Nachbeben: Begegnungen mit deutschen Lebensgeschichten des 20. Jahrhunderts [1 ed.] 9783428548262, 9783428148264

Die historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ragen wie Nachbeben eines Erdbebens in unsere Zeit hinein. Jede »klein

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German Pages 345 Year 2015

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Nachbeben: Begegnungen mit deutschen Lebensgeschichten des 20. Jahrhunderts [1 ed.]
 9783428548262, 9783428148264

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Nachbeben Begegnungen mit deutschen Lebensgeschichten des 20. Jahrhunderts

Nachbeben Begegnungen mit deutschen Lebensgeschichten des 20. Jahrhunderts

Von Katja Gäbler und Fabian Wehner

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlag: Ruine des Schlosses Schlobitten (Ostpreußen) (© privat, aufgenommen im August 2015) Alle Rechte vorbehalten

© 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: Druckerei Conrad GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-14826-4 (Print) ISBN 978-3-428-54826-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-84826-3 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für meine Großmutter Irmgard Engel, geb. Imlau 27. Dezember 1925 – 17. Oktober 1977 Fabian Wehner

Für alle, die zu früh gestorben sind. Für meinen Vater Michael Gäbler 25. Februar 1959 – 5. Februar 2013 Katja Gäbler

Vorwort Opa kommt mit der Post. Regelmäßig landen Artikel der „Berliner Zei­ tung“ und der „Super Illu“ in meinem Briefkasten. Es geht um Geschichte, um Deutungshoheit, um die DDR. Opa kommt aber auch mit Abenteuerge­ schichten von fremden Ländern. Immer mit Begeisterung, immer mit einer Pointe. Glanz in den Augen, spricht er von seinem Diplomatenleben im Irak und in Ägypten. Unmut, spricht er heute über die Politik der „BRD“, über Weltanschauung. Wir beide wollten immer ein Buch schreiben. Ich sollte fragen, er wollte antworten. Was war denn nun früher? Die DDR. Heißes Eisen. Und immer heißer. Je mehr ich darüber las, desto weniger stimmten meine Gedanken mit denen meines Opas überein. Zu Hau­ se: Eine gänzlich andere Perspektive auf die Geschichte. Streit provozieren? Mein Nachfragen änderte sich, nicht aber so, dass ich ihn angriff. Darf ich eure Akte sehen? Nein, das sei entwürdigend, einen Staat nach seinem Unter­ gang so auszuziehen. Und wozu überhaupt? Das sei Geschichte und für ihn abgeschlossen. Enttäuschung. Wissen, spüren, dass ich da noch etwas nach­ holen muss. Das Thema lässt mich nicht los, und doch führe ich nicht häufig Diskussionen darüber. Zu viel Angst zu verletzen und verletzt zu werden. Die DDR war eine Diktatur, ja. Aber. Und zugleich. Für mich ist sie mehr, auch Heimat meiner Familie. Irgendwie bin ich auch stolz darauf, aus der DDR zu sein, ein Ossi. Etwas anders zu sein, in Heidelberg und Hamburg, ein anderes Gepäck zu haben. Ich will meine Geburt um fünf Jahre nach vorne verschieben. Dann wäre ich Thälmannpionier geworden, immerhin eine Erfahrung mit einer Massen­ organisation. Was hätte das mit mir gemacht, zum Appell antreten, stramm­ stehen? Und überhaupt, die Maueröffnung bewusst erleben. So weine ich, wenn ich die Bilder sehe, weil es mich bewegt und weil ich nicht dabei war. Aber älter als zwölf hätte ich in der DDR nicht werden wollen. Dieser Text bereitet Kopfzerbrechen. Gehe ich zu weit? Trete ich Opa auf den Schlips? So neugierig, so ängstlich. Was steht in den Akten? Was macht das mit mir? Will ich es wissen? Einmal ist es übrigens doch geschehen. Ein Streit. Sehr heftig, sehr laut, ein langer, zwanzigseitiger Brief landete danach in meinem Briefkasten. Mein Opa ist Johannes Oehme. Einen Teil meiner Fragen habe ich ihm für dieses Buch gestellt. Katja Gäbler

8 Vorwort

Ich habe meine Oma Irmgard nie kennengelernt. Trotzdem weine ich, als ich vor den Trümmern ihrer Taufkirche im ehemaligen Ostpreußen stehe. Januar 2011. Das Dorf verschwunden, das Land unter friedlicher Schnee­ decke. Ich weiß, vor 66 Jahren war Krieg, sind sie hier aufgebrochen, fuhr der Zug nach Königsberg und weiter nach Gotenhafen. Um ein Haar auf „die Gustloff“ … Kindheit. Oma Irmgard hätte mich mit ihrem hellblauen VW-Käfer abge­ holt, spannende Ausflüge in den Zoo oder an die Nordsee, erzählte meine Mutter. Da war Oma Irmgard längst gestorben. Geflohen, gelandet in Hamburg-Blankenese, ein neues Zuhause. Eine heile Welt? Milchmann, Elbe, Bullerbü, sonntags ein Riegel Schokolade, erzählte meine Mutter. Seelische Trümmer? Keine Rede davon, aber immerzu hatte Oma Irmgard Magenschmerzen. Wo liegt Ostpreußen, Mama? Irgendwo im Osten. Oma Irmgard musste Blankenese verlassen, Opas Arbeit wegen. Umzug nach Oldenburg, ein zweiter Heimatverlust? Sie hat sich nicht gewehrt, später Magenkrebs, erzählte meine Mutter. Im Oktober 1977 ist Oma Irmgard gestorben. Meine Mutter muss sehr traurig gewesen sein, aber keine Zeit, mein Bruder wuchs in ihrem Bauch. Wegen Magenschmerzen saßen wir oft beim Kinderarzt. Raus. Studium in Greifswald. Ostsee, seltsames zu-Hause-Gefühl, vage Neugier auf das Land weiter östlich, ein Satz in Schleiermachers Monolo­ gen, der haften bleibt: „Immer mehr zu werden was ich bin, das ist mein einziger Wille“. Glieder einer Kette, rückwärts Krebsen um voran zu kom­ men, literarische Umwege. Mit dem Rad durch Polen und das Baltikum, Reiseleiter „Ostpreußisches Bilderbuch“, Hildegard Juhl, Gustloff, das Puzzle setzt sich zusammen. Heute wohne ich in Hamburg-Blankenese, das Haus ganz ähnlich, Hirsch­ park, Elbe, Altes Land. Auf dem Friedhof gieße ich die Blumen. Wessen Geschichte ist das? Meine oder ihre? Bin ich belastet oder bereichert, be­ schränkt oder erweitert? Nicht lange her, da antwortet eine Bekannte auf die Frage, warum sie Freiwilligendienst in Jerusalem, in Yad Vashem mache, ihre Großeltern seien Nazis gewesen, „aber wieso sollte ich versuchen, mich davon zu befreien? Was ich tue, fühlt sich richtig an.“ Fabian Wehner

Vorwort9

Heidelberg, Herbst 2010, wir lesen Ibsen: „Aber, Manders, ich glaube fast, wir alle sind Gespenster. Nicht nur das, was wir von Vater und Mutter geerbt haben, geht in uns um. Es sind alle erdenklichen alten, toten Ansichten und allerhand alter, toter Glaube und so weiter. Es lebt nicht in uns; aber es sitzt uns trotzdem im Blut, und wir können es nicht loswerden. […] Es müssen ringsum im ganzen Lande Gespenster leben. Sie müssen so zahlreich sein, glaube ich, wie Sand am Meer. Und dann sind wir alle so gottsjämmerlich lichtscheu, einer wie der andere.“1 Lichtscheue überwinden, auf die Reise gehen, mit dem Zug ringsumher durchs ganze Land. Überall leben Gespenster, tragen andere Gewänder und Namen, spuken offen oder versteckt, gefährlich, gebändigt, als Last oder Glück. „Reden, unbedingt!“, heißt unsere Parole. Gespenster ans Licht! Die Gespenster der anderen haben uns die eigenen besser verstehen gelehrt. Sollen sie spuken, aber mit offenem Visier!

1  Ibsen, Henrik: Gespenster, in: Ders., Die großen Dramen, Düsseldorf 2006, S. 345.

Inhaltsverzeichnis Prolog: Das Beben und das Nachbeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Zur Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 I. Kindheit Elfriede Brüning

Nie war ich ein Liebling der Kritik. Unsere Schriften galten als Proletkult. . . . . . . . . . . . . . . . 37

Georg Kohtz

Das schlimmste ist, dass der Krieg nicht aufhört.  40

Elisabeth Furtwängler

Ich glaube, ich bin Furtwängler treu geblieben. . . 44

Hans von Seggern

Während der Gefangenschaft wurde die Bibel mein wichtigster Zeitvertreib. . . . . . . . . . . . . . . . . 47

Albert Scheel

Es war ein wunderschöner Abend, kurz vor Todes­ schluss. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

Annelise Pflugbeil

Es war sehr schmerzlich, dass das ganze Hinter­ pommern weg war.  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

Hildegard Leyden

Der Hitler hat mein ganzes Leben verdorben. . . 57

Gottfried Lemberg

Ich habe Nachtangst. Lächerlich, nicht? . . . . . . . 60

Hildegard Juhl

Das Verlässliche, die Erde, die ist weg. . . . . . . . . 63

Hans-Wilhelm v. Bornstaedt Ich bin im Land meines Herkommens wieder ein­ gewurzelt.  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Johannes Runge

Ick kann ut Schmatzin nicht rut. . . . . . . . . . . . . . 74

Walter Steitz

Spontan ist mir Minderwertigkeitskomplex einge­ fallen. Aber damit bin ich nicht zufrieden. . . . . . 78

Friedrich Graf zu Ich habe es nicht brennen sehen, aber jahrzehnteDohna-Schlobitten lang, wie mein Vater, vom brennenden Schloss geträumt.  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Christoph Ackermann

Ich werde noch immer ganz krank, wenn Lebens­ mittel weggeschmissen werden. . . . . . . . . . . . . . . 91

Volkwin Marg

Gleichschaltung zum Rhythmus-Applaus ist mir widerlich, da klatsche ich unwillkürlich gegen an.  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

Johannes Oehme

1989 ist für uns eine Welt zusammengebrochen. . 101

12 Inhaltsverzeichnis Wolf Christian von Wedel Parlow

Meine adlige Familie war tief verstrickt. Diese Erkenntnis hat mich nicht losgelassen. . . . . . . . . 107

Fedja Müller

‚Schuld‘ daran, da zu sein, während mein Vater nicht mehr da war.  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

Frank Tidick

Starke Frauen spielen in meinem Leben eine große Rolle. Das fängt bei meiner Mutter an, die mich auf der Flucht wie eine Löwin beschützt hat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

Michael Naumann

Deshalb ist in der Familie und auch in mir eine Art Aufstiegsdrang erhalten geblieben. Nie wie­ der arm. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

Abt Franziskus Heeremann Der Adel hat etwas Vertrautes für mich, aber richvan Zuydtwyck tig zu Hause bin ich auch dort nicht mehr. Wahr­ scheinlich reicht mir das Kloster. . . . . . . . . . . . . . 124 Sebastian Pflugbeil

Die Leute benahmen sich von einem Tag auf den anderen so, als ob wir in einem freien Land leb­ ten. Und dann war es ein freies Land! . . . . . . . . 127

Peter May

Polizisten sind für mich noch heute ein Stück weit ‚Bullen‘.  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

Gudrun Polak

Christliches Handwerkerkind in der DDR, das ging eigentlich gar nicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 II. Jugend

Elfriede Brüning

Nie war ich ein Liebling der Kritik. Unsere Schriften galten als Proletkult.  . . . . . . . . . . . . . . 139

Georg Kohtz

Das schlimmste ist, dass der Krieg nicht aufhört.  143

Elisabeth Furtwängler

Ich glaube, ich bin Furtwängler treu geblieben.. . 147

Hans von Seggern

Während der Gefangenschaft wurde die Bibel mein wichtigster Zeitvertreib. . . . . . . . . . . . . . . . . 151

Albert Scheel

Es war ein wunderschöner Abend, kurz vor Todes­ schluss. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

Annelise Pflugbeil

Es war sehr schmerzlich, dass das ganze Hinter­ pommern weg war.  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

Hildegard Leyden

Der Hitler hat mein ganzes Leben verdorben. . . . 165

Gottfried Lemberg

Ich habe Nachtangst. Lächerlich, nicht? . . . . . . . 168

Hildegard Juhl

Das Verlässliche, die Erde, die ist weg. . . . . . . . . 173

Inhaltsverzeichnis13 Hans-Wilhelm v. Bornstaedt Ich bin im Land meines Herkommens wieder ein­ gewurzelt.  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Johannes Runge

Ick kann ut Schmatzin nicht rut. . . . . . . . . . . . . . 182

Walter Steitz

Spontan ist mir Minderwertigkeitskomplex einge­ fallen. Aber damit bin ich nicht zufrieden. . . . . . 185

Friedrich Graf zu Ich habe es nicht brennen sehen, aber jahrzehnteDohna-Schlobitten lang, wie mein Vater, vom brennenden Schloss geträumt.  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Christoph Ackermann

Ich werde noch immer ganz krank, wenn Lebens­ mittel weggeschmissen werden. . . . . . . . . . . . . . . 191

Volkwin Marg

Gleichschaltung zum Rhythmus-Applaus ist mir widerlich, da klatsche ich unwillkürlich gegen an.  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

Johannes Oehme

1989 ist für uns eine Welt zusammengebrochen. . 199

Wolf Christian von Wedel Parlow

Meine adlige Familie war tief verstrickt. Diese Erkenntnis hat mich nicht losgelassen. . . . . . . . . 202

Fedja Müller

‚Schuld‘ daran, da zu sein, während mein Vater nicht mehr da war.  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

Frank Tidick

Starke Frauen spielen in meinem Leben eine große Rolle. Das fängt bei meiner Mutter an, die mich auf der Flucht wie eine Löwin beschützt hat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210

Michael Naumann

Deshalb ist in der Familie und auch in mir eine Art Aufstiegsdrang erhalten geblieben. Nie wie­ der arm. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212

Abt Franziskus Heeremann Der Adel hat etwas Vertrautes für mich, aber richvan Zuydtwyck tig zu Hause bin ich auch dort nicht mehr. Wahr­ scheinlich reicht mir das Kloster. . . . . . . . . . . . . . 214 Sebastian Pflugbeil

Die Leute benahmen sich von einem Tag auf den anderen so, als ob wir in einem freien Land leb­ ten. Und dann war es ein freies Land! . . . . . . . . 216

Peter May

Polizisten sind für mich noch heute ein Stück weit ‚Bullen‘.  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Gudrun Polak

Christliches Handwerkerkind in der DDR, das ging eigentlich gar nicht.  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

14 Inhaltsverzeichnis III. Reife Elfriede Brüning

Nie war ich ein Liebling der Kritik. Unsere Schriften galten als Proletkult.  . . . . . . . . . . . . . . 233

Georg Kohtz

Das schlimmste ist, dass der Krieg nicht aufhört.  238

Elisabeth Furtwängler

Ich glaube, ich bin Furtwängler treu geblieben. . 241

Hans von Seggern

Während der Gefangenschaft wurde die Bibel mein wichtigster Zeitvertreib. . . . . . . . . . . . . . . . . 246

Albert Scheel

Es war ein wunderschöner Abend, kurz vor Todes­ schluss. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250

Annelise Pflugbeil

Es war sehr schmerzlich, dass das ganze Hinter­ pommern weg war.  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

Hildegard Leyden

Der Hitler hat mein ganzes Leben verdorben. . . . 257

Gottfried Lemberg

Ich habe Nachtangst. Lächerlich, nicht? . . . . . . . 260

Hildegard Juhl

Das Verlässliche, die Erde, die ist weg. . . . . . . . . 265

Hans-Wilhelm v. Bornstaedt Ich bin im Land meines Herkommens wieder ein­ gewurzelt.  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Johannes Runge

Ick kann ut Schmatzin nicht rut. . . . . . . . . . . . . . 277

Walter Steitz

Spontan ist mir Minderwertigkeitskomplex einge­ fallen. Aber damit bin ich nicht zufrieden. . . . . . 281

Friedrich Graf zu Ich habe es nicht brennen sehen, aber jahrzehnteDohna-Schlobitten lang, wie mein Vater, vom brennenden Schloss geträumt.  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Christoph Ackermann

Ich werde noch immer ganz krank, wenn Lebens­ mittel weggeschmissen werden. . . . . . . . . . . . . . . 288

Volkwin Marg

Gleichschaltung zum Rhythmus-Applaus ist mir widerlich, da klatsche ich unwillkürlich gegen an.  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

Johannes Oehme

1989 ist für uns eine Welt zusammengebrochen. . 296

Wolf Christian von Wedel Parlow

Meine adlige Familie war tief verstrickt. Diese Erkenntnis hat mich nicht losgelassen. . . . . . . . . 301

Fedja Müller

‚Schuld‘ daran, da zu sein, während mein Vater nicht mehr da war.  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

Frank Tidick

Starke Frauen spielen in meinem Leben eine große Rolle. Das fängt bei meiner Mutter an, die mich auf der Flucht wie eine Löwin beschützt hat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311

Inhaltsverzeichnis15 Michael Naumann

Deshalb ist in der Familie und auch in mir eine Art Aufstiegsdrang erhalten geblieben. Nie wie­ der arm. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

Abt Franziskus Heeremann Der Adel hat etwas Vertrautes für mich, aber richvan Zuydtwyck tig zu Hause bin ich auch dort nicht mehr. Wahr­ scheinlich reicht mir das Kloster. . . . . . . . . . . . . . 317 Sebastian Pflugbeil

Die Leute benahmen sich von einem Tag auf den anderen so, als ob wir in einem freien Land leb­ ten. Und dann war es ein freies Land! . . . . . . . . 320

Peter May

Polizisten sind für mich noch heute ein Stück weit ‚Bullen‘.  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326

Gudrun Polak

Christliches Handwerkerkind in der DDR, das ging eigentlich gar nicht.  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

Epilog: Vom Beben und Nachbeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 Bildnachweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344

Prolog Das Beben und das Nachbeben Valdivia / Chile, 22.  Mai 1960 Das Erdbeben kam an einem Feiertag. Da hat es gewackelt. Dann fielen gleich die Möbel um und ich hab noch gerufen, wir sollen doch nicht raus, wir sollen doch bleiben. Das Geschirr fiel runter und Blumentöpfe fallen und da bin ich raus, raus bis auf die Straße, in totaler Panik. Ich bin gleich hingefallen. Das wackelte dermaßen, dass man nicht stehen konnte. Auf den Häusern waren Wassertanks, die schwappten hin und her. Schwapp, Schwapp, Schwapp. Und dann hat man schon diese Wellen gesehen, immer die Straße hoch. Das Gefühl ist: Das ist jetzt für immer, für ewig, so ist das jetzt eben. Das geht nicht vorbei. Du hast keinen Halt mehr, du kannst dich nicht auf die Erde verlassen. Das war ein sehr langes Gefühl, weil es ein sehr langes Erdbeben war, viereinhalb Minuten. Und dann die Nachbeben. Man weiß ja nie, wie heftig der nächste Stoß ist, man denkt, der nächste kommt, und noch schlimmer. Ich wollte aufstehen, bin aber immer gleich wieder umgefallen. Und immer hoch und wieder runter. Irgendwie hab ich es nochmal ins Haus geschafft und meine Flöte und meine Noten gerettet. Da war totales Chaos. Überschwemmung. Am nächsten Tag bin ich in die Uni gegangen. Der Rektor hat gesagt, ihr Deutschen kennt das ja. Ihr habt ja den Krieg erlebt. Und dann kamen die Flüchtlinge. Die waren ja ausgebombt, ausgebebt. Wir haben die versorgt, wie man das eben gelernt hatte bei den Wandervögeln. Mutter war ja auch Wandervogel. Oldenburg, 08. Februar 2012 Das Verlässliche, die Erde, die ist weg. Das war’s. Das blieb das dauernde Empfinden. Ich habe mich nie mehr sicher gefühlt. Das Leben ist gefährdet. Ich hatte ja nie Vertrauen ins Leben. Doch, zu Hause, vor 45. Ich hab Angst, immer Angst. Einfach Angst. Ich kann mich der Erinnerung nicht entziehen, versuche aber, mich ihr tagsüber nicht auszusetzen. Nur wenn ich schlafe, dann ist Schluss mit meinem Willen, dann überfällt sie mich. Im Traum gehe ich immer wieder mit unter. Manchmal wache ich nachts auf und Mutter ist bei mir, ganz präsent. Sie sitzt an meinem Bett. Dann muss ich mir einen kräftigen Schluck Wodka eingießen. Hildegard Juhl hat ihre Mutter Erna, ihre Schwester Deike und ihren Bruder Hans bei der Versenkung der „Wilhelm Gustloff“ in der Nacht vom 30. auf den 31. Januar 1945 verloren.

Zur Einführung Das Erdbeben von Valdivia war das schwerste Erdbeben des 20. Jahrhun­ derts. Am 22. Mai 1960 um 15:11 Uhr zeigten die Seismographen eine Amplitude von 9,5 auf der Richterskala an. Ein Viertel der chilenischen Bevölkerung wurde obdachlos. Die junge Professorin der Universität Valdivia Hildegard Juhl saß in diesen Minuten zu Hause beim Kaffee. Das Erdbeben hat sie viele Jahre zurückgeführt ins Zentrum ihrer persönlichen Lebenskatastrophe. Beim Untergang der „Wilhelm Gustloff“ am 30. Januar 1945 sind ihre Mutter Erna, ihr Bruder Hans und ihre Schwester Deike im eiskalten Wasser der Ostsee ertrunken. Hildegard Juhl erzählt vom Erdbeben in einer Sprache, die beide Katastrophen miteinander verwebt: Aus Erdbebenobdachlosen werden erst ausgebombte, dann ausgebebte Flüchtlinge, so entsteht assozi­ ativ eine direkte Beziehung zwischen 1945 und 1960, zwischen Danzig und Valdivia. Schon ist sie wieder zurück auf dem Weg durch den Schnee zum schönen Schiff in Gotenhafen. Das Erdbeben war stark, stark genug, um als Metapher auszudrücken, was 1945 mit ihrem Leben geschehen ist: Die Erde ist kein sicherer Ort mehr, das Verlässliche, die Erde, die ist weg. Noch siebzig Jahre später fehlt Hildegard Juhl Grund unter den Fü­ ßen. Und dann die Nachbeben. Man weiß ja nie, wie heftig der nächste Stoß ist. Das Erdbeben von Valdivia ist das Sinnbild eines lebenslangen Nachbebens des Winters 1945. Das 20. Jahrhundert ist voller Erdbeben, die bis heute nachbeben. Zwei Weltkriege, ein Kalter Krieg, fünf politische Systeme, eine blutige und eine friedliche Revolution sind als „große Geschichte“ die eine Seite der Medail­ le, die sich auf der anderen Seite in der „kleinen Geschichte“ widerspiegelt. Jede „kleine Geschichte“, jedes einzelne Leben trägt Spuren der „großen Geschichte“ in sich. Als Nachbeben lassen sie sich über mehrere Genera­ tionen spüren. Am 27. Januar 1945, drei Tage vor dem Untergang der Gustloff, befreiten die Soldaten der Roten Armee das deutsche Vernichtungslager Auschwitz. Die Shoah, das größte Menschheitsverbrechen der Geschichte, war nicht länger zu leugnen. Da waren von Deutschen schon mehrere Millionen Men­ schen ermordet worden. 9.000 Menschen waren es, die mit der Gustloff untergingen. Neuntausend. Oder sagen wir lieber Zehntausend? Wir dürfen niemanden vergessen,



Zur Einführung19

und dann die Shoa-Toten. Hildegard Juhl ist nicht einverstanden mit der Zahl der Toten, überhaupt mit diesen abstrakten Zahlen, die die Würde je­ des einzelnen Lebens überspielen. Gleich assoziiert sie die ermordeten Menschen des Holocaust, niemanden vergessen. Sowenig vergleichbar die Ertrunkenen der Gustloff und die Ermordeten von Auschwitz, die Opfer des Nationalsozialismus und die deutsche Zivilbevölkerung sind: Das Leid Aller kann in großer Intensität nachbeben. Besonders deutlich wird dies auch in den Lebensgeschichten der beiden Jugendfreunde Johannes Runge und Hans Wilhelm v. Bornstaedt. Beide wuchsen auf einem vorpommerschen Gut auf, besuchten das Anklamer Gymnasium und wurden als Jugendliche Flakhelfer in Peenemünde. Beide verloren nach dem Krieg Heimat und Gutsbesitz und lebten in der Zeit der deutschen Teilung im Westen. Beide kehrten schließlich in ihrem letzten Lebensabschnitt zu ihren Wurzeln in Vorpommern zurück. Johannes Runge wuchs als Sohn eines bürgerlichen Gutsherrn im vor­ pommerschen Schmatzin auf. Kurz bevor die Rote Armee Schmatzin er­ reichte, hat sein Vater die eigenen Kinder erschossen und sich und seine Frau anschließend im See ertränkt. Offenbar sah er keine andere Möglichkeit, seine Familie vor der Roten Armee zu schützen, so deutet Johannes Runge heute das Geschehen. Weil er als junger Soldat im Krieg war, hat er die Familientragödie überlebt. Heute charakterisiert er seinen Vater als ‚Be­ schützer‘ der Familie. Diese Sichtweise hilft ihm, mit dem Geschehen weiterzuleben, weil sie dem Tod einen Sinn gibt, das hehre Motiv vor die verheerenden Folgen stellt, dem Vater keine andere Wahl lässt, als die Fa­ milie zu erschießen. Der Bruch in Johannes Runges Leben verlagerte sich vom Verlust der Fa­ milie auf den Verlust des Gutes. Dadurch ist es ihm möglich, mit dem Bruch zu leben, nach außen zu handeln, wo innere Auseinandersetzung zu schwer ist. Denn das Nachbeben zeigt sich in seinem lebenslangen Wunsch, das Gut weiterzuführen und die Familientradition fortzuschreiben. Im Wege stand ihm dabei die Wegnahme in dunklen Tagen der Nachkriegszeit, die Enteig­ nung durch die Bodenreform. Nach dem Fall der Mauer sei ihm aber völlig klar gewesen, dass wir uns um den alten Familienbesitz kümmern mussten. Inzwischen ist der Familienbetrieb wieder aufgebaut. Auf 1024 Hektar Boden betreibt Johannes Runge moderne Landwirtschaft als reinen Ackerbaubetrieb und sogar die Nachfolge ist durch seine Enkeltochter gesichert. So ist im Gegensatz zu Hildegard Juhl seine Lebensgeschichte trotz des schrecklichen Erdbebens keine Tragödie: Jeden Tag laufe ich noch heute glücklich über die mir so bekannten Felder, über die ich 50 Jahre nicht laufen konnte. Manchmal bleibe ich stehen und bin im festen Glauben, dass meine Eltern das noch mitansehen können.

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Im Unterschied zu Johannes Runge ging es Hans-Wilhelm v. Bornstaedt bei der Rückkehr nicht um die Fortführung des landwirtschaftlichen Betrie­ bes, sondern um das Land seiner Vorfahren selbst. Land spielt im Selbstver­ ständnis der alteingesessenen pommerschen Adelsfamilie eine große Rolle. Hans-Wilhelm v. Bornstaedt hat nach der Rückkehr Wald gekauft, Bäume gepflanzt und ist mit dieser symbolischen Handlung wieder fest eingewurzelt. Sein Erdbeben war der Verlust, sein Nachbeben die lebenslange Bewäl­ tigung der Aufgabe alles dafür [zu] tun, die soziale Ebene, in die ich hineingeboren bin, annähernd wieder zu erreichen. Da er dazu lange nicht mehr auf materielles Erbe zurückgreifen konnte, bediente er sich symboli­ schen Kapitals: Als pommerscher adliger Gutsbesitzer ist man Soldat, Jo­ hanniter und Jäger. Die betonte Pflege dieser drei Traditionen half ihm, die Erschütterung durch den Verlust zu kompensieren: Aus meinem Elternhaus ist mir das Gefühl mitgegeben worden, zur höheren sozialen Ebene in Deutschland zu gehören. Selbst als Bauernknecht hat mich dieses Gefühl getragen, […] die Prestigerente ist immer geflossen. Hans-Wilhelm v. Bornstaedts Lebenserzählung offenbart ein zweites Be­ ben und Nachbeben seines Lebens: Die Prägung als Kindersoldat des „Drit­ ten Reiches“. Er war 15 Jahre alt, als er Flakhelfer in Peenemünde wurde. Die Haltung und die Gefühle von uns Jungen im Dienst an der Waffe lohnt sich heute nicht zu beschreiben, sie können nicht mehr verstanden werden. Trotz dieser Ankündigung, verrät er Gefühle und Haltung gleich im nächsten Satz, nämlich die jugendliche Begeisterung für Größe und Stärke in der Überzeugung aus Vaterlandsliebe zu handeln: Er unterstreicht dies, indem er von überwältigenden Eindrücken bei den Weltpremieren der V1 und V2 genannten Raketen in Peenemünde spricht. Selbst der gereifte Mann hat die jugendliche Bewunderung nie ganz abgelegt: Und jetzt ein Kuriosum: Das Deutsche Reich in größter Not hat im Januar 1945 von der Entlassung aus der Flak bis zur Einberufung in den Wehrdienst einen ganzen Monat gebraucht. […] So ist das! So unvollkommen ist selbst ein Deutsches Reich. Dass selbst ein Deutsches Reich unvollkommen sein kann, hieße im Umkehr­ schluss, dass es in der jugendlichen Vorstellungwelt der Vollkommenheit schon sehr nahe gewesen sein muss. V. Bornstaedts Prägung gibt sich noch heute deutlich zu erkennen, dennoch ist er überzeugter Demokrat. Er konnte dieses Dilemma seines zweiten Nachbebens lösen, indem er ein zweigeteiltes Weltbild entwickelte: Er trennt scharf zwischen political correctness und historischer Wahrheit. Die „Wahrheit“ sind die Eindrücke seiner Jugend. Political correctness aber, die Verurteilung des „Dritten Reiches“ brauchen wir als Waffe im Überlebenskampf, ohne die wir nicht überleben. Aus dieser Wortwahl spricht das früh gelernte sozial­darwinistische Gedankenmuster. Er tritt als liberaler Realist auf und betont, wie wichtig es sei, political correct zu sprechen, zum einen, um nicht in den Verdacht „falscher politischer Ge­



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sinnung“ zu geraten, und zum anderen damit die Nazi-Partei heute keine Stimmen bekomme. Die gedankliche Sortierung der Welt in zwei Schubla­ den hat ihm erlaubt, das Erdbeben des Scheiterns, woran er geglaubt hat, in sein Selbstbild zu integrieren. So gesehen ist v. Bornstaedts Umgang mit beiden Erschütterungen seines Lebens erfolgreich gewesen. Auch das Jahr 1989 und der darauf folgende Systemwechsel bebt in vie­ len DDR-Biographen als entscheidendes Bruchdatum nach. Während die Wende für die Oberlausitzer Bäckermeisterin Gudrun Polak unwahr, aufregend und schön war, ist für den Diplomaten Johannes Oehme 1989 eine Welt zusammengebrochen. Er scheint bis heute nicht in der Bundesrepublik angekommen zu sein. Auch in Sebastian Pflugbeils Erzählung bebt 1989 nach. Er wuchs als Kind einer Kirchenmusikerfamilie in Greifswald auf, setzte sich früh mit sozialismuskritischen Schriften auseinander und gehörte schließlich als Strahlenexperte zu den Gründern des Neuen Forums2. Es hat wohl keine wichtigere, intensivere und prägendere Zeit als diese zehn Wochen von September bis November 1989 in seinem Leben gegeben. Er beschreibt sie als die freiesten Wochen, die er je erlebt habe. Auf einmal wurden zuvor gefürchtete Leute wie Honecker oder Mielke zu kleinen Männchen. Die Leute benahmen sich von einem Tag auf den anderen so, als ob wir in einem freien Land lebten. Und dann war es ein freies Land! Doch die Hoffnung ist der Enttäuschung und Verbitterung gewichen, die Vorstellung eines „Dritten Weges“ zwischen Sozialismus und Kapitalismus ist mit der Wiedervereinigung gescheitert. Sebastian Pflugbeil bleibt auch nach 1989 in der Rolle des Oppositionellen, die er als Nicht-FDJ-Mitglied, Wehrdienstverweigerer und Begründer des Neuen Forums in der DDR zeit­ lebens ausfüllte. Die Erfahrung, dass der Staat der ‚Feind‘ ist, nimmt er nach der Wiedervereinigung mit und überträgt sie auf die Bundesrepublik, die heutige wie die damalige. Rückblickend beschreibt er es so, als habe er schon seit seiner Jugend nicht nur eine kritische Haltung gegenüber der DDR, sondern auch gegenüber dem Westen gehabt, der für ihn nie ein Traum gewesen sei, ihm sei vielmehr als Kind schon klar gewesen, dass da ziemlich viel schief läuft. In seiner Kritik setzt er die heutige Bundesrepublik sogar mit einer Dik­ tatur gleich: Ich könnte heute aus dem Stand mehr und wahrscheinlich gravierendere Punkte als damals aufzählen, die für eine Revolution sprä2  Das Neue Forum war eine 1989 gegründete Reformbewegung in der DDR, die zu einem Sammelbecken der Opposition wurde. Zu den zentralen Forderungen ge­ hörten: Bürgerrechte, Schutz der Umwelt und Entmilitarisierung.

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chen. Faktisch haben wir es heute wieder mit einer Diktatur von ganz wenigen Leuten zu tun. Auch sein Wort des Jahrhunderts könnte deutlicher nicht ausdrücken, was er von der Welt hält. Es lautet: Ungerechtigkeit. Seiner Lebensrolle als ‚Oppositioneller‘ ist er gerade nach den für ihn so enttäuschenden Erfahrungen 1989 / 90 treu geblieben, nicht aber verbunden mit totalem Rückzug und Verstummung. Sebastian Pflugbeil reist noch heute um die Welt, und hält Vorträge, um vor den Strahlengefahren der Kernkraftwerke zu warnen, vor allem seit dem Erdbeben in Japan 2011. Das Nachbeben zeigt sich in der Art und Weise wie wir unser Leben erinnern und erzählen.

Vom Erinnern und Vergessen Das Leben ist nicht linear, logisch und geordnet, sondern diffus, chaotisch und unordentlich. Widersprüchliches geschieht gleichzeitig, wir erleben eine unüberschaubare Fülle von Einzelheiten. Vom Leben erzählen ist hingegen ganz anders. Rückblickendes Erzählen bringt Ordnung in das Chaos, folgt den Gesetzen logischer Verknüpfung in Sprache. Wir gestalten damit unsere Vergangenheit, unser Gewordensein, geben uns Herkunft, Weg und Ziel, erklären uns selbst, indem wir anderen erklären, wer wir sind. Wir stiften uns im Erzählen also Identität und Sinn, indem wir Zusammenhänge her­ stellen, wo sonst keine wären. Umgekehrt heißt das, dass Lebenserzählungen Rückschlüsse auf unsere Identität zulassen. Wer wir sind, wie wir die Welt und unsere Entwicklung darin wahrnehmen, kleiden wir in Sprache, darin, was wir erinnernd erzäh­ len und was nicht, wie wir erinnernd erzählen und wie nicht. Im erinnernden Erzählen schaffen und vergewissern wir also zuerst unsere Identität und stellen nicht einfach den Ablauf von Geschehnissen dar: „Ich erzähle, (al) so bin ich.“ Wir erzählen Vergangenes immer von unserer Gegenwart aus, die wir verständlich machen wollen. Was und wie wir erzählen, sagt darum viel mehr über die Gegenwart aus, als über unsere Vergangenheit. Dieser Prozess wird in der Wissenschaft Konstruktion der narrativen Identität ge­ nannt. Was entscheidet aber darüber, welche erlebten Szenen in das Drehbuch unseres Lebens aufgenommen werden und welche nicht?



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Was wir erinnern Entgegen unserer Hoffnung sind viele Erinnerungen über große Zeiträu­ me hinweg nicht zwingend stabil, sie verändern, verdichten oder verlieren sich, so wie wir uns verändern. Dies geschieht meist unbewusst und ohne Vorsatz. Erinnerungen können also im Hinblick auf die Vergangenheit trü­ gen, und zwar nicht nur weil sie von allen Erfahrungen, die wir nach dem erzählten Erlebnis gemacht haben, beeinflusst sind. Sie sind auch von den Erfahrungen und Erzählungen unserer Umgebung geprägt. Dadurch können individuelle Erinnerungen stark durch kollektive Erinnerungsmythen gefärbt sein. Beispielsweise sind viele Erzählungen an die Flucht aus dem Osten im Winter 1945 durch den Hinweis dramatisiert „mit dem letzten Zug“ geflo­ hen zu sein: Meine Mutter erzählte immer, wir seien mit dem letzten Zug im Januar 1945 geflohen, so schildert es Frank Tidick. Georg Kohtz, der seine Mutter vor der Roten Armee warnen wollte, sei gesagt worden, sie habe sich mit meiner Schwester in den letzten Zug gerettet. Der „letzte Zug“ gehört wie das „zugefrorene Haff“ oder „die Gustloff“ zu jenen emotional und assoziationsreich aufgeladenen Begriffen, die wie eine verdichtete Chif­ fre für die kollektive Erinnerung an die Flucht im Frühjahr 1945 stehen. Faktisch muss es gar nicht der letzte Zug gewesen sein, und es ist unwahr­ scheinlich, dass so viele Menschen gerade in diesem Zug zugleich gesessen haben. Die Erinnerung kann instabil sein, entscheidend ist das aber nicht. Entscheidend ist das im Wort „letzter“ dramatisch mitgedachte Gefühl des Erstaunens und der Dankbarkeit, einem drohenden Schrecken gerade noch einmal entkommen zu sein. Dieses Gefühl spricht für das Hier und Jetzt die Wahrheit und hat hier seine Bedeutung. Erste Erinnerungen Alle Lebenserinnerungen dieses Buches beginnen mit der ersten Erinne­ rung. Gerade dabei ist nicht entscheidend, ob das Erzählte wirklich dem ersten Moment entspricht, den wir bewusst erlebt haben, sondern was die Bedeutung ist, die dieser Erinnerung innewohnt. „Wenn man sich diese Bedeutung genau anschaut, wenn man solche Erinnerungen fast so angeht, als wären sie Träume, entdeckt man etwas Außergewöhnliches: Es wird einem klar, daß selbst diese Erinnerungen, die aus dem Säuglingsalter und der Kindheit stammen, in Wirklichkeit vom ganzen Leben eines Menschen handeln.“3 Die ersten Erinnerungen „benennen den Ort, von dem wir unse­ ren Ausgang nahmen“, es ist ein „mythischer Ort, an dem wir geliebt oder 3  Kotre, John: Weiße Handschuhe. Wie das Gedächtnis Lebensgeschichten schreibt, München / Wien 1996, S. 239.

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gehaßt werden, verlorengehen oder sicher sind, zu Opfern werden oder nicht, fähig oder unfähig sind“.4 Wolf von Wedel Parlow etwa schildert eine lebenslange Auseinanderset­ zung mit dem Vater. Bezeichnenderweise taucht der Vater gleich in seiner ersten und frühesten Erinnerung auf, und zwar mit einem wichtigen Cha­ rakterzug: Meine Erinnerungen setzen ein, noch bevor ich laufen lernte. Sie spielen auf dem väterlichen Gut Polßen in der Uckermark. Es kommt das Bild meines Vaters, der mich unter den Kachelofen schiebt und erwartet, dass ich drunter durchkrabble. Ich fange an zu krabbeln, muss meinen Kopf querlegen, um durchzukommen. […] Er lacht nur, ein schepperndes Lachen, wie eine Laubsäge. Mein Vater neigte zu Späßen solcher Art. Das Schönste war für ihn, eine Situation herbeizuführen, bei der sein Gegenüber hilflos war. Solche Späße des Vaters wiederholen sich in Wolf von Wedel Parlows Erzählungen immer wieder in ganz unterschiedlichem Gewand. Sie helfen in der Erzählung zur Erklärung seines Bemühens, ganz anders zu sein, gradlinig zu leben, wo der Vater seinen Leidenschaften freien Lauf gelas­ sen, seine Möglichkeiten voll ausgelebt habe. Auch Friedrich Graf zu Dohna-Schlobittens erste Erinnerung ist symbo­ lisch für sein Leben: Meine früheste Erinnerung ist, dass ich mich auf den Rücken warf, wenn meine Geschwister mich ärgerten, und stumm vor Wut nur ganz langsam strampeln konnte, während sie sich ausschütteten vor Lachen. Diese früheste Erinnerung wirkt wie eine Grundlegung seines spä­ teren Lebens. Hier findet sich die erste Andeutung einer lebenslangen Wi­ derständigkeit gegen die Erwartungen, die an ihn gestellt wurden und die Schwierigkeiten bei der Entwicklung einer eigenständigen Identität mit vielen Umwegen und Sackgassen auf dem Lebensweg. Symbolische Episoden Wie diese ersten Erinnerungen „symbolische Episoden“ sind, durchziehen weitere symbolisch aufgeladene Einzelerinnerungen unsere Lebenserzählun­ gen. Sie sind ein Wegweiser zu unserer Selbstwahrnehmung. Der Architekt Volkwin Marg markiert in einer symbolischen Episode gleich drei seiner Identitätsmerkmale: Ich saß wieder unter dem Flügel, lauschte und sah ihre behaarten Beine, wie sie vehement die Dämpfer trat und Rachmaninow spielte. Das dröhnte in den Ohren, ich war wie besoffen davon. Bei den Lesungen wollten sie mich natürlich ins Bett scheuchen, aber ich versteckte mich zwischen Holzstapel und Kachelofen. Das ging so lange gut, bis ich eingeschlafen war und mitsamt des Holzstapels in den Raum krachte. Flü4  Ders.,

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gel, Rachmaninow und Lesungen verweisen auf die bildungsbürgerliche und kunstsinnige Prägung im Danziger Elternhaus. Volkwin Marg sitzt in der Erzählung wieder und wieder unter dem Flügel, lauscht, nicht nur Rachmaninow, sondern auch den Schubertliedern seiner Mutter oder den riesigen Basspfeifen der Orgel in der Danziger Marienkirche. Dabei ist er stets wie besoffen davon, deftige Worte, mit denen er die Verbindung zur urwüchsi­ gen Luthersprache markiert: in der Tradition der pottgesunden Pastorenfa­ milie. Nicht zuletzt ist Margs Episode auch eine schelmenhafte Selbsttätig­ keit zu eigen, die sein ganzes Leben durchzieht. Die Kinderstreiche, vom Schule-Schwänzen und Auskneifen in die Danziger Werft, über das Versteck hinter dem Kachelofen, bis hin zum Totchen-Spielen im Bombenkeller spie­ geln sich in der beruflichen Gegenwart: Ich bin noch immer unterwegs wie als Kind, mit Eimer und Schaufel in der großen gemeinschaftlichen Sandkiste zum Burgen bauen, mit Begeisterung und Frustrationen, abends ermüdet und morgens erlebnishungrig. Worte des Jahrhunderts Genau solch ein pars-pro-toto-Verhältnis zum ganzen Leben, hat schließ­ lich auch die Antwort auf unsere jeweils letzte Frage nach dem „Wort des 20. Jahrhunderts“. Sie ist viel mehr als historische Reflexion, ein persönli­ ches Resümee der Lebensgeschichte. Für Elisabeth Furtwängler, der seit 1954 verwitweten Frau des Dirigenten Wilhelm Furtwängler, ist es bei­ spielsweise Musik, für Georg Kohtz, den Weltkriegssoldaten, Krieg, für den lebenslangen Oppositionellen Sebastian Pflugbeil ist es Ungerechtigkeit und für Johannes Oehme, dessen staatlich verkörperte Lebensideale mit der DDR untergingen, kein glückliches. Wie wir erinnern Wir drücken unsere Identität sprachlich durch Identifizierung und Distan­ zierung aus. Das wird schon erkennbar durch die Worte, die wir benutzen, um Personen oder Ereignisse unseres Lebens zu beschreiben. Leitmotive Leitmotivisch wiederholte Begriffe oder Phrasen dienen der Lebenserzäh­ lung als roter Faden und zeigen immer wieder aufs Neue, wer wir sind, ja sogar, wer wir schon immer waren. Wie so vielen anderen fehlt Fedja Mül­ ler der Vater, seit er nicht aus dem Krieg heimgekehrt ist. Er wächst vater­ los auf in der bayerischen Provinz, die man sich nicht unaufgeklärt genug

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vorstellen kann. Fedja Müller beschreibt ein Leben in Opposition zu Ver­ drängung, Gewalttätigkeit und Krieg. Dafür steht symbolisch seine Mutter, die jederzeit gewalttätig werden konnte und von der er immer wieder schwere Schläge bekommen habe. Den Vater hat er kaum kennengelernt, trotzdem wird ihm der Charakter des Vaters zum richtungsweisenden Ge­ genentwurf der Mutter, zum Auftraggeber für sein eigenes, der ‚Friedfertig­ keit‘ und ‚Aufklärung‘ verschriebenes Leben. Der fehlende Vater taucht als Leitmotiv der Erzählung in Kindheit, Jugend und Reife insgesamt 17-mal auf, er sei einer der sanftesten Männer, die ich bis heute kennengelernt habe gewesen, unaggressiv, friedliebend und warmherzig. Fedja Müller hat in diesem kaum gekannten und lebenslang vermissten Vater jenen Helden gefunden, der in der deutschen Nachkriegsgesellschaft für ihn nicht zu fin­ den war. Er ist eine symbolische Partnerschaft mit diesem Vater eingegan­ gen, um im Anderssein als Pazifist bestehen zu können. Mehr noch, Fedja Müller empfindet Schuld, Schuld daran, da zu sein, während er nicht mehr da war. Assoziative Verknüpfungen Nicht nur leitmotivisch wiederholte Worte, sondern auch die Wortwahl mithilfe derer wir Ereignisse der Vergangenheit veranschaulichen, lässt Identifizierung und Distanzierung erkennen. Ein Beispiel dafür sind die Worte, die Begegnungen mit den alliierten Soldaten seit dem Frühjahr 1945 beschreiben sollen. Russen und Amerikaner werden in verschiedenen Bio­ graphien mit ganz unterschiedlichen Worten erinnert, zu jeweils subjektiven Prototypen aufgebaut. Johannes Oehme etwa, der Lebensglück und persönlichen Aufstieg eng mit der DDR verknüpft, lässt keinen Zweifel an seiner Identifikation: Die Furcht vor den Russen war im Dorf nicht sehr groß. Im Gegenteil, ich würde sagen, dass die Bombardierung von Chemnitz und Dresden uns eher die Amerikaner und Briten fürchten ließ. Die amerikanischen Flieger machen in Vogelformation Angst und werfen Flugblätter mit lebensbedrohlichem Inhalt und in ver­ achtender Sprache ab: Sachsen, ihr kleinen Zwerge, ihr kommt zuletzt in die Särge, die amerikanische Fliegerschokolade, die der Vater dem kleinen Jo­ hannes mitbringt, schmeckt bitter. Ganz anders hingegen die Russen, die den Neunjährigen nicht als ‚kleinen Zwerg‘, sondern als Erwachsenen behandeln, mit denen er geritten, geraucht und Wodka getrunken habe und unglaublich gut befreundet gewesen sei. Vergewaltigungen habe es nicht gegeben, da ist nie etwas passiert. Übergriffe erscheinen in milden Worten: Die Offiziere versuchten mit den Frauen anzubändeln. Den negativ assoziierten Worten fürchten, Särge und bitter stehen also reiten, befreundet und anbändeln ge­ genüber, und lassen so die Prototypen bildreich entstehen.



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Der nur ein Jahr ältere Volkwin Marg, der einer bürgerlichen Pastorenfa­ milie entstammt und noch vor dem Mauerbau aus der DDR in den Westen geflohen ist, benutzt ganz andere Worte, um das Verhalten der russischen Besatzungssoldaten zu beschreiben. Die riesige Armee von Männern ohne Frauen sei nicht immer unter Verschluss gehalten worden. Ließ man sie ‚frei‘ plünderten marodierende Soldaten einen Gasthof und brachten im Suff die ganze Familie um. Dagegen habe die entrüstete Bevölkerung nichts tun können, denn wenn der russische NKWD nachts zugriff, verschwand ein Mensch spurlos. Die Verhaftung führte dem Sagen nach über das ehemalige KZ Sachsenhausen. Unter Verschluss, plündernde, marodierende Soldaten, Suff und Familie umgebracht lassen die Assoziationen ‚unzivilisiert‘ und ‚unmenschlich‘ zu. Die Verweise auf NKWD, nachts und Verschwinden wirken wie eine dunkle Bedrohung, der man schutzlos ausgeliefert ist, das ehemalige KZ Sachsenhausen stellt eine Analogie zwischen sowjetischer Besatzungsmacht und NS-Regime her. Ähnlich assoziationsreich ist die narrative Identität verdeutlicht, wenn von der Roten Armee als dunkler Walze (Georg Kohtz), oder Iwan, der herankriecht (Fedja Müller zitiert einen Heidelberger Kollegen) gesprochen wird. Der Prototyp des Amerikaners tritt dagegen oft als ‚gütiger und ungefähr­ licher Befreier‘ auf. Für Hildegard Leyden, die, als „Halbjüdin“ stigmati­ siert, das Ende des „Dritten Reiches“ herbeigesehnt hat, war es der schönste Tag in meinem Leben […], als ich die ersten Amis in Heidelberg vor dem Europäischen Hof stramm stehen sah. Johannes Runge, der von seiner Mut­ ter vor den Russen gewarnt wurde, empfindet es als Glück in amerikanische Gefangenschaft gekommen zu sein, von der Tätigkeit des Bewachens hielten die Amerikaner […] nicht so viel, vielmehr machten sie häufig ein Nickerchen. Wolf von Wedel Parlow schließlich, erinnert die Ankunft der Ameri­ kaner in Franken, die er 1945 als Junge erlebt hat, als bunt und spannend, ein aufregendes, aber ungefährliches Erlebnis, wie die ersten Jeeps vorfuhren und die Soldaten mir Kaugummis schenkten. Interessanterweise finden sich Identifizierung und Distanzierung in Chris­ toph Ackermanns Erzählung aufgeteilt auf kindlich-emotionale und erwach­ sen-reflektierte Deutung: Er erzählt in der Empörung des Zehnjährigen, der nach Kriegsende 1945 nicht verstehen konnte, dass die Amerikaner den hungernden Deutschen Nahrung vorenthielten: Aber die Amerikaner waren verbiestert, sie wollten nicht einmal, dass wir ihr altes Brot aus den Mülltonnen aßen. Also fuhren sie es in den Wald, um es dort abzuladen und anzuzünden. Die versammelte Dorfjugend habe das verkohlte Brot aus den Flammen gefischt, genauso wie die Mägen von Hähnchen aus Mülltonnen. Davon konnte die ganze Familie satt werden. Das damalige Ungerechtig­ keitsempfinden ist drastisch assoziativ als ‚verhungern lassen‘ verdeutlicht:

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altes Brot anzünden, und aus Mülltonnen fischen, werden der Sättigung einer ganzen Familie gegenübergestellt. Von heute aus betrachtet, wird die­ ses Gefühl jedoch relativiert durch den gleichwohl knapperen rechtfertigen­ den Hinweis: Wir erfuhren später, dass sie vorher das KZ Dachau befreit hatten. Die hatten einen Rochus auf alles, was deutsch war. „Freudsche Versprecher“ Manchmal zeigen „Freudsche Versprecher“ im Erzählen, dass das Erleb­ nis eine weit über das Geschehen hinausgehende Bedeutung hat. Albert Scheel etwa hat 1945 als Sanitätsoffizier den Häuserkampf in Berlin miter­ lebt, berichtet von den letzten Tagen, will „kurz vor Toresschluss“ sagen, wählt aber das Wort Todesschluss und gibt damit Einblick in Schrecken und nahende Befreiung. Auch Hildegard Juhls eingangs erwähnte sprachliche Verflechtung des Erdbebens 1960 mit der Flucht 1945 im Wort Ausgebebte, das Erdbebenopfer und Ausgebombte ineinander setzt, ist dafür ein gutes Beispiel. Hans-Wilhelm von Bornstaedt schließlich, der kindliche Gutsbesit­ zer, der Flakhelfer im Zweiten Weltkrieg und dann Offizier bei der Bundes­ wehr war, nennt die Zeit nach 1990 in einem vielsagenden Versprecher die Nachkriegszeit. Und in der Tat: V. Bornstaedts Krieg ging mit dem Fall des Eisernen Vorhangs in doppelter Weise zu Ende. Einerseits endete für den Soldaten die militärische Bedrohung, und für den Gutsbesitzer ist das erste Mal seit 1945 eine Rückkehr möglich. Die offenen Wunden des Verlusts konnten sich schließen. Aktivität und Passivität Unsere Sprache gibt oft auch Auskunft darüber, ob wir unser Leben als „geglückt“ oder „missglückt“ empfinden. In einer „gelungenen“ Biographie tritt der Erzähler in der Regel als aktiver Gestalter seines Lebens in Erschei­ nung, hat an entscheidenden Wendepunkten bewusste Entscheidungen für oder gegen etwas getroffen, die ihn dahin gebracht haben, wo er heute ist. Hans-Wilhelm von Bornstaedt lebt im Bewusstsein beide Lebensziele, die er sich 1945 gesetzt hat, aus eigener Kraft erreicht zu haben. Ich trete jetzt unter der Goebbels’schen Propagandadusche hervor [und] muss und werde alles dafür tun, die soziale Ebene, in die ich hineingeboren bin, annähernd wieder zu erreichen. Hildegard Leyden konnte ihren Lebenstraum, mit ihrem Koloratursopran Sängerin zu werden, dagegen nicht erfüllen, ihr Leben ist nicht so „gelun­ gen“, wie sie es sich gewünscht hat. Auch ihre Erzählung ist deshalb ganz anders. Nicht sie ist Herrin über ihr Schicksal, sie erinnert ihr Leben als



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gelenkt. Hitler ist ihr personifizierter Lebensverderber, sie selbst sein Opfer: Bei uns zu Hause war immer high life, meine Mitschülerinnen sind gerne zu mir […] gekommen, aber als dann der Hitler kam, hat keiner mehr mit mir geredet. Seit der nationalsozialistischen Machtübernahme kann ihr jüdi­ scher Vater nicht mehr am Breslauer Theater auftreten, muss später emig­ rieren, das Theaterkind Hildegard Leyden kann nie wieder an ihren Traum anknüpfen: Der Hitler hat mein ganzes Leben verdorben. Was wir vergessen Von der Gegenwart aus Vergangenes erinnern heißt im Umkehrschluss immer Vergessen, denn wir erinnern uns nur an bestimmte Ereignisse, be­ stimmte Personen, bestimmte Prägungen, die eine bestimmte Bedeutung für unsere Gegenwart haben. Überspitzt gesagt gilt: Was wir vergessen, haben wir gar nicht erlebt. Trotzdem ist Vergessen kein unumkehrbarer Prozess, was vergessen ist, kann auch wieder erinnert werden, wenn die Situation es verlangt. Das Vergessen hat dabei verschiedene Wurzeln. Wir vergessen Dinge, die für unsere Gegenwart nicht bedeutend sind. Wir vergessen Dinge, die wir nicht wissen wollen oder deuten sie so um, dass sie wieder in unser Selbst­ konzept passen. Und wir vergessen das, was nicht auszuhalten ist, was uns solche Angst gemacht hat, dass wir es verdrängen mussten. Diese Form des Vergessens schließlich, das traumatische Vergessen, ist ein Überlebensme­ chanismus.

Vom Weiterleben und Weitergeben Weiterleben erlittener Traumata Der Krieg begleitet mich ständig. Eine Zeitlang schlief ich nur mit durchgeladener Pistole im Nachtkasten. Ich habe Nachtangst. Lächerlich, nicht? Wenn hier in unserem Haus die Tür auf ist, und man so wunderbar hereingucken kann, stelle ich mir vor, ein MG-Schütze guckt rein und schießt. […] Dieses Immer-wach-sein, 24 Stunden ohne Schlaf, immer wach sein, immer die Angst, dass man abgeschossen wird, das ist die Neurose, die ich zweifellos habe. […] Sie dürfen mir keine Beruhigungsmittel geben, ich habe Angst vor dem Kontrollverlust. Gottfried Lemberg ist vom Krieg schwer gezeichnet. Als junger Soldat der Wehrmacht hat er an der Ostfront russische Soldaten im Nahkampf er­ schossen. Bei Kriegsende musste er Leichenteile von 40 Kleinkindern in Margarinekisten sortieren, je nach Einschätzung, was gehört ungefähr zu-

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sammen. Durch diese Erlebnisse hat er ein schweres Trauma erlitten, das er zwar nie vergessen hat, das aber zeitweise durch Jurastudium und Richter­ amt überlagert werden konnte: In dieser Zeit dachte ich nicht viel über den Krieg nach. Ich sah nur mein Ziel. Mitte der 80er Jahre allerdings erlitt er in kurzer Folge einen Herzinfarkt, eine Rippenfellentzündung und eine Krebserkrankung, war dem Tode erneut sehr nah. Diese neue Bedrohungs­ situation hat ihn berufsunfähig gemacht, den Krieg in die Gegenwart geholt, das Trauma reaktiviert. Seitdem hatte er Nachtangst, schlief nur mit durchgeladener Pistole und stellte sich vor, ein MG-Schütze guckt rein und schießt. Im traumatischen Erinnern fließen die Zeiten ineinander. Die Erzäh­ lung Gottfried Lembergs ist so detailreich, bildhaft und drastisch, als fände der Krieg mitten in seinem Wohnzimmer statt. Einzig die zynische Wortwahl scheint immer wieder Distanz zu schaffen: Lächerlich, nicht? oder Luftminen haben die angenehme Eigenschaft, die Lungen zu zerreißen. Dieser Zynismus kann auch als Anzeiger besonders starker emotionaler Aufrütte­ lung und verzweifelter Abwehrversuche dagegen gelesen werden. Gottfried Lembergs Jugend wurde missbraucht, als er zum bedingungslosen Töten ausgebildet wurde. Sein Krieg bebte unaufhörlich nach, bis zu seinem Tod im Frühjahr 2014. Weitergeben erlittener Traumata Schlobitten ist direkt nach dem Krieg komplett ausgebrannt. Das erste Wiedersehen in den 70er Jahren war sehr merkwürdig, denn man sieht dort ja keine Leiche vor sich, sondern ein Skelett. Ich habe es nicht brennen sehen, aber jahrzehntelang wie mein Vater immer wieder vom brennenden Schloss geträumt. Das war eine Verletzung, eine offene Wunde. Friedrich Graf zu Dohna-Schlobitten ist im ostpreußischen Schloss Schlo­ bitten aufgewachsen. Den Brand des Jahres 1945, der das große Schloss vernichtete, hat keines der Familienmitglieder gesehen. Trotzdem hat Fried­ rich Graf zu Dohna-Schlobitten, wie sein Vater jahrzehntelang vom brennenden Schloss geträumt. Der Verlust des jahrhundertealten Familienbesitzes war eine Verletzung, eine offene Wunde, eine Katastrophe des Vaters, die sich auf den Sohn übertragen hat. Alexander Fürst zu Dohna-Schlobitten hat mit seinem Sohn kaum über die emotionale Bedeutung des Verlustes gesprochen, aber schon für das Kind in Ostpreußen war die väterliche Angst vor dem Feuer durch die stän­ dige Anwesenheit einer Kunsthistorikern, die das Inventar des Schlosses aufgenommen hat, spürbar. Als Schlobitten wirklich verloren gegangen war, musste der Zwölfjährige beim ersten Nachkriegs-Weihnachtsfest den Schmerz des Vaters erleben: Mein Vater hielt eine kleine Rede, aber er schluchzte zwischendurch laut auf. Das hatten wir noch nie erlebt. Er wuss-



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te, dass Schlobitten für immer verloren war. Das außergewöhnliche Weinen Alexander Fürst zu Dohna-Schlobittens ist eine symbolische Episode der Erinnerung, weil sie für das sprachlose und hilflose Entsetzen des starken Vaters steht, das von seinem Sohn unbewusst als Hilfsappell verstanden wird. Friedrich zu Dohna-Schlobitten identifizierte sich mit dem unverarbei­ teten Schmerz des Vaters, weil er sich nach dessen Liebe und Anerkennung sehnte. Gerade er musste zeitlebens darum kämpfen. Nachdem der ältere Bruder im Kindesalter gestorben war, wurde er zum Erben mehr dressiert als erzogen. Nach dem Krieg hat er lange nicht zu Eigenständigkeit gefun­ den. Ich galt als ziemlich wurschtig und nonchalant damals. Erst heute weiß ich, dass ich massive Depressionen hatte. Ich glaube, mein Vater hat nicht viel von mir gehalten, während er für mich ein prägendes Vorbild war. Er war ein sehr starker Vater, hat immer wieder entscheidend in mein Leben eingegriffen. Trotzdem konnte er den Ansprüchen nie genügen und sich darum nicht frei entfalten. Die diffuse Schwerfälligkeit, das Leben zu be­ wältigen bis hin zu massiven Depressionen und die Identifizierung mit Trauer und Schmerz des Vaters sind zwei Seiten derselben Medaille. Die Katastrophe des Vaters ließ keinen Platz für die Individualität des Sohnes. Bei unbewusst vollzogenen Vorgang der Traumaübertragung von einer Ge­ neration auf die andere spricht man von „transgenerationaler Weitergabe“: Schlobitten ist als Aufgabe in mir. Das Nachbeben findet so auch in der zweiten Generation statt. Nach dem Tod des Vaters im Jahr 1998 konnte Friedrich Graf zu Dohna-Schlobitten die lebenshinderliche Belastung in ei­ ne eigenständig bejahende Annahme des väterlichen „Auftrags“ umwandeln. Er hat spät in die Rolle des Erben hineingefunden, indem er beispielsweise die vom Vater angefertigte Inventarliste digitalisiert und mithilfe vieler ­Fotos einen virtuellen Rundgang durch Schlobitten erstellt hat. Diesem letztlich glücklichen Ausgang steht das Beispiel eines Anderen gegenüber. Bei ihm ist die Integration des „Auftrages“ in das eigene Le­ benskonzept nicht gelungen, die Belastung der transgenerationalen Übertra­ gung wiegt so schwer, dass eine Veröffentlichung in diesem Buch nicht möglich ist. Es ist die Geschichte eines Menschen, dessen Familie im „Dritten Reich“ eine umstrittene Rolle gespielt hat. Im Interview charakte­ risierte er sich, 86-jährig, als Enkel, durch andere zum Enkel geworden und selbst unbedeutend. Name und Erbe wiegen schwerer als das Selbstgefühl. Das führt so weit, dass es ihm bis heute schwerfällt, seinen Namen zu nennen: Es ist jedes Mal ein Zwang. Zeitlebens mied er die Öffentlichkeit. Das Unbehagen spiegelte sein zögerliches Reden während des Interviews bis hin zur Autorisierung der Druckfassung seiner Lebensgeschichte wider. Schon unsere Fragen waren ihm sichtlich unangenehm, er antwortete so knapp wie möglich, kam nie ins Erzählen. Erst an seinen zahlreichen Ein­ wänden nach Vorlage des Manuskripts erkannten wir sein Dilemma, uns

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zwar einerseits Rede und Antwort stehen zu wollen, andererseits aber der drohenden Gefahr ausgesetzt zu sein, dass durch eine Veröffentlichung sein seelischer Schutzschild durchbrochen werden könne: Ich setze mich ohnehin täglich von morgens bis abends damit auseinander. Täglich drehe ich mich um dieselben Fragen. Wie konnte es so weit kommen? Wie hätte es vermieden werden können? Ich stehe morgens mit diesen Fragen auf und nehme sie abends mit ins Bett. Die Fragen kreisen lebenslang und kommen zu keinem Ende. Hinter diesen Fragen stehen die schwer vereinbaren Katego­ rien von Motiv und Wirkung des großväterlichen Handelns und die Unver­ einbarkeit der kindlichen Wahrnehmung eines liebevollen, traditionsbewusstpaternalistischen Großvaters mit der Ambivalenz des Politikers. Das ständi­ ge Kreisen der Fragen hat er aber von seinem Vater übernommen, der wiederum Scheitern und öffentliche Geringschätzung des Großvaters und der ganzen Familie nach dem Krieg nicht verarbeiten konnte: Mein Vater hat sehr viel bei mir abgeladen, seine Gedanken, seine Überlegungen. Er hat immer wieder darüber gesprochen und den Stab an mich weitergegeben. Hier fand die Übertragung nicht durch Schweigen und unbewusstes Han­ deln, sondern durch Reden statt, durch den bewussten Gebrauch des Kindes als „therapeutischen Partner“ zur Linderung des väterlichen Schmerzes. Die Konfrontation mit der eigenen Belastung durch Veröffentlichung droht, die ständige Debatte im eigenen Kopf wieder unkontrollierbar und verletzend werden zu lassen. Wieder würde nicht über ihn, sondern über Vater und Großvater der Stab gebrochen und nochmals die geringe Selbst­ achtung bestätigt. Öffentlichkeit könnte nicht allen widerstreitenden persön­ lichen Gefühlen gerecht werden. Narrative Identität kann schmerzhaft sein.

Aufbau des Buches Dieses Buch entstand aus dem Projekt „Reden. Unbedingt!“. Seit fünf Jahren beschäftigt unsere Neugier eine Frage: Welche Nachbeben des 20. Jahrhunderts spüren wir noch heute? Sie war und ist unser Antrieb für das Projekt. Das Bedürfnis anzufangen und Fragen zu stellen, war dabei zunächst größer, als zu wissen, wohin diese Reise führt. Die Neugier führte uns durch ganz Deutschland, wir wollten möglichst viele Epochen, Regionen und Milieus erkunden, brachte uns zu Menschen mit den unterschiedlichsten Lebensgeschichten. Durch unsere Begegnungen lernten wir die Nachbeben des 20. Jahrhunderts besser kennen, auch unsere eigenen. Eine Auswahl der Gespräche, die wir zwischen 2010 und 2015 geführt haben, ist hier im Buch versammelt. Diese, wenngleich nicht repräsentative, so doch große Vielfalt von Lebensgeschichten ermöglicht in ihrer Gesamt­



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heit unterschiedliche Einblicke in Beben und Nachbeben des 20. Jahrhun­ derts. Die Texte, die aus oftmals vielstündigen Interviews entstanden sind, wurden von uns zu einem Text in Ich-Perspektive zusammengefügt. Wir entschieden uns für diesen Weg, um den mündlichen Sprachgebrauch bei­ zubehalten. Die mündliche Sprache erlaubt einen direkteren Einblick in die narrative Identität. Wir unterstellen jeder unserer Geschichten dabei grundsätzlich Glaubwür­ digkeit. Es geht uns nicht um die „historische Wahrheit“, die Lebensge­ schichten dienen nicht als vermeintlich objektive „Zeitzeugenberichte“ der erlebten Geschichte, sondern zeigen, wie die Gesprächspartner ihr Gewor­ densein erzählen und ihre Identität erzählend herstellen. Die Geschichten sind in die drei Lebensabschnitte Kindheit, Jugend und Reife aufgefächert. So können beispielsweise die 20er Jahre in Berlin, Be­ ginn und Ende des Nationalsozialismus, und 1989 aus verschiedenen Blick­ winkeln gelesen werden. Natürlich wurden die Ereignisse der „großen“ Geschichte im Kleinen ganz verschieden erlebt, sie werden unterschiedlich erzählt und bewertet. Darin tauchen die verschiedenen Ideologien und Welt­ anschauungen des 20. Jahrhunderts mehr oder weniger ungefiltert, mehr oder weniger reflektiert auf. Das muss man aushalten können, auch wenn es manchmal schwer ist.

I. Kindheit

Elfriede Brüning * 8. November 1910 in Berlin  † 5. August 2014 in Berlin

Hinter mir in der Schlange stand einmal ein junger Mann. Plötzlich fiel er um. Er hatte einen epileptischen Anfall und ich war geschockt. Das war 1917, während des Krieges, als ich mich häufig anstellen musste, um Le­ bensmittel zu ergattern. Meist kam ich nach stundenlangem Warten mit leeren Händen nach Hause. Gab es doch etwas, musste ich anschreiben lassen. Wenn ich an meine Eltern denke, sehe ich sie nur arbeiten. Meine Mutter nähte Mützen und mein Vater stand bis spät in die Nacht an der Hobelbank. Das Geld reichte trotzdem nicht. Sie trauten sich irgendwann nicht mehr in die Läden zu gehen. Dennoch habe ich die Armut als Kind nicht empfunden. Ich war viel mit meinem fünf Jahre jüngeren Bruder unterwegs. Im Puppenwagen bin ich mit Wolfgang umhergezogen, habe mit ihm gespielt, bin mit ihm zum Arzt

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I. Kindheit

gegangen. Eigentlich habe ich ihn damals großgezogen. Ich nahm ihn auch mit, wenn ich während des Generalstreiks mehrmals täglich zum Wasser­ pumpen auf die Straße gehen musste. Die Wirtschaftskrise Anfang der 20er Jahre verschlimmerte unsere Armut. Mein Vater konnte unsere kleine Familie nicht mehr ernähren, er musste sein Gewerbe abmelden und stempeln gehen. Meine Eltern entschieden dann, es noch einmal selbstständig zu probieren und einen Laden zu mieten. Dort stellte mein Vater erneut seine Hobelbank auf. Sie hatten immer hoch­ fliegende Pläne für uns. Die Enttäuschung darüber, dass meine Mutter als Klassenbeste mit 14 durch einen Beschluss ihrer Stiefmutter „in Stellung“ gehen musste, führte wohl dazu, dass wir die höhere Schule besuchen durf­ ten. Finanziell war das sehr schwierig für meine Eltern. Meine Mutter wollte deswegen immer etwas zum Lebensunterhalt beitragen und kam auf die Idee, in dieser neu gemieteten Ladenwohnung eine Leihbücherei aufzu­ machen. Sie war eine begeisterte Leserin, wenn sie ein spannendes Buch hatte, türmte sich der Abwasch. Wie aber sollten wir die Leihbücherei eröffnen? Wir hatten ja kein Be­ triebskapital. Schließlich zimmerte mein Vater die Einrichtung, mein Bru­ der pinselte das Schild und wir verpfändeten meine ersten 100 Mark Ver­ dienst als Kontoristin an eine Firma, die uns Bücher liefern sollte. Als die Bücher bei uns ankamen, waren wir jedoch entsetzt. Die Firma hatte uns nicht ihre Bestseller, sondern ihre Ladenhüter geschickt, ganz wertloses Zeug und trotzdem auch davon so wenig, dass wir gezwungen waren, sie mit der Breitseite ins Regal zu stellen. Unsere Kunden waren vor allem die Arbeiter aus den großen Betrieben von Siemens und AEG. Wenn sie in unseren Laden kamen, gab es immer große Diskussionen. In einem wa­ ren sie sich jedoch einig: Unsere Bücher taugen nicht viel, wir sollten besser die Bücher der Arbeiterschriftsteller führen, „Brennende Ruhr“ von Karl Grünberg zum Beispiel. Wir taten wie geheißen, schafften uns die Bücher an, lasen sie selbst und so ist früh mein Interesse an Politik ge­ weckt worden. Leider verdienten wir nicht genug. Wenn jemand zwei Bü­ cher entlieh, bekamen wir 20 Pfennig. Die Miete betrug 150 Mark. Es war absehbar, dass es schief gehen würde und es ging auch schief. Wir muss­ ten die Miete schuldig bleiben, bekamen den Räumungsbefehl, und es drohte der Gerichtsvollzieher. Weil ich diese ganze Misere hautnah miterlebte und durch die Bücher viel gelernt hatte, war ich früh politisch bewusst und trat in die Kommunis­ tische Partei ein. Als ich den Genossen vom drohenden Besuch des Ge­ richtsvollziehers erzählte, beruhigten sie mich und sagten, dass wir uns keine Sorgen machen sollen, sie würden helfen. Ein paar Tage später rück­ ten fünf kräftige junge Männer an und schleppten im Regen alles Bewegli­



Elfriede Brüning39

che aus unserem Laden und unserer Wohnung auf die Straße. Sie verteilten es dort untereinander. Nachdem der Gerichtsvollzieher dagewesen war und wenig zur Räumung gefunden hatte, haben wir alles wiederbekommen, bis auf den letzten Blu­ mentopf. Diese Aktion der Solidarität machte einen tiefen Eindruck auf mich und insbesondere auf meinen Vater, der erst durch diese Aktion poli­ tisiert wurde. Von den „Goldenen Zwanzigern“ habe ich nichts mitbekommen. Theater­ aufführungen konnte ich mir nicht leisten. Wir demonstrierten für Arbeit und Brot und für die Freilassung der politischen Gefangenen. Zwischen Rechts und Links tobten Straßenkämpfe, aber wir waren überzeugt, dass wir letzten Endes siegen würden, und kurz vor der Revolution stünden.

Georg Kohtz * 17.  Januar 1913 in Pobethen / Ostpreußen † 17. März 2012 in Oldenburg

(Dritter von links)

Mein Heimatdorf heißt Pobethen. Da kommen Sie durch, wenn Sie von Königsberg über die Halbinsel Samland an die Ostseeküste fahren. Denke ich an Pobethen zurück, fällt mir als erstes der Mühlenteich ein, das war unser Badesee. Da wurde die Wäsche gebleicht und im Winter Schlittschuh gelaufen. Am Ufer stand ganz in der Nähe eine Wassermühle, das große Mühlrad war im Winter immer so wunderbar vereist, ein richtiger Eispalast mit hunderten ellenlangen Eiszapfen, wie in einer Tropfsteinhöhle. Von dort aus floss unser Bach weiter in die Ostsee. Als ich auf die Welt kam, war Kaiser Wilhelm schon 25 Jahre an der Regierung, ein Jahr später war Krieg. Ich erinnere mich, wie mein Vater nach Hause kam, schwer verwundet durch einen Lungendurchschuss. Das muss 1916 gewesen sein. Dafür bekamen wir drei russische Kriegsgefan­ gene. Die haben in unserer Fabrik an den großen Drehbänken Granaten



Georg Kohtz41

gedreht. Auf dem Speicher unseres Hauses stand eine Kornmühle, wir wa­ ren ja Selbstversorger. Trotzdem durften wir im Ersten Weltkrieg nicht einfach so viel Brot backen, wie wir wollten. Ein Gemeindevorsteher kam, hat die Kornmühle verplombt und jedes Mal, wenn Brot gebacken wurde, kam er, um die Menge zu überwachen. Als die Väter in den Krieg zogen, hatten die Bauern unter ihnen noch große Außenstände bei uns, die haben sie größtenteils in Naturalien bezahlt, mit ein paar Zentnern Korn oder mit einem Schwein, gehungert haben wir nicht. Irgendwann 1918 war unser Hof plötzlich voller Soldaten, die machten bei uns Pause, aber der Russe ist im Ersten Weltkrieg niemals bis nach Pobethen gekommen. Hinterher haben wir noch Munition gefunden, gleich eingesteckt und heimlich damit gespielt. Mein Großvater hat unsere Maschinenfabrik um die Jahrhundertwende aufgebaut. Er stammte aus Heiligenkreutz, Kreis Labiau in Ostpreußen und war Sohn eines Kantors. Eigentlich war Großvater Lokomotivführer. Der preußische Staat hatte ihn an Russland verliehen. Später rühmte er sich vor mir damit, dass er den Zarenzug gefahren habe, bis nach Sibirien hinein. In Russland hat er auch geheiratet, in Barziwilischki, Bezirk Kowno. Weil mein Großvater aber nicht wollte, dass seine drei Söhne russische Staats­ bürger werden, ist er nach Ostpreußen zurückgekehrt. Das war um 1900. Als Großvater wiederkam, hat er sich in Pobethen sesshaft gemacht, dem Gut Dieverns ein Gehöft abgekauft, als Schmied angefangen, und weil es gut lief, schon bald unsere kleine Landmaschinenfabrik aufgebaut, die Firma Kohtz. Die Geschäfte gingen so gut, dass Großvater 1904 das erste Auto in Pobethen besaß. Während meiner Kindheit wurde immerzu angebaut. Unser Hof bestand aus einem großen Wohnhaus, einem Stallge­ bäude für Kühe, Pferde und Hühner, einem Wagenschuppen für Kutsche und Automobil, einer Gießerei in der ehemaligen Stellmacherei und einem Werkstattgebäude. In der Mitte stand ein großer Brunnen. 1902 hatten wir schon fließendes Wasser, was in Ostpreußen sehr fortschrittlich war und Erstaunen im Dorf ausgelöst hat. Mein Vater hat die Motorpumpe des Brunnens selbst entworfen und eine Leitung zu zwei großen Behältern un­ ter dem Dach unseres Hauses geführt, wenn sie voll waren, wurde die Pumpe abgestellt. Dieses Wasser reichte etwa eine Woche, dann musste wieder gepumpt werden. Wir hatten erst eine Buntmetallgießerei, die dann erweitert wurde auf Eisenguss, Grauguss. Wir haben Ersatzteile für landwirtschaftliche Maschi­ nen gegossen und bis weit hinter Königsberg transportiert. Jedes zweite Gitter um die Gräber auf unserem Friedhof war von der Firma Kohtz ge­ schmiedet. Wir sind als Kinder über den Friedhof gelaufen und haben ge­ guckt, welches von uns gemacht wurde. Heute ist das der Sportplatz.

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I. Kindheit

Um ein Maschinenteil gießen zu können, müssen Sie zuerst Formsand stampfen. Der Formsand wird leicht angefeuchtet, damit er gut backt und zum Modellieren in Holzmodelle gelegt. Die Formen müssen zweiteilig sein, damit man sie auseinandernehmen kann, da hinein gießen Sie das flüssige Metall. Als der große Umbruch kam, im Herbst 1918, gab es Spannungen mit unseren Arbeitern. Meine Eltern waren natürlich kaisertreu und deutschna­ tional, die Arbeiter Kommunisten, so war das damals. Trotzdem kamen wir meist gut miteinander aus, alle Kinder haben zusammen auf dem Hof Völ­ kerball gespielt und mein ältester Bruder war gleichzeitig Mitglied im Stahlhelm und im Arbeiterturnverein. Später sind die Arbeiter und er ge­ meinsam in die SA eingetreten und haben Geländeübungen gemacht. Bei uns lebten acht Lehrlinge in Pension, die für uns wie Familienmit­ glieder waren. Ihre Ausbildung dauerte ein Jahr länger, weil sie im vierten Jahr Kost und Logis abarbeiten mussten. 1919 wurde ich eingeschult, aber nicht etwa in die Volksschule, die es in Pobethen auch gab, sondern in unsere Privatschule. Die Eltern hatten sich alle zusammengetan und eine Lehrerin angestellt, die acht Klassen gleichzeitig unterrichtete. Am Ende der Volksschulzeit stand eines Tages Postmeister Tessenow in unserer Tür. Er bekniete meine Eltern, mich weiter zur Schule gehen zu lassen, weil ich so gut sei. Er ist mit mir nach Königsberg zur Oberrealschule gefahren, wo mich Oberstudiendirektor Haupt geprüft und auf meinem Zeugnis vermerkt hat: Reif für Untertertia, also das neunte Schuljahr. Die Oberrealschule kostete aber für Auswärtige 21 Mark Schulgeld pro Monat, dazu kamen noch 13 Mark für eine Monatskarte der Samlandbahn. Meine Eltern sagten mir, sie könnten das einfach nicht bezahlen, also bin ich zur Mittelschule gegangen, die kostete nur 7,50 Mark. Jeden Morgen bin ich von da an zu­ erst die drei Kilometer mit dem Fahrrad nach Watzum zum Bahnhof gefah­ ren und von dort aus eine halbe Stunde mit dem Zug zum Königsberger Nordbahnhof. Nach zwei Jahren Mittelschule war endlich genug Geld da, dass ich zur Oberrealschule durfte, um mein Abitur zu machen. Doch wenig später starb mein Vater und ich musste von der Schule. Das war 1929, im Jahr des Börsenkrachs. Mein Vater hat sich beim Schmieden einer Kurbelwelle am automatischen Krafthammer verletzt. Das war so eine Kurbelwelle, wie man sie damals für Dreschmaschinenförderstege benötigt hat. Es war doch nur ein kleiner Pi­ ckel an der Hand. Anfangs haben wir uns noch nicht viel dabei gedacht, bald jedoch reichte ein roter Streifen schon über den Ellenbogen: Blutver­ giftung. Er musste nach Königsberg ins Krankenhaus transportiert werden, doch selbst dort waren die Ärzte völlig hilflos. Sie haben ihm den Arm abgenommen, das half aber nicht. Schließlich sagten sie zu meinem Onkel,



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er solle meinem Vater eine Flasche Schnaps kaufen, die er auf einmal aus­ trinken müsse, das sei die einzige Möglichkeit. Trotzdem ist mein Vater wenige Tage später gestorben. Hätte es damals schon Penicillin gegeben, hätten wir ihn ganz einfach retten können.

Elisabeth Furtwängler * 20. Dezember 1910 in Wiesbaden  † 5. März 2013 in Montreux

Eigentlich habe ich es gut gehabt, nie Angst haben müssen, als gleich am Anfang des Jahrhunderts erst der Krieg und dann die Armut den Menschen das Leben schwer gemacht hat. Nur meine Mutter… jetzt kommen die ganz großen Vögel, gucken Sie mal! Das ist natürlich albern von mir, gleich am Anfang zu unterbrechen. Aber das ist so eine Freude, die Vögel machen mir großen Spaß. Ich wollte eigentlich immer zur Freiheit. Aber gut, zurück zu der kleinen Elisabeth, die ich einmal war. Ich habe am 20. Dezember Geburtstag. In meiner Kindheit kam es schon einmal vor, dass meine Mutter meinen Geburtstag im vorweihnachtlichen Trubel einfach vergaß. Wenn sie aber doch einmal daran dachte, wurde groß gefeiert. Meine Mutter hat alle ihre Freunde aus der Berliner Gesellschaft



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eingeladen, auf meinem Geburtstagstisch türmten sich die Geschenke und mir gingen die Augen über. Nach der Feier wurden die Geschenke einfach abgeräumt, wieder in die Geschäfte gebracht und der Kaufpreis erstattet. Das hat mich als Kind sehr getroffen, aber so war sie. Sie lebte ihr Leben, ohne Rücksicht auf Verluste, war nicht liebevoll, nicht gütig, sie hat ge­ herrscht. Meine Mutter war zwar sehr streng zu mir, aber nicht zu sich selbst. Von Kaiserreich und Erstem Weltkrieg habe ich nicht viel mitbekommen. Nur Kaiser Wilhelm, den traf ich einmal, beim Zahnarzt 1916. Ein ameri­ kanischer Spezialist war nach Berlin gekommen und die ganze Berliner Gesellschaft strömte hin. Auch meine Mutter und der Kaiser hatten Wind davon bekommen. Als ich kleines Mädchen seine Majestät im Wartezimmer sah, habe ich ihn begrüßt: „Guten Tag, Kaiser!“ – und der Kaiser hat er­ widert. Meine Mutter war Katharina von Oheimb, in der Weimarer Republik besser bekannt als „Kathinka“. Kurt Tucholsky hat ihr ein spottendes Ge­ dicht gewidmet, sie war berühmt und berüchtigt. Meine Mutter führte den größten politischen Salon Berlins der 20er Jahre, 500 Quadratmeter in der Matthäikirchstraße am Tiergarten, nahe der heutigen Philharmonie. Alle gingen bei ihr ein und aus, Politiker, Industrielle, Künstler, sie war eine Institution. Es ging das Gerücht, dass neue Minister in ihrem Salon gekürt würden, und neue Minister gab es damals ja viele. Meine Mutter hatte schon vor dem Ersten Weltkrieg in Goslar politische Bildungskurse für Frauen ermöglicht und illustre Redner dazu eingeladen. Einer von ihnen war ihr späterer Förderer Gustav Stresemann. Sie machte den Luftschifffüh­ rerschein, versorgte die Bevölkerung im Krieg mit selbst geschossenem Hirschfleisch und wurde eine von 36 Frauen des ersten Reichstages nach dem Krieg. In Stresemanns Deutscher Volkspartei war sie eine schillernde Liberale, durch und durch Republikanerin und progressiv. Sie bewunderte öffentlich den viel geschmähten Reichspräsidenten Friedrich Ebert. Ich darf also nicht ungerecht sein. Von heute aus betrachtet, hat meine Mutter poli­ tisch Gutes bewirkt. Aber ein Kind sieht seine Mutter doch anders. An meinen Vater habe ich keine Erinnerungen. Er ist ein halbes Jahr nach meiner Geburt bei einem Kletterunfall in den Dolomiten abgestürzt. Die genauen Umstände seines Todes sind nie geklärt worden. Die Absturzstelle galt als ungefährlich und mein Vater muss ein guter Bergsteiger gewesen sein. Es kursierten später die wildesten Gerüchte. Meine Großmutter väter­ licherseits hegte sogar den dunklen Verdacht, meine Mutter habe ihren Mann aus dem Weg räumen wollen und hätte ihm finstere italienische Mordgesellen hinterher geschickt. Ich glaube viel eher, dass mein Vater sich das Leben genommen hat, aus Kummer und Scham über meine Mutter, die

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I. Kindheit

damals schon ein Verhältnis mit seinem Freund hatte. Er musste ihr miss­ trauen, war doch selbst einem Freund als Kathinkas Ehemann Nummer zwei gefolgt. Und tatsächlich: Kurz darauf war Ehemann Nummer drei da, mein Stiefvater Jochen Oheimb. Der war nett, wenn man so will, und na­ türlich streng, albern streng, wie es heute gar nicht mehr üblich ist. Er hat wenig Eindruck auf mich gemacht. Überhaupt spielten Männer lange Zeit keine wichtige Rolle in meinem Leben. Nur meinen zehn Jahre älteren Halbbruder Vital, den habe ich ge­ liebt, der war wunderbar, weil er sich nie unterdrücken ließ und immer für mich da war, wenn ich seine Hilfe brauchte. Mein Bruder Heinrich war ganz anders. Wir nannten ihn Heino. Er galt als linkisch und schwächlich. Weil ich klüger war, wurde ich viel strenger erzogen. Meine Mutter wollte nicht, dass Heino und ich eine öffentliche Schule besuchten. Also bekamen wir einen Hauslehrer. Unser Lehrer ist an seiner Aufgabe, zwei ganz unter­ schiedlich begabte Kinder zu unterrichten, so lange verzweifelt, bis er einen Brief an meine Mutter schrieb und darum bat, uns getrennt unterrichten zu dürfen. Ich habe diesen Brief bis heute. Da steht, ich wisse immer alles besser als mein Bruder, platze ungefragt mit meinem Wissen heraus. Hein­ rich sehe dann jedes Mal ganz töricht aus. Trotz allem, was mich bedrückt hat, scheine ich damals doch ein fröhliches und etwas vorlautes Mädchen gewesen zu sein. Bis zu meinem zwölften Lebensjahr habe ich im großbürgerlichen Haus­ halt meiner Mutter in Berlin gelebt, aber mehr neben als mit meiner Mutter. Politik war überall. Das brachte mit sich, dass ich sie wenig sah. Wie soll ich sagen? Wenn es ihr passte, sah ich sie. Also war ich umgeben von un­ seren Dienstboten. Als ich meiner Mutter zu viel wurde, hat sie mich zu ihrer Parteifreundin Hannah Ackermann nach Magdeburg gegeben. Seitdem hatte ich zwei Mütter. Hannah war einfach großartig. Das Haus war Magdeburger Mittelschicht, bürgerlich und offen, ihr Mann war Arzt und Hanna machte die Abrechnung. Meine beiden Mütter haben mich ge­ prägt. Obwohl sie so verschieden waren, wie man nur sein kann.

Hans von Seggern * 24. April 1914 in Oldenburg

Als kleiner Junge beobachtete ich einen endlosen Zug heimkehrender Soldaten. Die vielen Leute, die vielen Gewehre. Das war im Herbst 1918. Ich entsinne mich im Moment nicht, wie ich das damals eingeordnet habe, aber ich war sehr betroffen durch den Krieg. Als ich geboren wurde waren friedliche Zeiten. In Oldenburg regierte Großherzog Friedrich August, und in Deutschland Kaiser Wilhelm II. Doch bald darauf war der „Selbstmord Europas“ in vollem Gange und meine Familie mittendrin. Meine Mutter starb mit 26 im Hungerwinter 1915 / 16 kurz nach der Geburt meines kleinen Bruders, mein Vater war im Feld und wir kleinen Kerle waren plötzlich ohne Eltern. Für meinen Bruder und mich gab es nur Oma. Sie war unser Ein und Alles. Wir liebten sie sehr, sie kam

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I. Kindheit

aus einer ganz anderen Zeit. Sie war Jahrgang 1848, gerade verwitwet und bestimmte nun unsere nächsten vier Lebensjahre. Stets gestaltete sie eine behagliche Schummerstunde, in der sie uns Gedichte aufsagte. Das war sehr wertvoll für uns, einige Gedichte kann ich bis heute. Davids wahre Größe in Matthias Claudius‘ Gedicht blieb für mich prägend: „Trau nicht auf dei­ nen Tressenhut, noch auf den Klunker dran! Ein großes Maul es auch nicht tut.“ Stille und Behaglichkeit ging von ihr ein in den Rhythmus unseres Lebens. Sie war überzeugt, dass wir ganz fabelhafte Kinder waren. Ganz ehrlich war das wohl nicht, hin und wieder griff sie zum Schüsseltuch und versuchte uns zu verhauen. Wir krochen dann unters Sofa, dort waren wir sicher, weil sie sich nicht mehr bücken konnte. Aber wenn jemand kam und sich beschwerte, ihr Enkel habe Steine an unser Fenster geworfen oder so etwas, dann sagte sie ganz ernst: Unser Hans, der tut so etwas nicht. Da gingen die Leute ganz beschämt weg, weil sie die alte Frau gekränkt hatten. Für mich war das eine moralische Ohrfeige, ich darf doch Oma nicht ent­ täuschen. Mein Vater kehrte 1919 aus dem Krieg heim und heiratete bald darauf Marie Schomerus, die Tochter des Hofbäckermeisters aus einer alten ostfrie­ sischen Pastorenfamilie. „Wir haben nun auch eine Mutti!“, erzählten wir den Nachbarkindern stolz. Wir hatten einen riesigen Garten, der für uns Kinder ein abenteuerlicher Urwald war. Darüber flogen ab und zu die Zep­ peline, die aus Ahlhorn kamen. Das war fürchterlich, sie flogen sehr niedrig und brummten laut. Mein Vater hat es auch ohne Studium und Abitur zu etwas gebracht. Er gründete eine eigene Bank und ein Reisebüro. In der Schulpause pflegte mich mein Lehrer zu meinem Vater zu schicken, um den neuesten Kurszettel zu holen, natürlich kam ich mir selbst dabei schon als Banker vor. Für den Jahr­ markt drückte mir mein Vater einmal 65 Milliarden Mark in die Hand, die ich auf eigene Faust ausgeben durfte. Ich kaufte mir eine Zuckerstange. Das Reisebüro meines Vaters öffnete mir den Blick in die weite Welt. In Bremerhaven sahen wir die herrlichen Luxusdampfer und als mein Vater 1924 mit dem Norddeutschen Lloyd nach New York aufbrach, sprach dar­ über die ganze Stadt. Mit ihm machten wir sonntags stets lange Spaziergän­ ge und Wanderungen, wobei uns Elefanten und Löwen aus seiner Phantasie begleiteten. Er pflegte diese Wanderungen bis ins hohe Alter, genau wie ich und auch meine Kinder. Mein Vater war im Vorstand des Marinevereins und nahm uns Kinder zu Vorträgen mit. Da tauchten dann Felix Graf Luckner, Admiral Wilhelm Souchon und andere Heroen aus dem Seekrieg auf, über den sich wohl besser als über den Rest des Krieges erzählen ließ. Da habe ich einen Ein­ druck vom Krieg gekriegt.



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Ich liebte weite Radfahrten durch Felder, Wälder und Moore, lag viel im Schwimmbad herum, las gern und viel. Zeitungen wie das „Hamburger Fremdenblatt“, den „Berliner Börsen-Courier“, auch das „Memeler Dampf­ boot“ aus Litauen, das „Bromberger Tageblatt“ aus Polen und den „Man­ chester Guardian“. Für Schularbeiten hatte ich deshalb in den ersten Jahren nicht viel Zeit. Die Hauptsache war, dass ich versetzt wurde, bei meinen Klassenkameraden blieb und mein Vater mir die nächste Schülermütze kau­ fen konnte, was bei meinem großen Kopf immer auf Schwierigkeiten stieß. Später arbeitete ich systematischer an meinen Schularbeiten, weil ich stu­ dieren wollte. Deutschnational war die klassische Einstellung der Lehrer und Schüler. Deutschland war im Elend und deshalb musste man solidarisch sein und tun, was man konnte um das Elend zu beenden. Diese Haltung war auch das Er­ gebnis des Geschichtsunterrichts. Die Weimarer Republik hatte ja kein Anse­ hen bei uns, die Parteien machten sich gegenseitig schlecht und in der Zei­ tung sah man die SPD-Politiker vor Sektflaschen und hinter prächtig gedeck­ ten Tafeln sitzen. Die deutschnationale Stimmung war nicht aggressiv, sie war, plakativ gesagt, nur Bewahrung des Deutschtums im „Schanddiktat von Versailles“, wie es in der Schule genannt wurde. Auch der Sohn des Oberrab­ biners, der später so schnöde aus der Heimat vertrieben wurde, erzählte mir vor Jahren, dass er in seinem Elternhaus „deutschnational bis auf die Kno­ chen“ erzogen worden wäre. Die Lehrer zogen sich sonntags Windjacken, Schnürhosen und Marschstiefel an, um beim Stahlhelm Dienst zu machen und wir Jungs gingen zum Jungstahlhelm, um die Reichswehr zu unterstüt­ zen. Wir lernten in der Alexanderheide Schützengräben zu graben und zu schießen, was allerdings niemand wissen durfte. Die Pfadfinder haben wir nicht als Konkurrenz empfunden, wir fühlten uns nur etwas zweckmäßiger. Denn die Aggressivität der Polen, die im Westmarkenverein5 damals Pläne bis zur Oder hatten, empfand man als Bedrohung. Der Polnische Korridor6, den man zwischen Ostpreußen und das Reich gelegt hatte, war eine Kriegs­ gefahr. Die Polen hatten eine Million Soldaten unter Waffen und wir hatten nur Hunderttausend, die völlig hilflos gewesen wären. So war damals die Stimmung auf die Verteidigung gegen Polen gerichtet. Ich war damals begeistert für Stresemann und seine Friedenspolitik, weil ich den Eindruck hatte, der will mit seinen klugen diplomatischen Mitteln 5  „Verband zur Verteidigung der westlichen Grenzmarken“ [Związek Obrony Kresów Zachodnich, ZOKZ]. In der Zwischenkriegszeit entstanden in dieser Orga­ nisation populärwissenschaftliche Publikationen, die eine Ausdehnung des polni­ schen Staatsgebiets nach Westen forderten. 6  Landstreifen zwischen Pommern und der Weichsel, der nach dem Ersten Welt­ krieg Polen zugesprochen wurde, um dem neugegründeten Staat einen Ostseezugang zu ermöglichen.

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I. Kindheit

den Frieden herstellen, ohne Revisionismus, aber auch ohne weitere Gebiets­ verluste. Ich wollte als Primaner Diplomat werden, um die Politik Strese­ manns zu unterstützen. Seine Friedenspolitik führte zur Räumung des Rheinlandes und des Ruhrgebietes und wir sangen mit sakralem Pathos: „Flamme empor! Gehe mit leuchtendem Scheine auf den Gebirgen am Rheine leuchtend empor!“ Ostern 1932 radelte ich mit meinem Bruder nach Doorn, um den Kaiser zu sehen. An der Pforte gaben wir unsere Bitte um Audienz ab. Wenige Augenblicke später kam der Kaiser mit seiner Frau zu einer Ausfahrt heraus und wir zogen schnell unsere Schülermützen. Wilhelm II. nahm höflich seinen Hut ab und blickte uns freundlich an. In der Jugendherberge warteten wir nun auf seine Antwort, aber irgendwann dauerte es uns zu lange. Wir betrachteten die Begegnung als gehabt und fuhren 14 Tage durch den Vor­ frühling der schönen Niederlande. Ich machte viele Radtouren Anfang der 30er Jahre und sah unendliche Scharen arbeitsloser und barfuß gehender Jungen in meinem Alter. „Sechs Uhr aufstehen, kloppen7 gehen, Kaffee gibt es im Krankenhaus“ war einer ihrer Sprüche. Die Situation der Gleichaltrigen war entsetzlich mit anzuse­ hen und hat mich sehr bedrückt. So auch ihre Lieder: „Wilde Gesellen vom Sturmwind durchweht, Fürsten in Lumpen und Loden, ziehn wir dahin bis das Herze uns steht, ehrlos bis unter den Boden.“ In der Schule gab es kaum Nazis, in der Parallelklasse waren zwei, in meiner Klasse keiner, der davon Gebrauch gemacht hätte. Hitler ist ja auch an die Macht gekommen, weil er unterschätzt wurde. Ich habe ihn für lä­ cherlich gehalten. Die merkwürdigen Fahnen, die sonderbaren Uniformen, diese extremen Reden. Ich entsinne mich, an Hitlers Rede auf dem Renn­ platz 1930, seine Stimme drang durch die Lautsprecher weit in die Stadt. Das war ein Urerlebnis. Wenig später war der Freistaat Oldenburg leider das erste Land, das von Nationalsozialisten regiert wurde. Am 30. Januar 1933 schrieb ich die letzte Arbeit des schriftlichen Abiturs in Mathematik. Es war ein Montag. Danach ging ich mit meiner Freundin zum Eisfest Schlittschuhlaufen. Ich erholte mich von den vier Abiturtagen. Abends hörte ich dann, Hitler sei Reichskanzler geworden und meinte, dass habe der Hindenburg, für uns ein Garant gegen die Nazis, doch gut ge­ macht. Wir hatten ja schon mehrmals erlebt, wie oft die Kanzler wechselten, nach ein paar Tagen wird der Schreihals erledigt sein.

7  Betteln.

Albert Scheel * 6. Oktober 1917 Berlin  † 19. Februar 2013 Oldenburg

Ich war immer der Kleinste und wurde von allen Albertchen genannt. Ich sehe mich noch mit meiner Schwester auf dem Rittergut Grassee in Hinter­ pommern bei der Familie meines Vaters spielen. Die Scheels haben immer dort gelebt, sie waren auf dem Gut über Generationen Stellmacher gewesen. Wir Kinder haben dort in der allerschlechtesten Zeit während der Inflation bei meinen Großeltern gewohnt und mit den Nachbarskindern Ottfried-Karl und Annemarie von Krone im Schloss gespielt. Für die waren wir sehr in­ teressant, weil wir die Kinder aus Berlin waren. An diese Berliner Zeit in den 20ern kann ich mich noch gut erinnern. Für mich waren das keine „Golden Twenties“, sondern ganz schlimme Jahre, eine richtige Notzeit. Es war üblich, dass man hörte, hier haben sie die Hühner

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I. Kindheit

geklaut, dort die Ziegen. Bei unseren Nachbarn haben sie während der Mit­ tagszeit das Schlafzimmer ausgeräumt. Mord und Totschlag und Selbstmord mit Gas waren an der Tagesordnung. Bald wurden unsere Einnahmen wert­ los, Gott sei Dank hatten wir aber eine Gärtnerei und konnten uns mit Kar­ toffeln und Porree über Wasser halten. Porree haben wir sonntags gegessen und uns gesagt, es sei Spargel. Is doch drollig, nich? Einmal haben wir einen großen Wagen voll Chrysanthemen verkauft und sind mit dem Geld sofort zum Alexanderplatz auf den „Grauen Markt“ gefahren. Mit zwei Pfund Schmalz sind wir zurück. Wir waren sehr arm, aber nie arme Leute. Ich war ja ein sehr helles Kind und habe vieles mitgekriegt, was die Erwachsenen erzählt haben. Das waren alles einfache Leute, ein Ofensetzer, ein Tischler und viele Gärtner, aber keine Faulpelze. Sie sagten immer, in der Friedenszeit sei es besser gewesen. Damit meinten sie die Kaiserzeit. Zwei Tanten von mir gratulierten dem Deutschen Kaiser am 27. Januar stets zum Geburtstag. Organisiert wurde es vom Berliner Lokalanzeiger des Hugenberg-Konzerns. Wir zu Hause lasen allerdings die Berliner Morgen­ post von Ullstein. Über Hindenburg haben die Erwachsenen gut gesprochen. Er war der Sieger von Tannenberg. Wir hatten eine Platte von ihm mit seiner Rede zur Rheinlandbefreiung. Ich erinnere mich noch an die tiefe, männliche Stimme. Die Leute glaubten, dass wir mit Hindenburg wieder einen Kaiser bekämen. Alle Menschen in meinem Umfeld waren deutschnational, also kaisertreu. Am 11. August war Verfassungstag. Da mussten alle am Bolleplatz antreten und marschieren. Wir bekamen schwarz-rot-goldene Fähnchen in die Hand und wie die meisten anderen haben wir sie zerrissen. Häufig erzählte mein Vater uns mit Tränen in den Augen, wie er erlebt hat, dass die aufständischen Kommunisten den Offizieren die Rangabzei­ chen abgerissen hatten. Obwohl wir keine militärische Tradition in der Fa­ milie hatten, konnte er das nicht ertragen. Mein Vater hat nie gedient, weil er sehbehindert war. Er war kräftig, sehr fleißig, still und in sich gekehrt. Am 30. Januar 1933 wurde er 50 Jahre alt. Während der Feier platzte mein Schulkamerad Klaus herein und rief, der Hitler ist an die Macht ge­ kommen. Die Spannung war ganz schrecklich. Wir Jungs sind gleich mit dem Bus nach Berlin in die Wilhelmsstraße gefahren. Da sahen wir die Massen marschieren, Klaus war sehr kess und machte sich über das Spek­ takel lustig. Da kriegte er gleich eine gelangt. Wir sind dann zur so genann­ ten „Brüningschen Reichskanzlei“ und haben dort Hitler am Fenster gese­ hen. Die Leute jubelten. Bis zu diesem Jahr war ich im „Bund der Wandervögel“. Die Jungs, die aus unserer Schule gekeilt wurden, also geworben, waren alle aus guten



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Verhältnissen und sportlich. Im Jahr der Machtergreifung hatten wir Pfingst­ lager in der Lüneburger Heide. Das Lager wurde von Vizeadmiral von Trotha organisiert, der sich so zum Keilbock für die Jugend machte, die nicht Staatsjugend werden wollte. Am dritten Tage wurde das Lager aufge­ löst, weil angeblich ein Abbild Baldur von Schirachs an einem Galgen hochgezogen worden war. Da sind wir verboten worden. Man kam auf uns zu und sagte, dass wir alle zusammenbleiben könnten, wenn wir geschlos­ sen in das Jungvolk übertraten. Das haben wir gar nicht so graulich emp­ funden, weil sich eigentlich nichts für uns änderte und wir weiter auf Fahrt gehen konnten. Wir fanden es prima und haben uns nichts weiter dabei gedacht. Nur haben wir nicht mehr unser blaues Hemd mit weißen Schiller­ kragen getragen, sondern sind mit Braunhemden gegangen. Ich wurde später auch Zugführer im Jungvolk, blieb also in der Pimpfenjugend, und war deshalb nicht in der Hitlerjugend. In der Zeit nach 1933 habe ich persönlich nichts Schlimmes erlitten. Ich hörte oft den Satz: Das kann jetzt ruhig teurer sein, mein Mann hat ja wieder Arbeit. Auch in unserer Gärtnerei gab es wieder viel zu tun. Unsere Mitarbeiter gehörten zur Familie und haben Weihnachten mit uns gefeiert. Mein Vater war einer der ersten, der den Gehilfen am Samstag frei gegeben hat. Das war auch im Sinne des Zeitgeistes, dann konnten die ihren SABetrieb machen. Ich hatte allerdings auch einen Freund, Dr. Kurt Macholl aus Nieder­ schönhausen, dem es nicht so gut ging. Er war älter als ich und mein Füh­ rer oder besser Vorbild. Dass er Jude war, wusste ich vorher nicht, das sagte mir auch nichts, es gab eben Juden, Katholiken, Protestanten und viele Freidenker. Er war mit uns in der Friedenskirche und spielte den Mel­ chior in unserem Krippenspiel. Kurt kam immer gerne zu uns, aber irgend­ wann sagte er, er wolle lieber nicht mehr kommen, damit wir keinen Nach­ teil durch ihn hätten. Als wir ihn 1938 noch einmal besuchten, riet ich ihm Deutschland zu verlassen, seine Frau protestierte, wir sind doch Deutsche. Ich weiß nicht, was mit ihm passiert ist.

Annelise Pflugbeil * 03. Mai 1918 in Stettin

Mein Vater war leider im Ersten Weltkrieg schon aktiv. Er wurde gefan­ gen genommen und galt als vermisst. Erst zwei Jahre nachdem ich geboren wurde, kam er heim. Er war in einem französischen Offiziersgefangenenla­ ger. Dort muss es langweilig gewesen sein, seine Erzählungen handelten vor allem davon, dass es abwechselnd Erbsen, Bohnen und Reis gab und täglich Schachspiel auf einem selbstgebauten Schachtbrett gespielt wurde. Am En­ de wurde mein Vater Schachmeister der Gefangenen. Da war zu Hause plötzlich ein fremder Mensch aufgetaucht der meine Mutti nun immer umarmte und küsste, was mir sehr missfiel, das ist meine erste Erinnerung an meinen Vater. Eine weitere Erinnerung ist, wie ich unter dem Flügel saß und meiner Mutter zuhörte, die in einem schönen



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Sopran sang. Das Zuhören und innere Mitsingen habe ich sehr genossen. Ich weiß bis heute die Texte dieser Schubert-Lieder auswendig. Musik und gelegentliche Konzerte meiner Mutter bestimmten meine Kindheit. Auch mein Vater hatte Klavier gespielt, aber in vier Jahren Krieg, davon zwei Jahren Gefangenschaft, das Spielen verlernt. Er hat nie wieder gespielt und meine Mutter brauchte andere Begleiter. Meine Kindheit in Stettin war schön. Wir hatten eine besonders große, hübsche Wohnung, mit hohen Zimmern, sehr schön eingerichtet. Sie war in einem Eckhaus, von allen Seiten schien die Sonne ins Wohnzimmer. Es war mir und meinem drei Jahre jüngeren Bruder nicht bewusst, dass wir so eine schöne Wohnung hatten. Während der Abwesenheit meines Vaters im Krieg wohnten wir bei den Eltern meiner Mutter, Ohmchen und Großpapa ge­ nannt, denn meine Mutter wollte mit mir nicht alleine hausen. Dadurch war mein Verhältnis zu den Großeltern sehr innig, besonders zu meinem Groß­ vater, der zwar aus armen Verhältnissen kam, aber sehr gebildet war. Wenn wir mit ihm durch den Wald wanderten, konnte er alle Pilze und Früchte erklären. Um Stettin war viel Wald. Großvater kam immer zu uns und sag­ te ganz energisch: Wir gehen jetzt spazieren! Wir Kinder hatten anfangs keine Lust, gingen dann aber doch mit, weil er uns mit seiner Begeisterung ansteckte. Meine Großmutter war Tochter eines Lehrers und hat auch eine gute Bildung erhalten. Alle sagten immer, frag Ohmchen, die weiß das. Sie hat viel erzählt, auch in anderen Sprachen. Eine Sache aber hat sie bewusst verschwiegen. Sie hatte sechs Brüder, die alle innerhalb einer Woche an Diphterie und Scharlach gestorben sind. Die Kinder lagen immer zu zweit in einem Sarg. Ich habe nicht einmal erfahren, ob meine Großmutter vor oder nach dem Tod der Jungs geboren wurde. Meine Mutter hat wohl auch nie weiter nachgefragt, weil es denen allen so schrecklich war. Ich wollte Näheres wissen, aber meine Großmutter wollte nicht: „Kinder, lasst mich!“ Nie mehr hat sie erzählt. Von meiner Familie haben wir auch die Liebe zur Natur gelernt. Einmal kamen meine Eltern strahlend und glücklich nach Hause: „Kinder, wir ha­ ben jetzt ein Sommerhaus für uns gefunden.“ Zuerst waren wir in Misdroy an der Ostsee, wir liebten alle sehr das Wasser. Dann suchten wir etwas anderes und fanden Horst am Stettiner Haff, bei Ziegenort, das ist ja jetzt leider polnisch. Es war so himmlisch schön, nur vier Häuser zwischen Haff und Wald. Drumherum war Schilf, es war also etwas abgeschlossen und sehr einsam. Jeder Bewohner hatte einen eigenen Strand. Der war gerade so groß, um eine Familie gemütlich aufzunehmen. Alles war ganz einfach und ganz primitiv und unglaublich schön. Wir Kinder hatten vollkommene Frei­ heit und konnten den Tag über machen, was wir wollten. Wir durften sogar

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ohne Begleitung Erwachsener baden, denn das Haff hatte eine sehr gute Eigenschaft. Es war flach genug zum Stehen, aber tief genug zum Schwim­ men. Jedes Jahr zu Beginn des Augusts stand uns der Abschied von dem Sommeraufenthalt schmerzlich bevor. Dann waren wir wieder in Stettin. Unsere pommersche Hauptstadt war groß vor dem Krieg und auch bedeutend. Die Stadt war geprägt durch die Oder, alles war irgendwie mit Wasser verbunden. Stettin hatte auch ein gutes Theater, das wir häufig besuchten. Besonders mit meiner Großmutter war es sehr faszinierend, vor allem bei Wagner Opern. Aus Glück und aus Rührung kam immer mal so ein Tränchen. Das fanden mein Bruder und ich ein bisschen lustig, aber ich lernte fast alle Wagner-Opern auswendig.

Hildegard Leyden * 11. Dezember 1919 in Rostock

Ich bin ein Theaterkind. Wenn es warm genug war, lief ich barfuß tän­ zelnd durch die ganze Stadt und durchs Theater. Vor meiner Geburt lernte ich schon den Orchestergraben kennen. Hochschwanger stand meine Mutter auf der Bühne, sang gefühlvoll, achtete nicht auf den Boden und ist mit mir in den Orchestergraben gefallen. Kurz darauf wurde ich als Hildegard Le­ win, genannt Leyden, geboren. Den Namen hatte ein Breslauer Intendant meinem Vater gegeben, weil er der Meinung war, dass Vati mit „Lewin“ keine Künstlerkarriere machen könne. Bis heute steht mein Künstlername im Pass und hat mir viel geholfen. Nur einmal wollte eine übereifrige Bank­ dame Leyden nicht akzeptieren, scheiterte mit ihrer Haarspalterei, und seitdem ist mein Name rechtskräftig. Ich kann nicht sagen, ob ich ein Papa- oder ein Mamakind bin. Beide konnten Menschen begeistern und haben stets den Planeten beherrscht, während ich in der Ecke stand. Sie haben mir mit ihrem Witz und Charme die Show gestohlen. Mein Fahrlehrer, der dazu noch verheiratet war, hörte sogar mit dem Verliebtsein in mich auf, als er meine Mutter sah. In der

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Schule nannten mich alle Maharani8, weil ich als Kind jedes Jahr eine Mit­ telohrentzündung hatte und mindestens sechs Wochen lang mit Verband rumlief. Tag für Tag brauchte ich einen neuen Tampon für das Ohr. Das hat meine Ohren sehr kaputt gemacht. Meine Eltern waren am Theater der schlesischen Hauptstadt Breslau, weshalb wir kaum ein richtiges Familienleben hatten. Unseren Sommerur­ laub verbrachten wir in Oberschlesien, wo Mutti und Vati Gastspiele auf einer Sommerbühne geben konnten. Gerne spielten sie den „Jedermann“. Außerhalb der Saison gab es für die Künstler nämlich kein Gehalt. Während der Spielzeit konnten wir uns zwar eine Putzfrau leisten, aber kein gemein­ sames Abendbrot, weil entweder einer oder häufig beide nachts spät heim­ kamen. Ich war ein schlechter Esser. Es hat mir einfach keinen Spaß ge­ macht, außer wenn es zum Geburtstag zu dritt mein Lieblingsessen gab, Kartoffelpuffer mit Apfelbrei. Ins Bett musste ich meist alleine gehen. Oft war ich bei meinen Eltern in der Garderobe oder durfte mit den Ballettmädchen turnen. Manchmal spiel­ te ich eine Kinderrolle oder durfte mir die Aufführungen meiner Eltern ansehen. Bei einer Premiere allerdings weinte ich fast die ganze Zeit, weil mein Papa mir so leid tat. Er spielte einen König und immer wenn es don­ nerte, musste er vom Thron fallen. Ich war ganz verweint als Vati mich nach der Aufführung in den Arm nahm und mir zeigte, dass man hinfallen kann ohne sich wehzutun. Wochenlang habe ich das danach geübt, bis ich es auch hinbrachte und zufrieden war. Trotz der äußeren Schwierigkeiten hatte ich meine Eltern sehr gern, und beide haben mich gut erzogen. Mein Vater legte viel Wert auf eine präzise und ausdrucksstarke hochdeutsche Sprache, weshalb ich keinen Breslauer Dialekt spreche. Er begeisterte mich mit seinen Erzählungen für die Ge­ schichte, lief viel mit mir durch Breslau und zeigte mir die interessantesten Museen. Als ich zehn Jahre alt war, sind wir sogar ins Pergamonmuseum nach Berlin gefahren. Mein Vater hat dort das alte Babylon wieder aufleben lassen, mit mir in der Hauptrolle. Ich war die Prinzessin, ritt durch das großartige Ischtar-Tor zu Nebukadnezar II. und rings um mich passierte ständig etwas Aufregendes. Er hat mir mit diesen Erzählungen viel erklärt und meine Aufmerksamkeit auf die Schönheit der „alten Zeit“ gelenkt. Am selben Tag fuhr Hindenburg mit dem Auto an uns vorbei und mein Vater und alle anderen Männer gingen an den Rinnstein und zogen den Hut. Auch das gilt ja heute als „alte Zeit“. Von meiner Mutter, die sehr musikalisch war, lernte ich früh das Klavier spielen und das Singen. Mozart war mein Lieblingskomponist. Als meine Mutter ihre Rollen zu Hause am Klavier 8  Weibliche

Form von Maharadscha, ein indischer Herrschaftstitel.



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übte, habe ich mitgesungen und dabei festgestellt, dass ich einen Koloratur­ sopran habe. Seither war mein Traum „Die Königin der Nacht“ aus der Zauberflöte in New York an der Metropolitan Opera zu singen. Das Klavier meiner Mutter ist inzwischen 120 Jahre alt, aber die Spannwand ist kaputt, und eine neue bekommt man für dieses Modell nicht mehr. Unsere ganze Familie war katholisch, obwohl keiner als Katholik geboren wurde. Meine Mutter war ursprünglich evangelisch, sang aber in einem katholischen Kirchenchor und war von den Zeremonien so begeistert, dass sie konvertierte. Ich selbst wurde daraufhin mit vier Jahren katholisch ge­ tauft. Keiner von uns nahm die Religion aber sonderlich ernst. Auf die Klosterschule kam ich auch nur, weil es eine gute Schule war, und mein Papa sich wünschte, dass ich Kinderärztin werde. Dort mussten wir vor der Lehrerin jeden Tag einen Knicks machen. Und wie tief. Wehe, wenn er nicht tief genug war. Weniger streng ging es untereinander zu. Bei uns zu Hause war immer High Life, meine Mitschülerinnen sind gerne zu mir und meinen Eltern gekommen, aber als dann der Hitler kam, hat keiner mehr mit mir geredet. Mein Papa war atheistischer Jude. Schon Anfang der 30er Jahre begannen die SA-Leute auch in Breslau damit, in den Vorstellungen zu pfeifen und zu toben, wenn Juden wie mein Papa auf die Bühne kamen. Es war sehr böse. Auch der Intendant Paul Barnay war Jude. Er wurde eines Tages von den Nazis abgeholt und in den Wald gebracht. Dort zogen sie ihm die Ho­ sen aus, verprügelten ihn und ließen ihn liegen. Gott sei Dank hat er über­ lebt und konnte Deutschland 1933 verlassen. Auch mein Vater war klug genug, um rechtzeitig Vorbereitungen zu treffen und zu gehen. Früh hatte er Hitlers „Mein Kampf“ gelesen und beschloss noch in der Endphase der Weimarer Republik 1931 nach Spanien zu emigrieren. In Spanien musste er den katholischen Glauben annehmen, um die spanische Staatsbürgerschaft zu erlangen. Wir hofften auf eine baldige Rückkehr. Doch er kam nie wieder zurück. Mit seinem Weggang begann die schwere Zeit. Aber meiner Tante aus Ostpreußen wurde die Existenz genommen, ihr Mann hatte ein Schuh­ geschäft und die Bauern wollten einem Juden keine Rechnungen mehr be­ zahlen. Sie zog mit ihrer Familie nach Berlin. Alle sind in Auschwitz er­ mordet worden.

Gottfried Lemberg * 3. August 1925 in Chemnitz  † 17. Mai 2014 in Heidelberg

Mein Vater war hochdekorierter Soldat im Ersten Weltkrieg und hat den Gaskrieg bei Verdun und Ypern mitgemacht, was ihm später gesundheitlich zum Verhängnis werden sollte. Vor dem Krieg hatte er in Frankreich gelebt und sprach deshalb fließend Französisch. Er wäre danach gern dahin zu­ rückgekehrt, unter den Zeitumständen war das natürlich nicht möglich. Als ich mit drei Jahren in der Badewanne saß, fielen mir auf einmal die unglaublich schwarzen Kohlen auf, die neben dem Badeofen lagen. Ich holte sie deshalb in die Badewanne, und fing an zu schrubben, um sie zu vom Dreck zu befreien. Dabei habe ich das ganze Badezimmer versaut, so wenigstens hat meine Mutter es immer und immer wieder erzählt. Die Lembergs zählen zu den ältesten protestantischen Familien. Eine Linie lässt sich bis zu Paulus von Lemberg verfolgen, der Anfang des 16. Jahrhunderts Abt des Augustinerchorherrenstifts in Sagan in Schlesien war und intensive Kontakte zu Luther und Melanchthon pflegte. Er nahm früh



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das reformatorische Gedankengut an und stellte seinen Mönchen frei, bei ihm zu bleiben oder ihn zu verlassen. Luther und Bugenhagen beschäftigten ihn als Rechtsberater für Ehe- und Familienrecht. Er trat aus dem Orden aus, nachdem er eine Novizin geschwängert hatte und heiratete sie. In der Rezeptionsgeschichte der Katholiken wird er deshalb als „dirutor sui ordi­ nis“, als Zerstörer seines Ordens dargestellt. Mein Opa hat mich zur Ahnen­ forschung motiviert, bereits in seiner Jugend im späten 19. Jahrhundert hatte er zusammen mit einem promovierten Historiker die Wirkungsstätten der Lembergs abgeklappert und behauptete von da an kühn und ohne Be­ weis, dass wir im Mittelalter drei Burgen in Burgund, in Vauban und in der Nähe von Pirmasens besessen hätten. Ich wurde also kurz nach der ersten Inflation in eine bürgerliche und sehr protestantische Familie in Chemnitz hineingeboren. Mein Vater wurde Dol­ metscher und später verschrieb er sich dem französischen Wertpapierrecht in der Oberpostdirektion Chemnitz. Häufig bekamen wir französischen Besuch, meine Mutter schätzte die Liebenswürdigkeit der Franzosen sehr, und ich habe die mir als Kind abgeschaute Sitte, Damen mit Handkuss zu begrüßen, stets beibehalten. Meine Eltern erzogen mich mit maßvoller Strenge liebevoll und ließen mir viele Freiheiten. Ich war ein aktives und interessiertes Kind, Musik und Sport waren meine Leidenschaften. Die Eltern förderten das. Meine Mutter kaufte mir, als ich vier Jahre alt war, eine Kindergeige und gab mir die Möglichkeit, schon früh Geigenunterricht zu nehmen. Als Primaner spielte ich im Schulorchester und in einem Streichquartett. Mein Vater wiederum animierte mich zum Sport. Mit vier Jahren bin ich in den Ferien in ein Hafenbecken gestoßen worden und meine Eltern mussten mich retten. Von da an gab mir mein Vater Schwimmunterricht, das Wasser wurde mein Element. Immerzu war ich im Wasser zu finden. Im Sportunterricht hatte ich eine eins, war auch Geräteturner, mein Oberkörper war sehr kräftig ausgeprägt. Das lag nicht nur am Schwimmtraining, sondern auch daran, dass mein Vater mich nachts oft weckte und mich Liegestütze machen ließ. Er wollte damit verhindern, dass ich meinen Körper entdeckte. Ich war stolz auf meine Muskeln und meine Kraft, wenngleich sich die eigentliche Ab­ sicht meines Vaters damit nicht verhindern ließ. Als Jugendlicher bin ich auf 200 Liegestütze nacheinander gekommen. Das war im Krieg noch sehr nützlich. Ich habe auch Nahkampfsport betrieben, bei dem die Schwächen des Gegners ausgenutzt werden, aber mit rühmlichen Mitteln, heute heißt das Jiu-Jitsu. Ich kam also meist erst spät abends heim, hatte nur in der Nacht Zeit für die Hausaufgaben und für meinen Kanarienvogel sowie mei­ nen Laubfrosch. Eines Nachmittags schlief ich vor Erschöpfung auf dem Fahrrad ein und krachte gegen einen Mercedes. Sie werden verstehen, dass ich wegen all dem von dem Parteizeug nicht viel mitbekommen habe.

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Die Sommerferien verbrachte ich meistens im Erzgebirge bei meinen Großeltern. Am liebsten bin ich ausgebüxt und tagelang mit dem Fahrrad allein unterwegs gewesen. Ich genoss die Ruhe auf einer Wiese zu liegen, aber auch die Freude über steile Berge zu fahren und in Flüssen zu schwim­ men und zu tauchen. Das Strudeltauchen in der „wilden Zschopau“ war unter uns Jungs besonders beliebt. Wir seilten uns von den Bäumen ab, lernten uns vom Strudel auf den Flussgrund runterziehen zu lassen, uns dann vom Boden abzustoßen, um neben dem Sprudel wieder aufzutauchen. Vom Staat in Anspruch genommen wurde ich als Hitlerjunge. Zunächst war ich im CVJM, der dann in das Jungvolk und die HJ übernommen wur­ de. Geändert hat sich fast nichts, wir machten Großfahrten, zelteten, hatten einen Heidenspaß. Wir bekamen keinen Kasernenunterricht, mehr als ein verlängerter CVJM, der Christliche Verein Junger Männer, war das nicht. An vielen parteipolitischen Versammlungen musste ich nicht direkt teilneh­ men, weil ich als Musiker gebraucht wurde, manches Mal als Solist, ab und zu trat ich auch in Begleitung von zwei Pianistinnen auf. Meine Eltern wiederum waren kritische Menschen und sehr deutlich in ihrer Meinung zum Regime. Meine Mutter spielte so lang es ging mit ihren zwei jüdischen Freundinnen Bridge und hielt sich zu Hause mit Worten wenig zurück. Wunderlich, dass sie nie gestapoauffällig wurde. Jede Woche sind meine Eltern zum Gottesdienst gegangen. Als unser Pfarrer mit Nazi­ stiefeln und Uniform unter dem Talar auf die Kanzel stieg und eine Lobre­ de auf Hitler hielt, hielt es meinen Vater nicht mehr in der Bank. Er stand auf, stellte sich schräg auf einen Fuß, streckte den anderen zur Seite und deutete mit ausgestreckten Armen an, wie das Kreuz schief steht. Drei von den Nazischergen sprangen auf und nahmen ihn sofort fest, er sagte laut und nicht gerade zimperlich zu ihnen: „Ihr Schurken gehört an die Front und nicht hierher!“ Darauf wandte sich der Pfarrer selbst an die Männer und verlangte, dass man Herrn Lemberg loslassen solle, weil er im Krieg ver­ dient sei. Das zählte damals immerhin noch etwas. Meine Orden, darunter das „Eiserne Kreuz“ und die „Goldene Nahkampfspange“, könnte ich heute vielleicht für 50 Cent verscherbeln. Zu Weihnachten desselben Jahres trat ich in der Marktkirche zusammen mit meiner Herzensfreundin Eva-Maria auf. Wir spielten das Adagio eines Bach-Doppelkonzerts, schauten uns dabei tief in die Augen und wussten, wen wir eines Tages heiraten würden. Drei Monate später fielen Bomben und Eva-Maria wurde mitsamt der herrlichen Geige vernichtet. Das war der erste Traum, der für mich zerplatzte.

Hildegard Juhl * 10.  Juni 1926 in Danzig / Langfuhr

Mutter fällt mir als erstes ein, wie sie zu mir gesagt hat, ich sei doch schon groß. Da war ich sechs Jahre alt. Ich gehöre in Mutters Familie, die Stampas aus Stargard in Hinterpommern, die waren alle Wandervögel und haben Musik gemacht. Am 10. Juni 1926 hat Mutter mich in DanzigLangfuhr auf die Welt gebracht, in dem Krankenhaus, wo noch heute alle Danziger Kinder geboren werden. Von meinem Vater habe ich gelernt, Schiffe zu bewundern, schöne Schif­ fe, nicht so wie heute diese hässlichen Containerschiffe, die sind zu verach­ ten. Vater hatte eine glänzende Stellung im Danziger Schifffahrtskontor als Schiffsmakler, doch Ende der 20er Jahre gruben die Polen mit eigenem Hafen in Gdingen dem Danziger Hafen das Wasser ab und Vater wurde arbeitslos. Treudoof hat er mit uns ein ganzes Jahr in unserer großzügigen

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Danziger Wohnung auf neue Arbeit gewartet und nur von Ersparnissen ge­ lebt. Es gab aber keine Arbeit, darum sind wir 1930 in die „Mauselöcher“ gezogen, sozialer Wohnungsbau, zwei kleine Zimmerchen in einer Mansar­ denwohnung in Langfuhr. Mutter hat mir Kleider genäht aus ihren alten Kleidern, sodass ich immerzu verspottet wurde. Wir hatten nie ein Sonntag­ sessen mit Braten und Rotkohl, bei uns gab es sonntags Eintopf, den Mutter vorgekocht hatte. Mein Leibgericht war Linsensuppe und Blaubeeren zum Nachtisch. Vaters Arbeitslosigkeit dauerte drei Jahre. Danzig war damals ein Freistaat unter Aufsicht des Völkerbundes, aber schon 1932 haben die Nazis die Macht übernommen und den Völkerbunds­ kommissar rausgeekelt. Man hat sich darüber gefreut, geglaubt, dass es besser wird und äußerlich wurde es ja auch besser. Zur Hitlerzeit hat Vater wieder eine Arbeit gekriegt, bei der Sparkasse. Ich bekam ein gebrauchtes Fahrrad und wir konnten in eine größere Wohnung mit vier Zimmern in Zoppot ziehen. Dort wohnten wir drei Kinder im Sommer zusammen mit den Eltern in einem Schlafzimmer, weil die anderen Zimmer an Badegäste vermietet wurden. Mutter sagte, dass wir damit die Kohlen für den Winter bezahlen könnten. Ihr war das lästig, sie musste die Badegäste bekochen und verarzten, wenn sie abends mit schlimmen Sonnenbränden und manch­ mal sogar hohem Fieber vom Strand kamen. Seitdem weiß ich, dass Bade­ gäste dumm sind. Wir haben gelernt zu sagen, wir danken Hitler, dass Vater wieder Arbeit hat und wir wieder Geld haben. Eine alte Schulfreundin hat mir einmal gesagt, ihr seid Nazis gewesen. Ich kann das eigentlich nicht sagen, aber Mutter hat auch nicht verhindert, dass wir dieser Propaganda ausgesetzt waren. Ich sehe meine Schwester Deike noch als kleines Mädchen vor mir, wie sie aufstand, wenn das Deutschlandlied im Radio gespielt wurde und den rechten Arm hob. Für meine jüngeren Geschwister war das heilige Lehre. Wir hatten bloß eine ganz kleine Hakenkreuzfahne und unser Füh­ rerbildnis war eine Postkarte, das war mir peinlich, ich habe mich geschämt, aber Mutter sagte, das reicht. Ihr Bruder, Onkel Klaus, war gegen Hitler und ist deshalb als Assistent von Speer entlassen worden. Nun baut er eben Schweineställe, war Mutters Reaktion. Sie konnte mir nicht erklären, warum er gegen Hitler war, niemand konnte mir das erklären. Da herrschte bis zuletzt das große Schweigen. Ich weiß auch nicht, ob sie was gedacht ha­ ben, als sie untergegangen sind. Was sie da wohl gedacht haben? Dass ich hinter einer Grenze gewohnt habe, habe ich sehr bewusst erfah­ ren. Wir sind mit der Schulklasse oder der Familie durch den Zoppoter Wald gewandert, genau bis an die Grenze, und wussten, wenn wir sie über­ schreiten, dann schießen uns die Polen tot. Im Unterricht lernten wir Dan­ ziger Geschichte von der Hanse im Mittelalter bis zum Versailler Vertrag



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und mussten immer wieder aufsagen, welche Landschaften von Deutschland abgeschnitten waren. „Heim ins Reich“ war die Parole: „An der Weichsel gegen Osten, stand ein Grenadier auf Posten“, das war das Radio-Pausen­ zeichen des Danziger Senders. Wir kriegten ein eigenes Pausenzeichen, weil wir ein eigener Staat waren. Man kaufte damals blaue Kerzen als Spende für das Deutschtum im Ausland, „VDA“. Mutter sagte uns immer, wir stif­ ten da nicht, wir sind ja selber Ausland. So hat sie uns eine gute Begrün­ dung an die Hand gegeben, obwohl der eigentliche Grund war, dass wir zu arm waren, um zu stiften. Mutter und Vater waren Wandervögel, naturverbunden, musikalisch und nationalistisch. Vater hat alles gelernt und aufgenommen, was Mutter konn­ te, das war so seine Art, also vertrat er auch die Auffassungen der Wander­ vögel. Von Frühling bis Herbst sind wir sonntags durch den Wald gewandert, haben viel Radio gehört, Opern, Sinfonien und unzählige romantische Lie­ der. Mutter hat uns alles erklärt, besonders die Winterreise von Schubert. Vater konnte schön singen, hatte eine hohe Tenor-Stimme. Sein Chor wurde zur Verstärkung des Opernchores während der Sommerfestspiele auf der Zoppoter Waldbühne gerufen. Jeden Sommer bis 1944 gab es WagnerFestspiele mit dem Orchester und den Sängern aus Bayreuth. Mutter war natürlich auch dabei. Sie hatte bei den „Meistersingern“ die Idee, mich während der großen Volksszenen mit auf die Bühne zu nehmen. So war ich schon mit neun Jahren auf der Opernbühne. Vorher hatten wir mit unseren Textbüchern und den anderen Zoppotern im Wald hinter dem Zaun gestan­ den. Ich habe alle Wagner-Opern gehört, immer wieder. Das Textbuch der Meistersinger hatte ich überall bei mir, zu Hause bei Tisch und selbst in der Schule. Die Lehrerin hat es mir einmal weggenommen und sich so sehr gewundert, dass sie es mir gleich wiedergegeben hat. Sie war platt, dass ich Wagner lese. Ich kann bis heute diese Texte komplett auswendig, das ist ein großer Reichtum. Ich diskutiere nicht über Wagner, für mich gehört er zur Heimat. Wenn ich nur drei Töne höre, höre ich den ganzen Akkord und wunderbare Bilder steigen in mir auf. In meiner Schulklasse gab es drei Katholiken. Warum die katholisch waren, dass sie vielleicht Polen waren, ist nicht verbalisiert worden. Meine Freundin Evchen war katholisch und fromm. Evchen hieß zwar Försterling, nach ihrem Vater, hatte aber eine polnische Mutter. Wenn ihr Vater im Zim­ mer war, haben alle Deutsch gesprochen, sonst aber immer Polnisch und in die Ferien fuhren sie nicht in den Schwarzwald, sondern nach Zakopane. Heute lebt Evchen in Bromberg, ist Gynäkologin geworden, aber nach so vielen Jahren in Polen spricht sie noch immer Deutsch. Ich schreibe meine Briefe an sie in altdeutscher Schrift, versuche die deutschen Anteile in ihr zu erhalten. In meiner Kindheit galt sie als katholisch, nicht polnisch. Wir hatten doch gelernt, dass die Polen keine Kultur haben, sieht man doch an

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Gdingen, hieß es, was die dort für Häuser gebaut haben. Als ich im Krieg dort gewesen bin, habe ich immer gedacht, wie können die Polen denn so etwas bauen, die haben ja überhaupt keine Kultur! Mutter spielte Cello in einem Orchester, das die Nazis für Propaganda­ veranstaltungen gebucht haben. Einmal fuhr sie mit dem Orchester zum Reichsparteitag nach Nürnberg. Auf der Rückreise hat sie uns in ihrem großen Cello-Koffer ein Luftgewehr nach Danzig geschmuggelt. Die Stam­ pas waren doch eine Förstersfamilie. Man ist Förster und hat ein Gewehr. Mit unserem Luftgewehr habe ich einmal einen Spatz geschossen, der unter dem Dachvorsprung unserer Mansardenwohnung in Zoppot wohnte. Er fiel runter und ich war noch stolz. Als ich den Spatz aber in der Hand hatte, tat er mir unendlich leid. Ach, wenn ich ihn doch bloß wieder lebendig machen könnte! Ich bin mit ihm rauf zu Mutter, die sagte, wenn du ihn geschossen hast, dann musst du ihn auch essen. Sie hat ihn gerupft, mit einem Teelöf­ felstil ausgenommen und gekocht. Mutter hat es sehr, sehr schön und liebe­ voll gemacht und ihn auch gut gewürzt. Ich weiß gar nicht, ob das eine Strafe oder eine Lehre sein sollte: Wenn man Tiere tötet, dann nur, um sie auch zu essen. In der Adventszeit sind wir für die Weihnachtseinkäufe mit dem Bus nach Königsberg gefahren. In Danzig gab es doch nur „polnischen Schund“. Ich habe von der Stadt aber nichts gesehen, nicht den Dom und nicht das Schloss, weil Mutter uns Kinder in der Spielecke der Buchhandlung Gräfe & Unzer deponiert hat, während sie einkaufen war. Einmal hat sie uns dort eine Eisenbahn zum Aufziehen gekauft, die später unter dem Tannenbaum lag, aber polnische Schienen aus Danzig dazu, weil das Geld nicht ausge­ reicht hatte. Als wir die Schienen zusammenstecken wollten, haben wir uns die Hände aufgeschnitten, die waren überhaupt nicht abgeschliffen. Ich lernte also, die polnischen Schienen kann man nicht nehmen. Weihnachten ist meine Herzensgeschichte. Wenn ich heute ein Weih­ nachtslied höre, muss ich gleich weinen, gehe sofort auf Tauchstation, wenn es auf Weihnachten zugeht. Großvater Stampa hatte sich alles ausgedacht, zuerst an der Decke ein riesiges Holzkreuz mit Kerzen als Adventskranz, der feierlich an einem Strick heruntergelassen wurde. Wir fassten uns bei den Händen, sangen Weihnachtslieder und tanzten im Kreis um den Kranz herum. Weihnachten war bei uns erst am Ersten Feiertag. Am Heiligen Abend gingen wir nicht zur Kirche, Mutter hat gesagt, das stört, auch die Weih­ nachtsgeschichte wurde nie vorgelesen. Das war eher was mit den Germa­ nen, vom Lichterfest und der Bedeutung des Lichtes in der Nacht. Dann wurde der Julleuchter angezündet und Julklapp gespielt. Ganz viele kleine Geschenke lagen in Papier eingewickelt auf dem Küchentisch. Einer muss­



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te immer raus, dann hat man Jul gerufen, aber wer kriegt nun ein Päckchen? Das war ein großes Vergnügen. Mutter und Vater waren spätabends noch lange in der Weihnachtsstube, die fest verschlossen und daher ein großes Geheimnis war. Am Weihnachtsmorgen ist Mutter singend mit ihrer Gitarre in unser Zim­ mer gekommen, um uns zu wecken. Ich kann das Lied nur ab dem zweiten Vers, weil wir doch noch fest geschlafen haben: „Wach auf, wach auf, liebes Kind, die Kerzen schon entzündet sind. Die Weihnachtsglocken läuten schon, es ward geboren Gottes Sohn. Sein Segen zu uns Menschen geht, der liebe Gott durchs Haus jetzt zieht.“ So, hören wir auf! Wir mussten ganz früh aufstehen, uns im Dunkeln anziehen, im Dunkeln auf den Flur gehen, vor der Weihnachtsstube stehen und zwei Verse vom Stampaschen Weihnachtslied singen. Großvater hatte ein Lied für die feier­ liche Öffnung der Weihnachtsstube gedichtet: „Horch, das muss die Klingel sein, die Tür wird aufgemacht, dann stürzen wir mit Lust herein, ins Zim­ mer, welche Pracht, beladen sind die Tische schwer und die Geschenke rings umher.“ Dann ging die Tür auf. Auf einem großen Tisch lagen die Geschenke, davor große Bunte Teller für jeden, mit Pfefferkuchen, auf die Mutter mit Zuckerguss unsere Namen geschrieben hatte. Unser Tannenbaum reichte bis an die Decke und war ganz und gar bunt, Kugeln gab es in allen Farben, wir hatten Ketten aus buntem Papier gebastelt, es gab Strohsterne, Lametta, Schokoladenkringel und einen Glasvogel mit weißen Schwanz, der auf Fe­ dern an seinem Zweig wackelte. Als erstes habe ich jedes Mal den Vogel gesucht. Der Weihnachtsbaum stand bis Kaisers Geburtstag am 27. Januar, das Baumplündern war ein großes Fest. Mein Bruder und die Zoppoter Jungs sind im Winter am Strand „Scholl­ chen“ gefahren, von einer Eisscholle zur anderen gehüpft, ein Stück gefah­ ren und weiter. Das war verboten, ich habe es nie gewagt. Die reichen Zoppoter aus der Oberstadt sind von ihren Villen aus Ski gefahren. Wir konnten uns keine Skier leisten, aber einen Rodelschlitten für alle drei. Im Wald musste man damit aufpassen und in voller Fahrt um die Bäume her­ umsteuern. Einmal bin ich mit meinem Bruder gegen einen Baumstamm gekracht, dem Schlitten ist dabei Gott sei Dank nichts passiert. Wir wurden nicht besonders christlich erzogen, haben zu Hause keine christliche Geschichte gehört. Ich bin zwar konfirmiert worden, aber Mutter fand nicht gut, welche Erkenntnisse ich aus der Kirche mitbrachte. Einmal hat sie mich gefragt, ob wir etwa auch von „Abrahams Samen“ im Lied „Lobe den Herrn“ singen müssten. Ich verstand gar nicht, worauf sie hin­ auswollte.

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Unser Kinderarzt Dr. Zitron war Jude, seine Frau eine Pastorentochter. Mutter schimpfte immer, wie kann man bloß als Pastorentochter einen Ju­ den heiraten? Trotzdem waren wir anfangs mit Zitrons befreundet. Wenn Mutter nach Stargard zu ihren Eltern fuhr, war ich tagelang bei ihnen. Bärbel, die Tochter, hatte nur zwei Tage nach mir Geburtstag und ist auf allen meinen Kindergeburtstagsbildern zu sehen. Mutter hat das sogar noch gefördert, das waren ja reiche Leute. Als ich aber in den BDM kam, sag­ te sie eines Tages zu mir, frag deine Führerin, ob du noch zu Zitrons gehen darfst, selber war sie zu feige. Die BDM-Führerin sagte natürlich nein. Ich habe meiner Freundin Bärbel per Brief die Freundschaft gekün­ digt, dafür schäme ich mich noch heute. Ich schäme mich so sehr, dass ich davon nie rede, es hat mich immer gequält. Jedenfalls war dann Schluss, ich habe sie nicht wiedergesehen. Später bin ich mit einer Klas­ senkameradin auf einem Fahrradausflug an Zitrons Haus vorbei gefahren. Sie hatte Durst und wollte rein. Dafür hat mich Mutter später ausge­ schimpft: Das sind doch Juden, wie kannst du nur? Sie hatte Angst, dass wir verpfiffen würden, dass Vater seine Stelle verlieren könnte. Immer, wenn ich nach Danzig fahre, stehe ich vor diesem Haus, begucke mir den Garten und denke an unsere Schaukel. Noch vor dem Krieg kamen deutsche Soldaten und haben an der Grenze im Zoppoter Wald eine PAK aufgestellt, eine Panzerabwehrkanone. Auf unserem Sonntagsspaziergang gingen wir ganz unbekümmert daran vorbei, begrüßten die Soldaten, die angebliche Danziger Heimwehr. Komischerwei­ se sprachen die alle Bayerisch oder Sächsisch. Lange vorher wurde darüber gesprochen, dass es Krieg geben würde. Ich schlaues Mädchen behauptete immer, das könne nicht sein, hatte ja in der Schule gelernt, dass der Krieg als Zweifrontenkrieg für Deutschland schäd­ lich gewesen war, da machen wir das doch bestimmt nicht wieder. Es war eine dramatische Stimmung. Eines Tages im Spätsommer war ich mit Mut­ ter gerade im Keller Briketts aufstapeln, als Vater runterkam und sagte, er wäre eingezogen worden und müsse sofort seine Koffer packen. Mutter erstarrte, guckte ihn an und ging wortlos mit ihm rauf. Am 1. September 1939 sind wir von polnischem Artilleriefeuer geweckt worden. Mutter hat mit uns am Fenster gestanden und gesagt, wenn man die Granaten pfeifen hört, fliegen sie gerade weg. Sie hatte das Radio an­ gestellt, um die Führerrede zu hören, da sind wir nach draußen ausgekniffen und haben die Löcher in den Nachbarhäusern bewundert. Sechs von unseren großen Zoppoter Jungs sind begeistert in den Wald zur PAK gerannt und gleich am ersten Morgen dort umgekommen. Ich bin zum Strand gelaufen, um zu beobachten wie das Linienschiff Schleswig-Holstein die Westerplatte beschießt, war doch zu „Flottenbesuch“



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da. Man sah immer erst das Mündungsfeuer, dann kam das Geräusch und dann fiel eine Mauer. Wenn sie zu tief ins Wasser geschossen hatte, gab es große Fontänen, das fand ich interessant. Am Strand haben die Leute geba­ det. Ich wäre sicher auch gegangen, aber ich hatte kein Badezeug mit, es war ein wunderschöner Altweibersommertag.

Hans-Wilhelm von Bornstaedt * 25.  Februar 1928 in Relzow / Vorpommern

Meine erste Erinnerung ist, dass ich auf dem Hof vor dem Gutshaus in Relzow auf einem Haufen weißen Sandes gespielt habe. Da kann ich nicht viel älter als vier Jahre gewesen sein. In der Mitte unseres Gutshauses wohn­ te die „Herrschaft“, meine Eltern und wir Kinder. In den beiden Seitenflügeln wohnten jeweils die weiblichen und die männlichen unverheirateten Mitar­ beiter. Es wurden zwei Küchen nebeneinander gefahren, die Küche für die Besitzerfamilie mit der „Mamsell“ und die so genannte „Leuteküche“ mit der „Leuteköchin“. Wenn ich Leuteküche sage, dann hat das keinen abwertenden Unterton. Heute würde man Mitarbeiterküche sagen. Die verheirateten Mitarbeiter, die „Deputanten“ wohnten im etwa 300 Meter entfernten Dorf, dessen Infrastruktur vollständig zum Gut gehörte.



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Die Deputanten bekamen unverhältnismäßig wenig Bargeld, dafür aber eine Wohnung, einen Stall, einen Platz für eine Kuh in der Rinderherde des Gutes, Futter für ihre Schweine und Hühner, einen Garten und Feuerholz. Das war ihr Deputat. Im Dorf gab es eine einklassige Volksschule mit einem Lehrer für alle Kinder. Diese Schule habe ich drei Jahre besucht, bevor ich mit neun Jahren am Gymnasium in Anklam eingeschult wurde. Außerdem war im Dorf die „Schnitterkaserne“, in der die Wanderarbeiter untergebracht waren, die nur in der Zeit der Erntearbeiten in Relzow waren. Ursprünglich waren das Polen, später Ungarn. Der Gutsbesitzer und seine Mitarbeiter waren aufeinander angewiesen. Fürsorge für die Leute bis zum Lebensende und Treue der Bediensteten bestimmten das Leben auf dem Gut. Wurde ein Kind geboren oder war jemand krank, ging selbstverständlich die Gutsherrin zur Niedergekomme­ nen oder zum Kranken und sah nach, ob Hilfe erforderlich ist und schickte so lange Essen, bis die Mutter wieder zu Kräften gekommen war. Das sind aus heutiger Sicht weniger gewichtige Gegebenheiten. In der damaligen Zeit war das erheblich. Mit willkürlicher Herrschaft über „Leibeigene“ nach „Gutsherrenart“ hatte das in dieser Zeit nichts zu tun. Menschen unserer Tage können sich nur schwer in die Verhältnisse eines landwirtschaftlichen Großbetriebes vor der heute selbstverständlichen Mechanisierung hineinden­ ken und neigen zu Vorurteilen. 1918 bedeutete keinen Bruch für unser Gut. Das Verhältnis zur Weimarer Republik war zwar nicht innig, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass die Relzower König und Kaiser zurück haben wollten. Das wäre welt­ fremd gewesen. Meine Eltern haben bei meiner Erziehung auf die preußi­ schen Tugenden Wert gelegt und mir die Fürsorge für die Mitarbeiter nahe gelegt. Ich wurde zum Gutsbesitzer aufgebaut, im „Dritten Reich“ hieß das dann „Betriebsführer“. Meine Familie war keine Widerstandskämpferfamilie. Überzeugte Nazis konnten adlige Gutsbesitzerfamilien aber schwerlich sein. Ich schnappte heimlich auf, dass von „Beefsteaksozialismus“ geredet wurde: Innen rot, außen braun! Dem stand aber gegenüber, dass die Staatsführung des „Drit­ ten Reiches“ die Landwirtschaft förderte, um die Autarkie im Bereich der Ernährung sicherzustellen. Vor und nach der Jahrhundertwende und in der Weltwirtschaftskrise sind viele Güter pleite gegangen, hauptsächlich weil die Preise für Agrarerzeugnisse wegen der Lebensmittelimporte unverhält­ nismäßig niedrig waren. Die „Marktordnung“ in den 30er Jahren führte zu Abnahmegarantien mit angemessenen und stabilen Preisen. In beiden Weltkriegen war die Leistung der landwirtschaftlichen Betriebe sehr geschätzt. Befindet sich ein Staat im Krieg, spielen die Kriegsereignis­

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I. Kindheit

se im täglichen Leben der Bürger eine erhebliche Rolle, sowohl zu Hause in der Familie, als auch im Betrieb und in der Schule. Ich hörte heimlich jemanden sagen: Jetzt müssen wir erst einmal den Krieg zu Ende bringen und danach müssen wir mit den Nazis fertig werden! Erwachsene mussten extrem vorsichtig mit solchen Äußerungen sein. Jeder erste Sonntag in den Wintermonaten war „Eintopfsonntag“. Das Geld, das dabei eingespart wurde, war für das „Winterhilfswerk“ zu spen­ den. Ich musste mit einer Büchse von Haus zu Haus gehen und die 10 oder 20 Pfennig einsammeln. Das betraf alle im Ort. Landwirte waren Selbstversorger. Das war in Not- und Kriegszeiten von großem Vorteil. Auf dem Lande musste nicht gehungert werden. Betriebs­ führung und Mitarbeiter waren in Notzeiten eine verschworene Gemein­ schaft in heimlichen Überschreitungen und Auslegung der staatlichen Vor­ schriften zu ihren Gunsten. Andererseits galt es im Frieden und im Krieg in allen Privathaushalten, auch in dem des Gutsbesitzers, als verwerflich, unnütz Geld auszugeben. Wir schlachteten selbst Schweine, Kälber und Schafe und hatten hervorragende Würste in der Räucherkammer. Darüber hinaus wurde immer wieder Wild­ bret aus der eigenen Jagd gegessen. Nur „Rügenwalder-Teewurst“ gab es nicht, und weil sie mir in den Ferien bei der Großmutter in Bad Doberan so schmeckte, nahm ich am Ende des Sommers oft eine mit nach Relzow. Im Gutshaus wurde kein Bier getrunken und Wein gab es nur zu großen Festen. Das Gut Relzow hat mein Vater nicht von seinem Vater, sondern 1929 in der Weltwirtschaftskrise von seinem Onkel geerbt. Dieser Onkel hatte Wert darauf gelegt, dass er vor 1918 zu den größeren Steuerzahlern im Kreis Greifswald gehörte, denn davon hing im preußischen Dreiklassenwahlrecht bekanntlich politisches Gewicht ab. Ich weiß aus unserer Familie keinen, der eine politische Stellung höher als Landrat innehatte. Die Herren waren Offiziere, dienten meistens bis zur „Majorsecke“. Mein Großvater und mein Großonkel ließen sich aber selbstverständlich ohne den Charakter eines Majors pensionieren, um weiterhin als Gutsbesitzer der „Herr Rittmeister“ zu sein. Mein Großonkel hat nicht angemessen in den Betrieb investiert. „Über Geld redet man nicht, Geld hat man!“ So habe ich nie erfahren, wo das Vermögen des alten Herrn geblieben ist. Hat er in vaterländischer Treue größere Kriegsanleihen gezeichnet, ist in der Inflation das Geld zerflossen oder hat er seinen vier Nichten, den Schwestern meines Vaters, großzügig unter die Arme gegriffen? Bei der Testamentseröffnung, mitten im schlimmen Jahr 1929, war die Gutskasse jedenfalls leer. Mein Vater wollte die Erbschaft nicht annehmen.



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Mit den Waffen einer Frau hat meine Mutter ihm das aber schnell ausgere­ det. Sie war tatkräftig, eine der modernen Frauen der 20er Jahre, trug die Haare kurz, tanzte Charleston und aß auch Gemüse. Sie stand davor ihr Lebensziel zu erreichen, Gutsfrau zu sein, hatte schon einen Sohn als Nach­ folger geboren. Bis in die Mitte der 30er Jahre hat mein Vater durchgehal­ ten, dann wollte er die Last der Führung des großen Betriebes in schwieri­ ger Lage nicht mehr tragen und erwog Relzow zu verkaufen. Aber meine Mutter hat sich mit Leidenschaft entgegengestellt: Ich gehe hier nicht weg, ich habe zwei Söhne! Es endete damit, dass die Eltern sich scheiden ließen, das Gut wurde auf mich überschrieben, mit der Verpflichtung meine Mutter lebenslang zu unterhalten und meinem jüngeren Bruder eine angemessene Ausbildung zu ermöglichen. Ich war als Neunjähriger der Eigentümer eines pommerschen Gutes geworden, weil ich der Älteste bin. Es wurde für mich mit Erfolg als „Mündelbetrieb“ von der „Landberatung Pommern“ verwal­ tet. So bin ich auch derjenige, dem die Bodenreform in der „Ostzone“ das Gut weggenommen hat. Nicht „enteignet“, wie man heute sagt, sondern konfisziert. Enteignung bedarf eines Gesetzes. Ein solches gibt es diesbe­ züglich bis heute nicht. Großgrundbesitzer galten ebenso wie Eigentümer größerer Betriebe als „Nazis und Kriegsverbrecher“, deshalb war aus kom­ munistischer Sicht ihr Eigentum einzuziehen. Ich habe zweimal meine „Rehabilitierung“ bei der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern bean­ tragt. Beide Male ist sie mir mit viel unverständlicher Juristenargumentation verweigert worden. Der Grund ist klar! Wenn ich an meine Kindheit und Jugend in Relzow denke, dann fällt mir die Kombination von Leidenschaften ein, die ich noch heute praktiziere. Das Leben in der Natur und das Interesse an einem weiten Bereich von Politik über Geschichte bis zu Naturwissenschaften und Technik. Schon als Kind hatte ich Leselampe und Radio an meinem Bett, durfte unbegrenzt lesen und hören. Das Gutshaus gab mir dafür die Grundlage, aber das Le­ ben in der Gedankenwelt meines Elternhauses hat nicht mein Interesse an der Technik angeregt. Das kam aus mir.

Johannes Runge * 9.  Juli 1928 in Schmatzin / Pommern

Ich bin am 9. Juli 1928 im vorpommerschen Schmatzin auf dem Gut geboren worden, das für mich als Kind das Paradies war, und das ich heu­ te wieder bewirtschafte. Mein Großvater erwarb dieses landwirtschaftliche Gut durch einen Kauf­ vertrag vom 19. März 1890 von den Erben des kurz vorher verstorbenen Herrn von Wolfradt. Ich glaube nicht, dass es für unser Dorf einen Unter­ schied gemacht hat, ob es einen adligen oder nichtadligen Gutsbesitzer hatte. Mein Großvater wirtschaftete gut und ließ all die Häuser in Schmatzin bauen, die noch heute mit dem Schild: „Erbaut 1893 H.R.“ versehen sind.



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Im Sommer 1914 ist er bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt. Von seinen drei Söhnen waren zwei Soldaten im Ersten Weltkrieg, der älteste fiel hochdekoriert am letzten Tag des Krieges, der mittlere überlebte den Krieg. Er wurde Arzt, deshalb musste mein Vater, der nicht im Krieg war, als unerfahrener Zwanzigjähriger das Gut übernehmen und sein Jurastudium in Greifswald abbrechen. Die Menschen, die in Schmatzin wohnten, arbeiteten alle auf dem Gut. Meine drei Geschwister und ich spielten im Dorf deshalb aber keine Son­ derrolle. Wenn wir das Haus verließen, waren wir umgeben von Kindern aus dem Dorf und spielten mit ihnen Räuber und Gendarm oder andere Bewegungsspiele, bis wir zum Essen gerufen wurden. Langeweile gab es nicht und wenn wir keine Lust auf Spiele hatten, machten wir eben Unfug. Nachmittags schlich ich mich gemeinsam mit ihnen manchmal heimlich über die Mauer, um einen Apfel zu „stehlen“, obwohl alle Apfelbäume ja im Familienbesitz waren und ich mir einfach einen hätte nehmen können. Mein Vater legte sehr viel Wert darauf, dass es keinen gewollten Abstand zwischen uns und den Schmatzinern gab und sprach mit uns, nachdem wir in seinen Augen alle anständig Hochdeutsch sprechen konnten, nur noch Platt. Fragten wir ihn fortan etwas auf Hochdeutsch, antwortete er nicht. Es gibt sogar das Gerücht, dass mein Vater zu unseren Spielkameraden sagte, wer ab morgen mit meinen Kindern Hochdeutsch spricht, darf nicht mehr mit ihnen spielen. Denke ich heute an meinen Vater, denke ich Plattdeutsch an ihn, noch 69 Jahre nach unserem Familienunglück höre ich seine Stim­ me. Etwa acht Tage vor Weihnachten wurden alle Schulkinder in unser vier­ hundert Jahre altes Gutshaus eingeladen, versammelten sich in der Küche und sangen gemeinsam „Ihr Kinderlein, kommet“. Nach diesem Lied öffne­ te sich die Tür zum Esszimmer und alle Kinder nahmen an dem großen langen Tisch Platz. Meine Mutter hatte für jeden ein kleines Geschenk, je nach Altersklasse. Ich erinnere mich noch daran, dass es einmal Skimützen für die Erstklässler gab. Danach standen wir alle um den großen Weih­ nachtsbaum und sangen fröhlich Weihnachtslieder. Das war eine wunder­ schöne Feier in weihnachtlicher Stimmung, die in besonderer Weise in meiner Erinnerung fest verankert ist. An Heiligabend fuhren wir je nach Schneelage mit dem Pferdeschlitten oder mit der Kutsche ins Nachbardorf Ranzin zum Weihnachtsgottesdienst. Das war für uns Kinder natürlich eine Pflicht, umso mehr freuten wir uns über die anschließende Bescherung zu Hause. Heiligabend war der einzige Tag im Jahr, an dem wir nicht zum gemeinsamen Abendessen erscheinen mussten, und die Bunten Teller im Weihnachtszimmer machten einen Auf­ enthalt im Esszimmer sowieso überflüssig. Wir konnten bis Mitternacht

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I. Kindheit

aufbleiben, während wir sonst schon um neun Uhr das Licht löschen muss­ ten. Ich erinnere mich noch an Skier und Skihose, die mir geschenkt wur­ den, weil wir Skiurlaub im Kleinwalsertal in den Allgäuer Alpen machten. Einmal bekam ich ein Luftgewehr und durfte einen Spatzen schießen. Das freute meinen Großvater, der leidenschaftlicher Jäger war und oft aus Ros­ tock zu uns kam, um auf Jagd zu gehen. Meinem Vater lag die Jagd nicht. Auf meiner ersten Treibjagd habe ich im ersten Kessel schon fünf Hasen geschossen und hatte furchtbare Angst davor, Jagdkönig zu werden. Dann hätte ich nämlich eine Rede halten müssen. Ein anderer Jäger schoss aber noch einen Fuchs und hatte damit mehr Punkte als ich mit meinen fünf Hasen. Während der Schulweg zur Volksschule für uns kein Problem war, weil sie schräg gegenüber vom Gutshof lag, war der lange Weg zur Oberschule stets ein Erlebnis. Bis 1939 fuhr uns ein Chauffeur ins 16 km entfernte Anklam und holte uns nach der Schule auch wieder ab. Doch seit Kriegs­ beginn durfte man das Auto nicht mehr privat benutzen, alle Autos brauch­ ten eine besondere Genehmigung, einen roten Winkel auf dem Nummern­ schild, um gefahren zu werden. Bei schönem Wetter fuhren wir nun mit dem Rad, manchmal mit der Pferdekutsche, aber das war keine Lösung für den harten Winter. Meine Mutter konnte organisieren, dass wir mit einem fahrplanmäßigen Güterwagen vom nur fünf Kilometer entfernten Bahnhof Klein Bünzow im Packwagen mitfahren durften. Das ging aber auch nur eine begrenzte Zeit. Irgendwo hat meine Mutter dann einen alten ausgemus­ terten LKW aufgetrieben, ihn als Milchwagen deklariert und so auch ge­ nutzt. Neben der Milch musste nur noch Platz für uns Kinder geschaffen werden. Das nicht beheizbare Fahrerhaus wurde so umgebaut, dass wir drei Kinder und eine Kanne voll heißen Wassers mit dem Fahrer zusammen dort sitzen konnten. Im Winter war das nämlich eine sehr kalte Angelegenheit und an der Kanne konnten wir wenigstens unsere Hände wärmen. Während ich in der Dorfschule noch den Rohrstock kennenlernte, war die Erziehung zu Hause zwar sehr streng, aber ohne Schlagstöcke. Wenn mei­ nem Vater meine Zensuren gelegentlich nicht gefielen, dann vereinbarten wir eine Strafe. Ich durfte dann zum Beispiel für eine gewisse Zeit nicht Fahrrad fahren oder nicht reiten. Am schlimmsten war für mich jedoch nicht, dass ich nicht reiten durfte, sondern, dass ich es dem Kutscher beich­ ten musste, wenn er mich fragte, ob er das Reitpferd aus dem Stall holen solle. Diese Methode war sehr erfolgreich. Mein Vater war ein sehr geradliniger Mann und überzeugter Christ. Ich hatte viel Respekt, nie aber Angst vor ihm. In jeder Hinsicht war er mein Vorbild und hat mich auch in späteren Jahren sehr geprägt. Er führte mo­ derne Methoden auf dem Gut ein und berechnete schon damals ganz genau,



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wie viele Stunden und wie viele Arbeitskräfte man für diese und jene Arbeit braucht. So hat er die Gutswirtschaft auch in den Krisenzeiten der 20er Jahre bewältigt. Politisch war mein Vater konservativ wie andere Gutsbesitzer auch. Als der Zweite Weltkrieg begann, meldete er sich freiwillig zur Wehrmacht. Es hat ihn belastet, dass seine beiden Brüder tapfere Soldaten im Ersten Welt­ krieg waren und er in dieser Zeit seinem Vaterlande nicht dienen konnte. Er trat als gemeiner Soldat ein und wurde als Oberleutnant Mitte 1942 mit organisatorischen Aufgaben in der Landwirtschaft in Südrussland betraut. Das ihm für die Erfüllung seiner Aufgabe zugewiesene große Gebiet wurde sehr bald von den deutschen Truppen aufgegeben. Danach wurde mein Vater für die Bewirtschaftung des Gutes Schmatzin vom Wehrdienst freige­ stellt.

Walter Steitz * 26. Oktober 1928 in Frankfurt am Main

Baustellensituation in der Heisterstraße 8. Das fällt mir als erstes ein. Als ich zwei Jahre alt war, haben mein Großvater und mein Vater dieses Haus in der Frankfurter Heisterstraße umgebaut. Mein Großvater hatte es in den 20er Jahren gekauft. Hinter dem Haus war ein wunderschöner Garten, der wurde platt gemacht. Da hinein haben sie das Werkstatt-, Büro- und Lager­ gebäude für unsere Firma gebaut. Das steht ja heute noch. Als meine Eltern mich zum ersten Mal der Kindergärtnerin übergeben haben, muss ich wohl geheult haben. Da wollte ich nicht mitmachen. Dieses Gefühl änderte sich aber schnell. Ich bin sehr gerne zu unserer Tante, zu Tante Johanna gegangen. Das war ein privater Kindergarten in ihrer kleinen



Walter Steitz79

Wohnung, in der sie zusammen mit ihrer Schwester lebte. Im Sommer wa­ ren wir oft draußen beim Schecker. Der Schecker war eine Badeanstalt im Main, rechts vom Eisernen Steg auf der Sachsenhäuser Seite. Es gab drei Becken, dazwischen Holzwege, einen Sprungturm. Tante Johanna lehrte mich das Schwimmen, indem sie ihre Hand unter mein Kinn hielt, damit ich nicht untergehe. Das war die Tante Johanna. Sie war zwischen 40 und 50, nicht berufstätig, sie hat mit uns gespielt, gesungen und sie war eine sehr bewusste Anhängerin von Adolf Hitler. Sie hat den Adolf verehrt. Statt eines Morgengebetes wurde in nationalsozialis­ tischen Kindergärten gesagt: „Händchen falten, Köpfchen senken, immer an den Führer denken.“ Das war ein typischer Spruch, den nationalsozialistisch geprägte Kindergärten mit ihren kleinen Kindern sprachen. Wir in der Heisterstraße 8, wir waren die „besseren Leut“, das Haus Heisterstraße 8 war eben was Besonderes. Wir Kinder durften nicht außer­ halb von Haus und Hof spielen. Außerhalb, da waren die „Schmuddelkin­ der“. Wir hatten eine Mieterin im Erdgeschoss, die „Frau Doktor“, Ehefrau eines verstorbenen Arztes. Die war darauf bedacht, dass das Haus Heister­ straße etwas Besseres ist. „Spielt ja nicht mit den Kindern aus dem alten Bau!“ Sie hatte eine Tochter, das älteste Kind im Haus, die dominante Brunhilde. Wir haben wunderbar gespielt. In unserer Wohnung waren nie Kinder, meine Eltern waren keine Gesellschaftsmenschen. Mein Großvater väterlicherseits war Färbermeister im Kreis Hofgeismar in Nordhessen. Das ist eine sehr hugenottisch geprägte Gegend, auch meine Großeltern waren reformierte Protestanten. Mein Vater war der Älteste von fünf Geschwistern. Er hat eine Banklehre gemacht, ging danach nach Frank­ furt und arbeitete in den 20er Jahren bei einer jüdischen Bank. Gemeinsam mit anderen jungen Bankern hat er sich sonntags getroffen, sie standen der Wandervogelbewegung nahe, haben viele Wanderlieder gesungen. Dabei hat er meine Mutter kennengelernt, die wie er Gitarre spielte, was auf mich und wiederum auf meine Kinder vererbt wurde. 1926 haben sie geheiratet. Mein Großvater mütterlicherseits war Schlosser und hat in einer großen Rohrleitungsfirma gearbeitet. Irgendwann beschloss er, sich selbstständig zu machen. Und hat nach dem ersten Krieg, das war also noch vor dem Krieg, er war auch im Krieg, hat auch eine kleine Verwundung gehabt, seine Firma gegründet und Heizungsanlagen vorwiegend in Klöster und Krankenhäuser eingebaut. Als meine Mutter meinen Vater heiratete, sagte mein Großvater zu ihm: „Hör mal, du kannst doch bei uns in die Firma einsteigen.“ Zu der Zeit begann eine Entlassungswelle bei den Frankfurter Banken und mein Vater sagte sich, ehe die mich da rausschmeißen, gehe ich zu meinem Schwiegervater, mache die Buchhaltung und bringe mir die Technik des Heizungsbaus bei.

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I. Kindheit

Meine Eltern waren pro Hitler eingestellt. Sie waren keine fanatischen Nationalsozialisten, aber sie waren „dafür“, haben 1933 den Hitler gewählt. Diese Wahl ist mir noch ganz heftig in Erinnerung. Sie fand in unserer Schule statt, die SA-Leute im Gang, überall Uniformen. Es wurden Abzei­ chen verteilt, ein großes „JA“, das hat man sich angesteckt. Einmal habe ich als kleiner Bub auf der Darmstädter Landstraße vor marschierenden Kommunisten „Heil Hitler!“ gebrüllt. Mutter zog mich ängstlich weg. Meine Eltern waren Autoritäten. Mutter war zwar die Liebevolle, aber auch die autoritär Bestimmende. Das würde sie sicher gar nicht akzeptieren, wenn ich das sage, aber das war einfach so. Ich war oft der böse Bub. Wenn ich nicht gehorcht habe, hat sie den Plätscher rausgeholt, den Teppichklop­ fer. Manchmal verkroch ich mich dann unter die Betten, da kam sie mit dem Plätscher nicht hin. Sie drohte dann, wart nur ab, heute Abend sag ich’s dem Papa! An Schläge meines Vaters kann ich mich aber kaum erin­ nern. Vielleicht war ich ein böser Bub, ich weiß es nicht. Meine Mutter hat auch seelischen Druck ausgeübt. Hausarrest mit Spiel­ verbot im Hof, Missachtung, links liegen lassen, böse sein. Die Mutti war bös, gell? Und so bin ich halt reumütig angekrochen und habe gesagt: Mutti, ich will wieder lieb sein. Solche Spielchen. Diese Erziehungsmecha­ nismen des Liebesentzugs und des gedemütigt Ankriechens haben sich si­ cher negativ auf meine spätere Entwicklung ausgewirkt. Mein Sohn, der Jörg, hat es auch mal mit dem Plätscher gekriegt. Es hat also noch Züchtigungen gegeben bei meinen Kindern. Aber das war nicht unser Erziehungsmodell, wir hatten uns hinsichtlich der Erziehung unserer Kinder innerlich stark von unseren Eltern abgesetzt. Der Maßstab der Erziehung meiner Eltern war: Was lernen. In der Schu­ le gut sein. In der Grundschule war ich sehr gut: „Was? Du hast nur einen Zweier?!“ Nicht, dass sie mich alleine gelassen hätten. Mein Vater hat sich sehr viel um meine Hausaufgaben gekümmert. Er hat meine Aufsätze ver­ bessert, das heißt, durchgestrichen und drüber geschrieben, ich schrieb es ab. Mein Lehrer war der Meinung, ich hätte schon nach drei Jahren das Zeug für das Gymnasium. Für die Aufnahmeprüfung habe ich viel gelernt, aber mit Pauken und Trompeten versaute ich sie. Das war natürlich ein ziemlicher Schock. In der Schule: „Der hat’s nicht geschafft!“. Zu Hause: „Du bringst es ja zu nichts!“ Das war einschneidend, ein Bruch meines Selbstbewusstseins. Ich kann nichts. Die Schulzeit auf dem Gymnasium war ein Grauen, weil ich die Anforderungen meiner Eltern nicht erfüllen konnte. Ich war nicht mehr bei den Ersten, lief im Mittelfeld mit. Für meine Eltern war das ein Imagever­ lust. Ihr Sohn, der jetzt häufiger nur 3er und 4er mit nach Hause brachte.



Walter Steitz81

Viele Noten habe ich aus Angst verschwiegen. Mein Lebtag haben mich die Worte meiner Mutter verfolgt. „Du bringst es mal zu nichts!“ Anerkennung bekam ich woanders. Mein Leben war bestimmt durch die Zugehörigkeit zum Jungvolk, durch den Dienst, zu dem wir verpflichtet waren und gerne hingegangen sind. Der Reiz kam bei mir schon als kleiner Bub, wenn die über die Straßen marschierten, mit ihren Wimpeln und Fan­ faren, schicken Uniformen. Einer kommandierte, da habe ich gedacht, das willste auch. Im Frühjahr 1939 bin ich zum Jungvolk eingezogen worden. Es gab keine kritische Stimme in meinem Erwachsenenumfeld, die versucht hätte, mich vom Jungvolk fern zu halten. Als Oberschüler wurde mir gesagt, du übernimmst jetzt mal die Jungs­ char, das waren zehn Buben. Die waren nur ein Jahr jünger als ich. Der Prozentsatz der Oberschüler war sehr gering, der der Mittelschüler wesent­ lich höher. Deshalb meine Beförderung. Drei Jungscharen bildeten einen Jungzug. Der Jungzugführer war schon älter, 14 oder 15. Der Jungzug marschierte in Dreierreihen über die Straßen, der Jungzugführer nebenher, ganz vorne ein Pimpf mit dem Wimpel: „Ein Lied! 3,4!“ Mich hat man ebenfalls zu einem Jungzugführer avanciert, ich führte 30 Pimpfe. Es reizte, die so ein bisschen zu führen, zu disziplinieren. Mar­ schieren. Exerzieren. Das artete in Kasernenhof-Exerzieren aus. Also hinle­ gen, aufstehen, hinlegen, aufstehen…Marsch, Marsch. Antreten. Schnell Antreten. Solche Kommandos. So fing es an mit den Soldatenspielen. Es wurde kontrolliert, ob einer zum Dienst kam oder nicht. Samstagsmit­ tag war Dienst. Wenn einer ein paar Mal nicht da war, wurdest du zu den Eltern geschickt und musstest fragen: Wo ist denn der Fritz oder der Karl? Dann hast du die verschiedensten Entschuldigungen gehört. In der Mühl­ bruchstraße, da waren Sozialwohnungen niederen Standards, da wohnte so einer. Ich stiefelte dort hoch, der Vater sagte: „Wenn du dich hier noch einmal sehen lässt, fliegste die Treppe runter, da kannste deine Knoche da unten zusammenlese. Dich will ich hier net mehr sehe! Und mein Bub, der kommt net mehr zu euch!“ Das war ein Kommunist. Das hat keine Folgen für den gehabt. Ich bin da nicht mehr hin. Obwohl ich da schon eine Führungsposition hatte, war ich im Grunde genommen ein ängstlicher Kerl. Die Ängstlichkeit meiner Mutter habe ich mit der Muttermilch eingesogen. Schlägereien waren nicht meine Sache. Auch keine anbefohlenen. Wenn es bei den Geländespielen keinen klaren Sieger gab, wurden die Parteien einander gegenüber gestellt und es hieß: „So jetzt aufeinander losgehen!“ Das habe ich mit großem Widerwillen gemacht. Im Sommer sind wir auf den Sportplatz gegangen. Wettrennen, Ballspiele, Fußball. Da war ich eine Niete. Im Fußball war ich stets in der

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I. Kindheit

Verteidigung, weil ich immer als einer der Letzten ausgewählt wurde. Das gibt jetzt natürlich ein ziemlich negatives Bild von mir, aber so war es halt. Im Wald war das Abenteuer. Bei Geländeübungen wurden Spähtrupps ausgeschickt. Die mussten eine Karte zeichnen, wenn sie den Feind gesich­ tet hatten. Wir haben geübt, mit Kompass zu marschieren. Wie bewegt man sich im Gelände? Wie tarnt man sich? Das haben die bei den Pfadfindern zwar auch gemacht, aber hier war es bewusste vormilitärische Ausbildung. Das Neue war, dass wir mit dem Luftgewehr schießen durften. Da war ich der Star. Ich hatte ein wunderbares Luftgewehr von zu Hause, mein Vater hat solche Dinge unterstützt. Ich durfte das Luftgewehr sogar in unsere Versammlungen mitnehmen. Dort wurden Vorträge gehalten. Ich musste den Buben etwas beibringen, das Leben Adolf Hitlers und politische Bildung. Das ging bis hin zur hass­ erfüllten Übertragung des Antisemitismus. Die Juden sind unsere Feinde. Die Juden sind an allem Schuld. Oder so, wie das halt so hieß. Das haben wir nicht aus uns heraus gesagt, wir bekamen Schriften, aus denen wir vortragen konnten. An den Inhalten habe ich keinerlei Anstoß genommen. Diese Propaganda oder der Hass gegen das Judentum, oder der Hass gegen die Feinde, die Engländer, die Franzosen, die Russen, die Amerikaner. Das Bewusstmachen der Freunde, der Italiener. Der Mussolini. Die Schriften sind nach 1945 alle bewusst von meinen Eltern verbrannt worden. Doch die Lieder, ich bin über mich selbst entsetzt, dass diese Lieder alle noch drin sind, dass die alle noch kommen. Ich singe jahrzehntelang Kir­ chenlieder. Die sind nicht so präsent, wie diese Lieder, die ich als Kind gesungen habe, singen musste. Das war ja heilig für uns. „Deutschland heiliges Wort. Du voll Unendlichkeit. Über die Zeiten fort, seist du gebene­ deit. Heilig sind deine Seen. Heilig dein Wald.“ Das löst bei mir ein ver­ wundertes Entsetzen aus, dass das so tief eingegraben ist und ganz plötzlich hochkommt: „Wir Jungen tragen die Fahne zum Sturme der Jugend vor, sie stehe und steige und lohe, wie Feuer zum Himmel empor. Wir sind auf die Fahne vereidigt. Für immer und alle Zeit. Wer die Fahne, die Fahne belei­ digt, der sei vermaledeit.“ Die Fahne! Das war das Symbol, die Fahne wurde immer vor uns hergetragen, wie die Monstranz bei den Katholiken. Sonntags: Alle Führerschaft tritt an. Dann sind wir in Zwölferreihen mit den Fahnen, Landsknechtstrommeln und Fanfaren über die Zeil marschiert. Das muss geübt sein. Das muss sitzen. Drei Reihen nur mit Fahnen. Die Strei­ fen-HJ hat für Ordnung gesorgt. Die ging neben den Straßen entlang und wenn die Fahnen kamen, mussten die Leute am Rand die Fahnen grüßen. Die Streifen-HJ hat die Leute angeschissen, die das nicht gemacht haben. Das war schon hart. Auf dem Weg gab es immer mal ein Tanzcafé. Da wurde Halt gemacht. Der ganze Verein stand stramm und die Fanfaren und



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Trommler haben unten auf der Straße mit Radau Störmanöver gemacht. In die Schlägereien war ich nicht involviert, aber in die Märsche. Das hat sich gut angefühlt, ich gehörte dazu. Du kannst es. Du kannst dich vor 30 Buben stellen und die kommandie­ ren, das war eine starke Versuchung für so einen jungen Kerl, hinlegen, aufstehen, hinlegen, aufstehen, hinlegen, aufstehen, antreten. Das hat mir damals Spaß gemacht, ja. Sadistische Anwandlungen. Das war Teil des militärischen Bewusstseins, was in der Gesellschaft grundsätzlich bestand, Relikte aus der Kaiserzeit. „Ham se jedient, wo ham se jedient?“ Wir haben das Kasernenhofdenken schon in der Grundschule gelernt, sind in Dreierrei­ hen zur Turnhalle marschiert. Im Turnunterricht hatten wir lange Übungs­ stöcke, unsere Gewehre, die wir für das Exerzieren mit den Lehrern schul­ tern mussten. Das konnten sich die Nazis gut zu Nutze machen. Es war nicht nur die HJ, es war auch die Schule. Wenn wir unseren Geschichtsleh­ rer geärgert hatten, schimpfte er: „Das ist der jüdische Geist, das ist der jüdische Geist.“ Zu Hause spielte ich mit Märklin-Eisenbahnen. Zwei Wochen vor Weih­ nachten hat mein Vater die Eisenbahn im guten Zimmer zwischen Klavier und Standuhr aufgebaut. In der Mitte thronte die Wartburg. Großvater und Vater haben sie aufgebaut, ca. 1,5 Meter lang. Die Teile aus einem Aus­ schneidebogen ausgeschnitten, auf Sperrholz geklebt, ausgesägt und zusam­ mengebaut. Die Burg war beleuchtet und hatte eine Auffahrt, drumherum fuhr die Eisenbahn. Aber nur zu Weihnachten, vier Wochen, danach wollte meine Mutter das Zimmer wieder sauber machen und die Eisenbahn muss­ te fort. Neben der Eisenbahn gab es Soldaten. Aufstellen, marschieren las­ sen. Die Soldaten konnten schießen. Die hatten richtige Gewehre mit kleinen Röhrchen, da konnte ich vorne ein Holzstäbchen reinstecken und hinten gab es ein Zündplättchen, auslösen, Knall, das Stäbchen flog vorne heraus. Ich besaß auch einen SA-Musikzug. Den habe ich aufgebaut und dabei Märsche gesungen. Ich konnte eine ganze Reihe von Märschen. Wir sangen auch Weihnachtslieder, „Oh, Tannenbaum“, „Alle Jahre wie­ der“, solche volkstümlichen Weihnachtslieder, keine religiösen. Zwar ist meine Familie nicht aus der Kirche ausgetreten, in den Gottesdienst sind wir aber nicht gegangen. „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ war das Höchste. Meine Mutter hat Klavier gespielt. Besinnlich war die Adventszeit schon. Es gab die Zeit zwischen „Licht und Dunkel“. Wir sangen und Mut­ ter erzählte Geschichten. Ein ganz bürgerliches, traditionelles Weihnachts­ fest war das. Am Ersten Weihnachtstag ging die Familie zu meinen Groß­ eltern, da gab es Gans und Kartoffelklöß – das war Tradition. Ich war aber ein schlechter Esser. Meine Mutter war eine reformbewuss­ te junge Frau, hat naturbelassen gekocht. Großvater hat gesagt: „Komm,

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Bub, wir gehen auf den Juxplatz, da kriegst du ma ne Bratwurscht, du kriegst ja sonst nur Nüss bei deiner Mutter zu essen!“ Mein Großvater war ein goldiger Kerl. Als ich zehn war, 1938, und die Hauptsynagoge brannte, sagte er zu mir: „Komm Bub, wir gehen mal rüber in die Stadt, und schauen uns an, wie die Synagoge brennt!“ Er hat gesagt, wir gucken uns das mal an. Er hat nicht gesagt: „Was machen diese Scheiß Nazis da für ein Verbrechen!“ Das hat er nicht gesagt. Ich habe gesehen, wie sie die jüdischen Läden geschän­ det und die Schaufenster beschmiert haben: „Kauft nicht bei Juden!“ Das war allgegenwärtig. Diese öffentliche Diskriminierung, und die Leute haben das einfach geschehen lassen, sogar ihren Spaß dran gehabt, an diesen auf­ geheizten SA-Typen. Diese Typen gibt es heute leider wieder. Juden gekannt habe ich nicht. Mein Vater musste einen Arier-Nachweis für meinen Großvater erbringen. Großvater hieß Oestreicher, da hieß es: „Oestreicher? Ihr Schwiegervater ist doch a Jud!“ Wegen des Namens, der Name war ein typisch jüdischer Name. Da hat mein Vater sich die Finger wund geschrieben, um den Nachweis zu erbringen, dass Großvater kein Jude oder Halbjude ist. Stammbaum beigeschafft und an die entsprechenden Standesämter geschrieben, das war eine Mordsarbeit. Bis 1938 hat mein Vater einem blinden jüdischen Geschäftsmann im Frankfurter Ostend die Buchhaltung gemacht. Dort lebte ein hoher Prozent­ satz ärmlicher jüdischer Bevölkerung. Die Frankfurter Juden selbst haben gesagt, es gebe einen Unterschied, das eine sind die Juden und das andere sind „de Judde“. Die liefen mit ihren Ringellöckchen und mit ihren schwar­ zen Kutten rum, daran kann ich mich erinnern. Meine Mutter war ver­ ängstigt, wenn er ins Ostend fuhr, stand am Fenster und hat gewartet bis er zurückkam. Das war ein rein soziales Motiv, dem armen Kerl zu helfen. So viel kann ich ihm jetzt mal unterstellen, wir haben da ja nicht so viel drüber gesprochen, aber das war so das Grundmotiv meines Vaters, benachteiligten Leuten zu helfen, sozial zu sein. Er war aber trotzdem, auch als ehemaliger Angestellter der jüdischen Privatbank Bass & Herz, nicht irgendwie ein besonders pro-jüdischer Mensch. In den 20er Jahren war mein Vater eher ein germanischer Freigeist, Reform- und Jugendbewegung, Wandervogel, kein Deutschnationaler. So­ weit ich das beurteilen kann, war er in dieser Zeit überhaupt nicht politisch interessiert. Aber nach der Entlassungswelle bei den Banken war das natio­ nalsozialistische Gedankengut verlockend für ihn: Der Hitler kann uns rausreißen! Die anderen haben ja alle versagt, die anderen Parteien, jeden­ falls so erinnere ich mich an sein späteres Reden. Man muss ja eines wissen: Das war alles neu für die Gesellschaft. Wir hatten ein Kaiserreich, es war ein Kaiser da, der hat gesagt, wo es lang



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geht, und dann kamen auf einmal Revolution und Republik. Hinzu kommt, dass wir den Krieg verloren und keinerlei Verbündete hatten, dass alle nur darauf bedacht waren, Deutschland klein zu halten. Es hat ihnen gut in den Kram gepasst, dass es den Deutschen so schlecht ging, gell. Man hat Repa­ rationen aus uns herausgepresst. Vielleicht rede ich jetzt im nationalsozia­ listischen Geist, aber das war so. Nach dem verlorenen Krieg. Nach Ver­ sailles. Mein Vater war eben Geschäftsmann und hat sich zur Aufgabe gesetzt, die Firma bekannter zu machen. Unsere Firma musste ja 1933 ganz klein anfangen. Da war er schon bemüht, was von dem Kuchen abzukriegen. Ich weiß nicht, wann mein Vater in die Partei eingetreten ist. Irgendwann ist er wohl eingetreten, wahrscheinlich Mitte der 30er Jahre. Vorher ist er schon in die NSV, die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt eingetreten. Er hatte ja diese soziale Ader, war später ganz aktiv beim Luftschutz tätig. Im Ersten Weltkrieg wurde er wegen Unterernährung nicht eingezogen, kam irgend­ wann 1917 heulend heim, weil sie ihn nicht genommen hatten. Verbalisiert wurde das in der Familie nicht. Jetzt jedenfalls hat er die Menschen unter­ richtet, wie man mit der Spritze Feuer löscht. Ich kann noch immer lachen, wie wir im Krieg mit einer Feuerspritze einen Dachstuhl gelöscht haben. Ich stand oben, hab die Spritze gehalten und ins Feuer reingespritzt. Vater hat noch andere Funktionen übernommen. Er war Zellenwart, hatte die Blockwarte unserer Zelle unter sich. Das Gebiet um die Heisterstraße und der Block auf der anderen Seite der Darmstädter Landstraße gehörte dazu. Eine Uniform hatte er nicht. Sehr zum Leidwesen meiner Mutter musste er an Sitzungen und Besprechungen der Ortsgruppe teilnehmen. Die Ortsgruppe war ein versoffener Verein, erzählte man sich, das war furchtbar. Da hat sich mein Vater rausgehalten und wurde angegriffen. Ich muss ihm zugutehalten, wie er sich den Leuten gegenüber verhalten hat. Ihm kamen immer wieder anti-nationalsozialistische Äußerungen zu Ohren, da ist er zu den Leuten hingegangen und hat gesagt: „Behaltet das für euch, seid vor­ sichtig, macht das nicht!“ Er hat immer versucht zu schlichten und zu verhindern, dass denunziert wurde, dass die Leute abgeholt wurden. War ja alles möglich!

Friedrich Graf zu Dohna-Schlobitten * 27. Februar 1933 in Wundlacken bei Königsberg

Wir Dohnas sind Vertriebene. Wir kommen eigentlich aus Sachsen, aus Dohna bei Dresden. Im Jahre 1402 wurden wir von dort vertrieben. Meine Vorfahren kämpften für den Deutschen Orden und als der Ordensstaat am Ende war, erhielten sie statt versprochenen Solds Grundbesitz in diesem Land, das später Ostpreußen heißen sollte. Das war 531 Jahre vor meiner Geburt am 27. Februar 1933. An diesem Tag brannte der Reichstag. Meine früheste Erinnerung ist, dass ich mich auf den Rücken warf, wenn meine Geschwister mich ärgerten, und stumm vor Wut nur ganz langsam strampeln konnte, während sie sich ausschütteten vor Lachen. Dann weiß ich, wie ich gelernt habe zu singen „Deutsch ist die Saar“. Das muss auch relativ früh gewesen sein, in der Zeit als das Saarland an das Reich ange­ schlossen wurde. Fürs Singen bekam ich ein „Dittchen“, wie der Groschen in Ostpreußen hieß. Ich bin in Schlobitten aufgewachsen, in einem großen, alten Schloss am Westrand von Ostpreußen, bis ich elf Jahre alt und meine Kindheit zu Ende war. Mein Lieblingszimmer im Schloss war mein eigenes, aber unser Esszim­ mer in Schlobitten hat mich als Kind am meisten fasziniert, denn darin gab es eine Ledertapete zu bestaunen, mit goldenen Ranken, in denen sich jede Menge Engelchen und Teufelchen tummelten. Über der Esszimmertür stand



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ein Bibelvers: „Ich will den Herren loben allezeit. Sein Lob soll immerdar in meinem Munde sein“, Psalm 34. Bei uns zu Hause gab es immer eine große Tafel, zwei Diener haben bei Tisch serviert und Hoffmann, der Hausund Hofmeister hat aufgepasst. Das Essen kam mit dem Aufzug aus der Küche im Souterrain. Wir hatten ein Kindermädchen, später eine Hausleh­ rerin, ein Archivar war da, die Sekretärin meines Vaters und natürlich un­ sere Kunsthistorikerin Frau Mertens, die das Inventar aufgenommen hat. Alle haben zusammen an einem Tisch gegessen. Ich besaß einen eigenen Salzstreuer aus Porzellan, einen kleinen, gelben Hasen. Den Kopf habe ich Jahrzehnte später in der ausgebrannten Schlossruine wiedergefunden, ganz verkohlt. Heute esse ich gerne Königsberger Klopse, als Kind war mein Lieblings­ essen aber Kartoffelsalat mit Würstchen. Ich erinnere mich an eine Einla­ dung bei Tante Anni, die allen Kindern erlaubte, ihr Lieblingsessen zu be­ stellen. Für mich musste es Kartoffelsalat mit Würstchen sein, weil es das auf Schlobitten nur Heiligabend gab, da wurde ums Essen kein großes Theater gemacht. Weihnachten kamen die Schulkinder der ersten Klasse zu uns ins Schloss. Jedes Kind hat ein Geschenk bekommen, ein Buch, ein Paar Socken, einen Bunten Teller. Auf ihrem Schulweg durften die Dorfkin­ der jeden Tag dicht am großen Schloss vorbei gehen, niemand wäre je auf die Idee gekommen, es abzuschließen. Heute würde man sagen, bei uns in Ostpreußen herrschte „die alte Zeit“, obwohl mein Vater sagte, die „alte Zeit“ sei vor dem Ersten Weltkrieg ge­ wesen. Aus meiner Sicht spielt sie vor dem Zweiten Weltkrieg. Als ich ein kleiner Junge war, sprachen die Bauern meinen Vater noch mit „Durch­ laucht“ an, selbst unsere Hauslehrerin hat „Durchlaucht“ gesagt. Wir Kinder brauchten das nicht, haben unsere Eltern auch nicht gesiezt. Von Umbrüchen war damals noch nicht die Rede. Ostpreußen war doch eine ganze Welt von der rasanten Entwicklung im übrigen Deutschland entfernt. Wie weit die Zeiten moderner geworden waren, merkte man bei uns kaum. Ich weiß noch, wie eine Frau aus dem Gutsdorf zu meiner Mutter gesagt hat: Sie sind doch unsere Mutter! Da sieht man das Verantwortungsverhältnis. Die Fami­ lien haben dort sehr lange gelebt, viele Generationen, manche schon seit der Ostsiedlung im späten Mittelalter. Mein Vorfahre Friedrich Alexander hat die Bauern schon 1802, also vor der offiziellen Aufhebung der Erbuntertä­ nigkeit, freigegeben, allen aber schriftlich versichert, dass er seine fürsorg­ liche Hand nicht von ihnen abziehen und sie weiter als „Familie“ betrachten werde. Ich bin der Zweitgeborene. Mein vier Jahre älterer Bruder Richard wurde nur zehn Jahre alt. Er hatte an Führers 50. Geburtstag, am 20. April 1939, einen Fahrradunfall, bei dem er sich so schwer verletzt hatte, dass er vier

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Tage später an seinen Verletzungen gestorben ist. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich in der Familie nur eine Rolle unter „ferner liefen“ gespielt, auf einmal wurde ich aber jemand ganz anderes, meine Mutter baute plötzlich höchstpersönlich mit mir etwas aus dem Märklin-Baukasten. Ich war jetzt der älteste Sohn des Hauses und habe das auch sehr deutlich zu spüren bekommen, in Schlobitten und selbst später noch als Flüchtling. Das fing bei meiner Erziehung an: Ich bin mehr dressiert, als erzogen worden. Die ersten Kriegsjahre haben wir als Kinder nicht als bedrohlich erlebt. Im Gegenteil, toll war das. In Schlobitten wurden Soldaten einquartiert, die für den Russlandfeldzug bereitgestellt wurden. Die kamen direkt aus Frank­ reich und brachten Apfelsinen mit. So etwas Exotisches hatten wir über­ haupt noch nicht gesehen. Die Soldaten tauschten eine Apfelsine gegen ein Ei oder einen Apfel. In einer Remise haben wir auf großen Kisten Gummi­ reifen aufgetürmt. Das waren unsere Panzer, mit denen haben wir Aufsitzen geübt. Obwohl Kinder in solche Dinge ja nicht eingeweiht wurden, merkte ich irgendwann, dass die Hurra-Stimmung der ersten Jahre einfach nicht mehr da war. Mein Vater kehrte aus Stalingrad zurück. Nachdem er einen Befehl, der die Erschießung von amerikanischen Gefangenen anordnete, nicht un­ terschrieben hatte, wurde er aus der Wehrmacht entlassen. Von diesem Zeitpunkt an hat er geheim die Flucht vorbereitet. Als erstes waren wir Kinder dran. Im Sommer 1944 trommelte er uns zusammen und sagte, wir führen in die Ferien zur Großmutter nach Muskau an der Neiße. Vor der Reise durften wir uns alle ein Stück aus seinem Raritätenschrank aussuchen. Ich wählte ein kleines chinesisches Miniaturschränkchen, das ich noch heu­ te habe. Im Muskauer Schloss regierte meine kinderlose Tante, es ging streng zu. Dort habe ich den 20. Juli erlebt. Ich weiß noch deutlich, wie ich kleiner Junge ziemlich konsterniert war, als ich vom Attentat erfuhr, war doch ein tapferer Hitlerjunge. Ich hörte meine Mutter sagen, der glaubt ja noch an den Endsieg. Da dachte ich, holla, da stimmt etwas nicht. In Muskau bin ich natürlich auch in die Schule gegangen. Als ich dort in die Klasse kam und sagte, ich sei der Neue, fragte mich der Lehrer, wie ich denn heiße. Ich antwortete Dohna. Und er fragte: Dem alten Donar sein Sohn? Ich hatte nicht richtig verstanden und bejahte ganz naiv, woraufhin die ganze Klasse in brüllendes Gelächter ausbrach. Er hatte Donar, den Donner­ gott gemeint. Das war beschämend, zu Hause wäre das nicht passiert. Mein Vater hat seit Ende der 20er Jahre das Inventar von Schlobitten aufnehmen lassen. Er war wie besessen davon, alles zu dokumentieren, je­ des Schränkchen, jedes Gemälde, jeden Kerzenständer, immer hatte er Angst vor Feuer. Und schließlich hat es ja auch gebrannt. Er hat es durch seine



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Beharrlichkeit geschafft, dass ein Gutteil des Inventars vor Kriegsende, und lange bevor Menschen Ostpreußen verlassen durften, meist in Päckchen und Paketen in Sicherheit gebracht wurde. Bis die Rote Armee kurz vor Schlobitten stand, durfte nicht getreckt werden. Dann führte mein Vater seine Leute in den Westen, an die 50 Wa­ gen, gezogen von Trakehnerstuten durch Eis und Schnee, beinahe 1.500 Kilometer weit. Für meine Alterskameraden aus dem Dorf war das ein Riesenabenteuer, die mussten auf einmal einen Viererzug fahren und fühlten sich wie Könige. Bis auf meinen Vater haben alle gedacht, sie kämen wie­ der zurück. Wenn sie auf dem Treck zuweilen ganz bequeme Quartiere gefunden hatten, wollten die Leute dort bleiben, aber mein Vater hat sie immer weiter getrieben. Er wollte unbedingt und von Anfang an über die Weser, erst da fühlte er sich sicher. Die Gegend um Verden an der Aller war sein Ziel, weil es dort Pferdezucht gab. Das Kriegsende haben wir alle zusammen in Thedinghausen bei Bremen erlebt. Als Panzerlärm der Engländer näher rückte, ging mein Vater mit uns Kindern hinter einem Deich in den Wiesen in Deckung. Ich lag im Gras und beobachtete die Käfer, die vor meiner Nase krabbelten. Auf der anderen Seite des Flusses lag ein großes, weißes Bauernhaus. Nach einem trockenen Knall klaffte plötzlich ein Loch im Giebel. Wenig später stieg Rauch auf, gleich darauf ein Feuerstoß aus einem Maschinengewehr, der unserer Grup­ pe galt. Es zwitschert ganz schön, wenn man beschossen wird. Unser ehe­ maliger Diener wurde leicht verletzt. Mein Vater ist daraufhin mit unserem französischen Kriegsgefangenen Jean und einer weißen Fahne den engli­ schen Panzern entgegen gegangen und hat ihnen zu verstehen gegeben, dass keine deutschen Soldaten mehr im Dorf waren. Eines Tages kam ein englischer Bilderbuchoberst mit weißem Bart und rotem Gesicht bei uns in Thedinghausen zur Tür herein und rief mit tiefer, sonorer Stimme: I want to see a Junker, er sagte „Dschanka“. Da hat mein Vater die letzte gerettete Flasche Portwein aus dem 19. Jahrhundert aus dem Schrank geholt und mit ihm getrunken. Dieser Engländer hieß nicht nur Captain Friend, sondern wurde auch ein enger Freund der Familie. Captain Friend hat meinem Vater geholfen, die Trakehnerzucht dauerhaft zu retten. In der armen, hungrigen Nachkriegszeit stand es Spitz auf Knopf mit den wertvollen Hengsten. Sie sollten kastriert werden. Doch mit Hilfe der Eng­ länder wurde das heute große Gestüt in Hunnesrück im Weserbergland eingerichtet. In Nachkriegsdeutschland ist mein Vater ganz selbstverständlich Flücht­ lingsbeauftragter für die Weserregion geworden. Das heißt, er hat seine Aufgabe auch im neuen Staat weitergeführt und sich um seine Leute ge­ kümmert. Wissen Sie übrigens, was flüssiger ist, als ein Fluss? Die Flücht­

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linge, die sind nämlich überflüssig. Das haben uns die Einheimischen kräftig spüren lassen. Ich bin mein ganzes Leben lang Flüchtling geblieben, immer wieder umgezogen, reise nur mit leichtem Gepäck. Mir reicht zum Übernachten eine Matratze und wässrige Suppe mit einem Kanten Brot zum Essen. An das erste Weihnachtsfest nach dem Krieg erinnere ich mich sehr deut­ lich. Wir Kinder standen wie immer aufgereiht vor dem Tannenbaum und sagten nacheinander die Weihnachtsgeschichte auf. Mein Vater hielt eine kleine Rede, aber er schluchzte zwischendurch laut auf. Das hatten wir noch nie erlebt. Er wusste, dass Schlobitten für immer verloren war. Immerzu hat er vom Feuer geträumt.

Christoph Ackermann * 9. März 1935 in Berlin

(rechts im Bild)

Ganz am Anfang ist mein Vater gefallen, in Frankreich 1940. Ich kann nicht verstehen, warum er sich nicht hatte UK9 stellen lassen. Er war 36 Jahre alt, Geschäftsführer eines großen Unternehmens, hatte drei kleine Kinder und das vierte wuchs schon im Bauch meiner Mutter10. Natürlich hätte er gekonnt. Er muss ein fabelhafter Mensch gewesen sein, hat eine glückliche Ehe geführt, war kein Nationalsozialist, seine Eltern hingegen schon. Warum hat er nicht an die Folgen für uns Kinder gedacht? Vielleicht wollte er kein Drückeberger sein. Für meine Mutter war sein Tod ein Schock. Sie lag wochenlang im Bett, wusste nicht, wie es weitergehen sollte, war richtig depressiv, was gar nicht zu ihr passte. Ich selbst war in dieser Zeit bei meinen Magdeburger Großeltern. Im Nachhinein meine ich, die ganze Tra­ gödie nicht ganz mitbekommen zu haben. Mein Vater war Geschäftsführer der Dr. Kurt Albert GmbH, Chemische Fabriken Wiesbaden-Biebrich, und Mitglied des Beirates der Albertwerke 9  Unabkömmlich. 10  Christoph

Ackermanns Mutter ist Elisabeth Furtwängler.

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Klingenberg, ein Unternehmen, das ich später selbst 20 Jahre geleitet habe. Mit Mitte 30 hatte er schon eine so beachtliche Karriere hinter sich, dass er uns ein Haus in der Wiesbadener Händelstraße bauen konnte. Meine erste Erinnerung spielt kurz vor dem Umzug in dieses Haus, ein Besuch beim Ohrenarzt im November 1938. Ich beobachtete, wie im Haus gegenüber ein Klavier aus dem Fenster auf die Straße gekippt wurde. Ich habe mich ge­ wundert, aber meine Fragen blieben von Doktor und Mutter unbeantwortet. Das muss der Tag nach der Reichskristallnacht gewesen sein. Anfang September 1939 habe ich die erste Sirene gehört, ich erinnere diesen schrillen Ton ganz genau. Ich war vier Jahre alt, trotzdem spürte ich Bedrückung in meiner Umgebung, keine Spur von Begeisterung. Auf ein­ mal trugen die Männer Uniformen, auch meinen Vater sah ich zuletzt in seiner Wehrmachtsuniform. Meine Mutter war eine 29-jährige gutaussehende Witwe. Bald kamen Verehrer zu uns ins Haus, sie aber wollte von keinem etwas wissen, wollte nie wieder heiraten. Aber Wilhelm Furtwängler war außergewöhnlich. 1942 hat sie den Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker völlig zufällig und ungeplant kennengelernt, 1943 heirateten sie, er wurde ihre zweite große Liebe. In diesem Sommer rückte der Bombenkrieg näher, immer öfter saßen wir im Luftschutzkeller und eines Tages konnte ich vom Fenster meines Kin­ derzimmers das nahe Mainz brennen sehen. Meine Mutter entschied, dass wir weg müssten. Furtwängler hatte eine Freundin, die ein Gut auf dem Land in Achlaiten südlich von Linz besaß. Dort sollten wir sicher sein. Wir fuhren mit einem völlig überfüllten Schnellzug von Wiesbaden nach Linz. Mir fiel auf, dass niemand in unserem Abteil sprach, man schwieg, eine unheimliche Stille. Im Nachbarabteil saß ein hoher Wehrmachtsoffizier, eingerahmt von vier „Kettenhunden“, so nannte man damals die Polizei der Wehrmacht. Der Offizier ging irgendwann zur Toilette, die Kettenhunde postierten sich davor und warteten. Plötzlich ging die Notbremse, der Zug hielt an. Augenblicke später sah ich den Offizier über das Zuckerrübenfeld rennen, dann knallten Schüsse. Die Kettenhunde trafen und er brach zusam­ men. In Fürth wurde er ausgeladen und verschwand. Ich fragte alle im Abteil, was passiert sei, wurde aber sofort zum Schweigen gebracht. Keiner traute sich, etwas dazu zu sagen. In Österreich auf dem Lande lebten außer uns noch viele Kriegsgefange­ ne, meist Franzosen und betreuten Äcker und Vieh. Ich sammelte Weinberg­ schnecken für sie, wir hatten ein sehr gutes Verhältnis. Immer wieder beob­ achtete ich riesige Bomberverbände, die über uns hinweg flogen. Eines dieser Flugzeuge wurde ganz in der Nähe unseres Gutshauses abgeschossen. Sofort war das ganze Dorf auf den Beinen und rannte zum Flugzeugwrack.



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Die Piloten waren tot, ein Schwarzer war dabei, ich hatte noch nie einen „Neger“ gesehen. Er hatte Pelzstiefel an, die Leute rissen sie ihm von den Füßen. Dieses Bild habe ich noch jetzt vor Augen. Den 20. Juli 1944 habe ich bei den Salzburger Festspielen erlebt, wäh­ rend eines Konzerts von Richard Strauß. Die musikalische Feststimmung kippte, war mit einem Mal auf dem Nullpunkt. Alle Leute meiner Umge­ bung fanden das Scheitern des Attentats schrecklich. Seitdem war mir ir­ gendwie klar, dass der Krieg verloren war, trotzdem blieb alle Kommunika­ tion vorsichtig, selbst zu Hause und unter uns Schülern. Ich wusste, dass ich nicht darüber sprechen darf. Kurz vor Weihnachten 1944 ging die Angst vor den Russen um. Wir Kinder sollten abermals in Sicherheit gebracht werden, also schickte man uns am Nikolaustag zu einem Bruder Wilhelm Furtwänglers nach Bad Wiessee am Tegernsee. Dort erlebte ich das dunkelste Jahr meines Lebens, nicht etwa wegen des Zusammenbruchs, sondern weil ich mich allein und nicht geborgen fühlte. Meine Mutter war weit weg im Schweizer Exil ihres Mannes und diese Furtwänglers hatten gerade zwei Söhne im Krieg verlo­ ren. Ich wurde einfach nicht beachtet, hatte zwar zu essen und ein Dach über dem Kopf, aber nichts darüber hinaus. Weil ich für mein Alter nicht besonders weit war, bezog ich einiges an Prügel. Im März 1945 sollte ich noch Pimpf im Jungvolk werden. Ich bin einfach nicht hingegangen. Der Hausmeister unserer Schule tönte noch, dass jetzt die Wunderwaffen kämen und der Führer die Feinde zurückwerfen werde, wir gewinnen! Anfang Mai habe ich dann unser letztes Aufgebot gesehen. Müde, zerlumpt und abgerissen schleppte es sich durch den Ort. Ihre Ma­ schinengewehre zogen sie auf Leiterwagen hinter sich her. Kurz darauf kamen die Amerikaner nach Bad Wiessee. Wir erfuhren später, dass sie vorher das KZ Dachau befreit hatten. Die hatten einen Rochus auf alles, was deutsch war. Bis 1945 mussten wir nicht hungern, aber nach Kriegsende brach der Hunger schlagartig über uns herein. Von einem Tag auf den anderen war nichts mehr da. Als Zehnjähriger kannte ich noch keine Scham, also haben wir Dorfjungens uns in die amerikanischen Armee-Kantinen geschlichen und in den Mülltonnen nach Essbarem gewühlt. Wir fanden darin die Mä­ gen von Hähnchen, die die Soldaten nicht essen wollten. In diesen Mägen waren kleine Kieselsteinchen, die die Hühner in ihren letzten Tagen vor der Schlachtung ohne echtes Futter gepickt hatten. Wir sammelten sie natürlich trotzdem und brachten sie stolz nach Hause. Davon konnte die ganze Fami­ lie satt werden. Aber die Amerikaner waren verbiestert, sie wollten nicht einmal, dass wir ihr altes Brot aus den Mülltonnen aßen. Also fuhren sie es in den Wald, um es dort abzuladen, Benzin darüber zu kippen und anzuzün­

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den. Doch für uns Jungs war es ein Leichtes die Stelle im Wald zu finden. Wir hockten hinter den Büschen und sprangen los, sobald die Amis ver­ schwunden waren, um so viel altes Brot wie möglich retten zu können. Das brachte manch reiche Beute. Wir brachen auch in die Kasernen ein, schnit­ ten die Anhänger der Jeeps auf und erbeuteten alles, was wir darin fanden, häufig wertvolle amerikanische Zigaretten. Ein einziges Mal bin ich erwischt worden. Der Soldat war so geladen, dass er mich gleich furchtbar verkloppt hat. Dann setzte er mich in einen Jeep und fuhr in ein deutsches Kriegsge­ fangenenlager zu einem Wehrmachtsoffizier, der dolmetschen konnte. Der hielt mir eine Standpauke, sagte noch, dass ein deutscher Junge aushalte und nicht klaue, das hat mich aber überhaupt nicht beeindruckt. Auf der Rückfahrt hielt der Amerikaner mitten zwischen den Äckern an und beför­ derte mich mit einem kräftigen Fußtritt aus dem Jeep in den Straßengraben. Im Herbst 1945 endete dieses furchtbare Jahr. Furtwänglers Managerin Freda Rechenberg war auch an den Tegernsee geflohen. Sie hat mitbekom­ men, wie schlecht es meiner Schwester Kathrin und mir ging und meine Mutter in der Schweiz alarmiert. Wir wurden zuerst auf eine erschütternde Reise durch das zerbombte Deutschland geschickt und landeten am Ende bei Onkel Vital in Franken, dem Lieblingsbruder meiner Mutter.

Volkwin Marg * 15. Oktober 1936 in Königsberg

Ich bin in einem hohen giebelständigen Bürgerhaus aufgewachsen, mitten im Herzen von Danzig. Das war die Dienstwohnung meines Vaters in der Frauengasse 51, rechts vor der Marienkirche. Mein Vater war dort einer der letzten beiden deutschen Pfarrer. Ich erinnere mich an die riesenhafte Haustür mit den hoch liegenden Griffen und einer Zugklingel, dahinter eine Dielenhalle, zwei Geschosse hoch, rechts eine barocke Wendeltreppe, die in das verglaste Hangezimmer, das frühere Kontor, führte. Auf der linken Seite führte eine lange einläufige Treppe mit kunstvollem Barockgeländer in die einfacheren Obergeschosse, wo wir wohnten. Unten geradeaus ging es in das halbdunkle Amtszimmer meines Vaters. Dieses Zimmer verbarg ein ewiges Geheimnis für mich. Kaum habe ich es gewagt, die Tür neugierig mehr als nur einen Spalt breit zu öffnen, dann schallte mir schon ein donnerndes „RRRRaus!“ entgegen. Es ist vor allem dieses alte Kontorhaus, das ich erinnere, während des Krieges, als die ersten Angriffe kamen, als die Sirenen heulten, alles erzit­ terte, und ich, getrieben von meiner Mutter, samt vier Geschwistern sowie

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Dienstmädchen und Pflichtjahrmädchen11, runter in den Gewölbekeller stolperte. Unser Hauspersonal habe ich geliebt. Zu denen konnte ich als Kind aus­ kneifen, konnte im Hinterhaus in der Küche sitzen, beim Fische-Schuppen zusehen und schmachtenden Küchenliedern lauschen, oder über das Gekrei­ sche erschrecken, wenn der Aal aus der Pfanne sprang. Bei Wilhelm Busch heißt es doch: „Ein jeder Jüngling hat nunmal nen Hang zum Küchenper­ sonal.“ Besonders geliebt habe ich unser Pflichtjahrmädchen Maria, eine Kaschubin. Sie verstrahlte sentimentale menschliche Wärme, manchmal klaute sie auch. Meine liebste Freundin war das alte Kohlenfräulein vis à vis auf der Straße im Souterrain unter einem gotischen Giebelhaus. Da saß sie tagein tagaus und verkaufte eimerweise Koks oder Pressbriketts, die sie auf einer Dezimalwaage abwog. Sie hatte einmal sogar ein Stück Schoko­ lade für mich. Ich kam meist rabenschwarz nach Hause. Das gab Krach. Es waren meine ersten Tête a Têtes. Wir lebten in einer rußigen Altstadt. Jeden Morgen wischte meine Mutter innen von den Fensterbrettern den Ruß, weil die Luft in Danzig von all den vielen Schornsteinen von Häusern, Schiffen und Werften so dunkel war, wie sich das heute niemand mehr vorstellen kann. Darum sagte man damals: Die Kinder müssen raus an die Luft! Aber wir spielten natürlich mitten in der Altstadt auf dem Kopfsteinpflaster der Frauengasse mit ihren Beischlä­ gen. Der einzige Baum war die kümmerliche Linde vor unserem Haus. Dort spielten wir „Pisskaulchen“, also Murmeln. Bei Regen haben wir in der Marienkirche Räuber und Gendarm gespielt, ich sollte besser wie damals sagen „Versteckchen“. Die Marienkirche ist die größte Hallenkirche Euro­ pas. Dort hing „Das Jüngste Gericht“ von Hans Memling, wie ich später gelernt habe. Das Triptychon war vom Danziger Kaperkapitän Paul Beneke von einer aufgebrachten Prise geraubt und der Kirche zum Geschenk ge­ macht worden. Mich hat dieses „Jüngste Gericht“ sehr geprägt. Es war meine erste schaurige Begegnung mit der Apokalypse. Da konnte ich die Seligen und die Unseligen sehen. Links, ein bisschen langweilig, Paradies und Himmel. Aber rechts, die Hölle, das war spannend! Die Teufel, die wie Handwerker als schwarze Kobolde mit Neptuns Spießen fuchtelten. Ich wusste also von Kindesbeinen an sehr genau, wie ein Teufel aussieht, auch in meinen Angstträumen. In der Marienkirche begann meine Liebe zur Orgel. Damals waren Kirche und Orgel gerade frisch renoviert worden und ein Organist namens Krischen ließ das Kirchenschiff und mich in Schallwogen schwimmen. Günter Ra­ 11  Ab 1938 wurde das „Pflichtjahr“ eingeführt. Ledige und nicht berufstätige Frauen unter 25 Jahren mussten eine einjährige Tätigkeit in der Land- oder Haus­ wirtschaft nachweisen.



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min, der spätere Leipziger Thomaskantor, hatte sie eingeweiht. Ich Dreikä­ sehoch guckte einmal beim Spielen mit Händen und Füßen zu. Das war überwältigend. Wenn die riesigen Basspfeifen im Seitenschiff dröhnten, dann bebte die Kirche. Nicht viel später versank alles in der Kriegs-Apoka­ lypse, nur Memlings „Jüngstes Gericht“ wurde gerettet. Meine Erziehung war liebevoll und streng. Das war ja noch die Zeit von „Zucht und Ordnung“, in der tätlich gezüchtigt wurde. Ich bekam nicht selten Ohrfeigen, manchmal eine Tracht Prügel, die ich als apokalyptisches Familiengericht über mich hinziehen ließ, aber nie ehrenrührig empfunden habe. Es war im Grunde genommen die Überforderung von Eltern, die bei fünf Taugenichtsen andere Sorgen hatten, als Zeit für diplomatische Exkur­ se in die Pädagogik. Wenn ich Schule schwänzte, dann gleich lohnend. Ich bin mit meiner Schiefertafel flötend vom Weg abgekommen und durchs Krantor an der Mottlau entlang zur damaligen Schichau Werft getrippelt. Ich bin da einfach reinspaziert, wie ein Arbeiterjunge, der dem Vater Brot bringt, habe mir die riesigen Dampfmaschinen und Schwungräder für die Transmissionsriemen­ getriebe angeguckt, die da klatschten und sausten. Das habe ich zwei Wo­ chen gemacht, bis die Lehrer anriefen und fragten, wie krank der arme Junge denn sei. Das endete natürlich mit der einkalkulierten Portion Prügel. Bei solchen Ausflügen habe ich den Danziger Hafen mit all seinen Schiffen erkundet. Ich kann noch heute die Namen der Dampfer aufzählen und weiß, wohin sie fuhren, die „Diana“, die „Neufähr“ und der „Kaiser“. Beim „Führer-Besuch“ in Danzig bin ich auch ausgekniffen. Es war dunkel und nieselig. Da stand eine Menschenmenge vor einem Haus und skandierte: „Lieber Führer sei so nett, zeig Dich mal am Fensterbrett! Lie­ ber Führer sei so nett, zeig Dich mal Fensterbrett!“ Davon blieb meine Erinnerung an kollektives Skandieren und Rhythmus-Klatschen. Später in der DDR wurde es wieder organisiert. Bis heute ist mir diese Gleichschal­ tung zum Rhythmus-Applaus, selbst bei einem Konzert, das mich begeistert, widerlich. Da klatsche ich unwillkürlich gegen an, oder ich muss raus. Ich bin das dritte von fünf Kindern und wenn man so will, wunderbar positioniert inmitten der Kindesschar. Ich genoss meine unbesorgte Eigen­ ständigkeit. Meine Mutter soll meinem Bruder oft gesagt haben: Winfried, geh mal nach oben, guck nach, was Volkwin macht und sag ihm, er soll es lassen. Die Atmosphäre zu Hause war geprägt von geborgener Bürgerlich­ keit. Mein Vater hatte sich, anstatt vor dem Krieg einen KDF-Wagen zu bestellen, einen Flügel gekauft, denn meine Mutter sang gerne. Er hat sich ihr zuliebe in zwei Jahren als Autodidakt so viel Klavierspiel vom Blatt beigebracht, dass er Schubertlieder begleiten konnte. So bin ich aufgewach­ sen mit häuslicher Kammermusik, von Bachs Notenbüchlein für Anna

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Magdalena bis hin zu Hugo Wolf. Am liebsten verkroch ich mich unter dem Flügel. Die Schrecken des Krieges blieben mir fern. Fliegeralarm und nächtliche Bunkerstunden erlebte ich als Abenteuer. Die Dienstmädchen gingen im Keller vor Angst hinter die Kohlenberge um zu pinkeln. Uns Kinder mach­ te das fürchterliche Geballere neugierig, wir versuchten auszureißen, um im Hof noch heiße Granatsplitter einzusammeln, die vom Himmel klackerten. Auf dem stumpfen Turm der Marienkirche stand eine schwere VierlingsFlak. Wir verfolgten die tastenden Suchscheinwerfer am Himmel, plötzlich hatten die einen Flieger zu zweit im Kreuz, ein dritter Strahl kam dazu, dann ging die Ballerei los, wie verrückt. Im Bombenkeller nebenan habe ich mit meiner Nachbarsfreundin Karin „Totchen“ gespielt. Also nicht „Greifchen“ und nicht „Pisskaulchen“ wie am Tage, sondern „Totchen“. Alle Spiele in Danzig endeten auf „chen“. Totchen war ein Doktorspiel. Einer von uns starb unter Stöhnen und Krämp­ fen und der andere versuchte zu retten. Es gelang aber nie. Wir starben doch. Die verängstigten Erwachsenen im Kellerbunker versuchten uns da­ von abzuhalten, aber wir haben immer wieder angefangen. Das war wohl unsere Form der Verarbeitung. Es gab damals Comic-Hefte mit gezeichneten Bildgeschichten aus dem Kriege. Ich hatte also Bilder vor mir, wie es im Krieg aussah, tapfere und treue Helden gegen schmutzige schiefnasige Horden. Wenn wir der Reihe nach die üblichen Kinderkrankheiten im Bett kurierten, gab es von meiner Mutter Bücher als dicke Bettdeck-Beschwerer, zum Beispiel die großen Quarthefte aus handgeschöpftem Bütten „Bilder deutscher Baukunst“. Da konnte ich die Reichsautobahnen sehen, mit ihren Brücken, oder die neue Reichskanzlei. Ich erinnere mich, dass ich diese Bauten immer etwas öde und langweilig fand. Mein liebstes Buch war ein riesiger Foliant, den ich abgöttisch liebte und bis heute habe: „Bildersaal deutscher Weltgeschichte“. Der reichte vom antiken Rom, den Wikingern und Armin dem Cherusker bis hin zum Flottenbauprogramm des Kaisers. Dieser Wälzer voller ‚Meis­ terwerke deutscher Holzschneidekunst‘ war reich illustriert und hat mein erstes Geschichtsbewusstsein geprägt. Wie Dürer, Goethe oder Bismarck aussahen, oder der Kaiser zu Pferde, ich wusste es genau. Das waren poli­ tische Bildprägungen, wenn man so will meine Bildzeitung. Meine Vorfahren waren väterlicherseits pommersche Bauern und Dorf­ schullehrer. Mein Großvater war Bahnvorsteher auf dem preußisch-russi­ schen Grenzbahnhof Prosken gewesen, ist aber früh gestorben. Meine Großmutter versuchte voller Entbehrung ihren drei Kindern Schul- und Universitätsbildung zu ermöglichen. Mein Onkel Walter ist Altphilologe geworden, mein Vater Gerhard studierte Philosophie, Germanistik und



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Theologie, wurde schließlich Pfarrer mit leidenschaftlichem Interesse für Literatur, Malerei und Musik. Ursprünglich war die Familie deutschnational geprägt und trauerte der guten alten Kaiserzeit nach. Der Vater meiner Mut­ ter war freilich anders gesonnen, Ingenieur, Sozialdemokrat und Freimaurer, seine Frau eine selbstbewusste Gesellschaftsdame mit riesigem Hut. Sie hielt meinen Vater nicht unbedingt für eine gute Partie, war aber von seinem Charisma tief beeindruckt. Sie arrangierte eine üppige Möbelaussteuer für das bevorstehende Landleben. Die erste Pfarrstelle meiner Eltern war Bilderweitschen im Kreis Stal­ lupönen, östlichstes Ostpreußen, noch ohne Strom und Telefon, ein öder Flecken von drei Gebäuden, Pfarrhaus, Wirtshaus und Kirche, mit weit verstreuten Gehöften von religionsflüchtigen Bauern aus dem Salzkammer­ gut, die seit der barocken Gegenreformation hier angesiedelt worden waren. Im Winter mussten die Eltern stundenlang mit dem Schlittengespann von Hof zu Hof. Natürlich wollten sie in dieser Einöde nicht allzu lange bleiben. Mein Vater erhielt bald seine Berufung an die Danziger Marienkirche, wohl nicht zuletzt auch, weil er als „Deutscher Christ“ bekannt wurde. Er erklärte mir viel später, die Deutschen Christen hätten aufräumen wollen mit den uralten jüdischen Traditionen im Christentum, die dem nordischen Volkstum fremd seien. Mein Vater war kindheitlich geprägt vom kaisertreu­ en Beamtentum seines Vaters. Als ärmlicher Student empfand er in den Hunger- und Inflationsjahren das, was in der Weimarer Republik geschah, als Selbstverleugnung, Demütigung und kulturellen Niedergang. Aus der Perspektive des vom Reich abgeschnittenen Ostpreußen wollte er die natio­ nalistische und sozialistische Synthese der Nazis als Überwindung sich be­ kämpfender Ideologien und Verheißung für ein neues Selbstbewusstsein begreifen. Im Grunde war er weltfremd. Ich war gewöhnt, das laute Trompeten Tra-Ta, Tra-Ta, Tra-Ta zu Beginn der Meldungen des Oberkommandos der Wehrmacht im Radio zu hören. Doch nun folgte danach das leise gestellte Pauken-Pochen Bum-Bum-BumBum der BBC London und wir Kinder wurden schnell aus dem Zimmer gescheucht. Das Nahen einer drohenden Apokalypse wurde spürbar. Mein Vater wollte wohl nicht länger dem Unheil ausweichen und meldete sich zur Musterung für die Front 1944, in Erwartung des heranrückenden Desasters. Nibelungentreue? Ich weiß es nicht. Meine Mutter blieb geerdet. Sie nervte die Wehrmachtsbürokratie so lan­ ge, bis mein Vater ganz in unserer Nähe in der Flakbatterie Porgorsch bei Gotenhafen stationiert wurde. Insgeheim war sie mit einer Dienstversetzung meines Vaters von der Front weg beschäftigt. Der „Deutsche Mensch“ floh nicht, eine amtliche Dienstversetzung war aber etwas ganz anderes. Der Flakstellung oberhalb von Gotenhafen mit Blick auf die grau gestrichenen

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KDF-Schiffe haben wir im Herbst 1944 noch einen Familienausflug abge­ stattet. Mein Vater hatte Scheinwerfer zu putzen. So hatte ich mir Helden­ tum nicht vorgestellt. Plötzlich Fliegeralarm. Meine Mutter scheuchte uns Kinder in den Unterstand, schließlich unter den Tisch an dem mein Vater laut ins Telefon schrie: Angriff auf Pogorsch! Ich hörte es krachen, flitzte zum Eingang und sah vom anderen Hügel gegenüber, wo wohl Fremdarbei­ ter rauf gelaufen waren, Rauchpilze aufsteigen. Munitionszüge kamen ständig voll rein und gingen leer raus. Aber einer nicht. Darauf standen zwei Pferdewagen der Firma Poggenpohl mit unseren Möbeln und angekoppelt war ein Dreiachser-Waggon mit Abteil. Wir fünf Kinder hatten alle einen Rucksack mit dem Nötigsten auf dem Rücken, Großmutter und unser Pflichtjahrmädchen Gertrud Koß fuhren mit, wir waren die einzigen Fahrgäste. Wir fuhren durch das zerstörte Leipzig nach Saalburg in Thüringen.

Johannes Oehme * 16.  Mai 1937 in Altenhain / Sachsen

Im Winter 1943 standen mein Bruder und ich am Fenster und sahen Flugzeuge in Vogelformation über uns hinwegfliegen. Wo ist Papa?, fragte ich meine Mutter. Im Krieg, antwortete sie. Was aber der Krieg ist, erklär­ te sie nicht und ich konnte es mir als Kind auch nicht vorstellen. Ich wuchs auf in einem kleinen Dorf in Sachsen an der Zschopau, unweit vom Harrasfelsen, benannt nach dem kühnen Springer Harras, der seinen Feinden mit einem beherzten Sprung in die Zschopau entkam. In Altenhain wohnten damals rund 300 Leute, und wir bildeten mit den zwei Siedlungs­ häusern aus den 20er Jahren die Spitze des Dorfes. Dahinter lag das Feld eines Bauern sowie die einzige Gastwirtschaft und von dort ging es bergab ins Reihendorf bis zum Fluss.

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Öffnete man die Tür zu unserem Hause, kam man in einen winzigen Flur, von dem zwei Zimmer abgingen und eine Toilette, damals noch eine Sel­ tenheit im Haus, oben befanden sich drei Zimmer mit Schrägen. Unten wohnten die Großeltern, oben meine Mutter und wir drei Kinder. Meine Mutter hatte keinen Beruf gelernt, nur kurzzeitig eine Hauswirt­ schaftsschule besucht. Von klein auf ist sie bei Bauern als Magd tätig ge­ wesen. Doch nach der Geburt meines ältesten Bruders wurde sie sehr schwer krank und bekam besonders schweres Asthma. Oft durchlitt sie Asthma­ anfälle und konnte nicht arbeiten gehen, nachts ist es unglaublich schlimm gewesen. Unser Vater war im Krieg. Zum Glück lebten unsere Großeltern mit uns in einem Haus, deshalb gab es für mich doch ein gutes Familienleben. Meine Mutter konnte durch ihre Krankheit und ihr Leid natürlich nicht immer die Rolle spielen, die norma­ lerweise eine Mutter spielt, weshalb ich viel Zeit mit den Großeltern ver­ brachte und oft mehr unten als oben im Haus zu finden war. Mein Großva­ ter hat die Vaterrolle übernommen, meine Großmutter die Mutterrolle – wenn auch nur zeitweise. Die Großmutter ist eigentlich meine Stiefgroßmutter gewesen. Denn als die erste Frau meines Großvaters starb und ihm sechs Kinder hinterließ, ist ihre Schwester, ebenfalls verwitwet, in die Bresche gesprungen und mit ihren zwei Kindern zu ihm nach Altenhain gezogen. Die beiden Alten haben sich gut verstanden, ich kann mich an keinen Streit erinnern. Mein Großvater arbeitete erst in einer Gießerei, später im Sägewerk und hat danach die Post in Altenhain übernommen. Wir hatten außerdem ein kleines Stück Feld, auf dem wir ein paar Kartoffeln anbauen konnten. Um das Feld kümmerte sich auch die Großmutter, manchmal sind wir Kinder ihr hinterher, haben Unsinn gemacht, oder auch mal geholfen, den Handwa­ gen den Berg hochzuziehen. Wir sind über die Runden gekommen, aber im Grunde waren wir arm. Doch die Atmosphäre war nicht bedrückend, eher harmonisch, sowohl bei uns, als auch bei den Nachbarn, wir besuchten uns mehrmals täglich. Die Kinder saßen dann mit offenem Mund herum und hörten, was die Erwachsenen so erzählten. Unser Dorf war eine Gemein­ schaft, ein „Hab-mich-lieb-Verein“. Im Winter wurde Schafswolle gespon­ nen, Federn geschlissen, Kuchen gebacken, und ganzjährig konnten wir uns ab und zu Kuhkäse im Gasthof holen. Wir haben unter unserer Armut nicht gelitten, als Kind habe ich es auch nicht so empfunden. Natürlich waren meine Schulfreunde teilweise besser dran, weil deren Väter Arbeit in den Maschinenfabriken in Chemnitz oder Frankenberg hatten. Bewundert habe ich den Kunnert Willy, meinen Cousin und Sohn eines Schneidermeisters. Er ging zur HJ, sah gut aus, hatte einen kleinen Dolch, Lederschlips, Cappy und Achselklappen. Als er eingezogen wurde, habe ich



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seine Uniform geschenkt bekommen, ich war ja erst Pimpf, da gab es noch keinen Dolch. Mit seiner Uniform habe ich mich als Kind gerne gezeigt und bin stolz durchs Dorf marschiert, „General Rommel“ nannten mich die Er­ wachsenen schmunzelnd. Später war ich bei den Jungen Pionieren, was ich als Kind nicht groß von den Pimpfen unterscheiden konnte, aber da gab es nichts Militärisches mehr, nur blaue Halstücher. Als Pimpfe wurden wir ab und zu ins Schloss Lichtenwalde eingeladen, dort saß der Gauleiter und verteilte Süßigkeiten, anschließend durften wir Sport machen. Kurz vor meiner Einschulung 1943 bekam mein Vater Heimaturlaub und brachte uns amerikanische Fliegerschokolade, die ganz dünn war und bitter schmeckte sowie eine Tüte klebriger Bonbons. Das ist zugleich meine letz­ te Erinnerung an meinen Vater. Ich sehe ihn noch vor mir. Er ist mit dem Zug nach Minsk gefahren und seitdem haben wir nie wieder eine Nachricht von ihm erhalten. Bis heute weiß ich nicht, was ihm passiert ist. Ich nehme an, dass der Zug in die Luft gejagt wurde. Auch bei uns auf dem Land nahmen wir den Krieg zunehmend mehr wahr. Mit den Fliegern kamen aber nicht nur die Bomben, sondern ebenfalls massenweise Flugblätter. Selbst wir Kinder hatten das Gefühl, dass wir das Papier nicht anfassen dürfen, es hieß, wer es aufsammelt, kommt ins Ge­ fängnis. Mein Großvater aber hat ein Flugblatt mitgenommen, an den letzten Satz erinnere ich mich heute noch: „Sachsen, ihr kleinen Zwerge, ihr kommt zuletzt in die Särge.“ Das war auch amerikanische und britische Politik. Mit der Gefahr von oben mussten wir leben, konnten uns nicht verste­ cken, nicht den Kopf in den Sand stecken, versuchten trotzdem noch wei­ terzuleben und immerfort zu überleben. Wir haben hochgestarrt zu den Flugzeugen, wussten, wenn sie so weit oben sind, sind wir nicht das Ziel. Doch gegen Ende des Krieges kamen zunehmend Tiefflieger nach Alten­ hain. Meine Mutter und ich standen am Fenster, ein LKW mit Holzverga­ sungsanlage fuhr vorbei. Plötzlich schossen amerikanische Tiefflieger auf diesen Laster, meine Mutter vergaß mich in ihrer Angst und rannte allein in den Keller. Ich stand weiter am Fenster und sah den brennenden Wagen, hörte und fühlte die Einschläge in unserem Haus. Meine Mutter erinnerte sich kurz darauf wieder an mich und holte mich in den Keller, bis die Flieger nicht mehr zu hören waren. Wir gingen raus, der Fahrer war total verbrannt, verkohlt, den Beifahrer konnten wir noch lebend bergen und verpflegen, er wurde schwer verletzt abgeholt. Die Bilder habe ich heute noch in Erinnerung. Thematisiert aber wurde der Krieg selten, die ganze Erziehung und Propa­ ganda war in den Menschen so drin, dass der Krieg von fast jedem als not­ wendig angesehen wurde. In unserem Dorf war es auch relativ übersichtlich, jeder kannte jeden und wusste, welcher politischen Richtung er angehörte.

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Neben uns wohnte ein Naziehepaar, der Mann war der Ortsgruppenleiter, die Söhne waren in HJ und SS, sie haben die Durchhaltepolitik bis zum Ende gefressen. Getan haben sie niemandem etwas, keinen denunziert, eigentlich auch liebe Menschen, aber ideologisch verbissen. Mein Lehrer war ebenfalls überzeugter Nazi, er herrschte mit strengster Disziplin, ebenso am Nachmit­ tag, wenn er uns Pimpfe führte. Nach 1945 war er sofort weg. Die Furcht vor den Russen war im Dorf nicht sehr groß. Im Gegenteil, ich würde sagen, dass die Bombardierung von Chemnitz und Dresden uns eher die Amerikaner und Briten fürchten ließ. Aber keiner wusste ja, was auf uns zukommt, da waren wir viel zu klein. Nur durch zwei Kriegsgefan­ gene auf dem Bauernhof, Ludwig aus der Ukraine und Wanja aus Serbien, erfuhren wir etwas aus dem Osten und beide schwärmten so sehr von ihrem Land, dass die Leute in Altenhain schon etwas beeinflusst wurden und nicht mit allzu großer Furcht nach Osten blickten. Die Russische Armee kam bei uns, wie auch schon die Flüchtlinge Wo­ chen zuvor, mit Trecks und Pferden an. Die Offiziere versuchten mit den Frauen anzubändeln, oft habe ich mich mit den Frauen zusammen im Korn­ feld versteckt und da ist nie etwas passiert. Eine Vergewaltigung meiner Mutter konnte unser Nachbar, der fließend russisch sprach, Gott sei Dank verhindern. Zwei Russen wurden für unser Dorf abkommandiert, sie kamen bei den Bauern unter, die weiterarbeiten konnten, unter russischer Kontrolle. Die NSLeute wurden entlassen, einige mitgenommen. Mein Großvater, der kommu­ nistisch angehaucht war, wollte nun etwas voranbringen, einen neuen Ver­ waltungsapparat aufbauen. Er und die anderen Kommunisten fühlten sich dazu berufen, außerdem besaßen sie ein Luftgewehr, marschierten damit durchs Dorf und setzten durch, dass ein neuer Bürgermeister gewählt wird. Wir nagten zwar alle am Hungertuch, aber durch die Bauern hatten wir Getreide und Kartoffeln, es herrschte nicht so eine große Not wie in der Stadt. Wenngleich durch die Russen ein Abgabesoll eingeführt wurde, denn es ging ja nicht nur um unsere Versorgung. Langsam und allmählich bauten sich die neuen Strukturen auf, auch durch die Neulehrer12 und die jungen Menschen, die zu uns kamen, und durch die Direktiven aus den größeren Kreisen. Es wurde bald klar, dass es eine russische Besatzungszone ist und wir „Russen“ waren. Mit den zwei abkommandierten Russen war ich unheimlich gut befreun­ det, wir sind zusammen geritten, haben geraucht und Wodka getrunken, ich war ja schon acht und die haben sich um das sonst Übliche wenig geschert. 12  Neulehrer waren keine studierten Lehrkräfte, sondern wurden in Schnellkursen nach dem Krieg zu solchen ausgebildet.



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Meine Mutter ist derweil Scharlatanen zum Opfer gefallen. Zu der Zeit liefen lauter selbsternannte Gurus, die Sterne deuteten und aus der Handflä­ che lasen, herum. Einer unter ihnen, so erzählte man sich, wisse ganz genau, ob die Angehörigen noch leben. Die Menschen in ihrer Verzweiflung, unter ihnen meine Mutter, die nicht wusste, wo mein Vater ist, sind überall hin­ gefahren und haben noch das Letzte hingegeben, um etwas zu erfahren. Ein Fünkchen Hoffnung starb nie. Das war eine Blütezeit für diese Heilkünstler, wie eine Bewegung ging das durchs Land. Trotz all der schrecklichen Dinge blieb Weihnachten der Höhepunkt in unserer Gegend und unserer Familie. Immer stand eine schön geschmückte Tanne im Haus, alle haben versucht etwas Besonderes zu machen. Berühmt war die Stollenbäckerei, schon ab Mitte des Jahres wurde gespart, um Ro­ sinen, Zitronat und Mandeln aufzuheben. Die Zutaten brachten wir unserem Bäcker in Altenhain und holten die zwölf fertigen Stollen mit einem Hand­ karren ab. An Heiligabend gab es Bratwürste und Kartoffelsalat, am ersten Weihnachtsfeiertag wurde Gans gereicht, weil meine Mutter beim Bauern beschäftigt war. Zur Kirche sind wir aber nicht gegangen, schwierig ist für meine Großeltern schon der Weg gewesen, der insgesamt vier Kilometer betrug, ein Bus fuhr nicht. Bibelstunden für die Konfirmation habe ich zwar genommen, aber seitdem habe ich mit der Kirche nie wieder etwas zu tun gehabt. Gerade nach dem Krieg hat man versucht das kulturelle Leben wieder aufblühen zu lassen, zu Weihnachten führten wir Kirchspiele auf und ganz­ jährig versuchten die Bewohner, Theatervorführungen zu organisieren, ab und zu Tanzabende. Alles aus eigener Initiative, Geld war nicht vorhanden, Kostüme wurden selbst hergestellt. Einmal im Monat wurde ein Landfilm von der großen Rolle gezeigt, die Plätze waren stets belegt. Außerdem war ich ein großer Abnehmer der Altenhainer Bibliothek, die war für eine Dorfbibliothek nicht schlecht. Karl May, nach dem wir alle gierten, stand zwar nicht im Regal, aber dafür ganze Reihen von Erzgebir­ gischer Volkskunst. Die Bände habe ich verschlungen, weil ich ein großes Faible fürs Schnitzen und Basteln hatte, im Schulunterricht haben wir zum Beispiel kleine Puppenstuben gebaut. Doch bevor ich meinem Hobby nach­ gehen konnte, musste ich nach der Schule immer erst Kühe hüten, um Essen zu bekommen. Kam ich dort an, lag stets ein Butterbrot bereit, verließ ich die Kühe abends wieder, klimperten 2,50 Mark mehr in meiner Tasche, die ich brauchte, um kleine Tiere aus Gips für einen eigenen Zoo zu sammeln. Hausaufgaben habe ich anschließend abends bei Kerzenschein gemacht, weil das Licht kurz nach dem Krieg oft ausfiel. Gott sei Dank fand ich bald ein altes Fahrrad im Schrotthaufen, das wir noch fahrttauglich zusammenflicken konnten und war damit mobil. Es be­

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saß Hartgummireifen, damit bist du gefahren, wie mit dem Rennrad übers Kopfsteinpflaster, es war hart und härter. Später als ich als Lehrling Geld verdiente, setzte ich mir als erstes Ziel, ein richtiges Fahrrad zu beschaffen. Doch ich konnte es nicht einfach kaufen, wie heutzutage, sondern musste ein halbes Jahr darauf warten, besser gesagt, ein halbes Jahr darum kämp­ fen. Heute ist das ja ganz anders. Natürlich habe ich es dann geschont und bin damit nie auf Arbeit gefahren.

Wolf Christian von Wedel Parlow * 13. September 1937

Meine Erinnerungen setzen ein, noch bevor ich laufen lernte. Sie spielen auf dem väterlichen Gut Polßen in der Uckermark. Es kommt das Bild meines Vaters, der mich unter den Kachelofen schiebt und erwartet, dass ich drunter durchkrabbele. Ich fange an zu krabbeln, muss meinen Kopf quer­ legen um durchzukommen, meine Mutter kommt herein, ruft, Wölfi, ich wimmere, sie nimmt mich auf der anderen Seite in Empfang: Was hast du schon wieder gemacht, Ludolf? Er lacht nur, ein schepperndes Lachen, wie eine Laubsäge. Mein Vater neigte zu Späßen solcher Art. Das Schönste für ihn war, eine Situation herbeizuführen, bei der sein Gegenüber hilflos war. Der nächste Erinnerungsfetzen stammt aus dem Kinderzimmer. Mein äl­ tester Bruder spielt Metallbaukasten, ich robbe über den Teppich, grapsche

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eine kleine Schraube, nehme sie in den Mund und plötzlich ist sie herun­ tergeschluckt. Irgendwie empfand ich einen Lustgewinn dabei. Keiner konn­ te aufschreien oder zu mir springen, weil es keiner sah. Ich erinnere immer noch dieses Schlucken, und dass ich gewissermaßen stolz darauf war. Das Lebensideal bei den Wedel war immer, Gutsbesitzer zu sein. Das Beste ist Gutsbesitzer, das Zweitbeste Offizier und das Drittbeste Beamter. Auch mein Vater lebte dieses Ideal. Er hatte in München Germanistik stu­ diert und später eine Privatdozentur für Literaturgeschichte in Würzburg inne gehabt, die er sofort aufgab, als 1933 das Gut Polßen frei wurde. Als Gutsbesitzer konnte er seine literarischen und romantischen Neigungen voll ausleben, schrieb Gedichte und Erzählungen. Als ich sechs Jahre alt war, hat mich mein Vater in den Zug gepackt und mit nach Nordböhmen genommen, in den so genannten Sudetengau. Das war im Mai 1944. Ich erinnere noch die Zugfahrt, wie wir vom Fenster aus das Elbsandsteingebirge bestaunt haben. Mein Vater hatte 1941 seinen Bru­ der beerbt, der in den Ötztaler Alpen „umgekommen“ war, wie es in der Familie hieß. Später habe ich recherchiert, dass mein Onkel sich das Leben genommen hat. Er hat sich ein Loch ins Eis gehauen und dort hineingesetzt, bis er erfroren war. Dieser Onkel hatte sein Gut in der Schorfheide verkau­ fen müssen, weil Hermann Göring sein Jagdgebiet vergrößern wollte. Mit diesem Geld erwarb er das Barockschloss Neuperstein im Sudentenland. Auf Neuperstein lebte mein Vater mit den Damen Morsbach aus Berlin, Mutter und Tochter. Er hatte es geschafft, sie zu überreden, mit ihm umzu­ siedeln, nachdem Frau Morsbach früh verwitwet war. Als er mich für alt genug hielt, holte er auch mich. Meine Mutter blieb in Polßen. Für mich war Neuperstein eine Art Märchenschloss, dabei war es gar nicht groß, eher ein Schlösschen. Wenn man vom Park aus bei Einsetzen der Dämmerung auf das Schloss sah, dann schimmerte es weiß in der Abendsonne. Dieses Bild blieb in meinem Gedächtnis haften. Das ganze Sudetenland war damals märchenhaft für mich. Überhaupt spukten viele Märchenfiguren durch meine kindliche Phantasie. Ich liebte die Märchen der Gebrüder Grimm, von Hauff und Musäus und kannte zahlreiche Rübe­ zahl-Geschichten. Mich muss in diesem märchenhaft erinnerten böhmischen Jahr aber auch etwas bedrückt haben, denn später wurde mir erzählt, dass ich beim ge­ meinsamen Essen nur schweigend dagesessen habe, aber nach Tisch lustig trällernd davongezogen sei. Meine Mutter war nur ein einziges Mal zu Besuch. Vielleicht stand ich als kleiner Junge zum ersten Mal in meinem Leben zwischen den Stühlen. Mein Vater war für mich als Kind eine Respektsperson. Nie habe ich gewagt, sein Arbeitszimmer zu betreten, ohne vorher anzuklopfen. Wenn er



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arbeitete, musste im Haus absolute Ruhe herrschen. Anfang 1945 kam ein Zirkus ins Dorf, der auf einem Stoppelacker sein Zelt aufbaute. Die blonden Frauen, die auf den Pferderücken ihre Kunststücke machten, geisterten noch lange durch meine Träume. Meine Erinnerung sagt mir, dass ich mehrere Vorstellungen besucht habe, denn diese blonden Zirkusfrauen haben mich himmlisch angerührt, wie ein Urbild. Im April kam meine ältere Schwester, die sich von ihrem Dienst als La­ zarettschwester hatte beurlauben lassen, um meinen ältesten Bruder und mich mit dem Zug nach Westen zu bringen. Wir landeten, noch bevor die Front im Osten zusammenbrach, auf dem kleinen Gut eines Onkels bei Bamberg. Das Kriegsende war spannend. Ich erinnere mich an die Ankunft der Amerikaner, die mit Panzern in breiter Formation über einen Hügel zum Main hinunterrollten, wie die ersten Jeeps vorfuhren und die Soldaten mir Kaugummis schenkten. Das alles war ein aufregendes, aber ungefährliches Erlebnis, bunt und spannend. Ich hatte so viel mehr Glück als fast alle aus meiner Generation, denn der Krieg ist in meiner Biographie keine Zäsur. Mein Vater war wahrscheinlich ein Träumer. Als die Russen einmarschiert sind, meinte er, er stehe das durch. Er glaubte wirklich, er könne in Böhmen bleiben mit der Rechtfertigung, das Gut sei von der tschechischen Vorbesit­ zerin rechtmäßig erworben worden. Dass er auch unsicher war, zeigt allein, dass er meine Schwester und ihren kroatischen Kutscher mit einem Leiter­ wagen voller Dokumente, Gemälde, Hausrat und Familienchroniken, auf die Reise nach Franken schickte, wo sie den Besitz verstecken sollte. Mein Vater hat in seinem Schlösschen gewartet und die ersten Russen feierlich empfangen, noch einmal festliche Bedienung, üppiges Essen, Wein, das volle Programm. Er hatte mit einer tschechischen Widerstandsgruppe Kon­ takt gehabt, war den Soldaten der Roten Armee an der Spitze einer Delega­ tion der nahen Stadt Dauba (Dubá) mit einer weißen Fahne entgegengegan­ gen, aber irgendwann muss ihm gedämmert haben, dass er, der Adlige, in Gefahr ist. In einer Nacht- und Nebel-Aktion ist er mit den beiden Damen Morsbach zur Elbe gelaufen, hat sich übersetzen und in Raudnitz (Roud­ nice) eine Rotkreuz-Bescheinigung ausstellen lassen, dass er sich den Tschechen gegenüber nie feindlich verhalten habe. So sind sie sicher in den Westen gekommen. Im November 1945 traf schließlich auch meine Mutter auf dem Gut in Bamberg ein. Ich hatte sie fast ein Jahr lang nicht gesehen. Sie war mit den Polßener Bauern getreckt, wie üblich kurz bevor die Russen dort einmar­ schierten und das Artilleriefeuer schon den Nachthimmel erhellte. Das Gut lag ja nicht weit von der Oder. Irgendwann blieb das Dorf zurück, wurde abgeschnitten von einer russischen Panzereinheit. Meine Mutter hat sich

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allein irgendwie durchgeschlagen, ohne jegliche Nachricht, von keinem ­ihrer Kinder, auch nicht von ihrem Ehemann. Die Güter im Osten waren 1945 verloren, in Franken konnten meine Schwester, meine Mutter und ich auf Dauer nicht bleiben. Unser Ziel stand im Dörfchen Eiterbach, in der totalen Einsamkeit mitten im Odenwald an einer schmalen Landstraße, die zwei Kilometer weiter an der hessischen Grenze im Wald endet. Es war das großelterliche Haus. Mein Vater, die Damen Morsbach, eine weitere Schwester und meine beiden Brüder befan­ den sich bereits dort. Zum Haus gehörte eine kleine Gastwirtschaft und Landwirtschaft im nächsten Ort. Wieder ein kleiner Gutsbetrieb, viel be­ scheidener zwar als im Osten, aber immerhin. Die Gast- und Landwirtschaft war verpachtet und weil wir eine Naturalpacht bekamen, mussten wir keinen Hunger leiden. Unser Familienleben in Eiterbach war kurios. Man könnte darüber la­ chen, wenn es nicht so traurig gewesen wäre. Die beiden Damen, die mei­ nem Vater ans Herz gewachsen waren, lebten mit uns im Haus. Meine Mutter kochte für uns alle, machte den Haushalt und abends saßen wir alle zusammen am Tisch, Frau Morsbach senior führte die Konversation. Sie hatte ein anziehendes Wesen, dem auch ich mich nicht entziehen konn­ te, eine strahlende Eloquenz und Intelligenz, alle Gespräche mit ihr waren interessant. Für meinen Vater war es eine Idealsituation, er hat seine Mög­ lichkeiten voll ausgelebt, wusste, dass meine Mutter duldsam war und den Haushalt bestens versorgte. Einmal habe ich ihn zur Rede gestellt. Er rechtfertigte sein Verhalten damit, dass meine Mutter ihn nach meiner Ge­ burt 1937 sexuell abgelehnt habe. Das sei das eigentliche Motiv dafür gewesen, sich diesen beiden Frauen zu nähern. So ist Frau Morsbach mei­ ne Taufpatin geworden. Trotzdem habe ich die schlechte Stimmung mitbekommen. Jedes Mal, wenn Frau Morsbach geruhte an einer Mahlzeit teilzunehmen, hielt meine Mutter den Kopf gesenkt, saß da, schaute auf den Kloß und war innerlich abwesend. Als die Spannungen unerträglich wurden, zogen die beiden Da­ men in unser Gartenhaus. So war mein Vater eben meist dort, trank mit Frau Morsbach Wein und kam nur zum Abendessen herüber. Für meine Mutter war es eine schwere Zeit, aber nur selten spürte ich etwas von ihrer Seelenlage. Ich erinnere mich, wie sie einmal morgens um sechs Uhr in der Küche stand, mir ein Pausenbrot machte und aufstampfte: Dieser Schuft! Eines Tages stand sie mit gepackten Koffern auf der Straße, um wegzufahren. Mein Vater hat es mitbekommen, holte sie zurück ins Haus, schloss sich einen halben Tag mit ihr ein und redete. Meine Mutter blieb. Der Gedanke, als gescheiterte Ehefrau zu ihrem Bruder nach Franken zurückzukehren, war unerträglich für sie.



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Ich nannte Frau Morsbach Tante Annemarie und geriet in starke Positio­ nierungsschwierigkeiten. Auch ich wandte mich ihr zu, keineswegs aus bewusst diplomatischen Beweggründen, sondern aus Interesse und fühlte mich als Verräter an meiner Mutter. Mein Wunschleben, meine Getrieben­ heit führte mich eher zu den Morsbachs hin, meine Verantwortung veran­ lasste mich wieder, mich um meine Mutter zu kümmern. Ich war gespalten. Wenn ich eine Woche in den Schulferien zu Hause war, bekam ich spätes­ tens am dritten Tag ein so schlechtes Gewissen, dass sich mein Verhalten völlig umkehrte. Ich mied die Damen Morsbach und meinen Vater und befasste mich nur mit meiner Mutter. Wer schwankte, war nur ich, indem ich mich nicht klar orientierte. Einmal, als ich aus der Schule kam, hatte mein Vater mein Essen auf den Treppenabsatz gestellt, wie man für Hunde das Essen hinstellt. Er freute sich diebisch, feixte, lachte über mein Außersichsein. Derartige Späße konn­ te er beliebig durchführen, sodass mein Verhalten als kleiner Junge ihm gegenüber eher ängstlich war. Später muss ich beleidigt und schmollend dagesessen und eine Schnute gezogen haben. Also nannte mein Vater mich fortan Schnute und die Morsbachs übernahmen das. Schnuten sind ja ei­ gentlich Tiere, irgendetwas zwischen Hund und geheimnisvollem Phantasie­ tier. Die wichtigste und wirkungsvollste Waffe gegen meinen Vater war mein Schweigen, das war für ihn ganz schwer erträglich. Vielleicht habe ich da das introvertierte Wesen meiner Mutter nachgeahmt.

Fedja Müller * 22.  Januar 1938 in Eggenfelden / Oberbayern

Im Salat des Nachbarn tummelten sich Schnecken. Einmal habe ich sie ungebeten gesammelt, um ihm eine Freude zu machen. Ich legte alle auf die Treppenstufen vor seinem Haus und baute außen herum eine Arena aus Holz. Danach zerschlug ich die Schnecken mit einem Stein. Als der so Beschenkte, der ein lieber pensionierter Lehrer war, das bemerkte, kam er heraus und verbot es mir. Ich war so zwischen drei und vier und ich sagte, das seien doch nur Schnecken. Er schüttelte den Kopf und antwortete: „Stell dir mal vor, das würde ein Riese mit dir anstellen. Schnecken spüren den Schmerz genauso wie wir, sie können nur nicht sprechen oder schreien.“ Das traf mich bis ins Mark und blieb mir ein anhaltend erschreckendes wie belehrendes Erlebnis.



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Das war im Tal der Rott, in Niederbayern, nicht sehr weit von der öster­ reichischen Grenze. Dort bin ich in dem Städtchen Eggenfelden aufgewach­ sen. Es ist von einem reichen Bauernland mit Einödhöfen umgeben. Diese Höfe liegen auf Hügeln, eindrucksvoll wie kleine Festungen, nach den Seiten hin fast wie Wagenburgen gebaut. Es gibt sie noch heute, ein boden­ ständiges landwirtschaftliches Hinterland. Zwei meiner Großeltern lebten noch, in recht bescheidenen Verhältnissen, in Oberfranken und in Donauschwaben. Ich habe sie beim jeweils einzigen Besuch als Vierjähriger noch kennengelernt, sie machten großen Eindruck auf mich. Ich kann mich noch gut an die 80-jährige Frau erinnern, großge­ wachsen, schlank, schön sprechend. Mein Vater war ihr nachgeschlagen, wie es von heute her aussieht. Mein Großvater mütterlicherseits war ein rauer Dorfschullehrer mit gutem Herzen, nach dem Motto: „Hier ruht der Küster Martin Krug, der Kinder, Weib und Orgel schlug.“ Denn als Küster und Or­ ganist wurde er gleichfalls eingespannt, bei lebenslang minimalem Salär. Er war nie befördert worden, weil er sich politisch nicht anpasste. Seine zehn Kinder mussten im Herbst auf den Stoppeln Ähren lesen und auch im Winter ohne Schuhe zur Schule gehen, Lappen um die Füße gewickelt. Er hat sie geschlagen, wie alle, und ihnen, sobald sie 14 waren, ein kleines Bündel auf den Rücken gegeben und gesagt: Lasst euch so bald nicht wieder blicken. Meiner Mutter ging es besser, sie war die Zweitjüngste und durfte die Mittlere Reife machen. Sie arbeitete als Sekretärin, bis sie meinen Vater traf. Er war Bankangestellter bei der Bayerischen Hypotheken- und Wech­ selbank, die dort damals keine Konkurrenz hatte. Ihre Angestellten nannten die Leute „Bankbeamte“, was vielsagend ist. Diese Bank war eine Kernin­ stitution. Sie kam gleich nach der katholischen Kirche und der Nazipartei­ zentrale, noch vor Rathaus und Schule. Viel verdient hat mein Vater als „Bankbeamter“ dennoch nicht, in der Erinnerung schätze ich uns als kaum untere Mittelschicht ein. Wir wohnten zur Miete in einem Häuschen mit noch engerem Gärtchen, aber doch groß genug für mich, um darin zu spie­ len und begeistert Kieselsteine zu verschlucken. Auch bei uns war es üblich, Hitler im Volksempfänger zu hören. Einmal saßen meine Eltern auf dem Sofa in der Küche, und ich kletterte auf den Stühlen herum. Sie hörten ruhig zu und einer von beiden sagte mir: Das ist der Führer. Mir fiel nur diese komisch heisere Stimme auf. Dass der Führer „Hitler“ hieß, hatte ich schon mitgekriegt, mehr nicht. Später haben meine Eltern immer öfter den Namen „Stalin“ als Gegenpart erwähnt, unter dessen Herrschaft es uns dann aber schlecht gehen würde. Über ihn wurde nicht mit Hass geredet, wohl aber mit Angst. Im Ort begegneten sich die Leute auf der Straße nach wie vor mit „Grüß Gott“ und nicht mit „Heil Hitler“, obwohl die Ortsgruppenleitung sich alle

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Mühe gegeben und mit Strafen gedroht hatte. Bei Nazifeiertagen waren aber natürlich alle Häuser mit Hakenkreuzfahnen geschmückt, auch unseres. Bei einer dieser Gelegenheiten hielten mich meine Eltern im ersten Stock zum Fenster hinaus. Der Zug marschierte vorbei und alle, ob auch meine Eltern, weiß ich nicht, riefen sehr laut: „Heil Hitler!“ Dann war es still, und ich rief mit durchdringender Kinderstimme: „Heil Talin!“ Die Köpfe da unten wendeten sich ruckartig zu uns nach oben, und meine Eltern zogen mich hastig nach innen. Alle hatten wahrscheinlich „Stalin“ verstanden, und das hatte ich ja auch gemeint. Als ich fünf war, und mein Vater schon im Krieg, wäre ich beinahe Zir­ kusartist geworden. Der kleine „Circus Heppenheimer“ kam einmal im Jahr bei uns durch; das ganze Jahr freute ich mich darauf. Und nun traten die Zirkusleute an meine Mutter heran, sie wollten mich tatsächlich mitnehmen und ausbilden. Meine Mutter schwankte durchaus, ohne dass ich weiß wa­ rum; ich selbst war von dieser Aussicht wohl ziemlich begeistert. Wir gin­ gen an einigen Abenden wieder hin, denn die Erwachsenen verhandelten untereinander. Am Ende blieb ich, ohne die Gründe zu kennen, dann doch im Tal der Rott. Das eigentliche Kriegsgeschehen war in Eggenfelden fast nicht zu spüren. Bomben fielen nur einmal. Da waren wir in einem normalen Keller, in dem die Leute als zusätzliche Stütze für die Decke ein paar Fichtenstämme auf­ gestellt hatten. Wir hörten die erste Bombe fallen, ich erinnere mich an den allgemein ausbrechenden Schrecken. Ein andermal ist ein Bomber über unser Haus geflogen, ich rannte neugierig hinaus. Ich sehe das Bild noch genau über mir: Das eine Flugzeug, das winzig klein hoch im Himmel den Krieg für mich sichtbar gemacht hat. So gesehen, war es im Rottal ein sanfter Krieg. Was aber geprägt hat, das war der Hunger, der sich auch in einer so ausgeprägt landwirtschaftlichen Gegend immer mehr einschlich. Hunger und Hamstern. Die Einödhöfe lie­ gen recht weit voneinander entfernt, sodass wir stundenlang zwischen ihnen herumliefen. Für ein paar Eier hat die Mutter irgendwelchen Brautschmuck oder andere wertvolle Dinge mitgebracht. Ich kann mich lebhaft an die Haltung der Bauern erinnern. Sie waren in der stärkeren Position und haben flink und geschickt immer die kleinsten Eier herausgesucht, wobei sie das abstritten: Wie’s hergeht!13 Schlimmer ist gewesen, dass meine Mutter mich oft allein weggeschickt hat. Ich hatte dann, so klein ich war, stundenlang mit Geld und irgendwelchen Wertsachen in der Tasche auf die Höfe hams­ tern zu gehen. Dabei haben mich die frei laufenden Gänse und Hunde überall verfolgt, ich musste mich durchkämpfen und durchflüchten. Der 13  Bayerisch:

So wie es kommt.



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Mutter war es immer nur wichtig, wie viel ich mitgebracht hatte. War es wenig, dann bläute sie mir ein, ich müsse einfach mehr verlangen. Ich hat­ te aus gutem Grund Angst vor ihr. Ich kannte sie ja, sie konnte jederzeit gewalttätig werden. Mein Vater wurde das nie. Er kam dann im Jahr 1942 mit 41 Jahren, nach den damals geltenden Nazigesetzen dafür zu alt, in den Krieg, sogar zur Strafe in ein Pionierba­ taillon. Als stellvertretender Filialleiter der Bank wurde er von der Orts­ gruppenleitung beständig unter Druck gesetzt, in die Partei einzutreten. Sie sagten ihm, sie wüssten ja, dass er keiner von ihnen sei. Sie wollten ihn als bloße Karteileiche aufnehmen, damit die Leute aufhörten zu tuscheln. Mein Vater machte das trotzdem nicht, er blieb standhaft. Irgendjemand muss ihn schließlich höheren Ortes angeschwärzt haben, um ihn wegzukriegen. Die Pionierbataillone galten als das „ehrenhafte“ Kanonenfutter, die Strafbatail­ lone aus Kriminellen oder anderweitig Verurteilten waren das unehrenhafte. Mein Vater war einer der sanftesten Männer, die ich bis heute kennenge­ lernt habe. Nie aggressiv, friedliebend und warmherzig, in Konflikten lieber leicht ironisch reagierend. Er hat es fertig gebracht, in der Wehrmacht zuerst in Frankreich und dann an der Ostfront niemals schießen zu müssen. Er schrieb uns in seinen Feldpostbriefen, dass er die Knarre bei Übungen natür­ lich in die Hand nehmen müsse, und er könne auch leidlich schießen. So wie die Kammerbullen sich um die Helm- und Uniformgrößen gekümmert haben, so schaffte es mein Vater, ein Schreibstubenhengst zu werden. Sein Regiment hat einmal ein Schloss bei Paris geplündert, und als seine Kameraden die Möbel umstießen, Bilder von den Wänden rissen und Schubladen auskippten, setzte er sich auf eine Treppenstufe zwischen die Stiefel der hin und her ren­ nenden Soldaten, sortierte die wertvollen Briefmarken wieder ein und hat sie zurückgelegt. Er hat mir seine Friedfertigkeit in diesen Briefen von der Front, die mir die Mutter vorlas, aus der Ferne vorgelebt. Zwei Mal sah ich ihn in den Krieg ziehen, an der Seite meiner Mutter weggehend. Beide Male ließen sie mich, und ich weiß nicht warum, allein vor dem Häuschen in der Mitte der Straße stehen und ihnen nachschauen. Beim zweiten Mal kam er 1943 für einen einzigen Tag heim, als er von der Westfront zurück verschoben wurde, um in den anderen Zug Richtung Os­ ten zu steigen. Diese wenigen Stunden waren furchtbar, meine Eltern waren mit den Nerven am Ende, haben sich gestritten. Am nächsten Morgen hat ihn meine Mutter, wieder allein, zum Bahnhof begleitet. Ich sah nun zum zweiten Mal den Rücken meines Vaters in Uniform. Er drehte sich mit ei­ nem stummen letzten Blick noch einmal halb zu mir um, während meine Mutter an ihm zog. Zwei Jahre später war meine Kindheit endgültig vorbei. Das Jahr 1945 brachte den Einschnitt. Mehrere amerikanische Offiziere besetzten unser

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I. Kindheit

Häuschen, doch vorerst durften wir noch darin wohnen bleiben. Diese Sol­ daten waren freundlich zu mir. So haben sie für mich, in meiner sporadi­ schen Erinnerung, eine Windrose oder eine Farm gezeichnet; sie haben auch Konserven und Kaugummi für uns abgezweigt, was ihnen streng verboten war. Unter ihnen war einer, vor dem meine Mutter mich warnte: sei vorsich­ tig! Auf meine Frage, „Warum?“, bekam ich nur zur Antwort, er sei „ein Jud“. Wenn ich dann weiter nachfragte, gab sie mir eine der unzähligen Ohrfeigen, die ich neben den schwereren Schlägen so oft von ihr erhielt. Das passierte auch bei anderen Kinderfragen, etwa warum der Mond nicht vom Himmel falle. Deshalb fürchtete ich nur diesen einen Offizier: aus Angst davor, er könne sich rächen, weil wir irgendetwas Falsches mit den Juden gemacht hatten. Denn das war eines der beiden einzigen Dinge, die ich von meiner Mutter über den Krieg zu hören bekam. Aussage eins: Der Hitler war ja doch ein Narr, weil er den Krieg mit Russland angefangen hatte. Russland sei viel zu groß, nie habe jemand gegen Russland gewon­ nen. Aussage zwei: Also, das mit den Juden, das habe er dann doch zu weit getrieben. Umbringen hätte er sie deswegen ja nicht müssen. Mehr hat sie nie gesagt. Was „Juden“ seien, wusste ich nicht. Auch die anderen Erwach­ senen haben nicht weiter darüber geredet, immer blieb da etwas Unaus­ sprechbares. Noch später, am Anfang meiner Gymnasialzeit, setzte sich das fort. Wir waren 60 Schüler pro Klasse, und eines der Mädchen hieß Irmgard Dresdner. Von den Erwachsenen kam die Aufforderung, wir müssten im Umgang mit ihr aufpassen, weil sie eine Jüdin sei. So hatten wir Angst vor ihr, 59 zehn- und elfjährige Schulkinder machten einen scheuen Bogen um sie. Ohne jeden für mich ersichtlichen Grund, sie war ein ruhiges Mädchen, angenehm im Umgang, mit dunklen Augen und schönem schwarzen Haar. Einige Monate nach Kriegsende wurden wir von der Militärregierung aus unserem Häuschen in Eggenfelden geworfen. Unter abenteuerlichen und nicht ungefährlichen Umständen gelangten wir auf einem Langholzzug nach Lichtenfels in Oberfranken zu der ältesten Schwester meiner Mutter. Auf diese leidlich zurechtgesägten, pyramidenförmig aufgeschichteten und we­ nig vertrauenerweckend vertäuten Stämme sind wir hochgekrabbelt. Drei Tage und Nächte kauerten wir dort, ganz knapp unter der Starkstromleitung bei bitterer Kälte, wobei der Zug mehr stand als fuhr. Dabei kamen wir durch Nürnberg, eine Ruinenlandschaft, die bis zum Horizont reichte. Ein Anblick, den ich danach noch jahrelang zeichnete oder aus weißen Papier­ stücken collagierte. Ich phantasierte Flugzeuge über der Stadt hinzu. So ist ein Bombennacht- und Ruinenbild nach dem anderen entstanden, weiß auf schwarzem Karton, bis mir die Tante Jahre später Wasserfarben schenkte und ich wahrscheinlich aus Freude an der Farbe von dieser Obsession weg­ gekommen bin.



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In der Schule wurden wir von teilweise immer noch bekennenden Altna­ zis gewohnheitsmäßig geprügelt. Das ging im Ganzen bis zur Untersekunda. Ich war Primus Omnium, und manche Lehrer waren missgünstig, weil ich bessere Noten als ihre Kinder hatte. Deswegen wurde ich besonders herge­ nommen, doch geschlagen wurden wir alle. Das waren die Brüll- und Prü­ gellehrer. Es gab aber noch die schlaueren und urbaneren Altnazis, meistens Flüchtlinge, für die Einheimischen also „Preußen“, zum Teil promoviert. Jüngere Lehrkräfte kamen auf Jahre hinaus noch nicht hinzu; unsere Magis­ ter waren oft schon über 70 und unterrichteten teilweise Fächer, die sie nie studiert hatten. Entsprechend war die Qualität. Der Geschichtsunterricht endete zum Abitur mit Bismarck, die Literaturgeschichte mit Adalbert Stif­ ter. Nur drei Ausnahmen gab es: einen apolitischen, klugen Englisch- und Französischlehrer, der von Allen gequält wurde, und ein lesbisches Flücht­ lingspaar aus Schlesien. Alle drei blieben trotz besonders guter Leistungen totale Außenseiter, nicht zuletzt unter ihren Kollegen. Beim Umbruch und während der Hungerjahre zwischen 1945 und 1948 waren die Erwachsenen zu Hause mit der Anstrengung des Überlebens von Tag zu Tag beschäftigt. Ich lief mit einer Freiheit, die mir sonst nie mehr gelassen wurde, von früh bis nachts durch die Straßen. Ich trieb mich her­ um, unbehelligt und unbemerkt, zwischen den Erwachsenen und an den wenigen mit Kanonenöfen geheizten Orten, wie Kneipen und Wettannahme­ stellen. An Hütten aus hastig aufgestellten Brettern las ich immer wieder das Wort „Behelfsheim“14. An deren Türen standen Familiennamen, die ganz ungewohnt klangen. Ich erinnere mich an „Babendererde“, „Haltauf­ derheide“ und vage an noch fremdere, deren Dickicht aus Konsonanten ich nicht zu entziffern wusste. Durch die Straßen, von den Fahrzeugen der Militärregierung beherrscht, schnauften von Zeit zu Zeit die von uns Kin­ dern bewunderten Holzvergaser – altersschwache Autos oder Kleinlaster mit enormen siloähnlichen, dunkel qualmenden Aufbauten am Ende. In ihnen wurde Holz verbrannt, das die Karre irgendwie antrieb. Im Übrigen waren Straßen und öffentliche Räume zu jeder Tageszeit voller Menschen zu Fuß. Niemand hielt es zu Hause oder im Behelfsheim aus. Die ständige Bewe­ gung half ein wenig gegen die Kälte; weniger allerdings den zahlreichen einbeinigen Männern, die sich mühsam auf Holzkrücken hielten. Viel später habe ich ein Gedicht von Marie Luise Kaschnitz gelesen, das etwas Wesentliches von der Stimmung dieser Jahre eindringlich genau be­ schreibt: „Und ich wusste nicht zu sagen, wes Art mein Nächster war, es war nach den alten Gesetzen, nichts mehr berechenbar.“ Und all diese Zeit über blieb mein Vater „vermisst“. 14  Notunterkünfte

für Ausgebombte, später für Flüchtlinge.

Frank Tidick * 18. Dezember 1940 in Königsberg

Ich war gerade vier Jahre alt, als wir Königsberg verlassen mussten. Meine Mutter erzählte immer, wir seien mit dem letzten Zug geflohen, wären von Fliegern angegriffen worden und hätten Schnee aus der hohlen Hand getrun­ ken. Wir sind im völlig überfüllten Swinemünde auf Usedom gelandet. Ich habe nur sehr vage Erinnerungen, auch an den großen Luftangriff auf Swine­ münde, der dem Panzerkreuzer Lützow galt und viele tausend Flüchtlinge das Leben kostete. Ich erinnere das dauernde Blitzen und Knallen. Von der Zeit davor sind mir nur einzelne Puzzleteile geblieben, ein bisschen Woh­ nung am Königsberger Schlossteich in der Straße Hinterrossgarten 28, der Teppich im Wohnzimmer, die sommerlichen Besuche bei meinen Großtanten in Rauschen. Diese Großtanten besaßen ein Haus am Strand und den in mei­ ner Erinnerung riesigen und struppigen Terrier „Distel“. Im Frühjahr 1945 kamen wir schließlich im kleinen Dorf Eckhorst bei Lübeck an und wurden dort in der ehemaligen Schule einquartiert. Noch vor der Flucht hatte meine Mutter Kisten mit Büchern, Segelpokalen, Silberbe­ stecken und Sektschalen gepackt und per Post nach Westen aufgeben. Vieles ist sogar heil angekommen, die Post hat in diesem Untergangschaos funk­



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tioniert. Aber wie sie uns gefunden hat, weiß ich nicht. Die Sektschalen haben wir noch heute. Noch bevor der Krieg zu Ende war, hielt eines Tages ein Jeep vor unse­ rer Tür in Eckhorst, ein Soldat stieg aus, umarmte meine Mutter und sagte zu uns, der Krieg sei bald zu Ende und er bleibe bei uns. Der Soldat war mein Vater. Ein paar Tage später kamen englische Besatzungssoldaten, um ihn abzuholen. Ich weiß noch genau, wie sie ihn am ganzen Körper ab­ klopften, irgendwelche Fragen stellten und mitnahmen. Sie haben ihn in ein großes Kriegsgefangenenlager für Offiziere bei Lauenburg gebracht. Zurück blieb ich mit vier Frauen, Großmutter, Mutter, Tante und Cousine. Meiner Mutter war das irgendwann zu langweilig, also hat sie mich aufs Fahrrad gepackt, ist zum Gefangenenlager gefahren und unter dem Zaun hindurch gekrochen. Fortan war sie die einzige Frau und ich das einzige Kind unter den gefangenen Wehrmachtsoffizieren im britischen Lager. Bis heute weiß ich nicht, weshalb wir dort geduldet wurden, wahrscheinlich ist meine Mut­ ter schuld. Sie war zwar nur 1,56 Meter klein, aber riesig groß darin, sich durchzusetzen. Im Gefangenenlager haben wir sogar eine Hütte gebaut, aus Schilfrohr wurden Matratzen geflochten und ich musste Ziegelsteine schlep­ pen. Mein Vater hat dabei getestet, ob ich in jeder Hand einen Stein tragen konnte. Für die Organisation meines Mittagessens war ich selbst zuständig, stand mit einem Topf in der langen Schlange der Soldaten und bekam im­ mer etwas ab. Weil mein Vater Journalist war, hat er im Lager eine Gefangenenzeitung gemacht. Das muss die erste deutsche Nachkriegspublikation gewesen sein. Nach seiner Entlassung bemühte er sich gleich, eine Arbeit und eine Woh­ nung für uns zu finden. Wir zogen in eine umgebaute Kegelbahn in Ueter­ sen, die in zwei Zimmer unterteilt war, mit Küche und einem kleinen Anbau für Toilette und Waschtrog. Unsere Kegelbahn war für Flüchtlinge beinah luxuriös, wir hatten sogar einen Garten, einen Hühnerstall, zuweilen Gänse und unser Schwein „Aphrodite“. Das klingt wie im Märchen und irgendwie war es das auch. Ich hatte in der „schlechten Zeit“ jeden Morgen ein Früh­ stücksei. Ein paar Kilometer weiter in Hamburg war das schon ein unvor­ stellbarer Luxus. Unser Trick war der Garten, mit seinen Kartoffeln und Bohnen und der nahe Wald voller Beeren und Pilze. Wir zogen Tabakpflan­ zen, deren Blätter an langen Fäden getrocknet wurden. Das Schwein Aph­ rodite hatte bei uns aber mehr literarische Bedeutung. Sie lebte als Einzel­ tier. Und weil Schweine nun einmal gesellige Tiere sind, wollte sie nicht wachsen, sodass sie das schweineübliche Schicksal ereilte. Zum Heizen konnten wir uns Torf beschaffen, den wir weit weg stechen mussten. Alles änderte sich mit der Währungsreform 1948. Ich kann mich gut an die Verwandlung der Schaufenster erinnern. Von einem auf den an­ deren Tag waren sie vollgestopft.

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Unsere Kegelbahn war dauernd von ostpreußischen und baltischen Freun­ den bevölkert und entwickelte sich zu einem Treffpunkt der Flüchtlinge. Schließlich fanden auch zwei Brüder meines Vaters den Weg aus der Ge­ fangenschaft in die Kegelbahn. Dahinter wurden Rosen gezüchtet; da rutschten die Bauern auf Knien von Rosenstock zu Rosenstock, um sie zu veredeln. Wir Flüchtlinge waren den schleswig-holsteinischen Bauern aus vielen Gründen nicht grün, und unsere Familie ganz besonders nicht, weil mein Vater zwar keinen Trecker fahren, aber schreiben konnte, bald nach dem Krieg für mehrere Rundfunkanstalten arbeitete und vor vielen Einhei­ mischen einen VW-Käfer hatte. Flüchtlinge waren schon eine Sache für sich, aber intellektuelle Flüchtlinge, denen es verhältnismäßig gut ging, eine Zumutung. Das haben uns die Bauern spüren lassen. Selbst in der Schule gab es eine klare Trennung zwischen Flüchtlingskindern und Einheimischen. Meine Mutter war eine sehr lebenskluge Frau. Sie war Hauswirtschafts­ lehrerin an der Königsberger „Klopsakademie“ gewesen. Nach dem Krieg wurden mein Bruder und ich ihre Schüler, sie hat uns viele ostpreußische Rezepte beigebracht und noch heute koche ich ihre Königsberger Klopse. Meine Mutter hatte ein interessantes pädagogisches Konzept. Sie gab mir zehn Mark für das Mittagessen und sagte, du darfst entscheiden, was du einkaufst und kochst und ich helfe dir dabei. Da gab es natürlich immer nur meine Lieblingsgerichte. Meine Mutter sprach Hochdeutsch, nur das Wort Spargel blieb bei ihr immer „Sparjel“. Eine Menge ostpreußischer Worte spukten bei uns zu Hause rum, ich war ein Lorbaß, wenn ich etwas ausge­ fressen hatte und der Putzlappen hieß Kodder. Weil meine Eltern nicht besonders christlich waren, haben wir uns unse­ re eigenen Vorstellungen von Weihnachten gemacht. Mein Bruder und ich dichteten traditionelle Weihnachtslieder um, und als genug Geld für Tannen­ baumkugeln aus Glas im Haus war, erprobten wir unsere Blasrohre mit Bolzen aus mit Watte umwickelten Stahlnägeln daran. Mit diesen Dingern kann man sehr genau zielen. Das hat das Weihnachtsfest schlichter werden lassen. 1951 endete unsere Zeit in der Kegelbahn. Mein Vater bekam eine große Wohnung in Eppendorf und ich wurde Hamburger.

Michael Naumann * 8. Dezember 1941 in Köthen

(Bildmitte)

Im Juli und August 1944 wurde meine Heimatstadt Köthen bombardiert. Ich war noch nicht drei Jahre alt und höre heute noch die Sirenen. Schnell liefen wir in den Keller und ich stieg mit meiner Schwester in die leere Kartoffelkiste. Unserem Haus passierte nichts. Die ganze Nachbarschaft und unser Garten waren im Winter zeitweilig voller Lamettastreifen. Lametta wurde von den Amerikanern abgeworfen, um das deutsche Radar zu verwir­ ren. Es sah wunderschön aus. Ich hatte nach 1945 ein sehr freies Leben am Rand eines Waldes in der Kleinstadt. Mein Vater war in Stalingrad gefallen, meine Mutter arbeitete und so waren wir zuhause vier Schlüsselkinder. Ich war unbeaufsichtigt und gut bewaffnet, weil eine Division bei Köthen ihre Pistolen und Gewehre weggeworfen hatte. Die Waffen haben wir eingesammelt. Das war zumin­ dest für die Älteren von uns nicht ungefährlich, weil die Sowjetische Besat­

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zungsmacht schnell einen Verdacht auf „Werwolftum“15 hegen konnte. Ei­ gentümlich ist, dass mir wenig Erinnerungen vom Kriegsende und der un­ mittelbaren Nachkriegszeit geblieben sind. Von der DDR ist mir besonders ein Bild im Kopf geblieben, dass für mich aber stellvertretend für diesen Staat steht. Einmal wurde ein Mann geknebelt an mir vorbeigeführt, neben­ dran liefen zwei Vopos, die ihn durch die Stadt an einer Stahlkette führten – wie einen Hund. Meine Kindheit endete sehr ruckartig mit der Flucht in den Westen im März 1953. Wir flohen, weil die Firma meines Großvaters verstaatlicht wurde und weil meine Mutter wegen Sabotage verhaftet werden sollte. Sie war angestellt bei einer Fabrik für Förderanlagenbau und dort war ein Seil gerissen. Zwei Leute von der Stasi hatten sich danach abends in einer Knei­ pe verabredet und beschlossen, meine Mutter am nächsten Morgen festzu­ nehmen. In dieser Kneipe saß aber auch ein Bekannter meiner Mutter, der gleich darauf zu uns kam, um es ihr zu erzählen. Wir sind eilig zu einer Freundin gegangen, die ein Auto hatte und nach Dessau gefahren – und von dort mit dem Zug nach Berlin. Noch in der Nacht, unter Zurücklassung von allem. Dem Kommunismus habe ich meine Zierfische überlassen. Die Flucht war sehr angstbeladen. Am Ostberliner Bahnhof Friedrichstra­ ße sind wir in die S-Bahn eingestiegen und Berlin Zoo wieder ausgestiegen. Wenn wir da erwischt worden wären, wäre das katastrophal gewesen. Für Republikflucht konnte man zwei Jahre sitzen. Für mich war es dennoch ein großes Abenteuer. Danach begann die Verschickung von einem Verwandten zum nächsten, bis wir schließlich in Köln landeten und dort eine sehr arme Existenz führten. Erst viele Jahre später ist mir aufgefallen, dass meine Kindheit plötzlich verschwunden war. Die Umgebung, die Freunde – alles weg. Ich lebte plötzlich in einer Großstadt, in Köln, in einer sehr schnell hochgezogenen Flüchtlingswohnung. Die ersten Möbel waren Orangenkis­ ten. Das typische Flüchtlingsleben der 50er Jahre eben. Aber als Kind hatte ich nicht das Gefühl, dass wir arm waren. Ich erinnerte mich allerdings noch daran, dass ich aus einer Familie stammte, in der in der Mitte des Tisches eine Klingel war. Wenn man klingelte, kam sofort jemand. Die Naumanns und Schönfelds waren großbürgerliche Fabrikbesitzer und Offi­ ziere, Ingenieure und Rechtsanwälte. Mein Großvater väterlicherseits war der größte Steuerzahler der Stadt und mein Großvater mütterlicherseits war Zuckerfabrikdirektor. Meine Erziehung als Kind bestand unter anderem darin, dass uns z. B. aus dem Alten Testament vorgelesen wurde, aus Grün­ 15  Die „Organisation Werwolf“ war eine nationalsozialistische Untergrundbewe­ gung, die im September 1944 von Heinrich Himmler ins Leben gerufen wurde. In der sowjetischen Besatzungszone wurden nach dem Krieg zahlreiche Todesurteile gegen Jugendliche mit der Begründung des „Werwolftums“ vollstreckt.



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den, die mir erst später klar wurden. Bei uns gab es viele Märchenbücher, aus denen vorgelesen wurde und selbstverständlich ein Klavier. Das einzige, was meiner Mutter davon blieb, war die Liebe zur Musik, zu den Büchern und ihr Ehrgeiz, die Kinder wieder in Mittelstandsverhältnisse zu bringen. Sie legte Wert darauf, dass studiert wurde. Deshalb ist in der Familie und auch in mir eine Art Aufstiegsdrang erhalten geblieben. Nie wieder arm. Ich bin zwar vaterlos aufgewachsen, habe aber auch nie nach einem Er­ satzvater gesucht. Ich war sogar zufrieden damit, weil ich wusste, wie an­ dere Kinder unter ihren Vätern litten. Viele Kriegsväter waren arme Schlu­ cker. Sie hatten den Krieg verloren und redeten nur ungern über ihre Erfah­ rungen. In meiner Kindheit hat mich der Sport enorm geprägt und auch dabei hatte ich zu viel Ehrgeiz. Als Kind war ich Tischtennisspieler und mit mei­ ner Mannschaft 1959 Jugendmeister von Köln. Zwei bis drei Stunden habe ich täglich Tischtennis trainiert, in einer Siedlung, die heute als „Türken­ ghetto“ bezeichnet wird. Dort hatte man ein „Haus der offenen Tür“ gebaut, damit die Flüchtlingskinder keinen Unsinn machten. Einer meiner Freunde ist allerdings ein Mörder geworden. Ich bin dann später zur Leichtathletik gestoßen, das war in den USA. Ich lief die Meile. Beim Laufen musste ich immer gegen das Aufgeben kämpfen. Nur ein einziges Mal habe ich wirk­ lich aufgegeben, doch nach einem Gespräch mit meinem Trainer kann ich bis heute sagen: I will never quit again, jedenfalls nicht aus Faulheit. Wäh­ rend des Laufens habe ich gar nichts gedacht, nur auf das Pochen meines Herzens gehört.

Abt Franziskus Heereman von Zuydtwyck * 7. März 1946 in Hannover

Kurz nach meinem dritten Geburtstag kamen Amerikaner oder Engländer zu Besuch, und ich hatte eine panische Angst vor diesen Männern. Ich bin weggelaufen und habe mich hinter unserer Köchin versteckt. Das waren doch die Feinde! Da war eine diffuse schreckliche Vorstellung in mir, der Krieg war zwar schon vorbei, aber da macht ein Kind wohl keinen Unter­ schied. Ich habe mich später auch gefragt, ob und wie das Schreckliche überhaupt verarbeitet worden ist. Wenn ich zurückdenke, spielte der Krieg in den Erinnerungen meiner Eltern zwar eine große Rolle, doch kam er nur in Heldengeschichten oder Anekdoten vor, das ist aber keine verarbeitete Form. So wundere ich mich nicht, dass einiges der latenten Angst meiner Mutter auf mich übergegangen ist. Ich bin am Rande einer Ölraffinerie in Misburg bei Hannover aufgewach­ sen. Als ich geboren wurde, war der Krieg verloren, meine Eltern hatten kein Haus mehr, wussten nicht wohin und in dieser Unsicherheit konnte man alles besser gebrauchen als ein viertes Kind.



Abt Franziskus Heereman von Zuydtwyck125

Die Ölraffinerie wurde 1931 von der „Deutschen Raffinerie AG“ aufge­ baut. Mein Vater heuerte nach seinem Ingenieurstudium in Hannover als Praktikant dort an und verließ die Raffinerie am Ende seines Berufslebens als technischer Vorstand. Wir hatten dort eine Dienstvilla, die im Krieg in zwei Abteilungen kaputt gebombt worden ist, die Ölraffinerie selbst wurde insgesamt dreizehnmal bombardiert. Wegen der vielen Angriffe ist meine Mutter mit meinen Geschwistern schon 1942 zu Verwandten in die Lüne­ burger Heide, später ins Weser-Bergland gezogen, während mein Vater in Misburg blieb. Lange vor der Machtergreifung ist meine Mutter in die NSDAP eingetre­ ten, sie hatte sich als 18-Jährige von einer Freundin begeistern lassen. In der „Systemzeit“, wie die Weimarer Republik verächtlich genannt wurde, verbanden viele Adlige mit der Demokratie nichts Positives. Allerdings war mein Großvater nicht mit dem neuen Parteibuch meiner Mutter einverstan­ den und rügte seine Tochter für ihren Schritt. Als sie kurz nach dem Ge­ spräch mit ihrem Vater beschloss wieder auszutreten, riet er ihr das Gegen­ teil. Er ahnte, dass die Partei, sollte sie an die Macht kommen, nicht sehr gnädig mit ehemaligen Parteimitgliedern umgehen würde. So ist meine Mutter bis zum Ende des Krieges Parteimitglied geblieben, sie hat versucht es nach dem Krieg mit einem Eintritt in die CDU wieder gutzumachen. Dort blieb sie Mitglied bis zu ihrem Tode. Mein Vater ist in Schlesien auf­ gewachsen und war eher zentrumsgeprägt. Mein Ur-Großvater Clemens Heereman von Zuydtwyck war Ende des 19. Jahrhunderts Vizepräsident des preußischen Abgeordnetenhaus und Fraktionsführer der Zentrumspartei, bis zum Tode hatte er diese Ämter inne. In der Nachkriegszeit sind wir im Vergleich zu anderen Familien in ge­ ordneten Verhältnissen aufgewachsen und litten kaum materielle Not. Des­ halb habe ich trotz dieser geschilderten Ängste ein positives Bild meiner Kindheit, ich sehe mich immer noch mit meinem Dreirad, das ich als Dreijähriger geschenkt bekommen habe, durch Misburg sausen. Dort ist alles kaputt gewesen, aber ich erinnere mich daran, wie wir natürlich mit Begeisterung in den Ruinen rumgeklettert sind, bis schließlich die Häuser wie auch die Ölraffinerie und die Dienstvilla peu à peu wieder aufgebaut wurden. Die Villa kam uns Kindern größer als das Paradies vor. Als ich lange Jahre danach zurückkehrte, war alles so klein, obwohl ich den Ort erst mit 24 verlassen und die zwei Meter Marke fast erreicht hatte. Aber irgend­ wie trägt man immer den kindlichen Eindruck mit sich herum. Heute ist das Öl aus der Heide versiegt und in der Dienstvilla trifft sich die Jugend zum Flippern. Ich kann mich noch gut an die Straßenbilder von damals erinnern. Einar­ mige Leute oder Leute im Rollstuhl sah man häufig, auch in der Schule,

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die sich in einer Scheune, später in einer OT-Baracke16 befand, wurden wir teilweise von Kriegsversehrten unterrichtet. 1954 bauten die Misburger so­ gar eine katholische Volksschule, die „Kardinal von Galen Schule“, in einem katholischen Diaspora-Gebiet. Das lag an den polnischen Arbeitern der Zementfabriken, die in Misburg schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts lebten. Auf dem Gymnasium brauchte es dann zwei komplette Jahrgänge, um wenigstens zwölf Leute für den katholischen Religionsunterricht zusam­ menzubekommen. Meine Familie stand natürlich treu zur katholischen Kirche, aber nicht auf eine verbohrte Weise. Meine Mutter war eine geborene Hardenberg, also protestantisch, und hat vor der Ehe etwas grimmig konvertiert. Immerhin war sie am Ende 70 Jahre ihres Lebens katholisch, aber sie neigte dazu, immer etwas kritisch zu bleiben, wir sind jedenfalls nicht mit Weihwasser rumgerannt und katholische Riten kamen bei uns selten vor. Wir waren aber durch und durch adlig geprägt. Ich kann lückenlos die Reihe meiner Urgroßeltern aufzählen, vielleicht auch die meiner Ururgroß­ eltern und woher sie gekommen waren, wen sie geheiratet, und wie ihre Kinder geheißen hatten, einfach weil immer davon gesprochen wurde. Ich denke, dass mit dem adligen Standesbewusstsein, auch ein gewisser Hoch­ mut gegeben ist. Mein Vater war allerdings bewusster adlig als meine Mut­ ter, obwohl seine Familie bis mein Vetter Constantin 1969 Bauernpräsident wurde, nicht sehr bekannt war und nicht mit der Berühmtheit der Familie Hardenberg zu vergleichen ist. Meine beiden Großväter waren Offiziere, weshalb das preußisch-militäri­ sche Element als Kind eine gewisse Faszination auf mich ausübte. Ich habe mich viel mit Friedrich dem Großen beschäftigt und mich in seine Welt hingeträumt, währenddessen ich damit heute gar nichts mehr anfangen kann, es hat nichts Glanzvolles mehr. Priester waren in unserer Familie auch nichts Außergewöhnliches, sie wurden so hoch angesehen wie Ärzte. Da ich ein braves Kind und gerne Messdiener war, dachte ich schon mit zehn oder elf Jahren daran, später Priester zu werden.

16  Die „Organisation Todt“ war eine Bauorganisation für militärische Zwecke, die dem Reichsminister für Bewaffnung und Munition Fritz Todt unterstellt war.

Sebastian Pflugbeil * 14. September 1947 in Greifswald

Ich wurde beinahe auf einem Kirchturm geboren. Auf Rügen war eine Singwoche, die meine Eltern17 veranstaltet haben. Meine Mutter gab ein Konzert und ist danach auf den Kirchturm gestiegen. Als sie wieder unten war, ging es los und in der Klinik wurde die Frau, die schon auf dem Tisch lag, beiseitegeschoben, meine Mutter drauf, zehn Minuten später war ich auf der Welt. Am nächsten Tag stand eine Quarantäne für Rügen bevor, deswegen haben sie mich auf einem Lastwagen zwischen den Kartoffel­ säcken noch schnell über den Rügendamm geschafft. Dann war Rügen zu und ich in Greifswald. Wir haben mit anderen Mietparteien in Greifswald in dem Haus gewohnt, in dem auch die Kirchenmusikschule meiner Eltern war. Hinter dem Haus 17  Sebastian

Pflugbeils Mutter ist Annelise Pflugbeil.

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war ein Garten. Dort sowie auf der Straße spielte sich meine Kindheit ab. Wir sind da immer rumgewuselt und spielten Murmeln und Brummkreisel. Um uns hat sich eigentlich niemand so recht gekümmert, und das war traumhaft. Wir haben es alle gerne gemocht, dass bei uns von früh bis spät Musik war. Ich hab als Dreikäsehoch unter dem Flügel gesessen, während meine Mutter Klavierunterricht gab. Seit ich krabbeln konnte, habe ich stunden­ lang den Proben zur Bachwoche zugehört. Wenn irgendetwas war, sind wir immer zur Mutter gegangen. Mein Vater war komplizierter. Erst nach seinem Tod 1974 habe ich begriffen, welche Rolle er für mich gespielt hat. Er hatte klare Vorstellungen von Kind an, wusste, dass er Kirchenmusiker sein wollte und dass sein Sohn Sebastian heißen sollte. Er hat in Leipzig bei Karl Straube studiert, der eine anerkann­ te Autorität innerhalb der Kirchenmusik war, und bekam nach dem Studium zunächst eine Kantorenstelle in Schneeberg, wenig später wurde er Kantor am Greifswalder Dom. Dann ist er in den Krieg geraten wie einige andere auch und hat seinen rechten Arm verloren. Er kam völlig deprimiert zurück. Trotz seiner Verletzung haben ihn Greifswalder Freunde ermutigt, nicht aufzugeben. Er hat einarmig und mit den Beinen Orgel geübt und letztlich das anstehende Probespiel gewonnen. Niemand hat im Gottesdienst gemerkt, dass nur eine Hand im Spiel war. In der Schule haben die Lehrer akzeptiert, dass wir so eine Art Extra­ wurst hatten. Wenn Musikveranstaltungen wie die von meinen Eltern ge­ gründete Bachwoche stattfanden, haben wir anstaltslos frei gekriegt. Insge­ samt waren die 50er und 60er jedoch ziemlich frostig und die Kirchenleute hatten eine ambivalente Position. Innerhalb der Kirche konnten sie machen, was sie wollten, außerhalb hat man sie schikaniert. Meine ältere Schwester hatte beispielsweise Probleme, einen Studienplatz zu kriegen, ich später aber nicht, obwohl ich die Politspielchen nie mitmachte. Ich bin auf die Oberschule gekommen, ohne Pionier gewesen zu sein, ich habe einen Stu­ dienplatz gekriegt, ohne in der FDJ zu sein. Da hatte ich Glück, ich bin in diesen ganzen politischen Wirren mit einem blauen Auge davongekommen. Das lag auch an der Uni, die eine prägende Rolle für Greifswald spielte. Es gab viele Professorenfamilien, die eher konservativ eingestellt waren. Somit fehlte die Basis, um politisch scharfe Töne zu blasen. Greifswald war eben weit weg vom Schuss, in der Nord-Ost-Ecke der DDR, wo es nicht mehr viel weiter ging. Vom Weltgeschehen waren wir also wenig oder gar nicht berührt. Wir hatten keinen Medienkontakt, Fern­ sehen gab es überhaupt nicht, im Radio, im Arbeitszimmer unseres Vaters, mit viel Geknatter den Norddeutschen Rundfunk.



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Ich habe aber viel gelesen, zunächst die Bücherschränke, die wir zuhause hatten. Als mein Vater merkte, dass ich mich für Politik interessierte, warn­ te er mich vor großen Schwierigkeiten. Er wollte über politische Sachen nicht reden. Er erzählte uns auch nie von seinen Erfahrungen im „Dritten Reich“ und im Krieg. Lediglich drei Anekdoten seiner Soldatenzeit hat er immer wiederholt. Meine Mutter hat uns schon eher von dieser Zeit er­ zählt – Geschichten aus Stettin – die wir gerne hörten, aber sie waren wie aus einer anderen Welt.

Peter May * 5. Dezember 1948

Ich wuchs in einer halben Nissenhütte in einer großen Nissenhüttensied­ lung in Hamburg auf. Diese Wellblechhütten, die die Engländer ursprüng­ lich als Militärlager eingerichtet hatten, kann man sich wie eine aufge­ schnittene große Blechdose vorstellen, eine Baracke, die innen nicht ver­ kleidet, sondern nur angemalt war. Alles Leben fand in einem Raum statt, zwei kleine Fenster ließen Licht herein, ein Vorhang sollte die Wärme drinnen halten. An der Wand befand sich ein Ofen, um den sich im Win­ ter alle versammelten. Eine Wolldecke, die über einer Drahtkonstruktion hing, trennte Kochnische und Toilette notdürftig ab. Man konnte nichts sehen, aber hören und riechen. Die Notdurft verrichtete man in einen Ei­ mer, der rausgetragen wurde, das war also sehr intim. Als ich sieben wur­ de, bekamen wir eine dreiviertel Nissenhütte, meine Eltern konnten nun in einem separaten Teil schlafen. Sie wollten immer aus der Siedlung he­ raus, trotz der vielen Bekannten und Freunde dort. Bei uns dauerte es zehn Jahre, bis wir einen Bezugsschein für eine Wohnung in einer Neubausied­ lung in Eilbek bekamen.



Peter May131

Meine Eltern stammen ursprünglich aus Thüringen. Mein Vater war See­ mann, hatte in Hamburg eine Heuer auf einem Fischdampfer an der Nord­ seeküste. Hochschwanger hat meine Mutter ihn einmal begleitet, deshalb bin ich in Hamburg geboren. So bekamen meine Eltern das Siedlungsrecht und einen Platz in den Hütten, denn im zerbombten Hamburg durfte in der Nachkriegszeit nur bleiben, wer hier geboren wurde. Als Kind sieht man keine zerstörte Stadt. Die Hütten waren für mich und meine Freunde eine Abenteuerumgebung. Außerdem wohnten viele Kinder in unserer Siedlung, in der Nachbarhütte allein ein Dutzend. Richtige Wege gab es dort nicht, man lief über die Grundstücke von Hütte zu Hütte und sammelte so die Spielkameraden ein. Alles kam mir als Kind riesig vor, auf der Wiese fingen wir Schmetterlinge, klauten Obst aus den Vorgärten und kletterten auf Misthaufen rum. Natürlich spielten wir auch mit giftigen Sa­ chen, auf einem großen Müllberg von der Chemiefirma Boehringer zum Beispiel, der mitten in Stellingen lag. Unser neues Haus in Eilbek war eines der ersten inmitten eines riesigen Trümmerfeldes. Jeder neue Bau war ei­ nerseits aufregend, weil immer neue Leute kamen, andererseits eine Be­ schneidung unseres kindlichen Tätigkeitsfeldes. Kurz bevor wir nach Eilbek zogen, schaffte es der erste Fernseher in die Nissenhüttensiedlung. Bei der WM 1958 brachten wir dem Besitzer einen Groschen mit und durften mit­ gucken, Brasiliens erster Titelgewinn und der Beginn von Pelés Weltkarrie­ re. Bern 1954 hatte es für uns nur im Rundfunk gegeben. Meine Eltern bemühten sich mit aller Kraft, ihr Leben zu verbessern und wir Kinder hatten daran teil. Die Atmosphäre zu Hause war weniger ge­ fühlsbetont, emotional nicht so warm, wie in einer Familie, die bereits gut situiert gewesen ist. Mein Vater war zudem ja Seemann, sodass meine Mutter den Haushalt und die Erziehung fast allein bewältigen musste. Sie vertrat die gesamte elterliche Position, war sowohl die sorgend behütende, als auch die strafende Person, so dass ich zu ihr kein besonders herzliches Verhältnis hatte. Wenn mein Vater von See zurückkam, freute ich mich zwar, aber meist wurde dieses Gefühl bald getrübt. Meine Mutter instru­ mentalisierte ihn, um uns zu disziplinieren. Alles was sich während seiner Abwesenheit an Themen und möglichen Strafen aufgesammelt hatte, muss­ te er während seines Aufenthaltes abhandeln. In unserer Siedlung entstand mit der ersten Ganztagsgrundschule Ham­ burgs, im Hellgrundweg in der Nähe des Volksparkstadions, eine Schule, die uns Flüchtlingskindern die Nachkriegszeit nicht mehr spüren ließ. Uns wurde eine warme Mahlzeit ermöglicht, außerdem hatte die Schule ein wunderbares Bildungsangebot sowie eine sehr gute Bibliothek. Ich durfte sie als Erstklässler während des Unterrichts benutzen, weil ich durch meine vier Jahre ältere Schwester bereits Lesen und Schreiben konnte. Das erste

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I. Kindheit

Buch, das ich aus dem Regal zog, blieb lange Zeit mein Lieblingsbuch: „Gullivers Reisen“. Die Schule nannte sich „Schule mit besonderer pädago­ gischer Prägung“, die den Anspruch hatte, alle Kinder zu fördern, obwohl wir alle sehr unterschiedlich waren, und ich fühlte mich auch gefördert. Sie gab mir die Möglichkeit viele Sachen zu entdecken, auf die ich neugierig war. Eine Rangordnung zwischen Hamburgern und Flüchtlingskindern spürte ich in der Grundschule nicht, wohl aber später am Gymnasium. Die Lehrer und die Kinder aus bürgerlichem Hause besaßen einen starken Dünkel, Flüchtlinge, oder Leute aus Bayern, ein damals rückständiges Land, wurden mit spitzen Fingern angefasst. Die ganze Gesellschaft war stark standesund schichtbezogen. Arbeiterkinder wurden ebenfalls skeptisch beäugt und gehänselt, die Lehrer sagten zu ihnen Sätze wie: „Weißt du, Arbeiter sind doch auch Leute, du kannst doch ein guter Handwerker sein und musst nicht auf das Gymnasium gehen.“ 45 junge Kerle waren wir bei Eintritt ins Gymnasium, fein militärisch aufgereiht, neun von uns haben schließlich das Abitur bestanden, der Rest wurde hinausbugsiert. Dennoch war das Gymnasium zugleich ein starker Ort der Ideenfindung für mich. Ich hielt mich in Zirkeln auf, in denen das Christentum in Frage gestellt wurde, oder machte selbstständige Reisen mit den Pfadfindern. Ich habe auch Blinden vorgelesen und bin dadurch mit philosophischer Literatur in Berührung gekommen. All diese Erfahrungen führten dazu, dass ich mich von meinem sehr kleinbürgerlichen, spießigen Elternhaus entfremdet habe. Zunächst ging es um alltägliche Dinge, wie Zimmer aufräumen oder Plaka­ te verschiedener Bands an den Wänden. Meine Eltern hielten die Beatles und die Stones für langhaarige, geisteskranke Affen, ihre Musik für kinderver­ derbend. Wir Jugendlichen differenzierten hingegen radikal, es spielte eine enorme Rolle, ob man Rocker, Exi18 oder Mod19 war. Ich war Rocker und bei den Stones ‘66 in der Markthalle dabei. Zu der kulturellen Auseinander­ setzung mit meinen Eltern kam später noch, und viel heftiger, die politische.

18  Jugendbewegung im Hamburg der Nachkriegszeit. Der Name leitet sich ab vom Existenzialismus. 19  Subkultur hauptsächlich in Großbritannien. Der Name leitet sich ab von Mo­ dernist.

Gudrun Polak * 11. September 1953 in Bischofswerda

Als ich geboren wurde, war die DDR gerade vier Jahre alt. Ich bin in der Oberlausitz aufgewachsen, dem östlichsten Winkel des Ostens. Schmölln, unser Dorf, wurde zum sozialistischen Musterdorf erklärt, alle Bauern in der LPG20, ein bisschen Industrie und mehr als die Hälfte der Leute Genossen, wie es sich gehörte. Meine Familie blieb dabei außen vor, weil mein Vater selbständiger Bäcker war und zu allem Übel auch noch kirchlich orientiert. Naja und ich? Christliches Handwerkerkind, das ging eigentlich gar nicht. Alltags hatten meine Eltern wenig Zeit für mich. Damals ging ja alles noch ganz anders zu als heute, die standen von früh bis spät in der Back­ 20  Landwirtschaftliche

Produktionsgenossenschaft.

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stube und wir Kinder liefen mehr nebenbei. Ich wurde das Anhängsel mei­ ner acht Jahre älteren Schwester, hatte aber auch meine eigenen Aufgaben. Wenn ich aus der Schule kam, musste ich erst einmal abwaschen und danach die täglichen Einnahmen zu unserer Sparkasse tragen, das war Pflicht. Nur auf ein gemeinsames Abendbrot haben meine Eltern immer großen Wert gelegt. In unserem Haus lebten noch bis weit in die 60er Jahre hinein „Umsied­ lerfamilien“ aus Schlesien und Ostpreußen. Dass sie nicht von hier stamm­ ten, haben wir nur am Dialekt gemerkt, es hat ja niemand darüber gespro­ chen. Unser Lebensraum war also klein, die Küche integriert in die Back­ stube und das winzige Wohnzimmer dort, wo in der Bäckerei heute mein kleiner Postschalter ist. Die ganze Familie hat so lange in einem einzigen Zimmer geschlafen, bis meine Schwester und ich groß waren und eine klei­ ne gemeinsame Kammer auf dem Dachboden bekamen. Mein Kindergarten war im Schloss. Eigentlich ist es das Herrenhaus des alten Rittergutes gewesen, aber seit ich denken kann, heißt es hier Schloss. Im Kindergarten war es schön, unten die LPG-Küche, oben das Museum und mein Kindergarten in den hohen Zimmern der Beletage mittendrin. Das war interessant. Es verfiel ja alles erst nach und nach. Fast alle Kinder sind im Kindergarten gewesen. Die Schmöllner Frauen haben ja gearbeitet, aber oft von zu Hause aus, weil das halbe Dorf Papier­ blumen oder Knallbonbons für den VEB21 Kunstblume in Sebnitz gebastelt hat. Außerdem wurden Turnhosen genäht und Pullover gestrickt. Heimarbeit war doch günstig, da konnten unsere Mütter ihre Kinder viel um sich haben. Urlaub? Das gab es gar nicht. Wenn meine Eltern die Bäckerei für ein paar Wochen im Sommer schlossen, haben wir hier renoviert und in der Erntezeit das anfallende Obst verarbeitet. Nur zu Pfingsten sind wir immer nach Pillnitz in den Schlosspark gefahren, ganz selten mal eine Dampfer­ fahrt durch die Sächsische Schweiz. Wir fuhren immer Bus. Ein Auto hatten wir nicht, weil mein Vater sich erst eines kaufen wollte, wenn er es sich selbst aussuchen konnte. Mein Vater stammt aus Putzkau, einer ganz anderen Welt über dem nächsten Hügel. Er hat nach seiner Schulzeit in den 30er Jahren eine Bä­ ckerlehre gemacht, ist zeitig zur Kriegsmarine eingezogen worden und verdingte sich danach mehr schlecht als recht im Großhandelslager der Handelsorganisation in Weickersdorf. Dort gab es nichts zu verdienen, ei­ ne Mark in der Woche, und trotzdem hat er jeden Pfennig für seine Bäcker­ meisterausbildung gespart. Eines Tages wurde in Schmölln ein neuer Bäcker 21  Volkseigener

Betrieb.



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gesucht. So sind wir hierher gekommen. Die Leute waren froh, dass sie wieder einen Bäcker hatten und wir, dass unsere Existenz gesichert war. Schon als Handwerkerkind hätte ich es schwer gehabt, auf die Oberschu­ le zu kommen, doch richtig aussichtslos wurde es dadurch, dass wir zur Kirche gingen. Das wurde mir nach der achten Klasse sehr deutlich ge­ macht. Von da an war mir Schule egal, ich bin richtig in Opposition gegan­ gen, wollte doch studieren, Kunsthistoriker oder Restaurator werden. Aber daran war gar nicht zu denken. Das ging so weit, dass mir sogar Probleme gemacht wurden, eine Lehrstelle zu finden. Alles wurde abgelehnt. Über zig Bekannte und viele Ecken bekam ich schließlich eine Ausbildungsstelle zur Konditorin im VEB Backwarenkombinat Dresden. Das war für mich zwar nicht gerade das Erstrebenswerteste, aber die Ausbildung war sehr gut. Wir haben zu Hause nicht darüber gesprochen, wir wussten ja, dass wir ausgeschlossen sind, das war doch so üblich. Schon vorher, als es um die Jugendweihe ging, musste doch hier sein, im sozialistischen Musterdorf. Von 35 aus meiner Klasse waren wir nur sechs, die keine Jugendweihe, sondern Konfirmation hatten. Mein Vater hat viel geschimpft über den neuen Staat. Du musstest aber vorsichtig sein, denn „Horch und Guck“ war natürlich auch in Schmölln zu Hause. Dir wurden überall Grenzen gesetzt, nichts konntest du selbst ent­ scheiden. Rohstoffe für die Bäckerei gab es nicht, du konntest nicht bauen, wie du wolltest, nicht kaufen, was du wolltest. Alles wurde in die Großstädte gegeben, vor allem nach Berlin und Ros­ tock. Rostock war mit seinem Hafen doch Aushängeschild. Wenn du mal irgendetwas brauchtest, einen Durchlauferhitzer oder so, musstest du eben nach Berlin fahren. Da war selbst in Dresden nichts zu machen. Eines Tages bekam unsere Straße im Dorf eine richtige Wasserleitung, viel früher als die anderen. Das ging aber nur, weil die Frau aus dem Kar­ tenspielclub in der Klempnergenossenschaft war und über ein paar Ecken die Rohre besorgen konnte. Anfang der 70er Jahre gab es eine Phase der Hoffnung, wir dachten, es würde besser werden, aufwärts gehen, aber dann machte auch Erich Hone­ cker den Ulbricht und die Sache war erledigt. Weihnachten war die Familie immer zusammen. Heiligabend wurde bis zum späten Nachmittag noch sauber gemacht, meine Eltern sind da nie in die Kirche gegangen, die waren einfach noch gar nicht soweit, also gingen wir Kinder allein. Eine Gans musste sein und ein Christbaum mit echten Kerzen. Da hat es natürlich manches Mal gebrannt, aber das gehörte dazu. Mein schönstes Weihnachtsgeschenk waren richtige weiße Schlittschuhe, über welche Kanäle meine Eltern die nun wieder organisiert hatten, war mir

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I. Kindheit

ein Rätsel, sowas hatte doch niemand hier. Mit meinen neuen Schlittschu­ hen war ich kleines Mädchen auf unserer Eisfläche im Freibad die Größte. Dann wurde das Westpaket aufgemacht. Eines kam aus Oldenburg, das andere aus Waldshut. Da waren Konserven drin, Kaffee, Strumpfhosen, für jeden eine Tafel Schokolade, Ananas und Pfirsiche, sowas haste ja hier nicht gesehen. Wir haben immer versucht, den Kontakt mit unseren Verwandten und Freunden im Westen aufrecht zu erhalten. Aber schon das Telefonieren war schwierig, denn jedes Gespräch musste beim Fernmeldeamt angemeldet werden und feiertags waren die Leitungen sowieso überlastet. Bei uns im Dorf gab es nur drei Telefone, eines beim Arzt, eines in der Gaststätte und eines bei uns in der Bäckerei. Wir hatten das Telefon aber nur, weil meine Mutter vorher als Telefonistin auf der Post gearbeitet hat. Besuche aus dem Westen waren ebenfalls schwierig, allein schon, weil sie ganz schön kompliziert und teuer waren. Man musste doch einen be­ stimmten Betrag Westwährung in Plastechips umtauschen. Mit dem Auto zu kommen war lange so gut wie unmöglich, man brauchte einen triftigen Grund, zum Beispiel eine Körperbehinderung. In meiner Kindheit war der Westen so weit weg wie der Mond. Wir hatten uns im Denken voneinander entfremdet, verstanden einander gar nicht mehr. Das habe ich gemerkt, als in den 60er Jahren das schöne alte Haus meiner Großeltern verkauft werden sollte. Die Gemeinde hatte Mieter hineingesetzt, die zwanzig Mark im Monat Miete zahlten, wovon wir das Haus natürlich nicht erhalten konnten. Mein Onkel im Westen hatte noch getönt, dafür kriegt ihr noch mindestens 100.000 Mark. Das war doch völ­ lig utopisch. Am Ende haben wir 6.000 Mark bekommen und konnten froh sein. Geradezu exotisch war meine Brieffreundschaft mit Micha in Amsterdam. Dort wohnte die Familie Shoemaker, richtig international, die Großmutter Österreicherin, der Vater Holländer. Bis kurz vor dem Mauerbau waren sie in Schmölln unsere Nachbarn, dann sind sie einfach fort gegangen. Sie bewohnten hier eine schöne alte Villa mit großer Veranda. Dieser Schmöll­ ner Micha in Amsterdam sollte später noch sehr wichtig werden.

II. Jugend

Elfriede Brüning * 8. November 1910 in Berlin  † 5. August 2014 in Berlin Mit 15 habe ich meinen ersten Artikel in der Boulevard-Presse veröf­ fentlicht. Bei meiner damaligen Lehrstelle in einem Pressebüro musste ich manchmal Zeitungen sortieren. Eines Tages fand ich eine Anzeige des „12-Uhr-Blattes“: „Schönheitskönigin im Wintergarten“ gesucht. Ich dachte mir, da könnte ich mitmachen und anschließend darüber schreiben. Zwar gewann ich im Wintergarten selbst keinen Preis, doch erhielt ich Rückmel­ dung über den Artikel, den ich an das „12-Uhr-Blatt“ geschickt hatte. Er verrate Talent, und ich solle doch mal in die Redaktion kommen. Der Redakteur hatte die Absicht, mich zu Hilde Scheller zu schicken, die ich interviewen sollte. Sie war in eine Jugendtragödie verwickelt, die damals die Schlagzeilen füllte. Hildes Bruder hatte ihren Freund erschossen, oder umgekehrt. Als der Redakteur jedoch sah, wie jung ich war, ließ er von seinem Vorhaben ab. Stattdessen gab er mir andere Themen, über die ich schreiben sollte, wie den 80-jährigen Kraftmenschen aus Oranienburg oder fünf Generationen unter einem Dach. Einmal schrieb ich einen Artikel „Lieber Sonntag“, den ich unbedingt im „Berliner Tageblatt“ veröffent­ lichen wollte. Zwei junge Menschen verbringen – unverheiratet – das Wo­ chenende in einem Zelt. Doch wie kam man an Theodor Wolff und sein berühmtes Blatt ran? Immerhin wusste ich, dass der Feuilletonchef Fred Hildenbrandt meinen Chef kannte. Der hätte mich sicher mit ihm bekannt gemacht, aber er war gerade im Urlaub und ich war zu ungeduldig, um zu warten. Ich machte dann etwas, was schon etwas anrüchig war. Ich schrieb im Namen meines Chefs an Hildenbrandt: „Sehr geehrter Kollege, ich schicke Ihnen hier den Beitrag einer jungen Kollegin, die ich für äußerst begabt halte.“ Prompt kam die Nachricht, dass auch Hildenbrandt den Ar­ tikel sehr interessant fand, ihn aber nicht drucken könne, weil er mit der Prüderie seiner Leser zu rechnen hätte. Das muss man sich mal vorstellen, und das in Berlin! Wild entschlossen ging ich zu Hildenbrandt in die Re­ daktion. Erfolgreich. Der Artikel erschien 1930 und war meine Eintritts­ karte in die große Berliner Zeitungswelt. Beim Tageblatt und der „Vossi­ schen Zeitung“, „Tante Voss“ genannt, begegnete mir allerhand prominen­ tes Volk wie Mascha Kaléko, Klaus und Erika Mann.

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II. Jugend

Eines Tages, als ich die proletarischen Bücher unserer Leihbibliothek sortierte, kam ein junger Autor bei uns vorbei, der auch einige meiner Ar­ tikel gelesen hatte. Er überredete mich spontan, mit zu einer Versammlung des „Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“ zu kommen. Johan­ nes R. Becher hatte den Bund 1928 gegründet. Zu den Mitgliedern gehörten Anna Seghers, Ludwig Renn, Friedrich Wolf, Bertha Waterstraat und bald auch ich. Gleich zu Beginn faszinierte mich diese Atmosphäre, alle wollten über die Welt der Arbeiter schreiben. Das wollte ich auch. Im Winter 1932 / 33 schrieb ich meinen ersten Roman: „Handwerk hat goldenen Bo­ den“, später änderten wir den Titel in „Kleine Leute“. Die Geschichte eines kleinen Handwerkers, der mehr und mehr verproletarisierte, also stempeln gehen musste. Es war die Geschichte meines Vaters, unserer Familie. Ich hatte es noch bei der „Vossischen Zeitung“ eingereicht, doch es wurde 1933 und sie konnte nicht mehr erscheinen. Kurz nach Hitlers Machtantritt wurde die KPD verboten. Die Genossen fragten meinen Vater, ob wir ihnen nicht einen Raum zur Verfügung stellen könnten. Sie hielten dort ihre illegalen Sitzungen ab. Quartiermeister war Walter Ulbricht, der fast täglich kam, aber kaum je­ mals ein persönliches Wort an uns richtete. Wilhelm Pieck hingegen war jovial, er unterhielt sich gern mit uns. Einmal kam sogar Ernst Thälmann zu uns in den Laden, noch kurz vor seiner Verhaftung. Da rückten tags zuvor ein paar Genossen an und richteten den Raum schalldicht ein. Die KPD in Gänze war auf die Illegalität überhaupt nicht eingerichtet. Es war sehr unvorsichtig immer den gleichen Treffpunkt zu benutzen. Sie hätten ja von der Gestapo beobachtet werden können. Einige hatten auch schon von rot auf braun geschaltet. Meine Eltern haben also mit ihrem Leben gespielt. Man musste vorsichtig sein. Auf meinen jüngeren Bruder übten die faschistischen Ideen anfangs einen Reiz aus. Er war lange arbeitslos und jobbte gelegentlich als Komparse beim Film. So lernte er Leni Riefenstahl kennen, die meinen bildhübschen Bruder in ihr Team holte. Er hat bei ihr Filmschnitt gelernt und an allen Reichsparteitagsfilmen mitgearbeitet. Für ihn konnte ich bei den Genossen nicht die Hand ins Feuer legen, sie aber sagten, das sei die beste Tarnung. Ende 1933 emigrierten die meisten führenden Genossen, sodass es auch keine illegalen Zusammenkünfte mehr bei uns gab. Der „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“ war auch gleich zu Anfang verboten worden, arbeitete aber illegal weiter. Wir trafen uns in kleinen Gruppen von drei bis vier Personen in der Umgebung von Berlin und fuhren mit dem Paddelboot oder dem Rad raus, zelteten hier und dort und lasen uns unsere Beiträge vor. Wenn sie für gut befunden wurden,



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schickten wir sie per Kurier nach Prag, wo sie in der Emigrantenpresse veröffentlicht wurden. In dieser Zeit schrieb ich an einem unbeschwerten Sommerbuch, denn von irgendetwas musste ich ja leben. Als ich die Hälfte fertig hatte, schick­ te ich es dem Ullstein-Verlag, der sich ganz begeistert zeigte und sagte, das werde das Berliner Sommerbuch. Es erschien dann aber doch nicht bei Ullstein, sondern in einem kleineren Verlag und wurde von der Kritik sehr freundlich aufgenommen. Immerhin hatte ich nun Kontakte zu Ullstein und konnte fragen, ob der Verlag nicht eine Aufgabe für mich habe. Denn ohne Arbeit oder Auftrag, ledig, unter 25 und nicht schwanger musste man ein Landjahr22 absolvieren. Zum Glück konnte mir Ullstein tatsächlich helfen, sie planten eine Artikelserie über das Segelfliegerlager auf der Kurischen Nehrung. Das war für mich natürlich jwd, janz weit draußen, ich war ja nie über die Berliner Umlandgrenzen hinausgekommen. So sagte ich schnell zu. Einige Zeit wohnte ich im Lager in Pillkoppen mit den Segelfliegern zu­ sammen. Ich merkte allerdings sehr rasch, dass die jungen Leute damals schon auf den Krieg getrimmt wurden. Sie waren ganz revanchistisch, gingen mit mir zur Grenze und bespuckten sie. Ich konnte die Reportage daher nicht schreiben und teilte es Ullstein mit. Man schrieb mir zurück, ich solle über die schöne Landschaft schreiben, das wollten die Leute lesen, vorläufig segele man ja noch friedlich durch Wind und Wolken. Das wollte ich aber auch nicht. Stattdessen inspirierte mich das karge Leben der Fi­ scher und ihrer Frauen dort zu meinem Buch „Auf schmalem Land“. Ich konnte nicht emigrieren. Einige Genossen mussten doch in Deutsch­ land bleiben, nachdem die leitenden Leute alle weg waren. Natürlich woll­ te ich auch in die Sowjetunion. Das war aber nicht einfach, man musste von jemandem geschickt werden. Unsere illegale Arbeit ging nicht lange gut. Ein Spitzel hatte sich bei uns eingeschlichen und unsere Gruppe an die Gestapo verraten. Wir Berliner Mitglieder wurden eines Morgens aus den Betten heraus verhaftet und in die Prinz-Albrecht-Straße zur Gestapo geschleppt. Ich kam gleich ins Frau­ engefängnis in der Barnimstraße. Der Spitzel hatte mich zum Glück nur einmal in einer größeren Runde gesehen. Beim Vernehmungsrichter konnte ich mich herausreden. Nach stundenlangem Verhör glaubte er mir, dass ich nur eine Bibliothekarin interviewen wollte. Er hat mich freigesprochen, aber die Gestapo ließ mich nicht gehen. Ich kam in Schutzhaft, zur Verfügung der Gestapo. 22  Ab 1934 wurde das „Landjahr“ verpflichtend, 1938 kam das „Pflichtjahr“ hin­ zu. Ledige und nicht berufstätige Frauen unter 25 Jahren mussten eine einjährige Tätigkeit in der Land- oder Hauswirtschaft nachweisen.

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II. Jugend

In der Einzelzelle hatte ich viel Zeit. Ich durfte mir etwas zu schreiben besorgen, und begann einen harmlosen Liebesroman: „Junges Herz muss wandern“. Denn ich wusste ja, wer mitlas. Jeden Abend musste ich meine geschriebenen Seiten bei der Schließerin abgeben und bekam sie erst nach einigen Tagen zurück. Kurz vor den Olympischen Spielen wurde ich entlas­ sen und hatte einen Roman fertig.

Georg Kohtz * 17.  Januar 1913 in Pobethen / Ostpreußen † 17. März 2012 in Oldenburg Nach Vaters Tod ist alles anders geworden. Sein Bruder hat die Fabrik übernommen, die jetzt zwei Familien ernähren musste, und das in der gro­ ßen Not Anfang der 30er Jahre, es reichte kaum zum Leben. Wir waren ja allein acht Geschwister. Wo sollten wir bleiben? Im ersten Jahr nach Vaters Tod hat mich ein Onkel aus dem Kreis Wehlau in die Landwirtschaft genommen. Ich habe einen ganzen Sommer lang Kü­ he gehütet, Gras gemäht und geholfen, die Ernte einzufahren. Als der Win­ ter kam und auch dieser Hof mich nicht mehr miternähren konnte, bin ich nach Pobethen zurückgekehrt und habe in unserer Fabrik eine Schlosserleh­ re angefangen. 1931 wurde ich 18. Das hieß, dass ich mich nun für das 100.000-Mann-Heer der Republik bewerben durfte. Es gab sieben Divisio­ nen. Die 1 war in Königsberg, die 2 in Stettin, die 3 in Berlin, die 4 in Dresden, die 5 in Stuttgart, die 6 in Münster und die 7 in München. Ich bewarb mich als Funker in der Nachrichtenabteilung, weil ich schon seit meiner Schulzeit Radiobastler war. Die 1 schrieb zurück, sie hätten keinen Bedarf, aber die 2 hat geantwortet, ich solle mich zur Eignungsprüfung bei der Psycho-Prüfstelle in Königsberg melden. Als ich dort war und der Kö­ nigsberger Prüfer merkte, dass ich ein ganz helles Köpfchen bin, fragte er mich, warum ich mich nicht bei ihnen beworben hätte. Ich sagte, Sie woll­ ten mich ja nicht. Da verließ er das Zimmer, ließ mich warten und sagte, als er wiederkam, holen Sie ihre Papiere von Stettin zurück! So wurde ich bei der Nachrichtenabteilung der 1 eingestellt. 1931 waren die Soldaten ja noch qua Gesetz unpolitisch, wir durften keiner Partei beitreten und haben uns um Politik in den ersten Jahren gar nicht gekümmert, schon gar nicht um Außenpolitik. Wir waren voll beschäf­ tigt mit unseren Übungen, unserer Ausbildung. 1932 gab es eine große Sommerübung in Thüringen. In verplombten Zügen sind wir durch den polnischen Korridor gefahren. Das war meine erste Reise ins „Reich“, in meiner Jugend sprachen wir im von Deutschland abgeschnittenen Ostpreu­ ßen ja immer vom „Reich“. Ich bin schnell befördert worden, nach eineinhalb Jahren war ich schon Unteroffiziersanwärter. Plötzlich hieß es, wir könnten uns freiwillig melden

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für die neue Luftwaffe, das fand ich interessant. Ich wurde nach München bestellt zur Deutschen Verkehrsfliegerschule, DVS in Schleißheim, bin als Soldat gekommen und als Zivilist geblieben. Da gab es eine Gruppe W, das hieß Wehrmacht, unsere militärischen Ränge wurden einfach zivil übersetzt, wir hießen nun Wart und Oberwart, Meister und Obermeister. Unsere Offi­ ziere kamen alle von Russland wieder, dort sind die Piloten ausgebildet worden. Ich sollte gleich Bordfunker ausbilden, habe mir eine IBO besorgt, die Internationale Betriebsordnung für den Flugverkehr. Der Flugfunk be­ stand damals noch aus Morsezeichen, den so genannten Q-Gruppen, QAL hieß, ich lande jetzt, QAD, ich bin gestartet. 1936 hat Göring München geteilt. Ich wurde an die neue Zweig-Flug­ zeugführerschule nach Oldenburg versetzt. Als wir dort ankamen, wurden wir Flieger mit großem Pomp empfangen, obwohl Oldenburg eine traditio­ nelle Garnisonsstadt der Infanterie ist, für die wir natürlich Konkurrenz waren. Aber wenn wir ausgingen, mit weißer Mütze und Schlips, machten wir richtig was her und hießen bald in der Stadt die Schlips-Soldaten. Wäh­ rend ich selbst schon ausbildete und unsere Funker auf die Flugzeuge zu verteilen hatte, habe ich mich auf Radar-, Peilflug- und Blindflugfortbildun­ gen immer weiter qualifiziert. Das war alles ungeheuer spannend. In der Wehrmacht wurde ich Beamter für das Nachrichtenwesen. Seit meinem Eintritt in die Reichswehr war ich nur noch selten in Ost­ preußen. Wenn ich auf Urlaub zu Hause war, konnte ich meine Mutter unterstützen. Sie war inzwischen Hausmeisterin in der Volksschule gewor­ den, musste dort alles machen vom Auswechseln der Glühbirne bis zum Warten der Heizung. Das konnte sie natürlich nicht alleine. Bis mein Bruder selbst Soldat bei der Kriegsmarine geworden ist, hat er ihr geholfen. Dann musste sie die Stellung wieder aufgeben und von unserem großen Wohn­ haus ins Leutehaus umziehen. Seit 1938 habe ich alles mitgemacht, den Sudeten-Einsatz, den ÖsterreichEinsatz. Für Österreich wurde ein ganzes Geschwader JU-52 zusammenge­ zogen, 36 Flugzeuge mit je vier Mann Besatzung. Wir sind bis nach Graz geflogen. Die Grazer wären uns bald um den Hals gefallen vor Freude, aber das konnten wir doch nicht ahnen, deshalb sind wir nach dem Aussteigen erst einmal in Deckung gegangen, haben uns flach auf den Boden gelegt und gewartet, was passiert. Die österreichische Luftwaffe hat für uns ein Festessen gegeben mit Hammelkoteletts, Wein und noch viel mehr feinen Sachen. Nach 14 Tagen sind wir wieder zurück nach Oldenburg geflogen. Zwischen Graz und Krieg habe ich meine Frau geheiratet, wir sind ein Leben lang zusammengeblieben. Ich wollte sie im Krieg überallhin mitneh­ men. Am Anfang in Ramel bei Danzig ging es auch noch, aber schon nach Norwegen durfte sie nicht mehr mit. Sie hat als Stenotypistin beim Getrei­



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dewirtschaftsverband in Oldenburg gearbeitet, wir konnten uns nur sehen, wenn ich Fronturlaub bekam. Im Krieg war ich immer unterwegs, zuerst in Oslo bei einer Transport­ einheit mit sechsmotorigen ME-232-Flugzeugen. Die Bordmechaniker der ME-232 saßen in den Flügeln.Wir konnten zwölf Tonnen Fracht aufnehmen, was ausreichte für ein Flakgeschütz mit Zugmaschine. Mit diesen Maschi­ nen haben wir 1943 Benzin für Rommel nach Nordafrika geflogen. Die Seeversorgung war doch durch die Engländer blockiert, aber von unseren Messerschmitt-Flugzeugen haben sie keines gekriegt. Als Bordfunker saß ich ganz oben in der Kanzel, noch über den durch Panzerplatten geschützten Piloten, und wäre Freiwild für jeden Jäger gewesen. Aber Angst? Naja, was ist Angst? Ich habe bei der Wehrmacht während des Krieges schnell Karriere ge­ macht, 1941 war ich Kriegsoffiziersanwärter, ein Jahr später Hauptmann als Nachrichten- und Transportoffizier. Von unserem Generalkommando im vorpommerschen Tutow konnte ich Funkverbindungen nach Italien und bis auf den Balkan herstellen. Das ging alles ganz schnell, von Tutow nach Frankreich, von dort ins abtrünnige Italien einmarschiert, zurück ins Reich zum Jagdgeschwader 1 nach Bielefeld. Das war die Basis für den Silvester­ angriff 1944 / 45. Im Januar 1945 wurde in Oldenburg meine Tochter geboren. Gott sei Dank konnte ich sie kurz besuchen, dann bin ich nach Ostpreußen zurück­ gekehrt, nach Insterburg, nicht weit von jenem Hof meines Onkels, auf dem ich im Sommer 1929 nach dem Tod meines Vaters die Kühe gehütet und das Gras gemäht hatte. Jetzt war der Russe ganz nahe und wir auf dem Rückzug. In Jürgenfelde bei Angerburg war ein Flugplatz, den die Wehr­ macht schon geräumt hatte. Dort fanden wir in der Werft eine frisch gene­ ralüberholte JU-52, die gesprengt werden sollte, damit sie nicht dem Russen in die Hände fiel. Aber so eine Schande, die JU-52 sprengen, so weit kommts noch! Ein Oberleutnant von uns sagte, ich kann die JU fliegen, und ich, dass ich den Funker mache. Wir haben uns die JU vollgeladen mit al­ lem, was das Kühlhaus noch hergab, Speckseiten, Brote, halbe Schweine, das wäre ja sonst alles für den Russen geblieben. Kurz nach dem Start konnte ich die Rote Armee wie eine dunkle Walze aus der Luft sehen, so nah war sie uns schon. Ich wollte meine Mutter in Pobethen warnen, also sind wir mit der JU in Richtung Samland geflogen, aber in Neukuhren auf dem Flugplatz hieß es schon, sie habe sich mit meiner Schwester in den letzten Zug gerettet. Wir haben noch eine Runde über Pobethen gedreht, über unseren Hof und den Mühlenteich und dann Kurs auf den Kessel Hei­ ligenbeil gesetzt. Wir flogen über das Frische Haff, plötzlich holten uns zwei russische Jäger ein, Tack, Tack, Tack, schon brannte der linke Motor.

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II. Jugend

Unser Bordmechaniker, der im hinteren Drehkranz saß, hat noch versucht Gegenfeuer zu geben, aber nichts zu machen. Der Pilot hatte einen Waden­ durchschuss, trotzdem hat er es irgendwie geschafft, unsere JU auf das Eis des Haffes zu setzen, aber sie wollte einfach nicht zum Stehen kommen, schlitterte immer weiter über das Eis. Als der Bordschütze das brennende Benzin ins Gesicht bekam, sprangen wir raus. Er war ganz verbrannt. Un­ sere zwei Verwundeten haben wir mitgezerrt, so weit weg vom Flugzeug wie irgend möglich, wir hatten doch zwei Tonnen Munition geladen. Dann ist sie in die Luft gegangen, unsere schöne JU, ein riesiger Feuerball. Irgendwie haben wir uns zu Fuß zum Ufer geschleppt, ein Telefon ge­ sucht und uns mit dem SanKra, dem Sanitätskraftwagen, abholen lassen. Das war das Ende meiner JU-52-Zeit, mir blieben nur noch ME-34 und unsere Jäger. Selbst diese Jäger haben im Winter 1945 Flüchtlinge aus dem Kessel Heiligenbeil transportiert, hinten in den Rumpf geladen und ausge­ flogen. Die Flüchtlinge sind ja auch über das zugefrorene Haff gezogen, aber ich glaube nicht, diese endlosen Kolonnen gesehen zu haben. Das Haff ist doch so groß, beinahe 70 Kilometer lang. Mein letzter Einsatzort war Leck in Schleswig-Holstein. Dort wurde das Geschwader gerade umgerüstet auf ME-109, den ersten Düsenjäger über­ haupt. Nach dem Start hat er das Fahrwerk abgeworfen, ist sieben Minuten bis auf 6.000 Meter aufgestiegen, hat die englischen Bomberverbände im Gleitflug von oben überrascht und ist auf Kufen wieder gelandet. Ein Meis­ terwerk, das uns aber nichts mehr genützt hat. Es gab ja auch nur dieses eine Düsenjägergeschwader. Ein Geschwader bestand aus vier Gruppen zu je neun Flugzeugen. Der Krieg war entschieden. Ich habe das Ende in Leck erlebt und musste dem Engländer unsere wertvollen Düsenjäger übergeben. Natürlich verstanden die Engländer das Flugzeug nicht, deshalb haben sie unser Kriegsgefangenenlager direkt neben dem Flugplatz eingerichtet, damit wir die Maschinen warten konnten, bevor sie sie endgültig zum TechnikStudium nach England ausflogen.

Elisabeth Furtwängler * 20.12.1910 in Wiesbaden  † 05.03.2013 in Montreux Man muss so sein wie Berlin. So bin ich groß geworden und das denke ich noch heute. Die Berliner sind geradeaus und nochmal geradeaus. Meine Jugend spielte sich in zwei Häusern und bei zwei Müttern in Magdeburg und Berlin ab. Berlin hatte in den 20er Jahren zwei Gesichter. Die „Golde­ nen Zwanziger“ waren eine geistig-sinnliche Welt für sich mit prallem Theater-, Opern- und Konzertleben. Davon zehre ich noch heute. Aber gleich nebenan herrschten Hunger, Depression und bittere Armut. Ich habe in meiner Jugend leider viel zu wenig davon gesehen. Meine Mutter sprach mit allen Leuten, auch mit allen, denen es nicht so gut ging. Sie ging in die Arbeiterviertel, um für die Emanzipation der Frauen zu kämpfen. Ich fand das damals ein bisschen übertrieben. Man kann doch nicht so kritisch sein, dachte ich. Dagegen wurde ich dann also kritisch. Sie hätte bei sich selbst anfangen sollen mit ihrer Kritik. Meiner Mutter ging alles glatt. Sehr char­ mant war sie und hat dabei alles so durchgesetzt, wie sie es sich ausgedacht hatte. In Magdeburg verlebte ich sehr glückliche Jugendjahre. Meine zweite Mutter Hannah legte Wert auf Literatur, Bücherlesen stand auf dem tägli­ chen Programm. Schillers „Wallenstein“ und Goethes „Faust“ haben wir erst gelesen und dann im Theater gesehen. Mein Lieblingszitat aus dem Faust stammt von Mephisto, der zur Kupplerin Frau Marthe sagt: „Ihr Mann ist tot und lässt sie herzlich grüßen!“ Ist das nicht herrlich? Trotzdem fiel mir die öffentliche Schule oft schwer, ich konnte einfach nicht still und brav auf meinem Platz sitzen bleiben. Meine Klassenlehrerin sagte meiner zwei­ ten Mutter rundheraus: „Frau Sanitätsrat, ich muss Ihnen leider sagen, Eli­ sabeth ist der faule Apfel in der Kiste.“ Hannahs Tochter Barbara wurde eine von meinen zwei besten Freundin­ nen. Ursi Geier war die Dritte im Bunde. Zusammen spielten wir Hockey bei der Victoria Magdeburg und trieben allerhand Schabernack. Diese Freundinnen sind mir ein Leben lang geblieben. Barbara hat meinen Bruder Vital und ich ihren Bruder Hans geheiratet. So waren wir Familien eng ineinander verschlungen. Barbara ist leider vor zehn Jahren gestorben, aber Ursi wird dieses Jahr auch 100 und wir versuchen jeden Tag zu telefonie­ ren. Ich muss meinen Hut abnehmen vor ihrer Unbestechlichkeit.

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Meine Mutter war dagegen sehr bestechlich. Die Männer haben sie Zeit ihres Lebens umschwärmt wie Motten das Licht. Sie hatte immer mehrere Verehrer gleichzeitig. Und es konnte vorkommen, dass sie, wenn ihr Mann auf Geschäftsreise ging, gleich den nächsten kennenlernte. Trotzdem hatte sie sehr schwache Momente. Eines Tages kam sie völlig aufgelöst zu mir, um sich trösten zu lassen. Sie weinte und sagte, sie komme in die Hölle, ein richtiger Kollaps. Meine Mutter war von Hause aus katholisch. Selbst wenn sie nach ihrer ersten Ehe formal Protestantin geworden ist, blieb sie im Herzen katholisch. Da liegen Lust und Höllenqualen immer eng beiein­ ander. Im Alter hat sie wieder alles zurückgedreht. Es ist doch schön, was man alles machen kann. 1927 hat meine Mutter wieder geheiratet, noch einmal ganz in weiß, noch einmal mit langem Schleier, immerhin im Alter von fast fünfzig Jahren. Ehemann Nummer vier hieß Siegfried v. Kardorff und war damals Vizeprä­ sident des Reichstages. Ihr Interesse galt der Politik und ihrem aufwändigen Lebenswandel, der viel Geld kostete. Dieses Geld sollte ihr unser Familien­ betrieb, die „Albertwerke Klingenberg“, bescheren, die sie nach dem Tod meines Vaters übernommen hatte. Ihre Geschäftspolitik lief ohne Rücksicht auf Verluste auf möglichst hohe Gewinnausschüttungen für sich hinaus. In den vergleichsweise guten Jahren zwischen 1924 und 1930 hat sie fast 800.000 Mark aus der Firmenkasse genommen, während die Konkurrenz Rücklagen für schlechtere Zeiten bilden konnte. Die Weltwirtschaftskrise nach dem Börsenkrach 1929 traf die Firma und meine Mutter völlig unvor­ bereitet mit voller Wucht. Sie stand von einem Tag auf den anderen vor dem finanziellen Ruin. Ende des Jahres fehlten 130.000 Reichsmark in der Firmenkasse. Der Konkurs stand unmittelbar bevor. Da kam meiner Mutter eine „glänzende Idee“. Da drei Millionen Mark des Erbes meines Vaters im Moment unserer Volljährigkeit direkt an mich und meinen Bruder Heinrich gehen sollten, ließ sie mir, ein Jahr zu früh, geistige und körperliche Reife attestieren und zwang uns Kinder einen Ver­ trag zu unterzeichnen, der das Geld direkt auf ihr Konto leitete. Was nun folgte, war eine Räuberpistole wie die „Entführung aus dem Serail“. Meine Mutter versuchte, mich eng an sie zu binden, quasi als lebendes Pfand ihres Vermögens, und nahm mich mit auf ausgedehnte Reisen bis in die Wüsten Nordafrikas und zwischen die Höcker eines Kamels. Im Spät­ sommer 1930 landeten wir in Karlsbad. Mein Halbbruder Vital, der längst ihr Kalkül gewittert hatte, reiste uns heimlich hinterher. In einer öffentlichen Badeanstalt hörte ich durch die Bretterwand zwischen Damen- und Herren­ bad auf einmal seine Stimme. Ich solle noch am selben Abend auf dem Karlsbader Bahnhof erscheinen. Er habe Fahrkarten nach Frankfurt besorgt, wo mein zukünftiger Mann auf mich warte. Meine Mutter und vor allem ihr



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vierter Ehemann Kardorff waren strikt gegen unsere Hochzeit. Sie hielten Hans nicht für gut und vermögend genug. Aber den Hans muss man in Schutz nehmen, er war ein toller Mann, keiner der mich erziehen wollte. Also floh ich auf die ackermannsche Familienseite. Da ich ja nun offiziell volljährig war, brauchte ich nicht einmal Mutters Erlaubnis. In Frankfurt angekommen, beantragte Vital eine einstweilige Verfügung gegen unsere Mutter zur Sicherung des Erbes. Das war der Auftakt zu ei­ nem schlimmen Prozess, der deutschlandweit Schlagzeilen machte und un­ sere Familie auf Jahrzehnte entzweite. Wir Kinder zogen gegen meine Mutter vor Gericht. Letztlich wurde der Prozess zu unseren Gunsten ent­ schieden. Das Werk Klingenberg ging 1932 in die Insolvenz. Heinrich und ich beauftragten Vital damit, mit dem erstrittenen Geld das Werk aus der Insolvenzmasse zu kaufen und in unserem Namen weiterzuführen. Noch während des Prozesses heiratete ich am 31. Oktober 1931 im Mag­ deburger Dom meinen Mann Hans. Wir zogen nach Berlin, in die Höhle der Löwin, in die Nähe meiner Mutter. Trotzdem habe ich sie nur ein einziges Mal in diesen ersten fünf Jahren meiner Ehe gesehen, zufällig, auf einer Fahrradtour durch Berlin-Grunewald. Plötzlich hörte ich ihre Stimme aus einem Garten, drehte mich um und da stand sie. Das hat mir einen solchen Schrecken eingejagt, dass ich in die Pedale getreten und Reißaus genommen habe. Ich konnte ihr einfach nicht mehr unter die Augen treten. Zu viel stand zwischen uns. Zwischen 1930 und 1954 gab es keinerlei Kontakt und keiner machte Anstalten das zu ändern. Meine Mutter zog sich nach 1933 völlig aus der Politik zurück, sie war und blieb eine konsequente Gegnerin der Nazis, das muss ich ihr hoch anrechnen. Auch ihr großartiges Gesellschaftsleben kam zum Stillstand, ihr fehlten dazu auch die finanziellen Mittel. Fortan lebte sie mit Ehemann Nummer vier ein ruhiges Leben in einem der feinen Villenvororte des Ber­ liner Westens. Am 30. Januar 1933 habe ich mich geschämt. Diese Hitler-Figur war ganz gegen meinen Sinn, schrecklich dieser Egomanismus. Das war nichts für mich. Er dachte, er wüsste alles, dem hat ein bisschen Religion gefehlt. Das hätte überhaupt allen gut getan in dieser Zeit. Ich habe in BerlinCharlottenburg in der Brückenallee gewohnt. Ich glaube, ich war eine mu­ tige Frau damals. Ich wollte mit diesen Nazis nicht verkehren, nicht einmal reden. Als zum Boykott der jüdischen Geschäfte aufgerufen wurde, und bewaffnete SA-Wachen sich zur Einschüchterung davor postierten, bin ich trotzig und hoch erhobenen Hauptes an der SA vorbei in den Laden mar­ schiert. Und trotzdem war ich ein Kind. Ich hätte mehr hinsehen, mehr tun müssen. Da habe ich in gewisser Weise versagt.

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1937 zogen wir nach Wiesbaden. Mein Mann Hans wurde Geschäftsfüh­ rer der Chemischen Fabriken Albert und ich kümmerte mich um unsere drei kleinen Kinder. Wir waren eine junge, glückliche Familie. Doch dann kam der Krieg, mein Hans fiel und alles wurde anders.

Hans von Seggern * 24. April 1914 in Oldenburg Von der Korporation „Rhenopalatia“ wurde ich 1933 als angehender JuraStudent in Heidelberg vom Bahnhof abgeholt und schnell einer der Ihren. Die Einschränkungen für das Korporationsleben der Weimarer Republik wurden wieder beseitigt und auf der Hirschgasse durfte wieder gefochten werden. Wir lebten stark aus der Tradition von 1813 / 1523 und vom deut­ schen Idealismus. Wir ahnten nicht, dass die Pläne, das eigenständige Bur­ schenleben abzuwürgen, schon vorlagen. Die Studenten in Heidelberg gingen ja erstaunlich schnell zu den Nazis über. Man muss dabei bedenken, dass Hitler manche außenpolitischen Wün­ sche hatte erfüllen können, was der Weimarer Republik vorher nicht gelun­ gen war. Die Rückgewinnung des Saargebietes war etwas Großes, ganz stolz marschierten die Studenten im Fackelzug und sangen „Deutsch ist die Saar“. Die Nazis verstanden daraus ein Event, sagenhafte Propagandaveran­ staltungen zu machen. Im ersten Semester gab es noch demokratische Ver­ sammlungen in der juristischen Fachschaft, das hatte aber bald ein Ende, als fast alle Studenten im „Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund“ waren. Wer nicht drin war, lief Gefahr, das Studium nicht beenden zu kön­ nen. Der Bund riss alle Veranstaltungen wie „Marsch auf die Stadt“ und „Tag des Führers“ an sich. Als Student mussten wir fünf nationalsozialisti­ sche Pflichtvorlesungen besuchen. Wir hörten auch die Rede des großen Philosophen Martin Heidegger im Juni, in der er die Rolle der Universität in der neuen nationalsozialistischen Ordnung darstellte und den Nationalso­ zialismus als Erneuerungsbewegung begrüßte. Zu meinem Erstaunen sah ich auch einen meiner Professoren, ein eigentlich in sich gekehrter Gelehrter, in SA-Uniform auf dem Bismarckplatz mit der Klapperdose für die SA Geld sammeln. Der Jurist Dr. Reinhard Höhn hielt seine Antrittsvorlesung in SS-Uniform. Meinen jüdischen Professor Levy hörte ich bis zum vierten Semester über Römisches Recht sprechen. Er trug sein Eisernes Kreuz 1. Klasse am schwarzen Rock und grüßte durch Hut-Abnehmen den SAPosten, der eine Art „Ehrenwache“ am Tor hielt. 23  Mit den Jahren 1813 und 1815 sind die „Befreiungskriege“ gegen Napoleon und ihre Folgen gemeint. 1815 kam es zur Gründung der „Urburschenschaft“ in Jena durch einige studentische Kriegsfreiwillige.

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Der Jahrgang 1914 wurde zum Sommersemester 1935 zum Arbeitsdienst geholt. Ich hatte in Rüstersiel Watt-Gräben auszuheben. Das war eine Vor­ bereitung zur Landgewinnung. Im Herbst nahm meine Abteilung am Reichsparteitag in Nürnberg teil. 52 000 Arbeitsmänner boten eine Show mit blitzenden Spaten, die in der hellen Sonne zum Präsentiergriff erhoben wurden. Am 29. Oktober 1935 hatte ich mich in der historischen Dragoner­ kaserne in Oldenburg bei der Maschinengewehrkompanie des Regiments 16 zu melden. Das Studium durfte nicht fortgesetzt werden. Nach meinem Wehrdienst entschied ich mich für die Offizierslaufbahn, das war der Traumberuf der meisten Jungs, weil Offiziere ein hervorragendes Ansehen genossen. Von Hundert Freiwilligen wurden meist nur zwei bis sechs ge­ nommen. Wir dachten, wir sollen Deutschland nur schützen, wir hatten ja diesen Polenkomplex. Ich kam also zur einjährigen Ausbildung auf die Kriegsschule nach Mün­ chen. Wir lebten dort auf einer Insel außerhalb des Zeitgeschehens, es ging ausschließlich um militärische Sachthemen und um eine sehr hoch angesie­ delte Ethik des Offiziers in seiner Lebensgestaltung. Ich hatte den Eindruck, einen ganz angenehmen Beruf gewählt zu haben, man hatte viel mit der Jugend, mit Sport und mit Reiten zu tun, das fand ich wunderbar. Dass die Nazis Herr dieser Armee sein würden, war mir damals nicht klar. Ich war nicht in der Partei und dachte, in der Armee herrsche ein anderer Geist, jedenfalls kein brauner. Die weiten Märsche mit viel Gepäck bei Gelände­ übungen waren unglaublich anstrengend, aber überall in den Dörfern wurde man freundlich aufgenommen und es gab Körbe von Zwetschgenkuchen. Die Volksgemeinschaft nahm Gestalt an. Im wunderschönen Sommer 1939 lernte ich in meiner Heimatstadt Olden­ burg das Pflichtjahrmädchen der Mieterin meiner Eltern, Leni Rahder, kennen. Sie prägte mein ganzes Leben. Wir gaben uns gegenseitig Halt in der schweren Zeit, die schon bald anfing. Im August marschierten wir, die 10. Panzerdivision, von Mühlhausen in Thüringen nach Bütow in Hinterpommern und eines Morgens in der Frühe hörte man Kanonendonner von fern her. Da saßen wir Soldaten am 1. Sep­ tember nun dichtgedrängt neben der Veranda des Gutshauses im Schatten riesiger Eichen und hörten Hitlers Rundfunkrede: „Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!“ Mit dem fingierten Überfall auf den Sender Gleiwitz bediente er natürlich diese Polenangst. Wir sahen, dass Hitler versuchte, den Polnischen Korridor wiederzukriegen, und das fanden wir berechtigt. Au­ ßerdem meinten wir, das gehe wie in Böhmen ein Jahr zuvor wieder fried­ lich aus. Stattdessen war es nun meine Aufgabe, die Truppenteile zum Marsch durch den Korridor zum Freistaat Danzig in eine endlose Kolonne einzufädeln. Erste Zeichen von Tod und Vernichtung wurden am Straßen­



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rand sichtbar. Von Bomben getroffene Pferde und Kühe, ein erschreckender Anblick, die aufgedunsenen Tiere, mit steif nach oben gestreckten Beinen. Dennoch ging es ohne größere Kämpfe durchs Feindesland. Wir zogen bis nach Brest-Litowsk24, wo uns im Oktober 1939 die Nach­ richt erreichte, dass von Osten russische Panzertruppen im Anmarsch seien. Sie kamen nicht als Feind, noch galt das Bündnis zwischen Hitler und Stalin. Die Verständigung war schwierig, aber freundlich. Wir überlegten, wie es weitergehen würde. Das einleuchtende Ziel war erreicht und Posen und Westpreußen zurückgewonnen. Der ideologische Überbau des National­ sozialismus galt für die ersten Soldaten, die 1939 in den Krieg zogen, weitgehend noch nicht. Die Kompaniechefs waren oft Reserveoffiziere oder Reaktivierte und vom Ersten Weltkrieg geprägt. Man kämpfte, so glaubte man, in der Tradition des Heldenkampfes von 1813 / 15 für sein Land gegen das Unrecht, für Frau und Kinder. Zu Weihnachten 1939 sah ich meine beiden Brüder das letzte Mal. Ein gemeinsames Foto entstand vor der Ver­ abschiedung, als hätten wir geahnt, dass es das letzte sein wird. Für mich ging es im Mai 1940 in der 7. Kradschützen-Kompanie25 Rich­ tung Frankreich. Nach Hitlers Plan sollte Frankreich schnell eingenommen werden, indem die Wehrmacht durch die neutralen Benelux-Staaten mar­ schierte. Am 10. Mai überquerten wir morgens um fünf Uhr mit 20 Fahrrä­ dern die Brücke nach Luxemburg, um weit ins Land vorauszueilen, sodass unsere Kräder nachgeführt werden konnten. Die Zöllner, die uns mit dem Ruf „neutral“ in den Weg traten, schoben wir beiseite. Über Sedan und heftigen Kämpfen in Arras erreichten wir den Ärmelkanal und stürmten dort die Kasematten. Ich musste mit meinem Zug durch lichte Waldstücke und über offene Felder zu den Dünen an die See fahren. 42 Jahre später lernte ich bei einer englischen Rekonstruktion des Geschehens den gegenüberlie­ genden Kompaniechef kennen. Wir stellten fest, dass wir beide im Kriege stets die Shakespeare-Ausgabe griffbereit hatten. Shakespeare allein brachte noch Hoffnung in das Chaos. Im Juni traten wir zum Stoß auf Paris an und gewannen Anschluss an die Panzerarmee Guderian. Wir bildeten die Vorhut der 10. Panzerdivision und rollten mit unseren Krädern an den französischen Einheiten entlang, solange sie nicht schossen, wollte ich ohne unnötige Kämpfe vielen Menschen das Leben retten. Am 22. Juni musste Frankreich einen Waffenstillstand unter­ zeichnen und ich bekam bald darauf Urlaub. In der Dreifaltigkeitskirche in Oldenburg heiratete ich Ende August meine Leni und konnte das Staatsge­ 24  Im Oktober 1939 wurden die eroberten Gebiete Polens unter der Sowjetunion und Deutschland gemäß des „Geheimen Zusatzprotokolls“ des Hitler-Stalin-Paktes aufgeteilt. 25  Kraftrad (Motorrad).

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schenk „Mein Kampf“ mit Widmung entgegennehmen. Sogar eine Hoch­ zeitsreise bis in den Taunus und nach Heidelberg war möglich, in Mannheim folgte vier Tage später der bedrückende Abschied. Nach einem viermonati­ gen Geheimtraining unserer Kompanie im schlesischen Neuhammer begann für uns und unzählige andere deutsche Soldaten am 11. Juni 1941 mit dem „Unternehmen Barbarossa“ der Überfall auf die Sowjetunion. Wie zuvor in Frankreich sollten wir Kradschützen weit vor der Division aufklären, den Feind zurückwerfen, wo die eigenen Waffen ausreichten, wichtige Geländeabschnitte, wie Brücken und beherrschende Höhen, im Handstreich nehmen. Uns war aber klar, dass wir das Feuer herauslocken sollten. Dass ich dabei nicht totgeschossen wurde, grenzt an ein Wunder. Als Vorausabteilung der 10. Panzerdivision kam ich oft als erster in die russischen Dörfer. Wir wurden noch als Befreier begrüßt, manchmal gab es Geschenke. Ein Topf Honig oder ein Brot. Eine ältere Frau stellte uns eines Abends Stalins Schreckensherrschaft pantomimisch vor. Bald schon waren wir aber ziemlich erschöpft von den vielen langen Marschtagen mit Sicherungsaufgaben, Aufklärung links und rechts. Vor Pot­ schniok breitete sich Nervosität vor den russischen Panzern unter meinen Soldaten aus, wir igelten uns ein und gingen für die Nachtruhe auch schon mal vor die Linie. Im offenen Buschgelände tobte manche Nacht ein tosendes Gewitter, Platzregen, aufgeregtes Leuchtkugelschießen hin und her. Wir nannten es Hexensabbat. Weit war es nicht mehr bis Moskau, aber die Sand­ wege verdarben die Motoren unserer Räder. Einen neuen Tarnnamen beka­ men wir auch. Statt „Zweite Kokosnuss“ hießen wir nun „Zweite Karfreitag“. Mit diesem Namen mussten wir jeden Abend während des höllischen Lärms Meldung machen. Im September 1941 beschloss ich, mit meiner Truppe täg­ lich Abhärtungsübungen im kalten Fluss durchzuführen, weil wir uns auf den Winter vorbereiten wollten. Am 2. Oktober brach der Sturm auf Moskau los, wir gehörten nun zur 4. Panzerarmee des Generaloberst Höppner. Wenn ich so in die dunkle Nacht stapfte, durch Feld und Busch äugte, rundum Schlachtenlärm, Leuchtkugeln, hier und da Urreh-Gebrüll, und versuchte meine hundert Mann zu einem sinnvollen Einsatz zu führen, dann stand mir der Schrecken des Krieges bis obenhin. Ich habe diese Kompanie zwei Jahre geführt und kannte jeden einzelnen gut, manchmal auch seine Familie. Wenn einer totgeschossen wurde, habe ich geweint. Sie standen mir sehr nah, und deshalb fühlte ich mich äußerst verantwortlich. Ich ver­ gaß darüber die persönliche Lebensgefahr nicht. Ich wollte überleben, zumal meine Frau mir im letzten Feldpostbrief geschrieben hatte, dass wir unser erstes Kind erwarten. Mitte Oktober trafen wir bei Rusa auf Minensperren, auf die erste Schutz­ stellung, die Moskau unmittelbar verteidigen sollte, und auf das widerliche



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Heulen der Stalin-Orgeln26. „Hier tanzt der Teufel“, schrie einer, um den Schock loszuwerden. Wir saßen im Schlamm bei Prokowskoje über drei Wochen fest. Durch den Regen hatte sich der leicht gefrorene Boden in einen grundlosen, zähen Sumpf verwandelt und unsere Räder wühlten sich in den Morast. Es wurde kälter. Aus dem „Völkischen Beobachter“ wurde Folgendes vorgelesen: „Auch bei großer Kälte merkt man die Kälte kaum, da die Luft ja trocken ist.“ Das war natürlich Blödsinn, wir froren in unse­ rer Sommerbekleidung entsetzlich und unsere Fahrzeuge versagten den Dienst. Sie mussten vorsichtig mit Feuerchen wieder aufgetaut werden, was natürlich nicht ungefährlich war. In der Zwischenzeit holte Stalin etliche Divisionen aus dem Osten. Sie hatten das gute Straßennetz Moskaus im Rücken, viel Munition, den neuen Panzertyp T 34, der für uns kaum zu knacken war, warme Winterbekleidung und weiße Tarnhemden, während unsere 5. Panzerdivision mit brauner Tarn­ farbe für den Afrika-Feldzug etwas auffällig war. Am Nikolaustag 1941 kam unser Angriff endgültig zum Stehen. Die Kompanien zogen sich zurück, sodass sie nicht in Zick-Zack-Stellung vor Moskau lagen. Wir wohnten in einer langgestreckten Baracke, immer zu fünft in einer kleinen Stube. Nicht weit hinter der wankenden und schwankenden Front gab es den­ noch Ladungen von Postsendungen und Weihnachtspaketen, sogar Krimsekt in Gläsern. In der Ruhe wachten Trauer und Sorge auf. Wie soll das wei­ tergehen? Kurz zuvor hatte ich die Nachricht über den Tod meines Bruders bei Kiew erhalten. Meine Augen waren voll Tränen, ich dachte auch an alle neben mir gefallenen Männer. Nur das vertrauensvolle Miteinander in Schrecken und Untergang machte mir Mut, und das war neben dem Gedan­ ken an meine Familie der letzte Halt. Die ruhigen Tage hatten bald ein Ende. Anfang Januar des Jahres 1942 begann gegen Mitternacht in dichtem Schneetreiben wildes Schießen. Sehen konnte ich nichts, weil meine Brille von Eis und Schnee verklebt war, ich war also hilflos in der höllischen Winternacht. Plötzlich wurde eine Hand­ granate nach mir geworfen. Meine durchgewetzte dünne Hose, die ich seit Beginn des Ostfeldzuges trug, hatte ein Loch bekommen, genau wie mein Oberschenkel. Ich musste nach Hause, kehrte aber schon bald an die Front zurück und übernahm wieder meine alte Kompanie. Eines Nachts sollten wir ein Dorf auf einem hohen verschneiten Hang einnehmen und von dort den Angriff führen, um einer russischen Zange zu entgehen. Unser Spähtrupp wurde dabei im Mondlicht vernichtet. Es schien aussichtslos. Dennoch stürmten wir ohne Ski den Hang hinauf und entdeck­ ten einige Schneewälle mit Maschinengewehren dahinter, allerdings unbe­ 26  Raketenwerfer.

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setzt, die Russen hielten sich in den Häusern versteckt. Bald wurde ge­ schossen und mich traf abermals ein Explosivgeschoss in den Oberschenkel, das mich sofort zu Boden riss. Meine Melder legten mich auf den Verwun­ detenschlitten, der aus flachen Brettern auf Kufen bestand und von einem Panjepferd gezogen wurde. Bei Einschlag eines Granatwerfers ging das Pferd senkrecht hoch und galoppierte direkt auf die russischen Stellungen zu. Meine Leute versuchten das Pferd zu töten, auch die russische Seite fing an zu schießen. Das Pferd brach in der Mitte der Front tot zusammen. Dass ich das überlebte, habe ich dem Gefreiten Fuhrmann zu verdanken, dessen kräftige Arme mich auf einen Rodelschlitten packten und zu den Unseren zurückführten. Aus dem Lazarett schrieb ich ihm meinen Dank, aber als ich seinen Antwortbrief las, war er schon längst irgendwo in der Wüste bei Tunis gefallen. In Viehwaggons, die von innen gefroren waren, wurden wir Schwerverwundeten zurücktransportiert und fürchteten zu erfrieren. Ich wurde von russischen Sanitätern und einer russischen Schwester in der Nähe von Smolensk gut versorgt. Diese Atmosphäre von Freundlichkeit und Gutmütigkeit haben die deutschen Parteifunktionäre in ihrer Arroganz später gründlich kaputt gemacht. Lange Zeit konnte ich nach dieser Verletzung nicht richtig laufen und war zunächst nur als Lehrer zu gebrauchen. Als Taktiklehrer in der Panzertrup­ penschule 2 in Potsdam unterrichtete ich Offiziersanwärter der Kradschützen und Panzeraufklärer. Anschließend wurde ich für die Generalstabsausbil­ dung nach Hinterpommern versetzt. Nach der Ausbildung kam ich 1944 ein weiteres Mal nach Frankreich, wo ich eine taktische Arbeit anfertigen sollte, wie ein englischer Angriff in die Seine-Mündung hinein aussehen könnte und wie unsere Abwehr zu organi­ sieren sei. Dort traf ich auf den Freiherrn v. Schenck zu Schweinsberg, der gerade mit einigen Herren in Ausgehuniform beim Tee im Schloss Bolbec, unweit von Le Havre, saß und gepflegten Disput hielt. Das war eine ganz andere Welt an dieser Front. Zu uns stieß Feldmarschall Rommel, der unsere Stellung auf den Dünen mit größter Sorgfalt inspizierte. Ich traute mich, ihm offene Fragen zu stel­ len, und erschloss aus seinen Antworten, dass er wenig oder keine Hoffnung hatte, sollten die Engländer wirklich eine Landung in Nordfrankreich riskie­ ren. Und so passierte es dann ja auch. Nach dem „D-Day“ am 6. Juni 1944 besuchte uns auch der „Reichsheini“ genannte Heinrich Himmler in der Kriegsakademie und hielt eine Ansprache über das Thema „Durchhalten“. Alles rankte sich um eine mittelalterliche Geschichte eines tapferen Vertei­ digers des Hohentwiel27, der bis zuletzt nicht aufgab. Wir nannten diese 27  Berg

in der Nähe des Bodensees.



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Veranstaltungen „NS-Kraftbrühe“, jeden Samstag hörten wir so etwas aus dem Amt Rosenbergs28. Nach erfolgreichem Abschluss meines Lehrgangs musste ich mich am 3. September beim Generalstabschef des 58. Panzerkorps als 2. General­ stabsoffizier, als Quartiermeister29 melden. Die Truppe war auf dem Rück­ marsch von der Invasionsfront durch Nordfrankreich und Belgien. Wenige Tage nach der Ardennenoffensive, der Versuch unserer Soldaten im Dezem­ ber 1944 den Hafen von Antwerpen zurückzuerobern, hörten wir ein gewal­ tiges Rauschen und Bomben in Feindesland. Wir deuteten dies als das letzte Aufgebot unserer Luftwaffe, die wir schon tagelang vermisst hatten. Turbulenter Rückzug folgte. Gefährliche Stauungen unserer Armee boten den Jagdbombern, den Jabos, gute Ziele. Wir versuchten die Panzer mit Kalk und Kreide weiß zu machen, um sie im schneereichen Winter zu tar­ nen. Immer kleiner wurden in den folgenden Monaten die versprengten Wehrmachts-Grüppchen. Der Krieg verruselte sich. Schließlich hörten wir bei Ulm rhythmisches Schießen, und das ließ uns ahnen, dass die Sieger Salut schossen. Wir hatten recht. Der Sender Radio Beromünster aus der Schweiz spielte Orgelmusik. Den ganzen Tag. Die Melodie ist mir unvergesslich. Ich entließ alle meinte Leute mit dem Be­ fehl, auf schnellstem Wege in ihre Heimatorte zurückzukehren und sich dort bei der alliierten Dienststelle zu melden. Sogar einen Stempel fanden wir in der Tasche eines Ordonanzoffiziers, das erhöhte die Amtlichkeit. Mir habe ich einen solchen Schein auch ausgestellt und lief los zu meiner Frau nach Oldenburg.

28  Alfred Rosenberg war einer der Hauptideologen des Nationalsozialismus. Das „Amt Rosenberg“ ist sowohl eine Sammelbezeichnung für all seine Ämter, als auch die Bezeichnung für seine Dienststelle für Kultur- und Überwachungspolitik. Rosen­ berg wurde 1934 „Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP“. 29  Zuständig für Versorgung und Logistik.

Albert Scheel * 6. Oktober 1917 Berlin  † 19. Februar 2013 Oldenburg Ich wollte Schauspieler werden. Ich hatte ein gutes Gedächtnis, konnte gut vortragen und sah gut aus. Offenbar aber nicht gut genug. Es wurde nichts draus. Also habe ich im Februar 1937 Abitur gemacht und ließ auf mein Zeugnis schreiben, dass ich Jura studieren möchte, um einen guten Eindruck zu erwecken. Ich habe sehr leicht gelernt, weil ich ein fotografi­ sches Gedächtnis habe. Einen Text, den ich vor mir sah, konnte ich an­ schließend Wort für Wort nacherzählen. Ist mir heute erst klar, wat fürn kleenet Wunderkind ick bin. Mathematik allerdings hat mir keinen Spaß gemacht, da hatte ich eben eine fünf und fertig. Nach dem Abitur bin ich zum Reichsarbeitsdienst nach Primkenau im Sprottebruch in Niederschlesien gekommen, um das Land zu entwässern. Wir haben mit dem Spaten Gräben und Böschungen angelegt. Wir Abitu­ rienten strotzten nur so vor Jugend und Selbstbewusstsein, da machte es uns auch nichts aus, dass es nur sonntags mal ein kleines Stückchen Butter gab. Um nicht während des Studiums eingezogen zu werden, haben wir uns gleich für die Wehrmacht beworben. Es musste ja jeder. Meine Freunde hatten sich bei der Flak beworben, die hatten so schöne rote Kragenspiegel, darum wollte ich auch zur Flak. Aber ich musste zur Luftnachrichtentruppe, dort hatten sie nur gelbe Spiegel, die ich nicht so schick fand. Das war natürlich Blödsinn, aber so sind junge Menschen. Sie schickten mich nach Bernau zu einer sehr modernen Truppe. Wir sind nicht einmal kahl gescho­ ren worden und nannten uns Schlipssoldaten. Als ich im niederschlesischen Wahlstatt stationiert war, habe ich während meines Urlaubs bei Bekannten in Liegnitz übernachtet, zu denen ich mit dem Fahrrad fuhr. Als die Sudetenkrise 1938 begann, rechneten wir mit Krieg. Meine Mutter machte sich von Berlin auf den Weg nach Schlesien, um mein Fahrrad abzuholen, damit es dem Feind nicht in die Hände fällt. Is doch drollig, nich? Und nun brach der Krieg tatsächlich aus. Ich wollte schnell entlassen werden, obwohl ich einen guten Soldaten abgab und schnell befördert wur­ de. Doch in meinem Inneren war ich es gar nicht. Man musste eben. Als ein Kamerad eine Einheit übernehmen sollte, hat er sich auf die Gleise



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gelegt und den Kopf abfahren lassen, weil er nicht den Mut hatte, vor der Truppe zu stehen und zu befehlen. Das war ein Berliner aus bestem Hause. Ich hatte Glück, denn eines Tages kam ein Stabsarzt zu mir und fragte mich, was ich davon hielte, zum Medizinstudium nach Leipzig geschickt zu werden. Da sagte ich: Na, prima! Ich wohnte gemeinsam mit Günther Röll in einem einzigen Zimmer mit Polstermöbeln und Ehebett. Das hat uns auch später immer wieder erheitert. Kurz darauf kam ich nach Greifswald, wo meine Studentenbude trotz Kanonenofens so eiskalt war, dass ich nur unter der Decke lesen konnte. Während des Studiums habe ich zweimal Dienst gemacht. Einmal ein hal­ bes Jahr im Fliegerhorst Ludwigslust als Sanitätsunteroffizier, im Kampfge­ schwader 26. Das war ganz schön, denn dort bekam man Bohnenkaffee. Ein anderes Mal war ich ein halbes Jahr in Heiligenhafen, wo wir nachmittags dienstlichen Sport machten. Mit anderen Worten: Wir lagen am Strand. Beim großen Angriff auf Niederschönhausen in Berlin am 23. November 1943 brannte bei meiner Familie fast alles ab. Deshalb habe ich Bomben­ urlaub bekommen. Im Schutt des Hauses haben wir noch Flaschenreste von „Kornblumenblau“ gefunden. Also haben wir getrunken und kamen in Stim­ mung. Meine Mutter hatte mächtig einen in der Krone und fing an zu sin­ gen. Währenddessen gab es den nächsten Angriff. Als alles vorbei war, fragte sie, was denn dieser Lärm da draußen eigentlich soll. Im gleichen Jahr lernte ich Hannelore kennen. Sie war in meinem ganzen Leben meine einzige Geliebte. Wir konnten noch Diamantenhochzeit feiern, bevor sie starb. Sie war flott, schick und die Nichte des Bürgermeisters Dr. Meißner in Pankow. Am Nikolaustag 1944 habe ich mein Staatsexamen gemacht und wurde Unterarzt der Wehrmacht. Ich bekam zwei Wochen Urlaub und heiratete zehn Tage später bei 16 Grad unter Null in Altglietzen bei Bad Freienwalde. Am ersten Tag der Ardennenoffensive haben wir rich­ tig großartig gefeiert mit 30 Torten, vier Kuchen und vielen Gästen. Drei Soldaten aus dem Lazarett wurden noch als Herren eingeladen, weil sonst nur Damen vertreten waren. Bald nach Neujahr 1945 bekam ich den Marschbefehl nach Potsdam ins Lazarett, um dort die Soldaten von Granatsplittern zu befreien. Schon bald wurde das Lazarett in Potsdam aufgelöst und ich empfing meinen letzten Marschbefehl an die Front, nach Berlin-Wannsee. Ich bin mit der letzten S-Bahn an die Front gefahren. Dort standen wunderschöne Bungalows, in denen lauter reiche Leute wohnten. Viele gehörten zum Golfclub mit hor­ renden Eintrittspreisen. Dann wurde es romantisch. Die Familie Pöntsgen lud mich abends zu Kaminfeuer und Rotwein ein. Nur ein paar hundert Meter entfernt stand der Feind. Es war ein wunderschöner Abend, kurz vor Todesschluss. Abends um neun hieß es im Rundfunk immer Gustav, Hein­

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rich30, tick, tick, tick, feindliche Bomberverbände im Anflug auf die Reichs­ hauptstadt. Da musste Familie Pöntsgen in den Keller und ich raus auf die Potsdamer Chaussee für den Endkampf. Ich sollte eine Einheit führen und den Jungs sagen, was zu machen ist. Aber das wusste ich selber nicht, ich war ja nur Arzt und hatte keine Kriegserfahrung. Die Russen kamen immer näher und plötzlich stand ein Offizier vor mir und sagte: Doktor, Sie stehen längst vor der Front, gehen Sie zurück! Also sind wir zurückgegangen und kamen an einer Tankstelle vorbei. Dort standen ein paar ältere Herren vom Volkssturm mit Pistole in der Hand und kontrollierten, ob wir Fahnenflüch­ tige sind. Ich gab mich als Arzt zu erkennen und versorgte dortige Verletz­ te. Bei einem war der halbe Körper weg, aber der andere Teil lebte noch, zitterte und bekam Morphium von mir. Dann flatterte es wieder, von oben kam der Schotter von den Häusern runter in die Wunden rein, da habe ich die Jungs meiner Einheit weggeschickt. Ich hatte ein komisches Gefühl, als einen Tag später der erste Russe auf mich zukam und nahm vor Angst das Rauschmittel Fortalin. Das Geld in meinem Portemonnaie interessierte ihn nicht, stattdessen nahm er meinen Füller von Pelikan sowie meine Armbanduhr und schickte mich zum Sam­ melplatz Wannsee. Dort fanden sich neben Soldaten auch Zivilpersonen ein. Glücklicherweise hatte ich zuvor von einem Obergefreiten noch einen KFZPullover bekommen, sodass ich mich in die Gruppe der Zivilpersonen ein­ reihte. Dort schlugen die Russen nicht zu. Wir marschierten nach Teltow, wo ein russischer Kommandant mit roter Fahne auf dem Schreibtisch wissen wollte, wer ich bin und was ich will. Ich sagte, ich sei ein Arzt aus Pots­ dam. Das stimmte ja, ich verschwieg lediglich, dass ich Soldat war. Er ließ mich gehen. Nun war ich ganz alleine und ging durch die zerstörten und menschenleeren Straßen Berlins. Dort, wo ehemals Fenster waren, hingen nun weiße und rote Fahnen. Am Werner-Jens-Platz war es allerdings zu spät. Ich wurde als Soldat erkannt und in den Keller eines Hauses gezerrt. Dort saß noch ein Mann, mit dem ich mich nachts zusammengekuschelt habe. In der Manteltasche steckte noch mein Urlaubschein, worauf stand: „Der Unterarzt Dr. Albert Scheel hat die Erlaubnis den Standort Potsdam zu verlassen.“ Dadurch wussten die Russen immerhin, dass ich ein Arzt und kein böser Mensch von der SS war. Mit anderen Gefangen ging es am nächsten Tag durch Neukölln. Es war ein heißer Tag. Die Frauen standen mit Wassereimern und Bechern am Straßenrand und haben uns zu trinken gegeben. Wir Gefangenen hatten vorher Zettel an unsere Angehörigen geschrieben und sie heimlich den 30  Das „Deutsche Reich“ wurde für militärische Zuordnungszwecke in Planqua­ drate von Nord nach Süd und von West nach Ost alphabetisch eingeteilt. G (Gustav) und H (Heinrich) entsprachen ungefähr den Koordinaten Berlins.



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Frauen zugesteckt. Mein Zettel ist von Neukölln bis nach Pankow von Hand zu Hand weitergegeben worden und sogar bei meinen Eltern angekommen. Im russischen Lager mussten wir uns die Haare abschneiden, was furcht­ bar aussah. Wir bekamen nur Trockenbrot zu essen. Mitten unter uns Ge­ fangen hat sich ein Stabsoffizier hingesetzt und sein großes Geschäft ge­ macht. Die Toten wurden ausgezogen und lagen stundenlang in der Latrine auf der Bahre. Sie wurden vor dem Lager ohne Erkennungsmarken ver­ scharrt. Später hat man sie als „SS-Opfer“ bezeichnet. Ich durfte auf der Krankenstation arbeiten, auf der keine Betten, sondern Holzgestelle standen. Ich betreute 90 Holzgestelle. Die meisten Männer hatten Durchfall, entwe­ der Typhus oder eine Darmerkrankung und wir gaben ihnen Mangansäure­ kali in geschätzten oder ausgedachten Dosen. Die Männer waren sehr ver­ hungert und ich werde das Bild nie vergessen, wie sie splitternackt an uns vorbeigingen. Da hingen die Pobacken runter wie Elefantenohren, so waren die Arschbacken schon verhungert. Der Lagerkommandant hatte noch das literarische Deutschland im Kopf, das er geliebt hat, und entließ somit kranke Gefangene ohne Offiziersrang, sobald er konnte. Wir wurden immer weniger im Lager. Zum Schluss waren nur noch drei Offiziersbataillone übrig, die nach Russland marschieren soll­ ten. Mein Chefarzt hatte mir gesagt, Scheel, wenn Sie in Russland sind, brauchen sie einen Löffel und ein Essgefäß, mehr brauchen Sie nicht. Dar­ auf habe ich mich eingerichtet. Im September sind die ersten ausgezogen, aber ich stand nicht auf der Liste. Beim zweiten und dritten Bataillon das gleiche. Jetzt war das ganze Lager leer, man hat mich wohl vergessen. Das russische Nachkommando wusste auch nicht, was es mit mir machen sollte. Die haben lange überlegt, bis sie mich schließlich mit Essen und einem Entlassungsschein nach Hause geschickt haben. Der Entlassungsschein war rettend für mich, denn natürlich kamen noch öfter russische Offiziere in unser Haus, aber wenn irgendetwas war, habe ich immer das Papier vorge­ zeigt. So war ich für die Russen ein unbeschriebenes Blatt, und das war sehr schön. Meine Frau und ich waren froh, dass der Krieg vorbei war und glücklich, dass wir noch lebten. Wir haben gesungen und selbstgeschriebene Theater­ stücke gespielt. Die meisten Nachbarn und Freunde waren irgendwie poli­ tisch belastet, der einzige, der das nicht war, war ich. Ich war nur im Jungvolk, da haben die Russen gesagt, das gilt nicht. Ich hatte bald nach dem Krieg Arbeit als Arzt im Gesundheitsamt in Nauen bei Potsdam. Wir mussten nicht hungern, weil meine Frau mit dem Direktor der Zuckerfabrik verwandt war. Außerdem bekam ich als Vertreter des Gesundheitsamts ein Haus, allerdings eines, in dem sich kurz zuvor Leute in der Badewanne das Leben genommen hatten. Das war normal.

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Dort wurde auch meine älteste Tochter geboren. Im Krieg dachten wir zu­ vor nur ans Sterben und Überleben und hielten es für wahrscheinlicher, dass nur meine Frau überleben würde. Deswegen wollten wir unbedingt ein Kind, damit ich in ihm weiterleben kann. Wir hatten Glück, dass wir so dachten, denn meine Frau ist während ihrer Schwangerschaft siebenmal vergewaltigt worden und hätte sonst vielleicht ein Russenkind gekriegt. Das hätten wir auch geschafft, die Lieblingstochter meines besten Freundes war auch ein Russenkind.

Annelise Pflugbeil * 03. Mai 1918 in Stettin Ich habe die Veränderung Stettins nach 1933 eigentlich ignoriert, das nicht allzu tragisch genommen, war doch alles Unsinn. Erst in der Oberschule kam der große Einbruch. Wir hatten einen fantasti­ schen Direktor, sehr klug und allwissend, der über Politik nie ein Wort sagte. Er wurde pensioniert und ein Nazi kam als neuer Direktor. Der wurde uns bald sehr herzlich verhasst. Ich glaube aber nicht, weil wir politisch damals so weitblickend waren. Man hatte das im Gefühl. Er hatte uns verboten, ei­ nen Weihnachtsbaum aufzustellen. Da waren wir sehr wütend, weil es uns wichtig war, dass es zu Weihnachten einen Weihnachtsbaum gab. Ich weiß noch, dass ich bedrängt wurde, in den BDM einzutreten. Fast alle Mädchen waren dabei. Da hieß es immer: Mensch, du bist nicht im BDM, komm doch mal mit! Diese ganzen Veranstaltungen waren für mich von einer derartigen Blödheit, dass es mir nicht beachtenswert erschien. Ich hatte so eine Abneigung in mir, nicht politischen Weitblick, ich habe das einfach nicht gemocht. Die Leiterin des BDM wollte einmal ein Orchester gründen und fragte uns alle, welche Instrumente wir spielen. Ich sagte, Klavier, sie sagte, nee. Das ist nicht zu gebrauchen. Ich solle Geige lernen. Ich dachte gar nicht daran, Geige zu lernen. Damit war für mich das ganze Kapitel BDM schon erledigt. Von nennenswerten politischen Kämpfen habe ich nichts mitbekommen, vielleicht, weil mich das überhaupt nicht interessierte. Unser Leben spielte sich normal ab, ohne dass man häufig über Politik redete. Mein Großvater war begeistert von Hitler und starb, bevor man wirklich merkte, was dahin­ ter stand. Meine Mutter war schnell für so etwas begeistert, fand das alles ganz frisch und munter, was da so passiert und meinte, es wäre auch Zeit, dass alles wieder vorwärts geht. Einmal nahm sie mich mit. Die Nazis machten Veranstaltungen, bei denen immer jemand eine Rede hielt. In dem Fall war das Goebbels, aber mir war das zu laut. Die gingen dann mit Büchsen rum und sammelten für die Kampfkasse. Als mein Vater davon erfuhr, hat er mit meiner Mutter geschimpft und ihr verboten, mich in die Hassatmosphäre mitzunehmen, wenn sie schon selbst gehen müsse. Das hat sie auch eingehalten. Mein Vater, der ja im ersten Krieg war, hatte mehr Gefühl für politische Stimmungen. Er hat damals gesagt, dass es Krieg gibt,

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wenn Hitler an die Macht kommt. Da haben wir geantwortet: Ach was, Krieg wird es nicht mehr geben. So was Blödes werden die Menschen doch nicht wieder machen! Ich habe darüber gelacht. Ich bin da aber ganz unty­ pisch. Es gab bestimmt nicht viele Leute, die dem so gleichgültig gegenüber gestanden haben wie ich. Mich interessierte vor Kriegsbeginn meine Welt, meine Musik, ich musste üben. Neben den Schularbeiten, die einfach waren, bin ich viel Rad gefahren, diese ganze Sache, die schob ich immer von mir. Politik hab ich erst im Krieg wahrgenommen, da blieb einem ja gar nichts anderes übrig. Zu Weihnachten während der Kriegszeit waren wir natürlich alle sehr traurig. Mein erster Mann, den ich 1938 geheiratet hatte, war im Krieg, mein Bruder auch, und mein Vater zum zweiten Mal. Wir Frauen saßen alleine und haben immer versucht, es uns so gemütlich wie möglich zu machen. Wir zogen alle zusammen, mit meiner Großmutter vier Generatio­ nen, denn damals war meine Monika schon geboren. Sie war unser einziges Weihnachtskind. Wir wussten bis kurz vor dem Ende nicht, ob wir nun fliehen mussten oder nicht. Man erfuhr doch nichts. Wir hatten eine provisorische Wohnung in Finkenwalde, weil das Wohnen in Stettin wegen der Bombenangriffe zu gefährlich wurde. Dort war auch die Kirchenmusikschule, an der ich unter­ richtete. Kurz bevor die Russen kamen, sind wir über die Oderbrücke. Zu dieser Zeit waren schon fast keine Deutschen mehr da, und wir waren ziemlich allein. Nach der Flucht war Stettin dann ja für uns verloren. Meine Tochter und meinen Vater hatte ich schon im März 1945 nach Vorpommern, nach Greifswald, gebracht. Ich sollte dort eine neue Kirchen­ musikschule aufbauen. Mit dem Handwagen bin ich losgezogen. Darauf standen mein kleines Cembalo und zwei Töpfe mit gekochten Preiselbeeren und Königsberger Klopsen.

Hildegard Leyden * 11. Dezember 1919 in Rostock Es wurde nie über den Weggang meines Vatis diskutiert, denn es war selbstverständlich, dass er gerettet werden musste. Die Misshandlung des jüdischen Intendanten in Breslau war Warnung genug. Es war auch klar, dass ich nicht mitkommen konnte, weil ich ja noch zur Schule ging. Und außerdem konnten wir uns damals gar nicht vorstellen, dass es so etwas wie einen Holocaust geben könnte. Meine Mutter und ich wurden eine gute Gemeinschaft, das mussten wir aber auch, denn nach 1933 bekam Mutti keine Anstellung mehr, weil sie „jüdisch versippt“ war. Wir erlebten eine schreckliche Zeit der Not und des Hungers. Mit dem bisschen Geld, das wir hatten, habe ich die Mutti oft bremsen müssen, damit sie nicht zu viel ausgibt. Sie konnte alles, nur nicht rechnen, also war ich unser Finanzminister. Sie war aus reichem Hause und war es lange gewöhnt gewesen, etwas auch einfach mal so ausgeben zu können, doch ihre Erbschaft ist der Inflation 1923 zum Opfer gefallen. In der Woche bekamen wir nur neun Mark, wovon viereinhalb auf die Miete entfielen, und nach Abzug von Strom und Kohle blieb kaum etwas übrig. Unser Leibgericht damals war Knoblauchsuppe – eine Brotschnitte mit heißem Wasser übergossen, etwas Butter rein und dazu zwei Knoblauch­ zehen. Ein normales Essen konnten wir uns nicht leisten. Unsere Situation hatte auch Auswirkungen auf die Attraktivität für unsere Gäste. Es kamen keine mehr. Auch meine Schulfreundinnen, die uns vorher so zahlreich und häufig besucht hatten, wechselten kein Wort mehr mit mir „Halbjüdin“. Einzig eine Freundin blieb mir noch. Doch eines Tages war ich sehr traurig, weil es ganz schrecklich für sie aussah. Ich habe als junges Mädchen gern Horoskope gemacht. Für diese Freundin standen die Planeten im zwölften und im dritten Haus, diese Beziehung bedeutete, dass sie lange Zeit in einem Gefängnis oder einem Krankenhaus sitzen wird. Dem armen Mädchen ist in Berlin mit 20 Jahren tatsächlich etwas Schlimmes passiert, ich weiß nicht, ob sie vergewaltigt worden ist. Sie ist durchgedreht und lebenslang in die Psychiatrie gekommen. Das konnte ich nicht glauben, ich hatte ihr das Horoskop nicht gezeigt. Ich habe auch ein positives Beispiel: Eine Schauspielerin am hiesigen Theater wurde durch den Krieg arbeitslos und hatte große Sorge, später wieder engagiert zu werden. Ihr Horoskop

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hatte eine gute Kunststellung und wurde vom Uranus, der unter anderem für Technik gilt, gut bestrahlt. So dachte ich an den Film. Aber dann ist sie Sprecherin beim Rundfunk geworden – das ist ja auch technisch. Ich machte Horoskope nur für gute Bekannte, eine Freundin meiner Mut­ ter hatte es mir beigebracht. Sie war auch Jüdin und konnte sich und ihren kleinen Sohn nach England retten, da war sie aus dem Weg, ihr Mann war „arisch“ und hat sie verlassen, natürlich. Die katholischen Schwestern, die mich auf der Klosterschule unterrichte­ ten, wurden von den Breslauer Nazis schikaniert und sogar bedroht, damit sie mich endlich von der Schule verweisen. Ein Jahr vor meinem Abitur musste ich tatsächlich die Schule verlassen. Meine Mutter war so weitsich­ tig, vorauszusehen, dass der Hitler sich mit dem Saarland und Tschechien nicht zufrieden geben wird, und vermutete einen baldigen Krieg im Osten. So beschloss sie 1938 mit mir in ihre Heimat, die Rhein-Neckar-Region, zu gehen, wo wir Verwandte hatten. Sie hat uns damit eine Flucht erspart. Es dauerte lange, bis ich einen Job fand. In Heidelberg war zuerst gar nichts zu machen, da waren sie sehr streng, in Mannheim hingegen trotz meines „Makels“ großzügig. Die hat es nicht gestört, dass ich nur „halb­ arisch“ bin, was man ja stets angeben musste. Die Mannheimer waren eher kommunistisch, Heidelberg war eher nazihaft. Dort waren mehr Gebildete, die dadurch abhängiger vom Staat waren und viel mehr unter der Knute standen. Ich schwärme deshalb noch heute von den Mannheimern. Natür­ lich habe ich nach den Pogromen überlegt, zu fliehen und meine Mutter und ich erkundigten uns ausführlich. Ich wollte nach England oder Kana­ da, es gab so einen Kindheitstraum von mir, einen gewissen „Lord Pap­ pendeckel“ zu heiraten. Aber das ist mir ja leider auch nicht geglückt, es gab keine Möglichkeit für uns, das Land zu verlassen. Dass kaum einer mit uns redete, war uns mit der Zeit wurscht. Wir kämpften ums Überle­ ben. Eines Tages hatte mich eine alte Dame aus dem Haus, nicht Partei­ mitglied, bei der Gestapo angezeigt, weil ich gesagt hatte, wenn ich nichts zu essen bekomme, kann ich auch nicht arbeiten. Ich wurde vernommen und hatte Herzklopfen, die Anwesenheit meiner Mutter als Beschützerin vor der Tür half mir, die Sache gekonnt abzustreiten. Nach gefühlt endlo­ ser Befragung ließ mich der Gestapo-Mann gehen. Er war offensichtlich keiner von den Hundertprozentigen. Er hat eine Halbjüdin wieder nach Hause gelassen! So konnte ich kurz vor Kriegsausbruch noch eine Woche nach Spanien fahren, um meinen Papa zu besuchen. Wäre der Krieg eher ausgebrochen, hätte ich in Spanien bleiben können. Der Franco hatte nichts gegen die Juden und war zwar auch schlimm, aber nur halb so schlimm wie der Hitler.



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Mein erster Gedanke bei Kriegsausbruch war natürlich: Hoffentlich ver­ liert er! Ich habe auch gleich an Napoleon gedacht, der sicherlich gescheiter war, und es trotzdem nicht geschafft hat. Mit dieser Hoffnung trösteten meine Mutter und ich uns und lauschten eifrig BBC. Jeden Tag mit drei Decken über dem Kopf. Natürlich hatten wir zu Beginn nicht mit solch schrecklichen Bombardierungen bis zur Befreiung gerechnet. Die Naiven haben dem Hitler geglaubt, dass kein Bomber über Deutschland kommen würde. Ha! Im Mannheimer Stadtteil Lindenhof sind eines Nachts im Win­ ter fast alle Häuser abgebrannt, denn das Löschwasser ist beim Löschen an den Häusern gefroren, das war unheimlich. Unser Haus stand wie durch ein Wunder noch. Die Amerikaner warfen zuerst Sprengbomben, die die Dächer der Häuser zerstörten und danach großflächig kleine Brandbomben, die sofort einen Großbrand auslösen konnten. Unser Nachbar, ein Eisenbahnbe­ amter, war so mutig, gleich nach dem ersten Bombenteppich aus dem Kel­ ler zu gehen und die Brandbomben, die die Amerikaner danach warfen, mit einem Sandsack zu löschen. Am Morgen danach gab es dann Suppe für alle im Hinterhof. Als die Bombenangriffe immer häufiger wurden, wollten wir raus aus der Stadt. Wir fanden durch unsere Mannheimer Nachbarn eine Wohnung in Fahrenbach im Odenwald. Doch der Ortsgruppenleiter verhinderte unseren Umzug mit den Worten: „Fahrenbach bleibt judenfrei!“ Den Odenwald kann ich deshalb bis heute nicht leiden. Meine Tanten boten uns in ihrer Wohnung in der Heidelberger Gaisbergstr. 68 schließlich ein Zimmer an. Diese Stadt schien uns sicherer zu sein und wir mussten keine Miete zahlen. Ich bekam durch das Mitleid einer Frau eine Anstellung, bei der ich zwar weniger verdiente als die Lehrlinge, aber das machte ja nichts. Wir sind durchgekommen. Meine Mutter musste im Krieg auch Notstands­ arbeit machen. Sie war schlau, zog sich ihr einziges schönes Kleid und ihre letzten Brillanten an und kam deshalb wenigstens in ein Büro und nicht in die Seifenfabrik ans Band. Wir warteten auf das Ende.

Gottfried Lemberg * 4. August 1925 in Chemnitz  † 16. Mai 2014 in Heidelberg Einen Monat bevor ich eingezogen wurde, starb mein Vater. Durch die Giftgasverletzungen aus dem Ersten Weltkrieg bekam er mehrmals hinter­ einander eine Lungenentzündung und konnte sie irgendwann nicht mehr wegstecken. Ich saß die ganze Zeit an seinem Sterbebett. Vier Wochen später musste ich mich zum Reichsarbeitsdienst in Süd­ frankreich einfinden. Ich wurde als Rettungsschwimmer eingesetzt, musste fünfmal in der Woche mit jedem Zug unserer Einheit ans Mittelmeer fahren und dort eine Stunde morgens und nachmittags aufpassen, dass keiner er­ trank. Den Rest der Zeit hatte ich frei und konnte machen, was ich wollte. Bei dieser Gelegenheit habe ich übrigens die süße Mirjam und ihre Mut­ ter kennengelernt. Mirjam und ich spielten zusammen Geige. Eines Tages klopfte ich wieder an ihre Tür, da rief mir eine Dame von gegenüber zu, dass man die beiden geholt habe. Sie waren Jüdinnen, wurden von den Vichy-Männern, dem französischen Kollaborationsregime, verschleppt. Danach kam ich direkt nach Russland, kutschiert im Viehwagen. Meine Familie hatte Tränen in den Augen, weil sie ahnte, dass von Russland keiner mehr wiederkommt. Das war nach Stalingrad 1943, die Rückwärtsbewegun­ gen waren schon im Gang. Ich muss klarstellen, dass ich niemals angegriffen, sondern nur das Land gegen die Russen verteidigt habe. Als ich an die Front geworfen wurde, gab es nichts mehr anzugreifen. Wir lagen in den Wäldern und es schallte zu uns rüber: „Deutsche Soldaten lauft zu uns über, werft die Waffen weg, mit uns habt ihr wöchentlich euren Geschlechtsverkehr!“ Das war die Original­ stimme von Ilja Ehrenburg. Dann haben diese Horden die Deutschen mas­ senweise massakriert. Ich kämpfte damals unter Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner. Wir sind hoch bis nach Kurland, dort habe ich dreieinhalb von sieben Schlach­ ten noch mitgemacht. Wir sangen damals nicht: „Wir sind die Niedersach­ sen, stolz, hart und erdverwachsen“, sondern, „wir sind die Kaffeesachsen, krumm, schief und ausgewachsen“. Der richtige Krieg begann für mich in Pleskau, wir waren 500 Mann, alle 18 Jahre alt, kamen direkt in den Ein­



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satz, weil der Russe durchgebrochen war. Das war ein fürchterlicher Pla­ nungsfehler der Deutschen, und wir kamen in den Kessel rein. Uns kamen nun 14 russische Panzer entgegen, die 500 Leute einfach niederwalzten, bis auf 21. Meinem Freund Canis, genannt der Hund, wurden die Beine abge­ quetscht, er saß auf meinem Schoß, war blutüberströmt, wurde langsam weiß, gelb und was weiß ich für Farben noch. Da hielt einer der Panzer nochmals auf uns zu, drehte aber genauso plötzlich wieder ab, weil er of­ fensichtlich das viele Blut sah und sein Benzin nicht mehr für uns ver­ schwenden wollte. So kam ich davon. Schön, nicht? Sie glauben erst wieder, dass sie leben, wenn Sie über die Leichen all derer gestiegen sind, mit denen Sie eben noch gesprochen haben, mit Canis habe ich immer Latein gesprochen, genau wie in Russland später mit russischen Ärzten. Ja. Ich war nicht weiter verletzt, da war nur Blut von Canis, gut ich hatte einen Bein­ schuss und so einen Kratzer. Ich stieg also über diese Leichen und wurde von zwei Russinnen, die ganz in der Nähe bei der Kirche wohnten, aufge­ nommen. Sie pflegten und fütterten mich, wuschen meine blutverschmierten Kleider. Sie haben mich versteckt, bis die deutschen Aufsammler mich entdeckten und sofort in ein anderes Bataillon steckten. Eine schöne Episode habe ich noch. Wir lagen in einer Fingerstellung, rings herum alles versumpft, man konnte nur auf dem Knüppeldamm lau­ fen. Dann kam ein Feldwebel mit seiner Strafgefangenenkompanie und trieb die jungen Kerle Richtung Sumpf, und ich brüllte noch: „Vorsicht, da liegen Minen!“ Da drehte sich der Feldwebel zu mir um und sagte: „Und, hast du auch was zu sagen?“ – „Ich denke schon“, erwiderte ich, „das sind unsere Leute“. Daraufhin nahm er die Pistole und schoss auf mich. Ich hatte keine Waffe in der Hand, aber eine Leuchtpistole auf der Brust, riss sie raus und schoss ihm in den Bauch. Wir konnten dann zuschauen, wie er leuchtete. Einer dieser Strafkompanieleute trat dabei auf eine Mine, dem riss es die Beine ab, und seine letzten Worte waren: „Mutter, aber meine Hände sind heil“, augenscheinlich war es ein Geiger, oder Pianist, wissen wir nicht. Ja, so sah das damals aus. Und jetzt kennen Sie auch den Zweck einer Straf­ kompanie, wer die Hosen voll hatte, musste Minen räumen. Das war eine Episode und viel besser waren die anderen auch nicht. Will ich jetzt aber nicht alles erzählen, das würde viel zu weit führen. Insgesamt war ich 112 Tage im Nahkampf, dabei ist man nicht immer auf Nahkampfweite Mann gegen Mann, es zählt ab Pistolenschussweite, das heißt etwa 30 Meter, dann wird es bereits für den Nahkampf gerechnet. Ab 50 Tagen gab es die Goldene Nahkampfspange, darüber hat der Schriftfüh­ rer Buch geführt und es weiter an die Oberste Heeresleitung gegeben. Das war die Anerkennung, die man bekam, wenn man sich einsetzte. Der Staat war sich immer bewusst, dass er die Leute, die sich für ihn opferten, auch entsprechend pflegen und behandeln muss. Er hat uns das Letzte abgefor­

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dert, es ist ja nichts von unserer Gesundheit übrig geblieben, aber man wurde immer geehrt. Und nun also Kurland. Sieben Mann waren wir und ein MG. Um uns lagen Tote aus diesen Schlachten. Wir hatten also endlos viele Munitions­ gurte für das MG 42, ich weiß nicht, ob Ihnen das etwas sagt, es gab auch das MG 34, das war langsamer, das MG 42 schoss 2.000 Schuss pro Mi­ nute raus, das kann man auch mit einem Arm bedienen, dafür müssen Sie es am Gestell nehmen und abdrücken, das reißt Sie natürlich hoch, aber wenn Sie kräftig gebaut sind, schaffen Sie das. Beim Nahkampf brauchen Sie das. Wir sieben haben den Hafen von Libau verteidigt, dort lagen alle Schwerverletzten und sollten auf das Lazarettschiff „Der Deutsche“ verla­ den werden. Die Russen wollten das verhindern und sie vorher noch töten. Wir haben also herausgeschossen, was wir noch hatten, Gurt nach Gurt, das streut natürlich, zwei von uns sind schon weggelaufen, ich hatte völlig verbrannte Hände, weil der Gurt glühend wird. Es war von allem alles da, weil die Toten es nicht mehr brauchten. Als alle Munition verschossen war, bin ich an der Mole entlang gelaufen, wohlgemerkt im Februar. Im Vertrau­ en auf meine Schwimmkünste, trotz der Verletzungen an den Beinen und der allgemeinen Ausgemergeltheit, bin ich ins Wasser gesprungen und kam schätzungsweise 50 Meter weit. Es war eiskalt, EISKALT, ich hatte mich vorher ausgezogen, hatte fast nichts an, bis aufs Unterhemd. Denn mir war bekannt, was passiert, wenn man in Uniform da reinspringt. Plötzlich pack­ ten mich feste Matrosenarme und zogen mich in das Beiboot eines U-Bootes, das auf uns letzte Leute noch gewartet hatte. Tapfer sind die Leute bis dort hinaus. Man legte mich wohl an die Rohrleitung, weil ich vor Kälte so schnatterte, ich weiß es aber nicht mehr genau. Das liegt nur im Halbbewusstsein. Ich wurde auf dem U-Boot-Stützpunkt Laboe ausge­ laden, in einen Lazarettzug verfrachtet und kam in meine Heimateinheit Paderborn-Neuhaus. Ich war dort, glaube ich, vier Stunden, bis unablässig die Sirenen gingen und die Engländer mit Luftminen angriffen. Luftminen haben die angenehme Eigenschaft, die Lungen zu zerreißen, die brauchen Sie gar nicht zu treffen, sie sind einfach kaputt. Meine Aufgabe bestand nun darin, etwa vierzig Kleinkinder, die im katholischen Kindergarten gewesen waren, in Stücken in kleine Margarinekisten zu sortieren. Je nach Einschät­ zung, was gehört ungefähr zusammen. Dann kamen wir zurück nach Paderborn-Neuhaus, meine Verbände wur­ den noch gewechselt, und danach kam der Katastropheneinsatz im Westen, der Amerikaner war durchgebrochen. Wir kamen bis nach Wormeln bei Warburg an der Weser, ich hatte fünf Mann bei mir, besaß selbst das MG, da fuhren endlose Reihen von amerikanischen Panzern auf, gleichzeitig lief die Infanterie im Zick-Zack ebenfalls auf uns zu. Wir sahen die von Weitem, wie aber sollte ich mit dem MG dahinschießen, wenn die Panzer doch



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schon da waren? Ich hatte das Gefühl, dass ich die Amerikaner nicht auf­ halten kann, mit einem MG und fünf Leuten. Wir schlugen uns dann durch die Wälder, durch die Ortschaften konnte man nicht mehr gehen, die waren besetzt, aber in den Wäldern musste man natürlich auch aufpassen, da lau­ erten freigelassene Kriegsgefangene, die die deutschen Soldaten jagten. Damals habe ich wahrscheinlich die Bezeichnung „Fuchs“ verdient gehabt, hellhörig und extrem wach. Wir sind durchgekommen bis Lonau im Harz, im Februar 1945, da war so ein Hügel mit Baumbestand, nicht sehr groß, aber immerhin groß genug, um einige Sicherheit zu bieten. Die Amerikaner umzingelten uns, aber direkter Beschuss war nicht möglich. Nachdem ich nun ein paar Schmerzen oder Todesschreie gehört hatte, rief ich auf Eng­ lisch: „I surrender, I surrender!“, und raste hinunter. Da musste ich nun etwas ganz Vortreffliches zu dem Amerikaner sagen, ein Leutnant Apolyte. Ich erzählte ihm sofort von unseren Verwandten in Montana und redete pausenlos auf ihn ein. Er drehte sich um, lief vor mir her, durch das Ge­ strüpp, ich hatte noch eine Pistole in der Jacke, habe sie natürlich ganz elegant rausfallen lassen, wenn der sich umgedreht hätte, wäre das auch ein schmähliches Ende geworden. Ich wurde im Lazarett als Sanitäter einge­ setzt, denn ich war für Medizin fernimmatrikuliert. Meine Mutter hatte mich in der Einsatzzeit mit meinem Bomben-Notabi in Leipzig für Medizin ein­ geschrieben. Nun, man gibt an, womit man angeben kann. Ich wurde dann im Sanitätsdienst verwendet, das war angenehmer, vor allem die Verpfle­ gung. Von da an ging es bergab, es ging nach Remagen. In Remagen lag ich im Hungerlager auf den Rheinwiesen, da war mal Gras gewesen, aber das war lang weg, wir lagen also im Lehm, mit den anderen, im nassen, kalten Lehm. Insgesamt waren wir ungefähr 300.000 Kriegsgefangene, darunter auch 12-jährige Jungs, die konnten ja auch schon schießen, oder 80-jährige Greise. Alle in Sommerkleidung ohne Unterlage bei Schnee und Regen im Lehm. Mit anderen Worten, ich muss dafür jetzt ein gewöhnliches Wort gebrauchen, die verreckten wie die Fliegen. Ein hundert Mann starkes Totengräberkommando ging pro Tag die Leichen verscharren. Acht Stunden arbeiteten die. Ich lag nur drei Wochen in dem Lager, immer umlagert von ganz jungen Kerlen, die sich an mir wärmten und ich mich an denen. Und da kamen nun drei oder fünf Amis mit durchgeladener MP und fragten, wer Englisch kann, na, wer wird sich da nicht melden? Ich hob den Arm und gab an, ich sei Medizinstudent, sofort kam ich ins Hauptlager. Dort musste ich den amerikanischen Pharmazeuten die Diagnosen der deut­ schen Ärzte übersetzen, der Job war nach zwei Monaten aber getan. So hat man mich freundlicherweise entlassen. Ich ging natürlich naheliegender Weise nicht nach Chemnitz zum Russen. Unter uns kursierte damals folgen­ der Witz: In einer Familie werden die jungen Frauen vergewaltigt, da wird

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die Oma hereingeführt, damit sie auch noch vergewaltigt werden kann, die jungen Frauen sind empört, sagen: „Aber nicht doch, das ist doch die Oma, die ist schon so alt!“. „Aber nicht doch“, sagt die Oma, „Krieg ist Krieg“. Ich ließ mich nach Wittlich in die Eifel entlassen, weil ein Kamerad Be­ kannte in dem Ort hatte. Dort erschien ich mit Amihose und Amihemd, und musste schauen, wie ich nun Geld verdiente, denn ich hatte niemanden mehr, der für mich sorgte. Meine Mutter sah ich erst 1975 wieder, als sie die DDR verlassen durfte. Ich ging ins Krankenhaus und wurde Nachttopf­ schwenker, assistierte dem Chefarzt sogar bei so manch einer Beinamputa­ tion. Dort waren auch sehr hübsche junge Damen, das kann man nicht verachten, schließlich hatte ich lange abstinent gelebt. Ich fühlte mich also sehr wohl und wäre gern geblieben. Eines Nachts um vier Uhr aber riss mir die junge Krankenschwester Maria, die ich sehr gern mochte, die Bettdecke weg und sagte:„Du musst sofort weg, die Franzosen kommen und stecken euch wieder ins Bergwerk!“ Na da hätten Sie mal einen springen sehen können. Ich wurde dann auf einem Milchwagen zwischen den Kannen untergebracht, und eine Plane wurde schnell drüber drapiert. Maria setzte sich neben den Kutscher auf den Bock, und als wir in die Nähe dieser französischen Sperren kamen, setzte sie sich so hin, dass die Franzosen in ihren Himmel gucken konnten, wink­ te ihnen zu und sagte, „ich komme gleich wieder“. Da haben sie uns durch­ gewinkt, und so kam ich in die Freiheit. Maria sah ich nie wieder und der Krieg hat bis heute nicht aufgehört.

Hildegard Juhl * 10.  Juni 1926 in Danzig / Langfuhr Anfangs war der Krieg ein Abenteuer. Ob man dabei erschossen wird, das war egal. Wir sind auf die Straße gelaufen, am 2. September, da kamen schon die ersten Deutschen von der Front, ganz elend, müde und abgeris­ sen. Die Frauen haben Kaffee und Brote gemacht. Unsere Soldaten erzähl­ ten, dass die polnischen Panzer in die Stadt eingedrungen und schon bis zur Seestraße vorgestoßen seien. Das ging alles sehr schnell, nach drei oder vier Tagen war der Krieg ganz woanders. Jahrelang gab es nicht einmal Angrif­ fe. Den Hafen haben sie wohl mal bombardiert, das war es aber auch, ein paar zerschossene Häuser im Hafen, das fand ich schon dramatisch. Bis zum Kriegsende ist Danzig heil geblieben. Mutter war Luftschutzwart. In jedem Keller musste ein Luftschutzraum eingerichtet und alle Dachböden entrümpelt werden, was sehr lästig war, denn die Leute hatten dort doch allerhand Krempel, Feuerpatsche und Was­ sereimer mussten immer bereit stehen. Damals ging es ja um die Brand­ bomben. In der Schule haben wir geübt, wie man sie schnell findet, behan­ delt und rausschmeißt. Der Krieg bedeutete in erster Linie Knappheit, Lebensmittelknappheit und Heizmaterialknappheit. Mutter hat mir die Zuständigkeit für die Le­ bensmittelkarten übertragen. Jeden Morgen las ich in der Zeitung, was es auf bestimmte Nummern gibt, bin auf den Wochenmarkt gelaufen und musste stundenlang Schlange stehen. Um mir die Zeit zu vertreiben, sagte ich gebildetes Mädchen in der Schlange Balladen auf. Zu essen gab es anfangs noch viel zu viel. Wir mussten zum Beispiel nun immerzu Butter essen, obwohl Mutter vor dem Krieg Margarine bevorzugt hat. Irgendwann gab es kein Obst mehr, aber Kartoffeln und Gemüse waren immer da. Schlimmer war es nachher mit den Kohlen, wir hatten ja Kachelöfen. Im Winter wurden die Briketts in Zeitungspapier eingewickelt, damit sich die Glut über Nacht hielt. Kürzlich habe ich eine Fernsehsendung über Zwangsarbeiter gesehen. Es ging um ein polnisches Mädchen, das während des Krieges im Haushalt einer deutschen Familie arbeiten musste. So ein Mädchen hatten wir auch, Nina, aber das Wort Zwangsarbeiter ist nicht gefallen. Wir hielten das für ganz normal. Ich erinnere mich nur, dass Vater gesagt hat, jetzt gibt es ein

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Polenmädchen, das im Haushalt helfen kann. Sie hat das Zimmer meines Bruders gekriegt, und Mutter hat ihr sogar meinen Vogelkäfig ins Zimmer gestellt und einen Nestling hineingesetzt. Das fand ich ganz schrecklich, das war doch meiner, ich habe furchtbar geweint. Mutter tat es leid, dass ich Nina den Käfig nicht gönnte und Vater hat mich furchtbar zusammengedon­ nert. Zwangsarbeiter, was soll man dazu sagen? Meine Eltern haben die Gelegenheit ergriffen, wo man Hilfe kriegt, da nimmt man sie. Nach einem halben Jahr hatte Nina Urlaub. Mutter hat ihr ein schönes Kleid aus unseren Beständen genäht, aber sie ist nicht wiedergekommen, da hat Mutter über den Verlust des schönen Kleides geklagt. Nina hatte es nicht schlecht, aber sie war unfrei. Es trifft mich, dass wir uns an dieser Zwangsarbeiterausbeu­ tung beteiligt haben, ich dachte immer, wir wären ganz harmlos gewesen. 1944 musste ich zum Reichsarbeitsdienst in den östlichsten Teil des Warthegaus, Kreis Lipnow. Das war die Gegend, die während der Dreitei­ lung Polens zu Russland gehört hatte. Das Lager war in einem polnischen Kloster in Skempe eingerichtet worden. Dieses Kloster mit seiner weißen Madonna war nach Tschenstochau der zweitwichtigste Wallfahrtsort der Polen. Als ich ankam, war die Kirche schon geschändet, total verwüstet. Vor dem Eingang hatten sie das riesige barocke Kruzifix angelehnt, jeden Tag versorgten treue Polen es mit frischen Blumen in der Hand. Wenn meine Führerin SS-Offiziere zu Besuch hatte, dann amüsierten sie sich und schos­ sen auf die Figuren in der Kirche, am liebsten auf das Herz Jesu. Ich war im Küchendienst. Einmal sollte ich aus der Krypta Holz für unseren Herd besorgen. Ich habe mich furchtbar erschrocken, denn alle Sarkophage waren aufgebrochen, die Gerippe lagen frei herum. Das Jung­ volklager nebenan hat nachts eine Gruselwanderung durch die Krypta mit den Gerippen veranstaltet. Auf den Schädeln standen Kerzen. Man kann sagen, so erzieht man menschliche Härte. An einem Sonntag bin ich auf die Empore gestiegen, dort lagen noch die Liederbücher in den Bänken. Schwärmerisch wie ich war, rief ich die latei­ nischen Texte laut in die Kirche hinein. Aber aufgelehnt habe ich mich gegen diese Verbrechen nicht. Ich dachte, wenn ich hier nicht heil rauskom­ me, darf ich nicht studieren. Andere Sorgen hatte ich nicht! Nach dem Krieg war ich oft dort, einmal war der Feiertag der weißen Madonna. Da standen um die Kirche herum jede Menge Bauern mit ihren prächtig geschmückten Pferdewagen. Das Kruzifix war wieder aufgerichtet und die Gerippe feierlich bestattet. Später wurden wir Arbeitsmaiden aufs Land verteilt, zunächst als Haus­ haltshilfen auf Höfen, die den Polen weggenommen wurden. Überall arbei­ teten die früheren polnischen Besitzer als Knechte. Mit denen durften wir



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kostbaren Reichsdeutschen nicht am Tisch sitzen, die sollten an den Katzen­ tisch, aber daran hat sich niemand gehalten, also kam ich an den Katzen­ tisch. Unser Bauernhof ist einmal überfallen worden, wahrscheinlich von den früheren Besitzern. Natürlich lebten wir dort in ständiger Angst vor polnischen Partisanen. Ohne jegliche Ausbildung unterrichtete ich dann an einer winzigen Schule siebzehn „volksdeutsche“ Kinder. Im Spätsommer 1944 wurde ich von ihren Müttern zum Essen eingeladen, sie wollten wis­ sen, was sie auf die Flucht mitnehmen müssten. Ich war in einem Konflikt, das war ja defätistisch, die durften nicht fliehen. Darum sind sie auch alle zu spät geflohen. Ganz plötzlich war eines Nachts Probelarm, aufstehen und in Windeseile packen. Wir kriegten Fahrräder, mit denen wir nachts durch den Wald Fliehen geübt haben. Dann ist Mutter zu Besuch gekommen, um mir zu erklären, wie ich ohne Karte und Kompass die richtige Himmelsrich­ tung finde, woran ich erkenne, dass Westen ist. Zurück in Danzig wurde ich zum Kriegsdienst verpflichtet und in der mathematischen Abteilung der Torpedoversuchsanstalt Oxhöft (TVA) an der Danziger Bucht eingesetzt. Ich habe Torpedokurse und Torpedogeschwin­ digkeiten berechnet und alle zwei Wochen meine Familie besucht. In diesem Winter sagten alle, die Rote Armee kommt, nur die Partei behauptete, sie komme nicht. Mutter war ganz ratlos, hat einen Brief an Vater geschrieben: Was sollen wir bloß machen, wir haben doch die Kaninchen und die Hüh­ ner, unsere schöne Wohnung. Vater antwortete per Telegramm, weil doch alle Briefe kontrolliert wurden: Aufnahme bei den Großeltern jederzeit ga­ rantiert. Mutter fühlte sich trotzdem von ihm allein gelassen. Mein kleiner Bruder Hans war 14 und mit Feuer und Flamme in der HJ. Das war doch auch schön für die Jungs, da konnten sie hören, dass sie Deutschlands Zukunft seien. Er wollte mit seinem besten Freund und unse­ rem Luftgewehr losziehen, sich von der Front überrollen lassen und als Partisan gegen die Russen kämpfen. Gerade die Kinder hatten sie fanatisiert. Wenn ich heute Bilder von Kindersoldaten in Afrika sehe, weiß ich genau wie mein Bruder war. Kindersoldaten gibt man Maschinenpistolen, das verstehe ich sehr gut. Nach dem Krieg hat sein Freund eine Karte an ihn geschrieben, er hätte das Luftgewehr zurückgebracht. Da war mein Bruder schon nicht mehr am Leben. Warum sind sie bloß auf die „Gustloff“ und nicht auf ein anderes Schiff, warum nicht an einem anderen Tag? Ich war den ganzen Januar 1945 über zu Hause bei Mutter und meinen Geschwistern, weil ich die Gelbsucht hatte. So konnte ich sie alle noch einen ganzen Monat erleben. Mutter ist Ende Januar nach Danzig gefahren, um meine Entlassung aus dem Reichsarbeitsdienst zu besorgen. Da war totales Chaos, die Behörde war praktisch aufgelöst. Bloß eine Führerin war noch da, die sofort unterschrieb. Mit dem Papier bin ich zur TVA gefahren,

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auch da wurde schon hastig gepackt und gesagt, ich solle unbedingt mit ihnen kommen, um nicht in den russischen Kessel zu geraten. Ich wollte nicht, habe noch groß vorgetragen von Heimattreue, vom Anspruch den Osten zu bewahren. Trotzdem bekam ich Fahrkarten, für mich auf dem Torpedoboot und für Mutter und die Geschwister auf der Gustloff. Damit bin ich nach Hause. Mutter hat sich gefreut, das schöne Schiff! Wir kannten die Gustloff doch, sie lag als Wohn- und Schulschiff für die Kadetten schon lange in Gotenhafen vor Anker, war mein Alltagsbild. Jeden Tag, wenn ich zur TVA fuhr, musste ich an diesem großen, schönen Schiff vorbei. Am 29. Januar sind sie an Bord gegangen. Mutter hat eine große Seekis­ te gepackt mit Winterkleidung und einem fest verschnürten Topf mit zwei von unseren Hühnern, das war die Marschverpflegung. Ganz früh morgens zogen wir durch den dicken Schnee mit der Seekiste auf unserem Rodel­ schlitten los. Mutter ist noch einmal stehengeblieben, hat sich umgedreht und hoch zu unserer Wohnung geguckt, das fand ich kitschig. Ich habe die Emotion verstanden und abgelehnt, fand es sowieso unsinnig zu fliehen, alles ein bisschen übertrieben. Heute drehe ich mich jeden Tag zu unserer Wohnung auf dem Foto über meinem Bett um. Als wir am Rathaus vorbeiliefen, kam schon Fliegeralarm. Der Bahnsteig am Zoppoter Bahnhof war völlig überfüllt, in den ersten Zug sind wir nicht reingekommen. Irgendwie haben wir es dann geschafft, uns in den nächsten zu quetschen. Kaum waren wir drin, wollten andere auch noch rein, aber ich fand, der Zug wäre jetzt voll. Ich selbst wollte unbedingt rein, danach aber niemanden mehr reinlassen. Dafür schäme ich mich oft. Dieser Vorort­ zug fuhr nach Gdingen, das Naziwort sagen wir jetzt gar nicht. Mutter hat zu meinem Bruder gesagt, schreib noch eine Postkarte an Vater. Mein Bru­ der schrieb, wir fahren mit einem großen Schiff, Schneeflocken fielen auf die frische Tinte. Auf der Straße runter zum Hafen liefen ganz viele Leute mit ganz vielen Schlitten, lauter Menschen, die zur Gustloff wollten, da brauchte keiner fragen, wo es langgeht. Vor der hohen, grauen Schiffswand war eine Gang­ way aufgebaut, da musste man hoch. Ich habe die Seekiste an Bord gehievt, aber was nun mit dem Schlitten? Der musste stehenbleiben, auf dem Kai standen tausende Schlitten und Kinderwagen. Sie sind die Gangway rauf und ich habe gerufen, Mutter, wir müssen uns doch noch verabschieden. Sie drehte sich um: Warum kommst du denn nur nicht mit? Ich kam mir so groß und erwachsen vor, fahre doch nicht mehr mit Mutter und den Klei­ nen. Wir sehen uns ja wieder. Die Rote Armee kommt ja sowieso nicht bis hier. Das ist ja bloß zur Sicherheit. Naja, rauf und dann waren sie weg. Vor der Gustloff war viel Gedränge, mittendrin entdeckte ich die Familie von Prof. Graf, der meine Abteilung der TVA geleitet hatte, seine Frau mit



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den drei kleinen Kindern, das kleinste Mädchen erst eine Woche alt. Ich bin mit meinem Koffer voller Bücher zur TVA in Oxhöft, noch am selben Tag hat unser Torpedoboot abgelegt. Wir sind an der Gustloff vorbei gefahren. Noch immer stiegen Menschen die Gangway hinauf. Fünf Tage waren wir auf der Ostsee, immer in Küstennähe, verdunkelt, mit langen Pausen wegen der U-Boote. Die sind ja wie die Haie und der Marinesko auf seinem U-Boot S13 flitzte überall herum. Die ganze Strecke war von Seeminen verseucht. Am 30. Januar kam die große Radiogeschichte, Hitlers Rede zum zwölften Jahrestag dröhnte durch alle Gänge. Was Mutter da wohl gedacht hat? Es gab Erbsensuppe an Bord, auch auf der Gustloff gab es Erbsensup­ pe. Das ist die Massenverpflegung für das Militär. Unsere Kadetten hatten keine Schlafmöglichkeit, dämmerten auf den Treppen und in den Nieder­ gängen vor sich hin. Ich war mit den anderen Mädchen in einem Salon, wie die Heringe lagen wir aneinander. Mutter, Deike und Hans sind ja an Deck gewesen, als Marineskos Torpedo sie traf. Isolde Faltin hat gesehen, wie sie ganz dicht an ein Rettungsboot herangekommen waren und dann doch ab­ gedrängt wurden. Angeblich standen sie ganz ruhig da. Als wir endlich nach Flensburg kamen, wurden wir in der Marineschule in Mürwik untergebracht. Morgens im Waschraum hörte ich, wie die ande­ ren flüsterten, die Gustloff sei untergegangen, aber als ich nachfragte, haben sie es abgestritten: „Nein, überhaupt nicht, ach iwo.“ Die waren alle feige, hätten ja sagen können, ja das stimmt, aber das taten sie nicht. Ich ging zu unseren Verwandten nach Apenrade im dänischen Nordsch­ leswig, mein Vater war ja schon dort. Allmählich hat sich die Gewissheit verfestigt, aber immer mit dieser Unsicherheit, es kann ja sein, dass es doch nicht stimmt. Die erste Gelegenheit, bei der ich es aussprechen musste, war beim Einkaufen, es ging um ein halbes Pfund Zucker. Die Verkäuferin frag­ te gereizt, für wen ich denn ein halbes Pfund Zucker brauche, wo denn meine Familie sei? Da habe ich es das erste Mal gesagt. Das Schreckliche ist, dass drei Wochen nach dem Unglück die Postkarte ankam. Ich habe sie gleich erkannt, die Schneeflocken hatten die Schrift meines kleinen Bruders verwischt: Wir fahren mit einem großen Schiff. Als ich abends nach Hause kam, schmiss mir mein Vater die Karte entgegen. Er hat gedacht, sie leben doch, sie schreiben ja. Daran sehe ich, wie verzwei­ felt er war, damit wurde er überhaupt nicht fertig. Das war ein Erdbeben für ihn, ich habe selbst erlebt was ein Erdbeben ist, später in Chile. In mir war alles dumpf, ich war gelähmt.

Hans-Wilhelm von Bornstaedt * 25.  Februar 1928 in Relzow / Vorpommern Kurz vor dem Krieg gab es in unserem Gutshaus eine große Konferenz. Es wurde erwogen, das nördliche Peene-Ufer einzudeichen, um zur Sicher­ stellung der Ernährung der Bevölkerung zusätzliches Weideland zu schaffen. So viele Autos auf dem Gutshof hatte ich noch nicht gesehen, viele hoch­ rangige Leute waren gekommen. Die Absicht einzudeichen ist aber nie verwirklicht worden. Meine nächste Erinnerung ist, wie es in Relzow zuging, als der Krieg begann. Wir hatten eine große Rasenfläche vor dem Gutshaus. Eines Tages wurden dort viele behördlich eingezogene Privatautos abgestellt. Wir Jungs guckten, welche nicht abgeschlossen waren, sind hinein geklettert und ha­ ben darin gespielt. Nach einigen Tagen kam eine Kommission des Militärs auf den Hof. Die Gespannführer mussten mit ihren Pferde-Gespannen neben den Autos antreten. Schließlich wurden die vier besten Pferde, der einzige unverheiratete Gespannführer und der neueste vom Stellmacher selbst ge­ baute Kastenwagen eingezogen. Das war die Transportkapazität der Wehr­ macht. Im Krieg habe ich ertrotzt, dass ich nach dem Abendbrot noch die 20-Uhr-Nachrichten hören durfte, damit ich am nächsten Tag in der Schule Bescheid wusste. Ich bin noch nach alter Art erzogen worden. Das hieß: Spätestens um 18 Uhr zu Hause sein, baden, Schlafanzug und Trainingsan­ zug anziehen und pünktlich um 19 Uhr hinter dem Stuhl stehen, bevor dann mit der Familie Abendbrot gegessen wurde. Ich hatte ein Radio am Bett, habe aber nie „Feindsender“ gehört, weil ich wusste, dass das nicht klug war. Unser Geschichtslehrer war Kreispropagandaleiter. Ich hätte nicht si­ cher vermeiden können, dass ich irgendwann einmal aus Versehen Aufge­ schnapptes herausplapperte. Im Herbst 1943 kam der erste große Luftangriff auf Anklam. Ich war in den Herbst-Kartoffelferien auf dem Gut gerade dabei, Saatkartoffeln und Esskartoffeln mit der Maschine zu sortieren. Auf einmal flog ein großer Bomberstrom über uns und schon hörten wir fürchterliche Detonationen. Ich dachte, jetzt liegt der ganze Gutshof in Trümmern. Das war aber vier Kilo­ meter weiter in Anklam. Ich bin losgerannt und habe zur Stadt geguckt, ein einziges Rauchmeer! Sofort fiel mir ein, dass meine Mutter mit dem Stief­



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vater in der Stadt war. Als es losging, war sie gerade bei der Friseuse. Mit dem Handtuch über dem nassen Kopf ist sie aus dem Haus gestürzt und ins Nachbarhaus in den Keller der Pommernbank gerannt. Als sie wieder heraus kam, war dort, wo vorher der Friseurladen gewesen war, nur noch ein Bom­ bentrichter. Der Stiefvater hatte sein eingespanntes Pferd an ein Straßen­ schild gebunden. Das arme Pferd hat während des Angriffs vor Furcht das Schild mit dem Betonklotz aus dem Boden gerissen und es beinahe hundert Meter weggeschleift. Als wir ein paar Tage darauf wieder zur Schule gin­ gen, hat ein alter Lehrer sich zu sagen getraut: Wenn Anklam hier schon so angegriffen werden kann, dann steht es wohl nicht so gut mit uns! Wenn das einer gehört hätte, wäre er im KZ gelandet. Im Januar 1944 wurde ich als Luftwaffenhelfer zur Flak nach Peenemün­ de auf der Insel Usedom eingezogen. Da war ich noch keine 16 Jahre alt. Die Haltung und die Gefühle von uns Jungen im Dienst an der Waffe lohnt sich heute nicht zu beschreiben, sie können nicht mehr verstanden werden. Die Heeresversuchanstalt Peenemünde war so geheim, dass ein Sperrgebiet mit sieben voneinander getrennten Zonen eingerichtet war. Wir durften zu unserer Flakbatterie nur durch zwei Zonen, alle anderen waren tabu. Später wurde ich zu der Flakbatterie auf der kleinen Insel Ruden versetzt, die der Insel Usedom vorgelagert ist. Von dort aus konnten wir die Starts der „Wunderwaffen“ beobachten. Die schließlich V1 und V2 genannten Flug­ körper und Raketen zu sehen und zu hören war überwältigend. Eine Welt­ premiere. Wir sahen aber auch schlimme Fehlstarts. Am 1. Januar 1945 wurde ich wehrdienstfähig und folglich aus dem Dienst bei der Flak als Luftwaffenoberhelfer entlassen. Und jetzt ein Kurio­ sum: Das Deutsche Reich in größter Not hat im Januar 1945 von meiner Entlassung aus der Flak bis zu der Einberufung in den Wehrdienst einen ganzen Monat gebraucht. In diesem Monat war ich zu Hause, saß auf mei­ nem Pferd, bin durch Wald und Feld geritten und zur Jagd gegangen. So ist das! So unvollkommen war selbst ein Deutsches Reich. Als unsere militärische Grundausbildung auf der Insel Usedom zu Ende war, mussten wir auf dem Appellplatz in großer Formation antreten. Unser Kommandeur, vor dem wir große Hochachtung hatten, sagte in seiner An­ sprache: Im kommenden Jahr schießt sich das Reich mit den Wunderwaf­ fen frei und dann seid ihr die frisch aufgestellten Divisionen, die den Er­ folg gewährleisten! Und weiter, nicht mit diesen Worten, aber so von uns verstanden: Damit ihr jetzt nicht verheizt werdet, fahren wir alle west­ wärts. Wer mit welcher Motivation diese Weisung gegeben hat, habe ich nie erfahren. Auf dem Truppentransport per Güterwagen, von Zinnowitz auf der Insel Usedom in ein Barackenlager im Moor des Niederelbegebietes, fing mein

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Bauch an zu jucken. Unser Sanitäter, dem ich das meldete, sagte nur: „Bleib mir vom Leib, du hast Scharlach!“. Scharlach galt zu der Zeit noch als schlimme Krankheit mit sechs Wochen Quarantäne. Am nächsten Mor­ gen kam ich hinten auf den Lastwagen, der in Cuxhaven Verpflegung ab­ holen sollte. Der Fahrer bekam die Anweisung: „Sieh zu, wo du ihn los­ wirst!“. So landete ich im Marinelazarett in Cuxhaven. Das war für mich, der aus dem Stroh des Eisenbahnwagens kam, wie ein First-Class-Hotel. Bei einem nächtlichen Bombenangriff wurde unser Lazarett so beschädigt, dass wir in ein ehemaliges Kinderheim im Nordseebad Duhnen verlegt wurden. Eigentlich lag man damals mit Scharlach sechs Wochen, aber nach fünf Wochen wurden wir schon rausgeschmissen, weil noch viele Schwerverwundete kamen. Wir wussten nicht, wo unsere Einheit war, es war der 28. April. Aber, dass wir uns „verpisst“ hätten, das war für uns aus Ehrgefühl undenkbar. Hätte man uns erwischt, wären wir als Fahnen­ flüchtige am nächsten Straßenbaum aufgehängt worden, und wir hätten das für richtig gehalten. Wir sind also selbstverständlich zur nächsten territorialen Wehrmachts­ dienststelle gegangen. Da saß ein 25-jähriger kriegsbeschädigter Feldwebel, dem ein Bein fehlte. Er musterte uns von oben bis unten und bemerkte la­ konisch: „Jungs, in 14 Tagen ist der Krieg zu Ende. Seht zu, dass ihr mit heilen Knochen rauskommt. Ich schick euch noch mal zum Doktor, der gibt euch 14 Tage Genesungsurlaub. Dann ist die Sache gelaufen!“ Uns ist erst später klar geworden, was der riskiert hat. Der Krieg endete für mich damit, dass ich bei herrlichem Sonnenschein am 8. Mai 1945 dahin ging, wo ich allein war, um mir über meine Situati­ on klar zu werden. Bis gestern war ich ein pommerscher Rittergutsbesitzer mit 1000 Hektar landwirtschaftlichem Großbetrieb und jetzt habe ich eine verschlissene Uniform, zwei verschiedene Schuhe, 30 Reichsmark im Porte­ monnaie und weiß nicht, was ich am nächsten Tag essen soll. Ich hatte je­ doch keinen Zweifel daran, dass ich das Leben bewältigen würde. Nur wie, das wusste ich noch nicht. Ich war 17 Jahre alt und setzte mir an diesem Tag zwei Ziele. Ziel Nummer eins: Ich trete jetzt unter der Goebbels’schen Propagandadusche hervor. Nun will ich wissen, was auf der Welt wirklich passiert und wie sie regiert wird. Ziel Nummer zwei: Jetzt abgestürzt auf Null, muss und werde ich alles dafür tun, die soziale Ebene, in die ich hi­ neingeboren bin, annähernd wieder zu erreichen. Nach Hause zurückkehren konnte ich nicht. Meine Mutter hatte mich mit den Worten entlassen: „Wenn du das unverschämte Glück hast, dass du in westliche Kriegsgefangenschaft gerätst, komm mir nicht nach Hause, wenn hier die Russen sind.“ Sie wusste, dass unter Kommunisten Gutsbesitzer in äußerste Lebensgefahr geraten. Viele, die nicht geflohen sind, wurden „ab­



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geholt“, kamen in das Straflager „Fünfeichen“ bei Neubrandenburg, und sind dort fast alle umgekommen. Als die Ausgangsbeschränkung der ersten Tage der Besatzungszeit zu Ende war, habe ich Zivilkleidung angezogen, auf meinem Jagdschein die Hakenkreuze übermalt und bin auf das Rathaus in Cuxhaven gegangen. Dort sagte ich: „Ich bin ein armer Flüchtlingsjunge, habe mit dem Militär nie etwas zu tun gehabt, hier auf dem Jagdschein ist meine Identität zwei­ felsfrei ersichtlich und Arbeit beim Bauern habe ich schon. Ich brauche einen Personalausweis und die Lebensmittelkarte.“ Ich hatte ein brennendes Interesse, schnellstmöglich unterzutauchen, denn die englischen Besatzer riefen „die Versprengten“ immer wieder dazu auf, sich im Gefangenenlager einzufinden. Es gab aber das Gerücht, dass die Franzosen junge gesunde Kriegsgefangene für den Arbeitseinsatz in Berg­ werken und auf Bauernhöfen angefordert hatten. Beidem und überhaupt der Kriegsgefangenschaft wollte ich mich möglichst entziehen. Ich bin anstelle des im Krieg gebliebenen Bauern zweieinhalb Jahre Bau­ ernknecht in Duhnen bei Cuxhaven gewesen. So war ich jeden Tag hervor­ ragend satt, während Deutschland gehungert hat. Die körperliche Arbeit war sehr schwer, aber ich bin noch heute stolz darauf, dass ich als Gutsbesitzer­ sohn, sportlich trainiert, drei Ernten gepflügt, gesät, gedüngt, gemäht, ein­ gefahren und gedroschen habe. Die Sprache auf dem Bauernhof war Platt­ deutsch. Das konnte ich. Mein Vater hat mit unseren Mitarbeitern auf dem Gut Platt gesprochen. Der alte Bauer in Duhnen sagte einmal zu mir: „Das’ nich’ schlimm, dass Sie Ihren Hof verloren haben. Bald gibt’s wieder ’nen Reiterball. Da sind so viele Höfe, deren Jungs nicht wiedergekommen sind. Dann haben Sie bald wieder einen.“ Dagegen sprach zweierlei. Ich wollte erstens nicht auf einem für meine Begriffe relativ kleinen Hof nur der Prinzgemahl sein und zweitens hatte ich ein Mädchen kennengelernt, das keinen Hof im Nacken hatte. Wir haben inzwischen unseren 61. Hochzeits­ tag gefeiert und sind jetzt sechsfache Urgroßeltern.

Johannes Runge * 9.  Juli 1928 in Schmatzin / Pommern Im Jungvolk kamen wir einmal in der Woche zusammen, lernten das Marschieren, machten Geländespiele und mehrtägige Fahrten. Wir über­ nachteten in landwirtschaftlichen Scheunen, die, mit Stroh ausgelegt, gute Schlafplätze für uns Jungs boten. Ich machte bei all dem gerne mit und wurde Jungvolkführer. Im Sommer 1943 wurde ich deshalb für etwa drei Monate von der Schule freigestellt, um mich auf Rügen um die Freizeitge­ staltung von Oberschülern aus Stettin zu kümmern. Vier Schulklassen wur­ den im Rahmen der Kinderlandverschickung aus Schutz vor den Luftangrif­ fen in einem Hotel in Binz untergebracht. Das war für mich zunächst nicht ganz einfach, weil mir die großen Schüler zugeteilt wurden, die noch älter waren als ich. Respekt hatten sie anfangs überhaupt keinen, bis ich mit ihnen das erste Mal Handball spielte und dabei wohl Eindruck auf sie machte. Ich habe bei dieser Tätigkeit sehr viel gelernt und meine Rolle offensichtlich gut ausgeführt, denn als ich Rügen verließ, hatten die meisten Schüler Tränen in den Augen. Als Jungvolkführer sollte ich einmal auch ein Geschenk des „HJ-Gebietes Pommern“ in Greifswald für ein Mitglied der oberen Ebene der Reichsju­ gendführung abholen, um es ihm anschließend in Berlin zu überreichen. Pommern schenkte Räucheraal. Ich wurde in Berlin nicht direkt vorgelassen, gab das Geschenk im Vorzimmer ab, bekam aber immerhin in der Kantine etwas zu essen. Mein erstes einschneidendes Kriegserlebnis war die Bombardierung von Anklam am 9. Oktober 1943, am helllichten Tag. Da ich in Binz keinen Schulunterricht hatte, musste ich in den Herbstferien den Stoff in Anklam nachholen. Am Tag der Bombardierung hatte ich eine Stunde eher frei und konnte mit dem Milchwagen schon früher nach Hause fahren. Der Bomben­ abwurf ging los, als wir gerade aus der Stadt raus waren. An diesem Tag war Markttag und die Anklamer rechneten überhaupt nicht damit, dass die Bomben diesmal für sie bestimmt waren. Sie galten den dortigen AradoFlugzeugwerken, trafen aber auch die Altstadt, sodass rund vierhundert Tote zu beklagen waren. Ich erinnere mich noch an die Kondensstreifen der Bomberverbände am strahlend blauen Himmel über mir.



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Kurz darauf wurde ich gemeinsam mit der gesamten Schulklasse zu einer Flak-Batterie nach Karlshagen eingezogen, die zum Schutz der Heeresver­ suchsanstalt in Peenemünde dort stationiert war. Wir bekamen weiterhin Schulunterricht von den Lehrern und wurden an 8,8 cm Flak-Geschützen für verschiedene Aufgabenbereiche eingeteilt. Einige Mitschüler standen an den Messgeräten und gaben uns an den Geschützen die Werte durch, die wir einstellen mussten, damit wir die angreifenden Flugzeuge annähernd treffen konnten. Einmal wurden wir für mehrere Wochen auf die vorgelagerte Insel Ruden versetzt, wo wir mit dem Flakfernrohr unglaublich gute Blicke auf die Abschussstelle der V2 hatten. Zu sehen, wie diese Raketen zu Übungs­ zwecken mit Feuerschweif in Richtung Danziger Bucht in die Höhe gingen, war ein Erlebnis. Ich verhehle nicht, dass ich den angeforderten Waffenein­ satz an der Heimatfront als Jüngling von 16 Jahren auch mit Stolz geleistet habe. Wir waren eben noch keine Erwachsenen, die schon ein ausgereiftes Weltbild hatten. Zu Weihnachten 1944 wurden wir zunächst noch einmal nach Hause geschickt. Am späten Heiligabend kam ich überraschend in Schmatzin an. Die Freude für uns alle war groß. Wir konnten nicht voraussehen, dass es das letzte gemeinsame Weihnachtsfest sein würde. Ich erinnere mich sehr gut an diese letzten Monate mit meiner Familie. Meine älteste Schwester, die in Hinterpommern eine landwirtschaftliche Leh­ re absolvierte und wegen der vorrückenden sowjetischen Armeen nach dem Weihnachtsurlaub nicht zurückkehren konnte, und ich sollten nicht faulen­ zen, sondern den Betrieb gründlich kennenlernen, wofür mein Vater Tag und Nacht sorgte. Morgens um halb vier mussten wir alle zwei Wochen abwech­ selnd im Kuh-, Schweine- oder Schafstall mitarbeiten. Auch wenn ich mit meinem Vater nachts mehrere Stunden auf Volkssturm-Patrouille war, um zu überwachen, dass kein englischer Spion mit einem Fallschirm abgeworfen wird, musste ich frühmorgens in den Stall. Nach getaner Arbeit, unternahmen mein Vater und ich aber auch manches Mal gemeinsame Ausritte. Mitte März 1945 musste ich Schmatzin verlassen. Ich wurde nach Ros­ tock zum Reichsarbeitsdienst eingezogen. Gleichzeitig hatte ich mich noch als Offiziersanwärter beworben und fuhr tatsächlich noch Anfang April zu einer Aufnahmeprüfung zu einem Panzerregiment nach Neuruppin. Südlich von Schwerin wurde ich am 3. Mai von den Amerikanern gefan­ gengenommen und landete mit meinen Kameraden in einem Riesencamp mit angeblich 25.000 Kriegsgefangen. Von der Tätigkeit des Bewachens hielten die Amerikaner allerdings nicht so viel, vielmehr machten sie häufig ein Nickerchen und hielten sich dabei an ihren Gewehren fest, die sie mit aufgepflanzten Bajonetten in die Erde gesteckt hatten. Wir nutzten die Zeit um rauszugehen und uns etwas Essbares zu beschaffen, zum Beispiel Kar­

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toffeln. Neben uns auf freiem Feld hatte ein Fourier31 mit einigen Soldaten einer lettischen Waffen SS-Einheit und einem mit Essenvorräten beladenen LKW sein Lager aufgeschlagen. Da wurde den ganzen Tag gebrutzelt, aber für uns hungernde Soldaten fiel nichts ab. Das war eine bleibende Lebens­ erfahrung für mich, und noch heute werde ich daran erinnert, wenn der Geruch an Grillabenden durch das Land zieht. Keiner von uns konnte sich die Zukunft vorstellen, emotional hatte ich mit der Vergangenheit abge­ schlossen, hatte eine Vorahnung, dass alles vorbei und ich allein auf der Welt zurückgelassen war. Einzig ein Ritterkreuzträger, der mit seiner Ordonnanz durchs Lager mar­ schierte und Schifferklavier spielte, sorgte mit seinen fröhlichen Liedern „Leute, das Leben ist lebenswert“ für Aufmunterung. Wir hatten im weite­ ren Verlauf der Gefangenschaft das Glück, dass wir von den Amerikanern an die Engländer, und nicht an die Russen übergeben wurden. So landeten wir in Ostholstein, im nächsten großen Camp. Und ich wusste immer noch nicht, was aus meiner Familie nach dem Einmarsch der Roten Armee in Schmatzin geworden war. Es wäre unklug gewesen, mich nach der zweimonatigen Gefangenschaft nach Schmatzin durchzuschlagen, weil ich mich nicht in die Gefahr der Rus­ sischen Besatzung begeben wollte. Als ich mich im März 1945 von meiner Mutter verabschiedet hatte, hatte sie mir einen handgeschriebenen Zettel mit mehreren Adressen von Verwandten in Westdeutschland gegeben, den ich von da an immer bei mir trug. Außerdem gab sie mir den Satz mit auf den Weg: „Wenn du mal nicht weißt, wie es weitergehen soll, musst du daran denken, was dein Vater in dieser Situation tun würde“. Ich ahnte nicht, dass es ein Abschied für immer war. Der Ratschlag meiner Mutter hat mich mein Leben lang begleitet. Ich verstand ihn als ihren Anspruch an mich. Diese Worte bedeuten mir sehr viel, wie eben mein Vater mir sehr viel bedeutete und mein großes Vorbild war und ist. Ich wurde durch seine Erziehung mit dem Leben fertig, nachdem ich mit 16 Jahren allein auf der Welt war. Von meinem Onkel und meinem Schwager erfuhr ich von dem Gesche­ hen in Schmatzin. Meine Familie hatte den Einmarsch der Roten Armee nicht überlebt. Mein Vater hatte seine Kinder erschossen und dann mit meiner Mutter und meiner Tante den Freitod durch Ertrinken gesucht. Of­ fenbar hatte er keine andere Möglichkeit gesehen, seine Familie vor der Roten Armee zu schützen. Der alte Schmied erzählte mir viele Jahrzehnte später, dass er alle Fami­ lienmitglieder gefunden, sie in Teppiche gewickelt und im Gutspark begra­ ben hat. 31  Bezeichnung für den mit den Verpflegungsgeschäften beauftragten Unteroffi­ zier im Heerwesen.

Walter Steitz * 26. Oktober 1928 in Frankfurt am Main Das Soldat-Sein war für uns Jugendliche ein Lebensgefühl. Keine Kritik, man war Soldat, man musste gegen den Gegner gehen. Das Sterben gehör­ te dazu, war für uns der Heldentod. Wir erkannten nach Stalingrad aber, dass das himmelhochjauchzende Siegesgefühl kaputt ist. Da herrschte große Angst vor dem Ende. Mich prägte diese Angst, besonders durch die Luftangriffe. Für meine Mutter war es ein großes Geschenk, dass mein Vater als Leiter eines kriegswichtigen Betriebes nicht eingezogen wurde. So konnte er statt meiner bei ihr sein, da ich als Jungvolkführer bei Fliegeralarm Ordnungsdienst in einem nahen Luftschutzbunker machen musste. Bei Entwarnung sind wir Vierzehnjähri­ gen ausgezogen und in die brennenden Häuser geschickt worden, um zu löschen. Angst spürten wir nicht, eher dachten wir: „Wir sind Helden!“, oder: „Du musst jetzt was tun. Du bist hier der gefragte Mann!“, und gleichzeitig: „Diese verdammten Amerikaner!“ In solchen Momenten war uns nicht bewusst, dass wir alles unter Lebensgefahr taten. Stell dir vor, du stehst auf dem Haus da oben, hast die Spritze in der Hand, und es kracht in der Nachbarschaft. Ich habe da nicht die Spritze hingeschmissen und bin in den Keller gerannt. Die anderen auch nicht. Ich war nicht der einzige Star, wir waren ein Team. Ein Team von Buben, mehr waren wir ja nicht. Aber wir waren gefragt. Wir haben den Leuten ihre Klamotten und Möbel aus den noch nicht brennenden Wohnungen getragen. Wir haben geschafft. Wirklich. Wenn ich heute an manchen Häusern vorbei gehe, sehe ich mich noch immer oben stehen und löschen. Es war beliebter Sport, nach dem Fliegeralarm Granatsplitter zu sammeln, und diese zerklüfteten Eisenteile in der Schule zu tauschen. Das war auch der Krieg. Keine panische Angst, gar nicht. Im Gegenteil. Es war Einsatz an der Heimatfront. Dienst fürs Vaterland. Wenn Bomben fielen, und die Leute obdachlos wurden, stellte die Partei auf den Plätzen Zelte auf. Wir haben Brote ausgeteilt, wir haben Kaffee ausgeteilt, wir haben Decken aus­ geteilt. Das war eine tolle logistische Organisation. Ja, wer hat denn gehol­ fen? Die Buben und die Mädchen. Das war natürlich ein weiteres Abenteu­ er, mit Mädchen zusammen zu sein. Das war schön. Da habe mich auch zum ersten Mal verliebt.

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In der Nacht, als die Altstadt brannte, hat man uns auf den Eisernen Steg geschickt, um die Leute, die aus der brennenden Altstadt kamen, zu emp­ fangen und zu den Aufnahmeplätzen zu führen. Das ist ein ganz dominie­ rendes Kriegserlebnis für mich, dieses Stehen auf dem Eisernen Steg und dieser Feuersturm aus der Altstadt, das war wirklich ein Sturm, da mussten wir aufpassen, dass uns die Kapp nicht vom Kopf geblasen wird. Das war eine durchgehende, brennende Loh. Kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Was wir in diesem Krieg hier in Deutschland in den letzten zwei Jahren – die Nazis haben gesagt Luftterror und es war ein Terror – erlebt haben, da wird heute kaum drüber gesprochen. Da sind wir Schuld dran. Natürlich. Wir haben es ausgelöst. Die Nazis, der Hitler hat es ausgelöst. Und wir mussten es ertragen. Ich sag euch, dieses Erlebnis der brennenden Altstadt, die ich als Kind geliebt habe, durch die ich so gerne gegangen bin, vergesse ich nicht. Das Fünffingerplätzchen, die Schirn, die wunderbaren Fachwerkhäuser, die Gaststätte „Alte Eule“. Tausende Menschen konnten sich nicht aus den Flammen retten. Als unsere Schule 1944 durch einen Luftangriff zerstört wurde, evakuier­ te man uns Schüler nach Nidda in Oberhessen. Wir älteren Schüler waren in Nachbardörfern bei Bauern untergebracht. Wir halfen im Stall und bei der Ernte, eine neue und hilfreiche Erfahrung für mich. Im Herbst 1944 wurden die Älteren an den Westwall gefahren, um Schützengräben auszu­ heben. Lachhaft. Hat aber keiner gesagt, dass das zum Lachen ist, sondern: „Spaten her! Ausheben!“ Aber auch Ausbildung an Karabiner, MG und Panzerfaust. Das war meine letzte vormilitärische Ausbildung bei Mettlach an der Saarschleife. In der wunderschönen großen Villa von Villeroy und Boch lagen wir im Stroh. Wir konnten mit den Waffen umgehen, bei Bedarf hätte es unsererseits keinen Widerstand gegeben. Wir waren fanatisiert. Im Februar 1945 bekam ich meinen Stellungsbefehl zur Wehrmacht. Ei­ gentlich hätte ich mit meinem Jahrgang als Flakhelfer eingezogen werden sollen, bin aber wegen eines Herzfehlers zurückgestellt gewesen. Bedingt einsatzfähig oder so ähnlich hieß es. So kam ich eben als Soldat in das letzte Aufgebot. Ich war der Jüngste, die anderen hatten alle irgendeine Verwundung oder Fehler. Ich dachte, was soll ich bei den Krüppeln? Aus­ bildung gab es da nicht mehr. Mir brauchte auch keiner zu zeigen, wie man ein Maschinengewehr oder Karabiner bedient. Ich dachte, jetzt muss ich die Amerikaner aus Deutschland raustreiben helfen. Sie drückten uns französische Karabiner mit zehn Schuss Munition in die Hand. Damit sollten wir Hersfeld verteidigen. Dass wir Deutschland verteidigen können, habe ich nicht mehr geglaubt. Jetzt ist Schluss, ich war lethargisch. Die Einheit war aufgelöst. Trotzdem sind wir, anstatt uns zu ergeben, vor den Amerikanern her nach Osten gelaufen. Da sahen wir die



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Kettenhunde mit ihren Schildern. Die Militärpolizei hat aus allen möglichen zurückströmenden Soldaten wieder neue Einheiten aufgestellt. Wehe, wenn da einer Fahnenflucht begangen hätte. Im April bin ich in Halle schließlich in Gefangenschaft geraten. Von dort ging es nach Remagen. Ich stand unter Schock. Gefangenschaft. Ich schloss mich zwei älteren Kumpels an, hatte ja nix, keinen Löffel, kein Messer, kein Gefäß. Die haben mich unter ihre Fittiche genommen. Auch das Leben haben sie mir gerettet. In Erdlöchern verkohlten wir Briketts, einmal hat es nicht richtig funktioniert, und ich bin eingeschlafen, Kohlen­ monoxid. Die haben mich rausgezerrt, sonst wäre ich da wohl verscharrt worden. In Remagen war ich ganz unten. Lag im Dreck. Am Zaun war ein Gra­ ben, das war die Latrine und da lagen auch tote Leute drin. Es war furcht­ bar. Ich muss aufpassen, dass mir jetzt keine Tränen kommen. Die Bilder vergesse ich nicht. Die Wende kam für mich beim Pfingstgottesdienst. Da beschlossen einige inhaftierte Pfarrer, einen Gottesdienst abzuhalten. Er stand unter dem Wort: „Irret Euch nicht! Gott lässt sich nicht spotten. Denn was der Mensch sät, das wird er ernten.“ (Galater 6,7). Nachdem alles ka­ putt war, woran wir geglaubt hatten, war dieser Gottesdienst für mich das Entscheidende. Ich wollte weiterleben. Beim Abendmahl sagte ich mir, wenn du hier lebend rauskommst, dann gehörst du wieder zu deiner Ge­ meinde. Ich fand in meiner Gemeinde in Frankfurt Heimat und Glaube und Zugang zu Gott. Dafür danke ich. So ist es bis heute geblieben. 1945 war für mein Leben eine Stunde Null. In dieser Zeit wurde mir zum ersten Mal bewusst, was der Nationalsozialismus an Schuld auf sich gela­ den hat. Und dass natürlich du selbst, als Beeinflusster, ohne dass du es eigentlich wolltest, mitschuldig geworden bist. Wir haben an den National­ sozialismus geglaubt. Dieser Glaube zerbrach und eine Leere folgte. In der Gefangenschaft erkannte ich, dass das Beständige der christliche Glaube ist. Zwar war ich konfirmiert, aber mich hatten die Glaubensthesen des Natio­ nalsozialismus beeinflusst, nicht das christliche Glaubensbekenntnis. Jetzt halfen mir das Vaterunser, die Bibel und mein Konfirmationsspruch: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern den der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“ Das bedeutet Zuspruch für mich. In der reformierten Gemeinde führen wir bis zum heutigen Tag sehr hef­ tige Diskussionen über die Schuld. Ein Pfarrer der Gemeinde, Erich Meyer, sympathisierte mit den „Deutschen Christen“ und gründete den Verein „Freies Deutsches Christentum“. Wir setzten uns nach dem Krieg in unse­ rem Jugendkreis allmählich mit der Frage auseinander, wie das geschehen konnte. Wie konnten normal friedliche Menschen anderen so etwas antun? Wo kommen die Vorurteile her?

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Die Auseinandersetzung fand auch Hause statt. Und sowohl bei Teilen der Gemeinde, als auch zu Hause bei meinem Vater fand ich eine Abwehr­ haltung gegen die Thematisierung der Schuld. Mein Vater war als Parteimit­ glied und Zellenleiter bei Abtransporten von Juden Ordnungshüter. Er wusste also ganz genau, dass die Juden abtransportiert wurden. Hier am Südbahnhof. Meine Mutter hat gezittert. „Ja, die Juden. Die kommen in ein Konzentrationslager.“ Dass dort die Juden vergast wurden, war ihm aller­ dings nicht bekannt, sagte er. Dass die da keine Streicheleinheiten bekamen, das war uns wohl klar. Dass es denen da nicht gut ging. Schon vor dem Wort „Konzentrationslager“ hatten ja alle Angst. Aber was da mit dir ge­ macht wurde, dass da tatsächlich getötet wurde, und auf welche Art, das wusste niemand. Es gab sicher auch welche, die gewusst haben, dass ge­ schlagen und gefoltert wurde oder sonst irgendwie sowas, dass man Hunger leiden und in solchen Baracken mit Hunderten anderen hausen musste. Das war alles mehr oder weniger bekannt, aber es wurde in unserer Familie nicht darüber gesprochen, das einzige war: „Ma müsse aufpasse. Der und der war im Konzentrationslager, dem isses da nicht gut gegangen.“ Das große Entsetzen kam 1945, das Bewusstwerden erst allmählich. Mein Vater hat das nicht an sich rangelassen. Vielleicht wäre er sonst zerbrochen. Ich bin nachsichtig, er konnte nicht anders. Aber trotzdem frage ich mich, warum er nicht einmal gesagt hat: „Ich bin christlich erzogen und was wir hier in Deutschland als Christen machen, ist absolut verwerfliche Sünde.“ Es hat in meiner Familie nicht diese Diskussion, diese rein menschliche Diskussion, gegeben, dass man sagt: „Wie können wir einfach Leute aus ihren Wohnungen rausreißen und Geschäfte kaputt schmeißen, nur weil sie Juden sind? Sie sind Menschen wie wir! Was machen wir da? Wie können wir da hergehen und denen die Synagogen abbrennen?“ Ich wurde sehr schnell aus Remagen entlassen. Für den Wiederaufbau des gesellschaftlichen Lebens brauchten sie Handwerker, die anderen haben sie nach Frankreich in die Mienen geschickt. Ich meldete mich als Heizungs­ monteur, war zwar keiner, hatte aber Ahnung davon. Ohne Papiere und Nachweise mussten sie mir das glauben, und so hatte ich das Glück, am 21. Juni 1945 entlassen zu werden. Die Heisterstraße war nicht zerstört, mein Vater konnte die Firma sehr schnell wieder aufbauen. Da sollte ich mithelfen. Mein Traum war aber Lehrer zu werden. Ich hatte einen Dorfschullehrer vor Augen, der war passionierter Lehrer, Bienenzüchter, Hasenhalter, und genau das wollte ich auch. Ich wollte wieder aufs Gymnasium gehen, Abi­ tur machen, studieren. Aber mein Vater hat gesagt, nichts gibt’s. Schlag dir das aus dem Kopf, wir haben den Krieg verloren, wir müssen aufbauen. Hier ist die Firma, du wirst Ingenieur. Da sind viele Tränen geflossen, aber



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es half nichts. Ich war nicht bereit, einen Widerstand aufzubauen, sondern hab klein bei gegeben und bin 1946 in eine befreundete Firma als Installa­ tionslehrling eingetreten. Ich habe erst einmal Spengler und Installateur gelernt, hatte einen ganz tollen Lehrmeister. Der hat erkannt, dass ich ein kunsthandwerkliches Fai­ ble hatte. Er zeigte mir, wie man mit Blech umgeht, was man mit Blech alles machen kann. Dachrinnen, Abflussrohre, aber auch Schalen, Wand­ leuchter und Kerzenleuchter aus Kupferblech. Mein Gesellenstück war eine Gießkanne aus verbleitem Blech. 1948 habe ich die Gesellenprüfung abge­ legt und bin nach einer Volontärszeit in der eigenen Firma nach Köln zum Studium, dort habe ich Heizungsbau, Klima- und Luftanlagenbau und Sani­ tärtechnik studiert und 1953 das Ingenieurexamen abgelegt und gut bestan­ den. Danach wollte ich erst in einer anderen Firma lernen, wie es die an­ deren machen. Meine Mutter heulte Tränen, „der Papa braucht dich“. Da war ich wieder nicht durchsetzungskräftig genug, da habe ich wieder nur mit den Zähnen geknirscht und bin dann in die väterliche Firma gegangen. Seit 1950 war ich mit Ruthild zusammen. Wir verliebten uns ineinander auf einer Studienfahrt der evangelischen Jugend Frankfurt durch die Schweiz. Zur Gruppe gehörte auch Inge. Sie war Ruthilds Freundin aus der Zeit der Ausbildung zur Kindergärtnerin. Inge gehörte zu meinem Freundes­ kreis aus dem Jugendkreis der Gemeinde und war der Mittelpunkt des Freundeskreises und auch außerhalb der Gemeinde, wir nannten es das „Kränzchen“. Auf der Fahrt durch die Schweiz, trafen wir uns mit der Gruppe des CVJM (Christlicher Verein junger Männer). Es gab heiße Dis­ kussionen. Die Frage der Wiederbewaffnung in Deutschland stand zur Diskussion und die Schweizer warfen uns vor, nicht energisch dagegen vorzugehen. Wir kamen zwar mit unserer Nachkriegshaltung: Nie wieder Krieg von deutschem Boden aus, nie wieder Bewaffnung Deutschlands, wir waren Pazifisten, mussten uns die Vorwürfe der Schweizer aber gefallen lassen und hatten nur unsere Haltung: „Nie wieder“. Ruthild und ich lebten in den ersten Jahren getrennt. Sie lebte in Frank­ furt in der Ausbildung als Krankenschwester, ihrem zweiten Beruf, ich in Köln als Student. Wir haben nur von Briefen gelebt, von sehr schönen Briefen. Ich weiß nicht, ob sie noch existieren. Wir haben uns nur in den Semesterferien, an Weihnachten und Ostern gesehen, 1953 geheiratet. Die Freundschaft mit Inge besteht noch bis zum heutigen Tag.

Friedrich Graf zu Dohna-Schlobitten * 27. Februar 1933 in Wundlacken bei Königsberg Nach der Währungsreform kam ich nach Salem, ins Internat. Es war eine sehr gute Zeit, auch wenn mein Zimmerführer mich von Zeit zu Zeit an die Tür zu schubsen pflegte. Da ich nach dem Abitur Architektur studieren wollte, absolvierte ich ein Praktikum auf dem Bau und habe dort raue, aber sehr herzliche Menschen kennengelernt. Studiert habe ich in Karlsruhe bei Egon Eiermann, brach aber schon vor dem Vordiplom ab. Ich war damals wie paralysiert durch die Bedrohung der Atombombe und ziemlich „wursch­ tig“. Erst heute weiß ich, dass ich massive Depressionen hatte. Ich glaube, mein Vater hat nicht viel von mir gehalten, während er für mich ein prä­ gendes Vorbild war. Er war ein sehr starker Vater, hat immer wieder ent­ scheidend in mein Leben eingegriffen, zum Beispiel riet er mir, zur Bun­ deswehr zu gehen, also ging ich zur Bundeswehr. Ich brachte es dort zum Hauptmann und Kompanieführer, schied aber wieder aus, da mein Vater einen chemischen Reinigungsbetrieb aufgebaut und mich ältesten Sohn als Nachfolger vorgesehen hatte. Also begann ich 1964 eine Ausbildung zum Chemisch-Reiniger und Färber, machte meine Gesellen- und später meine Meisterprüfung. Die Mitarbeit im väterlichen Betrieb erwies sich aber zu­ nehmend als schwierig. Dieser Satz ist doppeldeutig. Das mühsam aufgelistete und von meinem Vater ausgelagerte Inventar aus Schlobitten war nach dem Krieg verstreut. Ein Teil ist im sachsen-anhaltinischen Bernburg geblieben und wurde von den Behörden der DDR beschlagnahmt. Das Berliner Porzellan aus dem 18. Jahrhundert ist in die Schulspeisung ge­ kommen, viele Möbel in die Polizeischule der SED, die chinesischen Fächer und die Meißner Porzellanfiguren ins Theater, das Silber machte sich bald gut in einer Bank. Nur die Gemälde und die Möbel aus der Ministerwohnung des Freiherrn vom Stein kamen ins zentrale historische Museum der DDR. Mein Vorfahre Alexander hatte sie die dem preußischen Reformer nach des­ sen Entlassung aus dem Staatsdienst abgekauft. Schlobitten ist direkt nach dem Krieg komplett ausgebrannt. Das erste Wiedersehen in den 70er Jahren war sehr merkwürdig, denn man sieht dort ja keine Leiche vor sich, sondern ein Skelett. Ich habe es nicht brennen sehen, aber jahrzehntelang, wie mein Vater, immer wieder vom brennenden Schloss geträumt. Das war eine Verletzung, eine offene Wunde.

Christoph Ackermann * 9. März 1935 in Berlin Der erste Brief meiner Mutter kam Ende 1945 durch. Sie lebte mit Furt­ wängler und den kleineren Geschwistern am Genfer See in der französi­ schen Schweiz, wir waren getrennt. Im Mai 1947 habe ich sie nach knapp drei Jahren Trennung zum ersten Mal wiedergesehen. Ich weiß noch, wie meine Mutter aus dem Zug stieg. Sie erschien mir in ihrem schönen, or­ dentlichen Kleid wie eine Prinzessin unter uns lauter Lumpen. Es war eine riesige Freude, ein großer Feiertag. Das Verhältnis zu ihr war sofort wieder da und gut. Wegen der sprachlichen Barrieren sollte ich in Deutschland bleiben und habe bis zum Abitur bei Onkel Vital bei Miltenberg gelebt. Fabelhaft war für mich als Junge die Wende Ende 1947, Anfang 1948. Alles änderte sich mit Berlin-Blockade und Luftbrücke, die Amerikaner schalteten ganz plötzlich um und erklärten uns zu Freunden. Alle Spruch­ kammerverfahren wurden schnell abgewickelt, Furtwängler konnte zurück ans Pult der Berliner Philharmoniker und Onkel Vital bekam seine Fabrik zurück. Anfangs hatten die Amerikaner ja noch geglaubt, uns umerziehen zu müssen. Die Nazi-Mathebücher wurden weggeschmissen und der gleiche Inhalt auf schlechterem Papier neu herausgebracht. Unsere Lehrer auf dem Gymnasium waren zunächst ehemalige Mitglieder der Bayerischen Volks­ partei, die zwar nicht politisch belastet, aber meist weit über 70 Jahre alt waren. Der 78-jährige Herr Gimpel pflegte jede Stunde damit zu beginnen, dass er uns zackig aufstehen und im Chor intonieren ließ: „Nie wieder Krieg, der Krieg ist ein Verbrechen.“ Das hat uns damals eher belustigt. 1948 kamen die ehemaligen, inzwischen entnazifizierten Lehrer wieder an unsere Schule zurück. Ich war zwar mathematisch-naturwissenschaftlich begabt, aber nicht inte­ ressiert, besuchte den nicht-humanistischen Zweig der Schule, ohne Grie­ chisch. Ich habe die Schule sehr ernst genommen, war angespannt und ausgelastet. Sechs-Tage-Woche, um sechs Aufstehen, kleinere Dinge im Haushalt erledigen, um sieben in den Zug, um viertel nach zwei nach Hau­ se, jede Menge Hausaufgaben, lernen um dran zu bleiben. Die Schule war für mich ein wichtiges Gut, Gymnasium war Beruf. Wertevermittlung geschah bei Tante Barbara und Onkel Vital ohne Zwang. Ich wurde niemals zu irgendetwas gezwungen, vor allem nicht zum Lesen.

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Trotzdem oder gerade deshalb las ich mit Begeisterung, Karl May oder die „Flusspiraten des Mississippi“, das fand ich irrsinnig spannend. Durch die Ehe meiner Mutter mit Wilhelm Furtwängler lernte ich die große Welt der Oper, des Theaters und der Musik kennen. Jeden Sommer sechs bis sieben Wochen Salzburger Festspiele, Shakespeare, „Was ihr wollt“, Schiller, „Ka­ bale und Liebe“, Stücke von Nestroy, alles fabelhafte Aufführungen und erstklassige Besetzungen. Bis heute bin ich durch diese jugendlichen Thea­ terwochen literarisch angeregt. Wilhelm Furtwängler wurde nie ein Ersatzvater für mich, allein schon weil er 24 Jahre älter war als meine Mutter. Eher war der neue Mann in Mutters Leben wie ein Großonkel. Vor den großen Opernaufführungen habe ich gern beobachtet, wie intensiv sich Furtwängler vorbereitete, vollkom­ men konzentriert. Hinterher saßen wir alle zusammen zu Manöverkritik und Diskussion. Dabei ist mir aufgefallen, wie unpolitisch dieser Mann war, geradezu völlig apolitisch. Mich 19-jährigen politischen Feuerkopf fragte er in diesen Runden nach meiner Meinung zu diesem oder jenem Thema der politischen Groß- oder Kleinwetterlage. Aber haben ihn meine Antworten wirklich interessiert? Vielleicht amüsierte ihn meine große Ernsthaftigkeit auch. Mein Onkel Vital, bei dem ich aufwuchs, war der Lieblingsbruder meiner Mutter. Er war ein sehr fürsorglicher Typ, hatte meine Mutter beschützt als meine Großmutter sich in den Besitz ihres Erbes bringen wollte. Diese Großmutter war die berühmt-berüchtigte „Kathinka“ von Kardorff-Oheimb, die in der Weimarer Republik Politik für Frauen und sozial Benachteiligte gemacht und den größten politischen Salon Berlins geführt hatte. Vier Ehen, zahllose Affären, ein aufwändiger Lebensstil mit großen Häusern, viel Per­ sonal und sogar eigenem Leibjäger, Kathinka war eine schillernde Persön­ lichkeit. In der Weltwirtschaftskrise 1929 stand sie finanziell vis à vis des rien. Darum hat sie versucht, an das Erbe ihrer Kinder zu kommen. Onkel Vital ist eingesprungen und hat einen einmaligen Prozess gegen seine eige­ ne Mutter geführt, der deutschlandweit beachtet wurde. Im November 1932 hat er gewonnen. Kathinka hat sich an Onkel Vital gerächt und ihren Sohn nach dem Krieg mit großenteils fadenscheinigen Argumenten bei den Ame­ rikanern angezeigt, es war ein innerfamiliärer Hass ohnegleichen. Leider war Vital tatsächlich vom Nationalsozialismus betört gewesen, war NSDAPMitglied und NSKK-Führer.32 Nach dem Krieg hat er zwar seine Firma zurück bekommen, aber schwer unter seinem eigenen Fehlverhalten und einer gewissen öffentlichen Ächtung gelitten. Ich habe ihn als innerlich verletzten Mann erlebt, und glaube, das hat sein Leben um Jahre verkürzt. Mit 63 ist er gestorben. Vital war eigentlich Kathinkas Lieblingssohn, umso 32  Nationalsozialistisches

Kraftfahrtkorps.



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bitterer war ihre Auseinandersetzung. Noch im unveröffentlichten Rohma­ nuskript ihrer Erinnerungen „Politik und Lebensbeichte“ verstieg sich Ka­ thinka zu einer grotesk-theatralischen Erfindung: „Als er schon ein paar Stunden nach der Geburt angelegt wurde, biß er mir ein Stück meiner Brust ab. Heute sehe ich, welch ein Symbol das gewesen ist.“ Der innerfamiliäre Konflikt mit Kathinka hat meine ganze Jugend über­ dauert. Kathinka war immer wieder Thema vieler Gespräche. Lange bevor ich diese Großmutter persönlich kennenlernen konnte, kannte ich sie schon aus den Erzählungen und Urteilen meines Onkels. Zeitlebens hat sie mich gleichzeitig interessiert und abgestoßen. In allem war sie das Gegenteil meiner Mutter. Wenn sie auftrat, dann mit großartiger, beinah großkotziger Geste, wie eine Fürstin. Meine Mutter war dagegen eher bescheiden und wollte in allem anders sein als ihre Mutter. Kurz vor Kathinkas Tod im Jahr 1962 hat Onkel Vital sie noch einmal besucht, eine Milde, die ich ange­ sichts dessen, was sie ihm angetan hat, erstaunlich finde. Ich verließ die Familie von Onkel und Tante, in der ich während der Gymnasialzeit glücklich gelebt hatte, um mich im technischen Studium auf die Führung des Familienunternehmens vorzubereiten, zuerst an der TH München und später an der TH Aachen. Mein Studium in Aachen war kei­ ne Zeit der Ausschweifungen und des schönen Studentenlebens. Das tech­ nische Studium war anders. Wenn man Ingenieur werden wollte, musste man von Anfang an in Phase bleiben, weil alles wesentlich stärker verschult war. Für mich waren diese Jahre eine sehr prägende Zeit. Wie immer poli­ tisch, wurde ich in den Asta gewählt und war eineinhalb Jahre Asta-Vorsit­ zender der Technischen Hochschule. So lernte ich früh einen Umgang mit der Professorenschaft, der über die übliche Studenten-Professor-Distanz hi­ naus ging. Das war für mich eine erste Schulung in der Führung einer Gruppe, hier der Studentenschaft. Außerdem war ich Mitglied einer Burschenschaft. Da waren noch Kriegs­ teilnehmer aktiv. Trotzdem spielte das Nationale keine Rolle, nur für die „Alten Herren“. Aus Anlass irgendeiner Veranstaltung sollte ich einem dieser Alten Herren eine Ehrennadel anstecken. Er brach vor Rührung in Tränen aus. Dann gab er uns schluchzend und weihevoll eine Lebensregel mit auf den Weg: „Bitte vergesst eines nicht, unsere größten Feinde sind die Engländer.“

Volkwin Marg * 15.10.1936 in Königsberg Wir landeten Ende 1944 im thüringischen Saalburg. Das Städtchen war ohne Pfarrer, weil er eingezogen war, aber die Leute starben auch ohne letzten Segen. Also hat meine Mutter sich ein schwarzes Cape übergehängt, Gestorbene beerdigt und Gottesdienste gehalten. Damit wurde sie landauf landab die Frau Pfarrer. Die Amerikaner rückten ein. Eines Tages im Frühsommer 1945 kam ein Jeep mit weißem Stern vor das Pfarrhaus gefah­ ren. Ein GI fragte, gibt es hier einen Pfarrer? Man schickte ihn selbstver­ ständlich zu meiner Mutter. Er fragte sie höflich auf Englisch, ob er die Kirche benutzen könne. Meine Mutter stand wie eine Brünhilde vor ihm und entgegnete: Sie sind die Sieger, sie können bestimmen. Er aber antwor­ tete leise: Nein, nur wenn sie es erlauben, wir können auch aufs Feld gehen. Der GI-Geistliche hieß Mr. Meister, ein gütiger Presbyterianer und bald ein Freund. Seine Gemeinde hat uns noch jahrelang Care-Pakete aus den USA in den Osten zum Verteilen an die Bedürftigen geschickt. Meine Mutter liebte die Thüringer Landschaft und die Verehrung der Bauern im Kirchspiel. Sie wurde damals, abgemagert wie sie war, zur strah­ lenden und bestimmenden Figur der Familie. Für Frauen wie sie, brachte diese Zeit der Herausforderungen einen großen Emanzipationsschub, wie es ihn zuvor nicht gegeben hatte. Irgendwann im Spätsommer 1945 stand dann mein Vater in der Tür. Da tauchte ein veränderter hagerer Mann auf. Seine ganze Vorstellungswelt war zusammengebrochen, samt seinem Deutschen Christentum. Er haderte mit dem Schicksal, mit der Geschichte, mit seinem Beruf, und wich als Gescheiterter in die Malerei aus. Saalburg war voller Flüchtlinge und Ausgebombter. Wir waren unter dem Dach des Pfarrhauses einquartiert. Diejenigen, die in diesem Städtchen un­ tergekommen waren, auch Schauspieler und Musiker, veranstalteten bei uns Hauskonzerte und Lesungen. Auf unserem aus Danzig geretteten Flügel übte die befreundete Pianistin Ilse. Ich saß wie immer darunter, sah auf ihre behaarten Beine, wie sie gegen den Rhythmus Dämpfer und Pedal trat und Scriabin und Rachmaninow impromptus probte. Das durchdrang mich durch und durch, ich war wie besoffen davon. Bei den abendlichen Lesun­ gen sollte ich natürlich im Bett sein. Aber ich versteckte mich vorher im Spalt zwischen Holzstapel und Kachelofen. Das Versteck blieb so lange



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geheim, bis ich doch eingeschlafen war und mitsamt Holzstapel in den Raum krachte. Es war ein intensives und aktives Überleben unmittelbar nach dem Krieg, in einer Zeit des Hungerns und Hamsterns. Jeder von uns hatte seine Auf­ gabe. Man stand stundenlang an für eine Kanne Molke in der Meierei oder für Wurstbrühe beim Schlachter. Beides war etwas besonders Wertvolles. Wir hatten außer von den Lebensmittelmarken nichts zu essen, aber emp­ fanden wir uns als arm? Gegen den Hunger stapften wir Kilometer weit über die abgeernteten Äcker um Kartoffeln zu stoppeln, oder folgten der Hungerharke, die die Kornfelder abräumte, um übrig gebliebene Ähren zu sammeln. Es gab im Winter morgens, mittags und abends Kartoffeln, als Suppe, als Kuchen, gestampft, gepellt, Kartoffeln und wieder Kartoffeln und auch Kartoffelschalen. Mein jüngerer Bruder bekam einen Wasserbauch, ich hat­ te einen herausgedrückten Kropf vom herbstlichen Säcke schleppen, und wir alle zusammen litten an Furunkulose und allerlei Arten von Würmern. Im Winter 1946 / 47 zog ich mit einer emaillierten Milchkanne im Rucksack durch Schnee und Dunkelheit über die Dörfer, um nach dem abendlichen Melken Milch zu hamstern. Die Bauern mussten das vor der Dämmerung tun, Kerzen im Stall durften nicht sein. Ich konnte bei mancher Bäuerin einen halben Liter von der guten Milch mit der Sahne bekommen, zog weiter von Hof zu Hof und hatte, mit Glück, am Schluss drei bis vier Liter in der Kanne. In den Bauernstuben stand meist eine Hindenburgkerze auf dem Tisch, darüber hing der Fliegenfänger. Diese Kerzen waren ein Napf mit einer Art schwarzen Fettes und einem Docht. Um die Brotkrümel krabbelten die Fliegen. Manchmal schenkte mir eine Bauersfrau einen Kanten Brot, eine andere etwas Quark oder ein paar Eier. Das landete natürlich sofort in mei­ ner Joppentasche. Auf dem Rückweg war es stockdunkel. Ich konnte mich auf der Straße nur von Schneewehe zu Schneewehe anhand des Summens der Telegraphenmasten orientieren. Es war windig und eiskalt. Wenn ich spätabends wieder zu Hause anlangte, wurde die in der Kanne beim Gehen platschende Milch ruhig, sie war gefroren, die Eier geplatzt und der Quark hart wie ein kristalliner Quarz. Aber was machte das? Für mich waren sol­ che Hamstereien großes Leistungsglück, wie auch auf dem Kartoffelacker, beim Pilze sammeln, in den Blaubeeren oder eben mit der Milchkanne von Hof zu Hof. Was ich tat, war wertvoll und ich sonnte mich in der Anerken­ nung. Dann kam die Währungsreform. Aus der grünen Grenze war eine bewach­ te Zonengrenze zwischen Ost und West geworden. Die Landschafts- und Por­ trätmalerei brachte nichts mehr ein. Mein Vater nahm eine Pfarrstelle in

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Mecklenburg an. Wir zogen nach Grabow in ein mit Flüchtlingen vollgestopf­ tes Pfarrhaus, fünf Parteien zwischen Parterre und Dach, alle liefen durch unsere Wohnung. Ganz oben wohnte eine Familie, die zu Weihnachten, wenn wir unten Choräle sangen, die Internationale anstimmte. Ein Sängerkrieg im gleichen Hause. Das Plumpsklo war auf dem Hof, außerdem zwei Dutzend Kaninchen, und im Keller die Hühner auf der Stange. Das Kinderzimmer war unbeheizt, nachts froren die Pinkelpötte zu. Wir schlugen uns so durch. Schwierige Zeiten für meine Eltern, aber ich war glücklich. Mein Vater lebte damals in Unruhe und Spannung. Die russischen Besat­ zungssoldaten waren zwar kaserniert, aber nicht immer unter Verschluss, eine riesige Armee von Männern ohne Frauen. Eines Tages plünderten marodierende Soldaten die „Ziegelscheune“, einen Gasthof in der Nähe, sie brachten im Suff die ganze Familie um. Mein Vater hat sie beerdigt. Die Stadtbevölkerung stand stumm dabei. Sagen, was jeder wusste? Die Sache war politisch heiß. Ein falsches Wort und er wäre abgeholt worden. Damals gab es zwei Rechtssysteme in der DDR, die Sowjetische Armee­ gerichtsbarkeit der Russen und die deutsche Justiz der sowjetischen Besat­ zungszone, bald darauf die der DDR. Wenn der russische NKWD nachts zugriff, verschwand ein Mensch spurlos. Die Verhaftung führte dem Sagen nach über das ehemalige KZ Sachsenhausen. Später erfuhr man manchmal von einem spät heimkehrenden Kriegsgefangenen, wen er irgendwo in Si­ birien getroffen habe, aber mehr nicht. Die DDR war im Vergleich dazu so bürokratisch wie ein Rechtsstaat. Da wurde dem nach Auskunft Begehren­ den zuweilen schon nach einer Woche beschieden, der Verschwundene sei verhaftet worden, weil es schwere Anschuldigen gebe. Es gab also Leute, die verhaftet wurden und andere, die verschwanden. Ein wichtiger Unter­ schied. Mein Vater hatte seinen gepackten Koffer vor dem Fenster zum Hof, meine Mutter rannte immer zum Straßenfenster, wenn nachts vor dem Haus ein Auto bremste. Er musste sofort fliehen können. Einmal habe ich einen Schauprozess im Schützenhaus beobachtet. Auf der Bühne sah ich von fern Leute, die gaben alles zu. Wer alles zugab konnte hoffen, dass es ihm besser erging, denn dass er keine Chance hatte, sich zu entlasten, war allen klar. Es wurde denunziert, verhaftet, angeklagt und zugegeben, alle duckten sich still und verängstigt weg. Angst war stär­ ker als Zivilcourage. In das sieben Kilometer entfernte Ludwigslust radelte ich zur Oberschule „Goethe Gymnasium“. Der Unterricht war geprägt von vielen Neulehrern. Häufig waren das vor 1945 noch fanatische Hitlerjungen gewesen, und jetzt waren sie fanatische FDJler. Sie waren wieder von eingeimpften Ideologien besessen, wie zuvor, nur in das Gegenteil umgeschlagen, Braunhemd zum Blauhemd.



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Bis 1953 war es die Zeit des großen Vaters aller Werktätigen, Josef Wis­ sarionowitsch Stalin. Wir Kinder wurden im dialektischen Materialismus geschult. Im Biologieunterricht stand die Evolutionstheorie im Mittelpunkt. Wir lernten von Oparin, dem sowjetischen Vorzeigebiologen, den alles um­ fassenden Satz: Leben ist Stoffwechselprozess. Mutation sei eine bourgeoi­ se Erfindung, um den Heiligen Geist des Schöpfungsmärchens durch die Hintertür des Unerklärlichen in die Wissenschaft zu mogeln. Auch der Biologieunterricht begann mit Stalin-Zitaten, „Die Idee wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift.“ Dem Indoktrinationsunterricht be­ gegneten wir jungen Pennäler mit einer hintergründigen Dialektik. Mein Vater hielt mit uns als Junge Gemeinde einen Bibelkreis, der über Weltan­ schauungen philosophierte. Da begegneten mir Namen wie Platon, Aristote­ les, Thomas von Aquin, Immanuel Kant, Schleiermacher, Nietzsche, Karl Jaspers, Karl Barth oder Dietrich Bonhoeffer und die heiß diskutierte Frage: Was ist der Kern der Ethik? Wir Zehntklässler glaubten unseren Lehrern sowieso lieber nichts. Die gelehrte sozialistische Moral nach der Devise „Nutze der werktätigen Klas­ se, damit sie dir nutze“ unterliefen wir mit der scheinheiligen Frage: Hat es der große Genosse Stalin nötig, den Proletariern zu nützen, um sich selbst zu nützen? Ist er nicht vielmehr der gütige Vater, der das Gute allein um des guten Willens tut, so wie es schon Christus gepredigt hat? Wir lasen in der Schule das „Neue Deutschland“ oder die „Prawda“. Meine allererste Zeitung hatte ich als Wandzeitung vor der Kapitulation 1945 als Zweitklässler entziffert. Da stand gedruckt, dass Juden ihre Opfer vorher schächteten. Zuhause die Frage: Mami, was ist schächten? Gegenfra­ ge: Was hast du da gelesen? Dann, Junge, du musst niemals glauben, was in einer Zeitung steht. Ich habe Zeitungen kritisch zu lesen gelernt: Warum dieses Thema, warum an dieser Stelle, welche Absicht steckt dahinter? Das war für uns eine Hilfe beim diffamierenden Kirchenkampf in der DDR. Da war zu lesen: „Pfarrer XY ist homosexuell“, oder: „hat sich an Konfirman­ den vergangen“, oder: „Diakonissen im Altersheim lassen Alte hungern und bringen das Essen außer Hause.“ Das ist doch empörend! Unsere Klasse sollte dagegen eine Protestresolution verfassen. Wer das bezweifelte und in Frage stellte, bekam die Fangfrage: Bist du etwa der Meinung, dass die sozialistische Presse lügt? Der Vater meiner Mitschülerin Mia Theek war als Pfarrer im Widerstand gegen die Nazis im KZ gewesen. Weil eine abfällige Äußerung von ihr denunziert wurde, wurde eine Schulvollversammlung in die Aula einberu­ fen. Der Schulchor sang wie üblich, Abgeordnete aus den Betriebskampf­ gruppen gruppierten sich auf der Bühne zwischen Fahnen. Über dem rot behangenen Podium war ein Transparent gespannt: „Von der Sowjetunion

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lernen, heißt siegen lernen!“ Mia wurde öffentlich beschuldigt, der Schule verwiesen und unter bewachten Hausarrest gestellt. Wir rechneten uns aus, wer wohl als nächster dran sein würde. Ich bekam sicherheitshalber in meinen Ranzen immer Geld und Brot mit, falls ich schnell fliehen und mich nach Westberlin durchschlagen müsste. Es kam zu den erwarteten Verhören im sogenannten „Kulturzimmer“ der Schu­ le. Eines Tages war es soweit. Es gab wieder eine Vollversammlung, dies­ mal meinem Freund Dieter Biallas, Peter Meier und mir zu Ehren. Der Direx hielt eine Rede über den Humanismus und dessen Fortführung zum Sozialismus, dass es aber Elemente gäbe, die diese Entwicklung stören wollten. Aha! Dann trat ein Mitglied einer Betriebskampfgruppe vor, zeigte auf uns und sagte: Diese drei haben vorgestern in einer Kneipe eine Prüge­ lei mit kasernierten Volkspolizisten angefangen, das sind unhaltbare Ele­ mente. Normalerweise wären wir jetzt nach Art eines Schauprozesses mit oder ohne Selbstbezichtigungen per Handzeichen des versammelten Lehrer­ kollegiums und der kompletten Schülerschaft einstimmig von der Schule verwiesen worden. Wir hatten schon früher gelernt, wie sich die Zivilcourage in einer ver­ ängstigten und gleich geschalteten Masse verflüchtigt. Ich muss gestehen, dass bislang keiner von uns spontan den Mut hatte, allein aufzuspringen und laut Widerrede zu halten. Aber diesmal kam es anders. Mein Freund Dieter Biallas sprang auf und hielt eine flammende Danton-Rede, wie sie Büchner nicht besser hätte schreiben können. Es wurde unruhig im Saal. Die Schüler wandten sich um, das bis dahin auf den Tisch starrende Lehrerkollegium erhob verwirrt den Blick. Der Direktor brachte schnell den Chor auf die Beine, der Beethoven intonierte, und die Versammlung löste sich ungeordnet auf. Die zu erwartende Strafverfolgung blieb aus, weil kurz darauf am 17. Ju­ ni 1953 Demonstrationen ausbrachen, Panzer rollten und nach der Nieder­ schlagung der Unruhen ein weniger drakonischer Klassenkampf von der SED orchestriert wurde. Für meinen Schulaufsatz drei Jahre später wählte ich aus Schillers Wallenstein das Thema: „Im engen Kreis verengert sich der Sinn, es wächst der Mensch mit seinen höheren Zwecken.“

Johannes Oehme * 16.  Mai 1937 in Altenhain / Sachsen Ich wurde von zwei sehr hübschen und hochgebildeten Neulehrerinnen33 unterrichtet, Flüchtlingsfrauen aus Pommern und Schlesien. Sie brachten uns so viel bei, dass wir beim Schulwechsel nach der sechsten Klasse bes­ ser gebildet waren als die Stadtkinder aus Frankenberg. Die beiden Frauen haben außerdem dafür gesorgt, dass wir Kinder zumindest erfuhren, was es bedeutet ein Flüchtling zu sein, zwar wussten auch die Erwachsenen, dass die Flüchtlinge im Grunde genauso arme Schweine waren wie wir, aber natürlich war genauso klar, dass sie keine Altenhainer sind. Man pflegte zu sagen, ja, das ist die Frau Lewandowski, die ist nicht von hier, mit der wollen wir nichts zu tun haben. Vor meiner Lehrzeit habe ich die Gegend selten verlassen. Nur einmal wurde ich zur Ostsee geschickt, wo ich durchgefüttert werden sollte. Das war eine Aktion für bedürftige Familien im Umkreis von Flöha, für vier Wochen bin ich nach Sellin gekommen, in ein Haus irgendeiner Gräfin. Sie hatte etwas gegen die wilde Kinderschar, doch ihr blieb nichts übrig, das war eine staatliche Verpflichtung und sie bekam dafür auch Unterstützung. Das neue Leben begann mit Beginn meiner Lehrzeit als Maschinen­ schlosser in Chemnitz. Als junger Facharbeiter konnte man sich schon das ein oder andere leisten, ich liebte die Wintersportausflüge nach Oberwie­ senthal, besaß sogar Skischuhe. Ich machte viele Jugendgruppenreisen, viel Jugendarbeit. Mein Bruder lernte derweil Müller und meine Schwester Zi­ garrenmacher in der Zigarrenfabrik in Frankenberg. Da ich ja mein Fahrrad nicht benutzte, um zur Arbeit zu kommen, sind wir jeden Tag in einer größeren Gruppe morgens halb fünf eine Dreiviertel­ stunde an der Zschopau entlang zum Bahnhof nach Braunsdorf gelaufen, es folgten halbstündige Zug- und Straßenbahnfahrten. Pünktlich um sieben Uhr konnten wir die Arbeit aufnehmen. Es ist bemerkenswert, wie viel in Chem­ nitz 1951 schon wieder aufgebaut war. Als ich anfing, gab es schon wieder viele Maschinenaufträge für das „sächsische Manchester“, die Maschinen­ hochburg Chemnitz. Nach zwei Jahren habe ich ganz gut verdient, ich 33  Neulehrer waren keine studierten Lehrkräfte, sondern wurden in Schnellkursen nach dem Krieg zu solchen ausgebildet.

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hätte nicht studieren müssen. Doch man wurde sogar gebeten zu studieren, und ich wollte ja auch mehr, war neugierig, wollte eigentlich etwas anderes werden. Da ich bei der Aufnahmeprüfung als Texilmaschineningenieur nur eine zwei bekam, man in der Region mit den topfitten Leuten aber eine eins brauchte, schlug mir mein Kaderchef etwas anderes vor: In Plessow bei Berlin suchten sie junge Leute zum Studium des Außenhandels. Kurz zuvor sind die ersten Fachkontore gegründet worden, die Produkte und Maschinen ins Ausland verkaufen sollten. Plötzlich war ich also im Außenhandel. Or­ ganisieren konnte ich, das hatte ich von meiner Mutter gelernt, sie war ein großes Organisations- und Tauschtalent in der Nachkriegszeit, auf ehrlichem Niveau. Während des Studiums haben wir uns alle verpflichtet, in die Nationale Volksarmee zu gehen. Wir durften studieren, wussten, dass wir anschließend eine gute Stellung bekommen, warum sollten wir also nicht eineinhalb Jah­ re Dienst am Vaterland machen? Da ging aber die Ungerechtigkeit los, ich bin zur Armee, einige andere meiner Kommilitonen allerdings nicht, also habe ich mich beim Direktor der Fachhochschule beschwert. Natürlich wur­ de ich zum Kommandeur bestellt, auch Politoffiziere waren anwesend. Sie sagten zu mir: Genosse Soldat, Sie fühlen sich hier nicht wohl, sie haben sich beschwert. Kurz bevor ich stark gerüffelt den Raum verließ, hießen sie mich zu warten, sie hätten sich überlegt, mich auf die Offiziersschule schi­ cken. Das wollte ich ja nun überhaupt nicht. In der Armee waren wir Stu­ dierten die Minderheit, konnten mit dem Feldwebel ganz anders umgehen, spielten mit ihm Skat, standen eben ein bisschen höher, deshalb wollten sie uns wohl für die Offizierslaufbahn gewinnen. Insgesamt war es für mich eine tolle Zeit in der Armee, obwohl ich nicht gerne gegangen bin, ich habe es aus Dankbarkeit gemacht, es nur als Pflicht gesehen, bin nicht mit dem Herzen dabei gewesen. Es war für mich ein Be­ kenntnis zum Staat. Ich musste aber kaum schießen, weil ich als Oberschrei­ ber diente. Ich kannte die Gehälter der Offiziere und war mit vielen per Du. Stinklangweilig, diese Schreibstube, es war eine verlorene Zeit. Immerhin konnte ich zusammen mit zwei anderen Chemnitzern AG Prop (Agitation und Propaganda) machen, ausgestattet mit einem Mikrophon und einem NVA-LKW, fuhren wir raus aufs Land und haben Werbung für Frieden, Frei­ heit und die DDR gemacht. Zuvor wurden wir von einem israelisch-deut­ schen Schriftsteller, Jan Koplowitz, zum AG Prop Leiter ausgebildet, den Ausweis habe ich noch heute. „Der Kutsch’ ist aus Eisen, darin lässt’s sich gut reisen.“34 Oder ein Reim von Bernd Jensch, Germanist und Schriftsteller 34  Propagandistische Umformulierung eines traditionellen Kinderliedes. Langfas­ sung: „Ri-ra-rutsch, sie fahren mit der Kutsch’, der Kutsch ist aus Eisen, darin lässt sich’s wohl reisen. Der Kutsch’ hat keine Fenster, drin sitzen nur Gespenster, sie



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aus Chemnitz: „Steig herab von deinem Thron aus Elfenbein, Götter zu be­ schwören ist nicht Zeit, am Rhein stehen Atomkanonen.“ Damit hat man ver­ sucht, die Nationale Volksarmee zu rechtfertigen, denn jeder Staat muss sich selbst schützen, und die Bundesrepublik hat bekanntermaßen die Bundeswehr aufgebaut. Es hätte ja zum Krieg kommen können und deshalb war es das gute Recht der DDR, sich ebenfalls wiederzubewaffnen. Nach der Armeezeit bin ich zunächst zum Deutschen Innen- und Außen­ handel gegangen und habe Ersatzteile für Textilmaschinen exportiert. Doch kehrte ich dem Exportkontor bald den Rücken für eine Stelle im Hauptre­ ferat Export im Wirtschaftsrat des Rates des Bezirks Karl-Marx-Stadt. Dort habe ich zusammen mit einem fantastischen Team die gesamte Exportpla­ nung für den Bezirk Karl-Marx-Stadt im Bereich Holz und Spielwaren ge­ macht. Das waren immerhin rund 800 Betriebe. Dieser jährliche Plan wurde dem Volkswirtschaftsrat eingereicht und ver­ teidigt. Dem hohen Rat hat dies nie gereicht, immer wurden noch zig Mil­ lionen Zuwachs als staatlicher Planauflage angewiesen, damit die Volkswirt­ schaftsbilanz stimmt. Es war also eine Weisung, so wurden noch einmal alle Reserven mobilisiert, und am Ende schafften wir es meistens. Die Planung war hochkompliziert, alles nur mit Bleistift und Radiergummi. Meine Frau Elsa heiratete ich 1959 heimlich in Oberwiesenthal. Unser Traum war Berlin, wir wollten unbedingt dahin. Ich saß in meinem kleinen Büro und wollte raus. Ein Freund von mir arbeitete in der Kammer für Au­ ßenhandel in Berlin und sagte mir, Hannes, ich krieg dich hier unter. Nach einem Vorstellungsgespräch bekam ich tatsächlich eine Stelle als Assistent vom technischen und organisatorischen Leiter für Außenhandelsmessen. Das wurde mein Steckenpferd und von nun an bereiste ich ebenso die Welt. Natürlich haben wir in der DDR zumindest bis Anfang der 50er Jahre an eine Einigung geglaubt. Die Versorgungslage war zu dem Zeitpunkt furcht­ bar. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass die Zukunft hier liege, und nicht im Westen. 1951 fanden die Weltfestspiele in Berlin statt, und man kann sich heute nicht mehr vorstellen, welche Begeisterung da herrschte, wir sind in offenen Waggons gefahren, zelteten am Müggelsee in Berlin und beka­ men jeden Tag eine große Wurst, Brot und Obst. Mein Grundprinzip hieß: Mitgestalten. Ich habe mich um den Westen relativ wenig gekümmert, weil ich wusste, dass hier meine Heimat ist, in der ich gebraucht werde. Dieses Gefühl war etwas Schönes und unterschied uns vielleicht vom Westen. Wir haben daran geglaubt, dass man im Sozia­ lismus frei ist von Ausbeutung. woll’n den Kalten Krieg. Drum rollt zurück nach Westen, es ist zu Eurem Besten, wir brauchen unser’n Frieden und einen Staat zum Lieben.“

Wolf Christian von Wedel Parlow * 13. September 1937 Mein Vater war ein Romantiker. Obwohl er Literaturwissenschaftler war, sprach er am liebsten über Schmetterlinge, Blumen und Pflanzen. Wenn er zu Aufsichtsratssitzungen nach Würzburg fuhr, ließ er sich von einem Fah­ rer abholen, trug einen dreiteiligen Anzug und einen schönen Mantel, setz­ te sich würdevoll einen Hut auf den Kopf und verwandelte sich so in je­ manden, den wir zu Hause nie sahen. Nach außen liebte mein Vater den großen Auftritt. Das gefiel ihm auch am Katholischen, diese Prachtentfal­ tung, der feste, geheimnisvolle Ritus. Weil auch die Damen Morsbach streng katholisch waren, konvertierte mein Vater 1951. Von diesem Jahr an gingen wir Heiligabend getrennt zur Kirche. Mein Vater fuhr mit den Damen im Auto zur drei Kilometer entfernten katholischen Kirche, meine Mutter und ich gingen zu Fuß zur evangelischen und das ganze Dorf guckte dabei zu: Aha, der Herr von Wedel! Für meine Mutter war das eine innere und äuße­ re Erniedrigung. Das uneheliche Doppelleben mit meinem Vater machte auch Frau Morsbach religiös zu schaffen, aber sie hatte ja die Beichte. Später hat sie mir gestanden, wie oft sie überlegt hatte, wegzugehen, aber mein Vater habe sie jedes Mal beschworen zu bleiben. Lange vor Weihnachten stellte sich mein Vater in die Küche und bereite­ te einen Plumpudding für den ersten Weihnachtstag, der als Krönung unse­ rer Festtafel mit Rum übergossen und feierlich flambiert wurde. Heiligabend ging es dagegen sehr bescheiden zu. Es gab ein angeblich schottisches Reisgericht mit zerlegtem Bückling und gehackten, hartgekochten Eiern, das ganze gewürzt mit Worcester Sauce. Mein Vater schloss sich geheimnisvoll in der Weihnachtsstube ein, schmückte den Tannenbaum und als es soweit war, klingelte er. Bevor jeder zu seinem Tisch mit den Geschenken eilen durfte, stellten wir uns vor dem Baum auf und sangen drei Lieder, die entweder mit „O Du Fröhliche“ oder „Stille Nacht“ endeten. Wir sangen zwar nie schön, musikalisch war niemand von uns, aber wir sangen. Kindergeburtstage wurden bei uns zu Hause nicht groß gefeiert. Doch irgendwann, an meinem 13. oder 14. Geburtstag, war eine Cousine aus der weitverzweigten Wedel-Familie zu Besuch, die ich nicht kannte. Sie kam ganz früh morgens, als ich noch im Bett lag, vor meine verschlossene Zim­ mertür und sang die erste Strophe von „Lobe den Herren“. Das war das



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Eindrucksvollste, was ich je in meinem Elternhaus erlebt habe. Es hat sich mir so eingeprägt, dass ich es später in meiner eigenen Familie eingeführt habe. Wer Geburtstag hat, wird morgens durch die geschlossene Schlafzim­ mertür durch die erste Strophe „Lobe den Herren“ geweckt. Bis 1949 bin ich in Eiterbach zur Volksschule gegangen. Dann schickten mich meine Eltern auf das Kurfürst-Friedrich-Gymnasium in Heidelberg. Wegen der schlechten Verkehrsverbindungen meinten sie, es wäre besser, ich käme in Pension und wählten das evangelische Friedrichstift aus, Bergstraße 106, eine großzügige Villa mit getäfelten Wänden, die der Heidelberger Me­ diziner Ludolf Krehl für seine russische Frau gebaut hatte. Das Heim wurde von einem kleinwüchsigen Pfarrer geführt, der ein strenges Regime ausübte. Er führte 60 Zöglinge und ich wurde einer von ihnen. Nach der Schule hatten wir zwei Stunden Freizeit, dann begann die Lernzeit, von vier bis sieben ohne Pause und streng bewacht von den Paladinen des Pfarrers, den Präzep­ toren, ehemaligen Stiftsschülern, die an der Universität studierten. Wollte man in der knappen Freizeit in die Stadt, was für jeden von uns die größte Attraktion war, musste man sich nach dem Mittagessen in eine Schlange einreihen und einen wichtigen Grund dafür vortragen, zum Bei­ spiel, dass man dringend Schuhcreme kaufen müsse. Trug man aber am nächsten Tag vor, man brauche nun Zahnpasta, gab es einen unangenehmen Rüffel, man hätte doch beides an einem Tag kaufen können. Über mein Taschengeld, das meine Eltern beim Pfarrer einzahlten, konnte ich nicht frei verfügen. An Samstagen saß er da und zahlte, wiederum auf begründete Anträge, passende Teilsummen aus. Im ersten Jahr waren wir zehn Sextaner und alle in einem Schlafsaal untergebracht. Eines Tages bekam einer von uns ein elterliches „Care-Paket“ voller Orangen. Es war schon spät, wir trugen Pyjama und sollten eigentlich schlafen. Er schenkte einige der Orangen her, statt sie zu essen, fingen wir an damit zu spielen, sie uns zuzuwerfen, ging es gut, fingen wir, ging es nicht gut, rollten sie unters Bett. Und als es gar nicht gut ging, warf ich eine Orange mit solcher Wucht, dass sie gegen die weiße Wand klatschte. Der Saft lief heraus, es gab einen großen, orangefarbenen Fleck. O weh, was war geschehen, was haben wir gemacht? Vor Angst erstarrt beschlossen wir, beim „Chef“ zu beichten. Wir klopften an seine Wohnungstür, er öff­ nete und noch ehe wir ausgeredet hatten, war er schon außer sich. Es brach so richtig aus ihm heraus. Ohne sich die Mühe zu machen, sich das ange­ richtete Schlamassel anzusehen, wandte er seine zweitstärkste Strafe an, packte uns nacheinander mit beiden Händen an den Backen, kniff zu, beu­ telte uns und hob uns daran hoch, kleinwüchsig wie er war. Das tat ziemlich weh. Als er sich beruhigt hatte, Abmarsch ins Bett. Wir hätten es ihm nicht einmal beichten müssen, einfach vorsichtig die Wand abwaschen, aber wir

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standen so sehr in der Furcht des Herrn, dass wir sofort herunterwackelten. Ich konnte später mit Donnerworten auftretende Autoritäten nie ernstneh­ men, nur wenn sie gute Argumente hatten. In der Schule war ich freier, emotional ungebunden, nicht befangen, wie zu Hause. Trotzdem entwickelte ich mich nach und nach zu einem Sonder­ ling. Mein einziges Plus war meine Wildheit, ich wich keinem Ringkampf aus und reagierte auf meine Unzulänglichkeit im Turnen mit Trotz und Widerborstigkeit. Später habe ich die Milchbar in der Hauptstraße für mich entdeckt, bin dorthin ausgekniffen und habe mir manche Freistunde verord­ net. Die Schule wehrte sich mit Arrest, unmittelbar nach der Schule musste ich nachsitzen. Als ich auch dort nicht erschien, entschied der Rektor auf Karzer und schrieb einen Blauen Brief an meinen Vater. Während Unter- und Oberprima wurde ich doch noch Fahrschüler. Ich weigerte mich, länger unter dem Regime des Pfarrers und seinen Präzepto­ ren im Friedrichsstift zu leben. Mein ganzes jugendliches Leben stand unter Kontrolle. Selbst in der kurzen Freizeitstunde, in der ich las, was ich woll­ te, nicht was ich musste, beaufsichtigten die Präzeptoren im Lesesaal, was ich schrieb und las. Ich las zum Beispiel „Napoleon“ von Emil Ludwig, fand darin Briefe voller Leidenschaft an des Kaisers Josephine. Solche Briefe wollte ich auch schreiben, wenn es so weit käme. Aber die wüstesten Parties und ersten Freundinnen gingen an mir vorbei, während ich am Wochenende zu Hause auf den Odenwaldwiesen Fußball spielte. Aus Trotz habe ich meine Isolierung auf die Spitze getrieben, indem ich morgens, wenn ich den Klassenraum betrat, mit niemandem sprach. Es gab eine Hierarchie, fünf Olympier in der Klassenspitze, auf die ich eifer­ süchtig war. Trotzdem wurde mir meine Arroganz nicht übel genommen, ich wurde nie gemobbt, vielleicht aus Mitleid. Ich glaube, dass niemals mit Worten geäußert wurde, dass unsere Fami­ lie einer Gruppe angehörte, die sich von den Familien der meisten anderen Menschen unterscheidet. Doch als mein Vater Anfang der 50er Jahre eine Familiengeschichte schrieb, ging seine Arbeit in mein Gefühl über. Ich wusste von diesem Zeitpunkt, dass ich einer großen, weitverzweigten und alten Familie entstamme. Von einem unserer Familientage brachte er einen Aufsatz von Hans-Joachim Schoeps über Preußen mit, über das andere Preußen, über Tugenden und Ideale, über Verantwortung des Adels und die konstitutionelle Monarchie. Ich habe diesen Aufsatz aufgesogen wie einen Schwamm, besorgte mir mehr und mehr Literatur darüber, berauschte mich am Gedanken, setzte mich hin und schrieb einen langen Brief an meinen Vater. Ich schrieb, dass wir als Familie die Verpflichtung hätten, uns poli­ tisch darum zu bemühen, die Monarchie wieder zu errichten. Mein Gefühl sagte mir, dass ich als Sohn einer solchen Familie in meinem Leben etwas



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leisten müsse, das meiner Verantwortung für die Allgemeinheit gerecht würde. Irgendwann überlegte ich mir, was ich nach dem Abitur machen könne. Gespeist durch wilde Lektüre, war meine Idee, nach dem Abitur Friedens­ soldat im Libanon zu werden. Dazu musste ich natürlich in die junge Bun­ deswehr. Ich las damals begeistert „Die Zeit“, weshalb die einzige, der ich eine kompetente Antwort auf meine drängenden Fragen zutraute, Marion Dönhoff war. Ich schrieb einen Brief an sie und fragte um Rat, ob die Bundeswehr irgendwann einmal für Uno-Missionen eingesetzt werden wür­ de. Sie antwortete mir sehr ernsthaft, dass sie sich vorstellen könne, dass es eines Tages tatsächlich soweit wäre. Ich war der einzige in der Klasse, der zur Bundeswehr wollte. Mein Vater fand die Idee schrecklich, völlig abwegig, stellte sich vor, dass ich Geschichte studiere. Aber ich setzte mich durch und während meiner drei­ jährigen Bundeswehrzeit lösten sich meine wilden Phantasien wie von selbst auf. Mein Vater fand später, die Bundeswehr hätte mir sehr gut getan, ich hätte mich toll entwickelt. Trotz meiner „tollen Entwicklung“ wollte ich aber noch immer das Falsche studieren, nicht Geschichte, sondern Volks­ wirtschaft. Ich dachte, ich könne damit am besten verstehen, wie Deutsch­ land und die Welt funktionieren. Obwohl mein Monarchismus längst verflo­ gen war, speiste sich mein Studienwunsch immer noch von der vagen Idee, Politiker zu werden.

Fedja Müller * 22. Januar 1938 in Eggenfelden Meine Mutter lebte mit mir recht kärglich von der Kriegerwitwenrente, und ab jeder Monatsmitte mussten wir aufs Neue hin und her überlegen, was machen wir jetzt zu essen, wie kommen wir bis zum Ersten über die Runden. Ich wollte aber, so mit 16 Jahren, etwas von der Welt sehen, und ohne Geld ging es nur per Anhalter. Das waren meine „Universitäten der Land­ straße“, wie es Bert Brecht in seinem Gedicht über Maxim Gorki sagt. Ich habe beim Trampen viel gelernt. Man weiß nie, wo man abends schlafen wird, ob im Freien, im Straßengraben oder in einer Tiefgarage zwischen parkenden Autos. Es gab keine Möglichkeit, etwa bei der Bank oder zu Hause anzurufen, wenn während langer Wochen zwischendurch etwas schief lief. Das Trampen war damals noch nicht so üblich. Weite Strecken ging ich zu Fuß, so bin ich etwa 1956 über den Brenner zurück marschiert. Hinter Innsbruck nahm mich dann ein Opernproduzent aus London in seinem schi­ cken Wagen mit. Er sagte mir, er habe vor, ins Konzentrationslager Dachau zu fahren, ob ich mitwolle. Wir sind stumm dort durchgegangen. Das Bild dieses einen Ortes hat mir gereicht. Mein Begleiter sah wohl, wie fertig ich war. Sein einziger Kommentar: Glaub bloß nicht, dass das nur Deutsche gekonnt hätten. Unter entsprechend ungünstigen historischen Umständen würde das mein englisches Volk genauso tun. Was wir alles im Namen des Empire verbrochen haben, kannst du dir gar nicht vorstellen. Er hat es also relativiert, worum ich ihn gar nicht gebeten hatte oder auch nur hätte bitten wollen. Der Anblick dieses Lagers, geputzt, gleichsam staubgewischt, mu­ seal wie unter einer Vitrine und noch dazu ohne weitere Besucher an jenem Tag, hat mich derart bestürzt, dass ich die deutsche Staatsangehörigkeit aufgeben wollte. Niemand hat mich verstanden, man schüttelte bestenfalls den Kopf. Ich habe es nur deswegen nicht ausgeführt, weil ich als Staaten­ loser, jedenfalls damals, nicht hätte studieren dürfen. Im Allgemeinen bleibt auch die politische Kultur der Adenauerzeit zu bedenken, vor allem an kleinen Orten wie Lichtenfels. Mehr als 70 Prozent CSU. Wer nicht in jener Partei war, machte besser nicht einmal ein Gewer­ be auf, obwohl er es natürlich „durfte“. Das war ein weitgehend geschlos­ senes System, zusammen mit einer heute unvorstellbar gewordenen Macht



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der katholischen Kirche. Als die „Die Sünderin“ anlief – nicht in Lichten­ fels, sondern in einem „notorisch protestantischen“ Dorf der Gegend, weil es in der Stadt keines der Kinos wagte, den Film zu zeigen – sind die Leute zunächst scharenweise dorthin gefahren. Vor dem Kino standen aber je zwei katholische Kapläne rechts und links vom Eingang mit einem Block und einem Stift und haben die Namen der Leute notiert. Als sich das wie ein Lauffeuer herumsprach, trauten sich nur noch Leute aus der evangeli­ schen Minderheit in den Film. Vor dem Pfarrer haben die Leute gezittert, jedenfalls in diesem hintersten Winkel von Bayern, den man sich damals nicht unaufgeklärt genug vorstellen kann. In eben dieser Zeit habe ich den Kriegsdienst verweigert, 1957. Das war lange vor den liberalisierenden Entscheidungen des Bundesverfassungsge­ richts und erst recht vor der so genannten „Postkartennovelle“35 zum Wehr­ pflichtgesetz. In den 50er Jahren war die Verweigerung noch ein Spießru­ tenlaufen. Ich brauchte, allein um den Antrag stellen zu dürfen, zunächst einmal zwei Personalgutachten, die unter Angabe von Gründen belegen konnten, ich sei trotz allem im Grunde ein anständiger Mensch. Ich bin von Pontius zu Pilatus gelaufen. Ein eher gutmütiger Kaplan und ein großherzi­ ger CSU-Landrat, der bei der Schulfeier meine Abiturrede gehört und mir ihretwegen zugeraunt hatte: „Sie sind ja fast zu gut für diese Welt“, stellten mir schließlich solche Persilscheine aus. Das war aber erst der Anfang. Es gab dann, an meinem Studienort Freiburg im Breisgau, ein gerichtsähnliches Verfahren mit stundenlanger mündlicher Vernehmung und Verhandlung in eisiger Atmosphäre, allein gegenüber fünf Leuten auf einer Art Richterbank. Ich war vorher seitens einer Organisation von Verweigerern gewarnt wor­ den, ich müsse sehr aufpassen, zu meiner Kommission gehörten drei orts­ bekannte Altnazis. Der vierte sei ein unbeschriebenes Blatt, der Vorsitzende ein ausgebildeter Jurist und „scharfer Hund“. Es war ein unerbittliches Verhör. Sie versuchten nach Kräften, mich niederzumachen oder in Fallen zu locken, so etwa mit dem triumphal vorgebrachten Argument, ich käme doch aus einer katholischen Familie und alle Päpste hätten die Kriegsdienst­ verweigerung verurteilt, was durchaus zutraf. Wie war ich überhaupt zum Studium gekommen? Immerhin hatten einige meiner Lehrer, die vorhin genannten Außenseiter, meiner Mutter zugeredet, mich gegen deren Absicht doch Abitur machen und später studieren zu lassen. Ich strebte weg aus jenem Winkel des Zonenrandgebiets, doch mei­ ne Mutter wollte mich dort auf immer festhalten. Am Schluss war es der Schuldirektor, der mich bei der „Studienstiftung des Deutschen Volkes“ 35  Änderung des Wehrpflichtgesetzes durch die sozial-liberale Bundesregierung 1977, im Folgejahr auf eine Klage der CDU / CSU-Opposition hin durch den 2. Se­ nat des Bundesverfassungsgerichts wieder aufgehoben.

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anmeldete. Ich wollte Linguistik und Philosophie studieren. Doch dann kam der Familienrat und beschloss, es müsse Jura werden. Dieser Lebensbereich zog mich überhaupt nicht an. Der Tag, den wir auf Anordnung unseres Gymnasiums im heimischen Amtsgericht hatten verbringen müssen, stieß mich spontan von der Welt des Rechts ab. Ich verstand nicht, wie sich er­ wachsene Menschen lebenslang mit einer mir so kleinlich erscheinenden Materie beschäftigen konnten. Nach der ersten Vorlesungsstunde im ersten Semester in Erlangen dachte ich nochmals das Gleiche. Ich sprang nur deshalb nicht ab, weil es mir angesichts zunehmender Informiertheit über den Zustand der Welt immer mehr um Recht und Unrecht ging; darum, etwas gegen die allgegenwärtigen Ungerechtigkeiten zu tun. Und dafür er­ schien mir eine wie auch immer geartete fachjuristische Funktion notwen­ dig. Die Aussicht, nur Leserbriefe zu schreiben, war nicht verlockend. Während meiner Freiburger Studienjahre arbeitete ich an der Studenten­ zeitung mit. Ich schrieb nicht über „unsere“ Themen, sondern, abgesehen von Theater und Literatur, etwa gegen die Franco-Diktatur, gegen die Folter, gegen den Algerienkrieg. Es waren Themen, über die man sich damals nur mit einiger Mühe näher informieren konnte. Allerdings mussten der Chefre­ dakteur, ein Kollege und ich bald darauf zum Rapport beim Rektor. Er brüllte schon bei unserem Eintreten: „Ob ich an meiner Universität 9.000 oder 8.997 Studenten habe, das ist mir egal!“ Er versuchte der Redaktion vorzuschreiben, sich auf studentische und akademische Fragen zu beschrän­ ken, denn von Außenpolitik und überhaupt von Politik hätten wir keine Ahnung. Der Rektor musste nicht etwa selber unser qualitativ achtbares Blatt lesen. Er verfügte über einen verlässlichen Vor-Anstreicher, sein Chauffeur war immer einer der Ersten an unserem Stand. Er kaufte, in seinem schwarzen fußlangen SS-Ledermantel und mit bitterernster Miene, ein Exemplar und hat dann für seinen Herrn die anstößigen Stellen am Rand markiert. Wir sahen ihm manchmal zu, wie er das tat, an den Dienstwagen des Rektors gelehnt. Aber die Redaktion hielt zusammen. Als Rechtsreferendar in Freiburg wurde ich später im Rahmen der Staats­ anwaltschaft während dreier Monate dafür abgestellt, rasch noch die Berge von Akten der früheren Naziverbrechen in Südbaden, dem Bezirk des dor­ tigen Oberlandesgerichts, durchzuarbeiten. Das war gegen Ende des Jahrs 1964, als sich der Termin für die Verjährung der Nazikriminalität näherte36. Eine Verjährung lässt sich durch bestimmte Verfahren und Beschlüsse un­ terbrechen, und ich sollte prüfen, in welchen Fällen „sich das noch lohnte“. 36  Im März 1965 gab es eine große diesbezügliche Debatte im Bundestag, an deren Ende die Verjährung für Mord von 20 auf 24 Jahre verlängert wurde. 1969 folgte die nächste parlamentarische Verjährungsdebatte. Schließlich hat der Bundes­ tag die Verjährung für Mord 1979 allgemein aufgehoben.



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Ich hatte dieses Gebirge aus Papier und Grauen ganz allein durchzupflügen und Entscheidungsvorlagen zu formulieren, ohne dass sich einer der Staats­ anwälte damit die Hände schmutzig machen wollte, oder was auch sonst deren Motive gewesen sein mögen. Das hat mich, zu diesem Zweck in eine mit Akten randvolle Kammer unter dem schrägen Dach des Justizgebäudes verbannt, Monate der depressiven Reaktion gekostet. Es war unerträglich, so viele Verbrechen, gerade auch der Wehrmacht, von Befehlshabern und auch aus eigener Initiative einfacher Soldaten. Das Entsetzliche dabei war, dass da kein Claude Lanzmann oder Raul Hilberg, nicht irgendein fühlen­ der, denkender, gestaltender Mensch dazwischen stand, kein Historiker oder Dokumentarfilmer. Es waren einfach bürokratisch korrekt geführte alte Akten, im Rohzustand der Brutalität. Da war, um das Allermildeste zu nen­ nen, etwa von einer älteren Dame die Rede, Dr. Gertrud L. Sie ist wegge­ schleppt und deportiert worden. In den Protokollen steht: „Die Dr. L. ist klein von Wuchs und hat eine auffallende Nase, so dass niemand in ihr eine Persönlichkeit vermuten würde.“ Ein Satz sagt mehr als hundert Auf­ sätze. Andere Einzelheiten dieser Akten, die ich aus dem Gedächtnis nicht weg bekomme, will ich nicht wiedergeben, noch heute nicht. Nie kam während dieser Zeit eine Meldung, mein Vater sei dann und dann oder dort und dort gefallen. Seine Wiederkehr wurde von uns inzwi­ schen nicht mehr von Tag zu Tag konkret erwartet. Sie blieb aber der las­ tende, immer gegenwärtige Horizont des Familiengeschehens und seiner Gefühlswelt.

Frank Tidick * 18. Dezember 1940 in Königsberg Mein Vater war im Krieg Kriegsberichterstatter. Er hat sich weitgehend über diese Zeit verschwiegen und in allgemeine Formulierungen zurückge­ zogen. Er hatte ein Flugzeug und einen Kameramann, ist über Frankreich, Norwegen und Russland, sogar über England geflogen. Mein Vater konnte von sehr präzisen Fotografien aus der Luft schwärmen, aber was er genau gemacht hat, das weiß ich nicht. Es sind keinerlei Dokumente vorhanden. Heute ärgert es mich sehr, dass ich ihn nicht gezwungen, ihn nie richtig zur Rede gestellt habe. Ich war meinem Vater zu verträumt, nicht ehrgeizig und nicht erfolgreich genug. Mein Vater sah sich als Mensch, der mit beiden Beinen in der Welt stand und sie auch noch erklären konnte, das heißt, er war ein Mann des Wortes, eben Journalist durch und durch. Als älterer von zwei Söhnen muss­ te ich früh Verantwortung übernehmen und die Aufgaben erledigen, die meine Eltern nicht erledigen wollten. Wenn sie verreist waren, habe ich den Haushalt geschmissen, meinem Bruder die Flasche gegeben und selbstver­ ständlich war ich beim Segeln der zweite Mann an Bord. Zwischen meinem Vater und mir gab es Spannungen, wir hatten jahrzehntelang ein merkwür­ diges Konkurrenzverhältnis. Aber vielleicht ist das typisch zwischen Vätern und Söhnen. Vor dem Krieg hatte er für die Königsberger Ausgabe der „Vossischen Zeitung“ geschrieben. Mein Vater war der älteste von vier Söhnen, als er neun oder zehn Jahre alt war, ist sein Vater gestorben. Aber meine Groß­ mutter war eine starke Frau, hat erst einen Kaufmannsladen und dann ein eigenes Taxiunternehmen gegründet und so die Familie über Wasser gehal­ ten. Sie duldete auch, dass mein Vater in der Wohnung sein erstes Boot baute. Weil er aus keiner betuchten Familie stammte, aber sehr technik- und sportbegeistert war, und die Nazis die Verwirklichung seiner Segel- und Flugwünsche ermöglichten, hatte er wohl die kritische Distanz eingebüßt. Meine Eltern haben sich nach dem Krieg wie verrückt nach der ostpreu­ ßischen Heimat gesehnt. Der Verlust dieser Landschaft war sehr schmerzhaft für sie. Die Ostsee, die masurischen Seen, vor allem aber das Kurische Haff waren ihre Segelreviere, im Sommer auf dem Wasser und im Winter auf



Frank Tidick211

dem Eis. Das Eissegeln haben die Königsberger nach Norddeutschland ge­ bracht. Ich weiß noch, wie meine Eltern ihre ersten vierzig Mark „Begrü­ ßungsgeld“ nach der Währungsreform 1948 in Kampen auf Sylt verjubelt haben. Ein Jahr später musste ich mit zum Segeln auf der Schlei. 1950 hat mein Vater sich endlich einen neuen Piraten37 gekauft. Wann immer es ging, waren wir auf dem Wasser, der Ersatzdroge für Ostpreußen. Gleich nach dem Krieg hatten diese Königsberger im Exil nichts Besseres zu tun, als ihren alten Segelclub „Rhe“ in Hamburg wiederzubegründen. Da trafen sich viele alte Ostpreußen. Hier lernte ich auch meine Frau Marianne kennen. Sie ist zwar kein Flüchtlingskind, sondern waschechte Hamburge­ rin, nahm aber lieber die ostpreußischen Lieder in Kauf, als weiter, allein unter Mädels, mit schwerfälligen Kuttern auf der Elbe zu schippern. Marianne und ich wurden ein gefürchtetes Doppel. Das fing schon beim Shah-Besuch in Hamburg im Juni 1967 an. Wie in West-Berlin gab es auch hier heftige Demonstrationen und wir waren mittendrin. Wir haben uns überlegt, wie wir das Ganze hochnehmen könnten, eine Schaufensterpuppe besorgt, sie wie einen Studenten angezogen und der Polizei mit freundlichen Grüßen als Übungsobjekt zur Verfügung gestellt, damit sich die Polizisten nicht mehr an echten Studenten abreagieren müssen, sondern fortan an Puppen. Das Ding stand später in der Mensa. Ich bin kein richtiger 68er geworden. Mein Studium habe ich mir mit vielen Jobs verdient, zum Beispiel als Schlafwagenschaffner. Das erste ju­ ristische Staatsexamen legte ich schon 1966 ab, 1968 war ich im Referen­ dariat und ein Jahr darauf habe ich mit einer Arbeit über die Verwaltungs­ organisation des Hamburger Hafens promoviert. Ich war früh politisiert, allein schon, weil es bei uns zu Hause immer mindestens vier Zeitungen gab und mein Vater darauf bestand, dass ich las. Gleichzeitig hatten wir das „Hamburger Fremdenblatt“, die Hamburger „Freie Presse“, das „Abend­ blatt“ und das sozialdemokratische „Hamburger Echo“. Marianne und ich diskutierten lange, welcher Partei wir nun beitreten sollten. Sie war mehr für die neue F.D.P., weil sie von Hildegard Hamm-Brücher fasziniert war, ich mehr für die Sozis. Letztlich sind wir beide in der SPD gelandet. 1969 haben wir geheiratet und noch vor unserer Zeit in Bonn eine schöne Woh­ nung in Blankenese bezogen, die zwar völlig sanierungsbedürftig war, aber für 100 Altbauquadratmeter nur 200 Mark Miete kostete.

37  Bootsklasse,

fünf Meter lange Segeljolle.

Michael Naumann * 8. Dezember 1941 in Köthen Erst als ich 13 war, erzählte mir meine Mutter das erste Mal von unseren jüdischen Verwandten, die alle während der Nazizeit emigrieren mussten. Damit begann meine Auseinandersetzung mit dem „Dritten Reich“. Bei meiner Mutter blieb eine permanente Angst vor dem Staat. Alles wurde sortiert und abgerechnet, sie war akten-neurotisch. Mein Türöffner zur deut­ schen Geschichte wurde der entsetzliche Gerstein-Bericht über die Massen­ vergasung von Juden. Damals war ich 15 Jahre alt, oder 16. Da war plötz­ lich die Wahrheit. Richtig politisiert wurde ich später durch den Kölner Sachsenhausenprozess, den ich regelmäßig besuchte. Nach einigen Wochen waren neben mir allerdings nur noch zwei Penner und ein paar Journalisten als Zuschauer dabei. Eine wichtige kulturelle Prägung erhielt ich vor allem in meinem Aus­ tausch-Jahr in Amerika, an der High School in der Kleinstadt in Mexico, Missouri. Das war 1959 / 60. Das erste Mal habe ich erleben dürfen, wie uns jungen Leuten von den Lehrern Respekt entgegengebracht wurde. Ich war ein Glückskind, ich traf auf einen Lehrer, der die Fähigkeit hatte, die Inte­ ressen der Schüler zu erkennen und ihnen individuelle Leseempfehlungen zu geben, von denen er glaubte, dass die Lektüre die Schüler positiv durchs Leben begleiten könne. Und so war es. Drei aus meiner Englisch-Klasse wurden in Harvard angenommen, und jeder weiß wie groß Amerika und wie klein Mexico, Missouri ist. Während meines Studiums in München wollte ich Vorlesungen über den Nationalsozialismus und Hitler hören, doch die gab es damals kaum, nur in Marburg bei Ernst Nolte, der damals noch nicht so exzentrisch, sondern brillant war. In München musste ich etwas tun. Gemeinsam mit Michael Jürgs grub ich in der Staatsbibliothek NS-Texte des damaligen bayrischen Kultusministers und Kommentators des Grundgesetzes Theodor Maunz aus, der in Wirklichkeit ein Nationalsozialist von Graden war. Wir gaben die Zitate an die „Süddeutsche“ und an die „Abendzeitung“ weiter. Es wurde gedruckt und so flog er aus seinem Minister-Amt. Dann haben wir Flugblät­ ter bei der Geschwister-Scholl-Gedenkfeier heruntersegeln lassen mit den NS-Zitaten einiger Professoren, die dort im Lichthof saßen. Die Leute dachten erst, das sei eine sentimentale Inszenierung, aber dann konnte man



Michael Naumann213

ihre Erstarrung sehen. Ein Paket Flugblätter rauschte knapp an einem CelloSpieler vorbei, der seelenruhig und konzentriert zwischen den Buchsbäumen saß. Hätte ihn das getroffen – Totschlag. Professor Eric Voegelin, ein Re­ migrant, der zu diesem Zeitpunkt eine Vorlesung über das „Dritte Reich“ hielt, zitierte mithilfe unserer Zettel diese Leute und sagte den unsterblichen Satz: „Und mit diesem braunen Gesindel muss ich mich einmal im Monat in der Fakultät treffen.“ In München war der SDS eher theatralischer Natur, im Vergleich zum intellektuellen Hochglanzniveau von Frankfurt oder dem Aktivismus von Berlin. Hoch her ging es dann allerdings bei der Blockade des Springer Verlags während der Osterunruhen 1968, kurz nach dem Attentat auf Dutschke. Wir wollten eine friedliche Blockade machen, aber die Demo lief aus dem Ruder. Die Polizisten hoben Barrikadenbalken hoch und warfen sie in die Massen. Den Studenten Rüdiger Schreck traf ein stumpfer Gegen­ stand am Kopf und er war tot. Hinter uns warfen ein paar gewaltbereite Mitdemonstraten mit Pflastersteinen. Neben mir sackte ein Mädchen blut­ überströmt zusammen, aber sie überlebte. Dann traf es den Fotografen Klaus-Jürgen Frings von der „Bild“-Zeitung und er starb. Das war ein Schock. Ich war Präsident des Universitätsparlaments in München. Unsere SHBGruppe fusionierte irgendwann 1968 mit dem SDS, gleichzeitig war ich aber antitotalitärer Antikommunist. Meine Verachtung des DDR-Systems saß tief. Ich verabschiedete mich aus dem Club. Natürlich war ganz offen­ kundig, dass es auch bei uns im Westen unendlich viele soziale Ungerech­ tigkeiten gab. Gleichzeitig war ich imprägniert gegen einen organisierten Sozialismus durch meine Erfahrungen, die sich im Laufe der Jahre verstärk­ ten.

Abt Franziskus Heereman von Zuydtwyck * 7. März 1946 in Hannover Mit 16 ging ich auf das dominikanische St.-Thomas-Kolleg in Vechta und wurde in dem damals noch üblichen autoritären System erzogen. In der Dominikanerschule bekamen die meisten immer mal wieder eine Ohrfeige, ich wurde wegen meiner flotten Sprüche aber nur verbal verwarnt und musste Strafarbeiten schreiben. Nach der großen Schulreform hießen sie dann nur noch „Übungsaufgaben“. Die Lehrer waren durchweg Kriegsteil­ nehmer, redeten anekdotisch über den Krieg, kamen im Geschichtsunterricht aber nicht weiter als bis zur Einigung 1870 / 71. Nach dem Abitur wollte ich sofort in den Dominikanerorden eintreten, meine Eltern hatten zwar prinzipiell nichts dagegen, fanden das aber zu schnell. Die Lösung hieß, ein Jahr „Trainee“ im Arbeitermilieu Amerikas, auf sich selbst gestellt sein, etwas anderes sehen. Das war natürlich erst einmal ein Kulturschock für mich. Der zweite Programmpunkt vor dem Ordenseintritt hieß Studium, erst in Freiburg in der Schweiz und schließlich 1968 an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. Zu der Zeit war in Rom echt etwas los, natürlich wurde nicht an der Gregoriana selbst, aber überall sonst gestreikt. Einmal bin ich bei einer Demo gegen den Biafra-Krieg in Nigeria mitge­ laufen, habe auch laut „pace“ gerufen, doch sehr schnell erwuchsen aus diesen Rufen kommunistische Töne. Dafür konnte ich mich damals schon nicht begeistern, weshalb ich bald in einem Straßencafé landete, Cappucci­ no trank und dabei zugucken konnte, wie die anderen nassgespritzt wurden. Erst im Laufe der Jahre ist mir klar geworden, dass ich Teil dieser Genera­ tion bin und diese Unruhe, diese Träumereien, diese wichtigen emanzipato­ rischen Impulse in mir rumtrage. Große Hoffnungen ruhten damals auch auf der Erneuerung der Kirche, viele Menschen waren beteiligt. Die Enttäu­ schung über die Nichterfüllung ist groß, aber so ein großer Umbruch konn­ te sich nicht so schnell vollziehen, das war illusorisch. Insofern lassen einen die Enttäuschungen bei der Wirklichkeit ankommen, die eben viel komple­ xer und mühsamer als die eigenen Träume ist. Natürlich war ich in der Zeit auch nicht unempfänglich für die Reize des anderen Geschlechts und war manchmal verunsichert ob meines Ziels. Doch



Abt Franziskus Heereman von Zuydtwyck215

gleichzeitig hatte ich einen Gedanken in meinem Kopf, der mich nicht los­ ließ und weitertrug: Wenn du mit dir und dem lieben Gott ernst machen willst, dann musst du Mönch werden. Das war eine Erkenntnis, die meinen Lebensweg bis heute bestimmt, eine Erkenntnis, die nicht mit der nächsten hübschen Frau schon wieder vergessen ist. Diese Entscheidung war ein Konvolut von Gnade und Selbsttäuschung, wäre ohne Verliebtheit und einer gewissen Naivität aber wohl auch schwer denkbar gewesen. Mit meinen Motiven von damals könnte ich heute nicht mehr in einem Kloster leben. Die Projektionen und Vorstellungen vom idealen Leben, die mich als Wurm an der Angel des lieben Gottes ins Kloster brachten, wurden im klöster­ lichen Alltag sehr schnell geerdet. Wir standen morgens Viertel nach zwei Uhr auf, gingen kurz nach sieben Uhr ins Bett, und dabei bin ich eigentlich ein Abendmensch. Körperliche Arbeit spielte in den ersten Jahren eine gro­ ße Rolle, Bäume fällen, Kühe melken. Das hält man nicht mit spinnerten Selbsttäuschungen aus. Doch wenn Sie eine Ehe eingehen, wissen Sie vor­ her auch, dass die Frau Haare im Waschbecken hinterlässt und der Mann mitunter daneben pinkelt. Entweder Sie finden in der Ehe beziehungsweise im Kloster dann eine gemeinsame Basis oder Sie schmeißen irgendwann das Handtuch.

Sebastian Pflugbeil * 14. September 1947 in Greifswald Auf meinem Studienantrag standen Theologie und Physik. Schließlich wurde ich zum Physikstudium an der Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifs­ wald zugelassen. So konnte ich bequem zuhause wohnen bleiben und weiter die angenehmen Seiten des Hauses meiner Eltern nutzen: die Freunde, die Musik, die Bachwochen. Es hat mir gefallen, auf diese Weise zu studieren. In Greifswald gab es eine gute Universitätsbibliothek, in der ich überwie­ gend Bücher las, die ich nicht lesen sollte. Dort arbeitete eine Freundin, die mir auch die verbotenen Bücher heraussuchte. Die standen in einem Draht­ käfig unter Verschluss, der im Laufe der Zeit immer größer und größer wurde. In den Karteikästen der Kataloge konnte man die verbotenen Bücher finden, sie waren mit einem roten Punkt markiert, aber man kriegte sie nicht. So war es sehr hilfreich, eine gute Bücherfreundin zu haben. Natürlich hat mich der Westen interessiert. Es war ein gewisser Sport, Sachen zu finden, die man nicht finden sollte. Westliche Zeitungen gab es aber nicht in Greifswald. Informationen bekamen wir manchmal durch Be­ sucher aus dem Westen. Von den westlichen Bruderkirchen wurden auf verschiedenen Schienen Sachen rübergeschoben. Wir bekamen Fresspakete, gebrauchte Kleider und Schuhe, Milchpulver und einmal eine große Kiste Lebertran. Die Flaschen standen viele Jahre in der Speisekammer. Manch­ mal gab es etwas Gedrucktes. Durch solche Kontakte, durch die offensichtliche Differenz zwischen Propaganda und erlebtem Alltag haben wir gemerkt, dass der Sozialismus hinten und vorne nicht stimmt, und dass viel gelogen und geschummelt wurde. Als Studenten mussten wir eine Rotlichtbestrahlung38 über uns erge­ hen lassen, die Typen, die das gemacht haben, waren ziemlich unterbelich­ tet. Die Rotlichtbestrahlung hat die Idee des Sozialismus eher kompromit­ tiert. Doch auch der Westen war schon damals nicht mein Traum. Wir kannten zwar nur wenige Details, aber auch durch meine Begegnungen mit der West-Verwandtschaft war mir als Kind schon klar, dass da ziemlich viel schief läuft. 38  Pflichtvorlesungen

im Fach Marxismus Leninismus (ML).



Sebastian Pflugbeil217

Mein Bild vom Sozialismus wurde durch den Mauerbau und ein paar Jahre später durch die Beschäftigung mit dem Prager Frühling schärfer. Die Kritik von innen am Sozialismus und den „Dritten Weg“ fand ich sehr in­ teressant. Von diesem Zeitpunkt an habe ich gebohrt und versucht zu erfah­ ren, was in der Sowjetunion, insbesondere während der Stalinzeit, gelaufen ist. Das war nicht erwünscht. Viele sind wegen ähnlicher Interessen in den Bau gegangen. Da konnte man sich verbrennen. Ich hatte mir nach dem Prager Frühling überlegt, mir Schusswaffen zu besorgen und in den Unter­ grund zu gehen oder in ein Kloster einzutreten. Richtigen Widerstand kann man natürlich nicht mit Familie machen. Tatsächlich habe ich gar nichts Radikales gemacht. Ich wollte einfach irgendwie durchkommen mit mög­ lichst wenig Bücklingen und Kompromissen, aber auch möglichst ohne die mächtigen Strukturen zu provozieren. Ich habe mehr die geräuscharme Tour bevorzugt und versucht, für mich selbst Klarheit zu schaffen und darüber mit Freunden zu reden, soweit das möglich war. Beim Wehrdienst wurde es schwierig. Mein Vater hatte feste Erziehungs­ vorstellungen bei mir, ich sollte Gesangsunterricht nehmen, Boxen und zur Armee. Armee gehöre zu einem jungen Mann dazu, sagte er mit seinem einen Arm. Mein Widerwille richtete sich folgerichtig gegen Gesangsunter­ richt, Boxen und besonders gegen die Armee generell, nicht speziell gegen die NVA. Für mich war die Geschichte meines Vaters genug Lehrstoff. Auch heute noch ist es für mich ein Rätsel, wie das mit dem Militär funk­ tioniert, dass man so viele Menschen dazu kriegt, freiwillig Berufssoldat zu werden. Es ist mir völlig schleierhaft, was in den Köppen dieser Leute vorgeht. Durch mein Studium und meine Aspirantur hatte ich aber glückli­ cherweise die Altersgrenze für die Wehrpflicht überschritten und wurde nicht mehr eingezogen, auch nicht als Reservist, weil das für Bausoldaten, Wehrdienst ohne Waffen, nicht vorgesehen war. Meine Aspirantur begann ich an der Akademie der Wissenschaften 1972 in Berlin. Dort wurde nicht nach politischen Referenzen gefragt, deshalb war die Akademie keine schlechte Adresse. Es gab dort mehr Freiraum, es fand relativ wenig politischer Terror statt. Dennoch musste man bei einer Aspirantur wieder eine Rotlichtbestrah­ lung über sich ergehen lassen. Das Charmante daran war, dass die Scheine, die man da für eine Doktorarbeit erwarb, eine Gültigkeitsdauer von nur zwei Jahren hatten. Dauerte die Doktorarbeit länger, musste man noch ein­ mal hin. Das war bei mir der Fall, denn ich wollte die Einsetzung von Computern und kernphysikalischen Messmethoden in der Physiologie unter­ suchen, wofür es die passenden Geräte in der DDR noch gar nicht gab. Ich musste eineinhalb Jahre auf die ungarischen Kopien der amerikanischen Geräte warten.

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II. Jugend

Am Ende musste ich also nochmals zur Rotlichtbestrahlung, und anstatt eine Schlaftablette zu nehmen und das über mich ergehen zu lassen, habe ich damals zugehört. Da referierte unter anderem ein hoher Offizier aus der NVA, der so ganz lakonisch erzählte, wenn die Errungenschaften der DDR und des Sozialismus vom Westen angetastet würden, würde der Warschauer Pakt auch Atomwaffen als erster einsetzen. Zuvor war durch die Medien gegangen, dass der amerikanische General Haig spiegelbildlich das Gleiche gesagt hatte. Das „Neue Deutschland“ hat sich das Maul zerrissen, was das für ein mieser Schurke sei. Deshalb entgegnete ich dem Offizier der NVA, dass sich seine Worte nicht viel anders anhörten, als die Äußerung des amerikanischen Generals. Da hat er einmal tief Luft geholt und weiterer­ zählt als ob nichts gewesen wäre. Als Resultat bekam ich keinen Termin für die Verteidigung meiner Promotion. Er hatte sich beim ZK-Mitglied Kurt Hager und beim Armeegeneral Heinz Hoffmann beschwert und die haben sich wiederum beim Akademiepräsidenten und den SED-Parteistrukturen beschwert. Eine besondere Kuriosität dabei war, dass ich die Arbeit zusammen mit zwei anderen Kollegen aus verschiedenen Disziplinen geschrieben habe. Es standen also drei Leute auf dem Deckblatt, die beiden anderen Kollegen konnten ihre Anteile an der Arbeit verteidigen, ich aber nicht. Das war das einzige Mal, dass ich eins auf die Nase gekriegt habe. Ich hätte mir die Bemerkung verkneifen können, aber Atomwaffen waren eben mein Thema. Meine Karriere war also mit 27 beendet, weil ich die üblichen Politspie­ le nicht mitgespielt habe. Ich blieb wissenschaftlicher Mitarbeiter und wäre es bis 65 geblieben. Das hätte mich aber nicht wesentlich gestört. Durch die Verhältnisse war früh klar, dass ich keine steile Karriere machen konnte. Ich hatte mich eingerichtet. Manchmal wurde ich noch zum Direktor bestellt, wenn ich irgendwelche Traktate geschrieben hatte. Da saßen sie dann: Der Direktor, die Kaderleiterin, mein Abteilungsleiter und zwei Her­ ren, die sich nicht vorstellten. Sie drohten damit, mich zu versetzen oder rauszuschmeißen. Passiert ist mir nie etwas. Nach der Wende bekam ich zu meiner Überraschung einen Umschlag mit meiner Promotionsurkunde, mitunterzeichnet von meinem damaligen Insti­ tutsdirektor, der zuvor vergeblich versucht hatte, mich zu disziplinieren.

Peter May * 5. Dezember 1948 Ich habe zu Hause revoltiert, bis ich rausgeflogen bin. Unsere Streits drehten sich erst um die Erziehungsmethoden, später immer mehr um das „Dritte Reich“ und den Vietnamkrieg. Für uns kritisch denkende und von Rockmusik bewegte junge Menschen war ganz klar, dass wir auf Seiten des Vietcong standen, wir würfelten alles zusammen: Wer für die Amis ist, ist auch für Hitler gewesen, in jugendlichen Köpfen wird ja nicht differenziert. Bei den Erwachsenen allerdings auch nicht, sie sagten dann: „Geh doch nach drüben!“ Meine Eltern waren keine richtigen Nazis, mein Vater war Soldat, meine Mutter im BDM und gefühlsmäßig durchaus angetan von dem System. Ich habe sie sehr radikal in Frage gestellt, ihnen vorgeworfen, dass sie schuld am Krieg seien, weil sie nichts dagegen getan hätten. Diese heftige Ausei­ nandersetzung führte dazu, dass ich mit meinem Vater jahrelang nicht rich­ tig reden konnte, weil er sich verletzt fühlte, sich selbst eher als Opfer sah, er war 18 als er eingezogen wurde. Wahrscheinlich hat er selbst nicht ver­ standen, was da passiert ist. Beide konnten mir auch nicht erklären, warum sie nichts getan hatten, rechtfertigten sich vor mir, was meine bohrenden Fragen noch zusätzlich anstachelte. Wahrscheinlich wäre es gut gewesen, wenn mein Vater über den Krieg gesprochen hätte, aber mit mir konnte er das nicht, ich hätte ihm sofort verbal die Pistole auf die Brust gesetzt. Das Ganze war natürlich heftig für meine Eltern, die spießig, kleinbürgerlich, angepasst zwanzig Jahre nichts weiter getan hatten, als zu versuchen, einen kleinen Wohlstand anzuhäufen, Fuß zu fassen. Dann kommt so ein Heran­ wachsender und sagt ihnen direkt ins Gesicht: „Ihr seid doch Nazis geblie­ ben, im Grunde seid ihr schuld an der Misere.“ Es eskalierte jedenfalls, bis meine Eltern sagten, dass sie es mit mir nicht mehr aushielten. Eine Zeitlang wohnte ich bei einer befreundeten Familie und schließlich landete ich im Internat. Als Erstes abonnierte ich dort die „Peking Rundschau“, eine Zeitung, die auf Luftpostpapier gedruckt wurde. Aus heutiger Sicht stand da Schwach­ sinn drin, aber eben etwas ganz anderes, als mir von den Eltern bekannt war, damit war es interessant und bildete die Grundlage so mancher Dis­

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kussion. Mao galt uns als Verkörperung der richtigen Revolution und schon in der Schule trug ich meinen Mao-Button. 1967 ging ich an die Hamburger Uni, um Mathe und Physik zu studieren, doch dann kam die Revolte und Mathematik wurde zu dröge. Ich wechsel­ te zur Psychologie, gleich an meinem ersten Tag besetzten wir das Psycho­ logische Institut und ich bin innerhalb von Stunden radikalisiert worden. In die Schusslinie geriet Professor Peter Hofstätter39, ein damals sehr bekann­ ter Psychologe, der mindestens nationalkonservativ war, wenn nicht sogar nazistische Anklänge hatte, und dessen Theorien völkische Gedanken enthielten. Während dieser Besetzung ging es aber auch ums Große, um den Vietnamkrieg und den Sozialismus. Alle wichtigen „revolutionären“ Schrif­ ten flatterten bei uns rum. Ich lernte gleich in der ersten Woche Flugblätter zu schreiben. Als Erstsemester war man dafür begehrt, weil man begeiste­ rungsfähig und formbar war und vor allem Zeit hatte. Bei der Gründungsversammlung der Hamburger Sektion des „Sozialisti­ schen Deutschen Studentenbundes“ (SDS), auf dem Dachboden im „Pferde­ stall“, heute das Kino Abaton, war ich dabei. Dieses Gebäude gehörte zum Psychologischen Institut und war natürlich ebenfalls von uns besetzt. Dort fanden die Treffen des SDS statt, Tag und Nacht. Ich fand die Diskussionen großartig, als das Wichtigste überhaupt, nämlich als geistige Nahrung. Wir haben die Welt in diesen Gesprächen, Auseinandersetzungen und Streits neu gedeutet, uns ein Weltbild geformt. Ich nahm rege an verschiedenen Zirkeln teil, zum Beispiel zur „Kapital“-Schulung, habe dafür das „Kapital“ voll­ ständig gelesen, auch Lenin und Kropotkin. Marx schätzte ich als Philoso­ phen und Schriftsteller, aus seiner Dialektik schöpfe ich noch heute, eine hervorragende Methode um Probleme anzugehen. Als ich meine jetzige Frau kennenlernte, fragte ich sie schon am ersten Tag, ob sie das Kapital kenne. Das war mir damals wichtig. Natürlich haben wir nicht nur gelesen, sondern auch gehandelt. Im Afri­ kanischen Institut stürzten wir zum Beispiel Denkmäler von kolonialen Kaufmännern, die für die Unterdrückung Afrikas mitverantwortlich gewesen waren. Die Uni war für uns mitschuldig an der Kolonialgeschichte und am Faschismus. Jede Fachschaft beschäftigte sich mit den nationalsozialisti­ schen Verstrickungen der eigenen Wissenschaft, wie wir mit Professor Hofstätter, weil diese Art von Psychologie den Faschismus begünstigt hatte. Die Welt wurde im Kosmos des Campus gespiegelt. Über das Proletariat wussten wir weniger, obwohl wir viel darüber schwafelten. Ab und zu sind wir zwar zum Hafen marschiert, um Flugblätter zu verteilen, wunderten uns dort aber über die Sprüche der Arbeiter. Das reichte von: „Na ja, ist ja ganz 39  Peter Hofstätter vertrat u. a. die These von einer angeblich niederen Intelligenz der Schwarzafrikaner.



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nett, was ihr da macht“ bis zu: „Geht doch erst mal arbeiten“. Da war wenig Verständnis auf beiden Seiten, unsere Parolen waren eher abstrakt, die Studentenrevolte war nicht einmal mit den übrigen Angestellten und Arbeitern der Uni verbunden. Da ich gut reden konnte, wurde ich manchmal von Firmenvertretern ein­ geladen, die gerne die Position eines SDS’lers hören wollten. So referierte ich beispielsweise vor den Managern von „Philips“ darüber, warum wir die Weltrevolution unterstützen. Sie stellten anschließend ruhig und interessiert weitere Fragen, aber das war für sie eine ganz andere und unverständliche Welt, es gab augenscheinlich keine gemeinsamen Berührungspunkte. Immerhin teilen heute viele Menschen die grundlegenden Werte, die wir damals vertreten haben. Man darf nicht vergessen, dass zu der Zeit Homo­ sexuelle noch ins Gefängnis kamen und die Männer bestimmten, ob ihre Frauen arbeiten durften. Meine Mutter warf meine erste Freundin abends aus dem Haus, weil sie Angst hatte, dass die Nachbarn sie wegen Kuppelei anzeigten, wenn sie bei uns übernachtete. Die Utopie und der spätere RAFTerror sind stark im nationalen Gedächtnis geblieben, aber der wirkliche Umbruch vollzog sich in alltäglichen Abläufen: Dass die Leute sich kleiden, wie sie wollen, und Frauen abtreiben dürfen. Damals bestand eine der wich­ tigsten Aufgabe des Sozialreferats im ASTA darin, Abtreibungsreisen ins Ausland zu vermitteln. Durch die Einführung der Pille ging natürlich die Experimentiererei im Sexuellen los. Ich lag mit Männern im Bett um es auszuprobieren, obwohl ich überhaupt keine homosexuellen Neigungen ha­ be. Das war fast schon ein Gebot, albern natürlich, und dahinter steckte auch ein gewisser Gruppendruck. Denn wir waren der Meinung, dass alles Bisherige falsch war und wir Linken deshalb alles anders machen, alles ausprobieren müssten. Selten wurde darüber konkret reflektiert, sondern meist nur abstrakt in Utopien. Bei unseren stundenlangen Debatten führten wir am Ende keine Abstim­ mungen durch, sondern diskutierten so lange weiter, bis sich alle einig waren. Dabei gab es eine gewisse Toleranz zu anderen Meinungen, wenn sie sich in der generellen Spur bewegten. Grundsätzlicher Widerspruch wurde hingegen nicht geduldet, die Person wurde von der Gruppe als „Kon­ terrevolutionär“, „Abweichler“ oder „Revisionist“ abgestempelt, und in der Regel verschwand sie danach aus dem Kreis. Fragte jemand zum Beispiel, ob wir im Land XY nicht auch einen Kompromiss finden könnten, hätte sofort jemand entgegnet: „Bist du revolutionär? Dann können wir gern da­ rüber diskutieren, ob wir den Umsturz morgen oder übermorgen machen, aber nicht, dass wir ihn überhaupt machen.“ Gewöhnlich wohnte man auch mit politisch nahestehenden Personen zu­ sammen, es gab keine Trennung von privat, politisch und Studium, wir

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haben alles zusammen gemacht, hatten über viele Monate ein intimes Ge­ meinschaftsverhältnis. Ich wohnte in der „Psycho-Kommune“, Grindelallee 33, einen Steinwurf entfernt vom Campus. Unsere WG war ein wichtiges Zentrum für Impulse und unmittelbare Aktionen, die Besetzungen von Ins­ tituten der Uni wurden zumeist an unserem Frühstückstisch beschlossen. Das ging, weil sich genügend Studenten überwiegend auf dem Campus aufhielten, immer bereit waren für einen Infostand oder eben eine Beset­ zung. Für kurze Zeit besaßen wird Studenten schon eine gewisse reale Macht an der Uni, erteilten manchen rechten Professoren Hausverbote, or­ ganisierten deren Veranstaltungen selbst und stellten uns die Scheine unter­ einander aus. Das Präsidium hat das eine Weile akzeptiert. Da die meisten von uns aus gutem Hause stammten, verfügten wir auch über gewisse Ressourcen und Informationen, zum Beispiel konnte die Tochter eines Po­ lizeipräsidenten mehrmals wichtige Hinweise zur Polizeitaktik geben und die Bankierstochter verfügte natürlich über ein Auto. Sämtliche bürgerliche Normen erkannten wir grundsätzlich nicht mehr an, und wir verhinderten Veranstaltungen, die nicht mit den revolutionären Ideen vereinbar waren. Das wurde von manchen Studenten als kindisch oder un­ sozial bezeichnet, weil sie lernen wollten, aber darauf nahmen wir keine Rücksicht. Damals ging es uns wirklich um die Weltrevolution, wir waren im Sinne von Piaget vielleicht Kinder, die wundergläubig über die Welt dachten. In unserem kleinen Kosmos herrschte das Primat der revolutionä­ ren Politik, wir wetteiferten mit Paris, Berkeley oder Berlin darum, wer die meisten Institute besetzt hielt. Doch so radikal und gewalttätig wir unseren Worten nach waren, die Mehrzahl der Leute, und auch ich, befürworteten nur Gewalt gegen Sachen. Jede Scheibe konnte beschmiert oder eingewor­ fen, aber niemand sollte dabei verletzt werden. Joschka Fischer lehnte ich damals und auch später ab, weil er Pflastersteine auf Polizisten geworfen hatte, er ist also kein Repräsentant für die Mehrzahl des SDS. Dass es trotz­ dem zu Gewalt kam, lag daran, dass wir uns gegen die Polizisten wehren mussten. Ein paar Tage nach der Ermordung von Benno Ohnesorg sind wir zu Springer marschiert. Die Polizei ist mit Wasserwerfern und Gummiknüp­ peln auf uns los. Ich bin mir sicher, dass ich nicht einfach weggelaufen bin, sondern mich auch gewehrt habe, aber ich habe niemals Gegenstände auf Personen geworfen. Mehrfach besuchten wir Gerichtsverhandlungen, die sich mit der Erre­ gung öffentlichen Ärgernisses, mit Sachbeschädigung, oder auch mit Terro­ rismusvorwürfen gegen einige Studenten beschäftigten. Besonders beliebt waren die Verhandlungen über Frauen, die bei öffentlichen Demonstrationen ihre Brüste gezeigt hatten. Natürlich rollten wir dort Transparente aus und begingen Ruhestörungen, ein paar Mal sind wir deshalb auch rausgeschmis­ sen worden. Bei normalen Anklagen wie Hausfriedensbruch kam niemand



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zu den Verhandlungen, im ASTA wurde aber Geld gesammelt, um die ver­ hängten Strafen zu bezahlen. An der Uni ärgerte uns besonders die Gruppe der liberalen Dozenten, die die Meinung vertraten, dass wir zwar im Ansatz Recht hätten, aber die Mittel falsch wären. Da fallen mir Ralf Dahrendorf und der frühere Bun­ despräsident Weizsäcker ein, die von uns als „liberale Scheißer“ angegriffen wurden, weil sie mit ihrer Beschwichtigung und ihrem Verständnis verhin­ derten, dass sich die Gesellschaft radikalisierte. Zu einer wirklich abgeklär­ ten Sicht auf die Dinge kamen wir damals nicht, weil wir ständig mittendrin waren. Ich würde sagen, dass ich mich wie ein Missionar einer abstrakten Botschaft fühlte, nämlich dass diese Welt besser werden und ich hier vor Ort dafür eintreten müsse. Nach und nach erlosch aber das Feuer, das revolutionäre Denken hielt sich vielleicht bis Mitte der 70er Jahre, bis klar wurde, dass es keine Welt­ revolution geben würde. Das linke Spektrum begann sich zunehmend zu differenzieren, irgendwann musste jeder entscheiden, ob er wirklich für den radikalen Sozialismus ist oder nur für eine gesellschaftsinterne Reform. Die einen gingen zur Sozialdemokratie oder gründeten später die Grünen, die anderen organisierten sich in der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), in K-Gruppen40 oder in der RAF. Obwohl ich als DKP- und Gewerkschafts­ mitglied die Sozialdemokraten eigentlich nicht als Verbündete betrachtete, unterstützte ich deren grundlegende politischen Ziele, wie zum Beispiel die „neue Ostpolitik“ und ging auf die Unterstützungs-Demo für den SPDKanzler Brandt gegen das Misstrauensvotum der CDU. An der Uni wurden in der Zwischenzeit die alten Strukturen Schritt für Schritt wieder hergestellt, wenngleich mit liberalerem Geist.

40  Bezeichnung für eine Vielzahl politischer Gruppen, die sich am Maoismus orientieren.

Gudrun Polak * 11.9.1953 in Bischofswerda Ich wollte immer raus, die Welt sehen. Also habe ich mich noch während meiner Ausbildung zur Konditorin bei der „Deutschen Seereederei“ in Ros­ tock beworben. Das haben bei uns ganz viele gemacht. Die kriegten dann reihenweise ihre Absagen und ich kriegte gar nichts. Ich dachte, deine Be­ werbung wird natürlich gar nicht erst angeguckt. So weit kommt’s noch, Handwerkerkind für die DDR in Übersee! Ich kriegte ja nicht einmal ein Visum für Ungarn. Aber nein, eines Tages kam die Aufforderung zu einem Gespräch in Rostock. Das war natürlich politisch, keine fachlichen Sachen, zig Fragebögen. Die haben Erkundigungen eingeholt beim Bürgermeister, in der Schule, bei der Ausbildungsstelle. Von 100 Eingeladenen blieben am Ende nur 20 übrig und ich gehörte tatsächlich zu der auserwählten Elite, die Seefahrtsbücher bekam. In meinem Seefahrtsbuch stand „Große Linie“. Ich habe mir nichts weiter gedacht, wusste ja gar nicht, was das heißt und guckte die Dame von der Ausgabe ratlos an. Sie war verdutzt: Freuen Sie sich denn gar nicht? Da fiel mir nur ein zu fragen, wohin ich denn käme. Sie lächelte: Nach Südamerika, Ecuador, auf einem Bananendampfer. Aus Bananen habe ich mir zwar noch nie etwas gemacht, aber Südwest klang schon mal besser als Nordost. Mein erstes Schiff hieß „Theodor Fontane“ und war eines von zwei Schiffen, das für die DDR Südfrüchte gefahren hat. Meist standen bei un­ serer Rückkehr in Rostock aber schon die Kühlzüge für Ungarn bereit, damit die DDR-Bürger wenigstens im Urlaub mal eine Apfelsine essen konnten. Auf meiner ersten Reise im März 1973 war ich seekrank von Rostock bis Panama. Das hatten mir zwar alle prophezeit, aber ich habe darauf gepfif­ fen. Ich ging an Bord, mein Koffer größer und dicker als ich, da war ich doch nur die Hälfte von heute. Mir wurde schon übel, als die Schlepper uns an der Warnemünder Mole vorbeizogen. Die Kühlschiffe hatten stark vib­ rierende Motoren, weil sie schnell sein mussten. Das Vibrieren hörte nie auf, ging mir durch Mark und Bein. Also kam ich in die Schlingerkoje und wurde künstlich ernährt. Da hat nun unser Kapitän wirklich überlegt, mich in Panama nach Hause zu schicken. Ich habe aber so lange gebettelt, bis ich wenigstens bis zum Ende der Reise Schonfrist bekam.



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Als DDR-Schiff waren wir natürlich immer die Letzten in der Schlange der auf Reede liegenden Schiffe, die auf die Passage durch den PanamaKanal warteten, tagelang standen wir vor den Schleusen. Da schlug die Stunde der fliegenden Händler, die uns ihre bunten Tücher und T-Shirts verkaufen wollten. Aber ich hatte nur 3,50 DM Devisen pro ausländischem See- und Hafentag, da konntest du keine großen Sprünge machen. Es sagt einem ja keiner, wie das geht, dass du nur eine Flasche Weinbrand und ein paar Zigaretten brauchst für so ein T-Shirt. Alle zehn Tage wurden auf den Schiffen Weinbrand und Zigaretten ausgegeben. Meine Güte, dachte ich, was können die hier vertragen?! Die Mannschaft hat natürlich zum Tau­ schen im nächsten Hafen gesammelt. Nach meiner ersten Passage des Pa­ namakanals ging es auf den Pazifik. Aber wie durch ein Wunder bin ich nie wieder seekrank geworden. Im Grunde waren wir ein Jugendschiff. Der Älteste von uns war 33 Jah­ re alt und Kapitän. Alle paar Tage an Bord schaute der Politoffizier vorbei und bat dich um ein Gespräch: Sie sind doch ein junger Mensch, sind Sie denn auch in der FDJ, wollen Sie nicht in die SED? Das ist doch jetzt dran in Ihrem Alter. Wie denken Sie denn über das Ausland und was denken eigentlich die Kollegen? Der war natürlich isoliert auf dem Schiff, wurde hochgenommen, ein bisschen lächerlich gemacht. Unsere Leute waren nicht so wahnsinnig parteitreu. Leider musst du ja arbeiten auf so einem Schiff, kannst nicht einfach wie es dir gefällt an Land gehen und die ausländischen Häfen entdecken. Und gerade wir Küchenleute hatten rund um die Uhr zu tun. Kaum war die Mannschaft mit dem Essen fertig, kamen die Befrachter und wollten auch bewirtet werden. Normaler Seebetrieb ist um sechs losgegangen, halb acht gab es Frühstück, dann ging das Saubermachen los, Getränke wurden ver­ kauft, mit dem Mittagessen war ich bis zwei Uhr beschäftigt, hatte danach die erste Pause. Mit der war es aber auch nie weit her, wenn vor dem Pa­ nama-Kanal der Lotse an Bord kam, denn was ein richtiger Lotse ist, er­ wartet auch seine Extrawurst. Natürlich wollte ich trotzdem was sehen. In Ecuador lagen wir immer drei Tage im Hafen von Esmeraldas, die Südamerikaner sind ja nicht die Schnellsten. Und das war mein Glück, denn endlich durfte ich von Bord. Ich war richtig schockiert, als ich das erste Mal all die Blechhütten in den Slums sah, im DDR-Fernsehen hast du ja sowas selten gesehen. Die waren doch alle auf dem Weg zum Sozialismus. Unsere Männer hatten mir verbo­ ten mich dort allein zu bewegen, aber mitnehmen wollte mich auch keiner. Anfangs wusste ich nicht warum, denn wir verstanden uns doch alle so gut. Ich ließ mich aber nicht abwimmeln. In einer der Hafenkneipen ging mir dann endlich ein Licht auf. Da warteten schon die Damen, servierten Drinks

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II. Jugend

und verschwanden nach und nach mit den Kameraden in den Hinterzim­ mern. Als ich schließlich ganz alleine saß, wurden die Damen ärgerlich und haben mich rausgeschmissen. Da hab ich mich ins Taxi gesetzt und bin in die Stadt gefahren. Unsere dreißig Männer hatten in jedem Hafen ihre Frauen. Das war mir auch ganz recht, denn ich war meist die einzige Frau an Bord. Manchmal waren wir zu zweit, manchmal zu dritt. Bald hatte ich aber meine eigenen Bekanntschaften in Ecuador, eine Gruppe von deutschen Entwicklungshel­ fern. Die hatten Heimweh nach deutschem Essen, also habe ich ihnen Sauerkraut, Schwarzbrot, Salzheringe und zu Weihnachten eine Gans mitge­ bracht. Meine Entwicklungshelfer haben immer was organisiert, Theater, Hauskonzerte, Ausflüge ins Gebirge. Mit uns ging es bunt und lustig zu. Nach jeder Reise bekam jeder von uns zwei Kisten Bananen als Deputat. Da ich mir immer noch nichts daraus machte, ging eine Kiste nach Berlin zu meiner Schwester und die andere nach Schmölln zu meinen Eltern. Eines Tages mussten wir nach Rotterdam in die Werft. Da fing es natür­ lich sofort an bei mir zu rattern. Rotterdam ist ja nicht weit von Amsterdam und dort wohnte Micha, mein holländischer Brieffreund, der als Kind aus Schmölln weggezogen war. Mensch, dachte ich, das wäre was, den mal zu treffen. Aber wie stellst du das jetzt an? Wie erreichst du ihn überhaupt? Rotterdam ist ja ein bisschen größer als Schmölln. Telefon hat nicht funk­ tioniert, nach Holland schon gar nicht. Die alte Großmutter, die in Schmölln geblieben war, hat das dann in die Hand genommen und es heimlich irgend­ wie mit dem Hafenmeister ausbaldowert. Offiziell durftest du dich ja mit niemandem treffen, aber ich musste das Risiko einfach eingehen und die Gelegenheit war günstig, weil wir sechs Wochen in der Werft bleiben muss­ ten. Also habe ich dreimal tief durchgeatmet, all meinen Mut zusammenge­ nommen, bin zum Kapitän gegangen, und habe ihm geradeheraus gesagt, ich müsse von Bord um jemanden wiederzusehen und wolle gern übers Wochenende in Amsterdam bleiben, Montag käme ich wieder. Er sah mich nachdenklich an: Kommen Sie wirklich wieder? Ich habe es ihm verspro­ chen. Als er mir mein Seefahrtsbuch aushändigte, fragte er noch einmal: Werden wir uns wirklich wiedersehen? Ja, ich komme wieder. Es wurde ein wunderschönes Wochenende mit Micha. Überall wurde ich bestaunt, als ob ich vom Mond komme. Wir haben so viel erlebt und gese­ hen. Nach diesem Wochenende hat er mich wieder aufs Schiff gebracht. Es war dichter Nebel, Micha fuhr immer langsamer. Dann fragte er mich, willst du wirklich wieder zurück? Willst du nicht hierbleiben? Ich besorge dir Arbeit, ein Leben. Ich sagte, ich kann das nicht machen. Die ersten Gedan­ ken waren, ich hab ja nichts weiter dabei als meine Handtasche, habe sogar noch drüber gelacht. Als ich merkte, dass es ihm ernst war, fielen mir sofort



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meine Eltern ein. Wirst du sie nochmal wiedersehen? Mein Vater war herz­ krank, hatte schon einen Infarkt hinter sich. Mein Schwager war noch im Studium. Das wäre auch erledigt gewesen. Mache ich das jetzt, mache ich das nicht? Ich sehe uns noch an Delft vorbeifahren: Komm, Gudrun, wir kehren um und fahren nach Amsterdam. Bleibe hier, bitte. Aber ich bin wieder an Bord gegangen. In Rotterdam hatte ich auch Geburtstag. Da stand Micha auf einmal direkt vor dem Schiff mit einem riesigen Blumenstrauß. Als ich abends zurückkam, war die Sache für mich erledigt, der Politoffizier hatte uns gesehen. Ich durf­ te nie wieder in Holland vom Schiff. Ich hab meinen Chef inständig ange­ fleht, Chefi, lass mich doch bitte nochmal runter. Aber er blieb hart. Fliehen konnte ich nicht, denn die einzige Gangway war ständig bewacht. Es war eine große Versuchung für mich, einfach dort zu bleiben, ein ganz neues Leben anzufangen. Wenn ich älter gewesen wäre oder mehr Erfah­ rung gehabt hätte, hätte ich es gemacht. Der Kontakt mit Micha war später ganz schwierig, nie kamen unsere Briefe an. 1973 waren wir auf großer Fahrt nach Valparaíso in Chile. Dass wir dieses Mal neben Lebensmitteln auch Waffen an Bord hatten, hat uns keiner gesagt. Wir haben das natürlich geahnt. Auf Deck standen große ButterContainer unter der heißen Äquator-Sonne. Es gab auch extra einen neuen Offizier, der jeden Tag die Butter in den Containern kontrolliert hat. Der Militärputsch Pinochets stand unmittelbar vor der Tür und unser Schiff war das Erste, das der sozialistischen Regierung Waffen geliefert hat. Eine Woche vor dem Putsch sind wir in Valparaíso angekommen. Gleich merkte ich so eine eigenartige Ruhe in der Stadt. Seltsam waren schon der offizielle Empfang im Rathaus zum Dank für die wertvolle Butter und voll­ ends seltsam wurde es, als meine Küchenkollegin und ich von einer ganz dollen dunklen Limousine abgeholt wurden. Niemand sagte uns, wo es hingehen sollte. Wir fuhren zu einer prächtigen Villa auf einem Felsvor­ sprung über der Stadt, das Tor ging wie von Geisterhand auf. So was hatten wir noch nie gesehen. Wir wurden in eine große Halle geführt und mit ei­ gentümlichen Getränken und getrockneten Oliven bewirtet. Dann kam eine feine Frau, begrüßte uns sehr herzlich auf Deutsch und führte uns an eine lange, reich gedeckte Tafel. Da erfuhr ich erst, wo wir gelandet waren, denn auf Gläsern, Tellern, Messern, Gabeln und Löffeln war der Name „Presidente“ zu lesen. Während sie uns kleine Melonenbirnen schälte, er­ klärte uns die feine Frau, die sich als Hortensia Bussi, Frau des Staatsprä­ sidenten Allende entpuppte, sie wolle sich nur ein bisschen mit uns auf Deutsch unterhalten. Es gab ein richtiges Festmenü, der Diener goss immer nach, wir wurden lockerer und fröhlicher. Frau Allende hat uns von ihrer Tochter erzählt, dass wir ihren Mann leider nicht sehen könnten, der wäre

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II. Jugend

schon weg. Kurz darauf ist er erschossen worden. Zum Abschied sagte sie, wir würden uns nicht wiedersehen. Spätestens jetzt wusste ich, hier stimmt was nicht. Das war Sonnabend, Dienstag war der Putsch. Erst wurden Bücher verbrannt, dann wurde scharf geschossen. Du konn­ test auf dem Schiff kein Bullauge aufmachen, sofort knallte es. Der Putsch ging an meinem Geburtstag los, mit deutscher Militärmusik. Unser Smutje scherzte, das sei sicher zu Ehren meines Geburtstages. Niemand durfte auslaufen. Vor uns lag ein russisches Schiff, die haben das probiert und zum Dank bekamen sie den Bug weg geschossen. Die ganze Besatzung wurde abgeführt, weil sie ihre Waffen etwas unvorsichtiger als wir nur in Zucker­ säcken versteckt hatten. Gegenüber lag ein Segelschulschiff. Wir nannten es das „KZ-Schiff“, denn dorthin wurden Leute verschleppt und zu Tode geprügelt. Morgens kamen die Leichen angeschwommen. Wir haben nichts dagegen unternom­ men, hatten ja alle Todesangst. Da habe ich mich an meinen Konfirmations­ spruch erinnert: „Fürchte dich nicht, glaube nur.“ Erst in der Existenzangst ist mir richtig klar geworden, was das heißt. Dieser Satz hat mich danach nie wieder verlassen. Drei Wochen lagen wir in Valparaíso, rausgeholfen hat uns letztlich der deutsche Seemannspastor. Er war die einzige Person, die Kontakt mit uns aufnehmen durfte. Er informierte die Reederei in Rostock. Solange wir in chilenischen Hoheitsgewässern waren, guckten links und rechts zwei U-Boote aus dem Wasser. Mein Satz hat mir auch geholfen, wenn wir in schwere See gerieten. Im Herbst begann die Sturmzeit. Einen normalen Sturm hatten wir ja auf fast jeder Reise, das war beinahe Routine. Da kamen dann die Schlingerleisten raus, alles wurde festgezurrt, die Tischdecken nass gemacht und keine Un­ tertassen ausgegeben, damit nichts verrutscht. Ganz schlimm war es aber einmal vor Shanghai. Wir waren in einen mächtigen Taifun geraten, in eine Kreuzsee. Die Wellen kamen von allen Seiten, gingen einfach über das Schiff hinweg und brachten riesige Steinbrocken vom Meeresgrund auf Deck. Der Ozean machte mit dem Schiff, was er wollte. Die Masten bra­ chen, auf einmal löste sich die Ladung, wir kriegten totale Schlagseite. Alle zogen die Schwimmwesten an, der Funker schickte SOS raus, und dann saßen wir unter Deck und ließen die Flasche rumgehen, wie für den letzten Schluck. Tagelang lagen wir auf der Seite, konnten nichts kochen, kaum etwas essen. Fürchte dich nicht, glaube nur. Uns blieb nur Warten und Hoffen. Nach ein paar Tagen ließ der Taifun nach, aber unser Schiff stand nicht mehr auf. Alle Decks waren voller Schlamm und Felsbrocken. Große Verletzungen hatte es wie durch ein Wunder nicht gegeben. Ein Schlepper hat uns in die Werft gezogen und viele Wochen vergingen, bis wir wieder seetüchtig waren.



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Die letzten eineinhalb Jahre war ich auf Asienfahrt. Nach den schönen Jahren in Südamerika wollte ich noch etwas anderes sehen und habe mich versetzen lassen. Nun habe ich nicht mehr Südfrüchte, sondern alles von industriellen Anlagen bis zu medizinischen Ausrüstungen transportiert. Asien erwies sich aber als viel weniger interessant, weil wir kaum an Land durf­ ten. Vor Nordkorea lagen wir einmal vor einem riesigen Kraftwerk auf Reede. Die Luft war so gelb von Schwefel, dass wir beim Entladen Atem­ schutzmasken tragen mussten. Nur Vietnam habe ich genauer kennengelernt. In Haifong sah es nach dem Krieg noch viel schlimmer aus, als es im deutschen Fernsehen gezeigt wurde, kein Baum hat noch Laub getragen. Reis, den wir in China für Vietnam an Bord genommen hatten, durften wir nicht direkt ausliefern, sondern mussten erst einen großen Umweg über Kuba machen. Eines schönen Seetages im Jahr 1978 stellte ich fest, dass ich schwanger bin. Da war es mit der Seefahrerei natürlich vorbei. So richtig traurig war ich nach dieser Asienzeit aber auch nicht.

III. Reife

Elfriede Brüning * 8. November 1910 in Berlin  † 5. August 2014 in Berlin Ich brachte die Manuskripte für mein Sommerbuch sofort zum Schützen­ verlag, dem Nachfolger von Mosse, wo dieses Buch auch verlegt wurde. Der Lektor hieß Joachim Barckhausen, 1937 wurde er mein Mann. Er sag­ te mir, dass er vom Lande stamme und ich hielt ihn für einen literaturbe­ geisterten Bauernjungen. Er machte einen bescheidenen Eindruck und war auch sehr sparsam, fast schon geizig. Als ich dann nach einiger Zeit seine Eltern kennenlernte, war ich schockiert. Vom Bahnhof holte uns ein Chauffeur ab, in den Ställen standen mehre­ re Reitpferde, zwei Mercedes-Autos, 90 Kühe und bei Tisch servierte ein Dienstmann in feiner Livree. Die Barckhausens waren seit Generationen Domänenpächter in der Magdeburger Börde und besaßen auch ein Gut in Holstein. Barckhausen hatte mich darauf nicht vorbereitet. Es war der tota­ le Kontrast zum Leben meiner Eltern. Das Klo unseres Ladens war auswärts über dem Hof, im Schaufenster standen zwei Schreibschränke, dahinter hatten meine Eltern ihre Betten aufgestellt, gekocht wurde mit einem Spiri­ tuskocher in einem winzigen Nebenraum. Als wäre das nicht genug, hat mich Barckhausens Vater bei unserem Empfang sehr überrumpelt. Er schickte die Haustochter in den Keller und sagte, sie solle den besten Wein heraufholen, da es noch etwas zu feiern gebe, nämlich die Verlobung des jungen Herrn. Ich war völlig erschüttert, denn wir hatten noch nie über das Heiraten gesprochen. Ich war damals für die freie Liebe. Doch gleich beim ersten gemeinsamen Essen bat uns Barckhausens Vater, die Hochzeit bald anzusetzen, schließlich wollten sie sich noch zu ihren Lebzeiten über Enkel freuen. Das war es also. Die Schwiegereltern wollten endlich Großeltern werden und nahmen dafür auch eine Mesalliance mit mir in Kauf. Denn bei ihrem anderen Sohn waren nach sieben Ehejahren noch immer keine Kinder in Sicht. Und auch ich bekam nach der Hochzeit statt eines Kindes zunächst Mahnbriefe der Schwiegereltern, dass jetzt doch mal ein Kind kommen solle. Fünf Jahre mussten sie warten. In der Zeit meiner Schwangerschaft behandelte mich meine Schwiegermutter wie ein rohes Ei, aber ansonsten war das Verhältnis sehr kühl.

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III. Reife

Sie bezahlten uns die Miete von 150 Mark in Berlin, denn Barckhausen verdiente als Lektor sehr wenig. Ich möchte fast sagen, dass ich mehr ver­ dient habe. Einmal konnte ich einen Roman für 4000 Mark an die Berliner Morgenpost verkaufen, davon konnte man eine ganze Weile leben. In unse­ rem Haus in der Reichsstraße in der Nähe des Olympiastadions wohnten hauptsächlich Nazis. Wir waren also völlig isoliert. Als unsere Tochter im Mai 1942 geboren wurde, hieß es, dass junge Mütter Berlin verlassen soll­ ten. Wir zogen also zu den Schwiegereltern nach Egeln in der Magdeburger Börde. Zwar ging es mir dort gut, denn wir hatten zu essen, und die Bom­ benflugzeuge flogen über uns hinweg. Aber auch hier war ich wieder iso­ liert, von der Familie, zunehmend auch von Barckhausen und vor allem von den Landarbeitern, denen ich mich verbunden fühlte. Sie aber sahen in mir nur eine vom Gutshaus. Mein Schwiegervater litt unter schweren Depressionen, war lange in ei­ nem Sanatorium untergebracht. Zu Weihnachten 1942 durfte er in Beglei­ tung einer Krankenschwester nach Müssen in Holstein fahren, wo er sich schließlich das Leben nahm. Zu dem Gut gehörte ein Teil eines Sees mit kleiner Badehütte, sehr hübsch. Dort war er hingegangen, hatte seinen Stock in den Boden gesteckt, Jacke und Uhr darüber gelegt und war in den See gegangen. Erst drei Tage vor Weihnachten haben sie ihn rausgefischt. Nachdem er nicht mehr da war, hat sich Barckhausen für das Gut verant­ wortlich gefühlt. Sein Sehvermögen verschlechterte sich, eine Netzhautablö­ sung führte zu allmählicher Erblindung. Wir entfremdeten uns immer mehr voneinander, denn er beschäftigte sich zunehmend mit der neuen Haustochter Annegret, die ihn auf Schritt und Tritt begleiten musste, während ich sehnlich die Ankunft der Roten Armee erwartete. Im Frühjahr 1945 wollte ich mit al­ ler Macht zurück nach Berlin und beim Aufbau eines neuen Staates helfen. Ich hatte die Vergewaltigungsgeschichten, von denen die ersten Flüchtlinge erzählten, nicht geglaubt und hielt sie für Nazipropaganda. So ergriff ich die erste Gelegenheit und fuhr mit einem Mohrrübenlaster nach Berlin zu meinen Eltern. Ihnen und meinem Bruder, der in den letzten Kriegsmonaten desertiert war, ging es gut. Barckhausen blieb aber auf dem Gut. Immer wieder fragte ich ihn, was ihn dort noch halte. Er wurde immer mehr zum Sohn des Gutsbesitzers, der um sein Erbe kämpfte. Irgendwann begriff ich, dass er nie mit mir nach Ost-Berlin kommen würde. Nach un­ serer Scheidung 1947 heiratete er bald erneut und zog mit Annegret nach Westberlin. Ich lebte wieder mit meinen Eltern zusammen, wir wohnten in Birken­ werder, einem Vorort von Berlin. Meine Mutter kochte und besorgte den Haushalt, mein Vater heizte und versorgte den Garten, sodass ich ideale Arbeitsbedingungen zum Schreiben hatte. Mein Tagesziel waren drei Seiten.



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Wenn nachmittags Versammlungen waren, wurde es allerdings kritisch. Ich war natürlich im Elternbeirat, aber ansonsten kümmerte sich meine Mutter um das Kind. Meine ersten beruflichen Wege führten mich zum „Kulturbund“ von Jo­ hannes R. Becher. Die meisten dort kannte ich von früher. Ich sagte, ich bin jetzt hier, was kann ich machen, wo kann ich beim Aufbau helfen? Man fragte mich, ob ich mir die Stelle als Feuilletonchef der Wochenzeitung „Sonntag“ vorstellen könne. Obwohl ich keine Ahnung hatte, sagte ich na­ türlich ja. Damals wurde man ins kalte Wasser geworfen und musste schwimmen. Lange war ich allerdings nicht in diesem Wasser. Ich war zu ehrlich. Ich hatte einen Beitrag geschrieben und darin geschildert, wie die Leute uns umringt und uns um ein paar Mohrrüben angebettelt hatten, als wir mit dem Lebensmittelauto nach Berlin gefahren waren. Das war er­ schütternd. Den Beitrag gab ich unserem Chef vom Dienst, er las ihn und sagte, den kannst du dem „Tagesspiegel“ anbieten. Ganz harmlos oder naiv fragte ich noch, ach ja? Er antwortete, du kannst dann gehen. Optimismus war gefragt. Über Not sollte nicht mehr geschrieben werden. Fortan führte ich wieder das Leben als Schriftstellerin. Wir vom Bund übriggebliebenen antifaschistischen Schriftsteller haben uns bald erneut zusammengefunden und nannten uns nun „Arbeitsgemeinschaft sozialisti­ scher Schriftsteller“. Wir hatten kein Statut und keinen Mitgliedsbeitrag, wir wollten nur endlich schreiben, endlich die Wahrheit schreiben. Aber damit war es nicht so weit her. Über die Demontagen sollte nicht geschrieben werden, über die Vergewaltigungen erst recht nicht, über den Schwarzmarkt schon gar nicht. Außerdem mussten wir früheren Bundmitglieder bald erkennen, dass wir keine Rolle mehr spielten. Becher wollte nichts mehr mit uns zu tun haben, unsere Schriften waren in seinen Augen plötzlich Proletkult. Er wollte die gesamtdeutsche Literatur, buhlte um Kellermann, Hauptmann, Fallada, Heinrich und Thomas Mann. Wir waren weg vom Fenster und das ging bis Bechers Tod so weiter. Erst in den 60er Jahren erinnerte man sich im Schriftstellerverband daran, dass es uns ja noch gab. Man wollte uns eine Medaille verleihen und einen Festakt organisieren. Da habe ich Anna Seg­ hers, der Präsidentin des Schriftstellerverbandes, einen Brief geschrieben und gesagt, ich würde nicht kommen, weil man uns bisher sehr schlecht behandelt hätte. Es waren Anthologien und andere Handbücher erschienen, aber keiner hatte uns je zur Mitarbeit aufgefordert. Es war frustrierend. Eigentlich habe ich immer kämpfen müssen. Ich griff nun gesellschaftlich relevante Themen auf, schrieb darüber, dass viele Frauen nach dem Krieg selbstbewusst zwar ein Kind, aber nicht unbedingt einen Mann wollten, über die Widerstandsgruppe Schulze-Boysen / Harnack und das Schicksal

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III. Reife

ihrer hingerichteten Mitglieder Hilde und Hans Coppi. Ich schrieb auch über die ersten Studenten der Arbeiter- und Bauernfakultät und ihre Kon­ flikte. Mein Verlag versprach sich den Nationalpreis davon. Pustekuchen, nie war ich ein Liebling der Kritik, stand immer auf Kriegsfuß mit ihr. Immerhin hatte ich einen festen Leserkreis und einige meiner Bücher er­ reichten auch über 20 Auflagen mit 100.000 verkauften Exemplaren. Doch trotz der Schwierigkeiten hatten wir Schriftsteller zu DDR-Zeiten einen ganz anderen Stellenwert und konnten von unserer Arbeit leben. Na­ türlich wollte man, dass wir positiv über den Staat schrieben. Ich habe als Autorin gern in der DDR gelebt, obwohl ich wirklich viel kämpfen musste. Ich galt lange Zeit als kleinbürgerlich. Nie wurde darüber gesprochen, dass wir unter Lebensgefahr einigen unserer Genossen während der Nazizeit Unterschlumpf gewährt hatten. Manches Mal während der 40 Jahre habe ich schon überlegt, mein Par­ teibuch abzugeben, angefangen bei der Reaktion auf den Prager Frühling. Vor allem aber als ich von den traurigen Schicksalen einiger damaliger Genossen erfuhr, die es während der Nazizeit geschafft hatten, in die Sow­ jetunion zu emigrieren. Trude Richter, mit der wir zusammen in der Illega­ lität gelebt hatten, war eine von ihnen. Wir hatten sie glühend beneidet. Jahrelang bekamen wir keine Nachricht von ihr, bis sie in den 50er Jahren völlig verändert und tief gezeichnet zurückkehrte. Sie wurde gleich nach ihrer Ankunft verhaftet, weil man bei ihr ein angeblich trotzkistisches Buch gefunden hatte. 20 Jahre hat sie in Magadan41 in Sibirien verbringen müs­ sen. Wenn sie mit uns redete, hat sie diese Zeit sogar noch beschönigt, aber selbst das mochten wir nicht glauben. Ich lernte noch viele Menschen mit ähnlichem Schicksal kennen. Sie mussten all die Jahre über schweigen. Ich beschloss sie zu interviewen, denn man musste doch noch erfahren, was den Menschen passiert war. Ich wusste, dass mein Buch „Lästige Zeugen“ nicht in der DDR würde erscheinen können. Dann kam 1989 und es wurde aufregend. Wir hatten bis zuletzt gehofft, dass wir die DDR verbessern können, auf den Demonstrationen haben wir für eine andere DDR gekämpft. Von Einheit war da noch nicht die Rede, die wollte ich auch nicht. Aber nach der Wende konnte immerhin das Buch erscheinen. Das war aber leider die Zeit, als alles, was jemals in der DDR erschienen war, aus den Buchhandlungen rausflog. Eine nochmalige Bü­ chervernichtung. Alles flog weg. Auf den Müll. Auch das Buch „Lästige Zeugen“. Es kam mir vor, als ob diejenigen noch einmal zum Schweigen gebracht werden sollten, die ihr Leben lang schweigen mussten. Zum Glück gab es den Pfarrer Martin Westkott, der mit einem Lastwagen von Müllde­ 41  Unter Stalin war Magadan das Zentrum der größten Sträflingskolonie mit 160 Lagern im äußersten Osten Sibiriens.



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ponie zu Mülldeponie gefahren ist und so tonnenweise Bücher gerettet hat. Sonntags nach dem Gottesdienst können die Leute bis heute gegen eine kleine Spende für „Brot für die Welt“ Bücher mitnehmen. Heute schreibe ich nichts mehr, denn mir fällt absolut nichts mehr ein. Ich lebe auch nicht mehr in dieser Zeit. Das neue Deutschland ist mir fremd geblieben.

Wort des Jahrhunderts? Weiß ich nicht.

Georg Kohtz * 17.  Januar 1913 in Pobethen / Ostpreußen † 17. März 2012 in Oldenburg Aus dem Gefangenenlager in Holstein habe ich mich still und leise ver­ abschiedet, eine Krankheit markiert und meine alte Nierengeschichte wie­ der ausgepackt: Ich müsse dringend ins Lazarett nach Hamburg. Als höhe­ rer Offizier war es nicht einfach auszubüxen, es galt, sich geschickt anzu­ stellen, weil wir alle beim Engländer namentlich registriert waren. Nur einfache Soldaten konnten entlassen werden, wenn sie Arbeit als Erntehel­ fer in der Landwirtschaft nachweisen konnten. Deshalb das Lazarett in Hamburg, die kannten mich nicht. Schulterstücke runter, Pistole in den Straßengraben, Entlassungsgesuch als einfacher Soldat gestellt, Spritze ge­ gen Läuse in den Hals und auf Wiedersehen. Aber noch bevor ich aus dem Lager mehr getürmt war als entlassen worden bin, spazierte ich in die Werkstatt unserer Flugzeugwerft und bepackte eine große Holzkiste mit allem Werkzeug, was man in einem Haushalt so brauchen kann. Ich habe sie zum Bahnhof gefahren und als Frachtgut nach Oldenburg aufgegeben. Der Engländer hat das gar nicht bemerkt, der brauchte das Werkzeug doch sowieso nicht. Die Kiste kam tatsächlich an und wenige Wochen später auch ich. Der Krieg war aus und ich hatte keinen Pfennig in der Tasche, um meine junge Familie zu ernähren, bekam als so genannter „verdrängter Beamter“ nicht 200 Mark Arbeitslosengeld, sondern 130 Mark „131er-Geld“, eine Art Warte-Almosen nach dem Paragraphen 131, der geregelt hat, dass die ver­ drängten Beamten wieder aufzunehmen seien. Das reichte natürlich hinten und vorne nicht, also hat mir meine Schwägerin eine Stelle als Hilfsschlos­ ser im Ausbesserungswerk der Reichsbahn besorgt. Ich habe Achswechsel unter Güterwagen gemacht und 54 Pfennig die Stunde verdient. Auch damit kamen wir nicht hin. Deshalb bin ich am Wochenende übers Land gezogen und habe mit meinem Wehrmachtswerkzeug Radios repariert, gegen Speck und Milch als Bezahlung. Das war natürlich auf Dauer nichts, ich wollte wieder in meinen Beruf, wieder professionell mit Rundfunktechnik zu tun haben. Bei der Firma Bronndorf in Oldenburg fing ich als Rundfunkmecha­ niker noch einmal ganz von vorne an, Gesellenprüfung, Meisterprüfung, zuletzt leitete ich die Werkstatt. Das ging so lange bis die Firma Pleite ging.



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Mitte der 50er Jahre konnte ich wieder zur Bundeswehr auf meinen alten Fliegerhorst und bin dort auch geblieben. Ostpreußen war mir viele Jahre lang gar nicht präsent, war zum Überle­ ben ja überhaupt nicht wichtig. Es ging doch darum, Geld zu verdienen für die Familie. Meine Frau war eine richtige Oldenburgerin aus Etzhorn, dar­ um haben wir dort später auch ein Haus gebaut. Außerdem war die Heimat doch besetzt. Wir hörten, dass der Russe Ostpreußen an Polen verschenkt hatte und nur den Hafen behalten wollte, damit er ganzjährig einen eisfrei­ en Hafen hatte. Erst nach meiner Pensionierung ist Ostpreußen wieder wichtiger gewor­ den, immer wichtiger je älter ich wurde. Als Gorbatschow an die Macht kam, wurde ein kleines Fenster nach Königsberg aufgemacht, darum bin ich 1985 ganz alleine nach Pobethen gefahren. Aber in Pobethen war alles weg, unser Haus, die Maschinen, die große dicke Eiche, einfach weg. Nicht ein Stein war mehr zu finden, nur Wald und Gestrüpp. Ein kleiner Schuppen ist geblieben, den haben sie als Lager für Altöl benutzt, es stank fürchterlich. Die Mühle unten am Mühlenteich war nicht in Betrieb, auch die Schmie­ de nicht, selbst mein kleiner Bahnhof in Watzum war verschwunden und unsere Kirche ein Viehstall. Heute steht auf ihren Trümmern ein Storchen­ nest. Ich habe geweint, die Tränen sind einfach so geflossen, weil nichts mehr da war von meiner Kindheit, nur ein paar Ruinen. So ist das, die Heimat gibt es nicht mehr und Pobethen heißt heute Romanowo. Aber wenn ich mich selbst auf Band aufnehme und höre, dann weiß ich sofort, dass da ein Ostpreuße spricht. Mit 98 Jahren bin ich jetzt wohl ziemlich nah an meinem Lebensende, kürzlich habe ich mir aber noch ein Fahrrad gekauft. Als das nicht mehr ging und ich nur noch Schlangenlinien fuhr, musste es eben ein Dreirad sein. Damit fahre ich eine Stunde pro Tag, kann auch noch gut laufen. Nur die Schultern tun mir weh, sonst habe ich keine Beschwerden. Das Schlimmste ist, dass der Krieg nicht aufhört. Es kann doch jede Minute wieder losgehen. Wir sind bisher Gott sei Dank verschont geblieben, aber man muss doch damit rechnen, mit einem Atomkrieg, Bazillenkrieg oder chemischen Krieg, bei dem dann alle Leute draufgehen.

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III. Reife

Wort des Jahrhunderts: Krieg

Elisabeth Furtwängler * 20.12.1910 in Wiesbaden  † 05.03.2013 in Montreux Warum ist mein Mann in diesen verdammten Krieg gezogen? Er hatte doch gar keinen Sinn für die Verteidigung des Nazi-Reiches. Er war ein Idealist, ein guter, sehr ehrenhafter Mensch. Die Nachricht seines Todes im Sommer 1940 traf mich wie der Blitz. Wochenlang war ich wie gelähmt, schickte die Kinder zu ihrer Großmutter Hannah und lag im Bett. Ich war schwanger mit unserem vierten Kind. Was sollte nun aus uns werden? Da­ mals drohte mir das Vertrauen ins Leben zu schwinden. Allerlei Hilfsange­ bote trafen ein, nicht wenige Männer wurden in unserem Haus in der Händelstraße vorstellig und selbst meine Mutter bequemte sich zu einem theatralischen Brief. Ich wollte von alledem nichts wissen, nicht von meiner Mutter, die doch immer das Mitmenschliche mit dem Nützlichen zu verbin­ den verstand, und schon gar nicht von einem neuen Mann. Dass mein Herz trotzdem nicht allein bleiben sollte, lag an diesem ganz und gar außergewöhnlichen Menschen, der 1942 in mein Leben trat. Wil­ helm Furtwängler war anders als all die anderen. Mir gegenüber war er vollkommen uneitel. Ich glaube, darum habe ich mich in ihn verliebt. Wir spürten, dass wir zusammengehören und heirateten in Potsdam, als es für Berlin und Deutschland schon sehr schlecht aussah. 1944 zogen wir auf das Gut Achlaiten bei Linz, um mit unseren Kindern vor dem Berliner Bomben­ krieg sicher zu sein. Weil ich hochschwanger mit unserem gemeinsamen Sohn war, blieb ich im Spätsommer nach einer Konzertreise zu den Luzer­ ner Festwochen in der Schweiz. Dort kam Andreas am 11. November sicher auf die Welt. Trotzdem musste ich ein halbes Jahr fern von meinem Mann und noch viel länger getrennt von meinen anderen Kindern in der Schweiz leben. Obwohl die Gefahr immer größer wurde, kehrte Furtwängler nach Deutschland zurück. Alle 14 Tage hat er mit seinen Berliner Philharmoni­ kern ein Konzert gegeben, mitten in der zerstörten Stadt. Für die Berliner Bevölkerung waren diese Konzerte ein Grund zum Überleben. Da hielt einer fest an Brahms und Beethoven und zeigte ihnen, dass die Musik bleibt. Für dieses Publikum ist er geblieben – bis Ende Januar 1945. Kennen Sie die Aufnahme seines letzten Konzertes am 28. Januar? Brahms 1. Sinfonie. Man hört alles, den Krieg, die Anspannung, die Angst, den unbedingten

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III. Reife

Überlebenswillen und die Liebe zu dieser Musik. Da lag die alte Philhar­ monie schon längst in Schutt und Asche und Furtwängler dirigierte im Admiralspalast. Als absehbar wurde, dass Hitler und Konsorten mit Mann und Maus untergehen wollten, geriet er in Gefahr. Die Gestapo war auf ihn aufmerk­ sam geworden und Furtwängler wusste, dass er keinen Schutz mehr genie­ ßen würde. Zu oft hatte er direkte Mitarbeit verweigert, zu eindeutig sich schützend vor bedrohte Künstler gestellt. Im Februar 1945 bekam er die Reiseerlaubnis für ein Konzert in der Schweiz und kehrte nicht mehr zu­ rück. Der einzige Kanton, der bereit war, ihn aufzunehmen, war der Kanton Vaude. Wir landeten in Clarens, nahe Montreux am Genfer See. Unser erstes Quartier dort waren zwei kleine Zimmer einer Klinik – und unsere Schlafstätte weiße Krankenhausbetten. Die ersten Jahre nach dem Krieg waren schlimm. Furtwängler litt unter seinem Aufführungsverbot und ich unter der Trennung von meinen Kindern. Das war furchtbar, entsetzlich. Ich trug eine ständige Last auf meinem Her­ zen. Reisen nach Deutschland waren lange nicht möglich. Erst im Mai 1947 konnte ich sie wiedersehen, Peter, Kathrin und Christoph. Furtwängler durfte ich meine Trauer nicht zeigen. Er brauchte meine Unbefangenheit und Fröhlichkeit, um selbst bestehen zu können, als alle Welt den Stab über ihn brach. Immerhin bot die stille Exilzeit endlich Einkehr zum Komponie­ ren. Nach Tisch ging er im Garten um einen kleinen Hügel im Kreis und entwarf Melodien im Kopf. Hier in Clarens entstand seine zweite Sinfonie. Trotz allem, was später über Wilhelm Furtwängler gesagt und geschrie­ ben wurde, weiß ich, dass seine Liebe zur deutschen Kultur nicht politisch war. Er konnte gar nicht politisch denken. Dazu war sein seelisches Emp­ finden viel zu tief. Er war vielleicht etwas aus der Zeit gefallen, ein zu später Romantiker. Das erste Furtwängler-Konzert nach dem Krieg fand 1947 in Florenz statt. Bald darauf kehrte er umjubelt an das Pult seiner Berliner Philharmoniker zurück, die jetzt im Titania-Palast spielten. Unser Leben nahm wieder Fahrt auf und bald war es mit der Ruhe in Clarens vorbei. Das war einerseits traurig und andererseits schön. Bei all den Kon­ zertreisen und Festivals lernte ich wahnsinnig viele interessante Leute ken­ nen, Gieseking, Kleiber, Knappertsbusch und so viele andere. Ich habe selbst das Klavierspielen gelernt, es aber nie richtig beherrscht. Auch in der neuen Zeit wurde der junge Karajan zu Furtwänglers Kon­ kurrent. Immer wird ihm in der Auseinandersetzung mit Karajan Eitelkeit vorgeworfen. Sie waren aber so unterschiedlich, wie man nur sein konnte. Furtwängler fuhr nach dem Krieg einen kleinen, grauen Volkswagen, Kara­ jan flog in seinem eigenen Flugzeug. Apropos Flugzeug. Auf dem Flug zu einer Konzertreise nach Buenos Aires litt ich unter starker Flugangst. Furt­



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wängler versuchte mich zu beruhigen und schenkte mir einen Satz, der mich bis heute begleitet: „Wir sind doch alle in Gottes Hand.“ Das ist mir eine große Hilfe geworden, nicht nur beim Fliegen. Ich war ganz anders als er, immer politisch interessiert. Da steckt meine Mutter drin, aber doch ganz anders als sie, die charmant war und heute so und morgen ganz anders sprach. Ich blieb immer unglaublich deutsch, da gehöre ich doch hin, in die Landschaft, die Sprache, die Musik. Es gab doch die Herren Schiller und Goethe. Kultur, das ist Deutschland, das ist Heimat. An den Fall der Mauer musste ich erst kürzlich wieder denken. Das hat mich bewegt. Ich habe bis heute keinen Schweizer Pass und nehme an jeder Bundestagswahl teil. Deutschland blieb immer Deutschland, auch wenn Karajan da war. Der war immer komisch. Im Laufe des Jahres 1954 machte Furtwängler eine zunehmende Schwer­ hörigkeit zu schaffen, für einen Menschen wie ihn, der von der Musik lebt, eine Katastrophe. Er litt darunter wie ein Hund, das spürte ich. Am 6. No­ vember erkrankte er. Er wusste, dass er an dieser Krankheit sterben würde. Es war gar nichts Lebensbedrohliches, aber von nun an war sein Wille auf das Sterben gerichtet. „Was mir am meisten auffiel, er dirigierte nicht mehr. Dieses mir so vertraute, leise vor sich Hinsummen und Dirigieren geschah nicht ein ein­ ziges Mal mehr. Er war fest konzentriert auf das Sterben, und das ohne die geringsten Anzeichen von Angst. Ich hatte die Sorge, er würde vielleicht anfangen, über seine nicht vollendeten Kompositionen zu sprechen. Von all dem, was ihn doch bis dahin so sehr bedrückte, kam nichts zur Sprache, es bewegte ihn anscheinend nicht mehr. […] Eines unserer letzten Gespräche war über die Nächstenliebe und er sagte, daß Jesus die Nächstenliebe den Menschen gebracht hätte, und daß die Nächstenliebe das große Neue der christlichen Religion wäre. Von jetzt ab sprach er weniger. […] Die Stärke, den Tod bestehen zu wollen, war so groß, daß etwas davon auch auf mich überging. Das Erlebnis dieser drei Wochen, seine Konzentration auf den Tod, ließ keine eigenen Wünsche aufkommen; alles, was er verlangte, war meine Gegenwart, ohne Ablenkung durch egoistische Gefühle, und sei es nur die der Trauer.“42 Kurz vor seinem Tod hat Furtwängler uns ein Haus gekauft. In diesem schönen Haus nahe des Seeufers wohne ich noch heute. Warum ich in die­ sen beinahe 60 Jahren seit seinem Tod niemals umgezogen bin? Das ist eine interessante Frage. Ich glaube, ich bin ihm treu geblieben. Er war au­ ßergewöhnlich, großartig. Da hatte kein anderer eine Chance. 42  Furtwängler, Elisabeth: Über Wilhelm Furtwängler, Wiesbaden 1979, S. 159– 162. Leider ist Elisabeth Furtwängler während der Bearbeitung des Interviews ge­ storben, sodass hier auf ihren Text zurückgegriffen werden muss.

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III. Reife

Das Haus sollte der Mittelpunkt unserer Familie werden und ist es ge­ worden. Heute habe ich fünf Kinder, 13 Enkel, 27 Urenkel und einen Ur­ urenkel. Wohin auch immer das Leben meine Kinder, Enkel und Urenkel verschlagen hat, hier in Clarens kommen wir wieder zusammen. Meine Enkel haben viele große Ferien bei mir verbracht, und bis heute sind oft alle Kinder gleichzeitig da. Für die einen bin ich die Mutti und für die anderen die Große Mutti. „Seid freundlich und lieb zueinander!“, das ist mein Leitspruch. Das wollte ich meinen Kindern mitgeben und ich glaube, es ist mir gelungen. Sie sind sich alle gut und zanken nicht. Gleichzeitig sollte Clarens ein Haus der Musik bleiben. Musiker gingen weiter ein und aus, allen voran unser guter Freund Yehudi Menuhin. Noch letztes Jahr hat mich Alfred Brendel für einen ganzen Tag besucht. Nach Furtwänglers Tod war es immer mein Bestreben, seine Musik der Welt zu erhalten. Bis heute kümmere ich mich darum, dass seine Platten neu er­ scheinen. Das sehe ich als meine Aufgabe an. Meine engsten Freunde nach Furtwänglers Tod wurden die Kokoschkas. Mit Oskar Kokoschka und seiner Frau konnte ich noch einmal die Welt entdecken. Wir haben gemeinsam den gesamten Mittelmeerraum bereist, von Spanien bis Griechenland, von Italien bis nach Afrika. Nun sind mir nur noch seine Bilder geblieben. Zwei zauberhafte Damen kümmern sich heute sehr liebevoll um mich. Sie gehören schon lange zur Familie. Wir lesen einander vor, spielen Patien­ cen, – und sie halten mich auf Trab beim Briefeschreiben. Ich schreibe noch immer eine Menge Briefe. Frau Scharrer ist von Hause aus Katholikin, trotzdem begleitet sie mich jeden Sonntag in den evangelischen Gottes­ dienst. Ich muss sagen, mit der Religion habe ich es leicht gehabt. Ich glaubte einfach. Mit der Tradition hingegen, habe ich es nicht so, weil ich von Natur aus wahnsinnig kritisch bin. Gleichzeitig fand ich, dass es falsch ist, nur kritisch zu sein. Am wenigsten habe ich es aber mit Scheinheilig­ keit. Je scheinheiliger mir das Katholische in meiner Mutter erschien, desto mehr wurde ich protestantisch. Das war doch abschreckend genug. Und mittlerweile hat Frau Scharrer auch konvertiert. Furtwängler war es, der durch seine Berliner Besuche bei meiner Mutter den Kontakt zu ihr wiederhergestellt hat. Anfang der 50er Jahre sah ich sie nach über 20 Jahren zum ersten Mal wieder. Als alte Frau hatte sie einiges von ihrer Bedrohlichkeit, aber nichts von der großartigen Geste und ihrer Gehässigkeit verloren. Bei einem ihrer ersten Besuche in Clarens ließ sie die heute legendäre Bemerkung fallen: „Ich hätte mich von Felix [ihrem ersten Mann] nie scheiden lassen dürfen. Alle meine Kinder haben schöne Häuser nur ich nicht.“ Als ich einwarf, dass ich dann doch nie auf die Welt gekommen wäre, erwiderte sie: „Kind, dich hätte ich immer bekommen“.



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Wort des Jahrhunderts? Das ist ein oberstes Wort: Musik.

Hans von Seggern * 24. April 1914 in Oldenburg Es war eine äußerst freundliche Stimmung unter der Bevölkerung, fast überall, wo ich nach Mittagessen oder einem Übernachtungsplatz fragte, hieß man mich willkommen. In Gallenbad in Württemberg schüttelte ein Ruhrpottler eines Tages energisch mit dem Kopf und sagte, ich könne kei­ nesfalls zu Fuß bis nach Oldenburg laufen, ich brauche ein Fahrrad. Ich antwortete, dass ich das wohl wisse, aber man könne keines kaufen und stehlen wolle ich nicht. Der Mann ließ nicht locker und versprach, mir noch in der Nacht ein Fahrrad zu bauen, ich sollte alte kaputte Fahrräder bei den Bauern sammeln. Aus sechs derartigen Fahrrädern machte er mir tatsächlich ein neues Rad mit dem ich bis nach Hause fahren konnte. Auf dem Weg gaben mir die Leute, bei denen ich übernachtete immer wieder ein frisches Hemd. Damit fiel ich den Alliierten nicht auf, denn so sah es so aus, als radelte ich nur von einem Ort ins Nachbardorf, um etwas zu besorgen. Vor vielen Straßenkontrollen wurde ich auch von der Bevölkerung vorbeige­ schleust. Sechs Tage später konnte ich meine Frau endlich wieder in die Arme schließen. Als ich vier Wochen zu Hause war, kam ein Bauer und sagte mir, dass er eben zwei Engländer in die entgegengesetzte Richtung geschickt hätte, als sie nach mir fragten. Er hieß mich zu eilen, sonst würden sie mich kriegen. Ich sprach ihm meinen Dank aus, wollte mich aber nicht verste­ cken. Die anderen aus der Nachbarschaft waren ja auch im Lager, da muss­ te ich nun durch. Ich kam als einer der Jüngsten in ein Offizierslager. Üb­ rigens bin ich nur gefangen genommen worden, weil ein Generalleutnant zu seinem Ordonanzoffizier gesagt hat, geben Sie mal die Liste aller General­ stabsoffiziere den Engländern, damit sie die Armee wieder aufbauen und wir dann gemeinsam im Osten Front machen können. Der Überbringer der Liste saß auch mit uns im Lager. Bei uns saßen nur die unbeschriebenen Blätter, die nicht unbedingt bekannt oder verdächtig waren. Die Menschen­ rechtsverletzer saßen woanders. Ich begegnete einem verzweifelten und traurigen Haufen. Niemand wuss­ te, ob das Haus noch steht, die Frau noch lebt. Wir wohnten im Speisesaal des Munitionsschuppens, da wehte immerzu der Schnee durch die Ritzen.



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Es musste etwas passieren, und so hielt ich eine erste sonntägliche Besin­ nung um zehn Uhr. Ich besann mich dabei auf meinen Konfirmations- und Religionsunterricht. Ein junger Major trat zu mir und sagte, er habe eine ausgebildete Stimme und könne zu meinen Besinnungsstunden singen. Das war natürlich wunderbar, der Mensch hatte seinen Bach im Kopf und wur­ de später gefeierter Oratoriensänger. Für diese Sonntage habe ich meine letzte Bildung verbraucht, um da etwas Beruhigendes, und doch Sinnvolles zu sagen, jedenfalls nichts Politisches. Der Krieg und die Nazizeit waren keine beliebten Gesprächsthemen. Während der Gefangenschaft wurde die Bibel mein wichtigster Zeitver­ treib, ich habe mich regelrecht in sie vergraben. Diese zwei Jahre Gefan­ genschaft waren ein Glück für mich, ich konnte mich allein und im Aus­ tausch mit anderen in Ruhe besinnen auf all das, was passiert ist und musste nicht gleich in den Trubel zurück, wo ich wohl, wie viele andere auch, verdrängt hätte. Je länger man nachdachte, desto verheerender war das Bild, an dem wir unglücklicherweise mitgewirkt hatten. Mein Leben lang ist mir dieses Nachdenken allerdings zu Gute gekommen. Nach zwei Jahren wurde ich entlassen, und half meinem Vater in seinem Reisebüro. Wir konnten leidlich auskommen. Eines Tages kam Bischof Staehlin zu mir und sagte, Herr von Seggern, Sie müssen Pastor werden, wir brauchen dringend neue Pastoren. Nur entschuldigend konnte ich ant­ worten, dass ich bereit sei, alles für die Kirche zu tun, es mir aber mit drei Kindern und der Familie nicht leisten könne, noch einmal zu studieren. Alle erwarteten, dass ich Geld verdiene. Doch mein Vater war wider Erwar­ ten einverstanden, er sei nun einmal auch Christ und werde mich in Him­ mels Namen unterstützen. Meine Frau hingegen war überhaupt nicht begeis­ tert, erst an meinem 34. Geburtstag machte sie mir das große Geschenk, einem Theologiestudium zuzustimmen. Das bedeutete für sie eine große Last, neben der Kindererziehung hat sie noch einen Acker gemietet, um Kartoffeln und Rüben anzubauen. Ich ging mit meinem alten Studienbuch nach Heidelberg, um mich wieder zu immatrikulieren. Der Beamte aber sagte, Herr von Seggern, Sie sind Heidelberger Student, Sie brauchen sich nicht neu zu immatrikulieren. Das ganze „Tausendjährige Reich“ lag dazwischen und konnte das nicht ändern. Auch nicht, dass ich nun wieder im Korporationshaus der Renopalaten wohnte, und deren Neuanfänge mitberiet. Die Theologie gab mir durch den ökumenischen Gedanken der Völker­ verbindung die Gelegenheit einer Art Wiedergutmachung. Ursprünglich wollte ich ja mit Stresemann Völkerversöhnung machen und mit der Theo­ logie hatte ich nun die Möglichkeit. Durch die Ökumene lernte man Men­

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III. Reife

schen aus der ganzen Welt kennen. Eine Burmesin sagte einmal zu mir, dass sie nicht geglaubt hätte, dass man in Europa noch die Bibel lese, so Schreck­ liches habe sie über diesen Kontinent gehört. Nach meinem Studium wurde ich 1951 Pastor in Westerstede, einer Ge­ meinde mit 16.000 Mitgliedern, davon 4.000 Flüchtlingen. Das war eine sehr harte Aufgabe, weil ich bis dahin wenig Erfahrung in Praktischer Theologie hatte und ich musste sehr viel Unterricht geben. Diese sieben Jahre waren eine Freude und Last zugleich. Wenn Opa Schmidt in Ihorst sich bei Glatteis ein Bein brach, dann bedeutete das 25 km Radfahrt in die eine Richtung, wenn Oma Helms auf dem Karlshof 90 Jahre alt wurde, hieß das eine ebenso lange Radfahrt in entgegengesetzter Richtung. Auch meine Frau lebte sich in ihre Rolle als Pfarrfrau schnell ein und genoss bald hohe Anerkennung, verbunden mit der Erwartung als Helferin und Beraterin in allen Nöten, für die Gemeindemitglieder da zu sein. In Paris und Fontaine­ bleau, wo ich anschließend Pfarrer für die deutsche Gemeinde wurde, erreg­ te das gute Englisch und Französisch meiner Frau Bewunderung, da es damals nicht selbstverständlich war. So lebten wir uns auch dort gut ein. Bis eines Tages ein Tumor bei meiner Frau entdeckt wurde, und wir schon zu Beginn der Behandlung erfuhren, dass sie es nicht überleben würde. Es blieben uns noch ein paar bewegende Wochen miteinander. Ich erlebte, wie Lenis tiefe innere Frömmigkeit ihr Gelassenheit schenkte, so dass sie sich über alles freuen konnte, was um uns herum geschah, und mich auch noch so lang es ging, bei meinen Reisen begleitete. Ganz für sich in der Stille lebte sie mit ihren liebsten Gesangbuchsversen, die trugen sie, bis sie am 25. Juli 1963 nicht mehr erwachte. Ich lebte innerlich weiter erfüllt von den 25 Jahren, die ich in harten und schönen Tagen mit Leni zusammen gelebt und bestanden hatte. So wollte ich nicht recht an eine zweite Ehe denken. Doch traf ich eine ehemalige Kommilitonin als Vikarin wieder und sah es als Zeichen höherer Fügung. Wir heirateten bald und sie lebte sich in Paris und später in Bonn in ihren neuen Beruf der Haus- und Pfarrfrau ein. Bald zog die neo-marxistische Studentenrevolution mit ihren anarchisti­ schen Tendenzen auch meine Kinder in ihren Bann. Zuerst konnte man als Älterer die „neuen Ideen“ nicht so recht ernst nehmen. Eine Gefahr für die Grundordnungen menschlicher Existenz, eine Wolke nebulöser Sehnsüchte schwebte ins Land. Dennoch konnte ich im Rahmen der Jugendarbeit und der Militärseelsorge mit vielen jungen Menschen vernünftig reden. Auch mit meinen Kindern. Sie sagten, was sie dachten, aber dann sagte auch ich deutlich, was ich dachte. So kamen wir da durch. Schließlich wurde ich mit 62 Jahren doch zu alt für die Jugendarbeit und beschloss 1976 nach Olden­ burg zurückzukehren und dort weiter als Pfarrer tätig zu sein. Doch bald



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gehörten wir auch dort zu den Älteren und mit 71 ging ich in den Ruhe­ stand. Pfarrer i. R. kann allerdings auch mit Pfarrer in Reichweite wieder­ gegeben werden.

Wort des Jahrhunderts? Verunglücktes Jahrhundert

Albert Scheel * 6. Oktober 1917 Berlin  † 19. Februar 2013 Oldenburg Meine Frau und ich haben die gesamte Bevölkerung in Nauen gegen Typhus geimpft, erst dann bekamen die Menschen einen Schein für Lebens­ mittelkarten. Einmal fuhr sogar eine Lokomotive nur für uns nach Börnicke, um auch dort alle Leute zu impfen. Wir lebten in der Sowjetischen Zone, dennoch haben wir versucht, so bürgerlich wie möglich weiterzuleben. Mich hat keiner zum Umdenken gebracht. Ich war kein Widerstandskämpfer, aber wenn mir jemand an den Kragen wollte, habe ich mir nicht den Mund verbieten lassen. Wir haben einfach gelebt und nicht revoltiert. Vom Gesundheitsamt bewarb ich mich als junger, noch nicht approbierter Arzt am Nauener Krankenhaus. Mein Vorgesetzter dort kam jeden Tag mit dem Auto aus Berlin und spielte sich mächtig auf. Er behauptete, im KZ gewesen zu sein. Ich nehme an, dass er dort Abtreiber war, denn das einzi­ ge, was er beherrschte, waren gynäkologische Unterleibsgeschichten. Als ich einmal nicht bei seiner OP dabei sein konnte, wurde ich ins Chefarzt­ zimmer gerufen. Dort wartete er mit der Direktorin, die eigentlich Friseurin war, und teilte mir freundlich mit, dass sie beschlossen hätten, mich zu entlassen. Ich war drei Monate arbeitslos und bald ging uns das Geld aus. In der Zeit haben Gänse in Grünefeld unseren Kinderwagen zerfetzt. Meine Schwiegermutter, eine Dame aus gutem Hause, sagte, so geht’s ja nicht weiter, versuch doch im Westen Arbeit zu finden. Kurz darauf fand ich in Spandau eine Stelle, bekam dort aber nur 10 Prozent West- und 90 Prozent Ostgehalt, weil ich im Osten wohnte. Mein Kollege hatte die Aufsicht über den einzigen Tresor mit Penicillin für die Krankenhäuser Westberlins. Is doch drollig, nich? Als Chruschtschow 1960 bei den Vereinten Nationen mit dem Schuh auf das Pult geschlagen hat und groß tönte, er wolle ganz Berlin einnehmen, haben die Amerikaner zu pflaumenweich reagiert. Ich wollte nicht, dass die Russen endgültig meine Familie mit meinen Kindern bekommen. Deshalb habe ich Schritte zum Verlassen der Berliner Insel unternommen und Zei­ tungen nach Stellenangeboten durchsucht. Ich fand eine Anzeige der Bun­ deswehr: Suchen Musterungsärzte. Ich dachte, da kann ich mich mal inter­ essieren und meine Frau und ich haben uns verschiedene Standorte angese­ hen. Erst ließen wir uns in Lüneburg nieder, bis kurz darauf ein neues



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Stellenangebot aus Oldenburg eintraf. Das wollte ich aber nur mit anschlie­ ßender Beförderung annehmen, und so bekam ich wenige Tage später im Rathaus von Hannover den „Medizinaldirektor“ und obendrauf ein großes Haus in Oldenburg ausgehändigt. Die Arbeit hat mir Spaß gemacht und ging mir leicht von der Hand. Die Familie ist hier schnell heimisch gewor­ den. Is doch schön hier, nich? Der „Mittwochskreis“ der hohen Offiziere aus der Nachbarschaft lud mich Ende 1988 einmal zu einem Geburtstag ein. Das war die Aufnahme­ prüfung, ob ich auch zu ihnen passe. Während der Feier stellte sich ein Oberst breitbeinig hin und behauptete lautstark, die Wiedervereinigung komme nie. Alle in der Runde waren so negativ eingestellt und pflichteten ihm bei. Das hat mich maßlos geärgert. Da sagte ich zu ihm, dass er doch mal glauben solle. Er blickte auf mich herab, und erwiderte boshaft, dass dafür sein Bruder zuständig sei, der sei schließlich Pastor. Da kam ich nicht drüber hinweg. Dieser Kreis von hohen Offizieren musste doch ein anderes Nationalgefühl haben! Ich wurde also nicht aufgenommen, wollte aber auch nicht mehr. Ein Jahr später am 9. November ging es mir dann aber groß­ artig. Es wurde das bestätigt, was ich immer gewollt habe. Unsere ganze Familie war aus dem Häuschen. Heute bewegt mich die von Menschen in der Öffentlichkeit benutzte Schludrigkeit der deutschen Sprache. Die modische Anglomanie finde ich würdelos, wenigstens da, wo es die Globalisierung nicht bedingt. Noch in meiner Jugend fanden viele Wörter aus dem Französischen ihr Ende, weil es gewollt war. Besteht noch Hoffnung? Viele Politiker sagen „dieses Land“ anstatt Deutschland. Die Worte deutsch oder Deutschland sind offenbar verpönt. Traurig.

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III. Reife

Wort des Jahrhunderts? Mein Leben

Annelise Pflugbeil * 03. Mai 1918 in Stettin Ich habe mich in Greifswald angesiedelt und gleich zu Hause gefühlt. Als ich zum ersten Mal hier ankam, bin ich hochgegangen auf den Wall und sah den Dom, von der Sonne beschienen. Das war so traulich. Ich liebe Pom­ mern sehr und wollte es nicht verlassen. Es war sehr schmerzlich, dass das ganze Hinterpommern weg war. Und das ist schöner als Vorpommern! Ab­ gesehen von Hiddensee und Rügen und Greifswald. Zwischen Mai und Oktober 1945 sind ganz viele Leute, die geflüchtet waren, zurück nach Hinterpommern gegangen, aber nur bis Stettin gekommen. Viele verloren damals ihr Leben. Oftmals lebten sie auf stillgelegten Bahngleisen in Zelten und warteten auf die Entscheidung, ob Stettin zu Deutschland oder zu Polen gehören soll. Das blieb lange unklar. In der Familie haben wir die ganze Zeit weiterhin von Stettin gesprochen, nie „Szczecin“ gesagt. Das galt in der DDR-Zeit als revanchistisch. Ich habe mal einen Zettel bekommen, da stand unter Berufsbezeichnung: polnische Cembalistin. Da habe ich nur gelacht. Das war mir nicht so wichtig, andere haben sich beschwert. Damals waren viele Stettiner in Greifswald. Zunächst wurden wir aller­ dings ziemlich mies aufgenommen. Die Pommern sind ja nun keine Men­ schen, die besonders gastfreundlich sind. Es hieß immer, och diese Flücht­ linge, wer weiß, wen man da ins Haus kriegt. Man weiß ja nicht, ob die klauen. Es war anfangs sehr schwer. Wir hatten keine Tasse und keinen Teller. Man musste sich alles beschaffen. Aber dann, wenn die Pommern einmal Vertrauen gefasst haben, sind sie herzlich. Ein Freund, der in Berlin ausgebombt wurde und nach Hiddensee zog, erzählte die Geschichte, dass er von Anfang an alle Hiddenseer freundlich gegrüßt habe, und dass sie nicht zurückgegrüßt hätten. Nach dem dritten Jahr hätten sie schließlich genickt und nach dem vierten zurückgegrüßt. Mein zweiter Mann, den ich 1945 in Greifswald kennengelernt habe, kam mit nur einem Arm aus dem Krieg heim. Er konnte aber so fantastisch Orgel spielen, dass er trotzdem die Stelle als Organist in Greifswald wie­ derbekam, die er schon vor dem Krieg gehabt hatte. Wir bauten zusammen die Kirchenmusikschule auf. Das war alles sehr aufregend. Doch wir fanden es bald schade, nur Musik ohne Publikum zu machen. Trotz aller Not haben wir zusammen mit dem Geiger Hermann Diener beschlossen, eine Bachwo­

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III. Reife

che43 stattfinden zu lassen. Das war im Juni 1946. Schon im Oktober war es dann soweit. Ein so überwältigendes Erlebnis, endlich wieder öffentliche Musik. Die Menschen waren alle wie besoffen vor Begeisterung. Dann haben wir beschlossen, weiterzumachen, später ist eine Tradition daraus geworden. Unsere Musiker aus Stettin und Leipzig waren glücklich und selig, dass sie musizieren konnten und spielten für ganz wenig Honorar. Überall sonst waren doch die Konzertsäle kaputt und im Greifswalder Dom konnte man musizieren. Dennoch haben wir überlegt, ob wir in den Westen gehen sollten. Auch der Kinder wegen, weil sie dort ganz andere Ausbildungsmöglichkeiten gehabt hätten. Mit meinem zweiten Mann hatte ich noch drei Kinder, die 1947, 1950 und 1953 geboren wurden. Aber es ist ja so, dass unsere kir­ chenmusikalische Arbeit für die ganze Stadt eine große Rolle spielte. Das zu verlassen, wäre ein schwerer Entschluss gewesen. Wir hatten immer das Gefühl, hier sind wir König und wenn wir woanders hingehen, müssten wir wieder von vorne anfangen. Auch für meinen Mann mit nur einer Hand, obwohl er eher geneigt war, zu gehen. Er stammte aus Sachsen, ich aber war sehr an Pommern gebunden. Schließlich gab es auch Gesetze über diesen Punkt. Wenn ein kirchlicher Angestellter aus der DDR illegal in den Westen ging, durfte er dort drei Jahre kein Amt annehmen. Das lag an der Vorstellung, dass ein Mensch, der in der Kirche tätig ist, seine von Gott gewollte Arbeit zu machen hat, auch wenn die Arbeit schwer und mühsam ist. Ein Bekannter von mir, der eine gute Stelle in der Kirche hatte, ist in den Westen gegangen, doch da haben sie ihn behandelt wie kalten Kaffee. Wir sind also geblieben. Mein Mann und ich haben mehrere Jahrzehnte lang eine reiche kirchenmusikalische Arbeit gemacht und waren dabei sehr glücklich. Natürlich belasteten uns die Unfreiheit und die Unmöglichkeit, offen zu sprechen sowie später die unüberwindliche Grenze. Es war sehr unter­ schiedlich, wann wir wie über die Verhältnisse gesprochen haben. Es konn­ te vorkommen, dass man ein paar Monate ganz ungehemmt Dinge sagen konnte und dann wieder Jahre nicht. Wir haben am Telefon mit vorher ausgemachten Vokabeln geredet. Erst kurz vor der Wende wurden die Men­ schen mutiger. Mit der Schule gab es auch Probleme. Immer war es ein Kampf, dass unsere Kinder auf die Oberschule gehen durften, weil mein Mann Kirchen­ musikdirektor war. Da kamen ja nur Leute rauf, die in Ordnung waren, im Sinne des Staates, und wir mussten das jedes Mal erkämpfen. Meine ältes­ 43  Die Greifswalder Bachwoche ist ein Festival Klassischer Musik in Greifswald und Umgebung.



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te Tochter ist noch vor dem Mauerbau zu meinem Bruder nach Westberlin gegangen, um dort zu studieren. Noch im August 1961 war sie mit uns auf Hiddensee. Da meine Tochter ihren Studienplatz behalten wollte, musste sie illegal über die Grenze gehen. Wir haben damals gedacht, das mit der Mau­ er, das wird ja nicht lange dauern. Ich habe meine Tochter zwölf Jahre nicht gesehen. Die Wende war etwas Besonderes für mich, weil ich das erste Mal ein Gefühl von Stolz hatte, Deutsche zu sein. Ich steckte eben mittendrin, zwei meiner Kinder waren da ganz aktiv. Diesmal war ich nicht politisch gleich­ gültig. Das war doch eine großartige Leistung. Dass das ohne Blutvergießen ging. Dass man endlich sagen konnte, wir sind das Volk. Als sie aber sag­ ten, wir sind ein Volk, da wurde es ungemütlich. Nach Berlin bin ich aller­ dings nicht gefahren. In Pommern geht immer alles ruhiger zu. Mir war es wichtig meinen Kindern, das, wovon wir geistig leben, also Bücher, Literatur und Musik, weiterzugeben. Ich weiß nicht, ob ich ihnen ein ausgesprochenes Heimatgefühl für Greifswald mitgegeben habe, aber sie kommen sehr gern hierher. Natürlich besonders gern zur Bachwoche, vor allem mein ältester Sohn Sebastian ist sehr bachwochenträchtig. Unser Fa­ milienzusammenhalt beruht aber nicht nur auf Musik. Wir lieben uns alle, wir haben uns immer alle sehr gut verstanden. Deswegen klappt das auch mit unserem Ferienhaus auf Hiddensee, wo wir als Familie jeden Sommer Urlaub machen. Als Kind war ich so glücklich am Stettiner Haff, dass ich mir wünschte, so ein Paradies auch für meine Kinder zu haben. Als ich Hiddensee das erste Mal sah, da habe ich das Gefühl gehabt, das ist es. Dort können meine Kinder ein Heimatgefühl kriegen und gleich, wenn sie ankommen, die Schuhe ausziehen. Bis dahin war es ein langer und schwerer Weg, und ein reiner Glückszufall. Wir konnten von Bekannten ein kleines Haus pachten. Es zu kaufen wäre nicht ratsam gewesen, denn die Gemein­ de besaß in der DDR das Vorkaufsrecht. Wir verlebten dort schon viele schöne Sommer, doch eines Nachts wurden wir angerufen, das Haus war abgebrannt. Es stand halb zerstört da. Der Bürgermeister fragte uns, ob wir die Ruine nicht kaufen wollen, und das taten wir. Der Wiederaufbau war mühsam, der Transport und die Beschaffung von Baumaterial äußerst schwierig, mit viel Schnaps und Überredung ging es aber doch. Leider hat mein Mann das fertige Haus nicht mehr erlebt. Bis heute ist es der wich­ tigste Treffpunkt der Familie. Allerdings passen nicht mehr alle gleichzeitig ins Haus, dafür habe ich zu viele Urenkel.

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III. Reife

Wort des Jahrhunderts? Pommersch gemütlich

Hildegard Leyden * 11. Dezember 1919 in Rostock Den schönsten Tag in meinem Leben hatte ich im Frühsommer 1945, als ich die ersten Amis in Heidelberg vor dem Europäischen Hof stramm stehen sah. Meine Tante und drei junge Männer haben diesen Tag leider nicht mehr miterlebt. Die Tante ist kurz zuvor plötzlich gestorben. Ich musste zum Rat­ haus und ihren Tod melden, dort sagte man mir, ich solle nach Hause gehen, die Amerikaner seien schon sehr nah, in Ziegelhausen. Wir mussten mit der Beerdigung also warten. In dieser kurzen Zeit haben SS-Leute noch drei jun­ ge Männer als Deserteure am Steigerweg aufgehängt. So unnötig, furchtbar. Das war der Schatten des Kriegsendes in Heidelberg. Trotzdem kann ich sa­ gen, dass der Tag der Befreiung der schönste Tag meines Lebens war. Die Zeit des Schwarzmarktes begann, und ich habe eifrig Schwarzmarkt betrieben. Nicht einmal klauen musste ich, obwohl ich die Tricks kannte. Ich konnte Englisch, lernte die Frau eines Colonels kennen, und das war meine Eintrittskarte für gute Tauschgeschäfte. Sie hat mir mit ihren Kontak­ ten alles besorgt, was nicht niet- und nagelfest war. Für den Schmuck hungernder deutscher Bürgersdamen bekam ich manchmal sogar zwei Pfund Mehl, statt nur eines Pfundes, wie üblich. Stressig war es, aber sehr inter­ essant. Viele Menschen habe ich kennengelernt und mit drei Orangen auch den Grundstein für einen späteren Job gelegt. Die Nachbarin war mir für dieses Geschenk, das ich ihr machte, als ihre Mutter schwer krank war, so dankbar, dass sie mir noch Jahre später eine sehr gute Stelle vom Arbeits­ amt anbot. Ich habe aber nicht nur getauscht, sondern auch im PX, Einkaufszentrum für die Amerikaner, Fotoapparate verkauft. Die US-Währung war damals der so genannte „Besatzungsdollar“. Im PX lernte ich während der Filmauf­ nahmen zu „Ich war eine männliche Kriegsbraut“ den Schauspieler Cary Grant kennen. Ein ganz toller Mann, er grüßte mich immer, unterhielt sich mit mir und die ganzen jungen Mädels waren fassungslos, dass er sich ausgerechnet mir zuwandte. Ich wohnte immer noch mit meiner Mutter zusammen. Sie hatte ihren Bühnencharme noch immer nicht verloren, mit ihr konnte man es aushalten.

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III. Reife

Zwar hatte ich Verehrer, aber entweder haben sie mir überhaupt nicht gefal­ len, zu wenig von Musik verstanden, oder waren schon verheiratet und wollten nur kuscheln. Ich wollte aber keine Ehe zerbrechen. Zudem sind ja auch nur wenige Männer meiner Generation wieder aus dem Krieg zurück­ gekommen. Regelmäßig besuchte ich meinen Vater in Spanien. Er hatte dort inzwi­ schen eine andere Frau geheiratet, für die ich nur gute Worte finden kann. Bei seiner Beerdigung kamen sehr viele Menschen. Auch da hatte er es geschafft, bekannt und beliebt zu sein wie einst in Breslau. Die Stadt, zu der ich bis heute noch eine so starke Bindung verspüre, sodass mir bei all der Freude über die Befreiung der Verlust Breslaus sehr weh tut. Mit der Währungsreform endete schließlich mein abenteuerliches Schwarzmarktkapitel. An eine Karriere als Sängerin oder als Schauspielerin war nicht mehr zu denken. Der Hitler hat mein ganzes Leben verdorben, denn als er weg war, war ich Ende Zwanzig und es war vorbei. Ich war traurig. Mein Lebenstraum würde nicht mehr in Erfüllung gehen. Vielmehr musste ich mich nun durchwurschteln. Zehn Jahre habe ich bei einer Auto­ firma gearbeitet, auch hier half mir wieder mein Englisch. Wir verkauften englische Autos, vor allem an Amerikaner, und eines Tages erlebte ich einen Krimi zwischen unseren Kunden. Einer fuhr einen kleinen Morris und ein anderer kam mit einem Jaguar zu uns, der Direktor der Amerikanischen Chase Manhattan Bank. Der Morris-Amerikaner hatte den Bankdirektor und seine Familie als Geisel genommen, um Geld zu erpressen. Dem 15-jähri­ gen Sohn des Direktors gelang es, vor der Geiselnahme noch eine Pistole einzustecken, und er hat den Morris-Amerikaner vor unserer Haustür er­ schossen. So eine Tragödie war das. Ich wollte irgendwann auch keine Autos mehr verkaufen und ich hielt nach einer anderen Stelle Ausschau. Hier half wieder meine Orangenfreun­ din vom Schwarzmarkt und sagte, sie hätte etwas in höherer Gehaltsklasse, Sekretärin des Nobelpreisträgers Professor Richard Kuhn am Max-PlanckInstitut für Chemie. Zwar hatte ich ein schlechtes Zeugnis, aber in Chemie eine Eins, was Herrn Kuhn sehr freute. Schmunzelnd verkündete er mir, dass er mich dann wohl trotzdem einstellen könne, weil ich die chemischen Fachbegriffe wohl verstünde. Das war schon ein ganz ansprechender Job und auch ganz gut bezahlt, immerhin war es ein Trost, dass ich am Ende wenigstens bei der Chemie gelandet bin. Dort erlebte ich auch die 68er und wurde von den Doktoranden stets gut informiert. Wir diskutierten viel. Ich war zwar eigentlich anderer Meinung, aber die jungen Leute konnten mich irgendwann fast doch von ihrer Revol­ te überzeugen. Jeden Mittwochnachmittag gab es im Institut Kaffee und



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Kuchen, den die Frauen abwechselnd backen mussten. Bis sie protestierten und dann mussten auch die Männer backen. Das gefiel mir natürlich. Das Max-Planck-Institut war meine Endstation. Seitdem bin ich viel ge­ reist, habe über 100 Länder weltweit besucht und darüber Dia-Vorträge gehalten. Auch war ich selbst viele Jahre Gästeführerin in Heidelberg, und als Gästeführer ist man doch auch irgendwie Schauspieler, und die Stadt meine Bühne.

Wort des Jahrhunderts? Patchwork

Gottfried Lemberg * 4. August 1925 in Chemnitz  † 16. Mai 2014 in Heidelberg Schließlich kam ich in Heidelberg an, ohne Abitur, ohne Beruf, ohne Wohnsitz, ohne Geld und ohne Verwandte. Ich stand auf dem Philosophen­ weg und dachte, dass es das nicht geben kann. Ich bin im Märchenland. Eine völlig unbeschädigte Stadt, das bisschen Brücke zählt nicht. Ich kann­ te nur eine zerstörte Welt. Und dann hatte ich diesen Gedanken, ich bleibe hier, für immer. Heidelberg ist meine Heimat geworden. Geld verdiente ich mir mit Nachhilfeunterricht in Latein, Englisch, Phy­ sik und Mathematik. Die meisten, die ich unterrichtete, waren Mütter, die ihren Mann im Krieg verloren hatten, meistens durfte ich bei ihnen auch essen und schlafen. Sie ahnen gar nicht, wie sehr man als Mann auf Frauen angewiesen sein kann. Parallel ging ich in den Vorsemesterkurs, um die Berechtigung für die Hochschule zu erwerben. Nach wie vor mangelte es mir aber an Zaster. Ich besann mich auf meine Talente und wurde Geiger in der Starlight-Bar in der Bergheimer Straße, zwitscherte den Ami-Liebchen „Good Night, Sweetheart“ ins Ohr bis nachts um eins. Gleich am dritten Tag, als ich dort mit zwei Musikstudenten spielte, kam eine Dame auf mich zu und schenkte mir ihre Seidenbluse. Weiß mit Puffärmeln, sodass ich aussah wie ein richtiger Zigeuner. Ich habe dann auch Zigeunerlieder ge­ spielt. Diese Bluse erkannte nun ihr amerikanischer Freund, das erregte seine Eifersucht, und er wollte mich mitsamt der Geige zertrümmern. Das war ein ziemlich großer Kerl, ich würde nicht unbedingt sagen, dass ich ihm nicht gewachsen gewesen wäre, aber als Geiger kann man sich nun nicht plötzlich als Boxer betätigen. Doch da kam der Barkeeper und drück­ te den Kerl mit seinem Bauch aus der Tür, sodass der sich nicht mehr reintraute. Ich kam davon, spielte weiter, und kriegte das gut bezahlt. Unter den Amis war ich ziemlich bekannt. Manchmal spielte ich in der Ruine Stefanskloster auf dem Heiligenberg, und wenn die Amis vorbeikamen um zu kontrollieren, ließen sie mich mindestens weiterspielen oder setzten sich sogar dazu. Wir haben damals den Augenblick gelebt, ihn ganz angenommen, uns ihm ganz gestellt. Ich war dennoch nicht sehr skrupulös, möglicherweise ein Relikt aus dem Krieg, an der Front werden Sie nicht gefragt, ob Sie noch überlegen wollen, entweder Sie schießen, oder der andere schießt. Meine



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sportliche Eignung hatte sich im Krieg sehr bezahlt gemacht, es kommt manchmal darauf an, sich schnell hinunter zu werfen, und nicht wie eine lahme Ente, denn selbst wenn man das Geschoss schon mit den Augen sieht, kann man noch etwas tun, bei genügend Abstand von circa 50 Me­ tern. Ich glaube, dass mir das häufig das Leben gerettet hat. Diese Gegen­ wartsbezogenheit jedenfalls habe ich bis zu einem gewissen Grade behalten, ich nehme noch heute das Schicksal an, das mich heimsucht. Ich habe sieben Bypässe, schweren Zucker, seit zwanzig Jahren Krebs, hatte nach einem Sturz einen Schädelbasisbruch mit Gesichtsabriss, das Obergebiss war herausgebrochen. Ich pflege immer zu sagen, dass ich meine Visage ändern musste, weil mich der Mossad sucht, wegen der Toten. Ich wohnte damals, nach dem Krieg, im Collegium Academicum, zusam­ men mit Nicolaus Sombart, Sohn vom bekannten Soziologen Werner Som­ bart und Kavalier alter Schule. Eines Tages kamen Edeltraud und Ruth, die ich während meiner Lazarettzeit kennengelernt hatte, zu Besuch, und woll­ ten bei mir übernachten. Ich schlief also mit beiden Damen in einem Bett, bis Edeltraud, morgens um vier ein gewisses Bedürfnis verspürte und mit nichts als einem rosa Slip durch das Haus zur Toilette ging. Da begegnete ihr der Direktor Boeckh, ein vorzüglicher Mörikekenner, aber schwul, infol­ gedessen konnte er es nicht goutieren, dass er die Edeltraud sah. Der mach­ te mir einen Skandal, ein großes Theater. Gott sei Dank konnte er durch den Beauftragten für das Collegium beruhigt werden, und so endete die Ge­ schichte glimpflich für mich, ich durfte weiter dort wohnen und studieren. Zunächst war ich Philosophiestudent bei Karl Jaspers. Bei ihm habe ich 1947 ein Referat zu halten gehabt, dessen Titel ich selbst herausgesucht hatte: „Über die Rechtfertigung des neuen Staates aus dem Dialogprinzip.“ Jaspers bot mir damals an, später mit diesem Thema bei ihm zu promovie­ ren. Die Staatsentfremdung vom Volk ging nämlich damals schon los. Im Frühjahr 1948 ist Jaspers aber nach Basel gegangen, und ich war ein zu armer Schlucker, um ihm zu folgen, ich konnte ihn ja schlecht bitten, mich zu bezahlen. Ich blieb also in Heidelberg, verschrieb mich ganz der Musik und ließ das Studieren erst einmal sein. Durch eine mir bekannte Generalswitwe, Frau Bahls, konnte ich auf einer wunderschönen und sehr wertvollen Geige spielen. Ich spielte oft auf dem Dachboden des Collegiums, offiziell als Verwalter der Bibliothek. Nächte­ lang habe ich durchgefiedelt, die Paganini-Capricen in einer Nacht eingeübt. Eines Tages aber stürzte ich die Treppe herunter, die Geige fiel aus dem Kasten und zerbrach in hundert Stücke. Meine Kommilitonen halfen mir beim Aufsammeln und ich brachte sie zum Geigenbauer Seitz, der sie in einer dreiwöchigen Meisterleistung tatsächlich wieder zusammengeflickt hat. Die Gegenleistung für die Überlassung der Geige war nämlich ein

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III. Reife

wöchentliches Vorspiel bei Frau Bahls. Nach der Reparatur setzte ich an, und schon beim ersten Ton rief sie: „Nein, das ist nicht mein Instrument!“ Dann kam die große Beichte. Seitdem habe ich nie wieder auf einer Geige gespielt. Nie wieder. Deshalb stellte sich mir nun erneut die Frage, was ich machen sollte, Jaspers und somit die Philosophie waren weg, Geige spielen nicht mehr möglich. Karl Jaspers selbst ist mal Rechtsstudent gewesen, dort lernte er den Rechtspositivismus kennen: „Gesetz ist Gesetz.“ Das hat ihn so angewidert, diese Öde, nur diese Teilwirklichkeit wahrzunehmen, statt auch das Mensch­ liche, das Moralische, das Kulturelle, das Sittliche, dass er umgestiegen ist und sich mit der „Verlorenheit des Menschen“ beschäftigt hat. Ich versuch­ te ebenfalls philosophierend Richtung zu halten, ohne das Ziel zu kennen. Doch ich begriff, dass man aufgrund der inneren Aufgelöstheit des Men­ schen dem Menschen ganz anders nahe kommen muss, um ihn zu retten. Ich wusste plötzlich, dass ich ins Richteramt gehörte. Dass es nicht mehr um Rechtspositivismus ging, sondern auch darum, die Legitimität der Ge­ setze in Frage zu stellen, mit anderen Worten, um das Naturrecht. Damit war ich dann über Jahre beschäftigt. Ich bin ein Ehrgeizling, sah nichts anderes als dieses Ziel. Sehr schnell kam ich so an das oberste Gericht von Baden-Württemberg. Doch dort erlebte ich auch eine große Demütigung. Ich war im Vollbesitz meiner brillanten juristischen Kräfte, machte meinen ersten Urteilsentwurf, drei Wochen habe ich dafür gebraucht, jedes Komma überlegt, und verteil­ te ihn mit besten Hoffnungen im Ersten Senat, aus dem werden die Füh­ rungsrichter des Landes genommen. Arthur Kaufmann, später Bundesverfas­ sungsrichter, sagte aber, Herr Lemberg, das ist ja ganz schön, was sie ge­ schrieben haben, doch wir sind völlig anderer Meinung. Nun, es tut dem Menschen gut, gedemütigt zu werden, wenn er das durchsteht. Nicht nur Verwundungen und Schläge braucht der Mensch, sondern auch Demütigun­ gen. Denn zuvor war ich Einzelrichter und Vorsitzender Richter in Karlsru­ he, mir hatte also nie jemand dazwischengeredet, ich war immer selbstherr­ lich, alles stimmte, alles fiel mir zu, und dann bekam ich eins auf die Mütze. Und es blieb nicht bei einem Mal. In dieser Zeit dachte ich nicht viel über den Krieg nach. Ich sah nur mein Ziel. Doch ich hätte es wahrscheinlich auch nicht anders verkraftet. Sie müssen irgendwie geöffnet sein dafür, man muss erst in eine Rezeptions­ phase hereinkommen. Möglich, dass ich das erste Mal wieder durch die Fernsehserie „Holocaust“ darüber nachdachte. Ich erlebte die innere Ausgelöschtheit der Menschen ja hautnah, die von Stefan Zweig so genannte Monotonisierung des Menschen, die er schon in den 20er Jahren erkannt hat: „Gleichzeitigkeit. […] Es ist eine Trunkenheit,



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ein Stimulans für die Masse und zugleich in allen diesen neuen technischen Wundern eine ungeheure Ernüchterung des Seelischen, eine gefährliche Verführung zur Passivität für den einzelnen. […] Nicht ungestraft gehen alle Menschen gleich angezogen, gehen alle Frauen gleich gekleidet, gleich geschminkt: die Monotonie muß notwendig nach innen dringen. Unbewußt entsteht eine Gleichartigkeit der Seelen, eine Massenseele durch den gestei­ gerten Uniformierungstrieb, eine Verkümmerung der Nerven zugunsten der Muskeln, ein Absterben des Individuellen zugunsten des Typus. […] Wenn die Menschheit sich jetzt zunehmend verlangweiligt und monotonisiert, so geschieht ihr eigentlich nichts anderes, als was sie im Innersten will. Selb­ ständigkeit in der Lebensführung und selbst im Genuß des Lebens bedeutet jetzt nur so wenigen mehr ein Ziel, daß die meisten es nicht mehr fühlen, wie sie Partikel werden, mitgespülte Atome einer gigantischen Gewalt.“44 Hitler erschien infolge dieser inneren Ausgelöschtheit des Eigenen und der Verführung zur Passivität natürlich rosig. Wir müssen also Herr unserer selbst sein, innerliche und äußerliche Abhängigkeit hasse ich wie die Pest, wir können keine Lehrer mehr sein, wir überzeugen niemanden mehr, wir können nur für uns retten, dass wir bleiben, wie wir sind. Der Krieg begleitet mich ständig. Eine Zeitlang schlief ich nur mit durch­ geladener Pistole im Nachtkasten. Ich habe Nachtangst. Lächerlich, nicht? Wenn hier in unserem Haus die Tür auf ist, und man so wunderbar herein­ gucken kann, stelle ich mir vor, ein MG-Schütze guckt rein und schießt. Woher kommt das? Aus meiner Kindheit nicht, das kann nur aus dem Krieg sein. Dieses Immer-wach-sein, 24 Stunden ohne Schlaf, immer wach sein, immer die Angst, dass man abgeschossen wird, das ist die Neurose, die ich zweifellos habe. Seit meinem Unfall letztes Jahr ist es wieder stärker geworden. Ich habe im Krankenhaus kaum geschlafen, die Verfolgungsszenen lagerten sich über die Gegenwart. Schlafmittel oder Beruhigungsmittel konnte ich nicht neh­ men, denn kaum merkte ich die Wirkung, schrie ich: Seid ihr wahnsinnig? So habe ich also den Irren gespielt, nein, nicht gespielt, ich war der Irre. Sie dürfen mir keine Beruhigungsmittel geben, ich habe Angst vor dem Kontrollverlust. Doch seit ich meine zweite Frau Ingrid kenne, kann ich reden. Zum ers­ ten Mal ging mein Herz vor Anker. Ich kann wirklich sagen, was ich bin, und was ich leide. Ich rede über den Krieg ja erst wieder seit meiner ersten Bypass-Operation 1985. Mir bleibt noch die unerschütterliche Hoffnung, dass mein Leben mit dem Tod nicht zu Ende ist. 44  Zweig, Stefan: Begegnungen mit Menschen, Büchern, Städten, Frankfurt / Main 1956, S. 160.

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III. Reife

Wort des Jahrhunderts? Monotonisierung

Hildegard Juhl * 10.  Juni 1926 in Danzig / Langfuhr Während der ersten Monate in Dänemark lebte ich in dumpfer Wartestel­ lung. Ich musste mich irgendwie mit diesen Juhlschen Verwandten arrangie­ ren, habe versucht ein bisschen dänisch zu sprechen, Kartoffeldänisch heißt der Dialekt im Grenzgebiet. Die lebten da wie die Maden im Speck, da gab es alles. Ich erzählte Großmutter, wie wir in Danzig künstliche Schlagsahne gemacht hatten, dazu braucht man Magermilch. Aber Magermilch gab es da oben gar nicht, nur fette Milch und Sahne, so war das in Dänemark. Meine Nordschleswiger Großeltern kannte ich praktisch nicht. Meine Bindungen zu Mutters Familie Stampa waren viel stärker. Nur einmal bin ich vor dem Krieg in Nordschleswig gewesen, im Rahmen von so einer BDM-Reise. Mutter hatte mir vorher eingeschärft, bei der Großmutter auf­ zupassen, immer ganz ordentlich Staub zu wischen. Das habe ich mir ge­ merkt und mit einer solchen Angst Staub gewischt, wie niemals davor oder danach. Da hat Großmutter das Staubtuch genommen und nachgewischt, natürlich konnte ich mich nicht ordentlich und schleswigsch genug beneh­ men. Nie hatte ich endgültige Gewissheit, war lange dankbar dafür, dass ich denken konnte, sie sind noch irgendwo, sie leben noch, habe Suchanfragen an das Rote Kreuz gestellt. Einmal bekam ich sogar eine Antwort, alles passte, Name und Geburtsdatum stimmten, bis auf das Geburtsjahr. Geweint habe ich zum ersten Mal, als Vater seine neue Familie hatte, 1947 kamen schon Zwillinge. Da wollte er wieder richtig Weihnachten feiern und unse­ re Stampaschen Weihnachtslieder singen. Beim Singen sind mir die Tränen heruntergekullert. Daran kann man sehen, wie hart diese Nordschleswiger sind. Mutter war auch nicht sehr glücklich. Das nächste Mal habe ich so fürchterlich geweint bei der Beerdigung der jüngsten Schwester meiner Mutter. Nachher habe ich überlegt, da habe ich wohl um Mutter geweint, ich hatte gar nicht genug Taschentücher. Aber keiner hat sich getraut, mich in den Arm zu nehmen. Zum Wintersemester 1945 / 46 begann mein Studium in Kiel. Aber es ging schleppend los, weil nach Neujahr schon Kohlenferien waren, da machte die Universität gar nicht mehr auf. In den ersten Semestern studierte ich noch Mathematik und Physik, aber das fiel mir schwer, denn als Integral- und

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III. Reife

Differenzialrechnung in der Schule dran gewesen wären, war ich doch im Ernteeinsatz. Im Sommer 1946 habe ich meinen späteren Mann kennenge­ lernt. Wir absolvierten zusammen das physikalische Praktikum und unsere erste Gemeinsamkeit war die Bearbeitung der Aufgabe „Charakteristik der Glühbirne“. Zusammen sind wir umgestiegen auf Zoologie und Botanik, Geologie und Geographie. Bis zum Ende des Sommersemesters 1946 bestanden die Lehrräume der Universität aus vier Wohnschiffen, deren Salons zu Hörsälen umfunktioniert waren. Kiel lag ja total in Trümmern. Wir hatten unsere Trampelpfade durch den Schutt. Ich weiß noch, wie ich eines Morgens hungrig und frierend stundenlang durch die Trümmer geirrt bin, weil meine Orientierungspunkte über Nacht geräumt worden waren. Wir Studenten mussten in den Semes­ terferien beim Trümmer-Räumen mit anpacken, sonst kriegten wir keine Zulassung für das neue Semester. In der Innenstadt waren Schienen verlegt, um den Schutt abtransportieren zu können und als die Währungsreform kam, war Kiel frei von Trümmern, eine kahle Wüste. Da hat der Nach­ kriegsbürgermeister Gajk überall Pappeln gepflanzt, um Sandstürme in der Stadt zu verhindern. Eines dieser „Gajk-Wäldchen“ haben sie stehen lassen, über allen anderen ist das neue Kiel gewachsen. Das Schönste am Studium waren die Exkursionen mit Professor Gripp, unserem Glazialgeologen. Wir sind mit ihm durch Schleswig-Holstein gefah­ ren und haben uns gefragt, warum die Landschaft hier gerade so aussieht und nicht anders, zum Beispiel warum die Eider nicht in die Ostsee fließt oder die Holsteinische Schweiz nicht so flach wie Dithmarschen ist. „Grippchen“ hat­ te seine liebe Mühe mit all den jungen Männern von uns, die Krieg und nichts als Krieg im Kopf hatten. Das mochte er überhaupt nicht. Die Exkur­ sionen sollten sie auf andere Gedanken bringen. Aber sie konnten es nicht lassen und beurteilten die Landschaft nur nach ihrer Eignung für den Krieg, wo man am besten in Deckung gehen oder ein Geschütz aufstellen könnte. Grippchen hatte was gegen uns Flüchtlinge. Er hat mir einmal erklärt, wir würden die Rasse verderben, zeigte dabei auf eine Gruppe von Pferden, deutete auf eines mit dunklem Strich im Fell und sagte, das sei wie mit den Flüchtlingen aus dem Osten. Trotzdem hatte ich Grippchen sehr gern. Über­ haupt gab es eine klare Trennmarke zwischen uns Studenten, die Einheimi­ schen hatten Kleider, wir nicht. Beim Ernteeinsatz hieß es, wir Flüchtlinge seien protzig, weil wir in unseren guten Winterkleidern auf den Acker zö­ gen. Ich ging in der Regel barfuß, wollte meine einzigen Schuhe schonen. Einer meiner Kommilitonen hat mir einmal Herrenschuhe gebracht, prompt wurde ich von den Einheimischen verspottet. Außerdem hatte ich als Jacke ein Regencape, so ein gelbes, wenn man im Rettungsboot ist, ist es gut, so ein gelbes Cape zu haben.



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Die evangelische Studentengemeinde hat mir während des Studiums Halt gegeben, ich war doch so schrecklich alleine. Viermal die Woche bin ich frühmorgens zur Ansgarikirche gelaufen und habe die Glocken zur Morgen­ andacht geläutet. Unter dem Turm war ein Zimmer, in dem wir uns trafen, die Kirche war ja noch kaputt. Wir waren so früh, dass wir Viertel nach acht in der Vorlesung sitzen konnten. Morgenandacht, Kurende, Bibelstun­ de, Hauskreis, Wochenschlussandacht, Universitätsgottesdienst, mein Leben hatte einen Rhythmus, der mich gehalten hat. Darin habe ich gelebt, sehr gerne gelebt. 1948 kam Heinz Zahrndt zu uns als Studentenpfarrer, auch Willi Marcksen und Rolf Rendtorff waren dabei. Einmal sind wir zu einem Freundschaftstreffen nach Kopenhagen gefahren, mit dem Schiff über die Ostsee. Da habe ich völlig die Nerven verloren. Heinz Zahrndt und Rolf Rendtorff habe ich mich anvertraut, die hatten immer diesen Spruch, du kannst nicht tiefer fallen als in Gottes Hand. Das war eine Heilszusage, eine Trostzusage. Die ist auf mein trockenes Herz ge­ fallen. Ich habe mich auch bemüht, das zu empfinden, manchmal konnte ich es glauben, aber letztlich ist das doch eine ganz alte Platte, dieser Spruch mit Gottes Hand. Ich habe keinen gefunden, der mit mir umgehen konnte. Das waren alles tolle Leute, nett und vernünftig, denen man vertrauen konnte, sie konnten mir aber keine Antwort geben. Es gibt ja auch keine Antwort. Vater ist schnell in seiner neuen Familie aufgegangen. Wie von Mutter hat er auch von seiner neuen Frau alles übernommen. Sie war eine Platt­ deutsche, also fing Vater an Plattdeutsch zu sprechen, sie war in der SPD, also ist er auch in die SPD eingetreten. Aber die Parteizugehörigkeit blieb ihm immer etwas unangenehm, weil er dachte, sie schade ihm beruflich, man sollte das nicht zu laut sagen. Er war später sogar Schatzmeister. Schleswig-Holstein war noch sehr braun nach dem Krieg, das war überall in den familiären Gesprächen zu erleben. Ich glaube, das hängt zusammen mit diesem Glauben an das edle Blut der Nordmark, das ist archaisch, das kann man nicht ganz ausrotten. Die braune Ideologie hat das nutzen kön­ nen. Vater hat die Schädelform seiner neuen Söhne genau geprüft, ob sie nordisch genug waren, ich glaube er war ganz zufrieden. Aber eigentlich hatte er keine eigene Meinung. 1951 habe ich in Botanik promoviert. Dann kam das Angebot zu einem Forschungsaufenthalt in El Salvador von Professor Remane. Er war unter den Nazis eingesperrt wegen seines Buches, „Was ist Art und was ist Ras­ se?“. Remane war eine Offenbarung, immer anregend und intellektuell brillant, er trug alles auswendig vor, nur für die Stachelhäuter, da brauchte selbst Remane einen Zettel. Er hatte Kontakte in alle Welt, auch zu den Humboldt-Instituten in Südamerika. Remane schlug meinen Mann und mich für einen einjährigen Forschungsaufenthalt vor.

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III. Reife

Meine erste Zeit in Übersee war zwischen 1954 und 1956 in El Salvador und Peru, in den Tropen. Dort schien die Sonne ein halbes Jahr von Norden nicht und ein halbes Jahr von Süden nicht. In unserem Humboldt-For­ schungsinstitut waren immer mehrere Gastforscher aus Deutschland, Geolo­ gen, Zoologen und Botaniker. Wir haben alle zusammen gewohnt, hatten einen Jeep und eine Sekretärin, die nur Spanisch sprach und alles managte. Mein Mann Wolfram erforschte mikroskopisch kleine Krebse, viel kleiner als Wasserflöhe. Diese Krebse sind in der Nahrungskette der Übergang von pflanzlicher zu tierischer Ernährung. Sie sind lästige Parasiten, aber tiergeo­ graphisch sehr interessant, weil man mit ihnen die Kontinentalverschiebung beweisen kann. Es gibt dieselbe Art an der Westküste Afrikas und an der Ostküste Südamerikas, und weil es Süßwassertiere sind, können sie nicht von Meeresvögeln verschleppt worden sein. Von diesen Mikrokrebsen ha­ ben wir uns sozusagen ernährt. 1956 sind wir wieder zurück, zuerst mit dem Lastwagen durch den Ur­ wald und über die Anden, dann mit dem Schiff den ganzen Amazonas hin­ unter. Nach mehreren Wochen kamen wir endlich im Hafen an und bestiegen ein Frachtschiff nach Hamburg. In Kiel waren alle unsere Freunde längst Professor geworden, wir fanden das hinterwäldlerisch, die hatten ja keine Ahnung, was sie verpasst hatten. Wir sehnten uns wieder zurück. Mein Mann bekam das Angebot, ein ökologisches Forschungsinstitut in Santiago de Chile aufzubauen. Anfangs war ich seine Assistentin und Dolmetscherin, er war ja zu faul, um Spanisch zu lernen. Aber eines Tages rief mich der Rektor an und sagte, er brauche eine Botanikerin für den Aufbau der neuen Universität in Valdivia. Ich hatte gleich Lust und habe zugesagt. So wurde ich Professorin, in Kiel war ich ja bloß eine Frau. Gleich nach der Promotion dort wurde mir erklärt, Frauen taugten nicht für die Wissenschaft, ich solle mir keine Hoff­ nungen machen. Aber in Valdivia bekam ich freie Hand, konnte das Institut leiten, einen botanischen Garten anlegen und Vorlesungen halten in Allge­ meiner Botanik, Systematischer Botanik und Pflanzengeographie. Ich war sehr fleißig, abends habe ich die Vokabeln für den nächsten Tag gelernt und versuchte, meinen Unterricht spannend zu machen, bin morgens auf den Wochenmarkt gegangen, um dort die Pflanzen und Pilze zu kaufen, die ich später erklären wollte. In Valdivia war es sehr schön. Das Erdbeben kam an einem Feiertag. Da hat es gewackelt. Dann fielen gleich die Möbel um, und ich hab noch gerufen, wir sollen doch nicht raus, wir sollen doch bleiben. Das Geschirr fiel runter und Blumentöpfe fallen und da bin ich raus, raus bis auf die Straße, in totaler Panik. Ich bin gleich hingefallen. Das wackelte dermaßen, dass man nicht stehen konnte. Auf den Häusern waren Wassertanks, die schwappten hin und her. Schwapp,



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Schwapp, Schwapp. Und dann hat man schon diese Wellen gesehen, immer die Straße hoch. Das Gefühl ist: Das ist jetzt für immer, für ewig, so ist das jetzt eben. Das geht nicht vorbei. Du hast keinen Halt mehr, du kannst dich nicht auf die Erde verlassen. Das war ein sehr langes Gefühl, weil es ein sehr langes Erdbeben war, viereinhalb Minuten. Und dann die Nachbeben. Man weiß ja nie, wie heftig der nächste Stoß ist, man denkt, der nächste kommt, und noch schlimmer. Ich wollte aufstehen, bin aber immer gleich wieder umgefallen. Und immer hoch und wieder runter. Irgendwie hab ich es nochmal ins Haus geschafft und meine Flöte und meine Noten gerettet. Da war totales Chaos. Überschwemmung. Am nächsten Tag bin ich in die Uni gegangen. Der Rektor hat gesagt, ihr Deutschen kennt das ja. Ihr habt ja den Krieg erlebt. Und dann kamen die Flüchtlinge. Die waren ja ausgebombt, ausgebebt. Wir haben die versorgt, wie man das eben gelernt hatte bei den Wandervögeln. Mutter war ja auch Wandervogel. Das Erdbeben war eine ganz fundamentale Sache, man kann niemandem schildern, wie das ist, was es bedeutet, wenn die Erde bebt. Das Verlässliche, die Erde, die ist weg. Das blieb das dauernde Empfinden. Selbst noch, wenn ich in Kiel über die Hochbrücke gegangen bin, es kam ein Lastwagen vorbei und es wackelte. Ich habe mich nie mehr sicher gefühlt. Das Leben ist gefährdet. Ich hatte ja nie Vertrauen ins Leben. Doch, Zuhause, vor 45. Ich hab Angst, ich hab immer Angst. Einfach Angst. Der Wiederaufbau hat sehr lange gedauert. Jedes Jahr gab es eine große Universitätsfeier, da musste ich einen Talar anziehen und die Haare aufste­ cken, damit dieser Deckel auf den Kopf gepasst hat. Ich nannte das meine Verkleidung, war damit auch immer in der Zeitung, selbst bei meinem Mann in Santiago. Er hat aber nie ein Bild ausgeschnitten, hat es nicht ausgehalten. Ich war zu stark. Eines Tages sagte er mir, er wolle zurück nach Kiel, um noch etwas zu lernen und um seinen deutschen Beamtenstatus nicht zu verlieren. Ich woll­ te bleiben, was hätte ich in Deutschland werden sollen? Aber er war nicht umzustimmen und so habe ich mein Paradies schweren Herzens verlassen. Wenige Jahre später ist die Ehe kaputt gegangen. Mein Mann hat unter meiner Katastrophe nur gelitten. Das hat dazu geführt, dass ich geschwiegen habe. Mutters ältester Bruder Aribert war der einzige Mann, der mir Halt gegeben hat in meinem Leben. Er war Psychotherapeut in Wacken bei Itze­ hoe. Zu ihm konnte ich immer kommen, über alles mit ihm reden und wenn es zu sehr gedrückt hat, dann bin ich hin. Schon als Kind hatte ich Vertrau­ en zu ihm gelernt, ich wusste, diesen Onkel, den liebt man. In Kiel habe ich keine Arbeit mehr gefunden. Deshalb bin ich an die junge Oldenburger Universität gegangen, konnte zwar in der Zoologie wie­

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III. Reife

der wissenschaftlich arbeiten, aber immer nur von Zeitvertrag zu Zeitvertrag und natürlich nicht als Professor. Aus der Kirche bin ich ausgetreten, konnte nicht mehr an Christus als Erlöser glauben, an die Erlösungsgeschichte, wie Paulus sie sich ausgedacht hat, man wird eben nicht erlöst. Für meine Freunde aus der evangelischen Akademikerschaft ist das natürlich ein Affront. Die fragen mich, wohin ich denn jetzt zum Beten gehe? Ich sage, zur Synagoge, ich habe das Hebrai­ cum nachgemacht. In der jüdischen Gemeinde sind nicht solche Zwänge, dazu sind sie viel zu vielseitig. Ich gehe jedes Jahr am 27. Januar zum Gedenktag der Sinti und Roma. Die haben immer schon Kränze niederge­ legt und getrauert. Zum „Volksbund Kriegsgräberfürsorge“ kannst du nicht gehen, da spielen sie immer das Deutschlandlied und auf solch einer Ver­ anstaltung kann man doch schlecht die Hörgeräte rausnehmen. Selbst wenn das Kaiserquartett im Radio kommt, dann muss es sofort aus, denn sonst kommt die Vorstellung von „Die Fahne hoch“ in meinen Kopf. Ich ertrage das nicht. Als Willy Brandt die Ostverträge gemacht hat, wollte ich sofort nach Danzig. Auf einem Kieler Kongress für Meeresbiologie hatte ich polnische Kollegen kennengelernt, mit denen ich von Stettin nach Danzig gefahren bin, wir wurden Freunde, das war der erste Kontakt nach 1945. Danzig blieb mein Sehnsuchtsort, ein Leben lang. Aber ich habe verstanden, dass wir selbst schuld sind, wir haben den Krieg angefangen und sind auf die Nase gefallen. Meine Cousine sagte einmal, sie habe die polnischen Kinder dieselben Spiele spielen sehen, die wir gespielt haben. Wir dürfen denen das nicht wieder wegnehmen, gerade weil wir erlebt haben, wie schlimm das ist. In Danzig bin ich glücklich, darum muss ich da auch immer wieder hin, all meine Toten sind da wieder lebendig in den Straßen und Häusern, im Wald und am Strand. Wahrscheinlich habe ich da einen Knacks im Kopf. Ich kann mich der Erinnerung nicht entziehen, versuche aber, mich ihr tagsüber nicht auszusetzen. Nur wenn ich schlafe, dann ist Schluss mit meinem Willen, dann überfällt sie mich. Im Traum gehe ich immer wieder mit unter. Besonders schlimm ist es um Weihnachten und um die Tage des Untergangs. Manchmal wache ich nachts auf, und Mutter ist bei mir, ganz präsent. Sie sitzt an meinem Bett. Dann muss ich mir einen kräftigen Schluck Wodka eingießen. Im letzten Sommer war ich mit dem Volksbund Kriegsgräberfürsorge in Ostpreußen, in Königsberg und Pillau. Dort an der Küste gibt es einen Friedhof für die Gustloff, da sind welche angeschwemmt worden. Im Bus habe ich immer ein Buch vor der Nase gehabt, damit keiner fragt. Ich wa­ ge es nicht, meine Geschichte zu erzählen, die Leute wissen nie, wie sie



Hildegard Juhl271

reagieren sollen, ich komme ihnen zu nahe. Ich frage mich, ob es einen Ort für meine Toten gibt, wo wir alle zur Ruhe kommen. Aber solch ein Mas­ sengrab in Pillau? Es gibt keinen Ort.

Wort des Jahrhunderts: Heimat

Hans-Wilhelm von Bornstaedt * 25.  Februar 1928 in Relzow / Vorpommern Als wir aus dem Krieg kamen, mussten wir uns sagen lassen: Abiturient? Das berechtigt nicht einmal zum Stempeln! Um frei und satt zu sein, bin ich zunächst auf einem Bauernhof untergekrochen. Die Kenntnisse, die dort nötig waren, brachte ich von zu Hause mit. Mit Pferden umgehen, landwirt­ schaftliche Maschinen bedienen, warten und reparieren und mit Forke und Schaufel arbeiten, das konnte ich. Nur Kühe melken, das musste ich lernen. Mir war sehr bald klar, dass ich nicht Landwirt ohne Land sein wollte. Bereits während meiner Zeit als Bauernknecht gab ich mich, wann immer es zeitlich möglich war, im Selbststudium meinen technischen Leidenschaf­ ten hin. Ich hatte mir schon in Relzow im ehemaligen Gefängnis des Guts­ hauses ein kleines Labor eingerichtet und dort experimentiert. Ich verfügte über eine gute theoretische Grundlage durch meinen hervorragenden Phy­ siklehrer, der zu meinem Kummer nach dem Krieg wirklich unschuldig in Fünfeichen umgekommen ist. Der Onkel meines Mädchens in Cuxhaven hatte ein „Labor für Film Rundfunk Fernsehen“, für die damalige Zeit modern eingerichtet, mit einer vielseitigen technischen Bibliothek und hervorragender personeller Ausstat­ tung. Wir Abiturienten hatten in diesem Unternehmen eine gute Gelegenheit, im Schnellverfahren viel zu lernen und Examen zu machen. Es gab dann später eine Verfügung, dass Autodidakten wie ich, nach einigen Jahren Pra­ xis den Antrag stellen konnten, sich „Ingenieur“ zu nennen. Mir wurde dieser Antrag genehmigt. Meine Hände haben eines der ersten deutschen Ultraschall-Diagnosegerä­ te zusammengebaut. Denn das Labor wuchs zur „Ultron“, einer Fabrik elektromedizinischer Geräte. Zunächst hatten wir noch Rundfunkempfänger, sogenannte „Ernährungsempfänger“, nahezu serienmäßig für die Sicherung unseres Lebensunterhalts zusammengebaut. Ein Empfänger brachte auf dem Schwarzmarkt anfangs etwa 5000 Mark, ein Brot kostete 20 Mark. Das Ziel unserer Firma war aber die Herstellung und Entwicklung elektromedizini­ scher Geräte. Der Onkel, unser Chef, hatte noch höhere Ziele: Elektroni­ sches Unterwasser-Fernsehen. Darum wanderte er in die USA aus. Ohne ihn konnte unser Betrieb nicht überleben, schon gar nicht gegen die inzwischen wieder hochkommenden Traditionsfirmen wie Siemens. Wir wurden arbeits­



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los. Um den Lebensunterhalt zu verdienen, verdingte ich mich in einem großen Radiogeschäft und wurde schließlich Filialleiter. Mitte der 50er Jahre bewarb ich mich gleichzeitig bei der Lufthansa und bei der Bundeswehr, um am Aufschwung in der Republik teilhaben zu kön­ nen. Die Lufthansa war schneller. Ich hatte dort schon ein halbes Jahr ge­ dient, als die Bundeswehr mich endlich zur Vorstellung einlud. Die Luft­ waffe wollte mich, ich wollte auch, und die Lufthansa verstand die Welt nicht mehr. „Wir sind hier ein Team, das eine weltweite Fluglinie aufbauen will. Wir haben Sie mit dazu geholt, und jetzt wollen Sie zum Militär!“ Meine Beweggründe wieder Soldat zu werden, waren vielschichtig. Um als Staat vom Status des Verlierers wieder aufwachsen zu können, war es in der Welt, so wie sie nun einmal ist, für die Bundesrepublik Deutschland not­ wendig, wieder Streitkräfte aufzustellen. Ich wusste zweifelsfrei, dass ich für den Dienst in den Streitkräften geeignet war, und mein Unterbewusstsein sagte noch immer: „Man ist Offizier!“ Ich war 28 Jahre alt, verheiratet, hatte zwei Kinder und musste für uns den Lebensunterhalt sicherstellen. In den Jahren des Aufbaus der Bundeswehr wurde ich oft versetzt. Während unserer Ehe haben wir, alles mitgerechnet, 16 Wohnungen gehabt. Ich hatte mit den vielen Ortswechseln kein Problem, denn überall gab es gleich per­ sönliche Anknüpfungspunkte. Neben den Kameraden und deren Familien, die wir von früheren Verwendungen her kannten, gab es die Johanniter, die Rotarier und die Jäger. Und meine Frau spielt Bridge. Für unsere drei Kin­ der war es am schwersten, aber sie haben alle ihr akademisches Studium mit Erfolg abgeschlossen. Die Prestigerente ist immer geflossen. Ich verleugne nicht, dass ich tra­ ditionsorientiert bin. Als adliger pommerscher Gutsbesitzer ist man Johan­ niter. Aus meinem Elternhaus ist mir das Gefühl mitgegeben worden, zur höheren sozialen Ebene in Deutschland zu gehören. Selbst als Bauernknecht hat mich dieses Gefühl getragen. Ich war von Beginn an bei der Bundeswehr und habe bis zum General­ major gedient. Zunächst wurde ich aufgrund meiner beruflichen Vorkennt­ nisse bis zu meiner Generalstabsausbildung an der Führungsakademie in Hamburg-Blankenese als Technischer Offizier verwendet. Danach lag das Schwergewicht im militärischen und militärpolitischen Management der Streitkräfte. Ich war dreimal, immer etwa drei Jahre lang, in Planungsver­ wendungen in den Führungsstäben im Bundesministerium der Verteidigung auf der Hardthöhe in Bonn. Dazwischen lagen verschiedene Truppenkom­ mandos und eine zweite Generalstabsausbildung am Armed-Forces-StaffCollege in Norfolk in den USA. Zuletzt war ich im Verteidigungsministeri­ um der Stabsabteilungsleiter Planung, also Planungschef der Bundeswehr.

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III. Reife

In meiner Zeit wurde bei uns der erste Streitkräfteplan für 15 Jahre im Voraus erarbeitet, im Ministerium abgestimmt und politisch gebilligt. Im letzten Jahrzehnt meiner Dienstzeit als Soldat hatte ich das Glück, den „grünen Stift“ führen zu dürfen. Grün zeichnet in einer staatlichen Organi­ sation der Inhaber der Spitzenposition eines selbständigen hierarchischen Organisationselements. Den Stift führte ich als Kommandeur des Luftwaf­ fenführungsdienstkommandos, als Kommandeur der 2. Luftverteidigungsdi­ vision und zuletzt als Befehlshaber im Wehrbereich II, Niedersachsen und Bremen: „Lieber in Gallien der Erste, als in Rom der Zweite!“ Noch vor dem Ende des „Kalten Krieges“ wurde ich wegen Erreichen der Altersgren­ ze in Ehren mit großer militärischer Abschiedsparade in den Ruhestand versetzt. Ich bin mit dem Gefühl gegangen, ein Höchstmaß an beruflicher Erfüllung erlebt zu haben. Meine Heimat Relzow habe ich in den 45 Jahren der deutschen Teilung nicht wiedergesehen. Zuerst nicht wegen meiner Gefährdung als Gutsbesit­ zer, dann nicht als Geheimnisträger höheren Grades. Der „kommunistische Machtbereich“ war tabu. Kurze Zeit nach dem Mauerfall sind wir Eltern mit unserem Sohn und seiner Familie mit zwei Autos und Wohnwagen nach Vorpommern gefahren: „Ich will dabei sein, wenn Vater das erste Mal wieder zu Hause ankommt!“ Zunächst sind wir außerhalb Relzows in Klotzow bei entfernten Bekannten untergezogen, weil wir nicht wussten, wie wir wohl in Relzow aufgenom­ men würden. Es gehörte uns ja dort kein Quadratmeter Boden mehr, auf den wir uns hätten hinstellen können. Erwartungsvoll sind wir dann nach Rel­ zow gefahren. Als ich das erste Mal wieder vor dem Gutshaus stand und der Familie die Fenster zeigte, hinter denen ich geboren wurde, kam eine alte Frau und musterte mich von oben bis unten: „Du bist Hans-Wilhelm. Ich wusste, dass du eines Tages wiederkommst! Ich bin die Ilse, geborene Stübs!“ „Ja, weiß ich. Du saßest in der letzten Reihe und ich in der ersten unserer einklassigen Volksschule.“ Sie erzählte, wer übrig geblieben ist von den alten Relzowern. Zuerst besuchten wir Konni, der schon in der Tür sagte, dass er wüsste, dass eigentlich alles mir gehörte, was er bekommen habe. Ihm gehöre aber am Rodelberg eine Datsche, so lange er lebe, stünde mir diese zur Verfügung. Wir parkten unseren Wohnwagen davor und hatten so einen ersten Stützpunkt in der alten Heimat. Am nächsten Morgen klopf­ te es an der Wohnwagentür. Die Nachbarin gegenüber wollte uns fragen, ob wir nicht die Hälfte ihres Grundstücks kaufen wollten. Wir waren erst zu­ rückhaltend, wollten nicht, kaum wieder da, uns gleich Grund und Boden unter den Nagel reißen und schlugen vor, die Sache noch einmal zu über­ legen. Anderntags früh um sieben Uhr klopfte es wieder, „Wir haben es uns überlegt.“ Da es uns sehr recht war, kauften wir das Grundstück und bauten



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in großer Familienselbstarbeit mit einem Bausatz aus Finnland ein sehr stabiles Blockhaus darauf. Über die dazu nötigen handwerklichen Fähigkei­ ten verfügen wir in unserer Familie. Seitdem kann ich mehrere Monate des Jahres wieder zu Hause sein. Die gefühlsmäßige Verbindung zur ange­ stammten Heimat war gleich wieder da. Zu den Relzowern, die die DDR-Zeit vor Ort geblieben sind, haben wir ein gutes Verhältnis. Wir haben uns schon zu Anfang gesagt, wenn wir Angst vor der Berührung mit „Systemnahen“ haben, müssen wir hier weg­ bleiben. Gleich hatte ich Kontakt mit den Jägern, die in Relzow zunächst weiter nach überkommenem DDR-Jagdrecht jagten. Ich wurde sofort jagd­ lich aufgenommen und eingeschlossen. Als wir einen verendeten Hirsch tief im Moor versackt fanden, nur noch eine Geweihstange war zu sehen, bat ich um das Geweih. Ich hatte ja noch keine Relzower Trophäe. Bei der großen Geburtstagsfeier eines mir inzwischen befreundeten Jägers wurde ich nach vorn herausgerufen, feierlich wurde mir das Geweih, fachgerecht aufgesetzt, übergeben. Damit nicht genug, mir wurde vor allen Jägern frei­ gegeben, in der kommenden Jagdzeit den einzig in diesem Jahr freien ka­ pitalen Hirsch zu jagen. In dem Moment ging es mir durch den Kopf: Du musst die extreme körperliche Belastung der Pirsch auf den Hirsch im Moor noch leisten, wenn du zum Schuss kommst, muss der Hirsch liegen und der Hirsch muss richtig angesprochen sein. Rundum werden alle auf dich sehen, wenn du als ehemaliger Gutsbesitzer in Vorpommern wieder auf einen ka­ pitalen Hirsch jagst. Ich hatte Weidmannsheil, ich konnte alle drei Forde­ rungen weidgerecht erfüllen. In den folgenden zehn Jahren habe ich von den ehemals tausend Hektar Land meines Gutes etwa 180 Hektar Wald und Moor von der Treuhand und von Bürgern, teilweise in kleinsten Flurstücken, zurückkaufen können. Ich bin Waldbauer geworden. Zu meinem 80. Geburtstag habe ich mir nur klei­ ne Buchenpflanzen gewünscht und geschenkt bekommen. Die Kultur, in der wir sie gepflanzt haben, wird für immer das „Geburtstagswäldchen“ heißen. Mit unseren neuen Anpflanzungen von Buchen, Roteichen, Douglasien und auch wieder Kiefern und Fichten und mit den fälligen Durchforstungen ist unser kleiner Wald unter Betreuung der Landesforstverwaltung Mecklen­ burg-Vorpommern in einem vorbildlichen Zustand. Die Eigenjagd, mit an­ gegliederten Flächen fremder Grundeigentümer, ist verpachtet. Wir haben viel Rotwild und Sauen und wenig Niederwild. Mit den beiden Pächtern besteht ein gutes Vertrauensverhältnis. Ich sage zu meinen Kindern und Enkeln: „Unser Wald in Relzow kann nicht wesentliche Teile zu unserem Lebensunterhalt beitragen, aber er ist uns ein lebendiges Familiendenkmal. Er ist von uns über Generationen zu hegen und zu pflegen.“ Ich bin im Land meines Herkommens wieder eingewurzelt.

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III. Reife

Wort des Jahrhunderts: Gute Aussichten

Johannes Runge * 9.  Juli 1928 in Schmatzin / Pommern Auf dem Grabstein meines Vaters steht: Ick kann ut Schmatzin nich rut. Diese Worte richtete er im April 1945 an eine Flüchtlingsfrau, die ihn überreden wollte, vor der Roten Armee zu fliehen. Der Sohn des Gärtners hat mir viele Jahrzehnte später von diesem Gespräch erzählt. Nach 1949 glaubte ich, dass die Teilung Deutschlands keinen langen Bestand haben und ich das väterliche Gut in Vorpommern bald wieder in die Hand nehmen könne. Doch bevor ich zurück konnte, um das Erbe mei­ nes Vaters weiterzuführen, musste erst eine lange Zeit verstreichen und ein weiterer Staat untergehen. Aus der Gefangenschaft wurde ich schon im Juni 1945 entlassen und landete als Landarbeiter auf einem kleinen Bauernhof in der Lüneburger Heide, wo ich als Fremder ungewöhnlich gastfreundlich aufgenommen wur­ de. Sattessen war mein wichtigstes Bedürfnis. Der Adressenzettel meiner Mutter leistete den ersten wichtigen Dienst, dort fand sich eine Anschrift im gleichen Postleitzahlgebiet, in der nordfriesischen Stadt Husum wohnte meine Tante. Sie forderte mich dringend auf, nach der Ernte zu ihr zu kom­ men, um das Abitur nachzumachen. Die Rückkehr auf die Schulbank fiel mir nicht leicht. Doch die bunt zusammengewürfelte Klasse aus Einheimischen und Flüchtlingen, aus un­ terschiedlichen Geburtsjahrgängen und Landesteilen Deutschlands, meist schon mit harten Lebenserfahrungen aus dem Krieg, entwickelte sich sehr bald zu einem wichtigen Freundeskreis. Unser Interesse am politischen Ge­ schehen wuchs, kaum eine Versammlung politischer Parteien ließen wir aus und frischten diese mit Diskussionsbeiträgen auf. Von den ganzen schrecklichen Ereignissen bin ich nicht nur durch die Gespräche mit mei­ nen Klassenkameraden, sondern auch durch den Sport aufgefangen wor­ den. Bei rührender Betreuung durch meine Tante wurde Husum zu meiner zweiten Heimat. Nach meinem Abitur ging ich in die landwirtschaftliche Lehre und an­ schließend schloss ich mein landwirtschaftliches Studium an den Universi­ täten Kiel und Göttingen mit Diplom ab. Der Wunsch nach einer Rückkehr nach Vorpommern erwies sich allerdings schnell als Wunschtraum. Der Ablauf des 17. Juni 1953 mit der Niederschlagung des Arbeiteraufstandes

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III. Reife

in der DDR zerschlug alle Hoffnungen auf eine Überwindung der Teilung Deutschlands. Bald fand ich aber eine neue berufliche Tätigkeit und wurde Banker in Hannover, in einer Bank, deren Hauptaufgabe die Finanzierung der Landwirtschaft war. Das war ein Glücksfall für mich. Erst 1981 konnte ich mich dazu durchringen, Schmatzin wiederzusehen. Schon dieser erste Besuch war unglaublich kompliziert, ein zweiter nicht mehr möglich. Buchte man ein Hotel, wurde einem nur eine Aufenthaltsge­ nehmigung im jeweiligen Bezirk des Hotels erteilt. Als ich ein zweites Mal in Greifswald anfragte, hieß es, ausgeschlossen, ausgebucht. Man könne mir ein wunderschönes Zimmer in Erfurt bieten. Außerdem wollte ich den Schmatzi­ nern keine Probleme bereiten. Hätten sie mich Gutsbesitzersohn aufgenom­ men, wäre wohl am nächsten Tag Besuch unangenehmerer Art aufgetaucht. Nach dem für uns alle überraschenden Fall der Berliner Mauer war mir und meiner Frau aber völlig klar, dass wir uns um den alten Familienbesitz kümmern mussten. Was meine Vorfahren hier mit großem Erfolg aufgebaut hatten, wollte ich fortführen und mich dabei auch wieder um die Menschen in der Umgebung kümmern, von denen ich noch viele kannte. Erst später wurde klar, was das bedeuten würde. Mit meiner Tochter fuhr ich in den ersten Wochen des Jahres 1990 nach Schmatzin. Zuerst wollte ich ihr die alte Kirche in Ranzin zeigen, in der ich konfirmiert wurde. Sie war eingerüstet und abgeschlossen, es gelang aber einen Schlüssel aufzutreiben. In der Kirche konnte ich meiner Tochter das große Buntglasfenster zeigen, das meine Urgroßmutter 1891 aus Anlass der Hochzeit meines Großvaters gestiftet hatte, ein Jahr nach Erwerb des Guts. Über der Seitentür hatten meine Großeltern ein kleineres Buntglasfenster ge­ stiftet, als ihr ältester Sohn konfirmiert wurde. Anschließend besuchten wir den über 90-jährigen Schmied. Er lag, körperlich gebrechlich, geistig aber hellwach, auf dem Sofa. Als ich unangemeldet eintrat, erkannte er mich auch nach 45 Jahren sofort, zögerte einen Augenblick und sagte dann: Dat ik dat noch erlerven dau! Noch am gleichen Tag fuhren wir nach Hannover zurück. Mir war nun klar, dass eine neue Aufgabe in Schmatzin wartete. Das Gut war zum Zeitpunkt der Wende zur einen Hälfte im Besitz der Treuhandanstalt in Berlin, die das Staatseigentum verwaltete, und zur ande­ ren Hälfte im Besitz von Bodenreformsiedlern. Denn die Bodenreformge­ setze der DDR hatten zum totalen Eigentumsentzug für jeden Besitz über 100 ha geführt. Schmatzin wurde aufgesiedelt in eine Vielzahl kleiner Siedlerstellen mit 8–10 Hektar (ha) landwirtschaftlicher Fläche, allerdings nicht nebeneinanderliegend. Diese mündeten dann, wie politisch von An­ fang an gewollt, in die Kollektivierung, LPG45 entstanden. Die Politik hatte 45  Landwirtschaftliche

Produktionsgenossenschaften.



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sich nach der Wende dazu entschieden, den Eigentümern von vor 1945, zu denen ich gehörte, kein Rückübertragungsrecht einzuräumen. Der Staat wollte Kasse machen und machte es auch. Ich hatte also weder Ansprüche auf die Rückgabe des Besitzes, noch wusste ich, wie ich von den Schmatzinern aufgenommen werden würde, aber in Hannover zu bleiben und den Ruhestand zu genießen, kam nicht in Frage. Unser oberster Grundsatz des Vorgehens hieß: Wenn wir in Schmat­ zin etwas bewegen wollen, können wir es nur mit den dort lebenden Men­ schen tun und nicht gegen sie. Somit war die Schrittfolge vorgegeben, Vertrauen aufbauen durch ständige Besuche in Vorpommern. Die beiden LPG-Vorsitzenden waren mitnichten über meine Pläne begeis­ tert. Sie lehnten viele Vorschläge zur Einigung über eine Neustrukturierung der Fläche ab. Deshalb lud ich vor Ostern 1991 die Bodenreformsiedler zu einem Gespräch in das frühere Haus des Gutsverwalters ein. Ich war furcht­ bar aufgeregt, es war ja möglich, dass der Saal leer blieb. Als ich am Morgen bei strahlendem Sonnenschein ankam und zum ersten Mal nach 46 Jahren einen kurzen Gang in die Feldgemarkung meiner Vor­ väter gemacht hatte, fand ich aber einen vollen Saal vor. So konnte ich ihnen meine Geschichte erzählen und mein Vorhaben erklären. Nach etwa zwei Stunden schlug ich vor, dass wir uns in zwei Wochen am gleichen Ort wieder treffen sollten, damit für jeden ausreichend Zeit zur Verfügung steht, seine Entscheidung zu finden. Jedem gab ich einen Musterpachtvertrag als Information in die Hand. Wer sich vorstellen könne, ihn zu unterschreiben und damit sein Land an mich zu verpachten, sei zum nächsten Treffen herz­ lich eingeladen. Mit der einzigen Frage im Kopf, was das wohl wird, ver­ brachten meine Frau und ich diese zwei Wochen bei steifem Wind an der Nordsee. So fuhr ich mit Zuversicht, aber nicht ohne Skepsis erneut nach Vorpom­ mern. Eines war klar: Wenn der Saal wieder voll sein würde, hätte ich ge­ wonnen und die überwiegende Zahl der Bodenreformsiedler überzeugt, dass sie ihr Land an mich und nicht an die fortbestehende LPG verpachten wollten. Es wurde ein guter Tag. Viele Menschen kamen und am Ende hatte ich eine Vielzahl von Pachtverträgen mit insgesamt etwa 300 ha land­ wirtschaftlicher Fläche abgeschlossen. Außerdem führte ein Gespräch mit der Treuhandanstalt in Berlin zu der Hoffnung, als Alteigentümer auch deren Fläche pachten zu können. Mit dieser Hoffnung, ohne gültigen Vertrag, fingen wir an zu wirtschaften und zu investieren, und am Ende wurden uns die Flächen tatsächlich überlassen. Inzwischen konnte ich den überwiegenden Teil der landwirtschaftlichen Flächen zurückkaufen. Wir sind ein reiner Ackerbaubetrieb und bewirtschaf­ ten zusammen mit einem anderen Landwirt knapp 100 ha mit 60% Getreide,

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III. Reife

20% Raps, 10% Kartoffeln und 8% Zuckerrüben. Im Jahr 2014 werden wir die 23. Ernte einbringen können. Noch bevor ich das Gut wieder als Betrieb führte, kümmerte ich mich um das Grab meiner Familie. Das war mein wichtigstes Anliegen. Der alte Gärtner hatte es bis zu seinem Tode in den 70er Jahren treu gepflegt, da­ nach ist es verkommen und ich brauchte die Hilfe der alten Schmatziner, um es überhaupt zu finden. Im Oktober 1990 konnten wir die im Park entstandene Grabstelle für meine 1945 verstorbene Familie nach Neugestal­ tung gemeinsam mit dem Pfarrer und dem Posaunenchor neu einweihen und einen Grabstein aufstellen. Dass ich nun überhaupt wieder hier sein kann, ist für mich ein Geschenk, ist der Grund, warum es mir noch heute so gut geht. Ich wollte den alten Familienbesitz nach Wegnahme in dunklen Tagen der Nachkriegszeit wieder in die Familie zurückführen und ihn dort für die Zukunft sichern. Der erste Teil des Abenteuers ist weitgehend gelungen, und mit Zuversicht sehe ich dem nächsten Abschnitt entgegen, da ich den Be­ trieb in der nächsten Generation an meine Enkeltochter übergeben kann. Jeden Tag laufe ich noch heute glücklich über die mir so bekannten Fel­ der, über die ich 50 Jahre nicht laufen konnte. Manchmal bleibe ich stehen und bin im festen Glauben, dass meine Eltern das noch mitansehen können.

Wort des Jahrhunderts? Umbruch

Walter Steitz * 26. Oktober 1928 in Frankfurt am Main Hab ich die Nazi-Zeit verherrlicht? Was hattet ihr für einen Eindruck? Diese Nazizeit hat mich sehr stark geprägt, weil ich ja noch sehr jung und nicht nur beeinflussbar, sondern richtig empfänglich war. Gerade weil es keinen Gegenpol gab, was ich meinen Eltern zum Vorwurf mache. Zwar schickten sie mich zur Konfirmation, aber nie sind sie mit mir in den Gottesdienst gegangen. Die Kirche hätte der Gegenpol sein können, wie bei einigen anderen meiner Altersgenossen, insbesondere die katholische Kirche hatte nach wie vor ihre Autorität, die ihnen die Nazis nicht nehmen konnte. Auch den Vorwurf, dass ich nicht Lehrer werden durfte, habe ich mei­ nen Eltern ein Leben lang gemacht. Ich habe diesen Beruf als Firmenchef im Familienunternehmen nie geliebt. Es gab aber kein Zurück mehr, ich musste in die Firma, und ärgerte meinen Vater damit, dass ich die Firma vergrößern wollte, damit wir zu vernünftigem Wohlstand kommen, denn wir hatten damals nicht den wirtschaftlichen Erfolg, den ich erwartete. Der Wohlstand der Familie Steitz wurde von meinem Großvater begründet, dem es während der Inflationszeit gelungen war, die beiden Häuser in Frankfurt zu kaufen. Von einer Vergrößerung wollte mein Vater aber nichts wissen. Deshalb war ich mit der Situation in der Firma nie zufrieden. Den technischen Kram habe ich sehr gerne gemacht, vom Plan bis zur Ausfüh­ rung, da war ich der Chef, da hatte ich das Sagen. Ich sag das jetzt mal so krass, gell? Nicht, dass ich das in sehr autoritärer Weise getan habe, im Gegenteil, ich habe meine Mitarbeiter viel „gestreichelt“. Ich litt unter zwei Zwängen. Erstens: Konkurrenzfähig, billig zu sein. Zweitens: Druck der Mitarbeiter. „Herr Steitz, wir kriegen aber bei der Firma xy 10 Pfennig mehr.“ Auch denen musste ich manchmal klein beigeben, damit sie bei der Stange blie­ ben. Groß auftreten als Chef konnte ich da nicht. Ich konnte nicht sagen, was habt ihr denn heute geschafft, ich konnte nicht sagen, wenn ich morgen komm, muss das gemacht sein! Das konnte mein Großvater, der konnte auch mal grob werden, wenn es sein musste. Diese Härte hat mir gefehlt. Die größte Erkenntnis aber war, dass ich kein Kaufmann bin. Man konnte mich erpressen bei der Auftragsvergabe.

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III. Reife

Wie sollte das weitergehen? Mein Vater war Ende Siebzig, meine beiden Söhne wollten nicht in die Firma. Deshalb wollte ich mich mit einem Kol­ legen zusammenschließen, wir haben uns gut verstanden, wir zwei. War auch ein Jungvolkführer, so wie ich es war. Kommt immer wieder. Er wäre bereit gewesen, aber seine Frau hat gesagt: Ich hab den Laden hier aufge­ baut und zusammengehalten, du bringst mir den Steitz nicht hier rein. Also sagte ich zur Ruthild, dass ich den Betrieb alleine nicht machen könne, sie sagte, dass sie hinter mir stehe, egal wie ich mich entscheide. So fragte ich 1977 bei den „Main-Gaswerken“ nach, ob sie nicht einen Posten für mich hätten. Da war ich bekannt, weil ich jede Heizungsanlage unserer Firma bei den „Main-Gaswerken“ melden musste. Sie sagten, ich könne sofort anfangen. Bis dahin hatte ich meinem Vater nichts gesagt. Erst mit der Zusage im Rücken konnte ich mich das erste Mal durchsetzen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was da los war. Der größere Vorwurf kam je­ doch von meiner Mutter. Die war traurig, bös, stinksauer. Mein Vater war im Stillen dankbar, dass ich ihn erlöst hatte. Er war 77 Jahre alt. Ich war erst mal nur Abteilungsleitervertreter, bekam aber später die Ab­ teilung übertragen. Am Anfang hatte ich Last, mir da Geltung zu verschaf­ fen, aber ich verstand mich mit der Sekretärin sofort gut, das ist für einen guten Einstand wichtig. Ich hatte 120 Leute. Die, die Gasgeräte zu warten hatten, mussten geschult werden, weil ständig neue Geräte auf den Markt kamen. Wir hatten nur einen kleinen Schulungsraum. Auf meinen Vorschlag bekamen wir einen großen Schulungsraum, in dem ich meine Männer an den Gasgeräten schulen konnte. Das Leben hatte sich damit zum Vorteil verändert. Ich hatte feste Arbeits­ zeiten, keine 12-Stunden-Tage mehr, fing um sieben Uhr an und konnte meistens schon um vier Uhr Feierabend machen. Und dann hatte ich wirk­ lich Feierabend, außerdem dreißig Tage Urlaub und verdiente mehr Geld. Was wollte ich mehr? Unser ganzes privates Leben war durch die Kirche bestimmt. Mitarbeit in den verschiedensten Leitungsgremien, im Chor etc. Ruthild kam ja aus der gleichen Atmosphäre. Die Gemeinde war unser privates Aktivitätsfeld, wir wussten uns im Glauben verbunden. Das Ja-Wort, bis Gott euch scheidet, war für uns keine Floskel, sondern Bekenntnis. Ruthild sagte zu mir: „Wo du hingehst, da will auch ich hingehen.“ Das hat uns gehalten. Es war selbstverständlich, dass wir Kinder kriegen. Ich habe alles mit viel Interesse verfolgt, alles getan, was ein Vater, damals, tat. Bei der Geburt selbst war ich nicht dabei. Ich habe Ruthild ins Krankenhaus gebracht, bin mit ihr bis vor den Kreißsaal gegangen, dann kam die Schwester und hat gesagt: „Wir brauchen Sie jetzt nicht mehr, junger Mann. Gehen Sie heim!“



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Da hab ich den Kopf eingezogen, wie ein geschlagener Pudel, bin heimge­ zogen und hab gewartet, bis der Anruf kommt, der Bub ist da. Und dann war er da, und ich überglücklich. Wir waren uns einig, dass wir in der Erziehung möglichst wenig autoritär sein wollten. Es gelang nicht immer. Der Jörg hat es manchmal mit dem Plätscher gekriegt. Ruthild hat den Kochlöffel genommen. Wisst ihr, in so einer kleinen Wohnung, wenn sie keine Ruhe gaben, dann hab ich manch­ mal gesagt, jetzt ist Schluss. Ich habe meine Kinder vom ersten Tag an geliebt, sie waren mir nie zu viel. Der Jörg war ja interessiert, sehr interessiert an allem, was ich machte. Der ist schon sehr früh mit mir im Lastwagen auf die Baustelle gefahren. Er hat mich schon von weitem gesehen, wenn ich mit dem Auto kam. Der Tilman war ganz anders, mehr introvertiert, sehr klug auch, hat mit sich gespielt, war mit sich beschäftigt. Die beiden waren von klein auf so unter­ schiedlich. Wir haben versucht unsere Glaubensideale zu vermitteln, indem wir sie lebten, aber das hat anscheinend nicht ausgereicht. Bei Tisch beteten wir so lange, bis die Kinder uns ausgelacht haben. Wir fühlten uns sehr verletzt, und versuchten ihnen zu erklären, warum wir das machen. Das war für uns kein Ritual, das einfach übergestülpt wird, sondern eine Dankesgeste. Unsere Kinder sind aus der Kirche ausgetreten. Ich frage mich, was wir falsch gemacht haben. Aber es ging vielen Familien mit ihren Kindern so. Die Wirtschaftswunder-Mentalität gegen die Dominanz der Amerikaner und die Wiederaufrüstung. Unser Mittagessen war regelmäßig begleitet von heißen Diskussionen, so dass ich drohte, wenn die Diskussionen nicht un­ terblieben, nicht mehr am Essen teilzunehmen. Trotz Opposition bestanden unsere Kinder das Abitur sehr gut, folgten aber auch dem Trend und zogen bei uns aus und in Wohngemeinschaften ein, ließen sich Bärte wachsen und begehrten gegen die bürgerlichen Maßstäbe auf. Während dieser Zeit des Aufbegehrens, auch gegen die Eltern, haben wir sie immer wissen lassen, dass wie sie nie fallen lassen würden, immer für sie da seien. Sie studierten, Jörg Germanistik und Anglistik, Tilman Musik. Heute sind sie in ihren Berufen sehr erfolgreich. Aufgrund der unzähligen Diskussionen mit unseren Kindern und inner­ halb der Gemeinde haben wir schließlich die Parteipräferenz gewechselt. So wurden wir zum sozialistischen Denken bekehrt. Die Frau unseres Pfarrers Habermann leitete einen Frauenkreis, und die hat Ruthild zur Feministin hingeführt, in dem Rahmen, in dem man das mit Ruthild überhaupt machen konnte. Sie hat diese Gedanken auch auf mich übertragen und mich in ge­ wisser Weise auch feministisches Denken gelehrt. Ich bin ihr gefolgt und

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III. Reife

hab gesagt, im Grunde habt ihr Recht. Ich bin auch meinen Söhnen gefolgt und habe von ihnen gelernt. Sie haben mich vom CDU-Wähler zum SPDWähler gemacht. Mittlerweile wählen wir grün. Ruthild und ich haben 60 Jahre eine wunderbare Ehe geführt, nach allen Auseinandersetzungen immer wieder zueinander gefunden. Das ist der Grund, weshalb mir ihr Fehlen so wehtut. Ich bin dankbar, dass ich sie kennengelernt habe, und für die glückliche Zeit, die wir zusammen hatten. Dass wir uns lieb gehabt haben.

Wort des Jahrhunderts: Spontan ist mir Minderwertigkeitskomplex eingefallen. Aber damit bin ich nicht zufrieden. Ein sehr einfaches Wort wäre Liebe. Ja, Liebe. Das ist mein Wort. Im Prinzip dreht sich mein Leben um Liebe, um Liebe nicht nur zu einem einzelnen Men­ schen, sondern zu sehr vielen Menschen, Liebe ist stärker.

Friedrich Graf zu Dohna-Schlobitten * 27. Februar 1933 in Wundlacken bei Königsberg Die guten Zeiten unserer Reinigung waren Ende der 70er Jahre vorüber, als immer mehr Haushalte eigene Waschmaschinen hatten, in denen die Textilien gewaschen werden konnten. 1979 haben wir sie rechtzeitig vor der Insolvenz geschlossen. Danach versuchte ich mich neu zu orientieren, etwas zu machen, was mich interessiert, habe semiprofessionelle Filme gedreht, Städteportraits und Ausstellungs-Dokumentationen. Es sind aber nur eine Handvoll geworden, da ich die Kosten nicht erwirtschaften konnte. In diese Zeit fiel auch die Trennung von meiner ersten Frau. Meine Depressionen brachen wieder auf. Da hat mir Paulus geholfen mit seinem Satz von der Geduld, der Bewährung und der Hoffnung (Röm 5, 1–5). Heute, nach dem Tod meines Vaters, halte ich Vorträge über unsere Fa­ miliengeschichte. Nach dem ersten Vortrag vor einigen Jahren hatte ich gemerkt, dass die Leute mir zuhören. Dann habe ich mich gefragt, ob sie mir auch in der Kirche zuhören, also habe ich in einem Gottesdienst gepre­ digt. Und sie hörten zu. Seitdem halte ich gelegentlich Aushilfs-Gottes­ dienste. Religion spielt in meinem Leben eine ganz wichtige Rolle. Ich will nicht sagen, dass ich jeden Tag bete, aber ich bete. Im Gebet finde ich Konzentration, Entspannung und Ruhe. In unserer Gemeinde dirigiere ich die Kantorei. Seit über 60 Jahren singe ich zwar schon in Chören, aber zur Chorleitung bin ich gekommen wie die Jungfrau zum Kind, hatte keinerlei Ausbildung, aber gewusst, dass ich das kann. Wir singen aus drei Gründen, zum Lobe Gottes, weil es uns Spaß macht und zum Dienst an der Gemein­ de. Diese drei Gründe sind bei jedem unterschiedlich gewichtet. Seitdem ich politisches Bewusstsein habe, bin ich Demokrat. Die Dohnas haben lange und gute liberale Traditionen. Die Liberalität ist mir sehr wich­ tig. Ich habe zum Beispiel überhaupt kein Problem mit Homosexuellen und setze mich für die Gleichstellung unehelich geborener Familienangehöriger ein. Ich sehe mich als Bürger im Sinne Kants und fühle mich dadurch ver­ pflichtet. Mein bürgerschaftliches und religiöses Engagement ist mir von der Fami­ lie mitgegeben worden. Das hat man im Gepäck. Mein Ururgroßvater war Kommendator des Johanniterordens, ich selbst bin aber keiner geworden, weil ich mehr eigenbrötlerisch bin und selten in Adelskreisen verkehre.

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III. Reife

Kürzlich hatten wir ein Treffen aller Nachkommen meines Urgroßvaters Solms, fünf Fürsten waren da, bis auf mich hatten sie alle ihr Schloss und ihren Besitz noch, aber da wird kein Unterschied gemacht, Familie hält zusammen. Das ist bei Bürgerlichen genauso, aber im Adel gibt es häufig einen stärkeren Zusammenhalt, vielleicht weil Adlige nicht aufeinanderho­ cken wie ein Dorf. Wenn man sich in Bayern auf solch einem Fest trifft, wird schon mal gefragt: „Bist a Ferscht, oder a Graf, oder wie heißen Sie?“ Im Grunde haben alle Adligen die gleichen Vorfahren. Die sind wie eine Wolke über uns und wir hängen wie Strippen darunter. Darum ist Adelsge­ nealogie so spannend. Sie war immer wichtig, weil sie unter anderem den Zutritt bei Hofe erlaubte und dort die Hofrangordnung bestimmte. Ich habe ein kleines Computerprogramm geschrieben, mit dem man seine Vorfahren bis zu Karl dem Großen auf einem einzigen Bildschirm darstellen kann. Mein Vater ist erst 1998 gestorben. Ich habe mit ihm kaum über den Krieg gesprochen, das meiste weiß ich aus seiner Autobiographie. Er hat 1932 NSDAP gewählt, war später sogar SS-Anwärter, um den Familienbe­ sitz zu bewahren. Erst Mitte der 30er Jahre hat er erfahren, was für einem System er diente, denn er war ein christlicher und aufrechter Mann. Zu Zeiten meines Vaters fanden die Treffen der Schlobitter und Prökelwitzer alle zwei Jahre statt, heute sind wir alle alt geworden und treffen uns des­ halb jedes Jahr. Diese vertrauten Gesichter der Kindheit sind für mich Heimat. Ich habe meine Verbindung zur ostpreußischen Landschaft nie verloren. Der große Himmel, die vielen Wolken. Schlobitten ist als Aufgabe in mir. Doch das Kapitel Wiederaufbau ist abgeschlossen. Nach der Wende hat ein polnischer Programmierer aus War­ schau die Ruine gekauft, als reines Abschreibungsobjekt. Im Schlossteich züchtet er Karpfen, die von zwei Neu-Schlobittern im Bauwagen vor der Ruine bewacht werden. Ihre scharfen Hunde liegen an der Kette und ma­ chen jede Menge Gebrüll. Mich fasziniert Goethes Satz aus „Faust I“: „Was Du von Deinen Vätern ererbt hast, erwirb es, um es zu besitzen.“ Das gilt nicht nur für das mate­ rielle, sondern auch für das immaterielle Erbe. Und in meinem Fall ist be­ sonders das virtuelle Erbe wichtig. Durch meine zweite Frau Gisela bin ich zur EDV gekommen. Wir haben durch die Arbeiten meines Vaters viele sehr gute Fotos aus Schlobitten. Daraus rekonstruiert ein Grafiker einen virtuel­ len Rundgang durch das Schloss. Das Treppenhaus und die zwei Königli­ chen Stuben sind schon fertig und auf Youtube zu sehen. Ein großer Teil des erhaltenen Inventars ist heute im Schloss Schönhau­ sen in Berlin-Pankow ausgestellt. In diesem Schloss wohnten mein Vorfahr Christian-Albrecht, dann die Frau Friedrichs des Großen, Elisabeth-Christi­ ne, und zuletzt Wilhelm Pieck, der erste und einzige Präsident der DDR.



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Schlobitten lebt weiter im Museum und in Büchern und deswegen ist mein Bestreben, meine Kraft dafür einzusetzen, es dort auch wach zu halten. Ich will meine Erinnerung weitergeben, solange ich noch lebe. Wenn meine Enkel bei uns zu Hause sind, zeige ich ihnen jedes Mal das Schlaf­ zimmer. Dort hängen über meinem Bett fünf Kinderbildnisse, ganz fein und süß gemalt. Das sind die Kinder meiner Urururgroßeltern, die schon bei ihnen über dem Bett hingen und natürlich auch bei meinem Vater. Photo­ graphien gab es ja damals nicht. Jetzt hängen sie eben bei mir. Auch meiner Mutter war der Familienzusammenhalt sehr wichtig, sie hat Rundbriefe geschrieben. Jeder musste etwas darunter schreiben und dann weiterschi­ cken. Ich versuche das bei meinen Kindern ähnlich, besuche sie und frage, wie es den anderen geht. Mein Sohn hat Slawistik studiert und seine Ma­ gisterarbeit zum Thema der Polonisierung der deutschen Ortsnamen nach dem Krieg geschrieben. Die Polen sind zurückgegangen auf die prußischen Wortstämme. Aus Schlobitten wurde Słobity. Meine Frau Gisela und ich haben 1994 ein Haus in Tangstedt, nördlich von Hamburg, gekauft und leben gern hier. Vorher hatte ich an keinem Ort länger gewohnt als in Schlobitten. Ich fühle mich in den letzten Jahren zunehmend weniger als Flüchtling und habe aufgehört vom brennenden Schloss zu träumen. Im Faust geht es übrigens interessant weiter: „Was man nicht nützt, ist eine schwere Last.“

Wort des Jahrhunderts? Katastrophe

Christoph Ackermann * 9. März 1935 in Berlin 1965 wurde ich Geschäftsführer unseres Familienunternehmens in Fran­ ken. Zuvor hatte ich mein Studium als Diplomingenieur abgeschlossen, erste Berufserfahrungen bei einem konkurrierenden Unternehmen in Düssel­ dorf gesammelt, als Assistent an der TH Aachen gearbeitet, promoviert und, nicht zuletzt, die Tochter des Kanzlers der Hochschule geheiratet, meine Frau Brita. Unsere Firma hat alle Arten von Keramik für Bau und sanitären Bereich hergestellt. 1965 waren bei uns 500 Leute beschäftigt, die im Jahr 1,2 Mil­ lionen Quadratmeter Fliesen produziert haben. Bei meiner letzten Firma hatte sich dieses Verhältnis bedeutend verändert, 400 Mitarbeiter zu sechs Millionen Quadratmeter, eine Versechsfachung. Während meiner Berufszeit hat sich die menschliche Arbeit völlig verändert, immer weniger körperliche Arbeit, immer mehr Automatisierung, die Mitarbeiter wurden zu reinen Kontrolleuren der Maschinen. Früher waren sie schlank und sehnig, heute sitzen sie vor dem Computer und sind leider meist übergewichtig. Ich war in einem beruflichen Sektor, der schwierig war. In Aachen, wo traditionell Bergleute ausgebildet werden, gab es einen Spruch, der wahr ist, und dennoch viel zu wenig beachtet wird: „Gutes Flöz, guter Bergmann, schlechtes Flöz, schlechter Bergmann.“ Obwohl ich das Unternehmen gelei­ tet habe, war ich bei Klingenberg nur ein ganz kleiner Anteilseigner, hielt fünf Prozent der Anteile. Eines Tages im Jahr 1981 kam die große Firma British American Tobacco (BAT) auf uns zu und gab für uns und einen italienischen Konkurrenten ein Kaufangebot ab. Ich war persönlich nicht dafür, aber die große Mehrheit der Familienmitglieder stimmte dem Ange­ bot zu. So wurden wir Tochter eines Großunternehmens. Hier ging es nun ganz anders zu als zuvor im bescheidenen Familienunternehmen. Die Dar­ stellung nach außen wurde so wichtig, dass die Zahlen diesem Bedürfnis immer wieder angepasst werden mussten. Mir lag der Ton überhaupt nicht und ich versuchte meinen Vertrag vorzeitig zu beenden. Das wurde vom Aufsichtsratsvorsitzenden abgelehnt, aber man gab mir eine neue Aufgabe, die mich mehr interessierte. Ich wurde nach Italien geschickt, um die drin­ gend notwendige Modernisierung des dortigen Partnerunternehmens zu be­ aufsichtigen. Ich ging also in die Gegend von Modena und arbeitete dort



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mit einer Gruppe italienischer Manager gut zusammen. Das war eine sehr positive Erfahrung. Schon vor Auslaufen meines Vertrags bei BAT hatte sich der größte Kon­ kurrent auf unserem Markt, die Firma Villeroy & Boch, für mich als Leiter eines großen Werks in Lübeck interessiert. Ich sagte zu. Lübeck wurde eine glückliche Zeit, nicht nur weil Stadt und Gegend mir lagen, nicht nur, weil ich beruflich erfolgreich und die Lübecker Mannschaft kooperativ war, sondern auch weil meine Familie, meine Frau Brita und meine drei Kinder, mir bald nachfolgte. Mit der Familie von Boch verband mich bald ein gutes Verhältnis und mei­ ne Arbeit wurde anerkannt. 1985 wurde ich in den Vorstand des Unterneh­ mens berufen. Mein Bereich umfasste nun sechs Werke und eine große Ver­ triebsorganisation mit zahlreichen Außenstellen. Hier waren allerdings ge­ waltige Probleme zu lösen, verbunden mit ständigen Reisen vor allem durch Deutschland und Frankreich. Die Anspannung führte mich einige Male nahe an einen Zustand, den man heute als Burnout bezeichnen würde. Der Wettbe­ werb in dieser Branche wurde zunehmend härter. Insbesondere die ständige Abwertung der Währungen der Mittelmeerländer gegenüber der D-Mark, brachte dem deutschen Standort immer neue Wettbewerbsnachteile, die auf Dauer nicht auszugleichen waren und zu Marktanteilsverlusten führten. Im Nachhinein ist mir klar, dass in dieser Lage deutlich härtere Entscheidungen nötig gewesen wären, noch rigoroserer Personalabbau, Fertigungsschließun­ gen oder Verlagerungen an günstigere Standorte. Vielleicht hat mir dafür die Härte gefehlt. 1995 schied ich aus dem Vorstand von Villeroy & Boch aus, blieb der Firma aber bis 1999 als Berater erhalten. Bis 2009 führte ich Man­ date als Aufsichtsrat oder Beirat verschiedener Firmen. Pensionierung war mir immer ein Gräuel und Schrecken, ich verstehe die Diskussionen der letz­ ten Jahre um das Pensionsalter nicht. Es gibt doch immer weniger Menschen, die hart körperlich arbeiten müssen. Meine berufliche Zeit war irrsinnig anstrengend, ich war sehr eingespannt und zu Hause bei meiner Familie wenig präsent. Zweimal hat meine Frau über eine längere Zeit hinweg die Erziehung alleine bewerkstelligen müs­ sen. Aber wir haben uns nicht auseinanderdividieren lassen. Überhaupt hat mir meine ganze Familie Halt gegeben. Ein wichtiger Mittelpunkt meines Lebens war das Haus meiner Mutter am Genfer See. Meine Mutter hat uns allen einen wichtigen Satz mitgegeben, der uns ins Blut gegangen ist: „Seid freundlich zueinander!“ Sie hat uns alle zusammengehalten, nie gab es Streit zwischen uns Geschwistern, die Familienbande sind sehr eng. Meine Mutter bestand darauf, dass wir alle und unsere Familien ihr Haus mitnutz­ ten, kümmerte sich sehr intensiv um alle ihre Enkel, lud sie im Sommer an den See und im Winter in die Skiferien ein. So ist mir Clarens, das Haus meiner Mutter, auch noch ein Zuhause geworden.

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Die Geschichte meiner weitverzweigten Familie hat mich immer sehr inte­ ressiert. Vielleicht wollte ich auch deshalb Historiker werden. Alle Facetten und Wege des deutschen Bürgertums spiegeln sich in der Familiengeschichte. Ich habe im Ruhestand die Geschichte aller vier Familien, denen ich entstam­ me, aufgeschrieben und viel dabei gelernt. Ich selbst bin Bürger durch und durch, darum sitzen mir die Irrwege des Bürgertums wie ein Stachel im Fleisch. Aber nehmen sie andererseits meine Großmutter Kathinka, ein Ja­ nuskopf voller charakterlicher Extreme und Eigenschaften, die ich ablehne. Und trotzdem hat sie segensreich gewirkt, im bürgerlich-liberalen Lager Po­ litik für Frauen und sozial Benachteiligte gemacht. Sie war eine entschiedene Gegnerin des Nationalsozialismus, ihre „Gardinenpredigten“ sind noch heute lesenswert. Ich bin Urliberaler, war, bin und bleibe dieser schwierigen Partei mehrerer liberaler Traditionen treu. Aber heute wächst eine andere Genera­ tion heran. Krieg und Nachkriegszeit haben Menschen erzeugt, die anders sind, als die heutigen. Mehr Disziplin, Bereitschaft auf etwas zu verzichten, ein härteres Leben. Unser Hunger hat mich bis heute geprägt. Ich werde noch immer ganz krank, wenn Lebensmittel weggeschmissen werden, bin über meine Töchter empört, aber sie können es ja nicht verstehen. Auch unsere Demokratie kommt in eine schwierige Zeit, darum sorge ich mich. Wir erleben heute eine Gefälligkeitsdemokratie, die durch kurzfristige Wahlgeschenke in vierjährigen Wahlrhythmen denkt. Wo bleiben Haltung und langer Atem? Darum ist es mir umso wichtiger, dass wir Bürger stehen und uns unserer Verantwortung für das Gemeinwesen bewusst sind.

Wort des Jahrhunderts: Politik

Volkwin Marg * 15.10.1936 in Königsberg Ich bin ein Gewächs der klassenkämpferischen DDR, dem vorsorglich zu Hause permanent bildungsbürgerliche Antitoxine gespritzt worden waren. In meinem Abiturzeugnis steht: „Volkwin Margs Auffassung fußt auf einer christlichen Weltanschauung.“ Ein für den Kundigen elegant verschlüsselter, sehr klarer Hinweis. Ich wollte am liebsten Philosophie, Germanistik und Geschichte studieren, der Apfel fiel nicht weit vom Stamm. Aber da hätte ich mich der ideologischen Staatsdoktrin unterordnen müssen. Also suchte ich nach einer vor Indoktrination geschützten akademischen Nische. Ich glaubte sie in der propagierten Pflege des nationalen Kulturerbes zu finden. Die DDR hat zwar viele Baudenkmale gesprengt, zum Beispiel das Hohen­ zollernschloss in Berlin, das der Idee für einen in den Himmel ragenden Kultur- und Staatspalast im Wege stand. Aber gleichzeitig wurde die zer­ bombte Staatsoper im neofriderizianischen Stil ausgerechnet vom BauhausJünger Pauligk wieder aufgebaut. Ich habe mich also an der TU in Dresden für Architektur zur Pflege des „nationalen Kulturerbes“ beworben. Wegen des weltanschaulichen Kainsmals im Zeugnis wurde ich nicht genommen, stattdessen wurde mir als sozialistische Bewährungsprobe die Arbeit im Uran-Bergbau der Wismuth AG angeboten. Ich habe mich nach Westberlin abgesetzt, es gab ja noch keine Mauer. Ich musste nochmal zur Schule und ein zweites Abitur machen, und schrieb mich damit an der TU Berlin für Architektur ein. Auch meine Familie war alsbald nach Berlin umgezogen, aber nach Ostberlin. Mein Vater bekam eine Stelle an der Segenskirche in Prenzlauer Berg. Dort schrieb er seinen historischen Roman ‚Demetrius‘, der in der Zeit des russischen Zaren Boris Gudunow spielt. Berlin zeigte zwei architektonische Gesichter. Im Westen das Hansavier­ tel und im Osten die Stalinallee. Ich war hin- und hergerissen. Ich wollte das neoklassizistisch-monumentale Pathos der Stalinallee hassen und wollte alles, was dem von der Avantgarde der Moderne im Westen entgegenstand, lieben. Aber die urbane Stalinallee war schon imposant: monumentale Ach­ se, Großstadt-Boulevard, ordnende Symmetrie und städtebauliche Portale am Anfang und Ende. Dagegen wirkte das Hansaviertel als Stadtlandschaft wie zerstreutes Siedlungs-Konfetti mit witzigen Solitären darin. Weil ich

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III. Reife

das stadtlandschaftlich Unbestimmte des Hansaviertels nicht für städtisch hielt und lieben konnte, habe ich ersatzweise dessen Architekturdetails und Wohnungsgrundrisse geliebt. Die Stalinallee tat ich dagegen als zynische stalinistische Zuckerbäckerei für die proletarische Nomenklatura ab, insge­ heim imponierte sie mir aber doch. Die Stalinallee, heute Frankfurter Allee, wurde nach der Wiedervereinigung als Baudenkmal für Ostberlin unter Schutz gestellt, wie auch das demonstrative Gegenstück der ideologisierten Stadtlandschaft, das Hansaviertel für Westberlin. Das geteilte, aber noch nicht gegeneinander vermauerte Berlin war ein phantastischer kultureller Humus für meine Studienzeit. Zwei antagonisti­ sche Gesellschaftssysteme nahmen im Kulturkampf Maß aneinander. Im Osten besuchte ich alle legendären Brecht-Schauspiele unter seiner eigenen Regie am Schiffbauerdamm, und Felsensteins bahnbrechende Operninsze­ nierungen an der Komischen Oper. Im Westen hörte ich moderne Musik von Hans-Werner Henze und Olivi­ er Messiaen, weil ich im Rahmen des „Studium Generale“ auch Vorlesungen an der Musikhochschule besuchte. Meine jüngeren Geschwister waren täg­ liche Grenzgänger, zu Hause waren sie im Osten, in der Schule im Westen, täglich querten sie die Bernauer Straße zwischen Ost und West, wo alsbald Ulbrichts Mauer die Stadt teilte, und meine Eltern auch ihre letzten beiden Kinder in die Freiheit flüchten ließen. Nun verstärkte sich die Zuwanderung von jungen Westdeutschen zum Studium nach Westberlin, weil sie so der in der Bundesrepublik eingeführ­ ten Wehrpflicht entgehen konnten. Die Stimmung an den Universitäten wandelte sich. Die von der gesellschaftlichen Systemkritik geprägten Stu­ denten aus dem Ulbricht-Osten wurden weniger, die mit ihrer als reaktionär empfundenen Elterngeneration hadernden Studenten aus dem restaurativen Adenauer-Westen wurden mehr. Sie hielten ein paar Jahre später die rote Mao-Bibel in Anti-Springer-Demonstrationen wie Kruzifixe in die Höhe. Das hätten sich die aus dem Osten, die noch wie ich, vor dem Abitur MaoLyrik im Deutschunterricht hatten, nie träumen lassen. Wir waren marxis­ tisch geschult und gegen emotionale Röteln geimpft. Bis zum Mauerbau 1961 bin ich als permanenter Grenzgänger hin und her gependelt. Danach musste ich, wenn ich, obgleich ausgewiesener poli­ tischer Flüchtling, in routiniertem Leichtsinn meine Eltern besuchen wollte, durch den sogenannten Palast der Tränen, die Kontrolle am Bahnhof Fried­ richstraße. Einmal wollte man mich nach stundenlanger Kontrolle als IM der Stasi anwerben. Ich hatte eine Zeichnung meiner Studienfreundin dabei, ihren Entwurf für einen Kindergarten in einem Kiefernwald mit hölzernem Aussichtsturm. Der Grenzer bei der Kontrolle: „Das ist kein Kindergarten, das ist ein Lager.“ Endlose Verhöre. Nach drei Stunden Zermürbungstaktik



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mit ständiger Wiederholung derselben Verhörfragen merkten sie schließlich, dass es wirklich kein Nato-Lager war. Recht auffällig boten sie mir danach an, mich zu meinen Eltern zu fahren. Unten stand eine EMW-Limousine und zwei junge Männer. Achtung! Im Auto ging die übliche Argumentation von der lockenden Seite her los: Sozialismus, Humanismus und mögliches gemeinsames Wirken für den Frieden. Sie hätten gemerkt, ich sei politisch aufgeschlossen und liebte meine Eltern, ob man sich nicht morgen noch mal zu einem kleinen Gespräch in der HO-Gaststätte nahe der Segenskirche treffen könne. Mein Vater sei doch sicher dem Staate gegenüber loyal, und wenn ich dort übernachtete, werde er mich doch sicher in das obligate Hausbuch als Besucher eintragen. Beim unvermeidlichen Treffen am nächsten Tag lavierte ich mit pazifis­ tischen und anderen Ausflüchten so lange herum, dass sie schließlich von mir entnervt abließen. Dabei hätten sie mich erpressen können, wenn sie nur in der Stasizentrale Normannenstraße angerufen hätten, denn mein Vater wurde ja schon längst von der Stasi überwacht, weil unsere Wohnung als konspirativer Treff für Republikflüchtlinge in Verdacht geraten war. Ich weiß nicht, was ich in einer solchen Klemme getan hätte, auf jeden Fall nicht meinen Vater der Gefahr der Verhaftung und Verurteilung ausgeliefert. So bin ich Westdeutscher geworden, aber ein kritisch beobachtender Wan­ derer zwischen den Welten geblieben. An der TU des vom Krieg geschun­ denen provinziellen Braunschweig habe ich mit Meinhard von Gerkan, der mit mir zusammen aus Berlin hierhergekommen war, für etablierte Archi­ tekten Wettbewerbsentwürfe gezeichnet, um unser Studium zu finanzieren. Als wir 1965 unser Diplom in der Tasche hatten, gingen wir nach Hamburg, mieteten ein Büro und machten uns selbstständig. Wieder mit Wettbe­ werbsentwürfen für Kollegen, die uns dann aber fairerweise eine Arbeitsge­ meinschaft anboten. So erlernten wir schnell das praktische Bauen. Einer unserer ersten großen Wettbewerbserfolge unter eigenem Namen wurde eine Legende. Es war unser Entwurf für den neuen Berliner Flughafen Tegel, ausgezeichnet mit dem 1. Preis. Wir ergatterten den riesigen Auftrag für das Planen und Bauen. Seit 1965 entwerfe ich in unserer Architektenso­ zietät „von Gerkan, Marg und Partner“ (gmp), die im Laufe von 50 Jahren zu einem großen, weltweit tätigen Unternehmen geworden ist. Inzwischen sind wir ein Mehrgenerationenbetrieb mit über 500 Mitarbeitern und vielen enthu­ siastischen Partnern. Wir sind Generalisten, die alles planen und bauen, was man verlangt, vom einzelnen Haus bis zum Städtebau, alle Bautypen, wie Messen, Flughäfen, Stadien, Museen, Theater, Schulen, Krankenhäuser. In diesem halben Jahrhundert hat sich das gesellschaftliche Umfeld ver­ ändert, in dem wir planen und gestalten. Im Verlaufe des Kalten Krieges widerstreitender Gesellschaftsideologien sind zunächst die europäischen

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Kolonialreiche und schließlich das Sowjetimperium untergegangen. Eine entfesselte kapitalistische Wirtschaftsweise hat den Globus erobert. Der pazifische Raum löst dabei als asiatisches Gravitationszentrum den atlanti­ schen der Europäer ab. Eine wachsende Völkerwanderung und Urbanisie­ rungswelle schwemmt weltweit Landschaften und Kulturen weg und hinter­ lässt, vor allem im Nahen und Fernen Osten, in Afrika und Südamerika, eine sozial umgebrochene Gesellschaft, in notdürftig geplanten oder chao­ tisch wuchernden urbanen Agglomerationen und Metropolen. Auf den Märkten wird sozial völlig blind das Privatkapital maximiert. Der sozial verpflichtete und in seiner Verantwortlichkeit definierbare per­ sönliche Eigentümer als Bauherr hat sich in die Anonymität nicht greifbarer Anteilseignergruppen verflüchtigt, die fern aller gesellschaftlichen Moral Natur und Mensch rücksichtslos für einen imaginären Profit plündern und ausbeuten lassen. In dieser ihrer Orientierung beraubten Umwelt plane ich als Architekt. In welcher Haltung? Ich entwerfe für die Welt und nach Lu­ thers Motto, das mir einst mein Vater beigebracht hat: „Und wenn morgen die Welt unterginge, so pflanze ich doch heute noch mein Apfelbäumchen.“ Natürlich sind Zeiten beschleunigter Veränderungen auch Zeiten der Irri­ tation und Verunsicherung, wie schon früher, so auch heute. Das 20. Jahr­ hundert war nicht nur von Weltkriegen zerrüttet, sondern auch eine perma­ nente Kulturrevolution, die von einem demolierenden Bildersturm tradierter kultureller Errungenschaften begleitet wurde. Erziehung und Erfahrung ha­ ben mich aber gelehrt, dass Tradition bewährter Fortschritt, und Fortschritt weitergeführte Tradition ist. Also geht es mir als Architekt um technischen Fortschritt für die Fortschreibung bereits kultivierter architektonischer Tra­ ditionen. Wahr, gut und schön, diese von den Kirchenvätern weiter getragene Trias Platons ist meine humanistische Mitgift. Wenn etwas Gebautes nicht nur funktioniert und vernünftig konstruiert ist, sondern darüber hinaus mensch­ liche und soziale Güte vermittelt, dann erglänzt Schönheit. Wir Menschen sind Jahrtausende lang durch Erfahrungen codiert. Unsere seelische Veran­ lagung bewahrt auch im schnellen Wandel der Zeiten ihre uralten Wünsche nach innerer und äußerer Geborgenheit. Alleine bin ich schwach, das habe ich früh erfahren, gemeinsam mit an­ deren bin ich stärker. Das hatte mich dazu gebracht, als Student 1963 Mit­ glied der SPD zu werden. Nach über 50 Jahren bin ich es noch immer. Die Kontinuität ihres sozialen Engagements hat mich gehalten. Natürlich ist Architektur nicht unpolitisch. Sie ist keine freie Kunst, sondern eine gebun­ dene, die Kunst in den Fesseln gesellschaftlicher Verpflichtungen zu tanzen. Sie ist ein Gebilde ihrer Gesellschaft, und sie überdauert sie Generationen lang. Das ist ihr besonderer Beitrag zur kulturellen Kontinuität.



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Meine Ehe mit Eva lehrt mich immer wieder neu, genauer hinzuschauen und meine soziale Wahrnehmung zu schärfen, bei unseren Enkeln und Kin­ dern, aber auch Freunden und Bekannten. Richtig wahrnehmen bewahrt vor Täuschung und folglich vor Enttäuschungen in Familie, Beruf und auch in der Gesellschaft. Alter bereichert durch Lebenserfahrung, je mehr ich weiß, umso erfahrener nehme ich wahr. Und dankbarer noch als früher, seit unüber­ sehbarer geworden ist, dass mein Leben endlich ist. Ich genieße die Freiheit, den Sinn des eigenen Handelns noch immer selbst bestimmen zu können. Ich bin wieder unterwegs wie als Kind, mit Eimer und Schaufel in der großen gemeinschaftlichen Sandkiste zum Burgenbauen, mit Begeisterung und Frustrationen, abends ermüdet und morgens erlebnishungrig. Wenn ich von meinem Zeichentisch aufsehe, liegt vor mir der Hamburger Hafen und die Elbe mit Schiffen aus aller Welt. Meine früh geprägte mari­ time Leidenschaft habe ich in der Bewahrung und Rekonstruktion histori­ scher Segelschiffe ausgelebt, in den letzten drei Jahrzehnten mit meinem Dreimast-Bramsegelschoner „Activ“, der jetzt als Basis für eine zweijährige wissenschaftliche Circum-Polar-Expedition rund um den Nordpol dient.

Wort des Jahrhunderts: Ein Wort dafür ist eine Plattitüde, journalistische Schlagwort­ versessenheit. Nein, es ist Wandel mit Orientierungsverlusten, Wertvergessenheit und Unsicherheit.

Johannes Oehme * 16.  Mai 1937 in Altenhain / Sachsen Während der Studienzeit in Plessow habe ich nicht nur meine Frau ken­ nengelernt, sondern bin auch in die SED eingetreten. Das verstand eine Kommilitonin, die ein bisschen bürgerlich, ein bisschen altjüngferlich, aber hochintelligent war, überhaupt nicht. Bei der Erdbeerernte fragte sie mich, ob ich mir das wirklich überlegt hätte, was ich bejahte. Ich sagte ihr, dass wir ja schon Studenten sind, und ich etwas bewegen, mitgestalten möchte. Sie trat dennoch nicht bei, und aus ihr ist in ihrem Leben nicht das gewor­ den, was sie sich erhofft hatte. Allerdings lag es nicht am fehlenden Partei­ buch, sondern an ihrer Westverwandtschaft. Beim Außenhandel spielte das eine große Rolle, wer zu enge Beziehungen zum Westen hatte, der wurde weniger gefördert. Unter damaligen Voraussetzungen war das richtig, es ging nicht anders. Schon unter diesen strengen Richtlinien wurden sehr viele Millionen verschoben, plötzlich verschwand ein stellvertretender Ge­ neraldirektor, von dem man erfuhr, dass er in der westdeutschen Firma gelandet ist, der er immer dieses und jenes verkauft hat. Menschlich, aber davor musste sich der Staat, so gut es eben ging, schützen. Auch mit der Mauer hat der Staat versucht, sich zu schützen, sowohl vor der Auswande­ rung der eigenen Bürger als auch vor dem Ausverkauf von Waren und Dienstleistungen. Die Tätigkeit bei den Auslandsmessen in den verschiedenen Städten Eu­ ropas, Asiens und Afrikas machte mir viel Spaß, aber meine Frau und ich wollten unbedingt auch für längere Zeit ins Ausland. Doch bevor ich 1974 zum Handelsattaché in den Irak berufen wurde, mussten wir eine der schwersten Entscheidungen unseres Lebens treffen. Wir konnten nur gehen, wenn wir bereit waren, eines der Kinder nicht mitzunehmen. Die Botschaf­ terschule im Irak unterrichtete nur Kinder bis zur fünften Klasse, weshalb wir unsere ältere Tochter Andrea im Oranienburger Internat zurücklassen mussten. Das hat uns viele persönliche Probleme bereitet. Natürlich kann man dem Staat einen gewissen Hintergedanken dabei nicht absprechen. Wir konnten Andrea nur einmal und mit sehr viel Mühe nach Bagdad holen, während es bei den westdeutschen Botschaftern ständig Besuche gab. Die Berufung zum Handelsattaché erfolgte vom Minister für Außenwirt­ schaft und war gebunden an eine Tätigkeit in einer Handelspolitischen



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Abteilung bei der jeweiligen Botschaft. Zwischen der politischen und der handelspolitischen Abteilung der Botschaft gab es natürlich ein enges Zu­ sammenwirken. Ich war in den drei Jahren viel im Irak unterwegs, sah mir Betriebe an, ging zu Empfängen und Übergaben von Exportwaren. Natürlich traf ich auch Westdeutsche, mit denen wir ganz normal geredet haben, ich bin mit dem westdeutschen Handelsrat sogar durch die Messehalle der Westdeut­ schen gegangen, das wiederum war, zugegeben, nicht ganz normal, aber das hat es gegeben. Eigentlich durfte es nur offiziellen Kontakt in den Grenzen des diplomatischen Protokolls geben. Der Irak fasziniert mich bis heute, das war eine ganz andere Welt. Unser Botschaftskomplex ist zwar relativ abgeschottet gewesen, aber Eier mussten wir auch außerhalb beim Händler kaufen, und fühlten uns dabei nicht un­ wohl. Bis nach Kurdistan fuhr ich mit der Delegation des Landwirtschafts­ ministeriums, zum Erfahrungsaustausch, meine Frau ist mit dem Kulturatta­ ché gefahren. Die Kurden waren irgendwie von einem noch herzlicheren Schlag als die Iraker, wir wurden in Mossul so herzlich empfangen und gleich überall eingeladen. Von Mossul sind wir an einem kurdischen Feier­ tag Richtung Erbil weitergefahren und kamen auf eine riesige Wiese, durch die sich ein kleiner Fluss schlängelte, ringsherum sah man in verschiedene Farben getauchte Berge, wie von Samt überzogen, überall blühten die Blu­ men, strahlender Sonnenschein umgab uns und auf der Wiese saßen lauter Kurdenfamilien in ihren bunten Kleidern, die Männer mit weiten Hosen und Krummdolch. Wir hielten an und kamen sofort mit ihnen ins Gespräch, wurden von einem Lehrer in sein Haus eingeladen, der für seine Gäste Hühnchen schlachten ließ, und verbrachten dort einen wunderschönen Tag. Wir haben unser ganz normales Leben im Ausland geführt, fühlten uns nie beobachtet, aber dass wir natürlich beobachtet wurden, das war uns klar. Ich vermute sogar, dass mein Telefon zu Hause angezapft war, habe mich davon aber nicht leiten lassen. Es interessierte und interessiert mich auch nicht. Ich kann vor mir gerade stehen, das ist das Entscheidende. Wir wuss­ ten natürlich, wer hauptamtlich beschäftigt ist, das kriegt man ja mit, wenn einer sonst keine richtige Funktion hat. In der Regel beschäftigte der sich allerdings weniger mit uns DDR-Bürgern, es ging eher darum, Informatio­ nen aus dem Ausland abzuschöpfen. Im Grunde war die Stasi auch nicht anders als der BND. Natürlich musste ich als Leiter immer Einschätzungen über die Leistungs­ fähigkeit und die staatsbürgerliche Einstellung der mir jeweils Unterstellten abgeben. Jedes Jahr musste ich mit jedem Mitarbeiter ein Gespräch führen, das Protokoll, eher die Einschätzung, hat er dann unterschrieben. Aber kein Mensch ist wegen meiner Beurteilung benachteiligt worden, das weiß ich

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III. Reife

genau, und ich weiß nicht, wie viele Beurteilungen ich geschrieben habe. Nur einmal schrieb ich eine schlechte Bewertung, als jemand ökonomisch Mist gebaut hatte. Dass diese Berichte irgendwohin gingen ist klar, und mit mir wurden natürlich ebenfalls solche Gespräche geführt, ich habe die Be­ urteilungen heute noch. Das war auch eine Möglichkeit sich auszusprechen. Reisekader flohen nicht allzu oft aus der DDR, wir hatten ja viele Möglich­ keiten, warum sollten wir das Land verlassen? Eine neue Existenz baut man sich ja nur ganz mühsam auf. Im Irak war die DDR im Export gut gestellt, Landwirtschaftsmaschinen gegen Öl, aber gerade in Ägypten, wo ich ab Mitte der 80er Jahre als Handelsattaché tätig war, kamen wir in Konflikte. Im Export waren wir in einer schlechten Ausgangslage, weil wir zwar gute Waren besaßen, aber die Rentabilität nicht gut gewesen ist. Außer Salz und Kohle verfügte die DDR nur über wenige Rohstoffe, wir mussten viel importieren, da kann man mal die Devisenrentabilität ausrechnen. Mit der Bildung des „Rates für gegen­ seitige Wirtschaftshilfe“ (RGW), konnten wir oft nur Waren produzieren, die für uns sehr materialintensiv waren, wie Krane, Waggons und Bagger, alles Schwerindustrie, eigentlich hätten wir mehr lohnintensive Dinge her­ stellen müssen. Die DDR belieferte die staatliche Baumwollindustrie Ägyp­ tens zum Beispiel mit Textilmaschinen, im Gegenzug haben wir Baumwol­ le und fertige Produkte gekauft. Doch ab Mitte der 80er Jahre funktionierte die Ersatzteilproduktion nicht mehr, die Hälfte der Spindeln in Ägypten stand still, und wir konnten einfach keine Ersatzteile liefern. Ein Minister nach dem anderen besuchte das Land und versprach Besserung, aber es passierte nichts. Er herrschte „Tonnenideologie“ vor, die DDR-Betriebe hatten so große Planauflagen für große Maschinen, dass sie das kaum schaf­ fen konnten. Da zählten eben nur die Maschinen und nicht die zehn Spin­ deln, die man in Kairo dringend gebraucht hätte. So begann das Sterben des Exports. Zu Hause waren wir den Engpass ja gewöhnt, aber draußen hat man sich sehr blamiert, weil Versprechungen nicht gehalten wurden. Es war traurig, wir kämpften um die Aufträge, bekamen sie und konnten dann nicht liefern. Wir konnten nur vertrösten, mit den Unternehmensvertretern Essen gehen, sie irgendwie bei Laune halten, bis dann die Japaner einstiegen und übernahmen. Natürlich hofften wir, dass es wirtschaftlich wieder besser wird, wir hat­ ten diese Misere registriert, aber mit der Angst nicht gelebt. Wir haben den Staat mitaufgebaut und von Anfang an für wahr gehalten, dass er besser ist. Ich habe nicht an eine Erschütterung des ganzen Lagers geglaubt, bei all den Rohstoffen, die wir im Osten gemeinsam hatten, da hätte man sich doch über Wasser halten müssen. Doch die Regierung hatte Angst vor der eige­ nen Courage und wir Deutschen, sowohl in West als auch Ost, waren zu obrigkeitshörig, vertrauten zu lange auf die falsche Wirtschaftspolitik der



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DDR. Die DDR hätte sich vielleicht verändern können, ohne ihr Ideal zu verlieren, es gab viele kluge wirtschaftliche Ideen in den 80er Jahren, aber mit den Betonköpfen in der Regierung war eine Umsetzung nicht möglich. Die Grenzen hätte man schon viel eher teilweise öffnen müssen, hätte vieles auch über den Zoll reglementieren können. Doch Ende der 80er Jahre stand der Karren zu sehr im Dreck, es gab dann nur Schießen oder nicht Schie­ ßen. Der Westen brauchte die Früchte aufgrund der schlechten Politik der DDR dann nur ernten und somit war der Sozialismus, der immer ein Dorn im Auge des Westens gewesen ist, nun endlich und einfach weg. Als es passiert ist, war meine Frau Elsa in der BRD, abends holte ich sie ab, und überall waren Menschen über Menschen. Zu Hause hörten wir dann, dass die Mauer geöffnet sei. Wir sind einfach ins Bett gegangen. Morgens lief mir als erstes mein Parteisekretär entgegen, fragte, ob ich auch im Westen gewesen sei, und verstand mein Desinteresse nicht. So sind die Menschen. Für uns ist eine Welt zusammengebrochen. Elsa gab als eine der Ersten ihr Parteibuch ab, ich tat es ihr kurz darauf gleich. Das war nicht mehr meine Partei, niemand der zwei Millionen Mitglieder hatte etwas gegen den Untergang gemacht. Wir dachten lange, es gäbe einen anderen Weg, man kann also schon sagen, dass wir uns von der Partei verraten fühlten. Wir kannten den Westen und wollten ihn nicht, sind immer froh gewesen, wenn wir von Reisen wieder zurück in die DDR kamen, die für uns die heile Welt darstellte. Immerhin hatte ich beruflich vorgesorgt. Über das Ministerium hatte ich rechtzeitig eine Stelle als Geschäftsführer einer Gesellschaft für Messen und Ausstellungen und die dafür notwendigen finanziellen Mittel erhalten. Mit viel Glück, Tüchtigkeit und großer Unterstützung habe ich das Ganze später in eine private GmbH umgewandelt und zusammen mit einem Geschäfts­ partner aus Braunschweig eine eigene Firma für Messebau aufgebaut. Unmittelbar nach der Wende wurde wahnsinnig viel geistiges und mate­ rielles Kapital der DDR vernichtet, so zum Beispiel die Akademie der Wissenschaften und der gesamte Außenhandel. Nicht alle Industriezweige waren marode oder unrentabel, ein Hauptziel der BRD aber, das Ausschal­ ten der lästigen DDR-Konkurrenz wurde brutal erreicht. Natürlich habe ich insgesamt ein gutes Leben gehabt, in jeder Beziehung, wir leben gut und können uns nicht beklagen, obendrein haben meine Frau und ich zwei tolle Kinder und drei tolle Enkel. Meine Generation hatte auch viel Glück. Wir kamen aus armen Verhältnissen und konnten Karriere ma­ chen. Doch der Aufbau eines neuen, gerechten und sozialen Gesellschafts­ modells ist gescheitert.

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Marx und Engels würden heute vermutlich sagen: Es war ein Versuch, packen wir’s noch einmal von vorn an.

Wort des Jahrhunderts? Kein Glückliches.

Wolf Christian von Wedel Parlow * 13. September 1937 Während ich erwachsen wurde, wandelte sich das Verhältnis zu meinem Vater. Ich fand in ein gewisses Verständnis für ihn und entfremdete mich zunehmend von meiner Mutter. Es gab sogar Phasen, in denen ich ihn sehr geschätzt habe. Er hat mich mehr und mehr ins Vertrauen gezogen, sich mit mir beraten, diskutiert. Dass diese Aufmerksamkeiten mir so sehr schmei­ chelten, dass sie mich zu ihm hinzogen, sehe ich heute als Schwäche. Meine erste Freundin hatte ich erst nach der Bundeswehrzeit, während der ersten Semester Volkswirtschaft in Heidelberg. Da war ich 24. Sie hieß Theda von Bargen und stammte aus Herten im Ruhrgebiet. Die Besuche bei ihren Eltern habe ich als sehr steif in Erinnerung. Der Vater sei NS-Füh­ rungsoffizier bei der Marine gewesen, meinte ein entfernter Verwandter zu wissen, die Mutter hatte für ihre vielen Kinder das „Goldene Mutterkreuz“ erhalten und nun war die Familie erfolgreich im Ruhrbergbau. Theda, na­ türlich musste sie einen nordischen Namen tragen, war nicht adlig, mein Vater hat sich sofort kundig gemacht. Von Bargen ist eine Regionalbezeich­ nung für die Abstammung von einem alten Hof. Mit uns Wedels ist es im Grunde auch nicht anders, nur dass die erste Beurkundung unserer Familie aus dem Jahr 1212 stammt und das darin auftauchende „de Wedele“ irgend­ wann durch Ritterschlag geadelt wurde. Für mich hat die Abstammung nie eine Rolle gespielt. Man wird gefangen von einer Persönlichkeit, nicht von einem Stammbaum. Wir wuchsen allmählich zusammen, heirateten, und bekamen zwei Kinder. Die Ehe ging nach acht Jahren leider in die Brüche, die übliche Zeit. Schade, aber auch mein Fehler. In meinen zwei Heidelberger Semestern studierte ich formal Volkswirt­ schaft und Politik, schweifte aber frei durch die Geisteswissenschaften, habe Seminare in Soziologie und Geschichte besucht, weil ich zur Volks­ wirtschaft zunächst keinen rechten Zugang fand. Nach einem Jahr hatte ich die Nase voll, wollte es nun wirklich wissen und ging nach Kiel, weil ich gehört hatte, dass dort der wichtigste und bekannteste VWL-Professor lehr­ te, Erich Schneider. In Kiel kam ich in meinem Fach an und ließ mich verführen von seiner formelhaften Seite, die die Welt in Zahlen erklärt. Nach dem Diplom folgte ich meinem Statistik-Professor nach West-Berlin und steuerte für meine Promotion stur auf das Komplexeste überhaupt zu:

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Ich wollte mit mathematischen Begriffen die Verbindung zwischen Mikround Makroökonomie herstellen. Mein Doktorvater warnte mich, es hätten sich schon zu viele ergebnislos darüber den Kopf zerbrochen, versuchte mich auf elegante Weise in die USA abzuschieben, doch alle Probleme lösten sich auf einer Reise nach Prag. Es war nur ein einziges langes Wochenende über Himmelfahrt 1966. Der Prager Frühling lag schon in der Luft, die ersten Reformen hinter dem Ei­ sernen Vorhang waren angestoßen. Die Idee nach Prag zu fahren, kam einfach so. Wir fuhren spät am Mittwochnachmittag mit dem Mercedes ei­ nes Vetters, übernachteten ohne Visum in Dresden und kamen am nächsten Tag an. In Prag hakte irgendetwas bei mir fest. Die Tschechoslowakei war für mich exotisch, ganz fremd, so wie Saudi-Arabien oder Timbuktu. Dieses ganz und gar Unbekannte wollte ich verstehen, durchdringen. Hier ist mei­ ne Doktorarbeit, das ist mein Fach. Es ging mir gar nicht um den Sozialis­ mus, sondern um die Reformen. Ob mein märchenhaft böhmisches Kind­ heitsjahr bei dieser Faszination eine Rolle gespielt hat, vermag ich nicht zu sagen, natürlich habe ich während des Prager Himmelfahrtswochenendes auch Neuperstein besucht, leicht verfallen lag es da, es war wie ein Besuch bei den Großeltern. Ich trug dieses Jahr auf Neuperstein zeitlebens wie ei­ nen hübschen Ring mit einem kleinen Edelstein, den man hin und wieder betrachten und sich daran erfreuen kann. Aber hat es eine stärkere innere Triebkraft entfaltet? Ich weiß es nicht. Mein Thema hieß: „Das Verhalten des sozialistischen Industriebetriebes“, immerhin schon eine Nummer kleiner als die Verbindung von Mikro- und Makroökonomie, aber noch immer viel zu groß. Für dieses Thema musste ich nach Prag. Als endlich die Bewilligung der ökonomischen Hochschule kam, zog ich mit Theda für ein Jahr hinter den Eisernen Vorhang. Ich sam­ melte umfangreichstes Material, hatte aber Schwierigkeiten, auf den Punkt zu kommen, verzettelte mich. Als es 1974 zur Trennung von Theda kam, saß ich tief im Loch. Es war November, die denkbar schlechteste Jahreszeit für Trennungen. Ich wollte fliehen, nach Rom. Ein Freund sagte, nein, du setzt dich jetzt hin und schreibst das Schlusskapitel. Ich erwiderte, das geht nicht, aber er bestand darauf. Also schob ich meine großen Materialberge einfach beiseite und schrieb so schnell wie noch nie. Nach zwei Monaten war ich fertig. Nach der Promotion nahm ich eine Stelle als Akademischer Rat an der gerade erst gegründeten Wuppertaler Gesamthochschule an. Ich hatte zwar weder Mitarbeiter, noch professoralen Glanz, musste mich aber auch keiner Lehrstuhldisziplin unterordnen, ich war frei. In meinem Hinterkopf spukte noch immer die Idee, die Welt verbessern zu müssen und ein Konzept zu entwickeln, mit dem sich alle ihre Probleme volkswirtschaftlich lösen lie­



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ßen. In den 60er und 70er Jahren schossen die Weltverbesserer wie Pilze aus dem Boden, die Atmosphäre war viel optimistischer als heute. Ich schrieb einen Aufsatz darüber, wie man über die bevorzugte Herstellung langlebiger Produkte, sowohl den Ressourcenverbrauch steuern, als auch durch die dafür benötigte Mehrarbeit, das Problem der Arbeitslosigkeit be­ kämpfen könne. Man fand meinen sozialökologischen Ansatz zwar toll, aber auch illusorisch. Im Laufe der Jahre habe ich mich langsam normalisiert, wurde zu einem nüchtern arbeitenden Volkswirt. Zunächst war ich eher links, wurde aber immer skeptischer gegenüber meinen eigenen fast gläubi­ gen Vorstellungen von der Macht der Politik. Ich bezweifelte mehr und mehr, dass wir tatsächlich durch planerische Investitionslenkung weiterkom­ men könnten. Diese zunehmende Skepsis gegenüber allen allzu einfachen, allzu glatten Lösungsideen, trieb mich mehr und mehr in die konservative Ecke. Ich wurde nicht politisch konservativ, eher habituell, als eigenständi­ ger kritischer Beobachter und Kommentator der Entwicklung. Inzwischen hatte ich in Wuppertal eine Frau kennengelernt, deren Persön­ lichkeit mich so gefangen nahm, dass wir heirateten und noch einmal zwei Kinder bekamen. Ursel wurde Soziologieprofessorin in Essen, musste pen­ deln, und ich konnte mich neben meiner Arbeit zu Hause um die Kinder kümmern. Adlige Familien wählen „Familienvorsitzende“ und veranstalten „Fami­ lientage“. Meine Auseinandersetzung mit unserer Familie begann auf dem Familientag 1963. Der Familienvorsitzende sollte abgewählt werden, weil er als Beamter der Hamburger Schulbehörde in der Endphase des „Dritten Reiches“, eine Lehrerin der Gestapo ausgeliefert hatte. Sie hatte sich gewei­ gert, mit ihren Schülern auf das bombensichere Land zu ziehen. Sie wurde verhaftet, kam in ein Gestapo-Gefängnis und ist dort umgekommen. Der Familienvorsitzende hat sein Verhalten damit begründet, dass die Lehrerin ein schlechtes Beispiel gegeben habe, dem andere nachfolgen könnten, die Begründung eines Bürokraten. Ich hielt das für unerträglich, sagte auf dem Familientag meine Meinung, doch sofort schoss ein älterer Vetter hoch und nannte mich einen Nestbeschmutzer. Niemals hätte es dort eine Mehrheit für die Abwahl gegeben. Dennoch trat er zurück. Die aufgeladene Stim­ mung hat mich derart abgestoßen, dass ich erst über 30 Jahre später wieder einen Familientag besuchen konnte. Seit einigen Jahren versuche ich mich schreibend an meiner schwierigen Familie abzuarbeiten. Mein ältester Bruder hatte in der Tradition meines Vaters die Idee, eine Familiengeschichte über den Zweig der Wedel Parlow zu schreiben, weil sich 2006 zum 200. Mal die königlich-preußische Verfü­ gung jährte, diesen Beinamen zu tragen. Ich habe ihn dabei unterstützt, und auf seinen Vorschlag hin innerhalb der Neufassung der Gesamtwedelschen

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Familiengeschichte die Zeit unter dem Nationalsozialismus übernommen. Schnell stellte ich bei meiner Arbeit fest, dass nicht nur überdurchschnittlich viele meiner Vorfahren Mitglieder der NSDAP gewesen waren, sondern Partei und Staat des „Dritten Reiches“ auch in führender Rolle gedient hatten. Einer war schon vor 1925 Reichsredner der Nazis, ein anderer ist 1928 beigetreten, ließ sich noch vor 1933 für die Partei in den preußischen Landtag wählen, wurde später Staatsrat von Görings Gnaden und hatte als Direktor der Generallandschaftsdirektion für Brandenburg regen gesell­ schaftlichen Kontakt zu Goebbels. In ihren Lebenserinnerungen schrieb seine Frau, ihr 1945 von den Russen erschossener Mann habe nach 1918 einen Weg zur Wiederaufrichtung Deutschlands gesucht und ihn schließlich im Nationalsozialismus gefunden. Ein stattlicher Mann von guten Manieren, sportlich, ein guter Reiter, gläubig-fasziniert vom „neuen Staat“. Insgesamt gab es unter 229 volljährigen Wedelschen Namensträgern 78 Mitglieder der NSDAP. Beinahe die Hälfte von ihnen ist schon vor der „Machtergreifung“ der Partei beigetreten. Angesichts dieses guten Drittels, ist die innerfamili­ äre Nachkriegserzählung von „sehr geringen Ausnahmen“ als Mär entlarvt. Meine adlige Familie war tief verstrickt. Diese Erkenntnis war ein starkes inneres Erlebnis, das mich lange umgetrieben und nicht losgelassen hat. Ich musste Worte dafür finden, mich ins Verhältnis dazu setzen, um meine Ge­ fühle zu sortieren. Darum habe ich parallel zu meiner historischen Arbeit den „Deutschlandhymnus“ geschrieben, eine poetische Annäherung an den Irrweg des Adels im 20. Jahrhundert in Versen. Inwieweit auch mein Vater ideologisch verstrickt war, weiß ich letztlich nicht. Zumindest hatte ich früh die Idee, mein Vater sei absoluter NaziGegner gewesen. Es wurde viel darüber gesprochen, weil Frau Morsbach politisch interessiert war. Sie hatte ihn in den 30er Jahren in Berlin erlebt und stellte ihn als jemanden dar, der leichtfertig in der Öffentlichkeit auf ein Hitlerbildnis gezeigt und gesagt habe: Da hängt er! Die Tochter von Freunden aus seiner Würzburger Privatdozentenzeit erzählte aber, wie mein Vater eines Tages begeistert von einer Hitlerrede gesprochen habe, dass er der Partei beitreten wolle. Das muss vor 1933 gewesen sein. Ich bin der Sache nachgegangen. Im Universitätsarchiv gibt es tatsächlich eine Akte über meinen Vater. NSDAP-Mitglied war er wohl nicht, aber DNVP-Mit­ glied, bis die Deutschnationalen gleichgeschaltet wurden. Konservativ ist das mindeste. Durch das Schreiben bin ich meinem Vater zugleich ähnlicher geworden und doch ganz anders. Meine historischen und literarischen Arbeiten haben die Normalisierung meines Selbstgefühls abgeschlossen. Ich betrachte mei­ ne Herkunft nicht mehr als Auserwähltheit, wie noch in meiner Jugend. Adlige sind Familien wie andere auch, pflegen zwar Traditionen, haben eine lange, oft gedruckte Familiengeschichte, und nur darin eine Sonderstel­



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lung gegenüber den meisten anderen Familien. Im Übrigen sind es Men­ schen, die nicht herausragen durch politische Klugheit oder durch sonstige menschliche Eigenschaften, sie sind normal. Wer meint, er rage heraus, ist oft borniert. Es war persönlich für mich ein Gewinn, mich nicht mehr als herausgehoben zu erleben. Dazu hat auch meine Frau Ursel viel beigetra­ gen, deren wache und schonungslose Weltkritik immer eine Spur frecher und linker war als meine. Ich habe das Wort „Dienst“ nie in den Mund genommen und trotzdem selbstverständlich überall Verantwortung übernommen und mich verpflichtet gefühlt, von den Universitätsgremien, über den Verband deutscher Schrift­ steller, bis hin zu Kranken- und Altenbesuchen für die Kirche. Dienst ist mir wichtig, aber ist das adlig? Ich bin im Inneren ein richtiger Protestant, ohne die große Ausstrahlung und Geste meines Vaters, eher demütig und nüchtern. Ich versuche, nicht aufzufallen. Religion ist sehr wichtig und wird im Alter immer wichtiger. In Briefen meiner Urgroßmutter konnte ich lesen: „Denke an den innigen Wandel vor Gott!“ Das versuche ich, mein Wunsch ist, den Wandel ständig zu empfinden. Trotzdem gehe ich nicht jeden Sonn­ tag in die Kirche und diskutiere bisweilen mit unserem Pfarrer über die Bedeutung der Gemeinde. Er sagt, für Jesus sei die Gemeinschaft der Gläu­ bigen zentraler als die Kommunikation im eigenen Kopf. Ich entgegne ihm, das Sonntagsfrühstück mit meiner Frau sei mir auch sehr wichtig, auch wenn sie Atheistin ist, oder gerade deswegen. Das Gewissen der Kirche ist nicht rein, dunkle Flecken liegen auf ihrer Vergangenheit. Die Kirche ist eine menschliche Institution, die von allem belastet ist, was menschliche Institutionen an sich haben, vielleicht sogar noch schlimmer, weil von ihr das ganz andere erwartet wird. Aber Idee und Glaube können von keinem menschlichen Fehlverhalten getrübt werden. Paul Gerhardt hat am selben Tag, als er eines seiner Kinder verloren hat, das Lied „Geh aus mein Herz und suche Freud“ gedichtet. In diesem trot­ zigen Glücksempfinden und Zutrauen drückt sich für mich der Inhalt des Glaubens aus, darum bleibe ich. So ist mein bisheriger Stand, doch viel­ leicht komme ich zu anderen Schlüssen, wenn ich tiefer und gründlicher nachdenke. Durch das Schreiben verarbeite ich, was mich bewegt. Mein erster Ro­ man hieß „Drahomira“. Ich wollte poetisch frei ergründen, warum mein Onkel 1941 Selbstmord in den Ötztaler Alpen verübt hat. Er stand in Kon­ takt zu einer tschechischen Widerstandsbewegung gegen die Nazis, behaup­ tete mein Vater. Ich spinne diesen Kontakt zu einer Geschichte um ein ge­ scheitertes Attentat auf den „Reichsprotektor Böhmen und Mähren“, Kons­ tantin von Neurath. Durch ein Missgeschick verrät mein Onkel die tsche­ chische Attentäterin und begeht in großer Gewissensnot Selbstmord.

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III. Reife

Die Konflikte und Nöte meiner Kindheit liegen hinter mir. Ich wundere mich heute über den Jugendlichen, der noch in den 50er Jahren monarchis­ tisch-preußische Phantasien hegte, fast ist es mir peinlich. Ich wundere mich über das Kind, das zwischen Vater und Mutter wie zwischen Lust und Verantwortung hin- und herschwankte und zu keiner Klarheit fand. Es be­ deutet für mich ein großes Glück, dass ich wieder und wieder mit meiner Frau Ursel darüber sprechen konnte. In unserer Ehe gab es keinen Bruch. Ich habe gelernt, geradlinig zu leben. Darauf konzentriere ich mich.

Wort des Jahrhunderts: Dem Abgrund gerade noch einmal entkommen.

Fedja Müller * 22. Januar 1938 in Eggenfelden Meine Mutter starb im Frühjahr 1971. Sie hat den im Herbst desselben Jahres eintreffenden ersten und bis heute einzigen Bericht des Roten Kreu­ zes über das vermutliche Schicksal meines Vaters nicht mehr erlebt. In dieser Mitteilung wird er noch immer als „verschollen“ geführt, wahrschein­ lich sei er im Januar 1945 in Westpolen auf dem Rückzug vor der Roten Armee ums Leben gekommen. Von seinem Pionierregiment ist offenbar niemand mehr aufgetaucht. Im gleichen Jahr bekam ich einen Ruf nach Heidelberg auf den Lehrstuhl des Klassikers Georg Jellinek, was mich insoweit aus gutem Grund freute. Doch hatte die Geschichte, wie ich dann tatsächlich auf diesen Lehrstuhl kam, mit einem ordentlichen Verfahren nichts mehr gemein. Sie wurde mir erst Jahre später eröffnet. Wäre der Hintergrund vorher bekannt gewesen, hätte kein anständiger Mensch diesen Ruf annehmen können. Ich akzeptier­ te ihn in völliger Unkenntnis. Auf der Berufungsliste für den Lehrstuhl standen vier Bewerber auf vier Positionen, was ohne Benennung „pari passu“ schon eine Anomalie war. Die ersten drei Plätze belegten konservative Gesinnungsfreunde der dama­ ligen Fachgruppe Öffentliches Recht. Ihnen war, je unabhängig voneinander, dringend nahegelegt worden, den Ruf unter keinen Umständen abzulehnen. Die Liste dürfe nie und nimmer „auf Müller durchschlagen“. Sie alle lehn­ ten dann aber doch aus diversen Gründen ab. So kam die Liste auf mich als den Vierten herab, dem zur Besänftigung rebellischer Studenten aus­ schließlich eine Alibifunktion zugedacht gewesen war. Doch war bald darauf zum Glück plötzlich die Akte spurlos verschwunden. Die Kollegen der Ju­ ristischen Fakultät meldeten dem Ministerium in Stuttgart, jemand im Hei­ delberger Rektorat müsse die Akte veruntreut haben, vermutlich der dama­ lige Rektor Rolf Rendtorff selbst; er war ein Dorn im Auge meiner Kollegen, er war evangelischer Theologe und aktives Mitglied der SPD. Ohne die Akte könne das Verfahren selbstverständlich nicht legal weitergeführt wer­ den. Der schon über zwei Jahre unbesetzte Lehrstuhl sei daher sofort neu auszuschreiben. Doch fürchtete das Ministerium eine gerichtliche Klage meinerseits unter öffentlichem Aufsehen und führte aus diesem Grund, no­ lens volens, gegen den erbitterten Widerstand der für mich zuständigen Fachgruppe das Verfahren zu Ende. Bei meiner Vorsprache in Stuttgart habe

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ich mich dann im Stillen darüber gewundert, dass ich meinen Vertrag auf einem dünnen 40-Gramm-Durchschlag unterschreiben musste, der statt einer Akte einsam auf dem Tisch des Abteilungsleiters lag. Was dahinterstand, wusste ich ja nicht. Drei Jahre später, als ich Dekan geworden war, habe ich im so genannten Giftschrank der Fakultät mühelos die vollständige Akte gefunden. Irgendwelche meiner Kollegen mussten sie unterdrückt ha­ ben und hatten dieses Tun öffentlich dem Rektorat angelastet; unter Juristen gesagt, gleich zwei Delikte nach dem Strafgesetzbuch. Als es für eine Ablehnung durch mich schon zu spät war, gab es schon bald die ersten nicht ganz hasenreinen Indizien. So nahm mich kurz nach meinem Amtsantritt ein Kollege beiseite und zischte mir zu: „Wir feiern hier nach wie vor den 20. April46. Aber jemandem wie Ihnen sagt das wohl nichts.“ Ein anderer Kollege machte mir deutlich, dass es an dieser Fakultät nur Freund oder Feind gebe. Er zeigte auf vorübergehende Jurastudenten: „Der da drüben ist ein Kommunist, den haben wir im Auge, wir wissen, wie wir mit ihnen umgehen. Der hier ist einer von uns. Und der Dicke da drü­ ben ist ein Gesinnungslump. Der war bei den Linken und versucht jetzt, sich bei uns, das soll heißen beim ‚Bund Freiheit der Wissenschaft‘, einzu­ schleimen. Auf so etwas fallen wir nicht herein.“ So geartete Kollegen meines Fachs, aus verschiedenen deutschen Fakul­ täten, sagten mir bei passender Gelegenheit, ich solle nicht immer mit diesem Menschenrechtsgerede kommen. Was man brauche, das sei der starke Staat. Und überhaupt hätte ich nie auf einem Hügel gestanden und „den Iwan“ herankriechen sehen. Ich könne nicht mitreden. In der heimi­ schen Fakultät wurden meine Sekretärin, die mit dem Lehrstuhl verbunde­ nen Studenten, Assistenten, Doktoranden und Habilitanden ungebeten be­ lehrt, gelegentlich eingeschüchtert und in Bezug auf Promotions- und Habi­ litationsverfahren unter Druck gesetzt. Die achtzehn Jahre an dieser Fakultät waren so ein ständiger unfreiwilliger Abwehrkampf, trotz des nie nachlas­ senden großen Interesses der Studenten. Aus gesundheitlichen Gründen bin ich 1989 vorzeitig in den Ruhestand versetzt worden. Zwar schlug ich vor, mit einem halben Deputat bei halbem Salär weiterzuarbeiten, doch der damalige Abteilungsleiter im Ministerium machte mir klar, die hiesigen Professoren seien entweder zu 100 Prozent dienstfähig, oder sie hätten zu gehen. Als ich ihn an das entsprechende Jobsharing-Modell in manchen deutschen Reformländern erinnerte, erwider­ te er schmunzelnd, als Jurist müsse ich doch eigentlich wissen, dass BadenWürttemberg nicht zu den Reformländern gehöre. Ein Land, in dem ich dagegen Reformbereitschaft fand und finde, ist Brasilien. Dort habe ich eine Offenheit für Neues und Ungewohntes, eine 46  Gemeint

ist Hitlers Geburtstag.



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Wissbegier unter Studenten und jüngeren Kollegen und eine nicht-rituali­ sierte Diskussionskultur angetroffen, die ich mir für unser heutiges akade­ misches Deutschland nur wünschen könnte. In Brasilien arbeitete ich regel­ mäßig seit 1994 und habe zum Beispiel, als freier Berater der dortigen Bundesregierung während des ersten Mandats von Präsident Lula da Silva, eine im Jahr 2004 zum Teil bereits realisierte Justizreform ausgearbeitet. Brasilien hatte ich mir ebenso wie Südafrika ausgesucht, weil beide Länder nach Jahrzehnten brutaler Diktatur ernsthafte Schritte auf dem Weg zu ei­ nem verlässlichen demokratischen Rechtsstaat unternommen haben und weiter unternehmen. Vieles können wir von beiden Völkern lernen. Während all der Jahrzehnte von Kindheit, Jugend und frühem Erwachse­ nenalter hatte die Hoffnung auf die Wiederkehr meines Vaters nicht nur Vaterlosigkeit bedeutet, sondern geradezu ein Warten als Lebensform. Und immer auch ein Leben in unbewusst motivierter, der Sache nach grundloser, aber dennoch irrational gefühlter Schuld. „Schuld“ daran, da zu sein, wäh­ rend er nicht mehr da war. Vielleicht war und ist das auch einer der Gründe, weshalb ich seit meiner Kindheit und Jugend Gedichte und poetische Prosa schreibe, als ein gleich­ gewichtiges Zwillingswerk neben dem meiner Wissenschaft. Doch die ei­ gentlichen Gründe für Kreativität durchschauen wir wohl so wenig wie die für transgenerationelle Gefühle von Schuld (im Sinn von Vorwerfbarkeit) und von Schuldigkeit (im Sinn von Verpflichtung zum Handeln). Vater seine Jochbeine gibt es das sei gleich gesagt der militärische Rang ist nur noch von Fachleuten zu ermitteln wo die Jochbeine im Torf stecken weiß nur der Mann der sich ein Lied draus macht nicht einmal Vater mit seiner Eins in Geographie die beste Note bis Lemberg Fahrschüler war er in Untersekunda die Waggons waren gelb lackiert, damals © Fedja Müller

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III. Reife

Wort des Jahrhunderts: Menetekel

Frank Tidick * 18. Dezember 1940 in Königsberg Noch bevor wir parteipolitisch organisiert waren, haben Marianne und ich schon in Bonn gearbeitet. Marianne im Bildungsministerium bei Frau Hamm-Brücher und ich in der Hamburgischen Landesvertretung. Hamburgs Sinn fürs Schöne hat auch bei der Wahl der neuen Landesvertretung gehol­ fen. Gleich nach dem Krieg hat der Senat eine wunderschöne alte Villa in Bonn gekauft. Die schleswig-holsteinische Landesvertretung gleich gegen­ über konnte damit nicht konkurrieren. Ein paar Jahre später saß Marianne dort als schleswig-holsteinische Ministerin für Bundesangelegenheiten. Nur der Zaun zwischen uns und den Landesvertretungen war ihr ein Dorn im Auge. Nach langem Hin und Her hat sie es geschafft, ihn zu beseitigen. Die Landesvertretung war ein ganz kleiner Laden mit nur vier Referaten, die direkt der Senatskanzlei und dem Ersten Bürgermeister unterstellt wa­ ren. Ich hatte das Referat für Finanzen, Arbeit und Soziales zu betreuen. Nach der miefigen Adenauerzeit gab es eine tolle Aufbruchsstimmung und die sozialliberale Koalition hat in hoher Geschwindigkeit unglaublich viele Gesetze gemacht. Achtzig Prozent betrafen mein Referat. So viel Auf­ bruchsstimmung hat es in Deutschland danach nie wieder gegeben, das war quasi Revolution im Parlament. Im Blankeneser Ortsverein der SPD wurden wir genannt Nadelstreifen­ sozis, links und gut gekleidet, das war verdächtig. Im Wahlkampf waren Beinarbeit und Mut verlangt, wenn wir uns auf ellenlange, Rhododendrongesäumte und von kläffenden Hunden bewachte Auffahrten trauen mussten, um an deren Ende ein sozialdemokratisches Flugblatt in den Briefkasten zu werfen. Marianne und ich haben uns die Hamburger Politik geteilt. Sie war im Altonaer Kreisvorstand und ich Ortsvereinsvorsitzender in Blankenese. In der Altonaer SPD war der Umgang nicht sehr liebenswürdig. Wenn wir nach einem Parteitag nach Hause kamen, waren wir deprimiert, weil unsere tollen Ansätze keine Mehrheiten fanden. Inzwischen vertragen wir uns aber wieder. 1988 stand Björn Engholm in unserer Tür und fragte Marianne, ob sie nicht nach dem Barschel-Chaos Ministerin in Schleswig-Holstein werden wolle. Björn Engholm war der Erste, der ein geschlechterparitätisches Ka­

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III. Reife

binett gebildet hat, fünf Frauen und fünf Männer. Ich habe kurzerhand meinen Segeltörn nach St. Petersburg gestrichen, zwei Wochen Urlaub ge­ nommen und mich als ihr Wahlkampf-Chauffeur angeboten. Zusammen sind wir über 4.000 Kilometer über die schleswig-holsteinischen Dörfer getingelt, ganz ohne GPS. Im Auto haben wir viel diskutiert, ich war Mariannes erster Kritiker, aber nach außen vertraten wir immer eine gemeinsame Meinung. Wir hatten nie Konkurrenz zwischen uns. Wahrscheinlich hat Helmut Schmidt erheblich zur Gründung der Grünen beigetragen, das nehme ich ihm noch heute übel. Willy Brandt hat es immer verstanden, die Avantgarde zu integrieren, Schmidt nie. Schon seine erste Regierungserklärung nach Willy Brandts Rücktritt war langatmig, „Kontinu­ ität in jedem Gerät“. Schmidt war ein exzellenter Außen- und Wirtschafts­ politiker, aber Gesellschaftspolitik hat er nicht auf die Reihe gebracht. Die Luft war raus und wir haben Bonn Lebewohl gesagt. Jetzt im Alter ist Schmidt aber noch einmal richtig gut geworden. Während der deutschen Teilung war ich auf das andere Deutschland merkwürdigerweise kein Stück neugierig. Ich war zwar oft in Berlin, aber das war meine berufliche Pflicht. Alle Bundesratsausschüsse mussten ein­ mal im Jahr in Berlin tagen. Dabei habe ich einige Male Ost-Berlin besucht. Die DDR selbst war für mich furchtbar langweilig, das graue Deutschland interessierte mich nicht. Ich dachte immer, erst gibt es die Europäische Union und darin irgendwann ein selbständiges Mitglied DDR. Aber dann kam 1989 und die Sache war anders entschieden. Die Wiedervereinigung war quasi eine Notoperation ohne eine entsprechende Vorbereitungsphase. Von einem Tag zum anderen mussten die ehemaligen DDR-Bürger das westdeutsche und das EU-Recht anwenden mit allen Problemen. Sie konn­ ten von ihrer DDR fast nichts in das neue Deutschland hinüber retten. Ich bin Beamter. Seit den Achtziger Jahren war ich unter den Bürgermeis­ tern Klose, von Dohnanyi und Voscherau Beamter der Hamburgischen Landesverwaltung, zuletzt seit 1990 Leiter des Amtes für Naturschutz und Landschaftspflege innerhalb der Umweltbehörde. Mitte der 90er Jahre ging es mit meiner Karriere in Hamburg nicht mehr weiter. Ich hatte gelernt, wie mühsam es in Hamburg ist, etwas Neues zu machen. Über einen Kontakt in Schleswig-Holstein habe ich Harald Ringstorff kennengelernt, der sich 1998 anschickte, die erste rot-rote Landesregierung ins Leben zu rufen. Das ver­ hieß Zündstoff. Ringstorff und ich beschnupperten uns und eine Woche später war ich Staatssekretär im Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft, Forsten und Fischerei bei Till Backhaus. Das Landwirtschaftsministerium war schwierig. Acht Jahre nach der Wen­ de waren viele große Reformen angeschoben, die Richtung stimmte im Großen und Ganzen, aber jetzt war die Feinjustierung gefragt. Meine größ­



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te Herausforderung wurden die landeseigenen Forsten. Mecklenburg-Vor­ pommern konnte sich die 60 Millionen jährlicher Zuschüsse schlichtweg nicht mehr leisten. Allerdings konnten wir dieses Problem letztlich erst im Zuge der Verwaltungsreform lösen und haben dabei zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Die Grundidee der Verwaltungsreform war die Konzen­ tration der staatlichen und kommunalen Aufgaben, um im Haushalt Freiräu­ me zu schaffen, damit wieder in politische Ideen investiert werden konnte. Darum haben wir ein bench-marking mit Schleswig-Holstein und RheinlandPfalz gemacht, alle Aufgaben und Lösungen länderübergreifend verglichen und die jeweils günstigste Lösung übernommen. Aus zwölf Landkreisen und sechs kreisfreien Städten wollten wir fünf Großkreise schaffen. Am Ende sind es, nach Querelen mit dem Landesverfassungsgericht, sechs Großkreise und zwei kreisfreie Städte geworden. Parallel dazu haben wir die Zahl der Förstereien um ein Drittel reduziert und sie zu selbständigen Betrieben mit kaufmännischer Buchführung in einer Anstalt öffentlichen Rechts gemacht. Anfangs war das schwierig zu vermitteln. Trotzdem haben alle sofort die Köpfe gedreht, ihre Chance wahrgenommen und losgelegt. Inzwischen schrei­ ben die Forsten schwarze Zahlen. Diese Reformen bedeuteten einen gewal­ tigen Modernisierungsschub für das Land. Die letzten Jahre in Schwerin waren noch einmal richtig spannend. Der CdS (Chef der Staatskanzlei) steht nie im Rampenlicht und hat trotzdem den spannendsten Job der Regierung. Alles läuft bei ihm zusammen, mir war keine Sekunde langweilig. Bei den Bund-Länder-Verhandlungen über den Länderfinanzausgleich, den Solidarpakt oder die Föderalismusreform haben wir uns mit Gerhard Schröder in Berlin so manche Nacht um die Ohren gehauen. Als ich 2005 aus dem Amt schied, war das eine Vollbrem­ sung von 180 auf Null. Naja, nicht ganz. Marianne und ich hatten schon 1998 mit anderen die Hamburger „BürgerStiftung“ gegründet. In dieser Stadt gibt es doch nicht nur viel Geld, sondern auch jede Menge bürger­ schaftliches Engagement, das ist gerade in den ärmeren Stadtteilen wie Hamm, St. Pauli oder Horn gefragt, die in den letzten Jahren abzurutschen drohten. Eines unserer schönsten Projekte war ein Fantasy-Schreibseminar auf einer Schute in Harburg. Gewonnen hat die Tochter eines persischen Pizzafahrers, bei der zu Hause nur Farsi gesprochen wurde. Sie hat wunder­ schöne deutsche Texte geschrieben. Vater und Mutter saßen dabei und waren stolz. Unsere Stiftung kann und soll zwar nicht alle Löcher staatlicher Pflichten stopfen, aber hier und da das Kleine ganz groß machen. Starke Frauen spielen in meinem Leben eine große Rolle. Das fängt bei meiner Mutter an, die in Ostpreußen selbstverständlich den Führerschein gemacht und mich auf der Flucht wie eine Löwin beschützt hat, und reicht über meine Vorgesetzten Ilse Elsner und Eva Rühmkopf, bis hin zu Mari­ anne. Frauen sind oft viel pragmatischer als wir Männer. Es kann doch

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einfach nicht sein, dass hervorragend ausgebildete Frauen mit der ersten Schwangerschaft ihren Beruf verlassen, noch ein oder zwei Kinder bekom­ men und danach den Anschluss für eine angemessene Karriere verpasst haben und mit 40 als Sekretärinnen wieder anfangen müssen. Das ist schlicht kurzsichtig. Wo ich auch arbeitete, überall war es möglich flexib­ lere und frauengerechte Arbeitsmodelle zu entwickeln, Halb- und Viertel­ tagsstellen, variable Arbeitszeiten oder abwechselnde Phasen von Vollzeit und Pausen bis zu einem Jahr. Wir haben mit den Frauen ein so großes Potential im Land. Warum nutzen wir das nicht besser? Meine Geburtsstadt Königsberg habe ich das erste Mal 2010 auf einer Fahrradreise als Kaliningrad besucht. Dort, wo früher unsere Wohnung am Schlossteich vis à vis des Königsberger Segelclubs stand, ragen heute riesi­ ge graue Betonklötze in den Himmel. Ostpreußen ist jetzt ein anderes Land, ein abgeschnittener, abgeschlossener Komplex. Meine Zuneigung zu diesem untergegangenen Land hat nichts mit Besitz zu tun, viel eher mit Landschaft und Klang. „Juditten“, ein Vorort von Königsberg, klingt das nicht schön?

Wort des Jahrhunderts? Entwicklungsfortschritt. Aber wo ist Willy Brandt II?

Michael Naumann * 8. Dezember 1941 in Köthen Am glücklichsten war ich während meiner Promotionsarbeit über Karl Kraus. Da saß ich lachend anderthalb Jahre an meiner Schreibmaschine. Es war herrlich, so in Ruhe arbeiten zu können. In meinem späteren Berufsle­ ben jedoch sorgte meine journalistische Neugier und ein ziemlich großer Ehrgeiz für eine gewisse Rastlosigkeit. Vielleicht kann man sie auch als Aufstiegswillen interpretieren, den ich so verinnerlicht hatte, dass ich ihn gar nicht mehr reflektierte. Außerdem habe ich eine gewisse spielerische Haltung zum Leben. Das Spielerische ist wahrscheinlich durch die Erfah­ rung entstanden, dass man auch nach einem gravierenden Bruch im Berufs­ leben erstaunliche Dinge erleben kann. Hinter der Neugier steht gewiss auch Langeweile. Ich bin relativ schnell zu langweilen. Das ist vielleicht ein Charakterfehler. Das sind alles Gründe dafür, weshalb ich in meinem Leben so oft meine Berufe gewechselt habe. Ich war Redakteur und Herausgeber, Universitätsdozent und Moderator, leitete Verlage und in die Politik trieb es mich auch, als Bürgerschaftskandidat der SPD in Hamburg und vorher als Staatsminister für Kultur und Medien. Als Journalist habe ich einmal eine Reise entlang der Zonengrenze für das „Zeitmagazin“ gemacht und so grotesk es klingt, es ist eine unglaubliche Erfahrung gewesen. Diese Manifestation des so genannten „antifaschisti­ schen Schutzwalls“ über mehr als tausend Kilometer war eine dinghafte Er­ fahrung, da brauchte man gar nicht mehr in die DDR zu fahren. Wie so viele andere habe auch ich in den achtziger Jahren nicht mehr an eine Wiederver­ einigung geglaubt. Beim Mauerfall waren wir dann alle selig. Das Schöne ist doch, dass sich das Schreckensbild unserer europäischen Nachbarn von ­einem „Vierten Reich“ nicht erfüllt hat. Aus der Bundesrepublik ist rück­ blickend ein freier Rechtsstaat mit enormen sozialen Vorteilen entstanden. Und ich bin ein Fan einer Institution, die nicht so richtig gewürdigt wird, die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Die Russen haben in der sowjetischen Besat­ zungszone sofort die Möglichkeit abgeschafft, beim Verwaltungsgericht ge­ gen den Staat zu klagen. Ich selbst habe außerdem zweimal gegen die Bun­ desrepublik mit Verfassungsbeschwerden obsiegt und bin stolz darauf. Geschmeichelt fühlte ich mich, als mich Gerhard Schröder 1998 fragte, ob ich Kulturstaatsminister werden möchte. Ich kannte Schröder von einer Ar­

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beitsgerichtsverhandlung, bei der wir Gegner waren und uns ordentlich fetz­ ten. Als er mich fragte, war ich schon länger in New York, arbeitete dort als Leiter des alten Verlages „Henry Holt“. Aber Kulturstaatsminister – das schmeichelte meinem Ego, und so bin ich ohne Rückfahrticket gesprungen. Außerdem hielt ich es für äußert sinnvoll, einen Staatsminister für Kultur zu haben, weil wir als Bund kulturpolitisch auf europäischer Ebene nicht vor­ handen waren. Die Länder hatten gar keinen Hebel, um ihre Forderungen durchzusetzen, denn den europäischen Haushalt bestimmt die Bundesregie­ rung zusammen mit den anderen EU-Nationen. Als Bundesvertreter hatte ich eine bessere Verhandlungsbasis, um beispielsweise zu verhindern, dass die Buchpreisbindung gekippt wird. Ich drohte dem zuständigen Kommissar mit einem Veto Deutschlands zu seinem Haushalt und habe mich durchgesetzt. Diese zwei Jahre in der Bundesregierung haben mich sehr befriedigt. Ausgeschieden bin ich aus höchst persönlichen Gründen, die niemanden etwas angehen. Nicht im Groll, sondern mit großem Bedauern. Jetzt, nach den Jahren als Chefredakteur und Herausgeber der ZEIT und von Cicero, leite ich die Barenboim-Said Akademie in Berlin. Sie wird 2016 ihre Tore öffnen. Dann bin ich 75 Jahre alt und immer noch ein glücklicher Mensch.

Wort des Jahrhunderts: Führer

Abt Franziskus Heereman von Zuydtwyck * 7. März 1946 in Hannover Nachdem ich die Entscheidung, Mönch zu werden, endgültig gefällt hatte, lief ich wie ein Verliebter durch Rom und brachte mein Studium nur mit Mühe und Not zu Ende. Ich trat bei den Trappisten in Mariawald bei Heim­ bach in der Eifel ein, ein Orden, bei dem die Trennung von der Familie sehr resolut vollzogen werden muss. Das war schwierig, weil wir schon sehr familienbezogen waren. Meine evangelische Großmutter, die an nichts glaubte außer an Schönes und Gutes, habe ich dabei zum ersten Mal weinen sehen, aber mitgetragen haben es alle. Erst nach neun Monaten durften meine Eltern mich besuchen, durften dann jährlich für drei Tage kommen, telefonieren war nur in ganz außergewöhnlichen Fällen erlaubt, Briefe konnten immerhin geschrieben werden. Als ich mich ans Kloster gebunden habe, fing ich mitten in der Zeremo­ nie an zu heulen. Mir ist tief ins Gemüt gegangen, wie entscheidend dieser Moment für mein Leben ist. Da ich durch meine Mutter sowieso nah am Wasser gebaut bin, wollte ich verhindern, dass mir das bei meiner Priester­ weihe wieder passiert. Ich habe etwas genommen, war nicht direkt gedopt, aber es half mir gegen die Tränen und ich habe den Tag dann auch trocken überstanden. Es war ein ganz wichtiger Tag für mich, für meine Familie, für das Kloster. Mein Wahlspruch stammt aus dem ersten Johannesbrief: „Leben, wie er gelebt hat.“ Dieser Satz hatte mich schon während meiner Diakonatszeit fasziniert. Ich war sehr stark davon geprägt, dass der Priester sich selber in gewisser Hinsicht genommen ist, weil Christus durch ihn handelt. Natürlich wird das eigene Bewusstsein dadurch nicht von jetzt auf nachher verändert, man bleibt ja der gleiche, das ist vielleicht auch eine gewisse Enttäuschung, die man erfährt. Bei aller Neigung zu Tränen ist in meiner Familie aber auch eine gewisse Nüchternheit vorhanden und ich finde diese Art der Gegenwart viel geheimnisvoller, als das Gefühl, dass ich jetzt etwas Besonderes bin. Man steckt als Abt natürlich in großen, manch­ mal denke ich in zu großen Schuhen. Abt zu sein ist eine wahnsinnig mächtige, aber auch großartige Verpflichtung. Natürlich kämpft die Kirche, kämpfen gerade die Orden damit, dass wir in zwei gesellschaftlichen Systemen leben, die nicht bruchlos zusammen­ passen, die nicht gut miteinander harmonieren. Wir haben im Kloster eine

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starke hierarchische Prägung, der Abt hat sehr viel institutionelle Macht. Wir sind aber alle in einer demokratischen Versuchswerkstatt großgewor­ den, so ganz gelungen ist sie vielleicht noch immer nicht, tragen diese Er­ fahrungen aber mit ins Kloster. Einerseits wirkt das Hierarchische in der Kirche stabilisierend, worum uns einige beneiden, auf der anderen Seite steht das Bemühen um synodale Elemente. Die Fixierung auf den Papst, der sogenannte Ultramontanismus, hat sich erst spät in der Geschichte entwi­ ckelt. Die Kriterien, anhand derer Bischöfe ausgesucht werden, sind manch­ mal wirklich merkwürdig. Man vertraut dem Volk nicht, Befragungen sind eher ein Alibi, das System sichert sich selbst ab und hält sich gerade in der Personalpolitik im schon Gehabten. Die größte Werbung für die Kirche sind die Fragen, die der Mensch sich selbst stellt. Die Fragen nach dem Woher, Wohin, wie gehe ich mit der Ge­ brochenheit des Daseins um, gibt es einen Sinn des Daseins, der mich befrie­ digt, gibt es vielleicht einen größeren Zusammenhang? Komm und sieh, hieß es in der alten Kirche. Wenn man nicht auf den Augen sitzt, wird man sehen, dass es in der Kirche viel Menschliches gibt – positiv und negativ. Hier in der Benediktinerabtei Neuburg bei Heidelberg haben wir hierar­ chische, aber auch partizipatorische Elemente wie schon bei Benedikt. Wir sind aber nicht Kinder des 6. und auch nicht des 12. Jahrhunderts, damals haben sich gewisse Idealvorstellungen vom Klosterleben gebildet. Unsere Aufgabe ist es, in der heutigen Zeit anzukommen. Das ist für die Kirche schwierig, für die Klöster schwierig, für die Menschen schwierig. Wir sind ständig im Neuschnee. Man sieht zwar die Spur aus der man kommt, aber man muss sie sich neu trampeln. Treue besteht nicht darin, es so zu machen, wie es vor Jahrhunderten gemacht worden ist, in gewisser Weise muss das verheutigt werden. Das geschieht nur, wenn man mit dem Heute in Kontakt steht. Einerseits sind wir das durch unsere Herkunft, andererseits halten die Klostermauern auch nicht mehr viel ab. Wir haben Zeitung, wir haben Te­ lefon, wir haben Internet. Wir tragen die Welt in uns. Dennoch hat die Kirche noch keine wirklich neuen Strukturen und das, was kommen wird, kommt langsam. Gerade spüren wir große Verlusterfah­ rungen, die Kirche verliert an institutioneller Macht, doch muss man sich fragen, ob das eigentlich schlimm ist. Der Mittelpunkt der Fragen heute sollte sein, wozu bin ich auf dieser Welt und nicht die Frage, muss ich sonntags in die Kirche. Die Menschen werden nicht alle zu halten sein und es wird zu weiteren Austritten kommen, der Kirche mangelt es an Nach­ wuchs. Demensprechend bröckeln einzelne Handlungsfelder weg. Die 13 Brüder und ich versuchen Neuburg aufrecht zu erhalten als einen Ort der Suche, denn nach Benedikt sind Mönche Leute, die Gott suchen und nicht die, die ihn gefunden haben. Wir wollen uns offen halten für alle Menschen,



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die auf der Suche sind und haben deshalb ein Gästehaus, ein Orden darf weder Bunker noch Gefängnis sein. Die Begegnungen mit den Menschen und ihren Erfahrungen ist uns wichtig. Mönch zu sein, ist ein Lebensprojekt. Genauso wie die Ehe. Es beginnt immer mit Projektionen. Meine Eltern führten manchmal keine leichte Ehe, der Vater war konservativ, die Mutter freigeistig, dennoch waren es immer nur Sommergewitter und sie sind über die Jahre fest zusammengewachsen. Es war eben keine Verliebtheit, sondern Liebe. Man lebt nur in der Hinga­ be. Wo keine Hingabe ist, sondern nur Angst und Sorge um den eigenen Selbsterhalt und das eigene Leben, da ist der Tod. Heute, wo ich stramm auf die siebzig zugehe, hat der Adel etwas Vertrau­ tes für mich, aber richtig zu Hause bin ich auch dort nicht mehr. Wahr­ scheinlich reicht mir das Kloster. Was bleibt und über die Jahre gewachsen ist, ist die Überzeugung, dass alles, was man durch eine gewisse gesell­ schaftliche Herkunft und eine intakte Familie mitbekommen hat, kein Pri­ vileg ist, sondern ungeschuldetes Talent, Verpflichtung und Auftrag.

Wort des Jahrhunderts: Wandel. Es wird auch nicht weniger wandlig werden.

Sebastian Pflugbeil * 14. September 1947 in Greifswald Für mein Engagement 1989 hat Tschernobyl eine wichtige Rolle gespielt. Durch meine Beschäftigung mit Atomwaffen hatte ich das physikalischmedizinische Knowhow über Strahlenschäden. Das war Herrschaftswissen, es gab nur wenige Zivilisten, die sich damit beschäftigt haben und die zu­ ständigen Behörden waren nicht gesprächig. Der Dreck aus Tschernobyl hat viel Unruhe in der DDR verursacht, weshalb ich wie ein Brummkreisel rumwirbelte und viele Vorträge in Kirchen hielt, das Telefon klingelte stän­ dig. Mir ist es etwas später gelungen, beim Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR einen Auftrag für eine Studie über die Energiepolitik in der DDR zu bekommen. Diese gemeinsam mit meinem Arbeitskollegen Joa­ chim Listing geschriebene Studie war das erste Papier, das für normale Leute in der DDR verständlich – aber kontrovers – Energie beschrieben hat. Besonders wichtig war der Abschnitt über die Kernenergie und Tschernobyl. Die Studie ist zweimal in einer für damalige Verhältnisse hohen Auflage gedruckt worden und hat die Diskussionen in den Kirchen ziemlich beein­ flusst. Die Ökumenischen Versammlungen 1988 und 1989 vereinigten alle Kir­ chen in der DDR zu sehr kritischen Gesprächen. Sie fanden zwar unter dem Dach der Kirche statt, aber es ging erstmals ganz offen um nahezu alle gesellschaftlich relevanten Probleme in der DDR. Das gab es vorher so direkt und in dieser Qualität nicht. Viele Menschen haben an den Papieren mitgeschrieben, die man durchaus als Sprengladung für den Herbst 1989 ansehen kann. Ich wurde als Berater für das Thema Energie einbezogen. Als Fachmann für das Energiekapitel gehörte ich wenig später auch zu den 20 Gründern des Neuen Forums im September 1989. Damit begannen die wichtigsten Wochen meines Lebens. Wir haben bei dem ersten Treffen eine Seite Text verfasst und hatten uns für den 3. Dezember wieder verabredet. Dann hat sich alles überschlagen. Der harte Kern des Neuen Forums wollte einen Dialog mit den Regieren­ den, unser Ziel war es, bei den politischen Entscheidungen mitmachen zu können. Unser erstes Papier schien ziemlich harmlos, und dadurch haben wohl viele gewagt, uns zu kontaktieren. Rückblickend erscheint es ziemlich



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trickreich, die Diktatur des Proletariats und die führende Rolle der SED nicht zu thematisieren. Wir haben innerhalb von wenigen Wochen eine sechsstellige Zahl von Zuschriften erhalten. So viel Bereitschaft zur Verän­ derung konnten wir nicht auffangen, weil uns noch die Strukturen fehlten. Es war wirklich beeindruckend, wie ansteckend unser kleiner Text wirkte und wie schnell er von Hand zu Hand verbreitet wurde, ohne Fax, ohne Kopierer, ohne Computer, ohne Druckmaschinen, ohne Internet. Ohne dass es irgendein Untergrundzentralkomitee gab, das die Strippen zog. Das war toll zu beobachten, wie unser Text das Verhalten vieler Menschen in weni­ gen Tagen auf den Kopf gestellt hat. Auf einmal wurden zuvor gefürchtete Leute wie Honecker oder Mielke zu kleinen Männchen. Die Leute benah­ men sich von einem Tag auf den anderen so, als ob wir in einem freien Land lebten. Und dann war es ein freies Land! Angst hatten wir (fast) keine. Nur einmal habe ich kalte Füße bekommen, als der Innenminister in der „Aktuellen Kamera“ die Gründung des Neuen Forums als staatsfeindliche Gruppenbildung bezeichnete. Das war das ge­ fürchtete politische Strafrecht, das hieß Knast. Knast wollte ich nicht. Mei­ ne Frau und ich hatten beide das erste Papier unterschrieben, für uns war es also schon heikel. Ich habe deshalb eine Kiste mit wichtigen Büchern zusammengesammelt und im Safe der Sophienkirche untergebracht. Den Kindern haben wir gezeigt, wie die Waschmaschine funktioniert und wir haben Vollmachten für Freunde geschrieben, die sich um unsere Kinder kümmern sollten, falls wir eingesperrt würden. Das war bitter. Das war es dann aber auch. Es passierte uns nichts Ernsthaftes. Ansonsten war die Stimmung so fantastisch, dass ich keinen Gedanken an die Angst verschwendet habe. Das waren die freiesten Wochen meines Lebens. Wir haben normal gearbeitet. Aber abends war die Bude voll. In zwei Zimmern unserer Wohnung saßen 20, 30, manchmal 40 Leute und führten Gespräche, die ich nie vergessen werde. Da merkte man, dass viele dieser Menschen vorher noch nie offen geredet hatten. Wir hatten das Ge­ fühl, uns könne nichts passieren. Das spürte ich auch, als ich einmal von Bärbel Bohley kommend vor meiner Haustür in James Bond Manier gefan­ gengenommen wurde. Auf der Polizeiwache war ich nicht der Einzige. Wir konnten während der langen Verhöre sehen, dass in allen Fenstern auf der gegenüberliegenden Straßenseite Kerzen angezündet wurden. Sie ließen mich spät in der Nacht wieder laufen. Im Herbst habe ich dann alles gespielt, was man spielen konnte, im Neu­ en Forum, in Berlin am Runden Tisch, am Zentralen Runden Tisch. Zwi­ schendurch hatten wir das Gefühl, dass Modrows Rücktrittsgedanken im Dezember in eine schwer kalkulierbare Situation hätten führen können. Aus der Bezirksverwaltung der Stasi in Gera kursierte ein Aufruf, dass man

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diese Konterrevolution zurückbomben müsse. Viele Waffen waren noch im Umlauf, bei der NVA, den Kampfgruppen, bei der Stasi. Niemand wusste, wie die Sache ausgeht, und ob es nicht doch blutig endet. In der Zeit hatten wir deshalb tatsächlich kurz überlegt, ob wir die Re­ gierung übernehmen. Der SDP und dem Demokratischen Aufbruch wurde aus dem Westen jedoch geraten, sich nicht zu beteiligen, da das kein guter Start für eine politische Karriere sei. Also ließen wir uns auf den Kompro­ miss ein, dass jede Oppositionsgruppe einen zusätzlichen Minister für die bestehende Regierung unter Modrow stellen konnte. Vom Neuen Forum wollte das aber niemand so recht. Ich sagte: Na, Gott, ich würde es schon machen. Da war ich innerhalb von Minuten Minister für ein paar Wochen zwischen den Zeiten. Die Energiefrage war für mich das Motiv, denn in diesem Amt hatte ich Zugriff auf das Archiv des Ministerrates. Da gab es z. B. katastrophale Berichte über den Sicherheitszustand der Kernkraftwerke in der DDR, geschrieben von den Spitzenfachleuten der DDR, Berichte, die streng geheim waren, nie für eine Publikation geschrieben worden sind und deshalb eine hohe Glaubwürdigkeit besaßen. Im Auftrag des Zentralen Runden Tisches haben wir auf der Grundlage dieser Geheimberichte ein Gutachten über die Kernkraftwerke der DDR geschrieben und so vielleicht einen gewissen Anteil daran, dass sie so schnell geschlossen wurden. Das war ein guter Start. Die formale Entschei­ dung zur Stilllegung wurde allerdings nach meiner Ministerzeit gefällt, aber den Druck auf dem Kessel hab ich schon erhöht. Eigentlich wäre nach dem Grundgesetz nach der Wiedervereinigung auch eine neue Verfassung für Deutschland fällig gewesen. Es gab einen guten Entwurf für eine neue Verfassung vom Zentralen Runden Tisch, doch die letzte Volkskammer hat diesen Entwurf in den Papierkorb befördert und die Bundesrepublik hat sich über das Grundgesetz hinweggesetzt, so haben wir bis heute keine echte Verfassung. Der Vereinigungsprozess war für den harten Kern des Neuen Forums eine unheimlich ernüchternde Erfahrung. Es ist für uns praktisch eine Art Kolonialisierung gewesen. Wir hatten uns vorgestellt, dass wir die DDR erst einmal notdürftig in Ordnung bringen, bevor man über eine Wiedervereinigung spricht. Im Prinzip war die Sache aber schon mit dem Fall der Mauer entschieden. Innerhalb von Minuten ist es passiert, dass die Luft aus dieser umwerfenden emanzipatorischen Ge­ schichte der Wochen zuvor raus war. Die Leute interessierten sich auf ein­ mal nicht mehr für ein gescheites Bildungssystem, für das Gesundheitswe­ sen, für Pressefreiheit, sondern tatsächlich für die Bananen. Bis dahin fühlte man sich als Opposition sehr einig in der Kritik am DDR-System, doch dann gingen die Vorstellungen über die konkrete Zukunft radikal aus­ einander. Wir hatten die „Massenbasis“ verloren, ohne das wahrhaben zu



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wollen. Für solche Leute wie Gauck war die Geschichte mit der Wiederver­ einigung praktisch beendet, er ist am Ziel seiner Wünsche und hat keine weiteren Fragen mehr. Den Zustand hatte ich nie. Mir ist erst hinterher klargeworden, dass wir bis zum Sommer 1990 immer so taten, als ob wir an der Geschichte noch etwas drehen könnten. Viele der Probleme, die wir heute haben sind auf den missglückten Vereinigungsprozess zurückzuführen. Aber das ist nun gelaufen. Ich kann ja nichts daran ändern. Für mich wäre es wichtig, dass man heute die gleichen Maßstäbe, mit denen wir die DDR maßgenommen und kritisiert haben, ebenfalls für die Bundesrepublik anwendet. Viele haben sich jetzt eingerichtet und leben teilweise davon, die DDR zu kritisieren. Das kann man ja machen, aber wenn man dabei die Augen vor dem verschließt, was heute läuft, dann trennen sich die Wege. Ich habe das kuriose Problem, dass die Partei, die sich am ehesten so äußert, wie ich denke, die Linkspartei ist. Mit der habe ich nun andere Hühnchen zu rupfen. Mit den anderen Parteien ist aber gar nichts zu machen, das ist eine Soße. Ich empfinde einen wachsenden Zorn gegenüber dem herrschenden System, weil vieles von dem, was uns damals wichtig war und uns zusammengebracht hat, heute mit Füßen getreten wird. Wir haben uns zum Beispiel alle darüber aufgeregt, dass die Stasi Post und Telefon kontrolliert, aber gegenüber den heutigen Kontrollen des Internet und der Telefongespräche waren die Möglichkeiten der Stasi doch sehr begrenzt. Wir waren uns außerdem völlig einig, dass wir aus dem War­ schauer Pakt hinauswollen und sind natürlich davon ausgegangen, dass sich eine Mitgliedschaft in der NATO erübrigt. Mich ärgert unglaublich mit welcher Gleichgültigkeit man an allen möglichen Ecken der Welt heute in kriegerische Geschichten reingeht. Auch dabei ist die Linke die einzige Partei, die sich kritisch dazu verhält. Seit der Vereinigung beschäftige ich mich auch viel mit der amerikani­ schen Geschichte. Was die CIA an Mordgeschichten angerichtet hat, das muss in die Schulen. Es ist kaum bekannt, und teilweise ist es so schwer, an genauere Informationen zu kommen, wie in der DDR an Solschenizyn. Es regt kaum jemanden auf, wie man mit fadenscheinigen Vorwänden Län­ der angreift, um an Energieressourcen ranzukommen. Wo bleiben denn da die westlichen Werte? Dagegen kommt mir das, was die Russen nach dem Zerfall der Sowjetunion praktiziert haben und noch praktizieren fast kind­ lich vor. Immer wird es so dargestellt, dass der Zusammenbruch des Ostblocks und der DDR bewiesen hätte, dass das andere System das überlegene ist. Doch jetzt erleben wir, dass dieses andere System kurz vor dem Kollaps steht. Die Reklametafeln „Wachstum“ und „Wettbewerb“ stellen sich doch als völlig hohle Phrasen heraus, die den Leuten die Hirne verkleistern. Da­

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hinter steckt das Weltbild, dass man mit Geld alle Dinge vernünftig messen kann und möglichst hoher Profit das wichtigste Ziel jeglichen Handelns ist. Ich halte das für armselig, grundfalsch und für eine Wurzelerkrankung un­ serer Gesellschaft. Ich habe aber keine Idee, wie man das ändert. Wenn man allerdings einmal so einen Zusammenbruch wie 1989 erlebt hat, hält man es nicht für ausgeschlossen, dass so etwas nochmal passiert. Ich könnte heute aus dem Stand mehr und wahrscheinlich gravierendere Punkte als damals aufzählen, die für eine Revolution sprächen. Faktisch haben wir es heute wieder mit einer Diktatur von ganz wenigen Leuten zu tun, immer öfter habe ich den Eindruck, das kommt dir aber irgendwie bekannt vor. Doch vermutlich erleben wir eine Revolution nicht noch einmal ohne Blut. Wenn man heute in der Demokratie nicht das Maul aufmacht, empfinde ich es als viel peinlicher, als in der DDR, in der Diktatur, geschwiegen zu haben. Als Professor zum Beispiel hat man die Aufgabe die Wahrheit zu bekennen, es ist ein verbreitetes Missverständnis unter Professoren, dass das Wort „Professor“ etwas mit dem Wort „Profit“ zu tun hat. Wenn es vor Gericht um die Anerkennung von Berufskrankheiten aus dem Uranabbau in der DDR, „Wismut“, geht, trifft man auf solche Professoren und Gutachter. Nach 1990 sind 12 000 Anträge von Wismut-Arbeitern auf Anerkennung abgelehnt worden, 1200 haben dagegen geklagt, von denen haben 60 Recht bekommen. Die willigen Professoren bescheinigen typischerweise, dass es im vorliegenden Fall keinen Zusammenhang von Krebs und Uranabbau gibt. Das ist dermaßen widerlich, aber das ganze System der Bürokratie um die Anerkennung von Berufskrankheiten ist so gestaltet, dass möglichst viele Anträge abgelehnt werden können, das spart einfach viel Geld. Nicht nur Medizinprofessoren, sondern auch Heere von Juristen spielen dieses miese Spiel auf Kosten gesundheitlich schwer geschädigter Menschen. Das Recht wird so deutlich gebogen, die Fakten so deutlich verdreht. Wenn so etwas unter demokratischen Verhältnissen geschieht, empört mich das mehr, als wenn erkrankte Menschen in einer Diktatur im Stich gelassen werden. Im Falle des Uranbergbaus in der DDR ging es immerhin um Uran für russische Atombomben und für Kernkraftwerke – die damals als Beleg für den wirtschaftlichen Fortschritt angesehen wurden. Heute geht es nur dar­ um, dass für diese Leute einfach kein Geld ausgeben werden soll. Dafür ist jedes Mittel recht. Wegen solcher praktischen Erfahrungen ist mein Glaube an so einen wichtigen Pfeiler der Demokratie wie die Rechtsstaatlichkeit unter Null seit ich gesamtdeutsch bin. In der DDR war es klar, womit man es zu tun hatte und welche Interessen vertreten wurden. Nur jetzt wird ja so getan, als ob wir heute in einer Demokratie lebten. Ich persönlich habe mir bis heute den Luxus geleistet, mich möglichst wenig anzupassen und das anzugreifen, was mich stört. Es macht unbe­



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dingt Sinn, das zu machen, was man für richtig hält, auch wenn die Aus­ sichten auf Erfolg schlecht sind. Natürlich kann ich das aber nur machen, weil meine liebe Frau mich finanziert. Bis 1990 ging ich in der Akademie einem normalen bürgerlichen Beruf nach, habe danach fünf Jahre die Po­ litikspielchen im Berliner Rathaus gespielt und seitdem keinen normalen, bezahlten Beruf mehr ausgeübt. Ich habe diese Freiheit genutzt, die Prob­ leme der Kernenergienutzung zu studieren und Recherchen in Gebieten zu unternehmen, in denen die Bevölkerung mit den Folgen der Atomwaffen­ tests, nuklearer Katastrophen oder des Uranbergbaus zu kämpfen hat. Die geschädigten Bürger zu unterstützen und die schwierigen Themen des Strahlenschutzes, der Strahlenwirkungen, des Katastrophenschutzes so zu vermitteln, dass normale Bürger begreifen können, um was es geht, das habe ich über viele Jahre versucht. Wenn mich der Frust an den Zuständen zu ersticken droht, kann ich mich in die Welt von Johann Sebastian Bach zurückziehen, die mir meine Eltern eröffnet haben. Dort bin ich vor Ver­ folgung sicher und kann auftanken.

Wort des Jahrhunderts? Ungerechtigkeit

Peter May * 5. Dezember 1948 Nach meinem Studium hatte ich die Vorstellung, nun mit dem „Marsch durch die Institutionen“ zu beginnen und damit endlich eine revolutionäre Entwicklung auch außerhalb der Uni voranzubringen. Als aktives Mitglied der DKP wollte ich als Schulpsychologe die studentische Politik in der Schule fortsetzen. Schon bald merkte ich allerdings, dass ich mich nun in einer anderen, verantwortungsvollen Rolle befand. Ich musste mich mit Eltern und Schülern auseinandersetzen und konnte nicht einfach machen, was ich wollte. Da ich zwar immer sehr links, aber von der Erscheinungs­ form her eher geordnet, kein Farbbeutel- und Steinewerfer gewesen bin, war ich insofern prädestiniert für ein geordnetes, ja quasi bürgerliches Leben. So wurde auch ich ein ganz normaler Werktätiger. Mit der DKP bin ich im Rahmen organisierter Diskussionen auch ein paar Mal in die DDR gefahren. Wahrscheinlich diskutierten wir damals mit gut geschulten Politoffizieren, jedenfalls argumentierten sie so geschickt, dass ich die DDR noch bis in die 80er Jahre als einen legitimen Versuch betrach­ tete, ein sozialistisches Regime als konsequente Antwort auf den Nazismus zu errichten. Der Kapitalismus galt uns westdeutschen Kommunisten zwar individuell durchaus als lebbar, war aber als Modell nicht akzeptabel, zu viele Verbrechen und Kriege wurden in seinem Namen geführt. Die DDR, die nie aktiv Krieg geführt hatte, galt uns per se als gut. Für ihre Anerken­ nung konnte man bei uns Linken problemlos Unterschriften sammeln, nicht aber für weitergehende Forderungen. Und auch ich fragte mich, wie und ob ich dort hätte leben können. Denn trotz meiner Revolte war ich westlich sozialisiert, die Selbstbestimmtheit, auch das Schichtspezifische, dass ich mir etwas mehr leisten konnte als andere, gehörte dazu. Die Gleichmacherei der DDR wirkte also nicht wirklich attraktiv auf mich. Die DDR war in meinem Denken eher ein abstraktes System, ich recht­ fertigte die Mauer und den rabiaten Umgang mit den Menschen dort als antiimperialistische Maßnahme. Ich übertrug das Muster früherer Revoluti­ onen auf die DDR: Die Revolutionäre müssen zeitweise auch das Recht haben, Gewalt anzuwenden und unpopuläre Maßnahmen zu treffen, damit es dann alle besser haben. Meiner Meinung nach ist der DDR-Staat nicht in erster Linie politisch gescheitert, sondern ökonomisch. Reagans Aufrüstung



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war nichts anderes als der kluge Schachzug, die Sowjetunion und ihre Ver­ bündeten totzurüsten, sie zu zwingen, immer weiter nachzurüsten, wohl wissend, dass sie es sich irgendwann nicht mehr leisten können. Als die Wiedervereinigung kam, fand ich den Vorschlag von Micha Brumlik, eines linken Erziehungswissenschaftlers und Publizisten, zur Gründung einer Partei mit dem Namen „Wir wollen die DDR nicht haben“ überzeugend. Das war natürlich ein satirischer, aber auch durchaus ernsthaf­ ter Ansatz. Ich fand es als Linker nicht richtig, dass man die DDR okku­ pierte, und hätte das Schweizer Modell einer Bundesvereinigung bevorzugt. Denn ich ahnte, dass auch die unbestreitbaren Errungenschaften der DDR im Bildungs- und Gesundheitswesen, erst einmal außer Kraft gesetzt werden würden. Der Preis der Wiedervereinigung war sehr hoch, im Bewusstsein vieler DDR-Bürger ist auf einmal alles umsonst gewesen, wurde alles Vor­ herige von der Bundesrepublik als falsch bezeichnet und nichts übernom­ men. Das war entwürdigend und unproduktiv – im Sinne der Systemtheorie allerdings vermutlich unvermeidlich. Mittlerweile bin ich ein überzeugter Demokrat, wenngleich ich mir noch immer eine sozialistische Welt als bessere Alternative vorstellen kann. Der 68er steckt noch in mir. Beim Kosovokrieg habe ich es deutlich gespürt: Vom Kopf her lasse ich andere Argumente zu, aber vom Gefühl würde ich immer noch sagen, es war und ist verboten, dort mit NATO-Truppen einzu­ greifen. Mit meinen Kindern bin ich stets auf Demos gegangen und Polizis­ ten sind für mich noch heute ein Stück weit „Bullen“. Natürlich betrachtet man die Dinge facettenreicher, wenn man erst einmal verschiedene Rollen hat und nicht nur Teil der Studentenbewegung ist. Ich hatte nach dieser revoltierenden Phase der 68er zum Glück auch noch die Gelegenheit, mich mit meinem Vater richtig auszutauschen. Ich begriff, dass ich in die 68er Entwicklung ungefähr im selben Alter reingekommen bin, wie er in den Krieg. Ich erlebte alle Turbulenzen vielleicht ebenso wie er als eine Art Abenteuer, das allerdings nicht so bedrohlich wie der Krieg war. Wahrscheinlich hatte mein Vater das alles nicht richtig verarbeitet, auch nicht verarbeiten können, weil ihm der Gesprächspartner fehlte. Wäh­ rend 1968 meistens als Sieg gegen die bürgerliche Verkrustung gefeiert wird, wurde die Nazizeit immer negativ interpretiert, nie konnte die Gene­ ration irgendeine Anerkennung bekommen für das, was sie getan hat. Wenn ich heute meinen Kindern oder Enkeln von einer Demo nach Benno Oh­ nesorgs Tod oder von einer Besetzung erzähle, dann klopfen sie mir auf die Schulter. Wenn mein Vater von einem Gefecht im Zweiten Weltkrieg in Norwegen erzählt hätte, bei dem er sich gut geschlagen hat, wären kritische Nachfragen gekommen, warum er nichts dagegen unternommen hat. Mit dieser Erkenntnis und Einsicht konnte ich ihm nach und nach besser zuhö­

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III. Reife

ren und verstand seine emotionale Not. Vielleicht ist es ein Kennzeichen unserer Vätergeneration, dass sie nicht in der Lage war, ihre Erfahrungen selbstkritisch und selbstreflektiert an ihre Kinder weiterzugeben. Das war erst viel später möglich. Mein Bestreben war immer, ein kleiner Teil einer Bewegung zu sein, die die Lage der Welt ein bisschen verbessert. Dazu muss ich kein großes Licht sein, aber mein Motto sollte gemäß dem klassischen Spruch aus dem Latei­ nischen lauten: „Mehr sein als scheinen“. In diesem Sinne schäme ich mich auch für nichts, was ich damals getan habe, wenngleich auch viel Unsinn dabei war.

Wort des Jahrhunderts? Zerrissenheit

Gudrun Polak * 11.9.1953 in Bischofswerda Die Schwangerschaft war schön. Der Vater fuhr weiter zur See und ich bekam eine Stelle im Büro der Rostocker Reederei. Am Schreibtisch wurde mir aber bald so langweilig, dass ich mich nach etwas anderem umgesehen habe. Ich wollte, so gut es an Land eben ging, mit der Welt in Kontakt bleiben. Also habe ich mich im Hotel Neptun in Warnemünde als Patissier beworben. Das wäre was gewesen. Aber noch bevor ich eine Antwort er­ hielt, wurde mein Vater so krank, dass er unsere Schmöllner Bäckerei nicht weiterführen konnte. Ich wollte nicht zurück, aber irgendjemand musste einspringen. Ich hatte meinen Eltern immer versprochen, ich komme wieder. Die konnte ich nicht alleine lassen, sie hatten doch immer voll auf mich gesetzt. Also bin ich wieder in der Oberlausitz gelandet. Meine Beziehung ist erstmal nicht daran kaputt gegangen. Wir hatten sogar schon Pläne für ein eigenes Haus an der Ostsee. Aber als die Gemein­ de kam und fragte, ob ich nicht die Bäckerei übernehmen wolle, hat mein Freund gesagt, wenn du das machst, geht es mit uns nicht gut. Es ging dann auch tatsächlich nicht gut. 1984 habe ich die Bäckerei endgültig übernom­ men. Aber dass das eine Lebensentscheidung war, wurde mir erst später klar. Das war schon ein ganz schöner Schlag, von Panama nach Schmölln. Anfangs kam ich mir wieder so primitiv vor, litt unter Fernweh und hatte niemanden, der mich richtig verstand. Bei der Gewerbegenehmigung habe ich die Auflage gekriegt, innerhalb von zwei Jahren meinen Meister zu machen. Gut Gudrun, sagte ich mir, dann wirst du jetzt auch Meister. Das erste Jahr des Meisterstudiums war handwerklich für die Katz. Nur Theorie, Marxismus-Leninismus, Pädago­ gik, dann noch alle Gewerke zusammen, völliger Blödsinn. Drei Tage die Woche musstest du dir das anhören und deine Zeit opfern. Aber: Durchge­ standen, mitgemacht, musste ja sein. Im zweiten Jahr ging es endlich ums Praktische. Dafür musste ich mir einen Mentor suchen. Aber finde mal hier in der Gegend einen Konditor­ meister. In Bischofswerda keiner, der einzige in Bautzen viel zu alt. Schließlich bin ich in Sebnitz fündig geworden. Aber das war so weit weg, dass ich ein Auto brauchte.

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III. Reife

Gott sei Dank lief seit zehn Jahren meine Anmeldung für einen Wartburg. Eines Tages wurde ich endlich nach Dresden bestellt. Da saßen ganz viele Leute, die nacheinander aufgerufen wurden. Das Auto, das mich erwartete, hatte ich nicht bestellt, der Wartburg war feuerrot. Den wollte ich nicht, der war für mich ein richtig rotes Tuch. An der Seite war Lack abgeblättert, aber praktisch wie die DDR war, stand schon eine Büchse Lack auf dem Beifahrersitz, damit ich meinen Neuwagen selbständig ausbessern konnte. Ich wollte dieses Auto partout nicht, aber noch einmal zehn Jahre warten? Der Verkäufer ließ mir eine halbe Stunde Bedenkzeit. Nach meiner aberma­ ligen Ablehnung druckste er so rum: „Naja, was machen wir da bloß? Naja, vielleicht kann ich ja was machen.“ Das ging eine ganze Weile Hin und Her, bis mich mein Nachbar in die Seite knuffte und sagte, Mensch, gib ihm einen Hunderter. So wurden aus weiteren zehn Jahren 14 Tage und ich bekam ein weißes Auto. Das war typisch. Ob du einen Kühlschrank, eine Außenlampe, eine Weihnachtspyramide aus dem Erzgebirge oder sonst ir­ gendeine Extravaganz wolltest, du musstest immer schmieren. Am 30. September 1989 sollte der erste Zug mit Flüchtlingen aus der Prager Botschaft durch den Dresdner Hauptbahnhof rollen. Meine Mutter war gerade in Berlin. Ich konnte sie überreden, einen Tag früher zu kom­ men, so hatte ich einen triftigen Grund nach Dresden zu fahren und sie abzuholen. Es war schon kalt. Alles war weiträumig abgeriegelt, niemand sollte in die Nähe des Zuges kommen können. Als ich mit meinem Wart­ burg zum Hauptbahnhof kam, musste ich erst einmal an mehreren Kontroll­ posten vorbei. Es wimmelte nur so von Bereitschaftspolizei und Demonst­ ranten. Als Erstes wurde meine Nummer aufgeschrieben, dann ging es ganz heftig los, da flogen die Pflastersteine gegen die Polizisten, es rollten Lastwagen an, auf die die Leute massenweise drauf geschmissen wurden, richtig geschmissen. So schlimm, wie es dort wirklich war, ist es nirgends berichtet worden, auch später nicht. Kurz vor dem Prager Zug kam der Zug aus Berlin. Wir haben uns zusammen rausgekämpft. Wenn ich alleine gewe­ sen wäre, dann wäre ich vielleicht geblieben, aber es war gut so. Ein paar Tage später saß ich mit meiner Mutter gerade beim Frühstück, als im Radio von der nächsten Demonstration in Dresden berichtet wurde. Ich sagte, da fahre ich hin. Sie wollte mich abhalten, das kannste doch nicht machen. Aber ich konnte und wollte. Bei dieser Demo wurde die „Gruppe der 20“ gegründet. Nach einem Gottesdienst in der Kreuzkirche sind wir zum Rathaus marschiert. Überall schwerbewaffnete Polizei, Hubschrauber kreisten über uns, auf einmal hörten wir lautes Rattern und Quietschen, Panzer fuhren auf. Alle miteinander hatten wir Angst, aber mit unseren Kerzen in der Hand zogen wir weiter, am Kulturpalast vorbei zum Theater­ platz und bis zur Brücke. Wir hatten uns untergehakt und nicht aufgehört zu rufen: „Wir sind das Volk!“ Das war ergreifend.



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Dann kam der 9. November. Ich wollte gerade schlafen gehen, da rief meine Schwester aus Berlin an und sagte, sie sei gerade auf’m Ku’damm und liefe jetzt zur Gedächtniskirche. Ich dachte, die ist völlig besoffen, bis ich begriff, was da vor sich ging. Gleich am nächsten Morgen bin ich selbst ins Auto gestiegen und nach Berlin gefahren. Das war ganz komisch dort. Da standen die Leute vor dem Grenzübergang, alles ruhig, die Tore einfach offen, aber alle zögerten raus­ zugehen, die trauten sich nicht. Der Käfig war offen, aber viele hatten Angst, dass sie nicht wieder zurück gelassen würden. Ich bin einfach durch­ marschiert, wollte doch bloß gucken. Ein paar Tage später habe ich dann meinen Sohn Lars mitgenommen. Das war alles so unwahr damals und aufregend und schön. Ich wünsche mir die DDR nicht zurück. Jetzt gibt’s auch Probleme, aber ganz andere. Meine größte Enttäuschung nach der Wende war die Schule. Das ganze neue Bildungssystem fand ich unmöglich, diese Zergliederung und dass kaum noch auf Allgemeinbildung geachtet wurde. Besonders ko­ misch aber fand ich unsere Lehrer, sie waren geblieben, spielten aber auf einmal eine ganz neue Platte, redeten von einem Tag auf den anderen völlig anders. Mein Sohn ist vorher noch öffentlich verhöhnt worden, weil er in die Christenlehre ging. Davon war nun keine Rede mehr. Nach langer Bet­ telei hatte ich ihm einige Jahre zuvor erlaubt, Pionier zu werden. An einem der Pioniernachmittage sollte er mit den anderen Kindern im Wald Kastani­ en sammeln gehen. Ich gab ihm eine Plastiktüte mit, griff einfach irgendei­ ne. Eine halbe Stunde später stand er wieder vor der Tür, nach Hause ge­ schickt, weil es eine West-Plastiktüte war. Nun standen diese Plastiktüten hoch im Kurs, da gab es eine Menge Wendehälse im Dorf. Mein zuständiger Mitarbeiter von „Horch und Guck“ hieß Herr Montag. Ich lernte ihn erst als Autor meiner Stasi-Akte kennen. Man hat die Stasi ja selten direkt wahrgenommen, sich aber immer wieder wundern dürfen: Wieso wissen die das jetzt? Ich will gar nicht wissen, wer das ist, allein schon, weil er ziemlich dumme belanglose Sachen aufgeschrieben hat. Er dokumentierte, dass ich kein besonders ausgeprägtes Interesse an Männern zu haben scheine und dem Alkohol nicht verfallen wäre. Ein immerwähren­ des Rätsel blieb ihm, warum gerade ich zur Reederei gekommen bin. Jeden­ falls ist Herr Montag zu dem Schluss gekommen, ich sei zu nichts zu ge­ brauchen. Es galt ja schon als Verleumdung des Staates, dass ich mich da­ rüber geäußert habe, wie es auf Kuba und in Vietnam wirklich aussieht. Zur Wende dachte ich, jetzt ist Schluss, jetzt verkaufe ich alles und fange ganz neu an, gehe vielleicht in die alten Bundesländer, das hätte ich gerne gemacht. Aber ich konnte meine krebskranke Mutter nicht alleine lassen, Lars war noch in der Schule und viel stärker verwurzelt als ich. So war das

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III. Reife

mit der Träumerei bald wieder erledigt. Mitte der 90er Jahre habe ich viel investiert, moderne Backöfen und Knetmaschinen gekauft, den Verkaufs­ raum vergrößert und renoviert. Mit meiner endgültigen Entscheidung für Schmölln habe ich beschlossen, die Welt nur noch lokal zu verändern. Ich bin mit meinem Freund Dr. Knoll in die CDU eingetreten, saß im Gemein­ derat, habe mich im Förderverein zur Herrichtung unseres kleinen Schlosses engagiert und bin seit vielen Jahren Mitglied im Kirchenvorstand. Naja, viel verändert haben wir nicht. Aber ein bisschen was. Gleich 1990 stand Micha aus Amsterdam auf einmal vor der Tür. Er wollte noch einmal sein Elternhaus sehen. Heute bereue ich, dass ich nicht bei ihm in Holland geblieben bin. Was wäre wohl aus mir geworden? Als ich später einmal sehr traurig war, hat mein Vater zu mir gesagt, du hättest doch bleiben können, ich hätte mich schon gekümmert. Aber so, wie es gekommen ist, hat­ te es doch auch sein Gutes. Ich habe meine Eltern nie im Stich gelassen. Eigentlich bin ich ein bisschen anders als die Leute hier. Ich könnte mir noch heute vorstellen, hier alles zu verkaufen und woanders hinzugehen. Dann geh ich nach Nassau, in die Karibik.

Wort des Jahrhunderts: Chaotisch

Epilog: Vom Beben und Nachbeben Hildegard Juhl war ein auffälliger Reisegast. Im Sommer 2009 fuhren wir auf dem Rad durch das ehemalige Ostpreußen, die Professorin als Teilneh­ merin, der Student als Reiseleiter. Damals war Hildegard Juhl 83, ich 25 Jahre alt. Sie fuhr ängstlich und unsicher auf dem Rad, mied den Kontakt mit anderen, badete wann immer und so lange es ging in der Ostsee und pflegte alle Reisetage mit Wodka abzuschließen. Als ich eine Geschichte vom Ertrinken vorlas, begann sie zu weinen. Am Abend nahm sie mich zur Seite und erklärte, nicht ohne Vorwurf, dass sie weinen musste, weil die Geschichte vom Ertrinken sie an ihre Mutter, ihre Schwester und ihren kleinen Bruder erinnert habe, dass sie Wodka trinke, um nachts nicht heimgesucht zu werden, dass sie deshalb baden gehe, weil sie in der weiten Ostsee ihre Toten besuche, und dass sie nicht mit den anderen spreche, weil die doch gar nicht sehen, gar nicht verstehen könnten, was sie sehe. „Gustloff“. Seit meiner Kindheit kenne ich dieses Wort und weiß, dass meine Urgroßmutter Hertha nicht mehr an Bord gelassen wurde. Tante Bri­ gitte war damals vier, Onkel Kurt neun Jahre alt. Sie seien schon an Deck gewesen, als sich ihrer Mutter ein Soldat in den Weg gestellt habe: „Stopp!“ Das war die Rettung. Hildegard Juhls Familie hat es geschafft an Bord zu kommen. „Nacht fiel über Gotenhafen“ hieß ein Lieblingsfilm meiner Kind­ heit. Untergehende Schiffe, Titanic oder Gustloff, faszinierten mich damals. Im Sommer 2009 hakte die Begegnung mit Hildegard Juhl in diese frühe, chiffrierte, beinahe vergessene Prägung ein, ohne, dass ich mir damals über die Tragweite im Klaren war. Seitdem hat mich Hildegard Juhl nicht mehr losgelassen. In den Weih­ nachtsferien fiel sie mir beim Pfefferkuchen-Backen wieder ein. Ich hatte sie im Sommer nach ihrem Lieblingsessen aus der Danziger Kindheit ge­ fragt und eine schroffe Abfuhr bekommen. Zu nah damals. Heute weiß ich, dass es Linsensuppe war und Blaubeeren zum Nachtisch. Mit Pfefferkuchen und mehr Zeit betrat ich wenige Tage später zum zweiten Mal ihre Welt. Die Reiseeindrücke hat sie sich von der Seele schreiben müssen, auf der Schreibmaschine ordnend zu bändigen versucht, was sie gerade zur Weih­ nachtszeit bedrängt. Das Schreiben ist ungefährlich. Es gibt keine enttäu­ schende Reaktion des Gegenübers. Aber darüber sprechen? Ich wage es nicht, meine Geschichte zu erzählen, die Leute wissen nie, wie sie reagieren

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Epilog: Vom Beben und Nachbeben

sollen, ich komme ihnen zu nahe. Kaum jemandem erzählt sie ihre Ge­ schichte, damals nicht und heute erst recht nicht. Sie hat Angst vor der Reaktion, vor hilflosen Plattitüden, die ihrem Schmerz nicht gerecht werden können. So hat es gedauert, bis sie so viel Vertrauen hatte, dass sie erzählen konnte: Ich habe mich entschieden. Warum? Weil meine Neugier anfangs unbedacht und leichtsinnig war? Weil sich unsere Themen in diesem Schiff verbinden? Zwei Jahre später ist wieder Weihnachtszeit. Sie erzählt langsam, sto­ ckend, macht lange Pausen, sucht Worte, tastet sich heran und ist auf einmal gegenwärtig in der Situation, von der sie erzählt. Jetzt erlebt sie sich mitten in ihrer Danziger Kindheit, ihre Stimme verändert sich, erreicht große Hö­ hen, fliegt in der Breite östlichen Zungenschlages glücklich von Episode zu Episode: Frische Flunderchen, Madamchen! Sie lacht, ganz stolz und schwerelos. Doch je weiter die Erzählung auf ihre Lebenskatastrophe zu­ steuert, desto zögerlicher erzählt sie. Sie will tapfer sein: Ich habe mich entschieden! Dass die Schrecken der Vergangenheit im Erzählen lebendig werden und sich nicht mehr bewältigen lassen, muss sie nach jeder unserer Begegnungen aufs Neue erfahren. Die Erzählung hat das, was sie mühsam versucht unter Verschluss zu halten, unerträglich stark in die Gegenwart geholt. Glück und Schmerz liegen ganz nah beieinander. So nah, dass sie nach jeder Begegnung nächtelang wachliegt, gegen die anstürmende Bilder­ flut ankämpft, und trotzdem plötzlich alle wieder da sind. Mutter, Deike, Hans, das schöne Schiff! Sie kommen zu ihr ans Bett und die Zeit hat die Wunde nicht geheilt. Hildegard Juhls Mutter Erna, ihre Schwester Deike und ihr kleiner Bruder Hans waren drei von mehr als 9.000, die mit der „Wilhelm Gustloff“ am 30. Januar 1945 untergingen und in der Ostsee ertranken: Neuntausend. Oder sagen wir lieber Zehntausend? Wir dürfen niemanden vergessen, und dann die Shoa-Toten. Im April 2015 ist sie nicht einverstanden mit der Zahl der Toten, überhaupt mit diesen abstrakten Zahlen, die die Würde jedes einzelnen Lebens überspielen. Gleich assoziiert sie die ermordeten Men­ schen des Holocaust, niemanden vergessen, nicht Mutter und erst recht nicht jene, an deren Schicksal sie sich mitschuldig fühlt. Mutter fällt mir als erstes ein, wie sie zu mir gesagt hat, ich sei doch schon groß. Da war ich sechs Jahre alt. Mutter ist Hildegards Antwort auf die Frage nach der ersten Erinnerung. Mutter ist Dreh- und Angelpunkt ihrer ganzen Lebenserzählung. Diese erste Erinnerung ist symbolisch, denn Mutter taucht nicht nur immer wieder auf, sie nimmt in Hildegards Erzäh­ lung auch eine ganz bestimmte Rolle ein, die schon in der ersten Erinnerung benannt ist: Mutter ist die „handelnde Auftraggeberin“, die zu ihrem erst sechsjährigen Kind sagt, es sei doch schon groß. Hier macht Hildegard



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Juhls Mutter ihrer Tochter Mut in einer vielleicht alltäglichen Kindheitssi­ tuation, die Hildegard deshalb erinnert, weil sie nach dem Verlust der Mut­ ter ihr ganzes Leben lang groß, erwachsen sein musste und nicht mehr Kind sein durfte. Hildegard Juhl verdeutlicht sich erzählend, gewinnt Kontur im Kontrast zu ihrer Mutter. Tritt Mutter als starke, richtungsweisende Entscheiderin auf, charakterisiert Hildegard sich selbst als leichtfertig, unüberlegt und töricht. Das beginnt schon in der Erinnerung an Kinderstreiche. Mutter hatte von einer Konzertreise zum Reichsparteitag ihren Kindern im CelloKoffer ein Luftgewehr nach Danzig geschmuggelt: Mit unserem Luftgewehr habe ich einmal einen Spatz geschossen, der unter dem Dachvorsprung unserer Mansardenwohnung in Zoppot wohnte. Er fiel runter und ich war noch stolz. Als ich den Spatz aber in der Hand hatte, tat er mir unendlich leid. Ach, wenn ich ihn doch bloß wieder lebendig machen könnte! Ich bin mit ihm rauf zu Mutter, die sagte, wenn du ihn geschossen hast, dann musst du ihn auch essen. Sie hat ihn gerupft, mit einem Teelöffelstil ausgenommen und gekocht. Mutter hat es sehr, sehr schön und liebevoll gemacht und ihn auch gut gewürzt. Hildegard erzählt sich als Täter. Mutter hingegen kann den Spatz zwar nicht wieder lebendig machen, dem Tod durch die Zubereitung zu einem Essen aber einen Sinn geben und so Hildegards Torheit korrigieren: Ich schäme mich, dass ich ihn schießen wollte. Dieses Nazimilieu. Nazimilieu. Denn im Grunde hat Mutter sich geirrt. Wie so viele andere verband sie ihre spätromantischen Wandervogelideen, naturverbunden, musikalisch und nationalistisch, mit Hoffnungen auf soziale Besserstellung im nationalsozi­ alistischen Staat. Als es nicht mehr opportun war, hat Mutter Hildegard verboten, mit ihrer Freundin Bärbel zu spielen, deren Vater Doktor Zitron Jude gewesen ist. Die Freundschaft der Mädchen war von Mutter zuvor noch gefördert worden, das waren ja reiche Leute. […] Später in Zoppot haben sie [Hildegards Eltern] mal die Esperanto-Eiche umgesägt. Heute steht da ein Gedenkstein. Großmutter hat gesagt, man braucht das doch nicht absägen. Da muss man nur immerzu an die Wurzeln pinkeln, dann geht der Baum ein. Den Esperanto Weg besuche ich heute noch immer. Weil sie selbst immerzu an diese Wurzel pinkeln muss, droht Hildegard perma­ nent einzugehen. Hildegard verteidigt sich dagegen, besucht nicht nur den Esperanto Weg in Danzig, sondern auch den Garten der Zitrons, wo Bärbels Schaukel gestanden hat. Heute ist sie Teil der jüdischen Gemeinde. Hilde­ gard tut Buße für Mutters Irrtum, den sie als ihren Irrtum versteht: Wir hatten bloß eine ganz kleine Hakenkreuzfahne und unser Führerbildnis war eine Postkarte, das war mir peinlich, ich habe mich geschämt, aber Mutter sagte, das reicht.

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Epilog: Vom Beben und Nachbeben

Mutters Versagen rechtfertigt und verkleinert Hildegard mit opportunisti­ schen Motiven, damit Mutter ihre Rolle als starke und weise Beschützerin in allen bedrohlichen Situationen des Lebens behalten kann. Mutter gibt Orientierung: Im Sommer 1944 ist Hildegard im „Reichsarbeitsdienst“ in einem Dorf des so genannten „Warthegaus“47. Dort erlebt sie, wie SS-Offi­ ziere ein polnisches Kloster schänden: Wenn meine Führerin SS-Offiziere zu Besuch hatte, dann amüsierten sie sich und schossen auf die Figuren in der Kirche, am liebsten auf das Herz Jesu. Sie erkennt das Unrecht: Aber aufgelehnt habe ich mich gegen diese Verbrechen nicht. Ich dachte, wenn ich hier nicht heil rauskomme, darf ich nicht studieren. Andere Sorgen hatte ich nicht! Bitter und höhnisch klingt die ironische Selbstanklage. Ganz anders dagegen Mutter, die wenige Wochen später im Lager auftaucht, als die ers­ ten Flüchtlinge aus dem Memelland die nahende Rückkehr der Kriegsfront ankündigen. Dann ist Mutter zu Besuch gekommen, um mir zu erklären, wie ich ohne Karte und Kompass die richtige Himmelsrichtung finde, woran ich erkenne, dass Westen ist. Ohne Karte und Kompass, ohne die Sicherheit gebende Mutter, die richtige Himmelsrichtung, den rechten Weg im Leben zu finden, ist auch nach der Katastrophe Hildegards Aufgabe geblieben. Die Gegenüberstellung ,entscheidungsstarke, richtungsweisende Mutter‘ und ,schuldhaft handelnde Tochter‘ durchzieht die Erzählung wie ein Leit­ motiv, vielleicht am deutlichsten in der Begründung der Katastrophe selbst: Es ist der 29. Januar 1945. Mutter dreht sich am Anfang des Fluchtweges von Zoppot nach „Gotenhafen“ noch einmal und wie vorausschauend nach dem Haus glücklicherer Tage um. Hildegard findet das nur kitschig und betont es heute so, als habe sie Mutter schweres Unrecht getan. Jedes Mal, wenn sie später nach Danzig gefahren ist, stand sie selbst vor dem Zoppo­ ter Haus und hat sich zum Abschied umgesehen, so als wolle sie ihre „Dummheit“ wieder gutmachen. Dieser selbstverachtende Zug bleibt der Fluchterzählung erhalten. Der Bahnsteig am Zoppoter Bahnhof war völlig überfüllt, in den ersten Zug sind wir nicht reingekommen. Irgendwie haben wir es dann geschafft, uns in den nächsten zu quetschen. Kaum waren wir drin, wollten andere auch noch rein, aber ich fand, der Zug wäre jetzt voll. Ich selbst wollte unbedingt rein, danach aber niemanden mehr reinlassen. Ich erzähle, um mich zu verteidigen. Aber gegen wen? Vielleicht ist die Erzählung ein Hilfsgesuch, eine Verteidigung gegen die ständigen Selbstan­ klagen und Versagensbezeugungen, die auf ein einziges existentielles Schuldgefühl zurückzuführen sind: Hildegard Juhl fühlt sich schuldig am Tod ihrer Familie, daran, überlebt zu haben. Sie habe für die Torpedover­ 47  Die historische Landschaft „Großpolen“ mit der Stadt Posen wurde 1939 vom Deutschen Reich annektiert und als „Reichsgau Wartheland“ dem Deutschen Reich angegliedert.



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suchsanstalt (TVA) Torpedokurse und Torpedogeschwindigkeiten berechnet. Sie habe von der TVA Schiffskarten für die Gustloff besorgt. Sie war es, die die Seekiste mit dem spärlichen Gepäck an Bord gehievt habe. Sie war es schließlich auch, die sich groß und erwachsen vorgekommen sei, als ihre Mutter sich auf der Gangway noch einmal umdrehte und rief: Warum kommst du denn nur nicht mit? Warum ist sie nur nicht mitgekommen? Diese Frage stellt sich Hildegard Juhl bis heute. Sie empfindet das Überleben als Strafe. Gerechter und wei­ ser wäre es gewesen mitzukommen: Im Traum gehe ich immer wieder mit unter. Stattdessen flieht sie auf dem Schiff der Torpedoversuchsanstalt: Wir sind an der Gustloff vorbeigefahren. Fünf Tage waren wir auf der Ostsee, immer in Küstennähe, verdunkelt, mit langen Pausen wegen der U-Boote. Die sind ja wie die Haie und der Marinesko auf seinem U-Boot S13 flitzte überall herum. Hildegard entwirft ihre Fahrt unbenannt als Gegenmodell zur „Gustloff“. Das Schiff der TVA habe alles anders gemacht, nicht die gefährliche Route auf offener See genommen, keine Positionslichter gesetzt, nicht versucht schnell zu sein, und sei darum auch nicht von den sowjetischen U-Booten, den Haien erwischt worden. Gleichzeitig bleiben die ungleichen Fahrten nach Westen in der Erinne­ rung ganz nah. Hildegard Juhl verschränkt, umarmt beinahe die letzten Stunden ihrer Familie, indem sie ihre eigene Fahrt mit der Gustloff paralle­ lisiert: Am 30. Januar kam die große Radiogeschichte, Hitlers Rede zum zwölften Jahrestag dröhnte durch alle Gänge. Was Mutter da wohl gedacht hat? Es gab Erbsensuppe an Bord, auch auf der Gustloff gab es Erbsensuppe. Das ist die Massenverpflegung für das Militär. Unsere Kadetten hatten keine Schlafmöglichkeit, dämmerten auf den Treppen und in den Niedergängen vor sich hin. Ich war mit den anderen Mädchen in einem Salon, wie die Heringe lagen wir aneinander. Rundfunk-Ansprache, Erbsen­ suppe, Überfüllung. Mit dem einzigen Unterschied: Sie hatte Glück, Mutter nicht. Sie war so nah und konnte doch nichts tun. Wie oft muss diese Nähe aus sicherer Entfernung gequält haben? Nähe kann Hildegard Juhl auch nach dem Tod ihrer Familie nicht aufge­ ben. Das Trauma durchzieht ihre Lebensgeschichte wie ein Leitmotiv und gibt sich somit als starke, unverarbeitete und darum belastende Energie zu erkennen. Immer wieder verknüpft Hildegard spätere Lebensereignisse as­ soziativ mit der Katastrophe. In der materiellen Not der Nachkriegszeit trägt sie als Jacke ein Regencape, so ein gelbes, wenn man im Rettungsboot ist, ist es gut, so ein gelbes Cape zu haben. Trotzdem hilft ihr das leuchtende Gelb nicht. Sie sucht nach Erlösung, tritt nach dem Krieg in die Kieler Evangelische Studentengemeinde ein:

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Epilog: Vom Beben und Nachbeben

Viermal die Woche bin ich frühmorgens zur Ansgarikirche gelaufen und habe die Glocken zur Morgenandacht geläutet. […] Morgenandacht, Kurende, Bibelstunde, Hauskreis, Wochenschlussandacht, Universitätsgottesdienst, mein Leben hatte einen Rhythmus, der mich gehalten hat. Sie bemüht sich, auch an die Trostzusage ihrer Kommilitonen zu glauben, die hatten immer diesen Spruch, du kannst nicht tiefer fallen als in Gottes Hand. […] manchmal konnte ich es glauben, aber letztlich ist das doch eine ganz alte Platte, dieser Spruch mit Gottes Hand. Zu Hildegard Juhls Identität gehört das Gefühl existenziellen Verlassen- und Alleinseins. Ich habe keinen gefunden, der mit mir umgehen konnte. Nichts und niemand kann ihr helfen. Sie de­ gradiert das Hilfsangebot der Freunde angesichts der Schwere ihres Schmer­ zes sprachlich zum Spruch, zur ganz alte[n] Platte, die paulinische Erlö­ sungsgeschichte nennt sie ausgedacht: Das waren alles tolle Leute, nett und vernünftig, denen man vertrauen konnte, sie konnten mir aber keine Antwort geben. Es gibt ja auch keine Antwort. Das beim Untergang der Gustloff erlittene Trauma erweist sich als beson­ ders und nachhaltig wirksam im Erleben und Erzählen tatsächlich lebensbe­ drohlicher Situationen des späteren Lebens. Vor allem in der Erzählung des Erdbebens von Valdivia, das sie als junge Professorin viele Jahre später und viele tausend Kilometer entfernt von Danzig erlebt hat, verschwimmen die Erinnerungsebenen zu einer einzigen Katastrophe. Sie ist zugleich im Jahr 1945 und 1960, der Ereignisablauf folgt demselben „Drehbuch“. Im chilenischen Haus habe während des Erdbebens totales Chaos, Überschwemmung geherrscht, weil alle Möbel, auch die Blumenvase umgefallen seien. Chaos und Überschwemmung sind assoziativ eng mit dem überfüllten Deck der sinkenden Gustloff verbunden. Und die Wassertanks auf den Häu­ sern machen Schwapp, Schwapp, Schwapp. Noch deutlicher benennt Hilde­ gard Juhl die Parallelität des Erlebens in der Schilderung des Folgetages. Die Erdbebenopfer sind zuerst Flüchtlinge, dann sucht sie ein passenderes Wort, tastet sich mit Ausgebombte nah ans Weltkriegserlebnis vor, um gleich darauf verbessernd ein neues Wort zu kreieren, in dem beide Katastrophen enthalten sind: Ausgebebte. Und auch hier taucht letztlich wieder Mutter als Kompass auf: Wir haben die Flüchtlinge versorgt, wie man das eben gelernt hatte bei den Wandervögeln. Mutter war ja auch Wandervogel. Entschei­ dend ist nicht, ob Katastrophenhilfe zur Wandervogelbewegung gehört hat. Entscheidend ist, dass Hildegard Juhls Mutter Wandervogel war und in dieser Rolle ihr auch nach dem Tod in der Erinnerung zur Seite steht. Mutter erfüllt ihre Rolle bis heute. Sie hat für Hildegard niemals aufge­ hört, Mutter zu sein: Besonders schlimm ist es um Weihnachten und um die Tage des Unterganges. Manchmal wache ich nachts auf und Mutter ist bei mir, ganz präsent. Sie sitzt an meinem Bett. Dann muss ich mir einen kräf-



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tigen Schluck Wodka eingießen. Die bis heute in unverminderter Intensität nachbebende Traumatisierung, die größte Nähe zwischen Vergangenheit und Gegenwart, empfindet Hildegard Juhl jedes Jahr neu um die Tage des Unterganges und Weihnachten. Da passiert es, dass sie nachts aufwacht und Mutter bei ihr ist. „Aufwecken“ und „am Bett sitzen“ sind in Hildegards Erinnerung mit dem Danziger Weihnachtsfest ihrer Kindheit verknüpft. Das ganze Weihnachtsfest der Juhls folgte einem festen Ritus, den „Mutter“ aus ihrer hinterpommerschen Herkunftsfamilie Stampa mitgebracht hatte. Der erste Weihnachtsfeiertag spielte die entscheidende Rolle: Am Weihnachtsmorgen ist Mutter singend mit ihrer Gitarre in unser Zimmer gekommen und hat sich ans Bett gesetzt, um uns zu wecken. Ich kann das Lied nur ab dem zweiten Vers, weil wir doch noch fest geschlafen haben. Hier kommt Mutter ans Bett, damals wie heute. Das Lied, das sie gesungen hat, singt Hildegard noch heute auswendig: Wach auf, wach auf, liebes Kind, die Kerzen schon entzündet sind. Die Weihnachtsglocken läuten schon, es ward geboren Gottes Sohn. Sein Segen zu uns Menschen geht, der liebe Gott durchs Haus jetzt geht. Sie stockt manchmal beim Singen, sucht ein Wort, konzentriert sich so lange, bis sie es gefunden hat. Jedes einzelne Wort ist unverzichtbarer Bestandteil ihres Erinnerungsschatzes. Gleichzeitig ist das Singen ein großes Wagnis. Schon nach der ersten Strophe überfällt sie der Schmerz: So, hören wir auf! In der Weihnachtserzählung bündeln sich die schmerzlich vermissten Erfahrungen von Geborgenheit und heiler Familien­ welt der Kindheit als „symbolische Episode“: Weihnachten ist meine Herzensgeschichte. Wenn ich heute ein Weihnachtslied höre, muss ich gleich weinen, gehe sofort auf Tauchstation, wenn es auf Weihnachten zugeht. Das Erlebnis des Erdbebens war stark, stark genug, dass Hildegard damit beschreiben kann, was 1945 mit ihrem Leben geschehen ist. Wie mit einer Metapher erlebt und erinnert sie die Bedeutung des Unterganges der Gustloff im Erdbeben. Das Erdbeben war eine ganz fundamentale Sache, man kann niemandem schildern, wie das ist, was es bedeutet, wenn die Erde bebt. Das Verlässliche, die Erde, die ist weg. Das wars. Das blieb das dauernde Empfinden. Ich habe mich nie mehr sicher gefühlt. Das Leben ist gefährdet. Ich hatte ja nie Vertrauen ins Leben. Doch, zu Hause, vor 45. Ich hab Angst, ich hab immer Angst. Einfach Angst. Hildegard Juhl erlebt die Welt heute als einen einsamen, qualvollen und unsicheren Ort. Angst bestimmt ihr Leben. Es gibt ein Davor und Danach. Bis vor Kurzem konnte sie noch vor der Angst, vor der Unsicherheit fliehen, ist nach Danzig gefahren, wann immer sie konnte, hat die polnischen Kin­ der jene Spiele spielen sehen, die sie selbst als Kind gespielt hatte. Danach ist nur der Verlust. Berührt sie mich deshalb? Weil meine Kindergedanken umgekehrt vom „Danach“ gezeichnet waren und die Begegnung mit ihr „davor“ geschah, vor dem Bewusstsein über den generationsübergreifenden

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Epilog: Vom Beben und Nachbeben

Schmerz? Meine Oma Irmgard ist vor meiner Geburt an Magenkrebs ge­ storben. Sie konnte nach der Flucht in Hamburg-Blankenese ein neues Zu­ hause finden. Als sie es verlassen musste, nach Oldenburg verpflanzt werden sollte, hat sie sich nicht gewehrt. In Oldenburg ist sie krank geworden und meine Mutter hat ihren viel zu frühen Tod nie verarbeitet. Als Kind spürte ich Trauer. Anfang Januar 2015. Es geht auf den Jahrestag des Untergangs zu. Ich habe beim Schreiben das Bedürfnis Hildes Stimme zu hören, mich zu ver­ gewissern, dass sie noch da ist. Ich rufe sie an, sie geht ans Telefon, ich bin erleichtert, dass sie lebt. Sie ist es nicht: Und wieder sind zwei Schiffe untergegangen. Kann man sich in der Zeitung begucken. Sie möchte sterben, erlöst werden das wäre mir lieb. Aber sich selbst erlösen, das geht nicht. Das Leben ist mir doch geschenkt. Drei Wochen später sitzen wir wieder in ihrem kleinen Zimmer des Al­ tersheimes in Oldenburg. Sie hat ein schönes, rotes Samtkleid angezogen, trägt ihre lange Bernsteinkette dazu. Wie immer gibt es chilenischen Rot­ wein. Nur wenig konnte sie aus ihrer Wohnung hierher mitnehmen, vor allem die vielen, vielen Pflanzen nicht. Vor einigen Wochen jedoch hat sie sich einen Oleander gekauft. Mutters Bruder, Onkel Aribert, hatte auch ei­ nen. Er war der einzige, zu dem sie fliehen konnte, der sie verstanden habe, wenn die Last ihr zu schwer zu werden drohte. Dieses kleine Zimmer ist die Miniatur ihres Lebens. Über dem Bett hängt eine große Menora, links davon die Photographien ihrer Kindheit: das Haus in Danzig, Mutter, Deike, Hans und sie selbst, eine kleine, fröhliche Hilde mit langen, dicken Zöpfen. Darüber ein Stickbild der Danziger Marienkirche. Hildegard hat es ihrem Vater zum 90. Geburtstag selbst gestickt, nach einer Photographie. Nur den großen, weiten Himmel, die Wolken konnte diese Photographie nicht abbil­ den. Für die Wolken ist Hildegard nach Danzig gefahren. Nur dort konnte sie sie zeichnen. Im Bücherregal stehen Wagner-Noten, in der Vitrine neben peruanischer Keramik eine Panflöte und etwas versteckt in der Ecke ein Krug, dickwan­ diges, rostiges Metall, grünlich angelaufen, reich verziert: Der ist von der Gustloff. Ihre Danziger Kollegen aus der Meeresbiologie sind in den 70er Jahren zum Wrack getaucht, haben den Krug hochgebracht und ihr ge­ schenkt. Ein Stück Nähe? Sie sucht in den letzten Jahren mithilfe des Volksbundes Kriegsgräberfürsorge einen Ort für ihre Toten, einen Ort, an dem sie alle Ruhe finden können. Vor Pillau, dem heute russischen Baltijsk, sind Leichen von der Gustloff angeschwemmt worden. Sie hat den dortigen Friedhof besucht, lange mit sich gerungen, ob sie die Namen ihrer Toten dort vermerken lassen will. Sie hat sich dagegen entschieden. Es gibt keinen Ort.



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Der Krug in der Vitrine wird von einer hölzernen Figur bewacht, die Hildegard auf einer Reise durch den Osten in St. Petersburg gefunden hat. Es ist die Darstellung einer Frau, gebückt, das Haupt gesenkt, eine schwere Last auf dem Rücken.

Danksagung Zuallererst und vor allem gebührt unser Dank unseren Gesprächspartne­ rinnen und Gesprächspartnern. Ohne ihre Bereitschaft, uns ihre Lebensge­ schichten anzuvertrauen, wären unsere Fragen im Halbdunkel der „Gespens­ terwelt“ verblieben. Ausdrücklich möchten wir auch jene in unseren Dank einschließen, deren Geschichten nicht Teil des Buches geworden sind. Ihre Geschichten finden sich zwischen den Zeilen. Dieses Buch zu schreiben hat viel länger gedauert, als wir annahmen. Hätten wir gewusst, wie lang, wäre es vielleicht nie angefangen worden. Es bedurfte also einer Antreiberin. Darum sei vor allem Professor Anja Loben­ stein-Reichmann (Heidelberg, Göttingen, Prag) gedankt, die uns als stetige Ratgeberin, Unterstützerin, und Kritikerin, quasi als personifizierter wissen­ schaftlicher Aufsichtsrat und Telefonseelsorge zugleich, begleitet hat. Pro­ fessor Dorothee Wierling von der Hamburger Forschungsstelle für Zeitge­ schichte sind wir dankbar für ihre kritische Frage, inwiefern unsere Moti­ vation geschichtspolitisch sei. Dieser Impuls hat dem Schreiben und Reflek­ tieren des Buches gut getan. Weiterhin möchten wir uns bei unseren Partnern Tilman Hüneke und Hendrik Prill bedanken, die uns jahrelang in Neugier, Euphorie, aber auch Zweifel, Frustration und Arbeitsalltag geduldig und liebevoll begleitet ha­ ben. Gleiches gilt für unsere Familie und unsere Freunde, die schon seit mehr als vier Jahren mit unseren Projekt- und Buchgeschichten leben und zuweilen auch leben müssen. Trotzdem standen sie uns mit neuen Anregun­ gen oder auch mit wertvoller Kritik zur Seite. Beate Brehm, Dr. Tobias Fraund und Maria Gäbler seien besonders hervorgehoben, deren Durchsicht des Manuskriptes eine unverzichtbare Hilfe für uns war. Dieses Buch ist nicht nur am heimischen Schreibtisch, sondern auch in den verborgensten Winkeln Deutschlands entstanden, in Französisch-Buch­ holz in Berlin, Forst Joachimsthal in der Schorfheide, im Pfarrhaus von Schmölln in der Oberlausitz, in Doberlug-Kirchhain in der Niederlausitz, in Eiterbach im Odenwald, in Klein Bünzow bei Greifswald, in Dimarden bei Göttingen, in Vitte auf Hiddensee, in Altenahr in der Eifel, und in Dörphof an der Schlei. Daher möchten wir auch all jenen danken, die uns zum ru­ higen Schreiben Unterschlupf gewährten.

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Schließlich möchten wir uns noch bei Professor Bernd Eichinger und dem Institut für Deutsche Sprache in Mannheim für die großzügige Betei­ ligung am Druckkostenzuschuss bedanken. Ebenso gilt unser Dank Profes­ sor Jörg Riecke (Universität Heidelberg) sowie den Psychologinnen Dr. Anke Röskamp (Solothurn) und Carmen Neuendorf (Freiburg i. Br.) für ihre tätige und ideelle Unterstützung. Nicht zuletzt sei auch Herrn Dr. Florian Simon und den Mitarbeitenden des Verlages Duncker & Humblot gedankt, die stets wohlwollend auf unsere sich stetig etwas verzögernde Manuskriptabgabe reagierten.

Bildnachweise Cover: privat (Aufnahme August 2015) Fotos 1–34; 45, 47–48 privat; Bild 44 (Michael Naumann): Andrej-Dallmann; Bild 46 (Sebastian Pflugbeil): Xanthe Hall