jedoch eine Ebene innerhalb der Erzählung, welche die Karriere nicht zu ersetzen vermag: die Ebene von Liebe, Ehe und Familie und damit zugleich die Verknüpfung von Sexualität, Emotionalität und sozialer Stabilität.100 Erst im letzten Jahr seiner vierundzwanzigjährigen Paktzeit und damit in seinem letzten Lebensjahr unterhält Faustus – neben der zu Mephostophiles – eine Beziehung, die als emotional relevant und als eheähnlich beschrieben wird: die zu Helena, die er Jahre zuvor schon einmal für die Wittenberger Studenten am Weißen Sonntag bei Gelegenheit eines von Wein angeregten Tischgesprächs »von scho֏nen Weibsbildern« heraufbeschworen hatte. Im Verlaufe des Gesprächs hatte einer der Studenten geäußert, »daß er kein Weibsbild lieber sehen wollte / dann die scho֏ne Helenam auß Graecia / derowegen die scho֏ne Statt Troia zu grund gangen were«.101 Daraufhin hatte Faustus angeboten, sie heraufzubeschwören, was von den Studenten mit Begeisterung aufgenommen wurde. Die Beschwörung Helenas ist ein in der Literatur des 16. Jahrhunderts häufig wiederkehrendes Motiv.102 Als Prätext für die Beschwörung Helenas in der Historia dürfte die Beschreibung ihrer Beschwörung am Hofe Kaiser Maximilians durch Johanntes Trithemius bei Hans Sachs gedient haben. Seine Beschreibung folgt ganz dem Muster der rhetorischen descriptio a capite ad calcem: ————— 100 Grundsätzlich zu dieser Verknüpfung in unterschiedlichen Diskursen der Vormoderne vgl. Schnell, Sexualität und Emotionalität. Zur Ehe als sexueller und sozialer Gemeinschaft vgl. insbesondere S. 97-117. 101 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 97; Faustbuch, ed. Müller, S. 947. 102 Vgl. Classen, Helena.
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Begehren, Liebe und Ehe
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Bald tratt nach dem in saal hinein Helena, die schön königein, In einem schönen güldin stück, Het umb ihr haupt köstlich geschmück Von gold, perlein und edlem gstein, Güldin ketten und halsband rein. Ir angesicht und alle glidmas So adelich gebildet was, Samb wers abgestigen von himeln, Ein gürtel von klingenden zimmeln Der het umbfangen iren leib, In summa das aller-schönst weib, Freundlicher, holdseliger gstalt, Geiler art, doch der jar nit alt, Ir äuglein zwintzerten von fern Geleich dem hellen morgenstern; Zwischn augbrahen het sie ein mäßlein, Ein roten mund, ein kleines näslein, Stund also höflich wolgethan Und sah den Kaiser frölich an. Der saß in heimlich grossem wunder und beschawt sie mit fleiß besunder Von den füssen bis an das haubet, Endlich zu weichen ir erlaubet; Zuhand sie auß dem kreis thet prangen. 103
Sachs’ rhetorisch geordnetes Beschreibungsmuster verhindert freilich den Effekt, den es erzeugen soll: Der Kaiser bestaunt sie zwar, aber er bleibt affektiv unberührt und verfällt weder in Begehren noch in Liebe. Affektiv berührt wird er erst durch den Auftritt seiner verstorbenen Gemahlin Maria von Burgund, die ihn »sehnlich anblicket, Dadurch im keyser sie erquicket / Sein brünstig lieb«.104 In der Historia dagegen ist die Beschreibung Helenas auf das von ihrer Erscheinung ausgelöste Begehren ausgerichtet: Diese Helena erschiene in einem ko֏stlichen schwartzen Purpurkleid / jr Haar hatt sie herab hangen / das scho֏n / herrlich als Goldfarb schiene / auch so lang / daß es jr biß in die Kniebiegen hinab gienge / mit scho֏nen Kollschwartzen Augen / ein lieblich Angesicht / mit einem runden Ko֏pfflein / jre Lefftzen rot wie Kirschen / mit einem kleinen Mu֏ndlein / einen Halß wie ein weisser Schwan / rote Ba֏cklin wie ein Ro֏ßlin / ein vberauß scho֏n gleissend Angesicht / ein la֏nglichte auffgerichte gerade Person. Jn summa / es war an jr kein vnta֏dlin zufinden / sie sahe sich allenthalben in der Stuben
————— 103 Hans Sachs, Werke, Bd. 20, S. 486. 104 Ebd.
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Individualität: Fausts Sozialbeziehungen
vmb / mit gar frechem vnd bu֏bischem Gesicht / daß die Studenten gegen jr in Liebe entzu֏ndet waren / […].105
Während sich bei Hans Sachs die Beschreibung von Helenas Schönheit innerhalb der Semantik adeliger Schönheitskonventionen bewegt, in denen körperliche Merkmale und Schmuck eine unauflösliche Einheit bilden, ist die Helena der Historia jedes äußerlichen Schmucks entkleidet. Auch ihr Haar trägt sie, bürgerlicher wie adliger Konvention widersprechend, offen und erscheint – ein Eindruck, der durch die Tier- und Blumenvergleiche (»Halß wie ein Schwan / rote Ba֏cklin wie ein Ro֏ßlin [i. e. Röslein, MM]«) noch verstärkt wird – als ideale männliche Beute. Sie gebärdet sich aber weder höfisch, wie bei Hans Sachs (»Stund also höflich wolgethan / Und sah den Kaiser frölich an«), noch als Beute, sondern sieht sich selbstbewußt »in der Stuben vmb / mit gar frechem vnd bu֏bischem Gesicht«. 106 In dieser ersten Beschwörung ist Faustus jederzeit Herr der Lage und Herr seiner selbst, während »die Studenten nit wusten / ob sie bey jhnen selbsten weren oder nit / so verwirrt vnd innbru֏nstig waren sie«.107 Zwar hält dieser Erregungszustand nicht lange an, »weil sie es aber fu֏r einen Geist achteten / vergienge jhnen solche Brunst leichtlich«,108 aber er kehrt zurück, denn »als sie zu Betth kommen / haben sie vor der Gestalt vnd Form / so sie sichtbarlich gesehen / nicht schlaffen ko֏nnen«109. Während also die Studenten ihr Begehren nicht mehr kontrollieren können, betrachtet Faustus das Spektakel mit großer Gelassenheit. Er ist sich des illusorischen Charakters von Helena bewusst und bleibt deshalb affektiv unberührt.110 Das ändert sich jedoch bei Helenas zweiter Erscheinung in seinem letzten Lebensjahr. Um das zu verdeutlichen, markiert der Erzähler den Übergang von der Wahrnehmung der Illusion zur illusionären Wahrnehmung durch die Fokalisierung auf Faust. Zunächst bittet Faustus Mephostophiles, »er sollte jm die Helenam darstellen / die seine Concubina seyn mo֏chte«,111 aber gleich danach macht der Erzähler in wenigen, auf Faustus fokalisierten Worten deutlich, dass es diesem nicht gelingt, das Bewusstsein ihres bloßen ›Dargestelltseins‹ aufrechtzuerhalten: ————— 105 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 97f.; Faustbuch, ed. Müller, S. 947. 106 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 97; Faustbuch, ed. Müller, S. 947. In seinem Stellenkommentar hat Jan-Dirk Müller dazu angemerkt, die im Vergleich mit Hans Sachs weit eindringlichere Beschreibung der Historia von Helenas Schönheit münde in ihre »Denunziation als Dirne«. Vgl. Faustbuch, ed. Müller, Stellenkommentar, S. 1419. Es scheint mir jedoch fraglich, ob diese Konnotation so eindeutig aufgerufen wird. 107 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 97; Faustbuch, ed. Müller, S. 947. 108 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 98; Faustbuch, ed. Müller, S. 948. 109 Ebd. 110 Vgl. Kraß, »Ein sehr herrlich Gestalt eins Weibsbilds«, S. 243. 111 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 110; Faustbuch, ed. Müller, S. 963 (Hervorhebung MM).
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Begehren, Liebe und Ehe
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Als nun Doct. Faustus solches [die Helenam] sahe / hat sie jhm sein Hertz dermassen gefangen / daß er mit jhr anhube zu Bulen / vnd fu֏r sein Schlaffweib bey sich behielt / die er so lieb gewann / daß er schier keinen Augenblick von jr seyn konnte / Ward also in dem letzten jar Schwangers Leibs von jme / gebar jm einen Son / dessen sich Faustus hefftig frewete / vnd jhn Iustum Faustum nennete.112
Diese Fokalisierung zeigt, dass Faustus, anders als die Studenten, nicht nur von seinem durch den Anblick Helenas ausgelösten Begehren überwältigt, sondern auch emotional berührt wird, denn er gewinnt sie »so lieb«, »daß er schier keinen Augenblick von jr seyn konnte«.113 Daran wird dreierlei erkennbar: Zum einen, dass Faustus seine Affekte nicht mehr auf der Höhe seines Wissens halten kann und wie vordem die Studenten zum Opfer der von ihm selbst initiierten Darstellung wird. Zum anderen, dass die Gestalt der Helena bei Faustus nicht nur Begehren, sondern auch Liebe und damit einen Drang nach einer emotional stabilen Verbindung auslöst. Und schließlich, dass mit dieser emotionalen Stabilität offenbar auch der Wunsch nach sozialer Verbindlichkeit und genealogischer Kontiniutät verbunden ist, was dadurch markiert wird, dass Faustus sich über seinen Sohn über alle Maßen freut und ihn – quasi als Gegenmodell zu sich selbst – »Iustus Faustus« nennt. Damit fallen drei Aspekte von Fausts Individualität zusammen, die zuvor in der Historia voneinander separiert waren: Begehren, Liebe, Ehe.114 Diese Separierung von Begehren, Liebe und Ehe ist das Ergebnis des ersten Konflikts zwischen Faustus und Mephostophiles nach dem Paktschluss. Weil Faustus seiner sexuellen Begierde ausgeliefert ist (»Doctor Faustus lebt also im Epicurischen Leben Tag vnd Nacht / […] / vnnd stach jhn seine Aphrodisia Tag vnd Nacht«115), beschließt er, zu heiraten. Dabei hat er allerdings keine konkrete Person vor Augen. Fausts Begierde ist kein gerichtetes Begehren. Es ist zwar heterosexuell codiert, aber er begehrt nicht eine bestimmte Frau, sondern die Befriedigung seines Begehrens. Dennoch bewegt sich Faustus damit zurück in den Rahmen lutherisch legitimierter Ausübung von Sexualität, die nur unter der Bedingung des Teufelsbundes als verbotene Überschreitung gilt. Luther begründet seine Ehe————— 112 Ebd. (Hervorhebung MM). 113 Auf die Verbindung zwischen der ersten und der zweiten Helenaszene sowie die Veränderung von Fausts Wahrnehmung hat auch Andreas Kraß verwiesen, er betrachtet sie jedoch in beiden Fällen ausschließlich als sexuell motiviert: »Im ersten Fall agiert Faustus als souveräner Meister, der Helena erscheinen lässt, um das Begehren seiner Schüler zu stillen, ohne selbst affektiv beteiligt zu sein. Im zweiten Fall hingegen ist Faust Sklave seiner Wollust; nun ist es der Teufel, der Helena erscheinen lassen muss, um das Begehren seines zunehmend verzweifelten Paktgenossen zu erfüllen.« (Kraß, »Ein sehr herrlich Gestalt eins Weibsbilds«, S. 245). 114 Zur diskursiven Verbindung von Sexualität und Emotionalität sowie der Kombination beider mit der Ehe vgl. Schnell, Sexualität und Emotionalität, bes. S. 227-255. 115 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 27; Faustbuch, ed. Müller, S. 860.
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Individualität: Fausts Sozialbeziehungen
konzeption nicht aus der Liebe, sondern aus dem Begehren.116 Die cupiditas ist Bestandteil der von Gott geschaffenen Ordnung und kann daher nicht überwunden oder durch Askese kontrolliert werden. Sie überwinden zu wollen, verstößt sowohl gegen die göttliche Ordnung als auch gegen die Gesetze der Natur, denn Gott selbst hat die Ehe eingesetzt. Die Ehe ist nicht in erster Linie gedacht, die Fortpflanzung zu sichern oder zwei Liebende zu verbinden, sondern einen legitimen Ort für die Befriedigung des Begehrens zu schaffen. »Luthers Sexualethik ist Ethik der Ehe.«117 Luther hat seine Sexualethik in erster Linie in Abgrenzung vom Mönchtum entwickelt. Das monastische Ideal von Keuschheit und Askese begriff er einerseits als Form der Selbstheiligung, andererseits bestritt er, dass es möglich sei, das Begehren zu unterdrücken. Vielmehr führe der Versuch dazu, dass der Teufel den Menschen in sein »Hurennetz« treibe. Luther wie auch die anderen protestantischen Kritiker des Mönchsstands betrachteten das monastische Leben als eine widernatürliche Einrichtung, die überhaupt erst das maßlose Begehren schaffe.118 Von daher ist es doppelt determiniert, dass Mephostophiles auf Fausts Heiratswunsch äußerst ungehalten reagiert und ihn auf den Pakt hinweist, in dem er allen Menschen abgesagt habe.119 Die Figur des Teufels im Mönchskostüm markiert sowohl eine Kritik am Mönchtum als auch an der teuflischen Hintertreibung der Ehe.120 Neben dieser Kritik am Mönchtum zeigt sich in der Auseinandersetzung zwischen Faustus und Mephistophels erstmals, dass Fausts Transgression gegenüber gesetzten Normen keineswegs auf die christliche Ordnung beschränkt ist. Auf den Hinweis, er könne nicht heiraten, weil er allen Menschen Feind sein müsse, reagiert er nämlich nicht mit der Einsicht in die ihm aufgegebenen Bedingungen, sondern mit einer Analyse der Intentionen des als Mönch auftretenden Mephostophiles und kommt zu dem Ergebnis, es sei eben die Art der Mönche, die Ehe zu verbieten, woraus er den dem Teufel selbstbewusst entgegengehaltenen Schluss zieht: »Nun wil ich mich Verehlichen / es folge drauß gleich was es wo֏lle.«121 Das Spektakel, das Mephostophiles daraufhin veranstaltet, steht in scharfem Gegensatz zu seiner ersten Inszenierung: Flammen schlagen durch das Haus, so dass Faustus meint, verbrennen zu müssen und seinen frechen Auftritt bitter bereut. Faustus muss in der Historia auf dem Gebiet der Sexualität von Mephostophiles also erst zur Transgression gezwungen wer————— 116 117 118 119 120 121
Vgl. Walter, Unkeuschheit und Werke der Liebe, S. 109-112. Suda, Die Ethik Martin Luthers, S. 161. Vgl. Walter, Unkeuschheit und Werke der Liebe, S. 172-175. Vgl. Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 28; Faustbuch, ed. Müller, S. 861. Vgl. Tacconelli, Faust, S. 24. Ebd.
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Begehren, Liebe und Ehe
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den. Sein ›natürlicher‹ Impuls besteht zunächst darin, einen legitimen Ort für die Ausübung seines sexuellen Begehrens zu suchen. Es ist daher nicht das Begehren an sich, das Faust negativ auszeichnet, sondern erst dessen durch den Teufel erzwungenes transgressives Ausleben: Wo du hinfu֏ro in deiner Zusagung beharren wirst / sihe / so will ich deinen Wollust anders ersa֏ttigen / daß du in deinen Tagen nichts anders wu֏nschen wirst / vnd ist dieses: So du nit kanst Keusch leben / so will ich dir alle Tag vnd Nacht ein Weib zu Bett fu֏hren / welche du in dieser Statt oder anderßwo ansichtig / vnd die du nach deinem Willen zur Vnkeuschheit begeren wirst / Jn solcher Gestalt vnnd Form sol sie bey dir wohnen. Dem D. Fausto gieng solchs also wol ein / daß sein Hertz fu֏r frewden zitterte / vnd rewte jn / was er anfa֏nglich hatt fu֏rnemmen wo֏llen / Geriehte auch in eine solche Brunst vnd Vnzucht / daß er Tag vnnd Nacht nach Gestalt der scho֏nen Weiber trachtete / daß / so er heut mit dem Teuffel Vnzucht triebe / Morgen einen andern im Sinn hatte.122
Die damit eingeschlagene Bahn der Teufelsbuhlschaft, die in den Hexen- und Zaubererprozessen eines der entscheidenden Delikte war, spielt für die Kommunikation zwischen Faustus und Mephostophiles jedoch im Weiteren keine große Rolle.123 Sie wird angesprochen, Faustus wie ein verwerfliches Ettikett aufgeklebt und taucht dann nur noch gelegentlich auf, wenn der Teufel sie als Mittel gebraucht, um Faustus von Gedanken an Gott abzulenken: Zu dem / wann er schon allein war / vnd dem Wort Gottes nachdencken wollte / schmücket sich der Teuffel in gestalt einer schönen Frawen zu ime / hälset jn / vnd trieb mit jm all Vnzucht / also daß er deß Göttlichen Worts bald vergaß / vnd in Wind schluge / vnnd in seinem bösen Fürhaben fortfuhre.124
Danach verschwindet sie – mit der Ausnahme von Fausts Auftritt beim Sultan in Konstantinopel, dessen Harem er beschläft – weitgehend aus der Erzählung. Sie wird erst wieder erwähnt, als Fausts Lebensfrist sich dem Ende nähert: Als Doctor Faustus sahe / daß die Jahr seiner Versprechung von Tag zu Tag zum Ende lieffen / hub er an ein Säuwisch vnnd Epicurisch leben zu führen / vnd berüfft jm siben Teufelische Succubas / die er alle beschlieffe / vnd eine anders denn die ander
————— 122 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 29; Faustbuch, ed. Müller, S. 862. 123 Barbara Becker-Cantarino (Dr. Faustus and Runnagate Courage, S. 28) hat daraus geschlussfolgert, Frauen würden in der Historia nur als »morally inferior, demonic objects« erscheinen und daraus auf eine misogyne Grundhaltung geschlossen. Das scheint mir jedoch nicht überzeugend, da die Frauengestalten hier lediglich als Extension von Fausts Begehren fungieren, was jedoch nicht heißt, dass daraus auf eine allgemein gültige Haltung des Verfassers geschlossen werden könnte. 124 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 42; Faustbuch, ed. Müller, S. 879.
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Individualität: Fausts Sozialbeziehungen
gestalt war / auch so trefflich schöne / daß nicht davon zu sagen […] mit denselbigen Teuffelischen Weibern triebe er Vnkeuscheit / biß an sein Ende.125
Trotz der Performativität des letzten Satzes (»triebe er Vnkeuscheit / biß an sein Ende«), der Faustus noch einmal radikal auf das Begehren zu reduzieren scheint, fungiert er als Einleitung für den re-entry der Verbindung von Begehren, Liebe und Ehe im nachfolgenden Kapitel, dem letzten Kapitel des dritten Teils. Widman hat dagegen Fausts Sexualleben nahezu vollständig ausgeschieden. Das ist umso erstaunlicher, als Faustus mit der Inklusion in einen katholischen Kontext, der Widman Gelegenheit gibt, ausführlich über das Zölibat zu räsonieren, eigentlich gerade bei ihm deutlich in seiner Verwerflichkeit markiert hätte sein sollen.126 Seine Ausführungen hierzu bleiben jedoch allgemein: Vnd ist hierrauff gar wol zu glauben / das der Teuffel dem Ehestand fein vnd gehessig sey. Denn wie hat er doch die geistlichen im Bapstthumb also getrieben / das sie gantz schendtlich von dem Ehestandt geschrieben / darzu haben die geistlichen / wie noch / den Ehestand verboten vnd dargegen zugelassen / das Gottlose wesen des Celibats / denn darumb verbeuth der Bapst die Ehe / vnnd gebeut keuscheit / da mit die hurerey vnd Ehebruch / die zuvor von Gotten verbotten sein / in vollem schwang gahen mu֏gen.127
Im Hinblick auf Faustus bemerkt Widman lediglich in einer »Erinnerung an den Leser«, dass der Teufel Faustus »in sein hellisch / abschewlich Hurennetz gejagt«128 habe. Ansonsten aber umgeht er den Bereich von Fausts Sexualität, was er in einer separaten Erinnerung gesondert begründet: Ich mag den Christlichen Leser nicht fürenthalten / das ich an diesem orte etliche Historien von D. Johanne Fausto gefunden / welche ich auß hochbedencklichen Christlichen vrsachen nicht hab hieher setzen wollen / als / das jhn der Teuffel noch fortan vom Ehestandt abgehalten / vnd in sein hellisch abschewlich Hurennetz gejagt / jm auch die Helenam auß der hellen zur beyschlefferin zugeordnet hat / die jhm auch fürs erst ein erschrecklich monstrum / vnnd darnach einen Sohn mit namen Justum gezehlet / wie er auch seine lufftfahrt [Luftfahrt, Reisen…]. Weil ich erachtet / das ich solchs ohne beleidigun zu֏chtiger ohren vnd hertzen nich wol erzehlen köndte […].129
Pfitzer schließt sich Widman einerseits an, indem er erklärt, Faustus habe »die Wollust deß Fleisches für sein höchstes Gut gehalten«130 und diese »Wollust deß Fleisches ist eben die Ursach gewesen, daß sich Faustus dem ————— 125 126 127 128 129 130
Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 109; Faustbuch, ed. Müller, S. 962. Vgl. Widman, Warhafftige Historien, II, S. 131. Ebd. Ebd., II, S. 135. Ebd. Vgl. heirzu Maria E. Müller, Poiesis und Hexerei, S. 68. Pfitzer, Das ärgerliche Leben, S. 512.
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Begehren, Liebe und Ehe
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Teuffel mit Leib und Seel ergeben«.131 Andererseits führt er erstmals eine konkrete Figur als Ziel von Fausts Begehren ein: Er ersahe aber zur Zeit in seiner Nachbarschaft eine ziemlich schöne doch arme Dirne, welche von dem Land herein in die Stadt kommen, und sich in Dienste begeben bey einem Kramer; diese gefiele nun D. Fausto über die Massen wol, daß er nach ihr auf allerley Weise und Wege getrachtet, und sie zu einer Beyschläfferin haben wollen; sie hat aber niemals, was man ihr auch versprechen lassen, in seinen sündlichen Willen einwilligen wollen, sondern jederzeit ihre Ehre vorgeschützet, er fieng an was er wollte, kunte er doch nichts bey ihr erhalten oder ausrichten, er nehme sie denn zur Ehe; welches ihm dann seine guten Brüder und Freunde riethen: Der Geist Mephostophiles aber, als er dieses vermerckt, sprach unverzüglich zu D. Fausto, was er nunmehr, da die versprochenen Jahre aber bald zu Ende seyn würden, aus ihm selbst machen wolle? Er soll gedencken an seine Zusage und Versprechen, zudem so könne er sich in keinen Ehestand einlassen, dieweil er niht zwey Herren zugleich dienen könnte; denn der Ehestand wär ein Werck deß Höchsten, den wir Teuffel aber aufs höchste hassen und verfolgen.132
Weder Widman noch Pfitzer integrieren die Erzählung von Fausts Liebe zu Helena in ihre Erzählung. Damit scheiden sie jedoch nicht nur den Bereich von Fausts Sexualität weitgehend aus, sondern auch entscheidende Aspekte von Fausts Emotionalität. Auch wenn Helenas zweite Beschwörung in der Historia zunächst durch Fausts ungerichtetes sexuelles Begehren ausgelöst wird (»darmit nun der elende Faustus seines Fleisches Lu֏sten genugsam raum gebe«), ist sie mehr als die Illusion eines idealen Objektes der Begierde. In ihrer konkreten Erscheinung ist sie die Extension von Fausts immer drängender werdendem Bedürfnis nach sozialer Nähe und emotionaler Verbundenheit, das einhergeht mit einem auf ein Objekt gerichteten Begehren. Alle drei Aspekte setzen voraus, dass Faustus das Wissen um das bloße Dargestelltsein Helenas und ihres Sohnes nicht aufrechterhalten kann. Der Erzähler markiert diese Illusion nachdrücklich, indem er sie hart mit der Realitätsebene konfrontiert. Den Fokus von Faust ablösend, verdeutlicht der Erzähler dessen Fehlwahrnehmung am Ende des Kapitels mit einem einzigen Satz: »Als er aber hernach vmb sein Leben kame / verschwanden zugleich mit jm Mutter vnd Kindt.«133 Neben der emotionalen Bindung wird der Beziehung damit auch ihre soziale Verbindlichkeit genommen: Helena wie der Sohn, den sie Faust gebärt, sind lediglich vom Teufel dargestellte Schimären, die konsequenterweise mit Fausts Tod wieder verschwinden. Fausts Bedürfnis nach sozialer und emotionaler Verbindlichkeit wird damit drastisch konterkariert, denn es erscheint als ein Bedürfnis, das leer läuft, weil die schimärische He————— 131 Ebd., S. 515. 132 Pfitzer, Das ärgerliche Leben, S. 511. 133 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 110; Faustbuch, ed. Müller, S. 963.
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Individualität: Fausts Sozialbeziehungen
lena gerade nicht soziale Stabilität, sondern lediglich maskierte Isolation zu vermitteln vermag. Das Eheverbot komplettiert damit Fausts Ausschließung aus der Institution der Familie, die mit seinem zunächst noch zustimmend begleiteten Verlassen der Familie zum Zwecke des sozialen Aufstiegs beginnt. Gerade weil es ihn in seinem letzten Lebensjahr dorthin zurückdrängt, wird deutlich, welche Bedeutung die Familie für die Individualität des Individuums hat: Sie sichert seine Identität und garantiert seine genealogische Kontinuität. Jenseits aller anderen Institutionen und Rollen weist sie dem Individuum einen Platz in der Welt zu, in dem es nicht auf seine jeweilige Rolle reduziert wird, sondern in der Verbindung von Institutionalität, Emotionalität und Sexualität als ganze Person wahrgenommen wird. Diese Sicherungsmechanismen führt der Erzähler freilich nur ein, um sie zu destruieren. Ihre Funktion besteht darin, Fausts Isolation mit einer letzten und definitiven Markierung zu versehen. Deutlicher noch als in der Historia betont der Erzähler in der Wolfenbütteler Handschrift, Helena habe sich nur zum Schein aufgeblasen »als ob sie Schwanger ging«.134 Im Hinblick auf die Institution der Ehe bleibt Faustus ein Außenseiter. Es ist daher konsequent, dass Helenas zweiter Auftritt in der Historia unmittelbar vor Fausts letztem Lebensjahr erfolgt. Helena und der »Son / dessen sich Faustus hefftig frewete / vnd jhn Iustum Faustum nennete«,135 fungieren als Zeichen von Fausts vollständiger Isolation, mit der das letzte Jahr eingeleitet wird. Welche Spannungen sich daraus zwischen der Ebene des Kommentars und der Narration ergeben, verdeutlicht neben Widman und Pfitzer auch der Reimfaust. In mehreren Marginalglossen macht der Verfasser (oder auch der Drucker) klar, dass er den affektiven Aspekt und damit auch den Aspekt der Sinnestäuschung gegenüber Fausts Wollust für unwesentlich hält und betont allein Letztere: »D. Faust hengt allein den hu֏rischen wollu֏steɏ nach in seinem letzten jar«, »D. Faust schlafhur«,136 »Der teufel reitzt faustum an zu hurerey / in dem er sich verwandelt in die Helenam«137 Auf der Ebene der histoire selbst wird der affektive Aspekt aber durchaus betont: »Er liebet si so offt vnd dick / Das er auch schier kein augenblick / kundt von jr sein noch von jr kommen: / So gar hatt er sie liebgewonnen.«138 Letztlich bleiben schon in der Historia die Liebe Fausts zu Helena und die Behauptung, er habe schier keinen Augenblick ohne sie sein können, narrativ folgenlos, denn Helena wird mit dem Hinweis, es seien bei Fausts Tod »zugleich mit jm Mutter vnd kindt« verschwunden, sogleich wieder aus der Er————— 134 135 136 137 138
Wolfenbütteler Handschrift, ed. Haile, S. 90. Ebd. Reimfaust, ed. Mahal, S. 242. Ebd., S. 243. Ebd.
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Begehren, Liebe und Ehe
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zählung entfernt. Der einzige Kontakt, den Faustus anschließend noch hat, ist der zu einem Notar und »etliche[n] Magistros«139, die als Zeugen für sein Testament eingesetzt werden, in dem er Wagner alle seine Güter vermacht. Danach ist Faustus in der Historia und den enger an sie angelehnten Hypotexten allein. Aus allen sozialen Beziehungen gelöst, ist er auf sich selbst zurückgeworfen.
————— 139 Historia, ed. Füssel/Kreutzer, S. 111; Faustbuch, ed. Müller, S. 964.
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8. Faustus der melancholicus
Wenn Faustus sich am Ende der ihm vom Teufel zugemessenen Frist auf sich selbst zurückzieht, ist er nicht nur von der Gesellschaft isoliert, sondern tritt in einen Dialog mit sich, mit seinen Intentionen, seinen Affekten und seinen Emotionen wie Angst und Verzweiflung. Wie bereits die beiden vorigen Kapitel über die identitären Aspekte der Semantik von curiositas und die Ausprägung von Fausts Individualität durch die Kommunikation mit Mephostophiles gezeigt haben, sind die Affekte Traurigkeit, Angst und Verzweiflung aber nicht auf den Schluss begrenzt, sondern begleiten Faustus seit der Beschwörung des Teufels. Das English Faustbook etwa schildert bereits im Anschluss an Mephostophiles’ Antwort auf Fausts Frage, wie Lucifer zu Fall gekommen sei, einen der Zustände von Traurigkeit und Schwermut sehr viel ausführlicher als die Historia. Faustus spricht hier auch deutlicher als in der Historia von dem Stolz, der ihn in die Arme des Teufels getrieben habe. Die Selbstanklage ist außerdem rhythmisiert durch das wiederholte Exklamativum »Ah, woe is me«: Doctor Faustus, when he had heard the words of the spirit, began to consider with himself, having divers and sundry opinions in his head: and very pensively (saying nothing unto his spirit), he went into his chamber and laid him on his bed, recording the words of Mephostopheles; which so pierced his heart that he fell into sighing and great lamentation, crying out: ›Alas, ah, woe is me! What have I done? Even so shall it come to pass with me. Am not I also a creature of God’s making, bearing His own image and similitude, into whom He hath breathed the spirit of life and immortality, unto whom He had made all things living subject? But woe is me, mine haughty mind, proud aspiring stomach, and filthy flesh hath brought my soul into perpetual damnation; yeah pride hath abused my understanding, insomuch that I have forgot my maker, the spirit of God is departed from me, I have promised the devil my soul: and therefore it is but a folly for me to hope for grace but it must be even with me as with Lucifer, thrown into perpetual burning fire. Ah, woe is me that ever I was born.‹1
Auch bei Widman finden sich Schilderungen von Verzweiflung, Weinen und Klagen bereits an früheren Stellen. Und auch bei ihm werden sie in der Regel durch Äußerungen von Mephostophiles hervorgerufen, die bei Faustus den Affekt der Angst hervorrufen und ihn gegenüber Mephostophiles ————— 1
English Faustbook, ed. Jones, S. 106 (Hervorhebung im Original).
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