Nach Moskau und zurück: Die Reiseschriften von Ethel Snowden, Sylvia Pankhurst und Clare Sheridan über das postrevolutionäre Russland im Jahr 1920 [1 ed.] 9783412501112, 9783412501099


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German Pages [361] Year 2018

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Nach Moskau und zurück: Die Reiseschriften von Ethel Snowden, Sylvia Pankhurst und Clare Sheridan über das postrevolutionäre Russland im Jahr 1920 [1 ed.]
 9783412501112, 9783412501099

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Nadine Menzel

Nach Moskau und zurück 5 Die Reiseschriften von Ethel Snowden, Sylvia Pankhurst und Clare Sheridan über das postrevolutionäre Russland im Jahr 1920

BÖHL­AU VER­L AG WIEN KÖLN WEI­M AR

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Der Urickij-Platz (heute: Palastplatz) in Petrograd während des II. Kongresses der Komintern im Jahr 1920 / Ausschnitt des Gemäldes von Boris M. Kustodiev (1921) / © akg-images

9DQGHQKRHFN 5XSUHFKW9HUODJH_ZZZYDQGHQKRHFNUXSUHFKWYHUODJHFRP ISBN 978-3-412-50111-2

Meinen Neffen Lino und Janno Menzel

Dank Sowohl meiner Doktormutter, Prof. Dr. Birgit Harreß, als auch Prof. Dr. Elmar Schenkel, dem Zweitgutachter meiner Dissertation, sei herzlich für die gute Betreuung und das Vertrauen in das Werden dieser Arbeit gedankt. Ganz besonderer Dank gilt meinen Eltern, Sigrun und Uwe Menzel, für ihre mannigfaltige und liebevolle Unterstützung auf meinem bisherigen Lebensweg. Stefan Schubert, dem Gefährten, bin ich dankbar für die kostbare Nähe und die kritischen Denkanstöße in vielerlei Hinsicht. Herrn Dr. John S. Partington danke ich für die Inspiration zu diesem Thema und viele gute Gespräche über die sozialistische Utopie. Größter Dank gebührt meinen Freunden, die mit vielseitigem Beistand und grandiosen Ablenkungsmanövern die vergangenen Jahre erfüllten. Nicht zuletzt danke ich Familie und Freunden für ihr Verständnis für meine Abwesenheit im Miteinandersein aufgrund vieler Stunden des Lesens und Schreibens im stillen Kämmerlein.

Vorbemerkung Russische Personen- und Ortsnamen sowie russische beziehungsweise sowjetische Institutionen, denen ein Äquivalent im Deutschen fehlt, wurden nach den Vorgaben der wissenschaftlichen Transliteration nach Duden (DIN 1460) in lateinische Buchstaben übertragen. Zugunsten einer besseren Leserlichkeit wurde darüber hinaus auf eine Transliteration verzichtet. Des Weiteren wurde, abermals im Sinne einer leichteren Lesbarkeit, auf die explizite Ausweisung beider grammatischer Geschlechter verzichtet. Im Kontext allgemeiner Ausführungen wird deshalb die männliche Form angewandt, die selbstverständlich ebenso weibliche Akteure umfasst. Alle Datumsangaben basieren auf dem Gregorianischen Kalender. Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die überarbeitete Version meiner Dissertation Zwischen Welten. Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia und Clare Sheridans Russian Portraits – Reiseschriften über Russland im Jahr 1920, die am 09.12.2015 an der Philologischen Fakultät der Universität Leipzig verteidigt wurde.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung ........................................................................................... Auswahl des Materials: Die Reiseschriften über Sowjetrussland von Ethel Snowden, Sylvia Pankhurst und Clare Sheridan ............................................................................. Fragestellung und Vorgehensweise............................................. Forschungsstand ..........................................................................

13 15 23 29

I.

THEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN ZU INHALT UND FORM DER REISESCHRIFTEN

1

Inhalt ........................................................................................... 1.1 Philosophischer Exkurs zu Zeit, Raum und Fremde .......... 1.1.1 Alltag und Alltäglichkeit ....................................... 1.1.2 Welt ....................................................................... 1.1.3 Fremdheit und Fremderleben ................................ 1.2 Historische Einordnung der konkreten „Fremde“.............. 1.2.1 Sowjetrussland im Jahr 1920 ................................. 1.2.2 Die Haltung Großbritanniens zu Sowjetrussland .. 1.3 Welt und Mensch als inhaltliche Analysekategorien .........

34 34 35 36 38 41 41 44 48

2

Form ............................................................................................ 2.1 Reiseliteratur ...................................................................... 2.1.1 Der Reisebericht .................................................... 2.1.2 Das (Reise-)Tagebuch ........................................... 2.1.3 Das Tagebuch als Grundlage für Reisebericht und Reisetagebuch und die Nähe zur Autobiografie......................................................... 2.2 Convince and fulfil – Literarizität in Reisebericht und Reisetagebuch .................................................................... 2.2.1 Rhetorik ................................................................. 2.2.2 Authentifizierungsstrategien.................................. 2.2.3 Vorurteile, Verallgemeinerungen, Stereotypen ..... 2.3 Der Ich-Erzähler als erlebendes Ich ...................................

54 54 58 62 65 68 72 77 80 83

8

Inhaltsverzeichnis

II. INHALT UND FORM VON SNOWDENS, PANKHURSTS UND SHERIDANS REISESCHRIFTEN 1

2

Reisendes Delegationsmitglied – Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia ......................................................................... 1.1 Die Reisende und die Reise ............................................... 1.2 Russische Welt................................................................... 1.2.1 Russland allgemein ................................................ 1.2.2 Nahrungsmittelversorgung .................................... 1.2.3 Kleidung ................................................................ 1.2.4 Medizinische, hygienische und sanitäre Gegebenheiten ....................................................... 1.2.5 Politische Ordnung ................................................ 1.2.6 Religion ................................................................. 1.2.7 Kunst und Kultur ................................................... 1.2.8 Bildung und Kinderbetreuung ............................... 1.2.9 Industrie und Wirtschaft ........................................ 1.2.10 Infrastruktur ........................................................... 1.3 Russische Mitwelt .............................................................. 1.3.1 „Kommunisten und andere“ .................................. 1.3.2 Bolschewistische Elite ........................................... Resümee ............................................................................. 1.4 Literarizität in Snowdens Reisebericht .............................. 1.4.1 Rhetorische Vorgehensweise................................. 1.4.2 Authentifizierungsstrategien.................................. 1.4.3 Vorurteile, Verallgemeinerungen... Stereotypen? . Resümee ............................................................................. 1.5 Die Ich-Erzählerin des Reiseberichts als erlebendes Ich ... 1.5.1 Delegierte .............................................................. 1.5.2 Sozialistin, Philanthropin, Pazifistin ..................... Reisende Aktivistin – Sylvia Pankhursts Soviet Russia As I Saw It ........................................................................................ 2.1 Die Reisende und die Reise ............................................... 2.2 Russische Welt................................................................... 2.2.1 Allgemein .............................................................. 2.2.2 Nahrungsmittelversorgung .................................... 2.2.3 Kleidung ................................................................ 2.2.4 Erholung ................................................................

89 89 98 98 100 103 105 106 114 116 117 119 121 123 123 127 137 143 143 162 170 174 177 178 181 186 186 194 194 194 196 196

Inhaltsverzeichnis

2.2.5

2.3

2.4

2.5

3

Medizinische, hygienische und sanitäre Gegebenheiten ....................................................... 2.2.6 Umgang mit Hilfebedürftigen ............................... 2.2.7 Politische Ordnung ................................................ 2.2.8 Religion ................................................................. 2.2.9 Kunst und Kultur ................................................... 2.2.10 Bildung .................................................................. 2.2.11 Wirtschaft und Industrie ........................................ 2.2.12 Infrastruktur ........................................................... Russische Mitwelt .............................................................. 2.3.1 Die russische Bevölkerung .................................... 2.3.2 Russische Kommunisten ....................................... 2.3.3 Akteure der Revolution und der Kommunistischen Partei ........................................ 2.3.4 Nicht-Kommunisten .............................................. 2.3.5 Kinder .................................................................... Resümee ............................................................................. Literarizität in Pankhursts Reisebericht ............................. 2.4.1 Rhetorik ................................................................. 2.4.2 Authentifizierungsstrategien.................................. 2.4.3 Vorurteile, Verallgemeinerungen, Stereotypen ..... Resümee ............................................................................. Die Ich-Erzählerin des Reiseberichts als erlebendes Ich ... 2.5.1 Frauenrechtlerin..................................................... 2.5.2 Kommunistin ......................................................... Resümee .............................................................................

9

Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits .......... 3.1 Die Reisende und die Reise ............................................... 3.2 Russische Welt................................................................... 3.2.1 Russland allgemein ................................................ 3.2.2 Nahrungsmittelversorgung .................................... 3.2.3 Kleidung ................................................................ 3.2.4 Medizinische, hygienische und sanitäre Gegebenheiten ....................................................... 3.2.5 Politische Ordnung ................................................ 3.2.6 Religion ................................................................. 3.2.7 Kunst und Kultur ................................................... 3.2.8 Bildung und Kinderbetreuung ...............................

197 198 199 202 203 204 205 206 206 206 207 209 211 212 213 218 218 231 236 237 239 240 240 243 244 244 249 249 249 251 252 253 253 254 257

10

Inhaltsverzeichnis

3.3

3.4

3.5

3.2.9 Industrie und Wirtschaft ........................................ 3.2.10 Infrastruktur ........................................................... Russische Mitwelt .............................................................. 3.3.1 Bolschewistische Modelle ..................................... 3.3.2 Mitbewohner und Mittelsmänner .......................... 3.3.3 Bekannte und unbekannte Mitwelt ........................ Resümee ............................................................................. Die Fremde verstehen – Literarizität des Reisetagebuchs . 3.4.1 Rhetorik ................................................................. 3.4.2 Authentifizierungsstrategien.................................. 3.4.3 Stereotypen und Verallgemeinerungen ................. Resümee ............................................................................. Die Ich-Erzählerin im Tagebuch als erlebendes Ich .......... 3.5.1 Künstlerin .............................................................. 3.5.2 Adlige Engländerin ................................................ 3.5.3 Cousine Winston Churchills .................................. 3.5.4 Kommunistin? ....................................................... Resümee .............................................................................

258 259 259 260 275 278 279 294 294 304 311 318 319 320 323 327 329 333

Resümierende Schlussbetrachtungen ................................................. 335 Literaturverzeichnis ............................................................................ 349 Primärquellen .............................................................................. 349 Sekundärquellen .......................................................................... 349

… Ja, das ist Arbeiterrußland, das sind wir, das ist der neue Planet, von dem die ganze Menschheit seit Jahrhunderten träumt. Das ist der Anfang. Das ist der erste Seufzer vor dem ersten Schlag. Das ist. Das wird sein. (Fedor Gladkov, Zement)

Einleitung

Die eingangs zitierten Worte der fiktiven Figur Gleb Čumalov aus Fedor Gladkovs Roman Zement (Cement (1925)) spiegeln die euphorische Sicht eines Befürworters des in die Praxis umgesetzten Sozialismus wider und stehen stellvertretend für die Haltung vieler Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dass das postrevolutionäre Russland nicht nur hoffnungsvoll wahrgenommen wurde, sondern auch äußerst kritische Stimmen auf sich vereinigte, ist vor dem Hintergrund mehrheitlich kapitalistischer Gesellschaftsordnungen nachvollziehbar. Doch wie war dieses „Arbeiterrußland“, von dem Čumalov schwärmt, tatsächlich beschaffen? Eine Antwort auf diese Frage wollte auch die Britische Arbeiterdelegation nach Russland finden, weshalb sie am 27. April 1920 zur Reise nach Russland aufbrach. Nach Meinung des Historikers Matthias Heeke galt das postrevolutionäre Land zu jener Zeit bis auf vereinzelte Ausnahmen1 für ausländische Besucher und Korrespondenten als nahezu hermetisch abgeriegelt2. Im bereits mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges mehrheitlich kollabierten Reise- und Geschäftsverkehr3 konnte aufgrund der Russischen Revolution kurzfristig keine Verbesserung der Lage verzeichnet werden. An eine „stabile Errichtung von fahrplanmäßigen Verbindun1

2 3

So hielten sich beispielsweise der britische Korrespondent Arthur Ransome von Februar und März 1919 und der in Großbritannien lebende Journalist William T. Goode von Juli bis August 1919 in Russland auf und veröffentlichten zeitnah – 1919 beziehungsweise 1920 – ihre Erfahrungen. (Vgl. Harry W. Nerhood, To Russia and Return. An Annotated Bibliography of Travelers’ English-Language Accounts of Russia from the Ninth Century to the Present. Columbus [u.a.] 1968. S. 165 (Nr. 730), 167 (Nr. 735); Stephen White, „British Labour and the Russian Revolution. The Labour Delegation to Russia 1920“. In: Contact or Isolation? Soviet-Western Relations in the Interwar Period. Aleksander Loit, John Hiden (Hg.). Stockholm 1991. S. 231–248. S. 235.) Im Jahr 1920 bildete der linke Politiker George Lansbury (1859–1940) den Auftakt der Reisen nach Russland aus Großbritannien. Er bereiste das Land im Januar und Februar 1920 und veröffentlichte noch im selben Jahr einen überschwänglichen Bericht über seine Eindrücke (George Lansbury, What I Saw in Russia. London 1920.). Vgl. Stephen Richard Graubard, British Labour and the Russian Revolution. Cambridge 1956. S. 9. Vgl. Matthias Heeke, Reisen zu den Sowjets. Der ausländische Tourismus in Rußland 1921–1941. Mit einem bio-bibliographischem Anhang zu 96 deutschen Reiseautoren. Münster [u.a.] 2003. S. 13.

14

Einleitung

gen“ 4 war nicht zu denken und so wagten sich, neben wenigen privat Reisenden, nur abenteuerliche Journalisten und Korrespondenten nach Russland. Dies führte zu einer vagen und undurchsichtigen Informationslage über das Land in Westeuropa5. In Großbritannien setzte sich das öffentliche Wissen über die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR) zu einem nicht geringen Teil aus Gerüchten und nicht verifizierten Aussagen zusammen6. So behauptete beispielsweise ein im April 1919 zirkulierendes Dokument („Collection of Reports on Bolshevism“)7, über Gegebenheiten der russischen Gesellschaft Auskunft geben zu können. Während in diesem Dokument einerseits über historisch indes verifizierte Daten, wie den unerbittlichen Umgang der Bolschewiki mit dem „Bildungsbürgertum“ und die Einführung eines Sechs- bis Achtstundenarbeitstages berichtet wurde, wusste das Papier auch über die angebliche Existenz eines kommunistischen Kommissariats für „freie Liebe“ und den Einsatz chinesischer Gangs zur Ermordung von Offizieren und Deserteuren Bescheid. 8 Die zeitgenössische britische Presse war sich nicht zu fein, die klaffende Informationslücke über den postrevolutionären Staat zu füllen, indem sie mit Informationen über Lenins überdurchschnittlich teuren Obstkonsum von 2000 Pfund monatlich aufwartete.9 Generell war über den Bolschewismus in der Praxis wenig bekannt; selbst in den sozialistischen beziehungsweise kommunistischen Kreisen Großbritanniens ersetzten bis Anfang der 1920er Jahre „eigene Erfahrungen, Vermutungen und Wunschdenken“ 10 tatsächliche Informationen über die politische Praxis im postrevolutionären Russland. Die einseitige, nicht selten propagandistische Berichterstattung dieser Zeit trug dazu bei, dass Augenzeugenberichte von Reisenden zur begehrten Ware wurden und eine große Leser4 5

6 7 8 9 10

Ebd. S. 14. Vgl. Graubard, British Labour. S. 211; Gottfried Niedhart, „Die Sowjetunion in der britischen Urteilsbildung 1917–1945“. In: Der Westen und die Sowjetunion (Einstellungen und Politik ggb. der UdSSR in Europa und in den USA seit 1917. Gottfried Niedhart (Hg.). Paderborn 1983. S. 105–118. S. 106. Vgl. Alex P. Schmid, Churchills privater Krieg. Intervention und Konterrevolution im russischen Bürgerkrieg, November 1918–März 1920. Zürich [u.a.] 1975. S. 25. White, „British Labour“. S. 234. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. Ian Bullock, „Sylvia Pankhurst and the Russian Revolution. The making of a ‚Left-Wing‘ Communist.“ In: Sylvia Pankhurst. From Artist to Anti-Fascist. Ian Bullock, Richard Pankhurst (Hg.). Basingstoke 1992. S. 121–148. S. 128.

Auswahl des Materials

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schaft fanden. Die ursprüngliche Funktion dieser Berichte – die reine Informationsvermittlung11 – kam in dieser Zeit umso deutlicher zum Tragen. Insbesondere die 1920er und 1930er Jahre bis zum Beginn des Großen Vaterländischen Krieges 1941 waren geprägt von einem großen Zustrom Reisender aus dem Ausland. Dies führte u.a. dazu, dass während der Zeit der NĖP 12 eine eigene Tourismusbranche in Russland etabliert wurde. Explizit westliche Reisende wurden als zunehmend gern gesehene Gäste, nicht selten zu Propagandazwecken, willkommen geheißen.13

Auswahl des Materials: Die Reiseschriften über Sowjetrussland von Ethel Snowden, Sylvia Pankhurst und Clare Sheridan Unter den Reisenden in das postrevolutionäre Land fanden sich zwischen 1917 und 1920 mehrheitlich Kommunisten, Sozialisten und investigative Journalisten.14 Ihr hauptsächliches Reisemotiv bestand darin, mit eigenen Augen vor Ort wahrzunehmen und mit ihren Reiseschriften das Informationsdefizit im eigenen Land zu mindern sowie das einseitige, oft von Regierungsseite manipulierte Informationsgefüge über Russland zu entlarven. Nicht selten wollten diese Reisenden auch ihre Wunschvorstellung vom sozialistischen Paradies bestätigt sehen. Von den 15 britischen Russlandreisenden des Jahres 1920, die zeitnah eine Reiseschrift in Großbritannien veröffentlicht haben15, sollen mit der vorliegenden Arbeit drei näher beleuchtet werden. 11 12

13

14 15

Vgl. Peter J. Brenner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Tübingen 1990. S. 1. Die Neue Ökonomische Politik (Novaja ekonomičeskaja politika) wurde 1921 von Lenin initiiert und fand 1927 unter Stalin ihr Ende in Ablösung durch den ersten Fünfjahresplan. Heeke gibt an, dass zwischen 1921 und 1941 mehr als 900 deutschsprachige Reiseberichte über Russland beziehungsweise die Sowjetunion auf dem deutschen Buch-und Zeitschriftenmarkt beziehungsweise 370 annotierte englischsprachige Monografien im angloamerikanischen Raum (einschließlich Übersetzungen) zu verzeichnen waren. (Vgl. Heeke, Reisen zu den Sowjets. S. 1.) Vgl. ebd. S. 14. Diese Anzahl ergibt sich aus Nerhoods reisebibliografischer Zusammenstellung To Russia and Return. Generell ist es schwierig zu rekonstruieren, wie viele Reisende aus Großbritannien wirklich in Russland waren, daher wird die Zahl an dieser Stelle auf jene Reisenden eingegrenzt, die auch einen Reisetext veröffentlicht haben. Wie sich

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Einleitung

Ethel Snowden (1881–1951) war eine der offiziell neun Teilnehmer der oben benannten Arbeiterdelegation nach Russland. Im Herbst 1920 veröffentlichte sie parallel zum offiziellen Delegationsreport16 unter dem Namen Mrs. Philip Snowden ihren persönlichen Reisebericht Through Bolshevik Russia.17 Im August desselben Jahres nahm auch die britische Frauenrechtlerin Sylvia Pankhurst (1882–1960) im Alleingang mit dem Ziel einer Teilnahme am zweiten Kongress der III. Kommunistischen

16

17

zeigt, fanden die Veröffentlichungen nicht immer zeitnah (im selben Jahr beziehungsweise im Jahr darauf) statt – mitunter ließen sich die Reisenden einige Jahre Zeit, bevor sie letztlich publizierten. Aufgrund der unterschiedlichen Aufenthaltszeiten der Reisenden wurden auch hier nur jene berücksichtigt, deren Jahr der Rückkehr von Nerhood mit 1920 angegeben wird. (Vgl. Nerhood, To Russia and Return. S. 169–175.) Zudem zeigt sich an Nerhoods Bibliografie, dass in 1920 insgesamt 18 auf zwischen 1916 und 1920 stattgefundenen Russlandreisen basierende Texte in englischer Sprache veröffentlicht wurden, davon 11 in Großbritannien und sieben in den USA. Hierunter fallen auch Snowdens Schrift und der offizielle Delegationsreport. (Vgl. ebd. S. 140–171.) Im Jahr 1921, in dem Sheridans Reisetagebuch sowohl in Großbritannien als auch den USA erschien, sind es 16 derartige Veröffentlichungen, davon 11 in Großbritannien und fünf in den USA. (Vgl. ebd. S. 159–176.) Nerhoods Bibliografie hat den Vorteil, dass sowohl Reise- als auch Veröffentlichungsdatum angegeben sind. Die aufgenommenen Werke sind allesamt vom Autor klassifizierte „travelers’ accounts“. Welche formalen Kriterien die hier aufgenommenen Werke erfüllen mussten – abgesehen von einem Umfang größer als 25 Seiten (S. 2) –, legt der Autor nicht offen. An der Bibliografie David Lewis Jones’ (Books in English on the Soviet Union, 1917–73. A Bibliography. New York [u.a.] 1975.) zeigen sich einige Schwierigkeiten in der Handhabung. So sortiert der Autor die Werke einerseits nach dem Publikationsdatum, andererseits nach eigens erstellten Kategorien. Hier katalogisiert er das empirische Material sowohl nach formalen („description and travel accounts“, vgl. ebd. ix.) als auch inhaltlichen Aspekten („Soviet society“, „The economy“, vgl. ebd. ix.), zeigt die Grenzen seiner Ordnungsparameter jedoch nicht auf. Diese Uneinheitlichkeit, die sich in Reiseschriftbibliografien zeigt, zeugt maßgeblich von nicht vorhandenen Poetiken für reiseliterarische Untergattungen. Leslie Haden Guest (Hg.), British Labour Delegation to Russia 1920. Report. London 1920. – Neben Ethel Snowden veröffentlichten drei weitere Delegierte einen eigenen Report. (Vgl. hierzu S. 97, FN 50 der vorliegenden Arbeit) Mrs. Philip Snowden, Through Bolshevik Russia. London 1920. Nachfolgend wird dieser Text mit dem Akronym „TBR“ zitiert. – Dass Snowden als Verfasserin des Reiseberichts nicht ihren eigenen Vornamen angibt, sondern sich als Mrs. Philip Snowden ausweist, kann wie folgt gedeutet werden: Erstens war es seinerzeit nicht unüblich für Schriftstellerinnen, den Ehegattennamen anzunehmen; zudem verweist Snowden damit dezidiert auf die familiäre Verbindung zu einem in Großbritannien weit bekannten Parlamentsabgeordneten, der ihr Ehemann ist. Das öffentliche Interesse konnte damit sicherlich noch gesteigert werden.

Auswahl des Materials

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Internationale (Komintern) den abenteuerlichen Weg18 nach Moskau auf sich. Ihre Erfahrungen und Begegnungen auf dieser Reise veröffentlichte sie 1921 mit dem Bericht Soviet Russia as I Saw It.19 Allen reisetechnischen Widrigkeiten dieser Zeit zum Trotz und mit einer für diesen Zeitraum eher ungewöhnlichen Intention machte sich am 11. September 1920 die englische Adlige Clare Sheridan (1885–1970) auf den Weg in die bolschewistische „Wunderwelt“20. Ihr Ziel war es, Büsten der führenden Bolschewiki herzustellen. Aus Neugier, Lust und nicht minder in Erwartung von Ruhm als Bildhauerin21, scheute sie für diese Reise weder Mühe noch Verlust ihrer gesellschaftlichen Reputation22 in konservativen Adelskreisen. Sie selbst begriff sich als eine zutiefst unpolitische Person, doch fand sich unter ihren nächsten Familienangehörigen einer der wichtigsten politischen Akteure Großbritanniens jener Zeit: Winston Churchill – Sheridans Cousin ersten Grades. In seiner Funktion als britischer Kriegsminister machte er keinen Hehl aus seiner fundamentalen Kritik an den bolschewistischen Machthabern23 und deklarierte die Russische Revolution als ein über die Welt gekommenes Unglück24. Die politische Situation hatte auf die drei Reisen einen nicht geringen Einfluss. Im Jahr 1920 befand sich Sowjetrussland im Bürgerkrieg, zudem im Krieg um Ländergrenzen mit Polen. Auch verhinderten bis Anfang desselben Jahres eine militärische Intervention und eine Wirtschaftsblockade der alliierten Mächte den Aufbau stabiler internationaler 18

19 20 21 22 23

24

Einen kurzen Überblick über die Bedingungen einer Reise zwischen 1917 und 1922 gibt Oberloskamp. (Vgl. Eva Oberloskamp, Fremde neue Welten. Reisen deutscher und französischer Linksintellektueller in die Sowjetunion. 1917–1939. München 2011. S. 71 f.) Sylvia Pankhurst, Soviet Russia as I Saw It. London 1921. Dieser Text wird nachfolgend mit dem Akronym „SR“ zitiert. Clare Sheridan, Russian Portraits. London 1921. S. 193. Dieser Text wird nachfolgend mit dem Akronym „RP“ zitiert. Vgl. Anita Leslie, Cousin Clare. The Tempestuous Career of Clare Sheridan. London 1976. S. 129 f. Vgl. ebd. S. 130 f. Bspw. „Winston was … interested about the Bolsheviks […] He said nobody hated Bolshevism more than he, but Bolsheviks were like crocodiles. He would like to shoot everyone he saw, but there were two ways of dealing with them – you could hunt them or let them alone, and it was sometimes too expensive to go on hunting them for ever.“ (Ebd. S. 103.) Für eine detaillierte Aufschlüsselung von Churchills Rolle im Kontext der alliierten Intervention in Russland nach dem Ausscheiden Russlands aus dem Ersten Weltkrieg siehe: Schmid, Churchills privater Krieg. Winston S. Churchill (1930, S. 68, 429), zitiert in: Niedhart, „Die Sowjetunion in der britischen Urteilsbildung 1917–1945“. S. 106.

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Einleitung

Beziehungen. Die britische Regierung unter Lloyd George war maßgeblich an der Aufrechterhaltung der Sanktionsmaßnahmen gegen das postrevolutionäre Land beteiligt und zeichnete damit nicht wenig verantwortlich für die prekäre politische Lage. Eine leichte Entspannung brachte die formale Beilegung der Blockade im Januar 1920 25 , die, in Bezug auf Großbritannien, eine vorsichtige Annäherung beider Staaten bedeutete. Im Sinne der Idee „Wandel durch Handel“ wurden unter Lloyd George nun erste wirtschaftliche Bande zwischen Großbritannien und Sowjetrussland geknüpft, die im August 1920 den Besuch einer sowjetischen Handelsdelegation nach Großbritannien nach sich zogen. Am 16. März 1921 mündete dieser Kontakt in ein Handelsabkommen und damit eine De-facto-Anerkennung Sowjetrusslands durch die Briten. Der auf die politische Situation zurückzuführende mangelhafte Informationsstand über Sowjetrussland im Jahr 1920 wurde zum Anlass dafür, dass von der Labour Party und dem britischen Gewerkschaftskongress (TUC) eine Delegation zusammengestellt wurde, die sich der „Investigation der industriellen, politischen und ökonomischen Gegebenheiten in Russland“26 widmen sollte. Dieser Delegation gehörte Ethel Snowden an. Sylvia Pankhurst wiederum war eine der Hauptakteure im durch die Russische Revolution stark motivierten Unterfangen, alle sozialistischen und kommunistischen Kräfte in Großbritannien zu einer kommunistischen Partei zu bündeln. Sie fuhr nach Russland, um Verhandlungen über die Anbindung dieser Partei an die Komintern zu führen.27 Clare Sheridans Aufbruch war weniger offensichtlich, jedoch ebenfalls maßgeblich durch die politischen Umstände motiviert: Durch einen Zeitungsartikel wurde sie auf die bereits erwähnte sowjetische Handelsdelegation aufmerksam und fühlte sich sogleich von den „bolschewistischen Köpfen“ zu neuem Kunstschaffen inspiriert28. Eine spontane Kontaktaufnahme mit der Delegation mündete in eine Einladung nach Russland – die Sheridan ohne Zögern annahm. Die Deutungshoheit, die den drei Autorinnen über das postrevolutionäre Russland zukam, die besonderen Publikumsumstände und die auf die Reisen folgende Zäsur im Leben der Autorinnen motivierten das Vor25 26 27 28

Der Oberste Gerichtshof der Alliierten (Allied Supreme Council) war verantwortlich für diese richtungsweisende Entscheidung. (Vgl. White, „British Labour“. S. 233.) Guest, British Labour Delegation. S. 5. Die Reise wurde von sowjetischer Seite eingeleitet und finanziert. (Vgl. Patricia W. Romero, E. Sylvia Pankhurst. Portrait of a Radical. New Haven [u.a.] 1987. S. 142.) Vgl. Leslie, Cousin Clare. S. 103.

Auswahl des Materials

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haben, diesen drei bisher unbearbeiteten Reiseschriften wissenschaftliche Aufmerksamkeit zu schenken. Dank des nationalen und internationalen Bekanntheitsgrades der drei Autorinnen fanden sowohl ihre Reisen als auch die dazugehörigen Reisetexte reges öffentliches Interesse. Snowden hatte sich bereits seit der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts sowohl als Rednerin in internationalen Vorträgen zur Frauenfrage und zum Sozialismus als auch durch Pamphlete und Bücher zu politischen Themen einen Namen gemacht.29 Pankhursts Berühmtheit rührt nicht minder von ihrem aktiven politischen Kampf. Während sich dieser anfänglich ausschließlich auf das Frauenwahlrecht konzentrierte, weitete er sich recht bald auf den Kampf für einen generellen gesellschaftlichen Wandel zum Sozialismus, später zum Kommunismus aus. 30 Pankhurst focht diesen Kampf nicht nur in theoretischen Pamphleten, sondern auch ganz praktisch in Demonstrationen und Versammlungen aus, was ihr (öffentlichkeitswirksame) Gefängnisaufenthalte einbrachte und sie zugleich zu einer Ikone der Frauenbewegung machte.31 Als vehemente Kriegsgegnerin engagierte sie sich spätestens mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges auch eindringlich für eine Beilegung der

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31

Sie publizierte u.a. Woman Suffrage in America. A Reply to Mrs. Humphry Ward (1909) und The Feminist Movement (1913). Im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in der Nationalen Vereinigung der Verbände für das Frauenwahlrecht (National Union of Women’s Suffrage Societies) hielt Snowden in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts nicht nur in Großbritannien, sondern auch in den Vereinigten Staaten Amerikas öffentliche Vorträge. Zur Zeit des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs befand sie sich zusammen mit ihrem Ehemann gerade auf einer ausgedehnten Vortragstour durch die USA und ging, bspw. als Delegierte der Labour International 1919 nach Bern. (Vgl. June Hannam, „Snowden, Ethel“. In: Oxford Dictionary of National Biography. From the Earliest Times to the Year 2000. Henry C. G. Matthew (Hg.). 61 Bd. Bd. 51. Oxford 2004. S. 500–502. S. 500 f.). Noch im Jahr 1920 bricht Snowden zu einer weiteren Delegationsfahrt nach Georgien auf, um auch dort „die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen“ zu untersuchen. („British Prisoners in Baku.“ In: The Times. London 04.08.1920. S. 10.) Aufgrund ihrer öffentlichen Präsenz und vermutlich auch aufgrund ihrer Russlandfahrt wird Snowden im Jahr 1922 vom Manchester Guardian als „international bekannteste britische Frau“ bezeichnet. (Manchester Guardian (1922), zitiert in: Colin Cross, Philip Snowden. London 1966. S. 168.) Vgl. June Hannam, „Pankhurst, (Estelle) Sylvia (1882–1960).“ In: Oxford Dictionary of National Biography. From the Earliest Times to the Year 2000. Henry C. G. Matthew (Hg.). 61 Bd. Bd. 42. Oxford 2004. S. 577–580. – Bullock schreibt, dass Pankhurst spätestens mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs zur international bekannten Figur wurde. (Vgl. Bullock, „Sylvia Pankhurst and the Russian Revolution.“ S. 123.) Vgl. Hannam, „Pankhurst, (Estelle) Sylvia.“ S. 578.

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Einleitung

Kriegshandlungen.32 Pankhursts vielseitiges politisches Engagement auf einen Nenner bringend schreibt ihre Biografin June Hannam: Yet recent studies of her politics and re-evaluation of her writings have shown that as an anti-fascist, a socialist, a communist, a peace campaigner, an internationalist, and a feminist Sylvia Pankhurst made an important contribution in her own right to radical politics during the twentieth century.33

Clare Sheridans Position im öffentlichen Leben Großbritanniens war sowohl durch ihre familiäre Situation als auch durch ihr künstlerisches Schaffen begründet. Seit 1915 strebte sie eine unabhängige Karriere als Bildhauerin an und stand 1920 kurz vor der Eröffnung einer großen Ausstellung unter Federführung der Londoner National Portrait Society als sie spontan und ungeplant nach Russland aufbrach. 34 Aufgrund dieser Bekanntheit wurden alle drei Reisen, sofern dies möglich war, zeitnah von der lokalen und überregionalen britischen Presse begleitet beziehungsweise thematisiert35, und so kam den Frauen in Zeiten einer dürfti32 33 34

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Vgl. ebd. S. 579. Vgl. ebd. S. 580. Vgl. Anita Leslie, „Sheridan, Clare Consuelo“. In: Oxford Dictionary of National Biography. From the Earliest Times to the Year 2000. Henry C. G. Matthew (Hg.). 61 Bd. Bd. 50. Oxford 2004. S. 293–294. S. 293. Beispielsweise wurde in den nachfolgenden Artikeln über die Reisen beziehungsweise den Aufenthalt im postrevolutionären Land berichtet: Snowden: „Labor Delegates For Russia“. In: The Times. London 06.05.1920. S. 15.; „Mrs. Snowdens Impressions“. In: The Lancashire Daily Post. Fulwood 24.06.1920. S. 2.; „Mrs. Snowden and the Mission to Russia“. In: The Lancashire Daily Post. Fulwood 25.4.1920. S. 2; „Mrs Philip Snowdens Judgment“. In: The Yorkshire Post. Leeds 24.06.1920, S. 7; „The Failure of Bolshevism“. In: The Times. London 24.06.1920. S. 16.; Zur medialen Begleitung der Delegationsreise siehe auch Patrick Wright, Iron Curtain. From Stage to Cold War. Oxford 2009. S. 131–153. Der Autor rekonstruiert und reflektiert die Reise Snowdens anhand von Artikeln in der Londoner Times. – Pankhurst: „Miss Sylvia Pankhurst among the Reds“. In: The Times. London 11.08.1920. S. 9.; „Our Bolshevists.“ In: The Times. London 02.08.1920. S. 8.; „British Communists.“ In: The Times. London 27.09.1920. S. 11. – Sheridan: „All Baku Prisoners Free“. In: The Times. London 16.11.1920. S. 11.; „Mrs. Sheridan on Russia“. In: The Nottingham Evening Post. Nottingham 22.11.1920. S. 3; „Lenin’s ‚Coolness‘.“ In: Yorkshire Telegraph and Star. Sheffield 20.11.1920. S. 4. – Leider konnten die genauen Auflagezahlen der drei Reiseschriften weder bei der British Library noch bei jenen Archiven in Erfahrung gebracht werden, die die Nachlässe der Verlage halten. Für Cassell Illustrated (Through Bolshevik Russia) ist dies „Random House“, für Jonathan Cape (Russian Portraits) handelt es sich um die „Special Collections“ der University of Reading. Die Herausgabe des Workers’ Dreadnought wurde 1924 offiziell von Pankhurst eingestellt. Auch Heeke merkt an, dass sich die

Auswahl des Materials

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gen Informationslage in Großbritannien eine nicht geringe Deutungshoheit über das britische Russlandbild zu. Auch die besonderen Publikationsumstände von Snowdens und Sheridans Reisetexten leiteten das Vorhaben, diese Reiseschriften näher zu beleuchten. Bei Snowdens Schrift handelt es sich um einen zusätzlichen Text, der nur kurz nach dem offiziellen Report der Britischen Arbeiterdelegation publiziert wurde.36 In der Funktion eines Delegationsmitglieds war Snowden de facto an dessen Ausarbeitung beteiligt. Dem offiziellen Report wird gemäß der Beurteilung durch das Dictionary of Labour Biography eine meinungsbildende Rolle in der Haltung Großbritanniens gegenüber Sowjetrussland zugeschrieben. Er habe den wahrscheinlich größten Einfluss auf die öffentliche britische Einstellung gegenüber Sowjetrussland gehabt, der je einer einzelnen Veröffentlichung in dieser Debatte zukam.37 Von Snowdens persönlichem Bericht kann von einer nicht minder großen Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit gesprochen werden. Das rege Interesse zeigt sich in einer noch im selben Jahr in Auftrag gegebenen Zweitauflage ihres Werkes. 38 Dieses Dokument versprach, mit persönlichem Augenzeugenmaterial den offiziellen Delegationsreport durch eine subjektive Sichtweise zu komplementieren.39 Sheridan, die ursprünglich keine Veröffentlichung ihrer Reiseerfahrungen plante, ließ sich auf Druck der Medien zu einer solchen überreden.40 Zudem legitimierte sie eine Vorabpublikation ihres Tage-

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„Ermittlung von Auflagezahlen“ deutscher Reiseschriften der 1920er bis 1940er Jahre als problematisch gestaltet. (Heeke, Reisen zu den Sowjets. S. 546.) Da Snowdens Bericht in einem Leserbrief in der Lononder Times vom 10. September 1920 thematisiert wurde, ist davon auszugehen, dass er einige Tage zuvor erschienen ist. („Labour And Russia.“ In: The Times. London 10.09.1920. S. 11.) Das genaue Datum lässt sich weder anhand der verfügbaren Sekundärliteratur noch nach Anfrage bei den Nachlassverwaltern des Herausgebers „Cassell Illustrated“ ausfindig machen. – Siehe auch: „Through Bolshevik Russia“. In: The Spectator. 11.09.1920. S. 19.; „‚Through Bolshevik Russia.‘ Mrs Snowden’s Frank Story. A Book Worth Reading.“ In: Western Daily Press Bristol. 14.09.1920. S. 6. „The delegation’s report, it has been argued, ‚had probably the most impact of any single publication in the shaping of attitudes towards Russia in the matter of war and intervention‘.“ (Dictionary of Labour Biography (1987, S. 260), zitiert in: White, „British Labour“. S. 231.) „Ethel Snowden’s report was sufficiently popular to require a second printing soon after publication.“ (Ebd. S. 218.) – Dieser Reisebericht erschien zudem im Jahr 1921 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Durchs bolschewistische Rußland: Mrs. Philip Snowden, Durchs bolschewistische Rußland. Berlin 1921. Vgl. Graubard, British Labour. S. 217. Auf der Rückfahrt nach Großbritannien wird Sheridan bereits in Reval von Journalisten bestürmt und auch in Newcastle von Medienvertretern „empfangen“ („The place

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Einleitung

buchs in der Londoner Times nur wenige Tage nach ihrer Rückkehr.41 Diese über sechs Tage auf je zwei bis drei ganzseitigen Zeitungsspalten publizierten Erfahrungen entfachten einen Diskurs, der einerseits die Polarisierung, andererseits die Neugier der britischen Leserschaft aufzeigt. Im Hinblick auf die persönliche Entwicklung der drei Reisenden ergibt sich ein weiterer Impuls für eine eingehende Auseinandersetzung mit den Texten: Für die Frauen stellte die Fahrt eine Zäsur in Eigen- und Fremdwahrnehmung dar. Snowden, die Sozialistin und ab 1917 Befürworterin der Russischen Revolution war, änderte nach der Rückkehr ihre prorussische Haltung.42 In der Folge verließ sie die Labour Party, der sie, mit Unterbrechung, seit 190343 angehörte. Pankhurst, deren politisches Engagement sie über die Grenzen Großbritanniens hinaus bekannt machte, wurde nur wenige Monate nach Gründung der Communist Party Great Britain von dieser ausgeschlossen. Sie selbst wandte sich, obgleich bis dato zutiefst überzeugt vom Ideal des Kommunismus, zusehends von der kommunistischen Idee ab. Insbesondere die Einführung der Neuen Ökonomischen Politik sah sie als Verrat an der Idee vom reinen Arbeiterstaat.44 Für Sheridan bedeutete die Reise ein Befreiungsschlag von tradierten gesellschaft-

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was absolutely packed with reporters, and they were all waiting for her! […] On 23 November her ship reached Newcastle, and she was besieged afresh by reporters. Cameras fleshed and interviews rushed their stories off by telephone. The Times representative handed her a letter from Shane, and begged her not to divulge interesting material to any other papers.“ (Leslie, Cousin Clare. S. 129.)). Unter dem Titel „Mrs. Sheridan’s Diary“ wurden vom 22. bis zum 27. November 1920 Auszüge aus Sheridans Russlandtagebuch in der Times veröffentlicht. (Vgl. „Mrs. Sheridan’s Diary.“ In: The Times. London 23.–27.11.1920. S. 11, 13.) – Vgl. hierzu auch Leslie, Cousin Clare. S. 130. Die Independent Labour Party (ILP) wurde 1893 als zweite sozialistische Partei Großbritanniens gegründet und schloss sich von 1906 bis 1932 der später gegründeten Labour Party als Mitglied an. (Vgl. Martin Pugh: Speak for Britain! A New History of the Labour Party. London 2011. S. 68.) – Die für Snowdens Parteiaustritt ursächliche Erfahrung und damit einhergehende Kritik an der gewalttätigen Machtübernahme und dem auf repressiven Maßnahmen basierenden Machterhalt der Bolschewiki trug ihr von Parteigenossen der ILP beziehungsweise Labour Party nicht wenig Antipathien ein (Vgl. Hannam, „Snowden, Ethel“. S. 501.; vgl. auch Cross, Philip Snowden. S. 170 f.; vgl. auch „Position of the I.L.P. Opening Phases of Crucial Fight for Control.“ In: Western Daily Press. Bristol 23.03.1921. S. 5.) Vgl. Hannam, „Snowden, Ethel“. S. 500.; vgl. auch: „The Bolshevist Tyranny“. In: The Lancashire Daily Post 31.12.1920. S. 2. „For her own part, Sylvia had detected the restoration of Capitalism in Russia by July 1922 and by the end of that year she accused Lenin of ‚hauling down the flag of Communism‘.“ (Bullock, „Sylvia Pankhurst“. S. 143.)

Fragestellung und Vorgehensweise

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lichen Maßgaben und Anforderungen, mit der sie als junge, verwitwete Frau des britischen Adels konfrontiert war. Innerfamiliäre Zerwürfnisse und eine temporäre gesellschaftliche Stigmatisierung45, die die Künstlerin nach ihrer Rückkehr aus Russland erfahren musste, trugen hierzu das ihrige bei.46 Für die vorliegende Arbeit stellt sich in diesem Rahmen die Frage, inwiefern bereits die Reisetexte diese zukünftigen Brüche andeuten.

Fragestellung und Vorgehensweise Da es sich bei den drei Reisetexten um häufig zitierte Werke handelt, denen jedoch bisher noch keine selbstständige Analyse gewidmet wurde47, sollen sie in der vorliegenden Arbeit inhaltlich und formal untersucht werden. So wird erstens eine Explikation der Topoi48 und des zentralen Themas des jeweiligen Textes sowie zweitens die Analyse der Form und poetologischer Charakteristika und Grenzüberschreitungen angestrebt. Abschließend wird, unter Fokussierung der jeweiligen Erzählerin, der autobiografische Aspekt der Reiseschriften beleuchtet. Es wird die These verfolgt, dass Reisetexte auch autobiografisch gelesen werden 45

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„When she returned to England, Clare found that London society ignored her and Churchill preferred not to see her. So she departed for America.“ (Leslie, „Sheridan, Clare Consuelo“. S. 293.) – Ihr Reisetagebuch erschien unter dem Namen Mayfair to Russia zeitgleich in den USA. Das tatsächliche Ausmaß der veränderten Fremdwahrnehmung ihrer Person zeigte sich erst im Nachhinein: Im November 2002 gelangte die Information an die Öffentlichkeit, dass seit 1922 eine Geheimdienstakte über Sheridan geführt wurde. Ausschlaggebend war ihre Verbindung zu den Bolschewiki, die im Rahmen ihrer ersten Russlandfahrt im Jahr 1920 zustande kam. (Vgl. Neil Tweedie, Peter Day, „MI5 suspected Churchill’s cousin was a red spy“. In: The Telegraph 28.11.2002. Online verfügbar unter http://www.telegraph.co.uk/news/uknews/1414562/MI5-suspectedChurchills-cousin-was-a-red-spy.html (abgerufen am 01.03.2018).). – Siehe auch Clare Consuelo Sheridan, MI5-File. Communists and Suspected Communists, Including Russian and Communist Sympathisers. KV 2/1033. National Archives, Kew/UK. Zitate und Verweise finden sich u.a. bei Stephen White („British Labour“), Richard Graubard (British Labour), Robert Service (Trotzki. Eine Biographie) und Patrick Wright (Iron Curtain). Topoi sollen hier verstanden werden als mit der Reise zusammenhängende, explizierte „konkrete Orte oder Platzierungen […] Gemeinplätze oder Imaginationen“. (Alexandra Karentzos, „Reise“. In: Lexikon der Raumphilosophie. Stephan Günzel (Hg.). Darmstadt 2012. S. 339 f. S. 339.)

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Einleitung

können und sich in ihnen u.a. Bruchstellen im Leben der Reisenden spiegeln. Die Annahme, dass die thematisierte Reise als „Erlebnis“ 49 (Gadamer) betrachtet einen „inneren Bezug zum Leben“ aufweist, führt zur Frage nach dem Autor und seinen sich im Reisetext zeigenden Ordnungsvorstellungen. Nach Alfred Opitz inszeniere Reiseliteratur „vielfältige Möglichkeiten formalisierter Erfahrung im Medium einer zentralen Instanz (reisendes Objekt) auf der Suche nach externen Referenten für lebensweltlich poröse Ordnungsvorstellungen“ 50 . Im abschließenden Resümee soll unter Zusammenführung der in der Arbeit gewonnenen Ergebnisse daher geklärt werden, ob und welche externen Referenten angesprochen werden und wie groß die Nähe zwischen den Gattungen Reisebericht/Reisetagebuch und Autobiografie tatsächlich ist. Nicht zuletzt wird mit der vorliegenden Arbeit intendiert, die bisher weitestgehend unbeachtet gebliebenen Reisen und Reiseschriften dreier emanzipierter Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer detaillierten Analyse der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.51 49

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Dieser Begriff verweist auf Hans-Georg Gadamer (Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. S. 66–76.) und wird in Kapitel I, 1.3 dieser Arbeit näher erläutert. Alfred Opitz, „Berichte aus der ‚Zweiten Heimat‘. Zum gegenwärtigen Stand der Reiseliteraturforschung“. In: Akten des X. Internationalen Germanisten-Kongresses Wien 2000. Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert. Peter Wiesinger (Hg.). Bern 2003. S. 87–92. S. 90. Obwohl die oben formulierte Auswahl auf Schriften dreier Frauen fällt, steht die geschlechtsspezifische Untersuchung nicht im Fokus dieser Arbeit. Ein Fokus auf der weiblichen Differenz im Reiseschreiben findet sich beispielsweise bei Karolina Dorothea Fell, Kalkuliertes Abenteuer. Reiseberichte deutschsprachiger Frauen (1920–1945) (Stuttgart [u.a.] 1998) und Annegret, Pelz Reisen durch die eigene Fremde. Reiseliteratur von Frauen als autobiographische Schriften. (Köln 1993). Zu einer theoretischen Auseinandersetzung vor dem Hintergrund der Gender Studies siehe bspw. Carl Thompson, „Questions of Gender and Sexuality“. In: Ders. Travel Writing. London [u.a.] 2011. S. 168–198; „Engendered Autobiographies. The Diary as a Feminine Form“. In: Prose Studies: History, Theory, Criticism. 14 (2) 1991; Sara Mills, „Feminist Work on Women’s Travel Writing“. In: Travel Writing. Critical Concepts in Literary and Cultural Studies. Tim Youngs (Hg.). London [u.a.] 2012; Helen Carr, „Modernism and Travel (1880–1940)“. In: The Cambridge Companion to Travel Writing. Peter Hulme, Tim Youngs (Hg.). Cambridge [u.a.] 2002; Ulla Biernat konstatiert diesbezüglich, dass erst eine „vergleichende Analyse der Texte von männlichen und weiblichen Reisenden“ die Andersartigkeit der weiblichen Schöpfungen zeigen würde. (Ulla Biernat, ‚Ich bin nicht der erste Fremde hier‘. Zur deutschsprachigen Reiseliteratur nach 1945. Würzburg 2004. S. 26.)

Fragestellung und Vorgehensweise

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Inhaltliche Analyse

Die Analyse der (inhaltlichen) Ausgestaltung der Reisetexte beinhaltet u.a. Fragen nach der Darstellung der russischen Realität und nach dem Umgang mit Fremdem durch die jeweilige Erzählerin. Hierfür werden Konzepte zu Raum, Zeit und Fremde zu Rate gezogen. Zur Strukturierung und abschließenden Vergleichbarkeit der Analyseergebnisse werden Kategorien gebildet, die sowohl weltliche Phänomene, d.h. die Beschaffenheit der alltäglichen russischen Welt, als auch mitweltliche Gegebenheiten52, d.h. heißt die menschliche Umwelt, abbilden. Die Eingrenzung dieser Kategorien auf mögliche erfahrbare und erkennbare Gegebenheiten auf einer Reise birgt implizit freilich die Gefahr, darüber hinausgehende Phänomene auszuschließen. Dem ungeachtet gilt es mit den Kategorien das zu filtern, was als Zentrum des Interesses zeitgenössischer Leser gelten darf: das alltägliche Leben im postrevolutionären Russland. In phänomenologischer Tradition werden die weltlichen Darlegungen auf Grundlage des Textes sichtbar gemacht und ausgelegt. Formale Analyse

Allein die Vielfalt der unter Reiseliteratur gefassten Formen (fiktionale und nicht-fiktionale Untergattungen) ist ursächlich für die Uneinigkeit in Bezug auf eine stabile Definition. Die drei vorliegenden Werke werden heuristisch zwei Formen zugeordnet: dem Reisebericht (Snowden, Pankhurst) und dem Reisetagebuch (Sheridan). Da alle drei Texte auf einer tatsächlichen Reise beruhen, wird die Frage nach Fakt oder Fiktion obsolet. Die hier dargebotenen Inhalte sollen nicht als mimetische Simulation verstanden werden, sondern als Texte mit legitimem Wirklichkeitsanspruch. 53 Wenngleich vorliegende Reiseschriften als nicht-fiktionale 52

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Da das Dasein in der Welt immer auch mit anderen Menschen verbunden ist, soll ein Blick auf die in die Reisetexte aufgenommene russische Bevölkerung geworfen werden. Als sehr ergiebig für ein Verständnis des Menschen in (s)einer sozialen Umwelt erweist sich hier Martin Heideggers Begriff der Mitwelt. (Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit. Tübingen 2006. S. 118.) Auch der Reiseliteratur zuzuordnende nicht-fiktionale Werke entkommen häufig nicht dem Vorwurf, Fiktion zu enthalten oder besser: fiktionalisiert zu sein. Korte spricht bei Reiseberichten von fiktionalen Re-Kreationen von Welt. (Vgl. Barbara Korte, Der englische Reisebericht. Von der Pilgerfahrt bis zur Postmoderne. Darmstadt 2011. S. 206.) Der Vorwurf liegt nicht zuletzt darin begründet, dass mutmaßliche „Augenzeugenberichte“ als reine Erfindung entlarvt wurden. Verwiesen sei hier auf die Geschichtsschreibung Herodots von Halikarnassos, die auch unter dem Gesichtspunkt

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Einleitung

Werke betrachtet werden, stellen sie doch Erzähltexte dar, die aus vielerlei Gründen eine ästhetische Gestaltung erfuhren. Diese Gestaltung wird als Literarisierung, also Ausstattung der Texte mit Merkmalen, die sie als literarisch erscheinen lassen54, verstanden. Nach Inka Zahn finde in Reiseberichten „eine Verschränkung von Weltzuwendung und Literarizität statt, da Wirklichkeit hier nicht nur wahrgenommen sondern zugleich auch konstruiert wird“ 55 . Dieser Ansatz wird geteilt und so wird das Formkapitel einer Analyse von Literarizität in den vorliegenden Reisetexten gewidmet. Dieser Teil der Untersuchung findet unter der Annahme statt, dass die reinen Reiseerlebnisse im Zuge einer ästhetisch wertvolleren Textgestaltung sowie einer zusätzlichen Authentifizierung des Erlebten auch in nicht-fiktionaler Reiseliteratur eine Formung erfahren und dabei nicht selten transzendiert werden. Um dem Diktum Horaz’ „pro-

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der Reiseberichtforschung Beachtung fand. Nach Detlev Fehlings Untersuchung stellen sich Herodots Quellen als größtenteils fiktiv dar und seine vermeintlichen Augenzeugenberichte als fiktionales Konstrukt. (Siehe auch Detlev Fehling, Die Quellenangaben bei Herodot, Studien zur Erzählkunst Herodots. Berlin [u.a.] 1971.) – Vgl. auch Ottmar Ette, Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika. Weilerswist 2001. S. 122 f. und Inka Zahn, Reise als Begegnung mit dem Anderen? Französische Reiseberichte über Moskau in der Zwischenkriegszeit. Bielefeld 2008. S. 23, 29 f., 306 ff. – Auch der Einsatz eines IchErzählers, welcher Stimme und Perspektive des Autors ist, wird an mancher Stelle bereits als Indikator für einen Fiktionalisierungsprozess gedeutet. (Vgl. Claus Vogelsang, „Das Tagebuch“. In: Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nichtfiktionalen Kunstprosa. Klaus Weissenberger (Hg.). Tübingen 1985. S. 185–202. S. 194.) Zudem stelle nach Ansicht von Hugo von Hofmannsthal die Dokumentation einer Ich-Geschichte bereits im Keim die Gestaltung eines „‚literarischen‘ Charakters“ dar. (Hugo von Hofmannsthal, zitiert in: Klaus Günther Just, Übergänge. Probleme und Gestalten der Literatur. Bern [u.a.] 1966. S. 194.) Wenn diese Thesen vor dem Hintergrund der Differenz primärer Wahrnehmung der Welt und der Niederschrift dieser Wahrnehmung durchaus legitim sind und sich daran die Grenzen der Fiktion spiegeln, sollen sie jedoch in der vorliegenden Arbeit nicht weitergeführt werden. Dass der Wahrheitsgehalt des Reiseberichts auf einer Annahme des Lesers beruht, „daß er einen Text über eine authentische Reise liest“, ist freilich ein nicht zu unterschätzender Faktor. (Vgl. Korte, Der englische Reisebericht. S. 14.) „Diese Annahme läßt sich nur im Hinausgehen über den Text überprüfen“ (ebd.), was einer Überprüfung der wirklichen Verhältnisse respektive der Wahrnehmung des Autors bedeuten würde. Letzteres liegt außerhalb der Möglichkeit, ersteres ist allenthalben nur mit großem Aufwand zu leisten. Vgl. Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart: Kröner 2001. S. 470 [Literari(zi)tät] Vgl. Zahn, Reise als Begegnung. S. 29.

Fragestellung und Vorgehensweise

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desse et delectare“56 Folge zu leisten, betreten Reiseautoren damit in vielfältiger Weise literarisches Gebiet. Zuvorderst erfolgt in diesem zweiten Abschnitt der Arbeit eine zusammenfassende Bestandsaufnahme und Betrachtung poetologischer Grundlagen der Gattungen Reisebericht und Reisetagebuch. Daraufhin wird eine Untersuchung der Texte auf rhetorische Besonderheiten vorgenommen. Sowohl das auf Kapitelebene vollzogene Abweichen vom ordo naturalis der Reise als auch eine bestimmte Argumentationsstruktur innerhalb der Kapitel können zugrunde liegende Veröffentlichungsintentionen des Autors entbergen. Das Kapitel „Authentifizierungsstrategien“ beinhaltet sowohl die Analyse von Sprechweisen57 als auch von in die Reisetexte aufgenommenen Textsorten sowie die Untersuchung expliziter Verweise des Erzählers auf seine Anwesenheit als Augen- oder Ohrenzeuge. 58 Diese zum Teil überbetonten Wahrheitsbeglaubigungen gehören zum historisch gewachsenen Inventar von Reiseschriften. Da auch das reisende Individuum nicht nur passiver Konsument, sondern zugleich aktiver Teilnehmer, Benutzer und Gestalter in sozialen Prozessen ist, und aus seinen Erfahrungen heraus sogenannte Denkbilder, i.e.

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Korte konstatiert, dass Reiseberichte aufgrund ihrer Funktion und dem damit einhergehenden starken Objektbezug zuvorderst dem „prodesse“ zuzuordnen seien „da sie wissenswerte Information über das Fremde oder eigene Land zusammenstellen […] Belehrend können Reiseberichte aber auch dadurch wirken, daß sie nachvollziehen lassen, wie ein Ich sich mit der bereisten Welt auseinandersetzt und sich durch den Umgang mit ihr womöglich verändert.“ Doch konstatiert sie weiterhin, dass ihnen aufgrund ihres Themas auch ein großes Potential „delectare“ zu eigen ist, da sie die Neugier nach fremden Ländern, nach neuen oder ungewöhnlichen Erfahrungen stillen und, „je nach Reiseart und -gebiet, auch ein Bedürfnis nach Abenteuer erfüllen“. (Vgl. Korte, Der englische Reisebericht. S. 10.) Hierunter soll die analog in fiktiven Werken zur Anwendung gebrachte Übertragung des „point of view“ vom „Bericht eines Erzählers zur erlebten Wahrnehmung einer Romanfigur“ verstanden werden. (Vgl. Franz K. Stanzel, Theorie des Erzählens. Göttingen 1995. S. 23.) Sowohl in rein fiktiven Werken als auch in Erzähltexten mit Wirklichkeitsbezug dient diese Vorgehensweise dazu, „‚die Wahrnehmung wiederherzustellen, die Dinge fühlbar, den Stein steinig zu machen‘“ – und damit auch der Untermauerung der Authentizität von Sachverhalten. (Viktor Šklovskij (1966, S. 14.) zitiert in: ebd.) Letztlich sollen auch jene hier noch nicht umfassten Strategien zur Authentifizierung des „Augenzeugenberichts“ aufgenommen werden, die Korte als Beweis für Fiktion deutet. Hierunter fällt die explizite Aufnahme von schriftlicher Betonung der Augenund Ohrenzeugenschaft sowie die Aufnahme ausgedehnter wörtlicher Rede als Teil vermeintlicher Dialoge.

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Einleitung

Vorurteile und Stereotype, entwickelt59, darf insbesondere bei Reisetexten eine Untersuchung von Anwesenheit und Ausgestaltung von Stereotypen und deren Vorformen, Vorurteile und Verallgemeinerungen, nicht fehlen. Dieses „Vorwissen“ über die Fremde transzendiert das tatsächlich auf einer Reise Begegnende und kann im Sinne der Förderung von Verständlichkeit auch als Literarisierungsbeleg gelten. Der oben benannte Ich-Erzähler ist insofern in den vorliegenden Fällen besonders, als dass er den Autorinnen gleichzusetzen ist. Im Kapitel „Ich-Erzählerin als erlebendes Ich“ erfolgt eine heuristische Annäherung an die Funktionen und Rollen der Autorinnen, die sich allein im Reisetext mitteilen. Zu fragen ist, aus welchen sozialisierten oder natürlich gegebenen Rollen die Autorinnen auf die (russische) Welt blicken und wie sie von dieser erblickt werden. Im Kleinen wie im Großen ist der Mensch „blickender Mittelpunkt seiner Welt“ und der Blick das ordnungsschaffende Prinzip.60 So soll an den Anmerkungen und Urteilen der Autorinnen abgelesen werden, wer sie waren und wie man exemplarisch in einer jeweiligen Rolle in Sowjetrussland wahrgenommen wurde. Damit werden die Reisetexte zur Grundlage einer werkimmanenten Inhalts- und Formanalyse gemacht. Allein die Explikation der Autorinnen anhand bestimmter Rollen geht insofern über den Text hinaus, als dass biografische Daten als Kategorien herangezogen werden. Zur Kontextualisierung bestimmter im Reisetext benannter Phänomene oder historischer Geschehnisse erfolgt, ganz im Sinne Karolina Dorothea Fells, so gut wie möglich ein Abgleich zwischen „realer Reise“ und ihrer „Verarbeitung“.61 Hierfür werden sowohl Heekes Ausarbeitung62 als auch weitere allgemein-historische Werke zu Rate gezogen.63 59 60 61 62

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Vgl. Donal O’Sullivan, Furcht und Faszination. Deutsche und britische Russlandbilder (1921–1933). Köln [u.a.] 1996. S. 7. Birgit Harreß, „‚Glasa naši vstretilis’‘. Über die existentielle Dimension des Blicks in F. M. Dostoevskijs Erzählung Krotkaja“. In: Dostoevsky Studies. Bd. 4. 2000. S. 117. Vgl. Fell, Kalkuliertes Abenteuer. S. 12. Heekes Arbeitshypothese, dass die konkreten Reiseumstände und Bedingungen im Land stark auf die Produktion der Reisetexte einwirken, wird von ihm bestätigt (vgl. Heeke, Reisen zu den Sowjets. S. 548) und so dient seine Untersuchung über die Gegebenheiten für Reisende in Russland an vielen Stellen als gute Ressource. Hierbei ist zu beachten, dass der von ihm untersuchte Zeitraum 1921 beginnt. Es werden daher an gegebener Stelle Informationen zu Rate gezogen, die sich auf Phänomene beziehen, die sowohl vor als auch nach 1921 existent waren. Von Relevanz sind für die vorliegende Arbeit Richard H. Ullman, The Anglo-Soviet Accord. (The Anglo-Soviet Accord). Princeton [u.a.] 1972.; Alex P. Schmid,

Forschungsstand

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Forschungsstand Sowohl die Erforschung von Reisetexten allgemein als auch speziell jenen über Russland respektive die Sowjetunion kann mit vielen Ergebnissen aufwarten. Verschiedene Disziplinen haben ihre Theorien und Methodiken fruchtbar gemacht, um Erkenntnisse über die Gattung und den historischen Standort verschiedener Länder zu gewinnen. Mit den Untersuchungen von Paul Hollander64, Matthias Heeke65, Inka Zahn66 und Eva Oberloskamp67 liegen Werke vor, die sich mehrheitlich (kultur-)geschichtlichen beziehungsweise kulturpolitischen Phänomenen in Reisetexten über Russland widmen und eine Rekonstruktion der historischen und kulturellen Hintergründe und Reisemotive intendieren. Zahns Untersuchung französischer Reisetexte über das postrevolutionäre Russland umfasst zudem einen Blick auf die literaturwissenschaftlichen Grenzen von Reisereportagen. Im Rahmen der Betrachtung des Phänomens „Transgression“ sucht sie die recht fließenden und schwer greifbaren poetologischen Grenzen dieser Gattung zu fassen. Rein literaturwissenschaftlicher Natur ist die Herangehensweise Peter J. Brenners68, der sich der Ausarbeitung einer Gattungsgeschichte des deutschen Reiseberichts widmet. Wolfgang Neubers69 Aufsatz nimmt die

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Churchills privater Krieg.; Niedhart, „Die Sowjetunion in der britischen Urteilsbildung 1917–1945“.; Stephen White, „British Labour and the Russian Revolution“. Paul Hollander, Political Pilgrims. Travels of Western Intellectuals to Soviet Union, China, and Cuba 1928–1978. Lanham 1990. Heeke unternimmt den Versuch, „einen sprachlich, räumlich und zeitlich begrenzten Quellenbestand an Reiseberichten auf seine organisatorischen Entstehungsbedingungen hin auszuwerten“ (Heeke, Reisen zu den Sowjets. S. 548) und setzt sich damit von jenen bisherigen Untersuchungen zu Reiseberichten und Reiseschriften über Russland/die Sowjetunion ab, die bereits als Prämisse die Täuschung des Reisenden setzen. Heeke will mit seinem Werk „die Perzeptions- und Stereotypenforschung zur Sowjetunion um ein sozial- und reisegeschichtliches Fundament“ ergänzen. (Vgl. ebd. S. 5.) Vgl. Inka Zahn, Reise als Begegnung mit dem Anderen? Französische Reiseberichte über Moskau in der Zwischenkriegszeit. Bielefeld 2008. Eva Oberloskamp, Fremde neue Welten. Reisen deutscher und französischer Linksintellektueller in die Sowjetunion 1917–1939. München 2011. Peter J. Brenner (Hg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt a. M. 1989.; Brenner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Wolfgang Neuber, „Zur Gattungspoetik des Reiseberichts. Skizze einer historischen Grundlegung im Horizont von Rhetorik und Topik.“ In: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Peter J. Brenner (Hg.). Frankfurt a. M. 1989. S. 50–67.

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Einleitung

Verortung des Reiseberichts in der Historiografie wieder auf und liefert entsprechende Deutungsansätze. Ulla Biernat70 geht in ihrer Studie auf der Schnittstelle zwischen Literatur- und Kulturwissenschaft dem Kern von Reiseberichten deutscher Schriftsteller nach 1945 nach. Der bereits in den 1960er Jahren von Manfred Link71 unternommene Versuch einer poetologischen Kategorisierung aller Reiseliteratur mag indes mehrfach kritisiert worden sein, stellt jedoch noch immer einen guten Denkansatz dar. In das weite Feld der literaturwissenschaftlichen und kulturgeschichtlichen Studien reiht sich auch Barbara Korte72 ein, die den englischen Reisebericht zu kategorisieren versucht. Als kulturwissenschaftliches Phänomen oder Spiegel der Kulturen befragen bspw. Kristie Siegel 73 , Peter Hulme und Tim Youngs 74 sowie Carl Thompson 75 die mehrheitlich englische Reiseliteratur, die über eine Vielfalt von Ländern Auskunft gibt. Dorothea-Karolina Fell 76 widmet sich mit ihrer Arbeit über Frauenreiseberichte der Kulturgeschichte und den Gender Studies und hob bisher ungesichtetes Material an das Licht der Öffentlichkeit. In nicht geringem Maße sind geschichts- beziehungsweise politikwissenschaftliche Fragestellungen in die Bearbeitung von Reise-

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Ulla Biernat, ‚Ich bin nicht der erste Fremde hier‘. Zur deutschsprachigen Reiseliteratur nach 1945. Würzburg 2004. S. 17. Auch Schlösser widmet sich Reisetexten von professionellen Schriftstellern. (Vgl. Hermann Schlösser, Reiseformen des Geschriebenen. Selbsterfahrung und Weltdarstellung in Reisebüchern Wolfgang Koeppens, Rolf Dieter Brinkmanns und Hubert Fichtes. Wien [u.a.] 1987.) Es sei explizit darauf verwiesen, dass keine der drei in der vorliegenden Arbeit untersuchten Autorinnen professionelle Schriftstellerin war. Vielmehr bewegten sich Snowden und Pankhurst im Bereich der politischen Journalistik. Sheridan machte sich erst nach ihrem ersten Russlandaufenthalt einen Namen als international tätige Publizistin und Autorin von autobiografischen Werken. Manfred Link, Der Reisebericht als literarische Kunstform von Goethe bis Heine. Köln 1963. Barbara Korte, Der englische Reisebericht. Von der Pilgerfahrt bis zur Postmoderne. Darmstadt 2011. Kristi Siegel (Hg.), Issues in Travel Writing. Empire, Spectacle, and Displacement. New York [u.a.] 2002. Peter Hulme, Tim Youngs (Hg.), Cambridge Companion to Travel Writing. Cambridge 2002. – Hierin findet sich auch der Beitrag von Mary Baine Campbell, „Travel writing and its theory“ (S. 261–279), der sich ausschließlich möglichen Herangehensweisen an Reiseliteratur (travel writing) widmet. Carl Thompson, Travel Writing. London [u.a.] 2011. Karolina Dorothea Fell, Kalkuliertes Abenteuer. Reiseberichte deutschsprachiger Frauen (1920–1945). Stuttgart [u.a.] 1998.

Forschungsstand

31

texten über das postrevolutionäre Russland involviert. Explizit sind hier Donal O’Sullivans77 und Sylvia Margulies’78 Arbeiten zu erwähnen. Die vorliegende Arbeit gliedert sich bezüglich der Gattung des Reiseberichts in einen bereits weit gediehenen Korpus historischer und literaturwissenschaftlicher Analysen ein. Das Reisetagebuch nimmt sich diesbezüglich abweichend aus. Während aus literaturwissenschaftlicher Sicht relevante Vorarbeiten zum Tagebuch insbesondere mit Arno Dusinis Das Tagebuch vorliegen 79 , ist das Reisetagebuch aus literaturtheoretischer Sicht bisher eher vernachlässigt worden. Eine thematische Fokussierung fand lediglich in Exkursen innerhalb allgemeiner Ausarbeitungen zum Tagebuch statt.80 Die mit dieser Arbeit generierten Befunde über das Russlandbild und die Be- und Entgrenzung der reiseliterarischen Gattungen sollen als Material für zukünftige, beispielsweise komparatistische Studien von Reisetexten verschiedener Länder, analog der Arbeiten Zahns und Oberloskamps, verfügbar gemacht werden. Für britische Reiseberichte fehlen bis dato derlei Übersichtsarbeiten explizit für die frühen 1920er Jahre. Auch eine vertiefte Beschäftigung von Reiseberichten in der Literaturwissenschaft soll angestoßen werden. Mit der Analyse von Literarizität stellt sich die Frage nach dem generellen ästhetischen Wert von Reisebericht und Reisetagebuch. Die Vorgehensweise dieser Arbeit ist derart, dass sowohl die inhaltlichen als auch formalen Analysekategorien an die drei 77

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79

80

Donal O’Sullivan, Furcht und Faszination. Deutsche und britische Russlandbilder (1921–1933). Köln [u.a.] 1996. Diese Arbeit leistet einen Beitrag zur Perzeptionsforschung und versucht folglich zu ergründen, ob und wie der zur Untersuchung herangezogene und Russland thematisierende Korpus (neben Reiseberichten auch wissenschaftliche Analysen und Kampfschriften) Einfluss auf die öffentliche Meinung nahm. Sylvia R. Margulies, The Pilgrimage to Russia. The Soviet Union and the Treatment of Foreigners. 1924–1937. Madison [u.a.] 1968. Die Autorin unterstellt von vornherein, dass Sowjetunionreisende strukturiert getäuscht wurden und geht hernach daran, die Tourismusinstitutionen der Sowjetunion näher zu beschreiben und ausgewähltes Material (Memoiren, staatliche Dokumente, Veröffentlichungen der KPdSU und Interviews) auszuwerten. Arno Dusini, Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung. Paderborn [u.a.] 2005. – Vgl. auch Ralph-Rainer Wuthenow, Europäische Tagebücher. Eigenart, Formen, Entwicklung. Darmstadt 1990; Claus Vogelsang, „Das Tagebuch“. In: Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa. Klaus Weissenberger (Hg.). Tübingen 1985. S. 185–202; Albert Gräser, Das literarische Tagebuch. Studien über Elemente des Tagebuchs als Kunstform. Saarbrücken 1955. Beispielsweise in Wuthenow, Europäische Tagebücher. S. 165–180.

32

Einleitung

benannten Reiseschriften (Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia, Sylvia Pankhursts Soviet Russia As I Saw It sowie Clare Sheridans Russian Portraits) angelegt werden, wobei die Reisetexte der Chronologie der Reisen folgend bearbeitet werden.

I. Theoretische Überlegungen zu Inhalt und Form der Reiseschriften

1

Inhalt

1.1

Philosophischer Exkurs zu Zeit, Raum und Fremde

„Der Abschied, die Ankunft, der Aufenthalt, die Abfahrt – all das sind Momente zwischen Geburt und Lebensende.“ 1 Mit den Worten Elmar Schenkels gesprochen kann das ganze Leben als Reise aufgefasst werden, denn auch hier finden sich jene „Stationen“, die eine Reise kennzeichnen. Gemeinhin wird jedoch unter einer Reise der zeitlich begrenzte Aufenthalt außerhalb alltäglicher Umgebung verstanden. Der althochdeutsche Ursprung des Wortes „Reise“ liegt in den Begriffen „Aufbruch, Zug, Fahrt“ und bekommt im Mittelhochdeutschen kriegerische Konnotationen im Sinne von Kriegs- beziehungsweise Heereszug. 2 Das dazugehörige Verb „reisen“ bedeutete ursprünglich „sich von unten nach oben bewegen, aufstehen“, aber auch „fallen“. 3 Das der Reise immanente „Sich-inBeziehung-Setzen zu einer örtlichen Gegebenheit“ stellt laut Michael Maurer einen Teil jeder menschlichen Kultur dar, da der Mensch ein zeitund raumgebundenes Wesen ist.4 Die Erfahrungen einer Reise sind individuell und blieben der Öffentlichkeit verborgen, würden sie nicht zuweilen mündlich oder schriftlich erzählt werden. Diese literaturwissenschaftlich als „Reiseliteratur“ gefassten Werke stellen (vermeintlich) die Reise in den Mittelpunkt. Allerdings zeigt sich in der Analyse, dass der Begriff „Reise“ nur ein Behältnis für vielerlei Phänomene darstellt: angefangen bei den Umständen der Fortbewegung, über die Begegnung mit fremden Orten und Menschen bis hin zu einer neuen Wahrnehmung des eigenen Selbst. All das kann sich in Reiseschriften direkt oder indirekt widerspiegeln. Nachfolgend soll ein Exkurs in philosophische Konzepte von Zeit, Welt und Fremde unternommen werden, um die mit der Reise einhergehenden Phänomene für eine spätere Analyse der Reisetexte verständlicher zu machen.

1 2 3 4

Elmar Schenkel, Vom Rausch der Reise. Basel 2012. S. 39. Vgl. Wolfgang Pfeifer (Hg), Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. München 2005. S. 1109. [Reise] Ebd. Michael Maurer, Kulturgeschichte. Eine Einführung. Köln [u.a.] 2008. S. 165, 171.

1.1 Philosophischer Exkurs zu Zeit, Raum und Fremde

1.1.1

35

Alltag und Alltäglichkeit

Eine Reise an sich kann gemessen werden an Start- und Zielzeit – zwei Punkte, die die Bewegung einer Reise chronologisch begrenzen. Obwohl Zeit quantifizierbar ist, wird ihr Vergehen, abhängig von der jeweiligen Lebenssituation, nur mehr oder minder bewusst wahrgenommen: Im alltäglichen Leben mögen Termine auf das Vergehen von Zeit im Kleinen verweisen; das Große ganze jedoch, die eigentliche Lebenszeit, vergeht unbesehen im Strudel des Alltags. Heidegger stellt Zeit als den lebensbegrenzenden Faktor dar und folgert daraus, dass die Gewissheit eines Endpunkts notwendigerweise dazu führen müsse, die eigensten Möglichkeiten des Daseins auszuloten und umzusetzen. Hierfür müsse man sich aus dem Zustand der „Alltäglichkeit“ lösen – dem Zustand, in dem sich das Dasein „zunächst und zumeist hält“5. Diese „durchschnittliche Alltäglichkeit“ bezeichnet nicht ausschließlich die Summe aller Tage, die „dem Dasein in seiner ‚Lebenszeit‘ beschieden sind“6, vielmehr ist sie eine „grundlegende und unhintergehbare Dimension des Lebens“7. Es ist die „unauffällige, durchschnittliche Weise des Existierens“8 und das „Wie, demgemäß man ‚in den Tag hineinlebt‘“9. Hierzu gehören sowohl das „Behagen in der Gewohnheit“ als auch das Gefühl einer „fahlen Ungestimmtheit“, d.h. des dumpfen Erlebens immer gleicher Tage. 10 In dieser Alltäglichkeit kann sich der Fokus auf benannte eigenste Möglichkeiten verlieren. Heidegger spricht davon, dass in diesem Zustand das eigentliche Selbst zum sogenannten „ManSelbst“ wird11; angepasst an eine öffentliche Umwelt, die Heidegger als das „Man“ bezeichnet. Vor dem Hintergrund des Gedankens, mit einer Reise die gewohnten, „alltäglichen“ Bahnen zu verlassen, kann behauptet werden, dass die Reise den ausdrücklichen Versuch darstellt, Alltäglichkeit und Alltag zu durchbrechen und dadurch nicht zuletzt zum eigentlichen Selbst zu fin-

5 6 7

8 9 10 11

Heidegger, Sein und Zeit. S. 370. Ebd. Christiane Solte-Gresser, Spielräume des Alltags. Literarische Gestaltung von Alltäglichkeit in deutscher, französischer und italienischer Erzählprosa (1929–1949). Würzburg 2010. S. 26. Heidegger, Sein und Zeit. S. 370. Ebd. S. 371. Ebd. S. 370 f. Ebd. S. 113–129.

36

1 Inhalt

den.12 „Momente der Unsicherheit“13, die dieses Jenseits des Alltags aufweist, forcieren sowohl eine Neuorientierung des an Vertrautes gewohnten Blicks als auch eine Veränderung der bekannten Umgangsweisen. Die Transzendierung des Alltäglichen verspricht die Eröffnung neuer Horizonte und damit eine Entgrenzung der Lebenswelt, die das noch kürzlich Fremde bestenfalls einschließt und den Verstehenshorizont erweitert. Immer bleibt jedoch fraglich, inwiefern sich ein Nicht-Alltag aufrechterhalten lässt oder ob auch dieser nicht über kurz oder lang abermals zum Alltag wird, in der das Dasein in Alltäglichkeit verharrt. Abhängig vom Zweck einer Reise wird mit dieser mehr oder weniger Alltag intendiert; Vergnügungs-, Erholungs- und Abenteuerreisen lassen vermuten, dass ein Alltag und damit einhergehende Alltäglichkeit nicht erwünscht sind. Eine Reise hingegen, die aus professionellen Gründen geschieht, trägt zumindest einen Teil des gewohnten Alltags mit sich: Die Ausübung einer Profession, die zumeist und zunächst einen großen Teil des Alltags ausmacht, findet dann in gewohnter Art und Weise, nur an einem anderen, fremden Ort statt. 1.1.2

Welt

Gerade im Kontext des Reisens spielt Raum eine essentielle Rolle. Dieser soll im Zusammenhang mit der vorliegenden Arbeit als Welt verstanden und zum weiteren Verständnis der Vorgänge auf einer Reise in kommensurable Teile zerlegt werden – vorerst in eine „bekannte“ und „unbekannte“ Welt. Als Ausgangspunkt dient Edmund Husserls Konzept der Lebenswelt, „in der wir als Menschen unter Mitmenschen in natürlicher Einstellung Natur, Kultur und Gesellschaft erfahren, zu ihren Gegenständen Stellung nehmen, von ihnen beeinflusst werden und auf sie wirken“.14 Das Denken vollzieht sich in der Lebenswelt als ein „Und so weiter“ und „Ich kann immer wieder“15, wofür die erworbene Kenntnis 12

13 14 15

Vgl. hierzu Mulligans These, dass Reiseliteratur von Frauen oft das „Leben von Frauen in besonders schwierigen Zeiten, in Zeiten von Gefahr, Aufregung oder Errungenschaften enthüllt.“ (Maureen Mulligan, „Women Travel Writers and the Question of Veracity“. In: Women, Travel Writing, and Truth. Clare Broome Saunders (Hg.). New York [u.a.] 2014. S. 171–184. S. 183 f.) Solte-Gresser, Spielräume des Alltags. S. 12. Alfred Schütz, Theorie der Lebenswelt 1. Die pragmatische Schichtung der Lebenswelt. Hg. von Martin Endreß und Ilja Srubar. Konstanz 2003. S. 327. Ebd.

1.1 Philosophischer Exkurs zu Zeit, Raum und Fremde

37

der Dinge und ihrer Abläufe die Grundlage bildet. Innerhalb der Lebenswelt, vielmehr: diese teilend, zeigen sich die sogenannte Heim- und Fremdwelt16, die als „bekannte“ beziehungsweise „unbekannte“ Welt auf den Konzepten von Eigenheit und Fremdheit basieren. Die Fremde beginnt raumphilosophisch besehen „mit der Unterscheidung von Eigenund Fremdorten, die das örtliche Anderswo als Ursache für die Fremdheit des nicht verstandenen Anderen setzt“17. Das Eigene ist der jeweilige Standpunkt, von dem aus das (relativ) Fremde als solches wahrgenommen wird. In Bezug auf das Reisen stellt Maurer fest, dass die eigene Kultur im Zentrum des Weltbildes steht und die Welterschließung, die auch das Reisen kennzeichnet, „von einem Punkt der Identität aus“ 18 geschieht. „[D]as Eigene ist das Nahe, das Ferne das Fremde.“19, womit die dem Wort „fremd“ inhärente Bedeutung unterstützt wird. Strenggenommen sei das Fremde ein „Nicht-Ort“20, so Waldenfels: Er ist nicht zugänglich, weil er der Erfahrung unbekannt und damit als Platz für Wissen im Erfahrungsschatz noch nicht lokalisiert ist. Trotzdem stelle das Fremde etwas Alltägliches, Vertrautes dar21, denn sein Auftreten und der Umgang mit ihm in Form des Unvertrauten und Unbekannten finden sich auch im alltäglichen Leben. Sichtbar wird dies anhand der drei Arten von Fremdheit, die Waldenfels vorschlägt. Er deklariert sie als alltägliche (oder normale), strukturale und radikale Fremdheit.22 Als relatives

16

17 18 19 20 21

22

Vgl. Bernhard Waldenfels, „Verschränkung von Heimwelt und Fremdwelt“. In: Philosophische Grundlagen der Interkulturalität. Ram Adhar Mall, Dieter Lohmar (Hg.). Amsterdam [u.a.] 1993. S. 53–65. S. 53. Hedwig Wagner, „Fremde“. In: Lexikon der Raumphilosophie. Stephan Günzel (Hg.). Darmstadt 2012. S. 129–130. S. 129. Maurer, Kulturgeschichte. S. 165. Ebd. Bernhard Waldenfels, Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden I. Frankfurt a. M. 1997. S. 26. Ebd. S. 16. – Für Janz hängt neben den Attributen unbekannt und unbestimmt auch das Gefühl des Unheimlichen an – zusammengefasst: das Unvertraute, das faszinieren aber auch in Schrecken versetzen kann. (Rolf-Peter Janz (Hg.), Faszination und Schrecken des Fremden. Frankfurt a. M. 2001. S. 9.) Vgl. Waldenfels „Verschränkung von Heimwelt und Fremdwelt“. S. 59. – Mit radikaler Fremdheit ist nicht absolute Fremdheit gemeint: „Alles außer-ordentliche bleibt bezogen auf die jeweilige Ordnung, der es sich entzieht und die es übersteigt [...]. Eine Fremdsprache, die absolut anders wäre als die eigene Sprache, würde nicht einmal als Sprache gehört, sie wäre keine Fremdsprache mehr und würde sich in ein merkwürdiges Geräusch verwandeln.“ (Ebd. S. 59.)

38

1 Inhalt

Phänomen ist das Fremde immer bezogen auf bestimmte Standorte23, die die jeweils grundlegende, bekannte Ordnung bezeichnen. Demnach bezieht sich die alltägliche Fremdheit auf Phänomene innerhalb einer bekannten Ordnung, die strukturale Fremdheit auf etwas außerhalb dieser und die radikale Fremdheit auf ein Phänomen außerhalb einer jeden Ordnung.24 So besehen korreliert die von Maurer konstatierte geografische Raumgebundenheit auf sozialpsychologischer Ebene mit einer Ordnungsgebundenheit. Das Verlassen der heimweltlichen Ordnung führt zu einer Irritation des Husserl’schen „Und so weiter“; die Reise bedeutet dann eine Entgrenzung der bekannten Welt und hier zeigt sich, weshalb Waldenfels von der Husserl’schen Lebenswelt als „Zwischenwelt“ 25 spricht: Der Anteil an unverrückbarem Wissen im Umgang in der Welt (Heimwelt) reduziert sich zugunsten der Fremdwelt, die sich dem Reisenden darbietet. Die Entgrenzung der Heimwelt ist eine (temporäre) Verschiebung von Grenzen innerhalb der Lebenswelt. Alle mit der Reise einhergehende Auseinandersetzung mit (noch) fremden Phänomenen wird folglich vor dem Hintergrund des Eigenen (Weltbildes) ausgetragen. Wird das Fremde hernach zum Bekannten, verliert es seinen Status als Fremdes: Durch Verstehen oder/und Aneignung wird es zum Vertrauten, vielleicht zum Eigenen. 1.1.3

Fremdheit und Fremderleben

Im Versuch, den als „‚fremd‘ bezeichneten Phänomenen“ näher zu kommen, führt Waldenfels die von Münkler und Ladwig vorgegebene Unterscheidung von sozialer und kultureller Fremdheit aus.26 Während soziale 23

24 25 26

Waldenfels, Topographie des Fremden. S. 6. – Waldenfels schreibt hierzu auch: „Fremdheit bestimmt sich, wie Husserl sagen würde, okkasionell, bezogen auf das jeweilige Hier und Jetzt, von dem aus jemand spricht, handelt und denkt. Ein standortloses ‚Fremdes überhaupt‘ gliche einem ‚Links überhaupt‘ – ein monströser Gedanke, der Ortsangaben mit begrifflichen Bestimmungen vermengt. Im Falle des Eigenen und Fremden handelt es sich also nicht um zwei bloße Terme, sondern um zwei Topoi.“ (Ebd. S. 23.) Vgl. Waldenfels „Verschränkung von Heimwelt und Fremdwelt“. S. 59. Vgl. ebd. S. 53. Bernhard Waldenfels, „Kulturelle und soziale Fremdheit“. In: Einheit und Vielfalt. Das Verstehen der Kulturen. Notker Schneider (Hg.). Amsterdam [u.a.] 1998. S. 13– 35. S. 14.

1.1 Philosophischer Exkurs zu Zeit, Raum und Fremde

39

Fremdheit hier als „Nichtzugehörigkeit“ und damit als „Distanz zu einer sozialen Einheit oder einer Gruppe“ bestimmt wird27, basiert kulturelle Fremdheit auf Husserls Konzept der Lebenswelt und damit auf den benannten Ordnungsschemata. Sie wird verstanden als die „Unvertrautheit und Unverständlichkeit von Wahrnehmungsgestalten und Handlungssituationen, denen unser ‚Wissensvorrat‘ nicht gewachsen ist“28. Es ist eine Konfrontation mit einer „anderen Wirklichkeitsordnung“29. Dabei unterteilt sich Unvertrautheit in eine epistemische – im Sinne einer Irritation des ausdrücklich formulierten „zu wissen, dass…“ – und eine praktische – die Irritation des impliziten „zu wissen, wie…“.30 Während die soziale Fremdheit von den gegebenen Normen abhängt, ist die Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen beziehungsweise Verständnis und Unverständnis kultureller Fremdheit standortabhängig. 31 Diese Fremdheit evoziert „die Herausforderung zu neuem Verstehen“ und provoziert „produktive Formen der Verfremdung“.32 In der Folge kommt es bestenfalls zu Lernund Umgewöhnungsprozessen. Ortfried Schäffter schlägt vier Schemata vor, mit denen Fremderleben gedeutet werden kann: Die „Ordnungen transzendenter Ganzheit“ umfassen dabei die Bewusstwerdung über die Eigenheit als Teil einer großen Ganzheit. Dieses Ganze wird als gleichermaßen furchterregend und faszinierend, beispielsweise in Grenzsituationen zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein, wahrgenommen. Dieses Verständnis von Fremdheit basiert auf der Erkenntnis, dass der eigene Ursprung in der Welt liegt und das Eigene ergo Teil derselben ist.33 Vor dem Hintergrund einer Suche nach innerer Kohärenz und Eindeutigkeit fassen die „Ordnungen perfekter Vollkommenheit“ das Fremde als Negation des Eigenen auf. Das Fremde wird als unvereinbar mit dem Eigenen wahrgenommen und dient als Kontrast, „der als Gegenbild gerade die Identität des Eigenen verstärken kann“.34 Dabei wird es im Rahmen einer Innen-Außen-Relation konsequent mitgedacht, ist also anwesend, 27 28 29 30 31 32 33

34

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. S. 14 f. Vgl. ebd. S. 15. Ebd. Vgl. Ortfried Schäffter, „Modi des Fremderlebens. Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit.“ In: Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung. Ortfried Schäffter (Hg.). Opladen 1991. S. 11–42. S. 16 ff. Ebd. S. 19.

40

1 Inhalt

was sich darin zeigt, dass das Innere (Eigene) überbetont wird.35 Fremderleben auf dem Grund einer solchen Ordnungsvorstellung ruft „notwendigerweise konflikthafte Gegensätzlichkeit hervor“.36 Schäffter konstatiert, dass „das konkrete Gegenbild“ im Rahmen dieses Ordnungsschemas bei Bewusstwerdung der reduzierten Eigenheit zugunsten von Reinheit einerseits zum „Vor-Bild“ werden – das Fremde würde dann zum „Schatten“ (C. G. Jung) –, andererseits den „utopischen Charakter des Fremden als Negation“ zum Vorschein bringen könne – das Fremde wäre dann der „positive[…] Gegensatz einer negativ erlebten Eigenheit“.37 So entstünden, nach Schäffter, Utopien. Die Erfahrung, dass die „paradiesisch friedliche[…] Humanität nicht mehr in dem räumlich eng gewordenen Globus gesucht werden kann“, ließe als Ausweg nur noch die Zeit gelten und das utopische Gegenbild fände sich dann in „erträumten Reiseberichten und Entdeckermythen“ wieder.38 Mit dem Denken in diesem Ordnungsschema, insbesondere wenn es den benannten utopischen Grad der Umwandlung erreicht hat, gingen nicht selten Herrschaftsansprüche einher: Das Fremde würde als Regulativ zur eigenen Kultur angeeignet.39 „Ordnungskonzepte dynamischer Selbstveränderung“ bedeuten vor dem Hintergrund der Anerkennung komplexer Sinnsysteme ein Zusammenspiel von Innen und Außen. Prozesse würden durch eine „Verinnerlichung von Äußerem“ und Entäußerung von Innerem geregelt, wodurch es zwangsläufig zur „strukturellen Selbstveränderung“, zu Entwicklung und Wachstum käme. 40 Eigene Möglichkeiten würden mit unterschiedlicher Intensität am Fremden ausgelotet und umgesetzt, eigene Fehlstellen durch Fremdes ergänzt. „Fremderfahrung ermöglicht […] Selbsterfahrung im Sinne eines Aufdeckens von Lücken, Fehlstellen oder […] auch von ‚Fehlern‘“.41 Wie das zuvor benannte Deutungsmuster sei auch das vorliegende ambivalent: Die Lust an der Öffnung für das Fremde, an der Informationsbeschaffung zugunsten einer persönlichen Weiterentwick-

35 36 37 38 39

40 41

Vgl. ebd. Ebd. Ebd. S. 21. Ebd. Vgl. ebd. – Waldenfels weist darauf hin, dass tatsächliche Aneignung, im Sinne einer Unterwerfung des Fremden, unbedingt zu unterscheiden ist vom Prozess des Fremdverstehens. In diesem wird nur das Wissen über die Sache angeeignet, nicht aber die Sache selbst. (Vgl. Waldenfels, „Kulturelle und soziale Fremdheit“. S. 16.) Schäffter, „Modi des Fremderlebens“. S. 22. Ebd. S. 23.

1.2 Historische Einordnung der konkreten „Fremde“

41

lung, berge die Gefahr eines „Sinnverlusts“, der aus einer „Überforderung der eigenen Integrations- und Verarbeitungskapazität“ herrühre.42 Ähnlich dem dritten Deutungsschema zeigen sich „Konzeptionen komplementärer Ordnung“, mit dem Unterschied jedoch, dass diese nicht mehr ambivalent ein Eigenes und ein Fremdes denken, sondern im Sinne einer komplexen Welt, polyvalente Positionen einbezögen. Es gilt nunmehr eine Praxis des Unterscheidens; „die Ordnung lebt dabei von einem permanenten ‚Oszillieren‘ zwischen Positionen der Eigenheit und der Fremdheit, die sich im gegenseitigen Kontakt hervorrufen“43. Während die drei erstbenannten Schemata von einer totalen Verstehbarkeit der Fremde ausgehen, bezieht die vierte Deutungsoption die Möglichkeit der Unverstehbarkeit als „Anerkennung einer Grenzerfahrung im Sinne einer bedeutungsvollen Einsicht in eine konkrete Grenzlinie eigener Erfahrungsmöglichkeiten“ ein. 44 Dies hat zur Konsequenz, dass bestimmte externe Bereiche in „ihrem autonomen Eigenwert respektiert“ und die gegenseitige Differenz anerkannt werden müssen.45 Schäffter sagt, dass das Fremde in diesem Fall „als Ergebnis einer Unterscheidungspraxis in wechselseitiger Interaktion erkennbar, nie jedoch endgültig bestimmbar“ sei.46 Bevor die Fragen nach dem Umgang mit der Fremde an die vorliegenden drei Reisetexte gerichtet werden, wird im Folgenden der von den drei Reisenden konkret bereiste Fremdort, das postrevolutionäre Russland, in seinem politisch-gesellschaftlichen Zustand skizziert.

1.2 1.2.1

Historische Einordnung der konkreten „Fremde“ Sowjetrussland im Jahr 1920

Dem Jahr 1920 gingen in Russland ereignisreiche, die Ökonomie und Gesellschaft fundamental verändernde Jahre voran. Die dritte Russische Revolution brachte im November 1917 47 mit den Bolschewiki letztlich 42 43 44 45 46 47

Ebd. S. 24. Ebd. S. 25. Ebd. S. 26. Ebd. Ebd. S. 27. Nach dem Julianischen Kalender fand die Absetzung der provisorischen Regierung Kerenskijs und die Machtübernahme durch die Bolschewiki am 25. Oktober 1917 statt, nach dem Gregorianischen Kalender handelt es sich um den 7. November. (Vgl.

42

1 Inhalt

eine kommunistische Regierung an die Macht. Kurz nach deren Machtübernahme rief Lenin „die Völker zu einem gemeinsamen Frieden auf“.48 Da die russische Armee einen ökonomischen und moralischen Tiefstand erreicht hatte, fiel diese Forderung, den Kampf mit friedlichen, gelegentlich propagandistischen, statt mit kriegerischen Mitteln fortzuführen, auf fruchtbaren Boden.49 Einem Waffenstillstandsgesuch von Seiten der Bolschewiki folgten Friedensverhandlungen mit den Mittelmächten, die in den im März 1918 unterschriebenen Friedensvertrag von Brest-Litovsk mündeten. Damit schied Russland aus einem der größten internationalen Konflikte des 20. Jahrhunderts aus, stand innenpolitisch jedoch noch vor einer der „brutalsten Episoden“ eines Jahrhunderts, „das deren nur allzu viele erlebt hat“50: dem russischem Bürgerkrieg (1918–1921/22). Diese Jahre, die Martin Malia „mit dem alten und unverwechselbar russischen Begriff der smuta [fasst], der im Allgemeinen mit ‚Zeit der Wirren‘ übersetzt wird“51, stellen gleichzeitig „die Gründerjahre des Kommunismus als einer real existierenden Ordnung [dar], [eine] Zeit, in der die Matrix der Sowjetgesellschaft festgelegt wurde, wie sie die kommenden fünfundsiebzig Jahre, den größten Teil des Jahrhunderts, überdauern sollte“.52 Es ist die Zeit des sogenannten Kriegskommunismus. Zählte das russische Zarenreich noch kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges nach Deutschland, England und Frankreich zu den größten Wirtschaftsmächten der Welt53, war es 1920 aufgrund des Weltkriegs, der Revolution und der Bürgerkriegswirren von ökonomischem Ruin gezeichnet. Auch der sozialstrukturelle Zerfall zeigte sich 1920 bereits sehr deutlich und zeichnete die russische Revolution als einmalig aus: Während vorangegangene europäische Revolutionen den vorherigen Gesellschaftsbestand nahezu ungeschmälert beibehielten und nach wie vor eine bunt stratifizierte Gesellschaft verzeichnet werden konnte, befand sich Russland auf dem besten Wege, das Ziel der Bolschewiki, eine „Diktatur

48 49 50

51 52 53

Alexander Rabinowitsch, Die Sowjetmacht. Die Revolution der Bolschewiki 1917. Essen 2012. S. 403.) Schmid, Churchills privater Krieg. S. 15. Vgl. Rabinowitsch, Die Sowjetmacht. S. xlix f. Dieser Krieg kostete ca. 15 Millionen Menschen das Leben, die sowohl Opfer der direkten Kriegshandlungen wurden als auch aufgrund der nachfolgenden Epidemien und Hungersnöte starben. (Martin Malia, Vollstreckter Wahn. Rußland 1917–1991. Berlin 1998. S. 169.) Ebd. S. 170. Ebd. S. 138. Manfred Hildermeier, Die Sowjetunion 1917–1991. München 2007. S. 2 ff.

1.2 Historische Einordnung der konkreten „Fremde“

43

des Proletariats“ zu errichten, gänzlich umzusetzen. 54 Alle sozialen Schichten über den einfachen Menschen oder den „werktätigen Massen“ waren als Gruppe beseitigt; der Adel, der Klerus und die Mittelschicht existierten nicht mehr.55 Obgleich die Mehrzahl individueller Angehöriger der enteigneten Gruppen in Russland ansässig blieb, war „doch die Identität und Kohäsionskraft [dieser Klassen] zerstört, und sie fanden sich im neuen System durch Entzug des Wahlrechts und reduzierter Lebensmittelzuteilungen rechtlich benachteiligt.“56 Damit galt die „bürgerliche Gesellschaft“ Russlands als abgeschafft und „übrig blieb eine weitestgehend atomisierte Masse von ‚Werktätigen‘“57. Der russische Bürgerkrieg umfasste neben dem Krieg der Sowjets gegen Polen auch den Kampf der Kommunistischen Partei gegen die Bauern Russlands.58 Diese stellten für die Bolschewiki den neuen Feind dar, was sich exemplarisch an einer Aussage Lenins von 1920 zeigt: „Die Klasse der Kleinproduzenten und Kleinbauern ist eine reaktionäre Klasse.“59 Einerseits war dies ein Kampf gegen die sogenannten „Grünen“ – in die Wälder geflohene Bauern –, „die sich zu Armeen zusammenschlossen, um ihre eigene Vorstellung eines gerechten Staates zu verteidigen“, andererseits ein Krieg gegen Großbauern, der sich offiziell zwar erst mit Einführung des ersten Fünfjahresplans unter Stalin 1928 zeigte, seine Wurzeln jedoch bereits zu Beginn der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts schlug.60 Primär jedoch steht der russische Bürgerkrieg für den Kampf der Roten gegen die Weiße Armee. Mit diesem eng verbunden war die militärische Intervention der alliierten Mächte, die zum Teil als „Churchills privater Krieg“ in die Annalen einging.61 54 55 56 57 58 59 60

61

Vgl. Malia, Vollstreckter Wahn. S. 164 f. Vgl. ebd. S. 165. Ebd. Ebd. Vgl. Susanne Schattenberg, „Der Sieg der Bolschewiki“. In: Informationen zur politischen Bildung. Sowjetunion I. 1917–1953. 322. 2/2014. S. 6–39. S. 21. Ebd. Ebd. – Dieser Haltung steht die Zusammensetzung der neuen Proletarier entgegen: Als Spezifikum Russlands ist zu nennen, dass der Übergang zwischen Bauerntum und Arbeiterschaft fließend war. In 1914 war nur gut ein Drittel der drei Millionen Industriearbeiter und -arbeiterinnen ausgebildete Facharbeiter – die restlichen zwei Drittel entfielen auf un- oder angelernte Hilfsarbeiter, unter denen sich auch Menschen befanden, die dem bäuerlichen Milieu entstammten. (Vgl. Carsten Goehrke, Russland. Eine Strukturgeschichte. Paderborn [u.a.] 2010. S. 170.) Vgl. Schattenberg, „Der Sieg der Bolschewiki“. S. 21. – Bis zum gewaltsamen Tod des britischen U-Boot-Kommandanten und Diplomaten Francis Cromie (1882–1918)

44

1 Inhalt

1.2.2

Die Haltung Großbritanniens zu Sowjetrussland

Die britische Regierung unter Lloyd George war in ihrer Haltung zum postrevolutionären Russland gespalten. Im Jahr 1917 gab es keine Einigkeit darüber, welches das größere Übel sei: das imperialistische Streben Deutschlands oder der bolschewistische Umsturz. Während Premierminister Lloyd George Russland anfänglich wohlwollend gegenüberstand, favorisierten andere ein Eingreifen und die Mobilisierung einer Gegenrevolution. Da diese aufgrund der durch den Ersten Weltkrieg geschwächten inländischen Gegner der Bolschewiki nicht von sich aus entstehen würde, so das Fazit, müsse sie von außen herangetragen werden.62 Unter dem öffentlich kommunizierten Vorwand, tschechoslowakischen Truppen in ihrem Kampf gegen die Mittelmächte beizustehen, entsandten die Alliierten (England, Frankreich, die USA und auch Japan) im August 1918 Truppen in verschiedene Gebiete Russlands.63 Dieser erste Einmarsch, dem auf Seiten der Alliierten keine klare Absprache über die Zielsetzung vorausging, reihte sich in Russland in eine Reihe innenpolitischer Vorfälle ein, die dazu führten, dass die Russische Revolution ihre „Gutmütigkeit“ verlor.64 Der u.a. mit der Ermordung des britischen Diplomaten Francis Cromies nun wahrgenommene „Rote Terror“ wurde von alliierter Seite als Argument zur Rechtfertigung einer weiteren Intervention in Russland ausgelegt, „obwohl der Terror weitgehend ein Produkt [der ersten] Intervention war“65. Die Bolschewiki konnten nun unumwunden als Kriminelle diffamiert und der lange vermuteten Kollaboration mit den Deutschen bezichtigt werden.66

62 63 64

65 66

in St. Petersburg hatte die britische Regierung die Sowjets als De-facto-Regierung behandelt. (Vgl. Schmid, Churchills privater Krieg. S. 25.) Mit Cromies Ermordung nahm die Beziehung zwischen beiden Staaten eine mindere Qualität an, die mit der Nichtanerkennung der Souveränität Sowjetrusslands einherging. Erst mit Unterzeichnung des gemeinsamen Handelsabkommens im März 1921 erkannte Großbritannien das Land abermals und endgültig an. (Vgl. Richard H. Ullman, Anglo-Soviet Relations, 1917–1921. S. vii.; vgl. auch Niedhart, „Die Sowjetunion in der britischen Urteilsbildung 1917–1945“. S. 107.) Schmid, Churchills privater Krieg. S. 18. Vgl. ebd. S. 24. Lev Trockij (1964, S. 196), zitiert in: Schmid, Churchills privater Krieg. S. 24. – In diese Zeit fallen mehrere Komplotte, die vorrangig der Schwächung der Bolschewiki dienen sollten, u.a. die Ermordung des deutschen Botschafters Mirbach durch Sozialrevolutionäre und ein Attentat auf Lenin, das er zwar überlebte, dessen Folgen ihn jedoch ein Leben lang begleiteten. Ebd. S. 25. Vgl. ebd.

1.2 Historische Einordnung der konkreten „Fremde“

45

Letztlich war sich die liberale britische Regierung im November 1918 einig darüber, dass nicht Deutschland, sondern der Bolschewismus die wirkliche Gefahr darstelle67, da sie sich nicht weniger als andere westeuropäische Regierungen vom „Gespenst der Weltrevolution“ bedroht sah. Um einem solchen coup d’état vorzubeugen, der aufgrund der wirtschaftlichen Notlage der Arbeiter auch in Großbritannien nicht auszuschließen war, bediente sich die Regierung zu Propagandazwecken der Medien.68 Zur Aufklärung der britischen Öffentlichkeit über „die ‚wahre‘ Natur des Bolschewismus“ sollten sich die Zeitungen vermehrt „bolschewistischen Ekzessen“ widmen.69 Mit einer in diesem Sinne ausgestatteten medialen Kampagne erlaubte sich die Regierung, die Briten emotional von der Notwendigkeit und Richtigkeit der Intervention zu überzeugen.70 In der offiziellen Darstellung spielte immer noch weniger die Angst vor dem Bolschewismus als vor den imperialen Interessen Deutschlands die ausschlaggebende Rolle in der Politik Großbritanniens. Mit den britischen Parlamentswahlen von Dezember 1918 wurde Lloyd George als Premierminister einer mehrheitlich rechtskonservativen Regierung bestätigt und mit Winston Churchill übernahm ein erklärter Verfechter der britischen Monarchie, ein Kriegsbefürworter und grundlegender Gegner des kommunistischen Russlands, das Amt des Kriegsministers.71 Für die Bolschewiki hegte er Verachtung, denn sie stellten für 67 68

69 70

71

Vgl. ebd. S. 27. „It is difficult to unravel the complexities of this period in Britain. The conservative press, especially The Times, adopted a hard line against Russia, calling for military intervention against Bolshevism. The government concurred. Among British socialists, who were virtually united in their reception of the March Revolution, there was dissent after the Bolshevik takeover. MacDonald was anti-Bolshevik but opposed to intervention. Snowden shared his views, but Henderson supported intervention. The extreme left of the ILP was opposed to intervention and supported the Bolsheviks. Within the Labour Party the range of views was wide, but the majority supported the government. But Labour’s stand for a gradual change to socialism was seen as mere ‚reformism‘ by those whose impatience carried them further to the left.“ (Patricia W. Romero, E. Sylvia Pankhurst. S. 133.) Schmid, Churchills privater Krieg, S. 30. Vgl. ebd. S. 25. – Die anfänglich ziellose Intervention wurde unterdessen argumentativ unterlegt: So sollte, erstens, Deutschland an der Einnahme russischen Menschenund Kriegsmaterials gehindert, zweitens, möglichst viele deutsche Truppen an der Ostfront gebunden und, nicht zuletzt, Deutschlands dominierender Einfluss in Russland nach dem Krieg unterbunden werden. (Vgl. ebd. S. 35.) Vgl. ebd. S. 41 f. – Im Januar 1919 übernahm Churchill das Kriegsministerium, das er bis Anfang 1921 innehatte. (Vgl. Peter Alter, Winston Churchill (1874–1965). Leben und Überleben. Stuttgart 2006. S. 84.)

46

1 Inhalt

ihn Kriminelle72 und Menschen zweiter Klasse dar. Vorrangig fühlte er sich persönlich von ihrem Umgang mit der russischen Aristokratie betroffen: „Churchills blaues Blut bäumte sich gegen die Massenvernichtung von Großfürsten in Rußland auf.“ 73 Mit Ende des Ersten Weltkrieges musste auch der Fortgang der Intervention neu ermessen werden, da nun die Abwehr der Deutschen als Begründung hinfällig geworden war. Es war nun insbesondere Churchill, der sich medienwirksam, an die Moral der Bürger Großbritanniens appellierend, dafür aussprach, die Intervention zum Schutz der nicht-bolschewistischen Bevölkerung im Lande zu belassen.74 Der Manchester Guardian entlarvte die Scheinheiligkeit dieser Begründung und brachte auf den Punkt, worum es der britischen Regierung wirklich ging: In Rußland kämpfen wir weder gegen die Deutschen noch für die Tschechoslowaken, noch für die antibolschewistischen Russen. Wir kämpfen gegen eine Staatsform und einen Eigentumsbegriff, die wir nicht mögen, und mit gutem Grund nicht mögen, aber es ist nicht unsere Aufgabe, sie mit Waffengewalt in einem anderen Land niederzuwerfen.75

Als grundlegend anders kann das Verhältnis britischer sozialistischer Kreise zur Russischen Revolution bezeichnet werden: Die Labour Party und die Arbeiter hatten sich eindeutig positiv in dieser Frage positioniert. 72

73 74

75

„Churchill wurde nie müde, auf die ‚Kriminalität‘ der Bolschewiki zu verweisen. Es ist schwierig auszumachen, wie sehr er wirklich daran glaubte und wie sehr er schließlich von seiner eigenen Rhetorik überzeugt wurde. Dem Unterhaus erklärte er einmal: ‚Mein Haß auf den Bolschewismus und die Bolschewiki hat nichts mit ihrem idiotischen Wirtschaftssystem oder mit ihrer absurden Doktrin einer möglichen Gleichheit zu tun; er kommt von ihrem blutigen und zerstörerischen Terrorismus, den sie überall üben, wo sie hingekommen sind und durch den allein sie ihr verbrecherisches Regime halten können.‘“ (Schmid, Churchills privater Krieg. S. 63.) – In seiner Autobiografie schreibt der schottische Delegierte für den zweiten Kongress der III. Komintern, William Gallacher: „[…] and we [i.e. Lenin and me] chatted for a moment or two about the situation in Britain, which at the moment was of particular interest, with Churchill mouthing fire and brimstone like an inebriated dragon.“ (William Gallacher, The Last Memoirs of William Gallacher. London 1966. S. 148) Lloyd George (1938, S. 325), zitiert in: Schmid, Churchills privater Krieg. S. 63. – Vgl. auch Alter, Winston Churchill. S. 84. Hier berief er sich auf die Allianz, die im Ersten Weltkrieg zwischen dem zaristischen Russland und Großbritannien bestand, und meint mit Nicht-Bolschewiki alle inländischen Gegner der Bolschewiki, insbesondere die Weiße Armee. (Vgl. ebd.) Manchester Guardian (19.12.1918), zitiert in: Schmid, Churchills privater Krieg. S. 50.

1.2 Historische Einordnung der konkreten „Fremde“

47

Churchills Auftrag an die Medien, „drastische Berichte über bolschewistische Verbrechen und Fehlleistungen […]“76 zu verbreiten, zeitigte keine Erfolge bei den britischen Sozialisten. Die Labour Party bekannte sich im Wahlkampf 1918 offen zu ihrer sympathisierenden Haltung zur Revolution und für einen Abzug der englischen Truppen aus Russland.77 Der Erste Weltkrieg hatte diese Partei in die Nähe der Macht in Großbritannien gebracht und so war der „Sozialismus nicht länger ein entfernter Traum, sondern eine greifbare Gewalt geworden, die konkrete Probleme aufzeigte“78. Die politischen Gegebenheiten hatten freilich auch einen maßgeblichen Einfluss auf die Umstände, die Reisende in Russland vorfanden. Die durch den Ersten Weltkrieg, die Russische Revolution und den russischen Bürgerkrieg verursachten Zerstörungen umfassten zu einem Großteil den infrastrukturellen Bereich: Neben der Lähmung des Schienenverkehrs durch „unsachgemäße Belastung und Kampfhandlungen [während des] Ersten Weltkriegs“ 79 , unterband der russisch-polnische Krieg die Aufnahme eines jeden zivilen Verkehrs bis auf weiteres80. Was vom zivilen Verkehr übrig war, wurde von Truppen- und Kriegsgefangenentransporten in Beschlag genommen; ohne Bestechung oder administrative Protektion war zudem der Zugang zu Nahrung oder den kostenlosen Fahrberechtigungsscheinen versperrt. 81 Die bis dato nördliche internationale Verbindung, die man beispielsweise auf Reisen von Großbritannien nach Russland nutzte, wurde durch die neu errichteten baltischen Staaten behindert. Das noch unter dem Zaren mit 70.000 Kilometern gut ausgebaute Schienennetz Russlands konnte einschließlich 3.500 zerstörter Eisenbahnbrücken erst bis 1925 wiederhergestellt werden, was dazu führte, dass der Zugverkehr in den ersten Jahren nach dem Bürgerkrieg eine deutlich geringere Dichte aufwies.82 Die häufig angeführten Vorurteile und Konzeptionen, mit denen Reisende in die Fremde aufbrechen, sind nicht nur durch Bilder und Debatten in den täglichen Medien provoziert, sondern entspringen zu einem nicht geringen Teil auch anderweitig vorrätigen Informationsquellen, wie

76 77 78 79 80 81 82

Ebd. S. 21. Vgl. ebd. S. 39. „Socialism was no longer a distant dream, but a concrete force presenting concrete problems.“ (Cross, Philip Snowden. S. 168.) Vgl. Heeke, Reisen zu den Sowjets. S. 269. Vgl. ebd. S. 15. Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 274.

48

1 Inhalt

zum Beispiel Reisetexten und Sachliteratur zu politischen und/oder gesellschaftlichen Sachverhalten. Insbesondere Reisetexte, die im Vorweg der hier beleuchteten Reisen publiziert wurden und den politischen Umsturz in Russland bereits thematisieren – Reisen und Aufenthalte zwischen 1917 und 1920 –, sind an dieser Stelle von Relevanz. Hiervon gab es in Großbritannien und den USA im Original oder als Übersetzung aus dem Deutschen und Französischen zwischen 1917 und 1920 insgesamt 56 Werke, unter anderem beispielsweise Arthur Ransome, Russia in 1919 (London 1919), William T. Goode, Bolshevism at work (London 1920) und George Lansbury, What I saw in Russia (New York 1920).83 Da Snowdens Bericht und der offizielle Report der Arbeiterdelegation bereits sehr zeitnah nach der Rückkehr veröffentlicht wurden, konnten auch sie Pankhurst und Sheridan als Informationen dienlich sein. Als explizit politisch aufklärende Bücher können Bolshevism in Russia through British Eyes von V. I. Issaiev (London 1919) und Bolshevism. The Enemy of Political and Industrial Democracy von John Spargo (New York, London 1919) genannt werden.84

1.3

Welt und Mensch als inhaltliche Analysekategorien

Die in aller Kürze nachgezeichneten politischen und gesellschaftlichen Umstände bilden den historischen Kontext der Russlandreisen Ethel Snowdens, Sylvia Pankhursts und Clare Sheridans. Den politischen Umständen entsprechend galt das öffentliche Interesse vorrangig dem Inhalt der Reiseschriften. 85 Mit dem Ziel, die dargestellte postrevolutionäre russische Welt zu rekonstruieren und eine Vergleichbarkeit des Inhalts aller drei Schriften herzustellen, soll in einem strukturalistischhermeneutischen Verfahren ein Blick auf diese in der Reiseschrift bereits individuell verkürzten Erfahrungen geworfen werden. Der inhaltliche Teil der Arbeit wird der Analyse einerseits der Ausgestaltung der gesellschaftspolitischen und ökonomischen Gegebenheiten (Welt), ande-

83 84 85

Vgl. Nerhood (Hg.), To Russia and Return. S. 140-171. [Nr. 609–758] Für weitere Nachschlagewerke vgl. Jones (Hg.), Books in English on the Soviet Union. Bei der Vielzahl erlebter Momente auf einer Reise müssen Reiseautoren eine dezidierte Auswahl an zu thematisierenden Sachverhalten treffen, wollten sie nicht ein mehrbändiges Werk über die Erfahrungen auf einer mehrwöchigen Reise produzieren.

1.3 Welt und Mensch als inhaltliche Analysekategorien

49

rerseits der Menschen (Mitwelt) des postrevolutionären Landes gewidmet sein. Die Kategorien zur Analyse der Darstellung von Welt sollen in erster Linie die Beschaffenheit von Strukturen und Einrichtungen in Russland fassen, die der Erfüllung von menschlichen Grundbedürfnissen dienen. Angelehnt an die Maslowsche Bedürfnishierarchie86 werden als Grundbedürfnisse die grundlegenden physiologischen Bedürfnisse angenommen. Hier handelt es sich um das Bedürfnis nach Wärme (Kleidung, Behausung), Essen und Trinken (Nahrungsmittelversorgung) und Ruhe/Entspannung (Erholung). Auf der zweiten Ebene finden sich Sicherheitsbedürfnisse, unter die der Schutz vor Gefahren (Medizinische Versorgung, Umgang mit Hilfebedürftigen) und Ordnungen im Allgemeinen gefasst werden. Ordnungen werden in den hier angewandten Kategorien als politische Ordnung (Politisches System nebst dazugehöriger Akteure/Organisationen) und religiöse Ordnung (Religion) ihren Niederschlag finden. Unter den sozialen Bedürfnissen der dritten Ebene wird nach Maslow das Bedürfnis nach Kommunikation gefasst. Gemeint ist in seiner Auslegung u.a. das Bedürfnis nach Liebe. In einem weiteren Verständnis soll im Vorliegenden das Bedürfnis nach Kommunikation auf die Künste (Kunst und Kultur) und nicht minder die Bildung übertragen werden. Diese von den menschlichen Bedürfnissen ausgehenden, den Mensch zum Maßstab ihres Funktionierens nehmenden Punkte werden ergänzt um Aussagen zur Wirtschaft und Industrie und zur Infrastruktur. Bei aller Sorgfalt der Filterung der zu untersuchenden Phänomene ist eine interkategoriale Überschneidung nicht auszuschließen.87 Insgesamt beinhalten die Kategorien jenes, was Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik 88 den „Allgemeinen Weltzustand“ nennt. Im Hegelschen Verständnis ist dies der „Zustand der Bildung, der Wissenschaft, des religiösen Sinnes oder auch der Finanzen, der Rechtspflege, des Familienlebens und anderer sonstiger Lebensrichtungen“ 89 . Hegels Forderung, der Künstler fiktiver Werke möge „die allgemeine Art und 86 87

88 89

Vgl. David G. Myers (Hg.), Psychologie. Heidelberg 2008. S. 515 f. Bspw. könnten Gesetze zum Mutterschutz sowohl in die Kategorie Industrie als auch Versorgung Hilfebedürftiger fallen. Insgesamt jedoch kann mit dieser kategorialen Einteilung die dargestellte Welt recht gut rekonstruiert werden. Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik. Erster und zweiter Teil. Rüdiger Bubner (Hg.). Stuttgart 1971. S. 263–286. Ebd. S. 264.

50

1 Inhalt

Weise [...] in welcher das Substantielle vorhanden ist“90 in seinem künstlerischen Entwurf nicht vernachlässigen, kommt der reisende Autor in der Beschreibung gesellschaftlicher Grundlagen der fremden Welt zumeist unaufgefordert nach. Für eine Arbeit mit direkt auf die Wirklichkeit bezogenen Reisetexten zeigt sich die Analyse derlei weltlicher Phänomene als grundlegend, da das eine nicht ohne das andere verstanden werden kann: Das Handeln der Menschen wird beeinflusst von der Welt, wie auch umgedreht der Mensch die Welt durch sein Handeln verändert. In puncto (politische) Ordnung bedeutet dies, dass auf einer imaginären „Freiheitsskala“ demokratische Gesellschaften denjenigen Pol einnehmen, der die individuelle Entfaltung des Subjekts nahezu uneingeschränkt möglich macht, während autokratische beziehungsweise diktatorische Systeme den Gegenpol bilden, da politische Teilhabe und freiheitliches Handeln nurmehr eine wünschenswerte Idee ist. Welch maßgebliche Rolle die den Menschen umgebenden äußeren Faktoren de facto für ihn spielen, zeigt sich am Einfluss institutioneller Gegebenheiten. So können die von Hegel angeführten Parameter einer Gesellschaft auch für die Analyse von Werken der „nicht-fiktionalen Kunstprosa“ fruchtbar gemacht werden. Wer den Menschen verstehen will, muss seine Umwelt kennen, erst dann ergibt sich mitunter die Möglichkeit, die Sinnhaftigkeit seiner Taten nachzuvollziehen. 91 Der „Mensch“ soll nicht nur als Maßstab für die Qualität institutioneller Gegebenheiten, sondern auch direkt, als begegnende Instanz analysiert werden. Mit Heidegger begriffen ist die Welt des Daseins immer auch Mitwelt, ist das Sein jedes Einzelnen auch „Mitsein mit Anderen“92. Dieses Mitsein prägt sich auf fundamental-ontologischer Ebene als Fürsorge aus, die verschiedene Möglichkeiten des Miteinanderseins bereithält. 93 Dies hat insofern mit einer Reise zu tun, als dass eine Reise in den meisten Fällen auch die Begegnung mit anderen Menschen einschließt.94 Mit der Kategorie „Mitwelt“ sollen im Rahmen der Reisetextanalyse jene Menschen erfasst werden, die in den Texten thematisiert werden. Es sind einerseits die begegnenden Menschen, von denen Reisende Informatio90 91

92 93 94

Ebd. S. 263. Dies gilt gleichermaßen für Realität und Fiktion. Vgl. hierzu Birgit Harreß, Mensch und Welt in Dostoevskijs Werk. Ein Beitrag zur poetischen Anthropologie. Münster 2014. S. 3. Heidegger, Sein und Zeit. S. 118. Vgl. ebd. S. 121. Vgl. ebd.

1.3 Welt und Mensch als inhaltliche Analysekategorien

51

nen über den bereisten Ort erhalten und die damit maßgeblich zur Bildung eines Eindrucks über den Ort und seine Eigenschaften beitragen. Als Augenzeugenberichte sind Reiseschriften gleichermaßen „Ohrenzeugenberichte“ von Aussagen „Einheimischer“. Diese Einheimischen sind einerseits Subjekte, die Informationen liefern, werden nicht selten aber auch zu beschriebenen Objekten, da die auf der Reise unternommene Suche nach Charakteristika des fremden Ortes die Begutachtung der Bevölkerung einschließt. Die Mitwelt wird damit zu einem Phänomen des großen Ganzen, das letztlich den niedergeschriebenen Reisetext ergibt. Es stellt sich die Frage, welche Begegnungen in die Schriften aufgenommen werden (und welche nicht) und wie die Mitwelt dargestellt wird; zudem, ob sich innerhalb der drei hier untersuchten Reisetexte Ordnungen der begegnenden Menschen ausmachen lassen und ob und wie die jeweiligen Reiseumstände – als Delegationsmitglied oder allein – die beschriebenen Begegnungen beeinflussen. Anhand einer strukturierten Aufschlüsselung der weltlichen und mitweltlichen Gegebenheiten soll eine Rekonstruktion der Welt, die die drei Reisenden darstellen, versucht werden. Diese Rekonstruktionen werden auf „konkrete Orte oder Platzierungen […] wie auch Gemeinplätze oder Imaginationen“, sogenannte Topoi, untersucht. 95 Topos stellt in diesem Zusammenhang ein literaturwissenschaftliches Phänomen dar, ein „Vorstellungsmodell [beziehungsweise] eine Weise des Denkens und Formens von Sein und Welt“96. Tatsächlich zeigt sich Reiseliteratur sehr produktiv in der Nutzung, Bildung und Abwandlung von diesen Deutungs- beziehungsweise Vorstellungsmodellen. Zahn spricht davon, dass es eben die „Anfälligkeit“ für Topoi und Stereotype sei, die Reiseberichten Kritik einbringe.97 Zuweilen gelingt die Abgrenzung von Topoi und Stereotypen nur schwer, da es sich bei beiden Begriffen im weitesten Sinne um kulturell geprägte Gemeinplätze handelt. Der Unterschied liegt im jeweils bezeichneten Gültigkeitsbereich: Während sich Stereotype in einzelnen Begriffen beziehungsweise Phänomenen niederschlagen und einzelne Merkmale bezeichnen, stellen Topoi oft ein Konglomerat aus Stereotypen und tradierten Denkmustern dar und zeigen sich somit in einem größeren 95 96

97

Alexandra Karentzos, „Reise“. In: Lexikon der Raumphilosophie. Stephan Günzel (Hg.). Darmstadt 2012. S. 339–240. S. 339. August Obermayer, „Zum Toposbegriff der modernen Literaturwissenschaft“. In: Toposforschung. Eine Dokumentation. Peter Jehn (Hg.). Frankfurt a. M. 1972. S. 155– 159. S. 155. Zahn, Reise als Begegnung. S. 350.

52

1 Inhalt

Gefüge, weshalb sie den Stereotypen hierarchisch übergeordnet werden können.98 Anhand dieser Ergebnisse wird im Resümee der Frage nachgegangen, wie die Reisenden „Sinnzuschreibungen für naturalisierbare Sachverhalte wie ‚Leben‘ und ‚Welt‘“99 in ihren Schriften verarbeiten. Mit Hilfe der oben benannten Ordnungsschemata nach Schäffter wird der Umgang der Reisenden mit russischer Fremde in den Zwischenresümees erörtert und als eine Grundlage für die These genommen, dass Reisetexte in ihren autobiografischen Ausformungen die Durchdringung von reisendem Mensch (Autor) und bereister Welt (Fremde) aufzeigen. Eine tragende Rolle in Beantwortung dieser Frage im Resümee sollen Gadamers Ausführungen zum „Erleben“ beziehungsweise „Erlebnis“ 100 einnehmen. 101 Im Kontext der Autobiografie erörtert Gadamer „Erleben“ in zwei Bedeutungsrichtungen: Es ist sowohl das „Selbsterlebte“ als auch der bleibende Gehalt dessen, „was da erlebt wird“. 102 Ausgehend vom allgemeinen Sprachgebrauch stellt die Reise, als Durchbrechung des Alltags, ein Erlebnis dar, und macht als zeitlich begrenztes „Woanders“, einen Teil des Lebens aus. Wenn etwas ein Erlebnis genannt oder als ein Erlebnis gewertet wird, so ist es durch seine Bedeutung zur Einheit eines Sichganzen zusammengeschlossen. Was als Erlebnis gilt, das ist ebensowohl von anderen Erlebnissen abgehoben. [...], wie von dem sonstigen Lebensverlauf – in dem ‚nichts‘ erlebt wird. [...] Was Erlebnis genannt werden kann, konstituiert sich in der Erinnerung.103

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99 100 101

102 103

Oberloskamp unterstützt mit ihrer Aussage die Schwierigkeit der Abgrenzung von Stereotyp und Topos. Sie übernimmt Neubers Definition von Topoi als „‚gesellschaftlich allgemein bedeutsame [...] Argumentationsgesichtspunkt[e]‘.“ (Oberloskamp, Fremde neue Welten, S. 5.). Zu auftauchenden Topoi des in der vorliegenden Arbeit untersuchten Zeitraums siehe auch Zahn, Reise als Begegnung. S. 122–155 und 350 ff. Opitz, „Berichte aus der ‚Zweiten Heimat‘“. S. 90. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. S. 66–76. Am Ende dieses Kapitels stellt Gadamer die Ausführungen noch einmal in den Rahmen seiner Arbeit und zeigt das Erlebnis als ästhetische Erfahrung in Begegnung mit einem Kunstwerk. (Vgl. ebd. S. 75.) Diese Frage spielt für die vorliegende Arbeit keine Rolle, da es hier nicht darum gehen soll, inwiefern die Reisetexte ein ästhetisches Erleben evozieren, vielmehr soll das Erlebnis an sich daraufhin untersucht werden, ob es an Reiseschriften nachweisbar ist und wie es sich dort repräsentiert. Ebd. S. 66 f. Ebd. S. 72.

1.3 Welt und Mensch als inhaltliche Analysekategorien

53

Nach Gadamer eigne sich besonders die Biografie, um „die beiden Bedeutungsrichtungen“ (Selbsterlebtes, bleibendes Ergebnis) in einen „produktiven Zusammenhang“ zu bringen.104 Das Erlebnis gehört als Selbsterlebtes der Einheit des Selbst an und hat damit „einen unverwechselbaren und unersetzlichen Bezug auf das Ganze dieses einen Lebens“, einen „inneren Bezug“ auf dasselbe.105 Es bietet „Anhalt für Deutung und Stoff für Gestaltung“106. Für die vorliegende Arbeit soll der Gedanke Simmels, dass das Erlebnis „etwas von einem Abenteuer hat“, aufgegriffen werden.107 Das Abenteuer „wagt sich ins Ungewisse heraus“ und enthebt den „Bedingtheiten und Verbindlichkeiten, unter denen das gewohnte Leben steht“.108 Auch die Reise unterbricht, gleich dem Abenteuer, den gewohnten Lauf der Dinge, den Alltag, bleibt aber auf den unterbrochenen Zusammenhang bezogen. 109 Trifft nicht dies den bereits benannten Kern der Reise – der Ausbruch aus dem Alltag und das Betreten unsicherer, weil unbekannter Gefilde?110 Die den hier analysierten Reisetexten zugrunde liegenden Reisen scheinen einem solchen Abenteuer gleichzukommen. Es waren Reisen in ein Land, das nur wenige Monate vorher eine Revolution erlebt hatte und sich mitten im Bürgerkrieg befand. Liest man die vorliegenden Texte als Autobiografie, so ließe sich auch der Reisetext für eine Analyse des Erlebnisses fruchtbar machen: Lebenswelt, Zeit beziehungsweise Alltäglichkeit und das wahrnehmende Individuum spielen hierbei die bestimmenden Konstanten. Mithin soll am Ende der vorliegenden Arbeit eine Antwort auf die Fragen gefunden werden, inwiefern die Reise beziehungsweise bestimmte Elemente der Reise ein Erlebnis darstellen, wie dieses repräsentiert wird und ob sich daran die beschworene Verbundenheit des Reisenden mit Welt zeigt.

104 105 106 107 108 109 110

Ebd. S. 67. Ebd. S. 72 f. Ebd. S. 67. Ebd. S. 75. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. Solte-Gresser, Spielräume des Alltags. S. 12.

2

Form

What sort of diary should I like mine to be? Something loose knit and yet not slovenly, so elastic that it will embrace anything, solemn, slight or beautiful that comes into my mind. I should like it to resemble some deep old desk, or capacious hold-all, in which one flings a mass of odds and ends without looking them through. I should like to come back, after a year or two, and find that the collection had sorted itself and refined itself and coalesced, as such deposits so mysteriously do, into a mould, transparent enough to reflect the light of our life, and yet steady, tranquil compounds with the aloofness of a work of art. (Virginia Woolf, A Writer’s Diary)

2.1

Reiseliteratur

Über eine Reise verfasste Schriften können sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Dass sich solcherlei Aufzeichnungen, die von einer Reise inspiriert und die Reise zum Thema haben, der Literatur, genauer der Reiseliteratur, zurechnen lassen, wird gemeinhin mitverstanden. Hier jedoch endet das allgemeine Verständnis dahingehend, dass in der bisherigen Forschung nicht letztgültig geklärt werden konnte, wie sich die Gattung Reiseliteratur genau auszeichnet.1 Aufgrund der Vielfalt der unter diesem Begriff gefassten Schriften sind bisherige Ansätze einer gattungstheoretischen Verortung bisher nicht vollständig gelungen. Dass eine Zuordnung jedoch wichtig ist, wird an den Gedanken Arno Dusinis deutlich. Im Versuch, das Tagebuch der Form nach zu verorten, schreibt er Gattungen im Allgemeinen eine wichtige Funktion zu, da unterschiedliche Gattungsnamen, „indem sie Texte auf bestimmte Textgruppen beziehen“, unterschiedliche Bedeutungsrahmen vorgeben. 2 Das Rezipierte wird immer auch vor dem Hintergrund der Zuordnung seiner Art gelesen beziehungsweise verstanden. Im Folgenden soll nach einer kurzen Wiedergabe des aktuellen Forschungsstandes zur Reiseliteratur eine poetologische Verortung ihrer Untergattungen, Reisebericht und Reisetagebuch, erfolgen. 1

2

Das Gleiche gilt für viele reiseliterarische Untergattungen. So schreibt Brenner über den Reisebericht: „Eine Poetologie, die sich dem Gattungshaften des Reiseberichts systematisch widmet, fehlt bislang ebenso wie eine Gattungsgeschichte.“ (Brenner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur. S. 20.) Dusini, Tagebuch. S. 17.

2.1 Reiseliteratur

55

Angeleitet durch den Gedanken, dass es sich bei Reiseliteratur immer auch um Bewegung handelt, stimmt die Aussage Michael de Certeaus „all writing is travel writing“, da jeder Text in gewisser Weise auch Bewegung ist.3 Jedoch ist diese Definition ob ihrer totalen Inklusion nicht gerade hilfreich für die Fassung der Gattung Reiseliteratur. Der Literaturwissenschaftler Gero von Wilpert versteht unter Reiseliteratur: […] das gesamte dem Stoff nach von tatsächlichen oder fiktiven Reisen berichtende Schrifttum vom Reisehandbuch oder -führer mit sachlichen Angaben und Ratschlägen für Reisende […] über die wissenschaftliche Reisebeschreibung […], die autobiographische Form (teils Tagebuch) und die dichterisch ausgestaltete Wiedergabe von Reiseerlebnissen und -erfahrungen oder Beschreibung der Zustände in fremden Ländern als unterhaltender Reiseroman bis hin zum humoristisch-satirisch, utopische Zustände schildernden Staatsroman oder dem der Phantasie freien Lauf lassenden Abenteuer- und Lügenroman bis zur visionären Jenseitsreise (Dante).4

An von Wilperts Definition lässt sich unschwer die Schwierigkeit einer klaren gattungstheoretischen Fixierung des Begriffs Reiseliteratur ablesen, umfasst er doch sowohl Sachliteratur als auch Belletristik, faktische Ratgeber als auch fiktive Erzählungen. Als kleinster gemeinsamer Nenner kann lediglich das Thema gesehen werden: eine irgendwie geartete Reise. Mit dem Ziel, eine gewisse Ordnung in die Vielfalt der unter Reiseliteratur gefassten Textsorten zu bringen, hat Manfred Link bereits 1963 den Versuch unternommen, eine Kategorisierung nach dem Grad der Fiktionalität zu unternehmen.5 Seine Skala von faktisch bis fiktiv umfasst Reisehandbücher und Reiseführer, wissenschaftliche Reiseschriften und Forschungsberichte, Reiseberichte und -erzählungen bis hin zur reinen Belletristik, i.e. Reisenovellen und Reiseromane. 6 Seine Zuordnung erfolgt anhand eines Fragenkatalogs, der sich u.a. an die äußere Darbietungsform der Texte richtet.7 3 4 5 6 7

Thompson, Travel Writing. S. 24. Wilpert, Sachwörterbuch. S. 676. [Reiseliteratur] Link, Der Reisebericht . Ebd. S. 7. Ebd. S. 9. – Links Ergebnisse besagen, dass eine „zunehmende epische Integration [...] zugleich Ausdruck einer zunehmenden Fiktionalisierung bei abnehmender außersprachlicher Realität.“ sei. (Ebd. S. 7–11, zitiert in Neuber, „Zur Gattungspoetik des Reiseberichts.“ S. 51.)

56

2 Form

Auch die angloamerikanische Reiseliteraturforschung8 ist sich, schaut man auf namhafte Forscher wie Bill Buford 9 , Peter Hulme und Tim Youngs10, Kristi Siegel11 und Carl Thompson12, Jonathan Raban13 sowie Holland und Huggan14, relativ einig darin, dass es schwierig, ja fast unmöglich ist, eine Gattungsdefinition für „Reiseliteratur“ (travel writing) zu finden. Am Inhalt der Schriften orientiert, formuliert Jan Borm, dass „travel writing“ ein „Sammelbegriff für eine Vielzahl von Texten, sowohl fiktionaler als auch faktischer Natur [sei], deren Hauptthema eine Reise darstellt“15. Charles Forsdicks Kategorisierungsansatz ist weniger inhaltlich denn formal. Für ihn handelt es sich um eine literarische Form, die „irgendwo zwischen wissenschaftlicher Untersuchung und Fiktion angesiedelt ist und gleichzeitig jede klare Unterscheidung der beiden Pole problematisiert“.16 In eine ähnliche Kerbe schlägt Zweder von Martel, der die Ausdrucksformen der Reiseliteratur als unbegrenzt ansieht. Ihm zufolge wird Reiseliteratur gemeinhin als das verstanden, was sie beinhaltet und so reicht seine Skala von Reiseführern bis hin zu bloßen Beschreibungen

8

9 10 11

12 13 14

15 16

Historisch bedingt nimmt diese im angloamerikanischen Sprachraum eine wichtige Stellung in den Geisteswissenschaften (humanities) ein. „Vielleicht weil [der] Kulturkreis Britanniens und seines (ehemaligen) Kolonialreiches zum Reisen in besonderer Weise herausforderte“, so Korte, böte vor allem die englischsprachige Welt einen guten Nährboden für Reiseberichte. (Korte, Der englische Reisebericht, S. 1.) Vgl. Peter Hulme, Tim Youngs, „Introduction“. In: The Cambridge Companion to Travel Writing. Peter Hulme, Tim Youngs (Hg.). Cambridge U.K. [u.a.] 2002. S. 1–16. S. 9. Vgl. Hulme, Youngs, „Introduction“. „Travel writing struggles for its place as a distinct (and respected) genre, and the study of travel writing suffers a similar fate and confusion.“ (Kristi Siegel, „Introduction“. In: Issues in Travel Writing. Empire, Spectacle, and Displacement. Kristi Siegel (Hg.). New York [u.a.] 2002. S. 1–9. S. 1.) Vgl. Thompson, Travel Writing, S. 11. „Travel writing is a notoriously raffish open house where different genres are likely to end up in the same bed.“ (Ebd.) „[These authors, d. Vf.] stress that the form can embrace everything ‚from picaresque adventure to philosophical treatise, political commentary, ecological parable, and spiritual quest‘ while simultaneously ‚borrowing from history, geography, anthropology and social science‘. The result, they suggest ‚is a hybrid genre that straddles categories and disciplines‘.“ (Patrick Holland, Graham Huggan (1998, S. 8 f.), zitiert in: ebd.) „[...] collective term for a variety of texts both fictional and non-fictional whose main theme is travel [...].“ (Ebd. S. 23.) Tim Youngs und Charles Forsdick, „Introduction“. In: Travel writing. Critical Concepts in Literary and Cultural Studies. London [u.a.] 2012. S. 1–24. S. 1.

2.1 Reiseliteratur

57

von Erfahrungen im Ausland.17 Auch Thompson fasst nach eingehender Auseinandersetzung mit der Diskussion um die Definition von „travel writing“ zusammen, dass die Gattung weniger als homogene Gruppe, denn vielmehr als Konstellation verschiedener Textsorten verstanden werden sollte, deren Eigenschaften taxonomisch klassifiziert werden können. 18 Hulmes Mindestanforderung für Texte, die als „travel writing“ klassifiziert werden, besteht lediglich darin, dass die Autoren an die Orte, die sie beschreiben, gereist sein müssen.19 Für Paul Fussell handelt es sich bei „travel books“ im weitesten Sinne „fast ausnahmslos um retrospektive Ich-Erzähler-Berichte über die eigenen Erfahrungen des Autors auf einer Reise oder über unbekannte Orte oder Völker“20. Damit umfasst er das vorgegebene Thema (Reise beziehungsweise Reisezielpunkt) und in gewisser Art auch die Form (berichtende Erzählung durch IchErzähler). Diese beispielhaft aufgeführten Definitionsansätze teilen im Gros die Auffassung, dass inhaltlich die Reise das Thema bestimmt und die Varianz der literarischen Formen sehr hoch sein kann. Nach Kowalewski bedienen sich die Textsorten respektive Gattungen (types of writing), die als travel writing klassifiziert werden, an Memoiren, dem Journalismus, Briefen, Reiseführern, confessional letters (Bekenntnisbriefe) und, „am wichtigsten“ (most important), der Dichtung (fiction).21 Der vorliegenden Arbeit liegen drei Schriftstücke zugrunde, deren (vermeintliches) Thema eine „Reise“ darstellt, die tatsächlich stattgefunden hat. Es soll im Folgenden heuristisch angesetzt werden, welche Art der Reiseliteratur, genauer: welche Untergattung hierbei im Einzelnen vorliegt. Generell kann behauptet werden, dass der grundlegende Unterschied zwischen auf Wirklichkeit beruhenden Reiseberichten beziehungs17

18

19 20 21

„Travel writing seems unlimited in its forms of expression, but though we may therefore find it hard to define the exact boundaries of its genre, it is generally understood what it contains. It ranges from the indisputable examples such as guidebooks, itineraries and routes and perhaps also maps to less restricted accounts of journeys over land or by water, or just descriptions of experiences abroad.“ (Zweder von Martels, Travel, Fact and Fiction. Leiden [u.a.] 1994. S. xi.) „The genre is perhaps better understood as a constellation of many different types of writing and/or text, these differing forms being connected not by conformity to a single, prescriptive pattern, but rather by a set of what the philosopher Ludwig Wittgenstein would call ‚family resemblances‘.“ (Thompson, Travel Writing. S. 26.) Ebd. S. 1. „[...] situated somewhere between scientific observation and fiction, while simultaneously problematizing any clear-cut distinction of those two poles.“ (Ebd. S. 14.) Vgl. Kowalewski (1992), zitiert in: Youngs, Forsdick, „Introduction“. S. 1.

58

2 Form

weise -tagebüchern und rein fiktiver Literatur (Belletristik) die Zweckgebundenheit ersterer ist. Während Belletristik „aus sich heraus besteht und eine eigene Gegenständlichkeit hervorruft“22, sind die drei benannten Reiseliteraturformen vornehmlich Träger zweckgebundener und „vom Gegenstand ausgehender Mitteilung von Gedanken und Erkenntnissen“23, die eine objektiv-äußerliche und subjektiv-innerliche Wirklichkeitsaussage entbergen. Damit unterscheiden sich von den, „für literarisch gehaltenen Texten [...] [,die] ästhetisch-unterhaltenden Zwecken [dienen] und [...] direkte Verwertungszusammenhänge [aufheben]“24. 2.1.1

Der Reisebericht

Als Reisebericht deklariert von Wilpert eine „sachliche und unprätentiöse“, jedoch „mitunter von inhaltlicher Spannung getragene Beschreibung einer Reise“25. Unter dem Eintrag des häufig synonym zum Reisebericht gebrauchten Lexems „Reisebeschreibung“ findet sich bei von Wilpert ein Verweis auf den Reisebericht. Die nicht determinierte „Beschreibung“ fasst er als „Schilderung und ausmalende Wiedergabe eines Sachverhalts, Gegenstandes […] oder einer Person beziehungsweise Personengruppe durch sprachliche Mittel, d.h. die Umsetzung des am ruhenden Objekt gewonnenen Eindrucks in Sprache und dessen Weitervermittlung an die Leser oder Hörer“26. Für Neuber ist die Deklarierung einer Reiseschrift als „Reisebeschreibung“ problematisch. Die Tatsache kritisierend, dass Reisebericht und Reisebeschreibung häufig synonym behandelt werden, bezieht er die zeitlich-räumliche Ausrichtung beider Begriffe ein. Da der semantische Kontext des Wortes „Beschreiben“ expressis verbis als Synonym für „Schildern“ und damit für eine zeitunabhängige, statische 22

23 24

25 26

Wilpert, Sachwörterbuch. S. 470. [Literatur] – Literatur soll hier verstanden werden als Belletristik, d.h. „die nicht zweckgebundene und vom Gegenstand ausgehende Mitteilung von Gedanken, Erkenntnissen, Wissen und Problemen mit praktischer Zielsetzung ist, sondern aus sich heraus besteht und eine eigene Gegenständlichkeit hervorruft, durch besondere ästhetische Gestaltung des Rohstoffs Sprache [...] zum Sprachkunstwerk wird und in der Dichtung in Vers oder Prosa [...] ihre höchste Form erreicht“. (Vgl. ebd.) Ebd. Achim Bartsch, „Literarizität“. In: Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze–Personen–Grundbegriffe. Ansgar Nünning (Hg.). Stuttgart [u.a.] 2008. S. 430. S. 430. Wilpert, Sachwörterbuch. S. 675. [Reisebericht] Ebd. S. 80. [Beschreibung]

2.1 Reiseliteratur

59

Befindlichkeit stehe, wäre die „Beschreibung einer Handlung“ (i.e. das Reisen) genaugenommen nicht möglich. 27 Allein der Akt des „Berichtens“ verwiese auf das Moment einer Handlung. Dieser Anmerkung folgend soll im Folgenden der Terminus Reisebericht verwendet werden. Joseph Strelka kritisiert die Einordnung von Reiseberichten als eine „lediglich vom Thema her bestimmte Mischgattung“.28 Er schreibt, „daß jene Reiseberichte, die in der Form eines literarischen Essays geschrieben sind, zweifellos literarische Reiseberichte darstellen“, stellt sich letztlich jedoch die Frage, „ob jene Gruppe von Reiseberichten nicht einfach eine lediglich thematisch eingeschränkte und somit gattungspoetisch irrelevante Sonder- und Untergruppe des Essays darstellt.“29 Die „zahlreichen Mischformen“ abschließend noch einmal hervorhebend, konstatiert Strelka, dass der gemeinsame „fast allen unterliegende [Nenner] jene subjektive Projektions- und Gestaltungskraft zu sein [scheint], die das Essayistische wie das Lyrische gemeinsam haben.“30 Eine über das Thematische hinausgehende und die auch in Reiseberichten waltende Subjektivität involvierende Definition gibt die Literaturwissenschaftlerin Barbara Korte vor: Wie kaum eine andere Textart ist der Reisebericht durch die Begegnung eines Subjekts mit Welt definiert, wobei diese Welt in fremden Ländern ebenso wie im eigenen Land bestehen kann. Reiseberichte geben hermeneutische Prozesse wieder, Prozesse des Verstehens und auch des Nichtverstehens von Kultur(en), die nicht nur ihre Verfasser bei der Reise und später bei der Berichterstattung durchlaufen, sondern auch ihre Leser bei der Lektüre. Dabei verraten Reiseberichte nie allein etwas über die durchreiste Welt, sondern immer auch etwas über das reisende Ich. Sie gewähren Einblicke in die kulturspezifischen und persönlichen Denk- und Wahrnehmungsweisen, die jeder Reisende an die bereisten Gegenden heranträgt.31

27 28

29 30 31

Vgl. Neuber, „Zur Gattungspoetik des Reiseberichts“. S. 63. Joseph Strelka, „Der literarische Reisebericht“. In: Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa. Klaus Weissenberger (Hg.). Tübingen 1985. S. 169–184. S. 180. – Feststellen konnte er Ähnlichkeiten des Reiseberichts (hinsichtlich seiner gattungspoetischen Merkmale) mit dem Essay und der Reportage, obwohl die meisten Reiseberichte die Länge eines Essays beziehungsweise Reportage seinem Urteil nach überstiegen. Die Suche nach ästhetischen Definitionsmerkmalen führte ihn jedoch nicht zum gewünschten Ziel. (Ebd. S. 178 f.) Ebd. S. 179. Ebd. S. 184. Korte, Der englische Reisebericht. S. 9.

60

2 Form

Charakteristisch für den Reisebericht ist nach Korte, dass er verschiedene Schreibstile vereint: So können beschreibende, erörternde und kommentierende Passagen darin verarbeitet sein.32 Ein essentielles Definitionsmerkmal sei der Tatbestand einer (vorausgehenden) Reise, auf den sich ein Bericht bezieht.33 Für Korte liegt der gemeinsame Nenner von Reiseberichten darin, dass sie eine Reise in ihrem Verlauf schildern, somit Erzähltexte darstellen, und als Text den Anspruch erheben, eine tatsächlich stattgefundene Reise wiederzugeben, die durch den Reisenden selbst geschildert wird.34 Korte schränkt ein, dass die Qualität und Ausprägung des schreibenden und teilnehmenden Ich unterschiedlich stark vorhanden sein kann. 35 Damit verweist sie, wie auch Strelka, auf die Sichtbarkeit des schreibenden Reisenden, der selbst im Reisebericht oft nicht umhin kommt, seine Subjektivität zu offenbaren. Im Rahmen der literaturwissenschaftlichen beziehungsweise gattungspoetischen Definition des Reiseberichts wird häufig die Frage nach der Einbindung von Fiktion gestellt. Historisch bedingt wurde und wird bei der Analyse dieser reiseliterarischen Untergattung immer wieder die Möglichkeit der Anwesenheit rein imaginierter Sachverhalte einbezogen. Unter anderem geschieht dies vor dem Hintergrund der Annahme, dass der eigentlich rein faktische Reisebericht auch anderen Zwecken als nur der Wiedergabe tatsächlicher Begebenheiten dienen kann und soll. Diese Prämisse bedient und verfestigt zugleich den Stereotyp des Reisenden als „Lügner“, der reisend erfahrene Welt nach eigenem Gusto beschreibt, sie notfalls einfach erdenkt36. Für Opitz stellt die Frage nach Fakt und Fiktion in der Reiseliteraturforschung einen überholten Punkt dar.37 Auch Neuber wendet sie mit der Behauptung ab, dass die typologische Trennlinie generell nicht zwischen (literarischen) „Zweckformen“ und „Dichtung“ verlaufe.38 Er konstatiert, dass mit einer „subjektzentrierten Autonomieästhe-

32 33 34 35 36

37 38

Ebd. S. 13. Ebd. S. 1. Ebd. Ebd. S. 9. Vgl. Peter J. Brenner, „Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts“. In: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Peter J. Brenner (Hg.). Frankfurt a. M. 1989. S. 14–49. S. 14. Vgl. Opitz, „Berichte aus der ‚Zweiten Heimat‘“. S. 88. Vielmehr sei die Grenze zwischen text-extern vollständig gebundenen Textsorten (wie beispielsweise Rezept, Protokoll oder Gebrauchsanweisung) und text-extern wenig

2.1 Reiseliteratur

61

tik“ (Strelka) und der Behauptung, dass verstärkte epische Integration „zugleich Ausdruck einer zunehmenden Fiktionalisierung bei abnehmender außersprachlicher Realität“ (Link) sei, dem Reisebericht poetologisch und historisch nicht Genüge getan werden könne.39 Link auseinandersetzend wendet er ein, dass Fiktionalität nicht unbedingt das „intentionale Abweichen vom Faktischen einer vorgegebenen Realität“ bedeute, „sondern vielmehr von dem, was einer Gesellschaft an einem bestimmten geschichtlichen Ort als das Glaubhafte“ erscheine. 40 Damit formuliert Neuber die Frage nach der Fiktion um. Er tilgt die Annahme einer offenbaren Fakt-Fiktion-Dichotomie und verweist auf die Relevanz der Fiktionalisierung von Inhalt. Zugleich lenkt er den Fokus auf Beglaubigungsstrategien, die das Fiktionale beinhalten. Für Neuber werden damit die Kategorien „fiktiv oder realitätskonform“ als Analysemaßstab für den Reisebericht obsolet. Er plädiert für die Hinwendung „zu einer historischen Topik, einer Argumentationstheorie des Reiseberichts“. 41 Gegenstand einer Analyse wäre damit nicht mehr „die Übereinstimmung des jeweiligen Textes mit der ‚Wirklichkeit‘, sondern sein rein selbstbestimmtes Verhältnis zu ihr und zugleich seine materielle und thematische Bandbreite“.42 Die Gattungspoetik liegt nach Neuber im Zusammenspiel mehrerer Bereiche: „in der jeweiligen Auswahl seiner Gegenstände, der impliziten wie expliziten Rechtfertigung dieser Auswahl, der argumentierenden Glaubhaftmachung der Gegenstände, Beobachtungen und Erfahrungen sowie der stilistischen Mittel, die zu dieser Glaubhaftmachung beansprucht werden“.43 Den (historischen) Reisebericht subsumiert er unter die Historiografie.44 Auch in der Neuzeit unterläge der Reisebericht dem Anspruch, als empirisches Dokument, als narratio vera gelesen werden zu können, weshalb man mit poetologischen Analyseansätzen45 nicht zum gewünschten Ziel gelange: der Aufdeckung seines Gehalts. Für den Reisebericht gelte im Unterschied zur Dichtung, dass „das Ereignis [...], nicht seine Erzäh-

39 40 41 42 43 44 45

gebundenen Textsorten (Brief, Tagebuch, Reisebericht) zu finden. (Vgl. Neuber, „Zur Gattungspoetik des Reiseberichts“. S. 53.) Ebd. S. 50 f. Ebd. S. 51 f. Ebd. S. 52. Ebd. Ebd. Ebd. S. 53. Dies wäre beispielsweise die Rekonstruktion von fabula oder argumentum der frei erfundenen Handlungen.

62

2 Form

lung“ lehrhaft ist; somit zählen für Neuber „auf der Grundlage eines Verständnisses des Reiseberichts als Historiographie“ einzig „Rhetorik und Topik als invariante literarische Substrate“.46 Als „Kunst des Überredens und Überzeugens“ 47 stellt sich die Rhetorik auch für den schreibenden Reisenden als eine Möglichkeit dar, die eigene Weltsicht überzeugend darzulegen und des Lesers Gunst zu gewinnen. „Durch Findung und Auswahl (inventio) seines Materials sowie dessen argumentative und stilistische Verarbeitung“ 48 übernimmt der Reiseberichtautor die dringliche Aufgabe, „Verstand und Gefühl“ 49 gleichermaßen zu mobilisieren. Die zwei Reisenden Ethel Snowden und Sylvia Pankhurst lassen den Leser vorerst im Unklaren, worum es sich bei ihren Werken handelt. In der Darstellungsweise verfolgen beide Autorinnen nicht die Vermittlung einer taggenauen Abfolge der Reise, binden jedoch die Reise betreffende chronologische Fixpunkte ein. Obwohl sie viele Fakten über das bereiste Land aufführen, verfolgen die Autorinnen damit nicht die Vorbereitung des Lesers auf das betreffende Land im Sinne von Links Definition eines Reiseführers beziehungsweise Reisehandbuchs50. Der offenbare Schwerpunkt beider Schriften liegt vielmehr auf der Darstellung von Mensch und Welt in Russland und einer Auseinandersetzung mit diesen. Beide Autorinnen schildern dabei auch mehr oder minder die Reise in ihrem Verlauf51, was jedoch auf den ersten Blick von geringerer Priorität zu sein scheint. Die Autorinnen beziehen sich auf eine tatsächlich stattgefundene Reise. Da die Schrift weder als Roman oder Novelle gekennzeichnet ist, noch auf den ersten Blick als ein fiktives Werk erscheint, wird heuristisch eine Zuordnung zum Reisebericht vorgenommen analog der von Korte vorgegebenen Definition. 2.1.2

Das (Reise-)Tagebuch

Beim Werk Clare Sheridans handelt es sich, wie bereits angedeutet, um chronologische, nahezu täglich verfasste und als solche gekennzeichnete 46

47 48 49 50 51

Ebd. S. 55. – Auch Rhetorik und Topik besitzen ihre von verschiedenen Faktoren abhängige Geschichtlichkeit, vornehmlich abhängig vom Erfahrungs- oder Empiriebegriff, „der einen je spezifischen Wahrheitsmodus begründet“. (Ebd.) Heinrich F. Plett, Einführung in die rhetorische Textanalyse. Hamburg 2001. S. 2. Neuber, „Zur Gattungspoetik des Reiseberichts“. S. 52. Karl-Heinz Göttert, Einführung in die Rhetorik. Paderborn 2009. S. 26. Manfred Link, Der Reisebericht . S. 7. Vgl. dazu Kapitel II, 1.4.1 und 2.4.1 der vorliegenden Arbeit.

2.1 Reiseliteratur

63

Aufzeichnungen, die, wie die Autorin selbst schreibt, ein Tagebuch darstellen. 52 Da es zeitlich nicht nur, jedoch vornehmlich die Reise nach Russland umfasst, mutet es auf den ersten Blick wie ein Reisetagebuch an. Die formale Grundlage für das Reisetagebuch bildet das Tagebuch. Obgleich sich diese, zumeist im Prosa-Stil verfassten Schriften auf den ersten Blick der Epik zuordnen lassen53, merkt Claus Vogelsang einen Widerspruch an, da Epik genau genommen Fiktion und Fabel voraussetze, die in einem Tagebuch vorerst nicht vermutet werden: „[Das] Tagebuchschreiben basiert auf der ontologisch primären Wirklichkeit und wirkt auch auf diese wieder zurück.“ 54 Der Autor des Tagebuchs erlebt und reflektiert als Ich-Erzähler beziehungsweise diarisches Ich die dargestellte Welt. Die Differenz zwischen Autor und Erzähler schwindet; der Autor ist ‚erzählendes‘ und ‚erlebendes Ich‘ zugleich. Vogelsang betont, dass der Tagebuchautor sich ganz offenbar zu seinem subjektiven Standpunkt bekennt, was für den Inhalt seines Tagebuchs bedeutet, dass schriftlich primär festgehalten wird, wie er sieht und erlebt und weniger, was er ist und wie er lebt. 55 Während sich bei Reiseberichten die Frage nach nüchternem oder sachlichem Sprachstil stellt56, lässt das Tagebuch selbstverständlich die Nähe eines schreibenden Individuums mitverstehen. Subjektivität und eine persönliche Haltung zu den thematisierten Sachverhalten werden bei Vorlage einer als Tagebuch ausgewiesenen Schrift eher erwartet als bei einem Reisebericht. Das Tagebuch dient neben der Fixierung von Beobachtetem und Erlebten auch der Reflexion desselben.57 Als allgemeinverbindlich für die Werke der Gattung Tagebuch schlägt Vogelsang vorerst vier grundlegende Charakteristika vor: Es ist erstens ein Prosa-‚Bericht‘ […], der über eine vom Autor bestimmte Zeitspanne reicht und beständig neu ansetzt; zweitens ist das behandelte Thema das individuelle Leben, eine persönliche Entwicklung im Fluß; es gibt 52 53

54 55 56 57

Sheridan, RP. S. 7. Dusini gibt an, dass sowohl in Versform verfasste Tagebücher vorliegen (beispielsweise jenes der österreichischen Kaiserin Elisabeth (vgl. Dusini, Das Tagebuch. S. 73)), als auch „dramatisch akzentuierte Tage“ Einzug in Diarien finden (vgl. ebd. S. 176). – Siehe hierzu auch: Jürgen Becker, „Das Gedicht als Tagebuch“. In: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt. Darmstadt 1975. S. 36–41. Claus Vogelsang, „Das Tagebuch“. S. 185. Ebd. Vgl. Wilpert, Sachwörterbuch. S. 676. [Reisebericht] Vogelsang, „Das Tagebuch“. S. 191.

64

2 Form

drittens eine Identität von Autor, ‚Erzähler‘ und Hauptperson; und viertens ist die ‚Erzählerperspektive‘ […] hier das hit et nunc, der Zeitbezug ist gegenwärtig.58

Bereits das Merkmal „Prosa-‚Bericht‘“ spiegelt wider, was das Tagebuch auch ist: ein Bericht über Erfahrungen des schreibenden Ich und damit über die Auseinandersetzung eines Individuums mit Welt. Wie Manfred Jurgensen schreibt, bietet das Tagebuch Raum, den „Zusammenstoß zwischen Vorgefundenem [i.e. Welt] und eigenem individuellen Sein“ zu reflektieren und festzuhalten; hier gewinnt das Tagebuch die Qualität eines Rechenschaftsberichtes. 59 Doch nicht nur biografischen Vorkommnissen dient es als Beleg, auch als historisches Dokument ist das Tagebuch unerlässlich. Jurgensen nennt es deshalb auch „ein Geschichtsbuch besonderer Art“60. Für Tagebuch und Reisetagebuch gilt gleichermaßen, dass „der Tag […] Anlaß zu subjektiven Darstellungen und Reflexionen; […] eigentlicher Anreger zur diarischen Selbstgestaltung“ ist.61 Nach Ralph-Rainer Wuthenow, für den das Reisetagebuch keine Untergattung des Tagebuchs, sondern eine „diaristische Sonderform“ darstellt, nimmt die Reise durch ihre chronologische Abbildung erst Gestalt an. 62 Freilich ergibt sich mit Blick auf das Reisetagebuch ein Widerspruch in Bezug auf das Thema: Dieses umfasst im einfachen Tagebuch das Verhältnis des schreibenden Ich zur Welt und seine Entwicklung. Eine Modifikation zum Reisetagebuch bedeutete, dass nun nicht mehr die Spiegelung des Ich in der Welt, sondern die Reise das primäre Thema darstellte. Nach Vogelsang nimmt der Grad an Widerspiegelung des wahrnehmenden und schreibenden Ich zugunsten des Gegenstandes und der Dinge im Reisetagebuch ab. 63 Da Tagebuch und Reisetagebuch gleichermaßen jedoch nicht in jedem Fall zum Zwecke der Veröffentlichung geschrieben werden, sondern „als Selbstfindungswerkzeug [beziehungsweise als] Beweis einer Existenz vielmehr ein Instrument“ sind und in vielen Fällen privat bleiben64, kann es sein, dass das durch die Reise determinierte Thema (gänzlich) vernachlässigt wird. So lässt sich hinter 58 59 60 61 62 63 64

Ebd. S. 185. Manfred Jurgensen, Das fiktionale Ich. Untersuchungen zum Tagebuch. Bern [u.a.] 1979. S. 12. Ebd. S. 11. Ebd. Wuthenow, Europäische Tagebücher. S. 165. Vogelsang, „Das Tagebuch“. S. 199. Ebd. S. 185.

2.1 Reiseliteratur

65

einem Reisetagebuch die sehr intim dargelegte Begegnung von Individuum und bereister Welt vermuten, wobei zwei Themen um die Vorherrschaft ringen: das schreibende Ich und die Reise. Es ist, als begebe sich das schreibende Individuum in die Funktion des „Reiseleiters“ und wird zum Dreh- und Angelpunkt der Reise, verliert jedoch durch die Deklarierung der Schrift als Reisetagebuch, an primärer Wichtigkeit und lässt die „bereiste“ Welt in den Vordergrund treten. 2.1.3

Das Tagebuch als Grundlage für Reisebericht und Reisetagebuch und die Nähe zur Autobiografie

Ausgehend von der Annahme, dass Erfahrungen einer Reise zeitnah, idealiter täglich verschriftlicht werden, ergibt sich, dass jedweder Art von Reiseschrift tägliche Reisenotizen, wenn nicht gar Reisetagebücher zugrunde liegen müssten. Entscheidend für die Zuordnung eines Werkes zu einer bestimmten reiseliterarischen Untergattung ist im Falle einer Veröffentlichung letztlich die Endfassung. Während Reiseberichte im Idealfall auf täglichen Notizen basieren – dies würde der endlichen Gedächtnisleistung des reisenden Autors Rechnung tragen –, jedoch für die Publikation im Nachgang anderweitig, beispielsweise thematisch ediert werden, behält das Reisetagebuch seine tägliche Chronologie auch in der publizierten Endfassung bei.65 Außerhalb dieser notwendigen Verbindung beider literarischen Formen finden sich zudem Merkmale, in denen sich Reisebericht und Reisetagebuch gleichen beziehungsweise ähneln. Wie bereits mit Korte zitiert, zeigt auch der Reisebericht eine Begegnung von Subjekt und Welt auf.66 Wenn die daraus resultierende Subjektivität auch vom Reiseberichtautor stärker negiert wird, bleibt sie doch ein gattungsspezifisches Merkmal. Auch erheben beide Formen der Reiseliteratur den Anspruch, die Wahrheit zu schreiben. In beiden Fällen liegt der Ursprung dieser Tatsache in der historischen Entwicklung und Bedeutung von Tagebuch und Reisebericht. Während Reiseberichte vor dem 19. Jahrhundert einzig und allein „[die] Funktion der Vermittlung authentischer, durch Autopsie gewonnener Informationen“ innehatten 67 , waren Tagebuchblätter „Vorläufer[...]

65 66 67

Vgl. hierzu H. Wuthenow, Das europäische Tagebuch. S. 40 ff. Korte, Der englische Reisebericht. S. 9. Brenner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur. S. 1.

66

2 Form

journalistischer Nachrichten“ 68 . Obwohl nicht auf den ersten Blick ersichtlich, kann sich auch das Tagebuch als Form der Berichterstattung erweisen. 69 Während sich Tagebuchschreiber vergangener Zeiten nicht selten als Chronisten bezeichneten und das diarische Ich zuweilen als Reporter auftrat70, war es auch für den Reisebericht möglich, „in Form eines Reisejournals“ tagebuchartig verfasst zu sein.71 Zur Verbindung von Autobiografie und Reisebericht ist Folgendes anzumerken: Die vermeintlich aus einer objektiven Perspektive verfassten Reiseberichte sind neben der Darstellung historischer Gegebenheiten durchzogen von Sachverhalten, die auf das Leben des Reisenden selbst verweisen sowie dessen Haltungen und Denkweisen symbolisieren. Nicht zuletzt stellt die Reise ganz faktisch einen Lebensabschnitt des Autors dar. Paul Fussel konstatiert, dass Reiseliteratur insgesamt den autobiografischen Memoiren ähnelte.72 Seiner Meinung nach handele es sich um eine „Unterkategorie der Memoiren, in der die autobiografische Erzählung aus der Begegnung des Autors mit entfernten und unbekannten Informationen“ hervorgehe.73 Eine historiografische Lesart ist sowohl beim Reisebericht74 als auch bei der Autobiografie möglich. So entbirgt jede Autobiografie notwendigerweise auch historische Daten. Nach von Wilpert ist die Autobiografie u.a. gekennzeichnet durch eine retrospektive Einordnung von Geschehnissen im Leben des Autors in „übergreifende Zusammenhänge […] als Wechselwirkung zwischen Ich und Umwelt“ 75. Als Ganzes wird die Autobiografie „immer zu einer nachträglichen Sinngebung des gelebten Lebens aus einheitlicher Perspektive“ und betrachtet das Leben „als geschlossene Einheit“, womit sie als Persönlichkeitsdokument „zeitgeschichtliche und kulturhistorische Züge“ trägt. 76 In der Autobiografie handelt es sich letztlich „immer nur um eine persönliche Selbstfindung, auch ‚Ich-Mythos‘ und keine objektive Wahrheit“ 77 – die, bei allen Schwierigkeiten, die Geschichtsschreibung zumindest intendiert. 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77

Jurgensen, Das fiktionale Ich. S. 13. Ebd. S. 12. Ebd. S. 13. Strelka, „Der literarische Reisebericht“. S. 179. Paul Fussel (1980, S. 203), zitiert in Mulligan, „Women Travel Writers“. S. 172. Ebd. Vgl. Neuber, „Zur Gattungspoetik des Reiseberichts“. S. 55. Wilpert, Sachwörterbuch. S. 60. [Autobiographie] Vgl. ebd. Ebd.

2.1 Reiseliteratur

67

Derselbe Mensch, der den Zusammenhang in der Geschichte seines Lebens sucht, hat in all dem, was er als Werte seines Lebens gefühlt, als Zwecke desselben realisiert, als Lebensplan entworfen hat, was er rückblickend als seine Entwicklung, vorwärtsblickend als die Gestaltung seines Lebens und dessen höchstes Gut erfaßt hat – in alldem hat er schon einen Zusammenhang seines Lebens unter verschiedenen Gesichtspunkten gebildet, der nun jetzt ausgesprochen werden soll.78

Wenn die Reise als Teil dieses Lebens, als durch Reisebeginn und Reiseende abgegrenzter Lebensabschnitt gesehen wird, gilt hier das Gleiche: Bei allen sich am Reisetext spiegelnden Brüchen in der Wahrnehmung des Reisenden stellt der Reisetext nicht zuletzt ein retrospektiv angeordnetes Dokument dar. Sowohl veröffentlichtes Reisetagebuch als auch der Reisebericht haben eine vorpublikatorische Edition durch den Autor durchlaufen. Damit erfahren die Texte bestenfalls eine gesamtübergreifende Sinngebung, die diesen Teil des Lebens, die Reise, zu einem Ganzen verwebt. Freilich darf der Unterschied des in Reisebericht/Reisetagebuch und Autobiografie thematisierten Handlungszeitraums nicht unbeachtet bleiben. Während die idealtypische Autobiografie ein ganzes Leben umfasst, wird im Reisetext lediglich der die Reise umfassende Teil des Lebens abgebildet. Die Frage nach Erinnerungsvermögen und Editionszeitraum stellt sich für beide Schriften: für den Reisetext als „partielle“ und für eine „das ganze Leben“ umfassende Autobiografie. Während der Autor einer Selbstbiografie das Werk viele Jahre schreiben und umschreiben kann, ohne diesen Zeitraum kenntlich machen zu müssen, sind die drei vorliegenden Reiseschriften durch eine kurze Zeitspanne zwischen Reiseende und Veröffentlichung der Reiseerfahrungen gekennzeichnet. Eine nachträgliche Edition der Reisenotizen wird damit freilich nicht ausgeschlossen, jedoch verbleibt dem reisenden Autor weniger Zeit, sein verschriftlichtes Erleben retrospektiv in einen größeren Kontext, einen allumfassenden Sinn einzuordnen und es damit unter Umständen maßgeblich zu verändern. Bei weiteren Merkmalen, die in Reiseliteratur und Autobiografie zu finden sind, handelt es sich um die Kongruenz von Autor, Erzähler und Protagonist; zudem um den faktischen Wahrheitsanspruch.79 In Bezug auf 78

79

Wilhelm Dilthey, „Das Erleben und die Selbstbiographie“. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Niggl, Günter (Hg.). S. 21–32. S. 29. Loredana Polezzi, „Between Gender and Genre. The Travels of Estella Canziani.“ In: Perspectives on Travel Writing. Glenn Cooper, Tim Youngs (Hg.). Aldershot [u.a.] 2004. S. 121–137. S. 122.

68

2 Form

die These, dass beide Gattungen relevante Orte der Identitätsbildung seien, schreibt Polezzi: The way in which identity is constructed, modified, reproduced, inherited, and so on, is repeatedly re-enacted in the narrative representation of encounters, conflicts and transformations which lies at the core of travel writing and autobiography.80

Die Autorin verweist damit auf die an der verschriftlichten Darstellung nachvollziehbare gegenseitige Beeinflussung von Mensch und Welt; eine gegenseitige Einflussnahme, die durch die Bewegung und Entwicklung durch eine Reise und durch das Leben an sich geschehen kann. Die Repräsentationsmodi für Identität jedoch, sind die gleichen. Für eine Analyse bedeuten die oben dargestellten Anregungen von Korte, Neuber und Vogelsang, nach dem Wie der Darstellung fremder Welt, also den Regeln der Textproduktion und der narrativen Struktur zu fragen. 81 Im Einzelnen heißt das, gleichermaßen rhetorische Elemente (Anordnung, rhetorische Stilmittel), die Einbindung unterschiedlicher Textsorten, die Anwendung von Stereotypen sowie über die Argumentationsstruktur hinaus applizierte Authentifizierungsstrategien zu untersuchen. Kortes Definitionsmerkmalen folgend soll der Blick zudem auf die Erzählinstanz und die dahinterstehende reale Person der Reiseberichte beziehungsweise des Reisetagebuchs geworfen werden.

2.2

Convince and fulfil – Literarizität in Reisebericht und Reisetagebuch

Da nicht nur die (eigenen) Erwartungen des Reisenden auf die Reise gehen, sondern auch jene des lesenden Publikums, für das Reiseschriften im Nachgang einer Reise veröffentlicht werden, muss der Reisende Glück haben, auf das zu stoßen, was die Leserschaft vom jeweiligen Reiseziel erwartet oder aber es wird obligat für den Autor, die erfahrenen Sachen in der Art darzustellen, dass sie eine Leserschaft finden. Zweder von Martel schreibt hierzu:

80 81

Ebd. S. 123. Vgl. hier auch Opitz, „Berichte aus der ‚Zweiten Heimat‘“. S. 87.

2.2 Convince and fulfil – Literarizität in Reisebericht und Reisetagebuch

69

From a rhetorical standpoint, the author’s main task is to convince his readers. Since a travel writer has to report about the unknown, he is not always in an enviable position. His observations and experiences do not always meet with the public’s expectations. […] For this, considerable skill is needed, and only with help of fictional elements – or white lies, if one prefers – can the writer attain the necessary verisimilitude for creating a bridge of understanding between his own wide knowledge of the subject and the narrower expectations of the reader.82

Mutmaßlich motiviert durch den Willen, Verständnis zu erlangen und Erwartungen zu erfüllen, ist davon auszugehen, dass sich auch in auf tatsächlichen Reisen basierenden Reisetagebüchern und Reiseberichten Elemente finden lassen, die das Faktisch-Dokumentarische transzendieren oder aber ob ihrer Darstellung derart erscheinen. Von Martels geht von der Einflechtung fiktiver Elemente aus, um Herz und Verständnis des Lesers zu gewinnen. Auch Korte konstatiert in ihrem Resümee über den englischen Reisebericht, dass es sich hier bei „allem Wahrheitsanspruch, unter dem sie rezipiert werden“ um fiktionale „Re-Kreationen“ einer authentischen Reise handelt.83 Das Ziel, eine große Leserschaft zu gewinnen, sowie der Anspruch, das Dargestellte als wahrheitsgemäß verstanden zu wissen und, wie Martels sagt, „den Leser zu überzeugen“, nötigen dem reisenden Autor gewisse literarische Strategien ab. Im Aufspüren dieser literarischen Anteile betritt man das Gebiet der Literarizität, das „[die] Gesamtheit der Eigenschaften und Werte, die einen Text als spezifisch ‚literarisch‘ beziehungsweise als Werk der Literatur kennzeichnet“ 84, umfasst. Die Diffizilität in der Abgrenzung der Begriffe Fiktionalität und Literarizität, die sich auch an der häufig synonymen Verwendung beider Worte zeigt, ist ihnen definitorisch eingeschrieben: Während das Wort „Fiktion“ im Kern das Fingieren birgt, vom lateinischen Wort fingere abgeleitet, „die verschiedensten Bedeutungen des Bildens, Erdichtens bis zu der des lügenhaften Fabelns“85 enthält, 82

83 84 85

Zweder von Martels, „Introduction“. In: Ders. Travel Fact and Travel Fiction. Studies on Fiction, Literary Tradition, Scholarly Discovery and Observation in Travel Writing. S. xvii. Korte, Der englische Reisebericht. S. 206. Wilpert, Sachwörterbuch. S. 470. [Literari(zi)tät] Käte Hamburger, Die Logik der Dichtung. Stuttgart 1994. S. 53. – Die „Unhintergehbarkeit der ‚historischen Formung‘“ forciert allerdings „die provokante These“, dass selbst Geschichtsschreibung „prinzipiell nicht ohne Fiktion auskommen kann“ (Hayden White), da sie eine „Erzählperspektive“ innehat und eine „im anderen Sinne von fingere […] notwendige, aber mehr oder weniger glückliche und sachgerechte, doch

70

2 Form

evoziert auch „Literarizität“ eine Suche nach „Phantasie und künstlerischer Schaffenskraft des Autors, im Aufbau von Texten, im besonderen Vokabular, in speziellen Textelementen und ästhetischen Verfahren […]“86. Die Komplexität beider Begriffe birgt für eine partielle Überschneidung. Während den vorliegenden Texten ein Wahrheitsanspruch und faktischer Wirklichkeitsbezug zugesprochen wird, finden auch hier, im Folgenden nachzuweisende „Beglaubigungsstrategien“ Anwendung; diese kennzeichnen auch die Fiktionalität eines Textes87. Allerdings eignen sie sich dafür, das in der vorliegenden Arbeit angebrachte Verständnis von Literarizität zu veranschaulichen: Während nach diesem Verständnis, Fiktionalität die Dinge überhaupt erst in die Welt bringt (als Erdachtes), ist Literarizität bei aller Phantasie des Produzenten eine „Formgestaltung“. Jene in den Reisetexten auftauchenden Phänomene, wie beispielsweise Stereotype, die das eigentlich Erfahrbare vermeintlich transzendieren, sind bereits Teil der kulturellen Welt des Autors, werden also „nur“ reproduziert, um eine subjektive Einstellung zu unterstützen. Die Suche nach diesen literarischen Elementen beschränkt sich somit rein auf gestalterische Charakteristika. Auch (Reise-)Tagebücher dürfen unter bestimmten Gegebenheiten als literarisiert gelten. Für Tagebücher gilt gemäß Klaus Günther Just, dass der Übergang „zwischen [jenen,] die dokumentarisches Rohmaterial liefern [Vorform], und [jenen], in denen wir durchstilisiertes, perfekt ausgeschliffenes Material [Endform] bewundern dürfen“, fließend ist. 88 In den Fällen, in denen das Tagebuch „als Ort des Bekennens“, in Manier von Marc Aurels Selbstbetrachtungen, oder „als Ort des Verbuchens“, im Sinne von Haushaltsbüchern oder den faktisch formulierten Tagebüchern Albrecht Dürers, genutzt wurde, nimmt sich das schreibende Individuum als Tagebuch-Ich zugunsten des beschriebenen Gegenstandes zurück. 89 Historisch besehen verändert sich die Haltung beziehungsweise Sichtbarkeit des Tagebuchautors jedoch mit der Zeit der Aufklärung. 90 Zunehmend wird das Tagebuch nun als Ort gegenseitiger Reflexion von „Ich

86 87 88 89 90

nie dem Gegenstand selbst inhärente Formung“ darstellt. (Vgl. Karlheinz Stierle, „Fiktion“. In: Ästhetische Grundbegriffe. 7 Bd. Bd. 2. Karlheinz Barck (Hg.). Stuttgart 2001. S. 380–428. S. 427.) Vgl. Bartsch, „Literarizität“. S. 453 f. Vgl. Wilpert, Sachwörterbuch. S. 269. [Fiktion] Klaus Günther Just, Übergänge. Probleme und Gestalten der Literatur. Bern [u.a.] 1966. S. 26. Ebd. S. 27. Ebd.

2.2 Convince and fulfil – Literarizität in Reisebericht und Reisetagebuch

71

und Welt“ 91 wahrgenommen. Nach Just beginnt damit ein Prozess der Fiktionalisierung: Da das Individuum per se unaussprechlich sei, gehe das, „[was] sich ausspricht, [...] schon ins Allgemeine über, ist nicht mehr im strengen Sinne individuell“92. Sprache und Individuum würden sich nun gegenseitig aufheben. Sobald das Individuum also begänne, seine Erfahrungen und Gedanken mit Hilfe der Sprache zu formulieren, sei Fiktion im Spiel: „Durch das sprachliche Sichausdrücken ist [das Individuum] sogleich in einen Fiktionalisierungsprozeß involviert [...]“93. Zudem stellt die Dokumentation einer „Ich-Geschichte“ bereits im Keim die Gestaltung eines „‚literarischen‘ Charakters“ dar.94 Diesem Fiktionalisierungsprozess geht auch Manfred Jurgensen nach und stellt die These auf, dass aus dem Tagebuch-Ich ein fiktionalisiertes Ich wird. Hieran ließe sich „die Genese der Literatur überhaupt ablesen“.95 Die Fiktionalisierung macht sich insbesondere daran bemerkbar, dass sich der Autor selbst mehr oder weniger stark stilisiert. Wenn sich auch tagebuchschreibende Schriftsteller wie Lev Tolstoj oder Thomas Mann der Möglichkeiten und Wirkungen diarischer Selbstdarstellung stärker bewusst waren als nichtprofessionelle Tagebuchautoren, nutz(t)en auch Letztgenannte derlei Elemente.96 In jedem Fall jedoch verliert der Autor als Tagebuch-Ich seinen realen Charakter und verwandelt sich in einen „fiktionalen Ich-Charakter, in eine literarische Gestalt, die sprachlich und formal über ein Eigenwesen verfügt“. 97 Anhand von Tolstojs „Alterstagebuch“ 98 versucht Gräser nachzuweisen, was das eigentlich Literarische an einem Tagebuch ausmacht: das ordnende Prinzip99. Dieses setzt eine retrospektive Sicht auf das Geschehen voraus und macht sich zeitnah getätigte Notizen und die Erinnerung zunutze; das Ergebnis ist eine Auswahl und Umformung, wie sie jedem dichterischen Prozeß eigen ist.

91 92 93 94 95 96 97 98

99

Ebd. S. 28. Hugo von Hofmannsthal, zitiert in: ebd. S. 194. Ebd. Ebd. Jurgensen, Das fiktionale Ich. S. 7. Ebd. S. 10. Ebd. S. 7. Das „Alterstagebuch“ umfasst nach Gräser die Jahre von 1895–1903. (Vgl. Gräser, Das literarische Tagebuch. S. 51.) Gräser bezieht sich auf Leo N. Tolstoi, Tagebuch. 2 Bde. Hg. von L. Berndl. Jena 1923. Gräser, Das literarische Tagebuch. S. 59.

72

2 Form

2.2.1 2.2.1.1

Rhetorik Anordnung

An selektiver Auswahl und subjektiver Anordnung der empirischen Realität zeige sich, wodurch eine Fiktionalisierung von Wirklichkeit entstehe, so Inka Zahn.100 Nicht nur, dass man anhand eines individuell angeordneten Sachverhalts (hier die Erfahrungen einer Reise) die Präferenzen des Autors nachvollziehen kann und die Reise durch die Abweichung vom eigentlichen Reiseverlauf in schriftlicher Art eine neue Struktur erfährt, auch bietet eine nachträgliche Anordnung die Möglichkeit, dem Rezipient bestimmte Informationen bereits vorzeitig zu liefern, noch bevor sie im Verlauf der Reise tatsächlich gewonnen wurden. Damit erfolgt eine vorzeitige Prägung und Einstimmung auf einen Gegenstand beziehungsweise eine Person, die sich gegebenenfalls vorteilig oder nachteilig auf die nachfolgende Beurteilung auswirkt. Die Konsequenz, die eine gezielte Anordnung charakterisierender Angaben auf Personendarstellungen hat, lässt sich gut anhand eines psychologischen Phänomens, des sogenannten primacy effects101 aufzeigen. Es gilt in der Psychologie als empirisch belegt, dass anfänglich gegebene Informationen über eine Person respektive einen Sachverhalt vom Leser gemeinhin „mit Hilfe von Vorurteilen“102 zu einem ganzheitlichen Bild zusammengesetzt werden. Dies kann zusammen mit zukünftigen Merkmalen dreierlei Folgen haben: Entweder fügen sich die Merkmale in das bereits bestehende Bild ein und präzisieren es oder sie erfordern eine Modifizierung des anfänglichen Bildes und verändern das erste; letztlich kann es auch zur Wahrnehmung eines „‚Bruch‘ im Charakter“ kommen.103 In Bezug auf literarische Figuren konnte mithilfe der Wirksamkeit dieses Effekts nachgewiesen werden, dass der Leser dazu neigt, sich bereits mit minimalen Informationen über eine Figur, „schon zu einem frühen Zeitpunkt eine Vorstellung der ganzen Figur zu bilden, von deren Richtigkeit er in der Regel subjektiv sehr stark überzeugt ist“104. Obwohl es sich bei den in den Reiseschriften thematisierten Personen nicht um literarische Figuren, sondern reale Personen handelt, kann von der glei100 101 102 103 104

Vgl. Zahn, Reise als Begegnung. S. 326, 369. Herbert Grabes, „Wie aus Sätzen Personen werden... Über die Erforschung literarischer Figuren“. In: Poetica. Bd. 10 (1978). S. 405–428. S. 415. Ebd. S. 417. Vgl. ebd. S. 416 ff. Ebd. S. 415.

2.2 Convince and fulfil – Literarizität in Reisebericht und Reisetagebuch

73

chen Wirkung beim Rezipienten ausgegangen werden. Diese „Rezeptionslenkung“ lässt Rückschluss auf die Intention des Autors zu: Welches Bild will er vermitteln? Mit einer gezielten Anordnung von Sachverhalten ergibt sich zudem die Möglichkeit einer rhetorisch geschliffenen Rekonstruktion der Wirklichkeit, die unterstützend auf die Authentifizierung der angegebenen Tatsachen einwirken kann. Der ordo naturalis der Reise, so Neuber, sei „als chronologische Darstellung der raum-zeitlichen Erfahrungsbildung [...] das für die Neuzeit häufigste und kennzeichnendste Schema der wahrheitsbürgenden Stofforganisation“105. Allerdings schließe eine solche chronologische Darstellung der Reise die Aufstellung einer wirklichen „Handlung“ im literarischen Sinn aus, da jedes auf der Reise begegnende Ereignis seine neuen Teilnehmer hat, die als zufällige Akteure agierten.106 Die in einem Werk zu bearbeitenden Themen, die „gefundenen Sachen“, zeigen sich bei Abgleich mit anderen Werken selten als einzigartig, da bei der Vielzahl an wirklichkeitsbezogener und auch fiktiver Literatur nahezu alle möglichen Themen bereits verarbeitet wurden. Es finden sich überall „typische Züge“.107 Einzigartig in der „Erfindung einzelner Gedanken“ (inventio) ist „nur [ihre] Zusammensetzung“; doch zeigt sich diese nicht auf den ersten Blick: Man muss suchen, „was in einem Thema ‚drinsteckt‘“.108 Dieses Suchen gestaltet sich sowohl auf der Makroebene des Textes (Textarchitektur) als auch auf der Mikroebene einzelner Kapitel. Die inventio wurde in der Antike in einzelne „Orte“ unterteilt, Abschnitte also, die Auskunft über die Zusammensetzung geben sollen. Hierunter fallen die Einleitung (exordium), Schilderung des Sachverhalts (narratio), Begründung (argumentatio) und Schluss (peroratio), die jeweils mit einer bestimmten Intention des Autors zusammenhängen. 109 Während die Einleitung die Aufgabe hält, „Kontakt zum Publikum“ aufzunehmen110, wird „mit der Schilderung des Sachverhalts der ‚Fall‘, der der Rede zugrunde liegt, nun zum ersten Mal direkt angesprochen“ 111. Die Begründung umfasst jene die These untermauernden Argumente112 105 106 107 108 109 110 111 112

Neuber, „Zur Gattungspoetik des Reiseberichts“. S. 55. Zlatko Klatik, „Über die Poetik der Reisebeschreibung“. In: Zagadnienia Rodzajów Literarckich. Bd. 11. (2 (21)) 1968. S. 126–153. S. 140. Göttert, Einführung in die Rhetorik. S. 30. Ebd. Ebd. Ebd. S. 31. Ebd. S. 33 f. Ebd. S. 35 f.

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2 Form

und der Schluss soll sowohl der Rekapitulation der Gedanken dienen als auch den Leser zum Handeln bewegen113. So kann das Abweichen von der natürlichen Reiseordnung zugunsten einer künstlichen in einem Reisebericht Aufschluss über die Intention des reisenden Autors geben. In Reisetagebüchern, deren inhärentes Merkmal die Nachzeichnung des Reiseverlaufs, die chronologische Nachahmung der Reise ist, kann die Anordnung durch das Einfügen von nicht-chronologischen Sachverhalten gestört werden. Hierzu zählt beispielsweise die Anekdote, die als kurze, pointierte Begebenheit das Achronologische mit sich führt.114 2.2.1.2

Selektion

Dem Umstand geschuldet, dass sich vorliegende Schriften auf eine tatsächliche Reise beziehen und daher, im Gegensatz zu fiktiver Literatur, einen Wirklichkeitsbezug implizieren, geben Auslassungen Auskunft darüber, welches Bild die jeweilige Autorin vermitteln will. Obwohl Auslassungen keine Erdichtungen sind, tragen sie zur Bildung von „Halbwahrheiten“ und damit einem geschönten Gesamtbild bei. Doch ist die Rekonstruktion dieser „Lücken der verschriftlichten Reise“ nicht ohne Schwierigkeit: Bereits die eigentliche Wahrnehmung (in) der Fremde, d.h. was der Reisende als blickendes und hörendes Subjekt überhaupt in seinem Umgang in der Welt wahrnimmt, stellt einen Selektionsprozess dar, auf den in der vorliegenden Arbeit freilich keine Rücksicht genommen werden kann. Für Inka Zahn stellt die vonstattengehende Selektion der in die Reisereportage respektive dem Reisebericht aufgenommenen Inhalte ein Zeichen für das Vorliegen von Fiktion dar. Dies insbesondere in den Fällen, wenn „zwischen dem Zeitpunkt der Reise und dem der Veröffentlichung des Berichts eine große Zeitspanne liegt“.115 Dass nicht unbedingt eine „große“ Zeitspanne gegeben sein muss, sondern bereits der Umfang der Erfahrungen, die sich an einem einzigen Tag machen lassen, eine Selektion erfordert, zeigt sich sehr anschaulich an Arno Dusinis Ausführungen zum „TAG“, so seine Bezeichnung für eine Texteinheit im Tagebuch.116 Die wörtliche Übereinstimmung mit dem Tag als Zeiteinheit ist hinsichtlich der dem Tagebuch eigenen Besonderheit als „Buch des Tages“ gewollt. Einen einzelnen Tag, als Zeiteinheit betrachtet, von der ersten bis zur letzten Minute schriftlich beziehungsweise erzählerisch zu fassen, ist 113 114 115 116

Ebd. S. 39 f. Vgl. Wilpert, Sachwörterbuch. S. 28. [Anekdote] Zahn, Reise als Begegnung. S. 365. Vgl. Dusini, Das Tagebuch. S. 93.

2.2 Convince and fulfil – Literarizität in Reisebericht und Reisetagebuch

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ein kaum zu bewerkstelligendes Unterfangen. Und doch bestimmt, wie der Name sagt, die Zeiteinheit Tag die einzelnen Texteinheiten beziehungsweise Kapitel eines Tagebuchs. Somit handelt es sich beim TAG nicht um die Darstellung jedes einzelnen Augenblicks des Tages, sondern um das „Ergebnis einer Selektion“: Aus der Fülle der Informationen, die für einen Tag denkbar sind, trifft das Tagebuch eine bestimmte Auswahl. Und es impliziert, daß die ausgewählten und der Notation für wert befundenen Informationen in ihrer ‚Komposition‘ zu beachten sind: Im TAG verleiht das Tagebuch dem Tag eine eigene Figur.117

Gleiches gilt freilich auch für das Reisetagebuch und nicht minder den Reisebericht: Allein die Unmöglichkeit, jeden Augenblick eines Tages zu erfassen, führt dazu, dass der Autor eine Auswahl der zu verschriftlichenden Erfahrungen vornehmen muss. Welcher Art die Auslassungen sind, an welcher Stelle ausgelassen wird und welche Beweggründe dahinter stehen, bleiben individuell und je nach Reisetextautor zu klärende Fragen, die unter Umständen auf die Reisemotivation beziehungsweise die Haltung des Autors zum bereisten Land hindeuten. 2.2.1.3

Rhetorische Stilmittel

Im Prozess der Begegnung mit der Fremde ergeht es Reisenden oft so, dass sie nicht in Worte fassen können, was sie sehen – sei es aufgrund der Fremdartigkeit oder aber aufgrund eines Gefühls der Faszination, die sie im Anblick des Fremden überkommt: Real observation requires training, not only for analysis and comparison, but for expressing new findings in words and concepts. Explorers often have no words to describe their discoveries, and are at first literally speechless. They must try to circumscribe by metaphors, create new words, or borrow from other languages, and inevitably they risk misunderstanding.118

Der Gebrauch von umschreibenden Wörtern, der Einsatz von Vergleichen, Metaphern oder Metonymien bietet sich dem reisenden Autor dann an, wenn ihm die Möglichkeiten der Nutzung eindeutiger Sprachmittel erschöpft zu sein scheinen. Für den Leser heißt das, die eigentliche Aussage 117 118

Ebd. Von Martels, Travel Fact and Travel Fiction. S. xvi.

76

2 Form

und die Intention zur Nutzung der uneigentlichen Rede des Autors zu entdecken und zu hinterfragen: Verwendet der Autor sprachliche Mittel, weil ihm das eigentliche Wort fehlt und er mit konventionellen Mitteln nicht beschreiben kann, was er erfahren hat, oder weist eine rhetorisch geschmückte und damit mehrdeutige Aussage auf einen neuen beziehungsweise unerwarteten Aspekt eines Sachverhalts hin? Neben der Unmöglichkeit einer präzisen Beschreibung von Reiseerfahrungen aufgrund sprachlicher Unzulänglichkeiten bieten sich dem Autor rhetorische Mittel zur Ausschmückung seiner schriftlich fixierten Rede. Je nach ästhetischem Anspruch können Einzelwörter (Tropen) oder Wortverbindungen (Wortfiguren- und Sinnfiguren, Wortfügungen) der Reiseschrift eine persönliche (Stil-)Note verleihen. 119 Der kleinste gemeinsame Nenner von verbum translatum und verbum proprium bei Metaphern entbergen die Möglichkeit dem eigentlichen Gedanken des Autors auf die Schliche zu kommen.120 Auch Metonymien121, Hyperbeln122, Emphasen123 und Umschreibungen124 fallen der uneigentlichen Rede zu. Auf syntaktischer Ebene begünstigt der Einsatz sowohl von Wortfiguren (beispielsweise Synonymie 125 , Ellipse, Parallelismus, Antithese) und Sinnfiguren sowie Wortfügungen einen schmückenden Ausbau des inhaltlich Gegebenen. 119 120 121

122

123

124

125

Vgl. Göttert, Einführung in die Rhetorik. S. 41, 45. Wilpert, Sachwörterbuch. S. 513. [Metapher] „Ersetzung des [eigentlichen] Wortes durch e[in] anderes, das zu ihm in realer Beziehung steht, also in einem zeitl[ichen], räuml[ichen], ursächl[ichen], log[ischen] oder erfahrungsgemäßem Zusammenhang [...]“. (Ebd. S. 515 f. [Metonymie]) Es handelt sich bei diesem Tropus um eine „extreme Übertreibung des Ausdrucks in vergrößerndem oder verkleinerndem Sinne bei der Charakterisierung (auch Gleichnis) e[ines] Objekts oder e[iner] Eigenschaft, die, wenn wörtlich genommen, ins gegenständlich Unmögliche gesteigert wird [...].“ (Ebd. S. 361 [Hyperbel]) – Vgl. auch Göttert, Einführung in die Rhetorik. S. 50. Hierunter ist der „Nachdruck in der Rede als phonetisches Stilmittel […] zur Hervorhebung und stärkeren Eindringlichkeit e[ines] Wortes oder Ausdrucks in seiner ganzen, sonst vielleicht überhörten Bedeutungsschwere und Hintergründigkeit“ zu verstehen. (Wilpert, Sachwörterbuch. S. 210. [Emphase]) – Vgl. auch Göttert, Einführung in die Rhetorik. S. 50. Die Periphrase wird als „erweiternde Umschreibung e[ines] Begriffs, Gegenstandes, e[iner] Person, e[iner] Eigenschaft oder Handlung […] durch mehrere Wörter (Eigenschaften, Tätigkeiten, Umgebung, Verhältnis, Wirkung)“ verstanden. (Wilpert, Sachwörterbuch. S. 602. [Periphrase]) – Vgl. auch Göttert, Einführung in die Rhetorik. S. 51. Synonymie kann auch als Art Wiederholung verstanden werden, so für einzelne Sachverhalte beziehungsweise Wörter Synonyme gebraucht werden. (Vgl. auch Wilpert, Sachwörterbuch. S. 51 [Asyndeton] und S. 623 [Polysyndeton].)

2.2 Convince and fulfil – Literarizität in Reisebericht und Reisetagebuch

2.2.2 2.2.2.1

77

Authentifizierungsstrategien Sprechweisen: Erzählen und zeigen

Einen weiteren Beweis dafür, dass Reiseberichte, nicht selten auch Reisetagebücher, „kreative Nachschöpfungen der zugrundeliegenden Reise“ sind, liefert Korte mit dem Phänomen der „Einbindung ausführlicher Dialoge“.126 Obwohl die Texte nicht gezwungenermaßen zeitnah verfasst werden (können), finden sich darin häufig ganze Passagen, die Dialoge Reisender mit anderen Personen wiedergeben. Barbara Korte stellt die hierfür erforderliche Gedächtnisleistung zu Recht in Frage und nimmt an, dass es sich in solchen Fällen um bloße Nachempfindungen handele.127 Diesen Standpunkt vertritt auch Inka Zahn: Für sie offenbart sich, in Anlehnung an Georg Lukács’ Erzählen oder Beschreiben (1936), ein Teil der Fiktion in den Reisetexten als Narration.128 Darunter versteht sie „das Erschaffen des Ungeformten“, beispielsweise in Form des Einbaus auch fiktiver Szenen beziehungsweise fiktiver Dialoge. 129 Die Einbindung kann zweierlei nach sich ziehen: Einerseits wird die Reiseschrift durch Unterbrechung des berichtartigen Erzählens durch das Einfügen von direkter Rede literarisiert – ganz im Sinne einer „kreativen Nachschöpfung“ der Reise. Die damit angedeutete Dramatisierung des Textes führt zur Auflockerung und Nahbarkeit der Erzählung. Andererseits erfahren Sachverhalte mit Einbindung einer der Erzählerstimme zusätzlichen Stimme in direkter Rede eine Authentifizierung: Das vom Erzähler Geschilderte wird bestätigt oder widerlegt – freilich immer im Sinne der grundlegenden Erzählperspektive, die mit der Funktion der Reiseschrift zusammenhängt.

126 127

128 129

Korte, Der englische Reisebericht. S. 14. Ebd. S. 15. – Am Beispiel eines ehemaligen Teilnehmers am Feldzug gegen die Azteken unter Cortes, Bernal Diaz, beschreibt Greenblatt, wie dieser sich entgegen jeder Wahrscheinlichkeit gebärdet, überall Augenzeuge gewesen zu sein und ein „famoses Erinnerungsvermögen“ zu besitzen. „Obschon er seine Darstellung rund fünfzig Jahre nach den Ereignissen niederschreibt, behauptet er, sich noch an kleinste Details in ihrer genauen narrativen Ordnung zu erinnern – beiläufige Gespräche, lokale Strategien, mißglückte Anfänge, flüchtige Sinneseindrücke haben sich ebenso unauslöschlich in sein Gedächtnis eingeschrieben wie die großen Ereignisse und entscheidenden Schlachten.“ (Vgl. Stephen Greenblatt, Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisen und Entdecker. Berlin 1994. S. 198.) Zahn, Reise als Begegnung. S. 369. Karlheinz Stierle (2001, S. 381), zitiert in: ebd. S. 361.

78

2 Form

2.2.2.2

Textsorten

Die Abgrenzung von Reiseberichten zu rein faktischen Reiseführern zeigt sich einmal mehr in der Varietät seiner Darstellungsmethoden. Als „literarische Hybridform“ kann der Reisebericht verschiedenste Textsorten vereinen, hierunter sowohl literarische als auch nichtliterarische. 130 „[Hier] stehen neben Anekdoten mythische Passagen, fiktive Szenen, Auszüge aus Interviews, aus Gedichten oder Fabeln, historische Fakten, Zahlen, Statistikmaterial, Vergleiche und Erörterungen.“131 Selbst Legenden fänden zum Teil Einzug in Reiseberichte, um „dem Leser die Faszination der Reise zu vermitteln“. 132 Neben unterschiedlichen Gattungen lassen sich auch hinsichtlich ihrer Pragmatik diverse Textstile filtern.133 So findet man neben berichtenden und beschreibenden134 auch appellierende, beichtende oder erörternde Textstellen, die eine Bandbreite verschiedener Funktionen bedienen. Mitunter ist dies dem Credo des „prodesse et delectare“ geschuldet. 2.2.2.3

Explikation des Augen- und Ohrenzeugen

Historisch gesehen besitzt der Reisebericht erst seit dem 19. Jahrhundert literarische Wertigkeit und hatte vorher einzig und allein „[die] Funktion der Vermittlung authentischer, durch Autopsie gewonnener Informationen“ inne.135 Diese Authentizitätsverpflichtung entband die Autoren von ästhetischen Pflichten und bleibt bis heute eines der mehrheitlich angenommenen Merkmale dieser Gattung.136 Es ist davon auszugehen, dass 130 131 132 133

134

135 136

Vgl. ebd. S. 370. Dorothea Hülsmeier (1996, S. 56), zitiert in: ebd. S. 381. Ebd. S. 373. Vgl. Ernst-Ulrich Große, „Textsorten“. In: Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze–Personen–Grundbegriffe. Ansgar Nünning (Hg.). Stuttgart [u.a.] 2008. S. 710–711. S. 710. Zum Unterschied zwischen „berichten“ und „beschreiben“ vgl. einerseits die Anmerkung Neubers, dass das Berichten „auf das Moment einer Handlung“ verweise, die narrativ wiedergegeben wird; „Beschreiben“ hingegen stelle eine „zeitunabhängige, statische Befindlichkeit“ dar. (Vgl. Neuber, „Zur Gattungspoetik des Reiseberichts“. S. 63). Hujer/Heinemann kategorisieren beide Darstellungsarten als „objektiv“, dabei thematisiert die „Beschreibung“ einen Gegenstand und der Bericht einen Vorgang. (Vgl. Wolfgang Heinemann: „Vertextungsmuster Deskription“. In: Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Klaus Brinker (Hg.). 2 Bd. Bd. 1. Berlin [u.a.] 2000. S. 356–368. S. 359.) Brenner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur. S. 1. Vgl. bspw. Korte, Der englische Reisebericht. S. 1.

2.2 Convince and fulfil – Literarizität in Reisebericht und Reisetagebuch

79

reisende Autoren größtenteils intendierten, die Wahrheit zu erzählen oder zumindest versuchten, diesen Eindruck zu erwecken. 137 Ihre Aufzeichnungen sollten das Bild wiedergeben, das sich ihnen während des Kontaktes mit der Fremde offenbarte. Die Einbindung literarischer Strategien zeigt letztlich den Wunsch des reisenden Autors auf, so authentisch wie möglich zu erscheinen. Um dies zu erreichen, bedienten und bedienen sich viele dieser Ich-Erzähler138 häufig einer nachhaltigen Betonung ihres Augenzeugendaseins. „Der Augenzeuge wird zum Schnittpunkt der Begegnung, zum Vermittler zwischen ‚uns‘ und alle dem (sic!), was jenseits unseres Horizonts liegt.“139 Daher werden Formulierungen wie „‚Ich habe gehört‘, ‚ich sage‘, ‚ich schreibe‘ und vor allem ‚ich habe gesehen‘“140 häufig in Reiseschriften zu finden sein. Stephen Greenblatt behauptet, dass bereits mit der ersten Reiseschrift, Herodots Historien (Mitte des 5. Jh. v. Chr.), diese Strategie zur Beglaubigung der niedergeschriebenen Erfahrungen zur Anwendung gekommen sei. Seiner Meinung nach besitze „[d]er Augenzeuge […] die Wahrheit unmittelbar, er muß sie nur darlegen; wer jedoch nicht mit eigenen Augen gesehen hat, der muß überreden“. 141 Der Verweis des Reisenden auf sein Augenzeugendasein zielt also nicht nur auf die Darstellung des fremden Anderen ab, sondern bezeugt seine Existenz.142 Weitere Strategien, die Glaubhaftigkeit des Augenzeugenberichts zu unterstützen, finden sich einerseits in der Versicherung der Affektlosigkeit des Berichts, andererseits im Bezug der Reiseschrift auf die „endoxa des Publikums“.143 Unter der Affektlosigkeit des Berichts werden eingehende Hinweise auf die Neutralität des Verfassers verstanden. Der Autor des Berichts erlebt die Fremde und legt sie für den Leser in vorurteilsfreier Manier dar. Dies impliziert die „Abwesenheit [jeden Redeschmucks, i.e. rhetori137

138

139 140 141 142 143

Die Lesart eines Reiseberichts als narratio vera war und ist nicht ungewöhnlich. Dies trug jedoch dazu bei, dass den Reiseberichtautoren in der Konstruktion ihrer Wahrheit ein Spielraum geboten wurde. (Vgl. Neuber, „Zur Gattungspoetik des Reiseberichts“. S. 55.) „Die Gestalt des Autors als Reisender und Erzählers in einer Person, die in die Beschreibung der wirklichen Welt eindringt, garantiert die Glaubwürdigkeit des Berichts, bestätigt das, was veranschaulicht und beschrieben wurde, wirklich beobachtet und festgehalten war.“ (Klatik, „Über die Poetik der Reisebeschreibung“. S. 136.) Greenblatt, Wunderbare Besitztümer. S. 187. Ebd. S. 189. Ebd. S. 197. Michel de Certeau (1985, S. 68), zitiert in: ebd. S. 193. Neuber, „Zur Gattungspoetik des Reiseberichts“. S. 58.

80

2 Form

scher Mittel], der ja Affekt ausdrückt“.144 Der eindeutige Verweis auf eine endoxa stellt eine über den „Wirklichkeitsgehalt, den ein Bericht vermitteln will, hinausgehende Strategie“ dar.145 Dies kann beispielsweise durch die Kontextualisierung der Umstände, in denen die Reise zustande kommt, geschehen. Der Verweis auf die „(weltliche wie geistige) Obrigkeit“, die die Reise veranlasst hat und „in Patronanz verwahrt“, steht dann unter Umständen in der Funktion, die Reiseschrift authentischer erscheinen zu lassen.146 Auch kann eine Widmung an diesen oder jenen „Herrn“ oder die Vorrede einer wissenschaftlichen Instanz „(Gelehrter, Fakultät), die den Text mit ihrer Autorität [...] stützt“ solch einer Intention dienen.147 2.2.3

Vorurteile, Verallgemeinerungen, Stereotypen

Die Volksseele der Russen ist durch Sinnigkeit, Gemütstiefe und Nationalstolz gekennzeichnet. Wechsel zwischen Munterkeit und Schwermut sind den Russen eigentümlich. Groß ist ihre Verschmitztheit und Höflichkeit. Die unbezwingliche Rauheit der Natur hat sie zur Genügsamkeit, Geduld und Unterwürfigkeit, aber auch zum Fatalismus erzogen [...].148

Diese historische Beschreibung vermeintlich nationaler Merkmale ist nichts weniger als eine Aneinanderreihung von Stereotypen, die sich im kulturellen Gedächtnis einer westlichen Nation, in diesem Fall der deutschen, festgesetzt haben. Über das Dokumentarische hinaus wartet der Reisebericht häufig mit Beschreibungen auf, die das, was gesehen und erfahren werden kann, transzendieren. Stereotypen sind dabei ein Beispiel dafür, dass es sich bei Reiseberichten um literarisierte ReKonstruktionen von Welt handelt. Unter Stereotypen wird eine Aussage verstanden, genauer gesagt, „ein (negatives oder positives) Werturteil, das gemeinhin von einer starken Überzeugung getragen wird. […] Es wird meist auf Menschen angewandt, und zwar auf menschliche Gruppen, die unterschiedlich definiert sein können: rassistisch, ethnisch, national, sozial, politisch, religiös oder kon-

144

Ebd. Es handelt sich hier um „das Gefüge der Wertkonventionen einer Gesellschaft“. (Ebd.) 146 Vgl. ebd. 147 Ebd. 148 E. von Seydlitz, „Geographie“. In: Kleines Lehrbuch. Ausgabe B. Breslau 1908. S. 243 f. 145

2.2 Convince and fulfil – Literarizität in Reisebericht und Reisetagebuch

81

fessionell, beruflich usw.“ 149 Nach Henning und Eva Hahn „schmarotzen“ Stereotypen bei Begriffen, die nicht per se zu Stereotypen werden, sondern erst bei Verwendung in einem bestimmten Kontext. 150 Walter Lippmann, einer der namhaftesten Forscher auf diesem Gebiet, sieht in der stereotypisierten Welt nicht unbedingt eine Welt, die wir so oder so geartet haben wollen, sondern eher, deren Ausgestaltung wir so oder so erwarten.151 Es stellt sich die Frage, inwiefern sich Stereotypen von bloßen Verallgemeinerungen abgrenzen lassen. Zur Erleichterung des Umgangs in der Welt werden Verallgemeinerungen zu Begriffen, die jedoch auf Erfahrungen beruhen und eine bestimmte kognitive Funktion und Beziehung zur Realität haben, „d.h. sie sind beziehungsweise ihr Informationsgehalt ist überprüfbar, verifizierbar und falsifizierbar, und sie verändern sich, wenn die Realität sich ändert.“152 Im Gegensatz zu Begriffen handelt es sich bei Stereotypen um Verallgemeinerungen, „bei denen die emotionale Komponente dominiert […], ja [die] emotionale Geladenheit stellt offensichtlich den wichtigsten Informationsgehalt dar.“153 Eingedenk der Ähnlichkeit und des häufig synonymischen Gebrauchs der Begriffe Stereotyp und Vorurteil und auch der nahen semantischen Verwandtschaft des Stereotyps mit der Metapher soll an dieser Stelle weiter differenziert werden. Generell kann davon ausgegangen werden, dass Vorurteile Stereotypen zumeist vorweg gehen. Ihre Verfestigung im kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft, mag zur Ausbildung von Stereotypen führen. Das Stereotyp als das „Festgestaltige“ (griech. stereos ‚fest‘, typos ‚Gestalt‘) kann somit aus einem nur weit genug verbreiteten Vorurteil erwachsen und sich als Schablone für eine bestimmte Sicht auf die Welt kulturell und gesellschaftlich platzieren. Als Teil des kollektiven Gedächtnisses einer Gesellschaft werden Stereotypen als „kulturelle Brille“ ständig mitgetragen.

149

150 151 152

153

Hans Henning Hahn, Eva Hahn, „Nationale Stereotypen. Plädoyer für eine historische Stereotypenforschung.“ In: Stereotyp, Identität und Geschichte. Die Funktion von Stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen. Hans Henning Hahn (Hg.). Frankfurt a. M. [u.a.] 2002. S. 17–56. S. 20. Lippmann (1922/1949. S. 95, 104), zitiert in: ebd. S. 23. Lippmann (1922/1949. S. 95, 104), zitiert in: ebd. S. 25. Ebd. S. 22. – Eine kurze Zusammenfassung der interdisziplinären Stereotypenforschung gibt Lew N. Zybatow, Russisch im Wandel. Die russische Sprache seit der Perestroika. Berlin 1995. S. 7–21. Hahn et al., „Nationale Stereotypen“. S. 22.

82

2 Form

Um den Unterschied zwischen Stereotyp und Metapher zu verdeutlichen, soll ein kurzer Blick auf die linguistische Kategorisierung von Stereotypen nach dem Schema von Gülich154 geworfen werden. Hier werden die Stereotypen in Sprach- und Denkstereotypen eingeteilt. In weiterer Untergliederung der Sprachstereotypen finden sich sogenannte „metaphorische“ Sprachstereotypen, wie beispielsweise metaphorische Sprichwörter.155 Um aufzuzeigen, dass Sprachstereotypen prägend auf Denkstereotypen einwirken, wird beispielhaft aufgeführt, dass bestimmte in der Sowjetunion geläufige Phrasen und Sprachformeln das mentale Autostereotyp „sovetskij čelovek“ konstitutiv beeinflussten156: „[...] Denkstereotypen werden durch Sprache geprägt und begegnen einem in sprachlichen Formulierungen.“157 Es handelt sich also um einen Kreislauf voneinander abhängiger Konzepte, die das Konzept der Metapher involvieren158 und eng miteinander verbunden sowie einander beeinflussend sind. In Literatur zu diesem Sachverhalt wird bisweilen die Meinung vertreten, dass die Funktion von Stereotypen, insbesondere nationaler Art, einer Wandlung und Weiterentwicklung unterliegt.159 So steigt ihre Wichtigkeit in Bezug auf internationale Beziehungen in Konfliktzeiten und verliert an Aussagekraft in politisch stabilen Beziehungen. Das mit den vorliegenden drei Reiseschriften thematisierte Jahr 1920 birgt bezüglich des außenpolitischen Verhältnisses ein hohes Konfliktpotential zwischen Großbritannien und Russland. Oberloskamp führt die über Russland beziehungsweise seine Bevölkerung existenten Stereotype knapp in zwei Gruppen 154 155 156 157 158

159

Gülich (1978, S. 6), zitiert in: Zybatow, Russisch im Wandel. S. 22. Beispielsweise das Sprichwort „Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.“ (Vgl. Gülich (1978, S. 6), zitiert in: ebd.) Vgl. Gülich (1978, S. 6), zitiert in: ebd. S. 23. Gülich (1978, S. 6), zitiert in: ebd. S. 24. Die von Zybatow postulierte Klassifikation von Stereotypen enthält neben dem Bedeutungsstereotyp, dem Assoziationsstereotyp und Interpretationsstereotyp auch den Abbildungsstereotyp. (Vgl. Gülich (1978, S. 6), zitiert in: ebd. S. 52.). Da letztgenannter Typ „einen Begriff [...] im Lichte eines anderen erscheinen [lässt]“ und somit seine Sichtweise bestimmt, inkludiert er implizit die Metapher. (Gülich (1978, S. 6), zitiert in: ebd. S. 53). Die diesen Stereotyp determinierenden Abbildungen beruhen auf einem metaphorischen Grundmuster, werden in politischen, medialen und kulturellen Diskursen systematisch gebraucht und bilden „die Sichtweise bestimmter Vorgänge und Situationen in der Gesellschaft sprachlich“ vor. (Ebd.) Vgl. Wojciech Wrzesinski (1992, S. 14), zitiert in: Piotr Wandycz, „Western Images and Stereotypes of Central and Eastern Europe.“ In: Vampires Unstaked. National Images, Stereotypes and Myths in East Central Europe. André Gerrits, Nancy Adler (Hg.). Amsterdam [u.a.] 1995. S. 5–24. S. 5.)

2.3 Der Ich-Erzähler als erlebendes Ich

83

zusammen: erstens, Russland als „eine Art europäisch-asiatischer Zwitter“, zweitens das Bild der Jugendlichkeit, das mit dem Land assoziiert wird.160 Die Analyse wird zeigen, inwiefern sich diese auch in den vorliegenden drei britischen Texten wiederfinden.

2.3

Der Ich-Erzähler als erlebendes Ich

„Wo eine Nachricht übermittelt, wo berichtet oder erzählt wird, begegnen wir einem Mittler, wird die Stimme eines Erzählers hörbar.“161 In den vorliegenden Reiseberichten und dem Reisetagebuch ist die Autorin dem erzählenden und erzählten beziehungsweise erlebenden Ich gleichzusetzen. Die Ich-Erzählsituation im fiktiven Werk ist nach Stanzel u.a. dadurch gekennzeichnet, dass „die Mittelbarkeit des Erzählens ihren Ort ganz in der fiktionalen Welt der Romanfiguren hat: der Mittler, das ist der Ich-Erzähler, ist ebenso ein Charakter dieser Welt wie die anderen Charaktere des Romans.“ 162 Auch wenn es sich bei den vorliegenden Reisetexten nicht um fiktive Werke handelt, können sie gemäß Korte zunächst als Erzähltexte deklariert werden. 163 Es stellt sich die Frage, was gegen die Wahl einer der Ich-Perspektive alternativen Erzählsituation spräche. David Chirico konstatiert diesbezüglich, dass der Vorzug des Ich-Erzählers vor dem personalen Erzähler mehr eine Frage der „historischen Konventionen“ denn der „funktionalen Notwendigkeit“ sei. 164 Freilich käme ein auktorialer Erzähler aufgrund seines allumfassenden Wissens für einen Augenzeugenbericht nicht in Frage. Hiermit würden die Wahrnehmungsmöglichkeiten, die dem realen Reisenden gegeben sind, auffällig transzendiert, die Authentizität des Erzählten geschmälert. Der personale Erzähler beziehungsweise auch die Erzähltechnik des „Camera Eye“ 165 wären aber grundsätzlich vorstellbar, da auch ihnen, gleich dem tatsächlichen Reisenden, Grenzen gesetzt sind. Jedoch ginge dem Augenzeugenbericht, der den subjektiven Prozess des Welterkennens des Reisenden nachzeichnet, damit maßgebliche Nähe verloren. 160 161 162 163 164 165

Für die dazugehörigen Zuschreibungen und Attribute siehe Oberloskamp, Fremde neue Welten, S. 342 ff. Franz K. Stanzel, Theorie des Erzählens. S. 15. Volker Klotz (1965, S. 209), zitiert in: ebd. Vgl. Korte, Der englische Reisebericht. S. 1. Vgl. Chirico, „The Travel Narrative as a (Literary) Genre“. S. 52. Vgl. Stanzel, Theorie des Erzählens. S. 294 ff.

84

2 Form

Käte Friedemann bringt kurz und prägnant auf den Punkt, welch überaus wichtige Rolle der Erzähler eines fiktiven Werkes einnimmt: Er ist „der Bewertende, der Fühlende, der Schauende“166 und je näher er dem Rezipienten ist, für den er den „betrachtenden Geist“167 liefert und die dargestellte Welt vorfiltert, umso authentischer wirkt das Dargelegte. Gleiches gilt für den nicht-fiktiven Text. Authentizität wird also (auch) erkauft durch Intimität, durch die Nähe des Ich-Erzählers, der im Falle der Reisetexte als real existierende Person eine tragende Rolle in seinem Werk einnimmt. Seine „inneren Reserven“ sind maßgeblich an der Wahrnehmung und auch Darstellung der bereisten Welt beteiligt, da sie bewirken, dass die objektiven Fakten der fremden Welt erst selektiv und in individueller Manier aufgenommen und verarbeitet werden.168 Im Gegensatz zu anderen Reiseschriftgattungen zeichnet sich das Reisetagebuch, gemessen an der Grundform des Tagebuchs, ursprünglich u.a. dadurch aus, dass es keinen äußeren Rezipienten gibt: Autor und Leser des Tagebuchs fallen zusammen. Der „sich selbst lesende Ich-Autor“169 schreibt vornehmlich für sich und nicht zum Zwecke der Publikation. Die Form des Ich-Erzählers wird hierbei mitverstanden. Dies wird unterstützt durch die These Gräsers, der im Vergleich der literarischen Gattungen Tagebuch und Brief analysiert, dass Letzterer immer an ein Gegenüber gerichtet ist; da der Tagebuchverfasser, Gräsers Meinung nach, jedoch einsam sei (und sich diese ausweglose Einsamkeit „nicht in Mitteilungen an eine andere Person ergießen“ könne), „bleibt nur ein Weg ihr zu entrinnen, nämlich in sich selbst das verstehende Gegenüber zu finden“.170 166

167 168 169 170

Ebd. S. 15. – „Die zentrale Stellung des Autors als Reisenden bestimmt in der Reisebeschreibung auch dessen Beziehung zu den übrigen Gestalten. Die Gestalten in der Reisebeschreibung sind in ihrem Handeln, in ihrer Bedeutung und in ihrem Aktionsradius eingeschränkt, ihre Funktion wird auf die Gestalt des Autors, des Erzählers, übertragen. [...] Der Autor als Reisender ist ‚das Medium, das die äusseren [sic!] Beobachtungen mit den Informationen über sich selbst integriert.‘ (Cz. Niedzielski).“ (Klatik, „Über die Poetik der Reisebeschreibung“. S. 137.) Käte Friedemann (1910, S. 26), zitiert in: Stanzel, Theorie des Erzählens. S. 15. Siehe auch Klatik, „Über die Poetik der Reisebeschreibung“. S. 137. Vogelsang, „Das Tagebuch“. S. 195. Gräser, Das literarische Tagebuch. S. 22. – Während das Vorgehen in Autobiografie oder Memoiren vor allem auf die Umwelt gerichtet ist, zielt es im Tagebuch auf das Ich des Schreibers ab. Nach Vogelsang wird die direkte Selbstdarstellung im Tagebuch gar zum Gestaltungsprinzip – der Autor orientiert sich an sich selbst. (Vogelsang, „Das Tagebuch“. S. 191.) Somit muss das, was sich hinter dieser erlebenden und schreibenden Person verbirgt, maßgeblich Einfluss auf das Niedergeschriebene haben.

2.3 Der Ich-Erzähler als erlebendes Ich

85

Nach Just würde das Tagebuch als Literatur erst möglich werden, wenn sich der Schreibende durch „starke Ichbezogenheit“ auszeichnete. 171 Er müsse sich als „zentrale Figur empfinden“ und damit alle Ereignisse unmittelbar auf sich beziehen, an sich messen und nach seinen Maßstäben bewerten.172 Idealiter lässt sich dann die erfahrene Welt im „ureigene[n] Welt-Muster“ des Autors ablesen.173 Die zweifache Rolle des Reiseberichterzählers beziehungsweise die dreifache Rolle, des erzählenden, erlebenden und rezipierenden Ichs des Tagebuchschreibers, verweist auf die Relevanz der hinter der wirklichkeitsbezogenen Schrift verborgenen Person. Der Reisebericht und, ohne Frage auch das Reisetagebuch, legen Zeugnis vom schreibenden Menschen ab, dessen „innerer Raum“ sich für den Leser im Angesicht der „Berührung [des Autors] mit der objektiven Welt“ öffnet.174 Von wem geht also der Blick aus, der Mensch und Welt im jeweiligen Text festhält? Die Unmöglichkeit einer authentischen Analyse der Lebenswelt der vorliegenden Autorinnen à la Alfred Schütz175 mündet in eine Suche nach in Reisebericht beziehungsweise -tagebuch verorteten Hinweisen auf persönliche (soziale, familiäre, politische) Rollen des Autors. Anhand von biografischen Daten über die drei Reisenden sollen Rollen extrapoliert werden, in denen sie sich im Reisetext zeigen und aus denen heraus sie die Fremde verschriftlichen. Insgesamt offenbaren sowohl Inhalt als auch Darstellungsweise der Reisetexte die verschiedenen Blickwinkel der Autorinnen. Zudem erlaubt der Rückgriff auf Sartres Ausführungen zum 171 172 173 174 175

Just, Übergänge. S. 38. Ebd. S. 38 f. Ebd. S. 39. Klatik, „Über die Poetik der Reisebeschreibung“. S. 138. Die These, dass Reiseschriften manchmal mehr über ihre Verfasser aussagen als über das bereiste Land selbst, findet sich häufig in der Reiseliteraturforschung. (Vgl. bspw. Gabriele Scheidegger (1987, S. 339, 342), zitiert in: Heeke, Reisen zu den Sowjets. S. 3; vgl. Korte, Der englische Reisebericht. S. 9.) Der Versuch einer Rekonstruktion der alltäglichen Lebenswelt nach Schütz, „die den Ausschnitt seiner Alltagswelt […] der in seiner Reichweite liegt und der in räumlicher und zeitlicher Hinsicht um ihn selbst als Mittelpunkt angeordnet ist“ (Schütz, Theorie der Lebenswelt 1. S. 198.) würde jedoch zu stark auf Vermutungen basieren. Einen sinnvollen Abgleich der jeweiligen Lebenswelt mit den Erfahrungen in Russland verliert seine Sinnhaftigkeit, da hierfür zu Rate gezogene Biografien nur unzureichendes Material darstellten. Vielmehr müssten die Autorinnen selbst befragt werden. So soll in der vorliegenden Arbeit eine Beschränkung auf ausgewählte soziale/familiäre Rollen der drei Reisenden stattfinden, die die Komplexität des individuellen Blicks – den der reisenden Autorinnen – verdeutlicht.

86

2 Form

„Blick“ 176 eine Analyse der in die Reisetexte aufgenommenen Fremdwahrnehmung der Autorinnen177. Die Rollen, in denen sie von ihrer russischen Mitwelt erblickt werden, sagen nicht nur etwas über die Reisenden, sondern auch über die Mitwelt aus. Sartres ontologische Einbettung des Blicks unterstützt zudem die These, dass wirklichkeitsbezogene Reiseliteratur die Verschmelzung von Mensch und Welt darbietet. Nicht nur, dass „der Blick des Anderen“ dem Erblickten Räumlichkeit verleiht (die er an sich, ohne seine Mitwelt nicht erleben kann), der Blick ist „auch verzeitlichend“178. Die Gleichzeitigkeit mit anderen, im vorliegenden Fall beispielsweise mit sowjetischen Politikern, setzt die „Anwesenheiten-bei“ 179 jemandem voraus und so wird mit Angabe der Fremdwahrnehmung implizit das für den Reisetext so wichtige Augenzeugendasein mitgeliefert und der Text authentifiziert. Auch verweist die Quantität aufgenommener Fremdwahrnehmung auf das Thema des Reisetextes: Handelt es sich um eine Auseinandersetzung mit fremder Welt oder vielmehr eine Spiegelung der eigenen Person? Die Erörterung der empirisch an den Schriften nachgewiesenen Blickwinkel beziehungsweise Rollen soll dem letztlichen Ziel dienen, die Abhängigkeit von Autorinnenrolle und Inhalt darzulegen. Da mit diesem Punkt die Frage nach realen Rollen der Erzählerinnen gestellt und somit der biografische Hintergrund der jeweiligen Ich-Erzählerin fokussiert wird, soll diese Untersuchung dem Formkapitel zugeordnet werden. Nicht zuletzt soll dieses Kapitel als Bindeglied zwischen historiografischer und biografischer Fragestellung fungieren.

176 177 178 179

Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Reinbek bei Hamburg 2006. S. 457–538. Vgl. dazu Kapitel II, 1.5, 2.5 und 3.5 der vorliegenden Arbeit. Sartre, Das Sein und das Nichts. S. 480. Ebd.

II. Inhalt und Form von Snowdens, Pankhursts und Sheridans Reiseschriften

„Sind Briten hier? Sie reisten sonst so viel, Schlachtfeldern nachzuspüren, Wasserfällen, Gestürzten Mauern, klassisch dumpfen Stellen; Das wäre hier für sie ein würdig Ziel.“ (Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Zweiter Teil)

1

Reisendes Delegationsmitglied – Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia

1.1

Die Reisende und die Reise

Ethel Snowden Unter dem Namen Mrs. Philip Snowden erschien im Herbst 1920 das Buch Through Bolshevik Russia1. Autorin dieses bereits kurz nach seiner Erstauflage ausverkauften und in einer zweiten Auflage erschienenen Buches war Ethel Snowden, die 1905 angetraute Ehefrau des sozialistischen Politikers Philip Snowden. Geboren im Jahr 1881 entstammte Ethel Snowden dem britischen Mittelstand und zeigte bereits frühzeitig soziales Engagement, indem sie in den Armenvierteln von Liverpool im Rahmen der Abstinenzbewegung2 für einen gemäßigten Alkoholkonsum warb. Im Zuge ihres Beitritts zur Independent Labour Party (ILP) im Jahr 1903 verstärkte sie ihre Nebentätigkeit – hauptsächlich arbeitete sie als Lehrerin an einer Schule – als Rednerin zu Themen des Sozialismus und des Frauenwahlrechts (Suffragette movement) 3 . Im selben Jahr wurde sie 1

2

3

Mrs. Philip Snowden, Through Bolshevik Russia. London 1920. – Die Londoner Times vom 10. September 1920 schreibt über die kürzlich vonstattengegangene Veröffentlichung von Snowdens Reisebericht. („The Bolshevist Method“. In: The Times. London 10.09.1920. S. 11.) Zur Abstinenzbewegung (Temperance movement) siehe Jack S. Blocker, David M. Fahey, Ian R. Tyrrell (Hg.), Alcohol and Temperance in Modern History. An International Encyclopedia. Santa Barbara 2003. Die Suffragetten-Bewegung (engl. woman suffrage, das „gesetzmäßige Frauenwahlrecht“) setzte sich für das Wahlrecht für Frauen in nationalen und lokalen Wahlen ein. (Vgl. „Woman suffrage“. In: The New Encyclopӕdia Britannica (Micropaedia). 12 Bd. Bd. 12. Chicago 2002. S. 733.) Im Jahr 1897 schlossen sich verschiedene SuffragettenVereinigungen (suffragist societies) zur teilweise mit gewalttätigen Aktionen in Erscheinung getretenen National Unions of Women’s Suffrage unter Führung von Emmeline Pankhurst zusammen. (Vgl. ebd. S. 734.) Ab 1918 wurde allen Frauen ab 30 Jahren das gesetzliche aktive, kurze Zeit später auch das passive Wahlrecht zugesprochen. Das Alter für aktives und passives Wahlrecht wurde im Jahr 1928 auf 21 Jahre herabgesetzt. (Vgl. ebd.) Um das Jahr 1906 wurde Ethel Snowden Sprecherin der National Union of Women’s Suffrage Society und widmete sich damit für eine gewisse Zeit fast ausschließlich dem Frauenwahlrecht. (Vgl. Cross, Philip Snowden. S. 90.)

90

1 Reisendes Delegationsmitglied – Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia

Mitglied der Fabian Society4.5 „Propaganda für den Sozialismus und den Feminismus“6 stellte für die kommenden zwei Dekaden die Hauptaufgabe Snowdens dar. Durch ihren Einfluss wandte sich auch Philip Snowden in seinem politischen Wirken den Anliegen der Suffragetten zu.7 4

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7

Die Fabian Society ist eine 1884 in Großbritannien gegründete sozialistische Bewegung, die sich für einen evolutionären Weg zum Sozialismus einsetzte. Eines ihrer favorisierten Mittel zur Zielumsetzung war die „Durchdringung“ (permeation) der Gesellschaft mit sozialistischen Ideen und so veröffentlichte sie allein bis 1906 129 Fabian Tracts und die Fabian Essays in Socialism (1889). Aufgrund der weitgehenden Prominenz, die sowohl ihre Gründungs- als auch späteren Mitglieder genossen (bspw. Beatrice und Sidney Webb, George Bernard Shaw, Edward Pease, H. G. Wells), hatte sie auch Einfluss auf die spätere Gründung der Labour Party. (Vgl. Pugh, Speak for Britain! S. 32.) Vgl. Cross, Philip Snowden. S. 61. Hannam, „Snowden, Ethel“. S. 500. – Cross beschreibt Snowden als leidenschaftliche Persönlichkeit, die „erfüllt von Enthusiasmus für alles, was sie tat, allen äußeren Faktoren oder Menschen, die ihr im Weg standen, nicht weiter beachtete.“ Dies brachte mit sich, dass sie mitunter als kontroverse Person wahrgenommen wurde und ihr gleichermaßen starke Sympathien und Antipathien in der Öffentlichkeit entgegengebracht wurden. (Vgl. Cross, Philip Snowden. S. 61.) Philip Snowden (1864–1837), von Haus aus Liberaler, wandte sich im ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend dem Sozialismus zu und trat 1895 der ILP bei, deren Vorsitz er von 1903 bis 1906 übernahm. (Vgl. Duncan Tanner, „Snowden, Philip“. In: Oxford Dictionary of National Biography. From the Earliest Times to the Year 2000. Henry C. G. Matthew (Hg.). 61 Bd. Bd. 51. Oxford 2004. S. 502–509. S. 502.) Durch öffentliche Vorträge und Auftritte machte er sich in dieser Zeit einen Namen als Lokalpolitiker und zog 1906 als Abgeordneter der Labour Party für Blackburn (Stadt in der Grafschaft Lancashire) in das Parlament ein. Er galt nun neben Keir Hardy und Ramsay MacDonald als „nationale sozialistische Person“. (Vgl. ebd. S. 503.) Als Verfechter der Abstinenzbewegung verfolgte er das Ziel einer Verstaatlichung des Alkoholhandels. (Ebd.) Nicht wenig inspiriert durch die Aktivitäten seiner Ehefrau setzte er sich zudem lebenslang für die Durchsetzung des Frauenwahlrechts ein und kämpfte ebenfalls für friedliche Lösungen politischer Konflikte. So rief er im Jahr 1919 in einer öffentlichen Rede alle „Pazifisten, Gewerkschafter und Labour-Anhänger“ dazu auf, gegen das Regierungsvorhaben des gewaltsamen Eingriffs in Russland vorzugehen. (Vgl. Cross, Philip Snowden. S. 173.) Obwohl er von 1918 bis 1922 kein Parlamentsabgeordneter mehr war, zeigte sich sein Kampf für den Sozialismus in der Veröffentlichung unzähliger Werke. (Vgl. ebd. S. 167.) Snowdens Arbeit wurde nun motiviert durch bessere Chancen für die Labour Party an die Regierung zu gelangen. Er zielte auf eine Verbesserung des Images des Sozialismus, insbesondere in Reihen des Mittelstandes ab. 1920 schrieb er in Labour and the New World, dass der Sozialismus für ihn „unausweichlich kommen wird“: „It is the next stage in the social evolution of mankind.“ (Ebd. S. 176.) Nach der Rückkehr Ethel Snowdens aus Russland nahm auch er eine äußerst skeptische Haltung zum Bolschewismus ein, blieb jedoch auf dem Standpunkt, dass sich Sozialismus und Bolschewismus unterschieden, und

1.1 Die Reisende und die Reise

91

Neben ihrer regen Vortragstätigkeit, die Ethel Snowden sowohl in verschiedene europäische Länder als auch in die USA führte8, veröffentlichte sie Bücher und Pamphlete9. Hierin forderte sie beispielsweise stärkere staatliche Verantwortung in Fragen der Kinderbetreuung und simplere Scheidungsmodalitäten. 10 Der Umsetzung ihrer Forderung nach Gleichheit aller Menschen versuchte sie durch die Schaffung egalitärer Voraussetzungen nahezukommen. Wohl wissend, dass dies nicht durch Geld errungen werden konnte11, verkündete sie: „Our great motto [...] is liberty, equality of opportunity and fraternity.“12 Nach einem kurzen Austritt aus der ILP aufgrund strittiger Fragen zum Frauenwahlrecht nahm Ethel Snowden 1915 ihre Parteimitgliedschaft wieder auf, um auch öffentlich ihre Sympathie für die unterdessen propagierte Forderung nach Friedensverhandlungen im Ersten Weltkrieg zu unterstützen. Hiermit offenbarte sie eine weitere wichtige Facette ihrer politischen Ziele: der Kampf für den Frieden.13 Als Geschäftsführerin und Schatzmeisterin der 1917 ins Leben gerufenen Women’s Peace Crusade14 unterstützte sie die Forderung nach Friedensverhandlungen zwischen den am Krieg beteiligten Mächten und vertrat, auch im Rahmen weiterhin europaweit stattfindender Vortragsreisen, eine kompromisslos pazifistische Haltung. Sozialismus, das Frauenwahlrecht15 und der Kampf für den Frieden bildeten folglich die Schwerpunkte ihres politischen Handelns.

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ersterer nicht durch Revolution, sondern nur durch Evolution, also eine gemäßigte Entwicklung, erreicht werden könne. (Vgl. ebd.) Er gilt als einer der wichtigsten Akteure in der frühen Entwicklung der Labour Party in Großbritannien. (Vgl. Tanner, „Snowden, Philip“. S. 508.). Viele Reisen unternahm sie zusammen mit ihrem Ehemann, um Vorträge zu halten (Vgl. Cross, Philip Snowden. S. 79, 110.). The Woman Socialist (1907), Women: A Few Shrieks; (zusammen mit Anne Constance Smedley), Women and the State (1907); Woman Suffrage in America. A Reply to Mrs. Humphry Ward (1909); The Feminist Movement (1913) Bspw. in: The Feminist Movement (1913). Vgl. Cross, Philip Snowden. S. 65. Ebd. Vgl. Hannam, „Snowden, Ethel“. S. 501. Im Jahr 1917 organisierte Snowden die Women’s Peace Crusade (Mobilmachung der Frauen für den Frieden), die in ganz Großbritannien Ableger hatte. Im selben Jahr noch traten sie und ihr Mann dem „1917 Club“ bei, dem u.a. das Ehepaar Webb und Bertrand Russell angehören. Ziele waren die Unterstützung der Russischen Revolution und Friedensverhandlungen mit Russland. (Vgl. Cross, Philip Snowden. S. 157.) Nach 1918 wurde Snowden in das Frauenreferat des nationalen Exekutivausschusses der Labour Party (Women’s Section of the National Executive) gewählt, reiste nach Bern und Wien, um dort erneut eine vereinte sozialistische Internationale zu etablie-

92

1 Reisendes Delegationsmitglied – Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia

Die Delegationsreise

Am 27. April 1920 verließ Ethel Snowden zusammen mit acht anderen offiziellen und drei weiteren inoffiziellen Teilnehmern 16 der Britischen Arbeiterdelegation nach Russland ihr Heimatland17, um für sechs Wochen nach Russland zu reisen. 18 Dieser Reise ging eine im Dezember 1919 verabschiedete Resolution der Labour Party und des Gewerkschaftskongresses (Trades Union Congress (TUC)) 19 voraus, die „das Recht auf unabhängige unparteiische Untersuchung der industriellen, politischen und ökonomischen Verhältnisse in Russland“ forderte und eine Delegiertenauswahl nach sich zog.20 Obgleich der russischen Sprache nicht mäch-

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19 20

ren. Zwischen 1920 und 1922 unternahm Snowden weitere Reisen, beispielsweise nach Georgien („the short-lived Social-Democrat Republic of Georgia“) und nach Palästina. Aufgrund ihrer internationalen Präsenz, auch schon vor ihrer Reise nach Russland, bezeichnete sie der Manchester Guardian 1922 daher als „international bekannteste britische Frau“. (Cross, Philip Snowden. S. 168.) Als offizielle Mitglieder der Delegation fuhren Ethel Snowden, Tom Shaw, Robert Williams als Vertreter der Labour Party sowie Margaret Bondfield, Alfred Purcell und Herbert Skinner als Vertreter des Gewerkschaftskongresses mit. Charles Roden Buxton und L. Haden Guest begleiteten die Delegation als zugeordnete Sekretäre (joint secretaries) und Ben Turner als deren Vorsitzender. (Vgl. Graubard, British Labour. S. 214.) Inoffiziell wurde die Delegation von Clifford Allen und Richard Wallhead als Abgeordnete der ILP begleitet. (Ebd. S. 219.) Auch Bertrand Russell schloss sich ihr (inoffiziell) als „unabhängiger Beobachter“ an. Die Delegationsmitglieder, obgleich je auf eigene Weise mit der Labour Party verbunden, konnten bezüglich ihrer Haltung zum Bolschewismus nicht als homogene Gruppe betrachtet werden. (Vgl. White, „British Labour“. S. 236.) Die Delegation wurde medial u.a. von der Times begleitet, die ihr Augenmerk darauf legte, die umstandsbedingte Erkenntnisfähigkeit der Delegierten anzuzweifeln. Die kurze Aufenthaltsdauer und die Unkenntnis der Sprache standen ihrer Meinung nach der Richtigkeit der im Abschlussreport aufgezeigten Zustände entgegen. (Vgl. „Labour Delegates For Russia.“ In: The Times. London 06.05.1920. S. 15.) Die Hinfahrt erfolgte mit dem Schiff von Newcastle über Bergen und Oslo. Hier hielten sich die Delegierten für die Feierlichkeiten anlässlich des 1. Mai 1920 auf und legten danach nach Estland ab. Die Reiseroute in Russland und die Aufenthaltstage gestalteten sich wie folgt: Einem fünftägigen Besuch Petrograds (11.–16. Mai) folgte ein elftägiger Aufenthalt in Moskau. Am 28. Mai fuhr die Delegation nach Nižni Novgorod, um von dort für weitere drei Wochen zu einer Bootsfahrt auf der „S.S. Bielinskij“ auf der Wolga durch verschiedene Städte aufzubrechen. (Vgl. Guest, British Labour Delegation. S. 5, 149.) Vgl. Graubard, British Labour. S. 214. Vgl. ebd. S. 5.

1.1 Die Reisende und die Reise

93

tig21, gehörte Ethel Snowden zu den Auserwählten, die knapp vier Monate später die Reise antreten sollten. Die Britische Arbeiterdelegation nach Russland war die erste ihrer Art. Obwohl Lenin von der Propagandawirksamkeit von Delegationsreisen überzeugt war und sich für deren Intensivierung aussprach, „gelangte die internationale ‚proletarische Rußlandtouristik‘ erst ab Mitte der zwanziger Jahre zur vollen Blüte.“22 Im Jahr 1924 war es abermals eine englische Gruppe von Gewerkschaftsabgeordneten23, die den Auftakt zu den sogenannten Delegacija-Reisen bildeten. Diese Reisen hatten national und international einen sehr öffentlichkeitswirksamen Charakter und wurden zumeist auf Einladung durch den Sowjetischen Zentralrat der Gewerkschaften24 initiiert.25 Die mangelhafte und tendenziöse Informationslage über Sowjetrussland in Großbritannien kann als Grund für diese erste Delegationsreise erachtet werden. Darauf verweist auch die im offiziellen Delegationsreport einleitende Einordnung der in Großbritannien zirkulierenden Nachrichten.26 Noch am 13. April 1920 wurde ein Telegramm an die sowjeti21 22 23

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„The words I never knew for they were Russian […].“ (Snowden, TBR. S. 41.). Heeke, Reisen zu den Sowjets. S. 84. – Vgl. auch ebd. S. 33. Siehe Bericht in deutscher Übersetzung: Offizieller Bericht der englischen Gewerkschaftsdelegation nach Rußland und dem Kaukasus im November und Dezember 1924. Berlin 1925. Der sogenannte Vsesojuznyj Central’nyj Sovet Professional’nych Sojuzov, kurz: VCSPS. Snowden gibt sowohl die russische Regierung als auch die Gewerkschaftsabgeordneten als Gastgeber an. (Vgl. Snowden, TBR. S. 24, 32.) Zu vermuten ist jedoch (und das zeigt sich auch an Snowdens Reisebericht, in dem Unterbringungskosten nicht erwähnt werden), dass die Regierung letztlich als offizieller Gastgeber fungierte und vollumfänglich für alle im Land entstehenden Unterhaltungskosten aufkam. Zu den Gründen, die dieses großzügige Verhalten der sowjetischen Regierung generell erklärt, schreibt Heeke: „Durch die permanente Betreuung und Abschirmung der Gruppen konnte die Informationsaufnahme weitgehend beeinflußt werden. Auch feierliche Empfänge an der Grenze und in den besuchten Städten sowie die Gewährung anderer Privilegien trugen mit dazu bei, den größeren Teil der Gruppen positiv zu vereinnahmen, ohne daß dieses das einzig intendierte Ziel der freudigen Empfänge gewesen wäre. Angesichts einer fehlenden touristischen Infrastruktur kann man der sowjetischen Seite kaum ernsthaft den Vorwurf machen, daß sie ihre geladenen Gäste überdurchschnittlich gut versorgte, in allen Fragen bevorzugte und – nicht aus den Augen ließ.“ (Heeke, Reisen zu den Sowjets. S. 84.) „We feel it necessary to begin by pointing out that most accounts of Soviet Russia which we had seen in the capitalist press of our own country proved to be perversions of the facts. The whole impression gained [by the British Delegation, d. Vf.] was of

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1 Reisendes Delegationsmitglied – Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia

schen Politiker Georgij V. Čičerin27 und Maksim Litvinov28 aufgegeben, in dem um Begleitung auf der Delegationsroute gebeten und eine „unabhängige Untersuchung“ als selbstverständlich vorausgesetzt wurde.29 Wer als eigentlicher Initiator der Reise fungierte, Labour Party und TUC oder die sowjetische Regierung, bleibt vage. Fest steht, dass die Reise von der Labour Party und dem TUC gemeinschaftlich finanziert wurde.30 Snowden äußert sich nur zweideutig darüber, wer ihre eigentlichen Gastgeber in Russland waren. An einer Stelle deklariert sie die britische Delegation als Gäste der sowjetischen Regierung31, an anderer Stelle benennt sie (russische) Gewerkschaftsvertreter als Gastgeber32. Das Ziel der

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a different character from that presented by these accounts. We did not see any violence or disorder in the streets, though we walked about them freely at all hours of the day and night. We did not see people fall dead of starvation in the streets. We did not see any interference with the religious life of the people. We did not see any Chinese soldiers. We saw no evidence of extraordinary luxury on the part of the leading Commissars. We did not find that either women or children had been nationalised.“ (Guest, British Labour Delegation. S. 6.) Georgij V. Čičerin (1872–1936) war seit 1904 in der revolutionären Bewegung Russlands tätig und seit 1918 in der Kommunistischen Partei. Er emigrierte 1904 nach Deutschland, trat dort der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (RSDRP) bei und zählte zu den Menschewiki. Er wurde 1917 in Großbritannien verhaftet und war ab 1918 im Auswärtigen Dienst Sowjetrusslands. (Vgl. „Čičerin“. In: Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija. A. M. Prochorov (Hg.). 31 Bd. Bd. 29. Moskau 1978. S. 226.) Maksim M. Litvinov (1876–1951) war seit 1898 Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (RSDRP), wo er seit 1903 dem bolschewistischen Flügel angehörte. Er verbrachte viele Jahre im westeuropäischen Ausland, u.a. in Großbritannien. Nach der Russischen Revolution war er, wie auch Čičerin, im Auswärtigen Dienst Sowjetrusslands tätig. („Litvinov“. In: Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija. A. M. Prochorov (Hg.). 31 Bd. Bd. 14. S. 506.) „It was understood, that the delegation would be ‚free to conduct its own independent inquiries‘, and that its financial costs would be covered.“ (White, „British Labour“. S. 236.) „sponsored jointly by the Labour Party and the Trades Union Congress“ (Graubard, British Labour. S. 214.) „One was quite sure that, although we might be the guests of the Government […].“ (Snowden, TBR. S. 24.) „[...] but sufficient meal and received our welcome from the Trade Union officials who were to be our hosts during our stay.“ (Ebd. S. 32.) – Eine Antwort darauf gibt Sylvia Pankhurst in ihrem Reisebericht Soviet Russia as I Saw It. Sie schreibt über die Britische Arbeiterdelegation: „The Soviet Government not wishing to receive the British Labour delegates as its guests, they were called the guests of the Russian Trade Unions.“ (Pankhurst, SR. S. 162.)

1.1 Die Reisende und die Reise

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Delegationsreise war die Aufklärung der aktuellen Umstände im Land und die Verifizierung der Bedrohlichkeit Russlands, die von Seite der Alliierten als Begründung für die militärische Intervention herangezogen wurde.33 In Herangehensweise und Zielstellung zeichnete sich diese Delegation als die „größte und repräsentativste Inspektion, die die Sowjetrepublik bis dahin von ihren westlichen Nachbarn erfahren hatte“, aus.34 Die Reise lässt sich örtlich und zeitlich zum Teil anhand von Snowdens Aufzeichnungen nachvollziehen; für eine umfänglichere Rekonstruktion liefert Stephen Whites Aufsatz „British Labour and the Russian Revolution. The Labour Delegation to Russia 1920“ die nötigen Details. Nach „angenehmer dreißig Stunden dauernder Schiffsfahrt“ 35 erreichte die Delegation den Hafen von Reval (i.e. heutiges Tallinn). Bereits an der estnischen Grenze zu Sowjetrussland wurde sie von einem „Sonderzug“ abgeholt36. Dieser Zug brachte sie bis nach Petrograd. Im Vergleich kamen sich die Delegierten ab der russischen Grenze in Bezug auf ihre Ver- und Umsorgung durch die Russen wie die „Königliche Familie“ vor, während sie sich auf dem ersten Teil der Fahrt wie eine „gewöhnliche Touristengruppe“37 fühlten. Während der kommenden sechs Wochen hielt sich Snowden für fünf Tage in Petrograd und zwölf Tage in Moskau auf38, bevor sie gut weitere 33

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„So much about Russia that was contradictory had appeared in the newspaper press, with the balance of statement on the side of evil report, that it was increasingly felt by the organised workers of Great Britain the truth must at all costs be discovered, if that were possible, by investigators selected by themselves. […].“ (Snowden, TBR. S. 7 f.) White, „British Labour“. S. 231. Snowden, TBR. S. 25. Ebd. S. 30.; vgl. Guest, British Labour Delegation. S. 5. „ordinary Cook’s Tourist Party“ (Snowden, TBR. S. 25.) – Snowden bezieht sich hier auf den Reiseunternehmer Thomas Cook. Am 05. Juli 1841 initiierte dieser für 570 Teilnehmer eine Zugfahrt von Leicester nach Loughborough/Großbritannien. Dieses Ereignis wird als Beginn des modernen Tourismus betrachtet. Bereits 1851 ermöglichte er 165.000 Menschen den Besuch der Weltausstellung in London. Die 1855 in Paris stattfindende Weltausstellung gibt Cook die Möglichkeit, ins Ausland zu expandieren. (Vgl. Winfried Löschburg, Kleine Kulturgeschichte des Reisens. Leipzig 1997. S. 154.) In der Tat gehörten zu Beginn des 20. Jahrhunderts St. Petersburg, Moskau und Nižni Novgorod zum Standardprogramm von Thomas Cook & Son. Noch während des Ersten Weltkrieges bemühte sich dieses englische Reiseunternehmen, Russland wieder als „festes Ziel für seine Reisegesellschaften zu gewinnen.“ (Heeke, Reisen zu den Sowjets. S. 12 f.) Gemäß Delegationsreport verlassen die Reisenden am 16.05.1920 Petrograd und fahren nach Moskau, um dort bis zum 28.05.1920 zu bleiben. (Vgl. Guest, British Labour Delegation. S. 5.)

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1 Reisendes Delegationsmitglied – Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia

drei Wochen die Wolga entlangfuhr. Einige der Delegationsmitglieder verließen Russland aufgrund von Krankheit bereits nach drei Wochen, ein weiteres Mitglied blieb etwas länger, um zusätzliche Studien durchzuführen.39 Die Rückfahrt begann für Snowden in Saratov mit dem Zug in direkter Verbindung nach Reval (Estland)40, von wo aus sie am 19. Juni über Stockholm nach London reiste und dort am 11. Juli wieder eintraf41. Der offizielle Delegationsreport 42 erschien im August 1920. Er umfasste auch die zwei bereits wenige Wochen vorher erstmals veröffentlichten Interimsberichte. 43 In diesen beiden wird die Notlage der russischen Bevölkerung hinsichtlich der Grundversorgung geschildert und zu einem sofortigen Stopp der alliierten Intervention und der Wirtschaftsblockade aufgerufen. Die Delegation warnt vor den Gefahren der Militarisierung vor dem Hintergrund weiter anhaltender Anfeindungen und fordert die Anerkennung der bolschewistischen Regierung.44 Zudem finden sich in dem als „Report der Britischen Arbeiterdelegation nach Russland 1920“ deklarierten offiziellen Delegationspapier 22 Anhänge verschiedenster Couleur, beispielsweise Auszüge aus Resolutionen, der Bericht eines Treffens von Buchdruckern und der Buchdruckergewerkschaft in Moskau sowie Auszüge des Tagebuchs der Delegierten Margaret Bondfield.45 Er besteht aus nicht weniger als 151 Seiten – dem eigent39

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Während Charles Roden Buxton länger blieb – er veröffentlichte im Nachgang das Buch In a Russian Village (1922) über das Dorf Ozero in der Samara-Provinz (vgl. Graubard, British Labour. S. 218.) –, musste Allen aufgrund von Krankheit vorzeitig das Land verlassen. (Vgl. Graubard, British Labour. S. 214.) Snowden schreibt hierzu: „One of our number neglected himself, and contracted pleurisy and pneumonia within twenty-four hours of outsetting sail, and his illness obliged some of us to go forward to Astrakhan and return the same way to Saratov.“ (Snowden, TBR. S. 166.) „The Delegation having been divided through the unfortunate sickness of one of their number, we left the country and returned to England in several groups and by different routes. The group of which I was a member took train at Saratov, and was enabled to go all the way through to Reval without a change.“ (Ebd. S. 178.) Vgl. White, „British Labour“. S. 241. L. Haden Guest (Hg.), British Labour Delegation to Russia 1920. Report. London 1920. Laut der Londoner Times wurde der erste Interimsbericht am 12. Juni, der zweite am 8. Juli 1920 in der Times veröffentlicht. Der endgültige Report wurde in der Ausgabe vom 30. August 1920 besprochen, in der es heißt, dass er gerade erst als Broschüre herausgegeben wurde. (Vgl. „Russia Ruled by Fear.“ In: The Times. London 30.08.1920. S. 15.) Vgl. auch Guest, British Labour Delegation. S. 28–31.; vgl. auch Graubard, British Labour. S. 214. Vgl. Guest, British Labour Delegation. S. 3 f. [Inhaltsverzeichnis]

1.1 Die Reisende und die Reise

97

lichen Abschlussbericht vom August kommen nur 22 Seiten zu – und stellt mehr eine Dokumentensammlung denn einen einheitlichen Report dar.46 Zu einer Zeit, in der sich das diplomatische Verhältnis Großbritanniens zu Russland als nicht unproblematisch darstellte, zeichnete sich dieses Werk als sehr einflussreich auf die Haltung der Briten zu Russland aus.47 Es gilt als wichtiger Einflussfaktor „in der Ausweitung und Festigung der öffentlichen Meinung gegen die militärische Intervention“.48 Abgesehen von diesen drei offiziellen Delegationsreporten fanden weitere, mit dieser Erkundungsreise in Zusammenhang stehende Veröffentlichungen statt. Neben Interviews, Vorträgen und Zeitungsartikeln49 publizierten vier Delegationsteilnehmer relativ zeitnah eigene, mit der Reise in Zusammenhang stehende Werke.50 Unter ihnen Ethel Snowden, die bereits im ersten Satz ihres umfassenden Berichts ihre Motivation zur Veröffentlichung verkündet: I have written these impressions of Bolshevik Russia with the object of promoting peace with that great country, by adding the evidence to that already given in numerous articles and books of one more eye-witness of the terrible sufferings of the Russian people.51

In Petrograd wurden die Delegierten im Nariškin-Palast, am gegenüberliegenden Ufer der Peter-Pauls-Festung an der Neva, untergebracht52, in Moskau bewohnten sie das Hotel Delovoj Dvor53. Während der Zeit einer 46 47 48

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Vgl. ebd. S. 5–27. Vgl. White, „British Labour“. S. 231. Ebd. S. 243. – Kurz nach der Rückkehr der Delegierten etablierten Gewerkschaftskongress (TUC) und die Labour Party ein Aktionskomitee (Council of Action), um eine britische Beteiligung am russisch-polnischen Krieg zu verhindern. (Vgl. ebd. S. 244.) Vgl. ebd. Neben Snowden sind dies L. Haden Guest (The Struggle for Power in Europe 1917– 1921. London 1920.), Bertrand Russell (Bolshevism: Practice and Theory. New York 1920.) und besagter Charles Roden Buxton (In a Russian Village. London 1922.) Snowden, TBR. S. 7. Vgl. ebd. S. 31, 33. Vgl. ebd. S. 107. – Generell, so konstatiert Heeke, hätte sich die Hotel-Situation nach dem Bürgerkrieg drastisch verschlechtert, „da die neuen Machthaber nach der Revolution die meisten Hotels anderen Zwecken zuführten, zugleich aber die Einrichtung neuer Hotels auf Jahrzehnte vernachlässigt“ hätten, „war die Versorgung mit adäquaten Unterkünften eines der Hauptprobleme beim Reisen in die Sowjetunion“. (Heeke, Reisen zu den Sowjets. S. 343) Für die Unterbringung ausländischer Gäste finden sich bei Heeke Zusammenstellungen verschiedener gängiger Hotels (Luxushotel, Sonder-

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1 Reisendes Delegationsmitglied – Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia

Wolga-Schifffahrt auf der „S.S. Bielinski“ 54 nächtigten die Delegierten scheinbar auf dem Schiff, da Snowden keinerlei Anmerkungen zu weiteren Unterbringungen macht.

1.2 1.2.1

Russische Welt Russland allgemein

In ihrem Fazit konstatiert Snowden, dass Russland aufgrund seiner Größe kein Land, sondern vielmehr ein Kontinent sei55. Sie nimmt eine repressive Regierungsform wahr, die sie der „Vorherrschaft einer Minderheit“ zuschreibt, die mittels Gewalt an die Macht kam und sich diese durch Gewalt sichert. 56 Nahezu alle bereisten Städte, d.h. Petrograd, Moskau, Nižni Novgorod, Saratov und Astrachan, finden neben konkreten Merkmalen auch allgemeine Charakterisierungen. Während Petrograd „alle Zeichen einer sterbenden Stadt“ offenbart57, ist Moskau für sie die „wahre russische Stadt“: „halb-orientalisch“ und mit vielen Kirchkuppeln.58 Petrograd ist hierbei im Vergleich die „rotere“ Stadt und unterscheidet sich ganz und gar von der Hauptstadt.59 Das Bild Petrograds wird

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klasse, I., II. und III. Klasse), worunter das „Delovoj Dvor“ nicht aufgezählt wird. Der Autor erwähnt, dass das „Delovoj Dvor“, ein kurz vor dem Ersten Weltkrieg fertiggestellter Großbau, u.a. den Obersten Volkswirtschaftsrat (VSNCh) und das Volkskommissariat für Schwerindustrie (NKTP) beherbergte. „Zuvor war dort neben einem kompletten Handelsstädtchen das größte und modernste Moskauer Hotel untergebracht gewesen.“ (Ebd. S. 344) So besaß jedes der 350 Zimmer fließend Warmwasser und ein Stadttelefon. Auch John Reed bewohnte dieses Hotel 1920. (Vgl. ebd.) Trotz der auch von Snowden beschriebenen luxuriösen Ausstattung („Our quarters were very comfortable, almost luxurious, with substantial furnishings and good beds […].“ (Snowden, TBR. S. 107)) nimmt sie diese Unterkunft ob seiner hygienischen Verhältnisse als sehr negativ wahr („I give my word, there are more crawling things in that Moscow hotel than I had imagined were contained in the whole universe!“ (Ebd.)). Vgl. ebd. S. 165; vgl. Guest, British Labour Delegation. S. 5. Vgl. Snowden, TBR. S. 183. Ebd. S. 186. Ebd. S. 17. Ebd. S. 108. „Red Petrograd is very proud of its name. The reason why it is ‚redder‘ than Moscow is due in all probability to the fact that, as the capital city and the place of residence of the Czars, it has been the scene of more revolutionary propaganda and anarchist intri-

1.2 Russische Welt

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von Snowdens Eindruck der Peter-Pauls-Festung, einem „Ort des Horrors“, bestimmt, der in ihr die Erscheinung von Geistern auslöst, die sie von nun an in ganz Russland begleiten. 60 Moskaus Stadtbild erscheint geordnet: Auf den Märkten wird Handel getrieben und in Parks Erholung gesucht.61 Nižni Novgorod, das Snowden im Rahmen einer Wolga-Fahrt bereist, macht seinem Namen als „Tasche Russlands“62 keine Ehre mehr: Der berühmte große Markt ist verschwunden und internationaler Handel versiegt – die Stadt ist nurmehr genauso hungernd wie der Rest Russlands.63 Saratov ist ihrer Meinung nach die „schönste“ Stadt, die sie an der Wolga besichtigt; vermutlich weil sie weit sauberer ist, als alle bisherigen Städte.64 Dagegen ist Astrachan die „schmutzigste“ Stadt ihrer Reise – angefangen beim Essen, das permanent von dicken Fliegen besetzt ist, bis zum sanitären Zustand der Stadt ist alles mangelhaft.65 Nichtsdestotrotz stellt Snowden eine Wiederbelebung des Handels fest.66 Das Landleben beschreibt Snowden nahezu lyrisch und bewertet es größtenteils als sehr positiv: Mehr noch als in den großen Städten findet sie an den Ufern des Flusses „Herz und Seele Russlands“67; flaches

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gues than any other single city in the wide dominions of Russia. [...] Red Petrograd is different from Moscow.“ (Ebd. S. 60 f.) – „Off to Moscow! [...] So different from Peter the Great’s city of the marshes, new and splendid though that is, with the broad Neva to add to its beauty.“ (Ebd. S. 106.) – Im Jahr 1918 gibt Petrograd seinen Status als Hauptstadt an Moskau ab. Die mit Ausbruch der Russischen Revolution ansehnliche Zahl von 2,3 Millionen Einwohnern in Petrograd dezimierte sich bis 1920 auf 722.000. (Vgl. Heeke, Reisen zu den Sowjets. S. 229.) Fast deckungsgleiche Angaben macht Snowden: „Before the war it was reputed to have a population of two and a half millions; now it numbers between eight and nine hundred thousand souls.“ (Snowden, TBR. S. 17.) „During the whole of the time I was in Russia I was haunted.“ (Ebd. S. 33 f.) Vgl. ebd. S. 108 f., 113. Eine russische Redensart benennt Nižni Novgorod aufgrund seines berühmten Marktes „Karman Rossii“, d.h. die Tasche Russlands. Die Stadt beherbergte von 1817– 1930, wieder ab 1990, eine Handelsmesse, seit 1849 eine Werft und galt beziehungsweise gilt damit als wichtiges Industriezentrum. (Vgl. „Nischni Nowgorod.“. In: Brockhaus Enzyklopädie. 30 Bd. Bd. 19. Leipzig [u.a.] 2006. S. 277.) „There is no longer any great Fair at Nijni-Novgorod. Foreign trade has practically stopped, owing to the breakdown of communications.“ (Snowden, TBR. S. 164 f.) Ebd. S. 172. – Snowden vergleicht Saratov in Bezug auf seine Sauberkeit mit Caricyn (späteres Stalingrad, heutiges Wolgograd), obwohl es keinen Hinweis gibt, dass sie diese Stadt aufgesucht hat. Woher sie dieses Wissen nimmt, ist nicht nachvollziehbar. Ebd. S. 175 f. Vgl. ebd. S. 176. „more of the heart and soul of Russia“ (Ebd. S. 166.)

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1 Reisendes Delegationsmitglied – Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia

und fruchtbares Land spricht für eine lebenswerte Umgebung68 und die Einwohner, denen Snowden begegnet, schätzen sich nach der Revolution glücklicher als zuvor, da sie nun das von ihnen bewirtschaftete Land auch eigneten.69 Jedoch zeigten sich anhand unzähliger toter Fische im Fluss auch hier die Folgen der Revolution, die Snowden als Symbol für „die Vergangenheit des Landes und das aktuelle Elend“70 deklariert.71 1.2.2

Nahrungsmittelversorgung

Die Ernährung und allgemeine Nahrungsmittelversorgung der Menschen in Russland spielt eine einnehmende Rolle im Reisebericht Snowdens. Sie findet zum einen Einzug in den Bericht durch die mehrfach auftauchende Deklarierung der Russen als „hungriges Volk“, zum anderen zeigt Snowden konkret auf, wie die Versorgung einzelner gesellschaftlicher Gruppen gehandhabt wird und welchen eigenen Erfahrungen sie als westlicher Gast begegnet. Bereits der Name des ersten Kapitels „A Starving People“ deutet auf die schlechte Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln hin. Dass es um die grundlegende Versorgung schlecht bestellt ist, zeigt sich den Delegierten bereits in den ersten „24 Stunden ihrer Untersuchungen“72. Aufgrund der Wirtschaftsblockade und des Bürgerkriegs seien „die meisten Menschen entweder armselig gekleidet oder hungrig, wahrscheinlich beides“.73 Den Mangel an Nahrungsmitteln erwähnt die Autorin an meh-

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Vgl. ebd. S. 166 f., 178. Vgl. ebd. S. 169. – Die direkt nach der Machtübernahme der Bolschewiki von Lenin erlassenen Dekrete, unter denen auch die Deklaration von sämtlichem Grund und Boden zu Volkseigentum gehörte, führte auch dazu, dass die Bauern zunehmend das Interesse an politischen Gegebenheiten und an Lenins Revolution verloren. (Vgl. Schattenberg, „Der Sieg der Bolschewiki“. S. 15; vgl. auch Malia, Vollstreckter Wahn. S. 156.) Snowden, TBR. S. 167 f. „For during last winter almost everybody lived in his house in a temperature of five degrees of frost. Tender children and old people died like flies, of simple cold. Frostbitten hands and feet and the consequent loss of fingers and toes was a common occurrence. Pipes were frozen, and when the thaw came, broke, everything in the house being destroyed. There were no materials for repairs.“ (Ebd. S. 173 f.) Ebd. S. 15. Ebd. S. 16.

1.2 Russische Welt

101

reren Stellen. 74 Der signifikante Anstieg der Mitgliederzahlen der Gewerkschaft wird von Snowden als Nebenerscheinung des Nahrungsmangels deklariert, da eine Gewerkschaftszugehörigkeit beispielsweise zur Lohnauszahlung in Lebensmitteln berechtige. 75 Nach Snowdens Urteil zeigt sich die „kommunistische Regierung“ vorbildlich in der gerechten Verteilung aller Güter und könne somit für den schlechten Zustand nicht zur Verantwortung gezogen werden.76 Die Verteilung der Nahrung findet nach bestimmten, von Snowden mehrfach benannten Maßstäben statt. Generell seien die von der Regierung festgelegten Rationen zu klein77 . Die Zuteilung unterscheide sich innerhalb der verschiedenen Gesellschaftsgruppen: Angehörigen der Armee und Kindern komme das größte Maß an Versorgung zugute78; auch Angehörige der Partei (Kommunisten) zeichneten sich durch spezielle Privilegien in Bezug auf die Nahrungsversorgung aus79, während NichtKommunisten und Menschen, die keiner Arbeit nachgingen, vermutlich Hunger leiden müssten80. Denn, so Snowden, „die Eintrittskarte zu Essen und Kleidung ist Arbeit“.81 Nahrung, so scheint es, ist prinzipiell vorhanden, da sich an der persönlichen Erfahrung der Autorin zeigt, dass die 74

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Beispielsweise wie folgt: „The people of Russia want peace and bread, peace that will last and bread that they can eat.“ (Ebd. S. 17.) – „Besides the lack of food there is an almost entire lack of medicines, anaesthetics, linen for bandages, disinfectants and soap. These things have been kept out by the blockade. [...] Those who have never seen the hunger- ook in human eyes cannot even faintly imagine the pain of walking about the streets of a Russian town.“ (Ebd. S. 18.).– „Almost everybody in Russia is hungry and cold, and many surface critics in Russia blame the Government for conditions for which they cannot be held in any great degree responsible.“ (Ebd. S. 70.) Vgl. ebd. S. 149. Ebd. S. 19 f. Ebd. S. 110. „Leaving out of account the army, which is very well fed, and the majority of the children, who undoubtedly receive special care and attention, most of the people are either terribly ill-clad or hungry, probably both.“ (Ebd. S. 15 f.) – Vgl. auch ebd. S. 87, 94 f., 98, 99 f. Ebd. S. 64. Dies zeigt sich insbesondere an der Beschreibung Vladimir Čertkovs und seiner Frau: „They both looked undernourished. Being non-workers in the Communist sense they probably come in the lowest category for food. I was told that they must have died of sheer hunger but for the packets of biscuit and other food surreptitiously sent to them by unknown peasant friends.“ (Ebd. S. 129.) – Vgl. ebd. S. 110. „The passport to food and clothing is work.“ (Vgl. ebd. S. 19.) – In der „Warnung vor dem Müßiggang“ bezieht sich Paulus auf das Gebot „Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen.“ (Vgl. 2. Thess 3, 10.)

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1 Reisendes Delegationsmitglied – Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia

Versorgung in jenen ländlichen Gegenden, die Snowden auf der Wolga durchreist, gewährleistet ist.82 Obwohl die Bauern die von der Regierung oktroyierten Zwangsabgaben kritisierten, leisteten sie diese.83 Doch liege das eigentliche Problem, nach Snowden, in einer fehlenden Infrastruktur84. Die Autorin weiß zu berichten, dass die Hoheit über die Nahrungsverteilung zukünftig den Kooperativen zufallen werde und die damit neugebildete Organisation namens „Centrosoyu“85 sich der Verteilung aller staatlich-monopolisierten Güter widmen könne. Snowden selbst und die anderen Delegierten kommen in den Genuss einfachen doch in ausreichendem Maß vorhandenen Essens.86 Ihnen wird „richtiger Tee und Kaffee“ kredenzt, Lebensmittel, die „aktuell in Russland fast nicht verfügbar“ seien.87 Die Bewirtung in einer der besichtigten Schulen Petrograds fällt für die Gäste sehr reichhaltig aus und dies unter Versicherung, dass es sich hierbei um das übliche Mittagessen der Kinder 82 83

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Vgl. Snowden, TBR. S. 169. Vgl. ebd. S. 168. – Aufgrund des anhaltenden Bürgerkrieges und der mit dem Frieden von Brest-Litovsk entfallenen „Kornkammern“ der Ukraine kam es zu enormen Versorgungsengpässen. Als „nahrungsproduzierende Klasse“ wurden die Bauern mit hohen Abgabezahlen belegt. Während sie ab 1918 anfänglich alle Ernteüberschüsse zu staatlichen Festpreisen abliefern mussten, wurden die Quoten zunehmend derart erhöht, „dass den Bauern weder genug zur eigenen Ernährung noch als Saatgut blieb.“ (Schattenberg, „Der Sieg der Bolschewiki“. S. 21.) Dieser Umstand und eine schlechte Ernte im Jahr 1920 führten dazu, dass es in den Jahren 1921 und 1922 zu einer Hungersnot kam, in der schätzungsweise fünf Millionen Menschen verhungerten. (Ebd. S. 23.) „Large herds of cows were a frequent feature of a prosperous-looking landscape – for it cannot be too often impressed that the country is not lacking in food so much as clothing and other goods, and that if the means of transportation were better the peasants could supply much more to the towns.“ (Snowden, TBR. S. 178.) Vgl. ebd. S. 148. – Snowden schreibt fälschlicherweise „Centrosoyu“, meint jedoch die Zentrale Vereinigung zur Güterverteilung (Central’naja sojus potrebitel’skich obščestv, kurz: Centrosojus). Diese wurde bereits 1918 durch Zwangsmitgliedschaft aller Verbände der Konsumgenossenschaften gebildet. Durch eine hierarchische Organisationsstruktur wurde das Mitspracherecht der ehemaligen Verbände unterbunden. „At this, the first, and at all subsequent meals, there was an ample supply, though not a riotous abundance, of very simple food. [...] Our breakfast consisted of a sufficient supply of brown bread, hard but not unpleasant to the taste, butter and thin slices of cheese. On alternate mornings we had smoked fish or slices of ham. There was abundance of tea served in glasses from the samovar, with sugar but no milk. Occasionally there was coffee.“ (Ebd. S. 45 f.) „Real tea and coffee are well-nigh unprocurable in Russia at present. Yet they procured these for the British guests.“ (Ebd. S. 46.)

1.2 Russische Welt

103

handele, obzwar es gemessen an der Versorgung der Einwohner Petrograds in seiner Fülle und Varietät in keinem Vergleich steht.88 In Moskau sind nach Beobachtungen Snowdens viele Nahrungsgüter auf dem Markt und den noch vorhandenen „kleinen Läden“ erhältlich.89 Generell beschränke sich die Ernährung der Menschen auf das „widerliche“ (loathsome) Schwarzbrot, wenn auch Weißbrot auf dem Markt erhältlich sei, mit 1000 Rubel pro Pfund jedoch nahezu den doppelten Preis kostete90 und damit für Einheimische unerschwinglich sei.91 Genussmittel werden von Snowden lediglich anhand von Alkohol erwähnt. Der Genuss desselben sei, wie auch schon unter dem Zaren, von der aktuellen Regierung strengstens verboten.92 Als Temperenzlerin93 lobt Snowden die Abwesenheit sowohl von Alkoholläden als auch von Menschen, die in der Öffentlichkeit Alkohol konsumieren. Sie macht diese Tatsache für „viele gute Dinge“ verantwortlich, so beispielsweise „wahrscheinlich für die Revolution an sich“ und „ganz sicher“ auch für den Erfolg der Roten Armee. Obwohl Wein vorhanden sei, gäbe es ihn nur auf Rezept, und illegaler Alkoholkonsum stehe unter schwerer Strafe, werde schlimmstenfalls mit dem Leben bezahlt.94 1.2.3

Kleidung

Im Rahmen der Darstellung des Allgemeinzustandes der russischen Bevölkerung finden sich vergleichsweise wenig konkrete Hinweise auf die Ausstattung mit Kleidung. Der Leser erfährt, dass der Zugang zu Kleidung durch das Nachgehen einer Arbeit geregelt wird und von dieser abhängt95. Mit einem wörtlichen Aufschrei – „And then the clothing!“ – läutet Snowden ihre Beschreibung des Äußeren der Menschen ein.96 Kontrastiv setzt sie hier die Erscheinung der englischen Delegierten ein, die, vorausschauend, bereits ihre älteste Kleidung trügen und trotzdem von

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Vgl. ebd. S. 96. Vgl. ebd. S. 109. Ebd. S. 20. Vgl. ebd. 110. Vgl. ebd. S. 26. Vgl. S. 89, Fußnote 2 der vorliegenden Arbeit. Ebd. S. 26 f. Vgl. ebd. S. 19, 16. Ebd. S. 20 f.

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1 Reisendes Delegationsmitglied – Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia

Einheimischen „wie Prinzen gekleidet“ wahrgenommen würden. 97 Beispielhaft benennt Snowden russische Menschen in ihrem gesellschaftlichen Status und beschreibt deren in keiner Weise angemessene Bekleidung.98 Am Beispiel einer mit Snowden bekannten jungen Russin erfährt man, dass es an Strümpfen und Unterwäsche mangelt.99 Damit bestätigt sich der bereits vormals von Snowden thematisierte auffällige Anblick von Frauen im Straßenbild.100 Um die Not, die Snowden hinsichtlich der Bekleidung erlebt, reichlicher zu bebildern, gibt sie in hyperbolischer Manier Reaktionen auf verschenkte Kleidungsstücke wieder und erlebt bei den beschenkten Menschen „leidenschaftliche Freude“ für Strümpfe, stellt fest, „wie viel Komfort“ ein „altes Flanell-Nachthemd“ und welches „unglaubliche Glück“ ein Stück Seife jemandem bedeuten kann.101 Mit diesen Worten zeichnet Snowden ein unmissverständliches Bild der Not. Das Publikum einer Oper, die Snowden besucht, besteht nach ihrer Aussage vornehmlich aus arbeitender Bevölkerung, unter der nur wenige gut, alle aber, abgesehen von den Schuhen, sauber und ordentlich gekleidet wären.102 Auch außerhalb von Petrograd und Moskau begegnet Snowden Menschen, die eine mangelhafte Kleidungsausstattung haben103. Die Bekleidung der Menschen auf dem Land sei bäuerlich, die Schuhe in einem 97

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Ebd. S. 21. – Auch Heeke widmet sich Fragen der Kleidung Russlandreisender. Sein diesbezügliches Resümee lautet, dass die Kleidung, die die Reisenden trugen, einerseits „eine kritische Distanz wahrende Haltung“ ausdrücken sollte, oder andererseits „die intensive Teilnahme am russischen Alltagsleben und somit ein tieferes Verständnis ermöglichen sollte“. (Heeke, Reisen zu den Sowjets. S. 111.) Der zweite Fall trifft hier sicherlich auf Snowden und ihre Begleiter zu, die im Wissen um die Revolutionsund Kriegswirren sich nicht in ihrer besten Kleidung zeigen wollten. „University professors came to see us, dressed like English tramps! A great singer sang to us with the toes sticking through his boots! Women of gentle birth and upbringing walked the hard pavement with their feet bound in strips of felt.“ (Snowden, TBR. S. 21.) Ebd. S. 136. „Socks for big girls and grown women were a common sight and excited the curiosity of one Delegate who enquired if that were the latest fashion amongst the women in Russia. ‚No‘ came the quick reply in the perfect English to which we were becoming accustomed, ‚it is not the latest fashion but the last economy.‘“ (Ebd. S. 22.) Ebd. „The audiences were certainly very attentive and most appreciative. They were composed in the main of quiet working folk and professional men and women. There were very few good clothes, but everybody was neat and tidy except about the feet.“ (Ebd. S. 73.) Vgl. ebd. S. 171.

1.2 Russische Welt

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unhaltbar abgetragenen Zustand; allein, die Blusen seien strahlend weiß, was Snowden darauf zurückführt, dass die Bauern ihre eigene Seife herstellten.104 1.2.4

Medizinische, hygienische und sanitäre Gegebenheiten

Ebenso wie an Nahrungsmitteln und Bekleidung fehle es auch an grundlegenden medizinischen Versorgungsmitteln, so Snowden.105 Epidemien tauchten aller Orten auf und die Folgen einer erst kurz vor dem Besuch der englischen Delegierten aufgetretenen Typhuswelle zeigten sich noch in den Straßen Petrograds. 106 Snowden führt dies auf die schlechten sanitären Gegebenheiten zurück; diese wiederum seien dem Krieg geschuldet und stünden nunmehr unter der Obhut einer neuen, von der Regierung gestarteten Kampagne („house-cleaning campaign“), die jeder Frau die klinische Reinigung der häuslichen Umgebung oktroyiere. 107 Sehr negativ hebt Snowden die hygienischen Bedingungen Astrachans hervor: Schmutz und Seuchengefahr kennzeichneten das gesamte Stadtbild.108

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Vgl. ebd. S. 168 f. Vgl. ebd. S. 18. „Disease has been epidemic and carried off hosts of people in face of the heroic but helpless doctors and nurses, very many of whom gave their own lives in a noble attempt to succour and save.“ (Ebd.) – „A striking feature in Petrograd was the enormous number of short-haired girls and women. ‚Is this a Russian custom?‘ I asked. ‚Not more than in any other country,‘ was the reply. ‚In all probability all these women and girls have had typhus quite recently and lost their hair through it.‘“ (Ebd.) Vgl. ebd. S. 122 f. Vgl. ebd. S. 176. – Insbesondere in Astrachan zeigt sich das Kontinentalklima Russlands mit 122 Grad Fahrenheit den Delegierten von seiner heißen Seite. Umgerechnet sind dies ca. 50 Grad Celsius. Die Extremtemperaturen in Verbindung mit den hygienischen Gegebenheiten waren nicht selten dafür verantwortlich, dass Epidemien ausbrachen. Insbesondere die Wolga-Region, so Heeke, stand in Gefahr der Malaria, Cholera und sogar der Pest. (Heeke, Reisen zu den Sowjets. S. 427.) Auch Bürgerkrieg und Revolution trugen mit der unvermeidlichen Zerstörung der sanitär-hygienischen Grundversorgung ihren Teil dazu bei, dass sich Krankheiten wie Typhus und Cholera unkontrolliert verbreiten konnten. (Ebd. S. 424.) Viele Reisende hatten daher nicht wenig Angst vor Ansteckung durch Kleiderläuse. Die Angst vor Typhus legte sich erst Mitte der 1920er Jahre.

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1 Reisendes Delegationsmitglied – Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia

Politische Ordnung

Vor dem Hintergrund des Delegationsauftrages, die „industriellen, ökonomischen und politischen Zustände Russlands“ zu erkunden 109 und Snowdens eigener Involviertheit in politische Belange, ist nicht verwunderlich, dass ihr besonderes Augenmerk auf der politischen Situation Russlands liegt. Führungselite und Partei

Als Zentrum der Politik und damit der Macht gibt Snowden Moskau an.110 Mit Blick auf die notdürftige Lage der russischen Bevölkerung äußert sich Snowden wohlwollend zur Führungsriege Russlands, die ihr Möglichstes tut, um das Elend von den Menschen abzuwenden.111 Generell bewertet sie die Regierung jedoch als „den Versuch einiger weniger Männer, die Menschen Russlands zu etwas zu zwingen, von dem sie denken, dass es gut für sie wäre“.112 Snowdens nicht weiter begründeter Meinung nach unterstütze die Bevölkerung Russlands die Regierung nicht aus Sympathiegründen, sondern aus Patriotismus.113 Vermutlich vor dem Hintergrund der allgemeinen Annahme, es handele sich bei den Bolschewiki um Anarchisten, erörtert Snowden, dass Beide nicht deckungsgleich seien.114 109 110 111 112

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Vgl. Snowden. TBR. S. 7. Vgl. ebd. S. 114. Vgl. ebd. S. 16, 19. „It is, at the best, an attempt by a few men to compel the people of Russia to have what in their opinion is good for them.“ (Ebd. S. 151.) Damit reiht sich Snowden in die Riege konservativer Historiker ein, die in der „Oktoberrevolution“ den Putsch einer „kleinen, machthungrigen Clique blutrünstiger Verschwörer“ sah. (Vgl. Schattenberg, „Der Sieg der Bolschewiki“. S. 15). Vgl. Snowden, TBR. S. 152. – Im Verlauf des Bürgerkrieges stieg die Zahl der Mitglieder der Kommunistischen Partei Russlands von 115.000 im Januar 1918 auf 576.000 beziehungsweise 775.000 im März 1921, somit nahezu um das sechsfache innerhalb von drei Jahren. Dies war nicht Produkt der industriellen Verhältnisse unter dem Kapitalismus der alten Gesellschaft, noch eines proletarischen Überschwangs, sondern ging schlichtweg „aus dem Chaos und der Gewalt des Bürgerkrieges hervor.“ (Malia, Vollstreckter Wahn. S. 167 f.) Vgl. Snowden, TBR. S. 132. – Obwohl die bolschewistische Bewegung gerade während der provisorischen Regierung unter Lvov beziehungsweise Kerenskij als anarchistisch gedeutet wurde (Vgl. Rede Kerenskijs Juli 1917, in: Rabinowitch, Die Sowjetmacht. S. 59 f.), stand Lenin dem Anarchismus äußerst skeptisch gegenüber. Obgleich er sich in seinem revolutionären Kampf anarchistischer Forderungen bediente (keine Geheimpolizei, kein stehendes Heer, keine Bürokratie aus Berufsbeamten

1.2 Russische Welt

107

Der Vergleich des aktuellen, repressiv ausgeprägten Systems mit dem ehemaligen Zarenregime wirkt wie ein Versuch Snowdens, die Gewaltherrschaft der Bolschewiki zu entschuldigen.115 Obgleich die von der Autorin angebrachten persönlichen Zeugnisse von Nicht-Kommunisten für eine verminderte aktuelle Lebensqualität sprechen, sei diese hochwertiger als die vorhergehende unter dem Zaren. Negativer nähme sich unter den Bolschewiki nur die freiheitliche Entfaltung aus.116 Die auf ein Ziel fokussierten Aktionen der bolschewistischen Machthaber, d.h. die Umsetzung des Sozialismus im ganzen Land, gingen mit deren Unberechenbarkeit einher, was Snowden exemplarisch an Lenins Umgang mit der Bauernfrage 117 aufzeigt.118 Auch an der Umgangsweise der Regierung mit den Delegierten

115 116 117

118

(Vgl. Adam B. Ulam, Rußlands gescheiterte Revolutionen. Von den Dekabristen bis zu den Dissidenten. München [u.a.] 1985. S. 488.)), wandte er sich bereits kurz nach der Machtübernahme davon ab. Letztlich wurde aus der anarchistischen Strategie zur Machtergreifung der größte Feind, dem das bolschewistische Russland gegenüberstand und dem mit Terror begegnet wurde: „Der Terror als bewußt eingesetztes Instrument staatlicher Politik hörte unter der Herrschaft von Lenin auf, bloßes Mittel der Selbstverteidigung und des Klassenkampfes zu sein, und wurde zu einem regulär angewandten innenpolitischen Disziplinierungsmittel. Man bediente sich seiner nicht nur im Kampf gegen potentielle oder aktive Oppositionskräfte, sondern auch bei der Bewältigung wirtschaftlicher Probleme [...] Dies waren die Erscheinungsformen eines revolutionären Terrors, die durch den Verweis auf die bedrohliche Anarchie rationalisiert wurden, der die Bolschewiken sich nach dem Oktober 1917 gegenübersahen.“ (Ebd. S. 497.) Vgl. Snowden, TBR. S. 124. Vgl. ebd. S. 129 f. Unter „reichen“ Bauern (auch Kulaken) wurden manchmal bereits jene „mužiki“ gezählt, die mit einem Pferd und drei Kühen als Besitz ärmere Bauern zeitweise in Lohn und Brot nehmen konnten. Das hiermit verbundene hierarchische Arbeitsverhältnis, das nicht dem hehren Ideal des klassenlosen Systems entsprach, wurde von Parteiseite instrumentalisiert. So wurden bisweilen ärmere Bauern angestachelt, sich gegen diese Lohnarbeit zu wehren. Jedoch konnte auch damit nicht die Tatsache verleugnet werden, dass der wirkliche Feind für einen Großteil der bäuerlichen Bevölkerung der Staat und nach 1917 auch die Partei war. (Vgl. Malia, Vollstreckter Wahn. S. 157.) „I am sure Lenin is the kindest and gentlest of men in private relationships; but when he mentioned his solution of the peasant problem, the merry twinkle had a cruel glint which horrified. ‚Do you not have a great deal of trouble with the peasants?‘ he was asked. [...] ‚Oh, yes,‘ was the reply, ‚we have trouble occasionally; but it is with the rich peasants chiefly. But we soon get over that. We send to the village a good Communist, who explains to the poor peasant he position and shows to him how the rich peasant is his enemy, and the poor peasant does the rest. Ha! ha! Ha!‘“ (Snowden, TBR. S. 116.)

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offenbart sich die Zielorientiertheit der Bolschewiki. So gibt Snowden im letzten Kapitel ihres Berichts zu, dass es sehr schwierig sei, das „Problem Russland“ 119 zu bewerten. Destillieren lässt sich aus diesem zweiseitigen Resümee der Autorin, dass sie mit Blick auf die Zukunft und eine gute internationale Einbindung Russlands den Machthabern zutraut, eine bessere Politik zu machen.120 Ungeachtet aller, an vielen Stellen des Berichts bemängelter Härte und Grausamkeit hält sie ihnen ihre Flexibilität und Lernbereitschaft zugute. Den Grund für den bisherigen Zustand Russlands sieht die Autorin eher in den ungünstigen nationalen und internationalen Gegebenheiten. Gleichzeitig thematisiert sie jedoch auch noch einmal den Status quo, d.h. die zum Machterhalt notwendigen Repressionen. Sowjets

Im 12. Kapitel „Dictatorship of the Communists“ konfrontiert Snowden ihre Leser direkt mit Fragen zum demokratischen Rätesystem, die sie selbst an Russland zu richten gedenkt121 und liefert die Antwort gleich mit: Möge diese Variante der politischen Machtverteilung in hochgebildeten und -industrialisierten Staaten wie England oder den USA funktionieren, in Russland funktioniere sie nicht.122 Das Wissen über die Arbeitsweise der Sowjets und darüber, dass es keine freien, geheimen und gleichberechtigten Wahlen gibt123, überzeugt die Autorin von der Unrechtmäßigkeit der aktuellen Mehrheit der Bolschewiki. In der zudem vorhandenen Bündelung der Gewerkschaften, der Presse und sämtlichen Eigentums in Staatshand zeigten die Bolschewiki ihr diktatorisches Antlitz.124 Bereits 1917 sei eine der ersten Maßnahmen zur Festigung der nicht von der Mehrheit der russischen Bevölkerung getragenen bolschewistischen Regierung die Gleichschaltung der Presse gewesen.125 Während Snowden behauptet, es handele sich hier um die Schutzmaßnahme „eines Landes, das sich im Krieg befindet“126, wurde als offizieller Grund die Bekämpfung der „Kon119 120 121

122 123 124 125 126

„the problem of Russia“ (Ebd. S. 180.) Vgl. ebd. S. 182. „The vocational franchise upon which the Soviet is based has something to be said for it; but does the Soviet work? Is it what it is claimed to be, a more democratic form of government, and one more accurately reflecting the people’s will?“ (Ebd. S. 140.) Vgl. ebd. S. 140 f. Vgl. ebd. S. 141. Vgl. ebd. S. 58 f., 142. Vgl. ebd. S. 58 f. Ebd. S. 142.

1.2 Russische Welt

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terrevolution“ angegeben, was inoffiziell jedoch die Gleichschaltung aller Medien zur Ausübung staatlicher Repression bedeutete.127 Beispielhaft legt Snowden ein ihr zugetragenes Vorkommnis dar, in dem eine Wahl aufgrund des nicht mehrheitlichen Votums für Lenin wiederholt werden musste.128 Anhand eines kurz zuvor veröffentlichten Dokuments der Komintern stellt die Autorin fest, dass die Bolschewiki zunehmend die Vortäuschung demokratischer Strukturen unterließen und jedwede Form der Tyrannei solange rechtfertigen würden, bis die Weltrevolution durchgeführt worden sei.129 Die Sowjets seien in der Praxis faktisch entmachtet und jeder verbliebene Rest an Teilhabe am politischen Prozess werde durch entsprechende parteiliche Strukturen unterbunden.130 Die Macht, so Snowden, obliege einzig den 17 Volkskommissaren, die ohne Mitwirkung und Wissen der Räte, gesetzesgleiche Dekrete erlassen könnten, deren Nichtbeachtung zu harten Strafen führte.131 Die Außerordentliche Kommission zum Kampf gegen Konterrevolution, Spekulation und Sabotage Die Außerordentliche Kommission, Čeka132, wird von Snowden genauer betrachtet und dargestellt. Mit Darlegung der Ziele und Strukturen dieser Kommission beginnt Snowden das Kapitel „Suppression of Liber127 128 129 130 131 132

Vgl. Schattenberg, „Der Sieg der Bolschewiki“. S. 15. Vgl. Snowden, TBR. S. 142. Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 143. Vgl. ebd. Die Außerordentliche Kommission zum Kampf gegen Konterrevolution, Spekulation und Sabotage (Črezvyčainaja komissija po bor’be s kontrrevoljuziej, spekuljaziej i sabotažem, kurz: Čeka oder ČK) wurde 1918 gegründet und bestand unter diesem Namen bis 1922. Danach, von 1922–1923, als GPU (Gossudarstvennoje Političeskoje Upravlenije), bis 1934 als OGPU (Ob’edinennoe Gossudarstvennoje političeskoje upravlenije). Die Einsetzung der Čeka als eine der ersten Amtshandlungen Lenins im Oktober 1917 sollte offiziell dazu dienen, Konterrevolution und Sabotage zu verhindern. (Vgl. Schattenberg, „Der Sieg der Bolschewiki“. S. 15.) Dass diese Institution über die Zeit des Bürgerkrieges hinaus aufrecht erhalten und sogar ausgebaut wurde, deutet darauf hin, dass offizielle und inoffizielle Ziele voneinander abwichen und es sich um eine Institution zur Aufrechterhaltung des Terrors und der Macht handelte. „Als jedoch die Revolution und der Bürgerkrieg vorüber waren, wurde die Tscheka nicht etwa, wie ihr Name es hätte suggerieren können, wieder abgeschafft, sondern lediglich umbenannt; das Wort ‚außerordentlich‘ verschwand aus ihrer offiziellen Bezeichnung, und sie wurde zu einer ‚höchst ordentlichen‘ sowjetischen Institution [...].“ (Ulam, Rußlands gescheiterte Revolutionen. S. 497.)

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1 Reisendes Delegationsmitglied – Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia

ty“133 und führt die Allmacht dieser von allen, außer von Lenin134 gefürchteten Institution aus.135 Im persönlichen Gespräch mit einem Mitarbeiter der Čeka versucht Snowden diese Institution zu entlarven, erlangt jedoch nur oberflächliche Informationen, die sich im Nachgang teilweise als Lügen herausstellen.136 Die Angst, die diese Geheimpolizei unter den Menschen verbreitet, zeigt sich exemplarisch an Reaktionen russischer Menschen. 137 Den durch die Čeka verbreiteten Schrecken relativierend führt Snowden die Grausamkeit der von der russischen Bevölkerung noch stärker gefürchteten Weißen Armee an.138 Gewerkschaften

Snowden beleuchtet auch den Zustand und die historische Entwicklung der Gewerkschaften in Russland. Während die drei bereits im Februar 1917 existenten Gewerkschaften nur von 145–1.500 Mitgliedern unterstützt worden wären, habe sich der Zuwachs im Jahr 1920 (eine Zahl, deren Ursprung Snowden nicht verifiziert) auf fünf Millionen belaufen. Aufgrund der bereits benannten Vorteile einer Mitgliedschaft war somit zum Zeitpunkt der Reise Snowdens ein enormer Zuwachs ersichtlich, der sich aus einer zu 85 % aus Bauern bestehenden Bevölkerung speiste.139 In sich wiederholenden Rhythmen werden die Delegierten allerorten von Abgeordneten der Gewerkschaften in Empfang genommen und 133 134

135 136 137

138 139

Vgl. Snowden, TBR. S. 154 f. „The Extraordinary Commission works independently of the Government and is so strong, thanks to the fear created by the war, that it is regarded as the Government in everything that matters. It was said that there is nobody in Russia who does not go in fear of it except Lenin.“ (Ebd. S. 156.) Vgl. ebd. S. 68, 155, 156. Vgl. ebd. S. 157 f. So traut sich beispielsweise „ein junger Kommunist“ nicht, Snowden öffentlich sichtbar einen Brief an einen nahestehenden Menschen in Berlin mitzugeben (vgl. ebd. S. 101) und die Snowden zur Seite gestellte Dolmetscherin unterlässt es aus Angst, einen Mitarbeiter der Čeka mit seinen Lügen zu konfrontieren (vgl. ebd. S. 159). Vgl. ebd. S. 161. Ebd. S. 149. – Mit 85% beziffert Snowden, ohne Angabe der Quelle, den Anteil der Bauern an der Gesamtbevölkerung Russlands. Gemäß der Volkszählung des Jahres 1897 machten Bauern einen Anteil von 77,12% an der Bevölkerung aus. Es waren jedoch nur ca. 70%, die auch ihrer Berufstätigkeit nach als Bauern zu deklarieren waren. Der Rest lebte bereits gänzlich oder teilweise in der Stadt. Mit der Russischen Revolution wurde diese Kluft noch größer. (Vgl. David Moon (1991, S. 141–153), zitiert in Goehrke, Russland. S. 170.)

1.2 Russische Welt

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herumgeführt140, weshalb Snowden sie nach anfänglich überschwänglicher Beschreibung als „übliche“ Abgeordnete der Gewerkschaft deklariert.141 Da die Gewerkschaften in Russland laut Snowden noch am Anfang ihrer Entwicklung stünden 142 , mangele es ihnen bei der Ausführung der eigentlichen Aufgaben an organisatorischem Geschick und Disziplin, was dazu geführt hätte, dass sie in den Zeiten der Revolution nicht zur Verbesserung der Lage der Bevölkerung beitragen konnten. Als problematisch betrachtet Snowden die erkennbare Tendenz zur Zentralisierung und den dadurch verursachten Verlust der Unabhängigkeit von Gewerkschaften.143 Die Unterordnung der Gewerkschaften unter die Hoheit der Kommunistischen Partei führe, so Snowden, zu keinem guten Ziel: Ihre Abhängigkeit und Entscheidungsfreiheit, notwendig zur Ausübung ihrer eigentlichen Funktion, wäre damit gefährdet. Armee

Ein eigenes Kapitel widmet Snowden mit „The Military Power of Russia“ u.a. der Roten Armee.144 Sie beschreibt deren Zustand und geht zudem auf interne Strukturen und allgemeine Handhabe ein. Nachdem Snowden ausführlich die schwelenden außen- und innenpolitischen Konflikte unter vereinzelter Betonung der verzweifelten Hoffnung und der Friedenssehnsucht der Bevölkerung thematisiert hat, beginnt sie, die Lage der roten Armee zu skizzieren. Es handele sich, ihrer Einschätzung nach, um eine „prächtige“ Armee, deren quantitative Zusammensetzung schwer zu schätzen, sie jedoch groß sei, und die sich qualitativ signifikant von der „heruntergekommenen, schlecht ausgestatteten Zarenarmee“ (the ragged, ignorant, ill-equipped forces of the Czar) 140 141 142 143

144

Vgl. Snowden, TBR. S. 31, 32, 51, 64 f., 68, 107, 165. Vgl. ebd. S. 31 im Vergleich zu S. 165. Ebd. S. 145. Vgl. ebd. S. 145. – Zum Stand der Gewerkschaften in Russland schreibt Malia, dass die sowjetische Regierung ab dem Sommer 1918 bestrebt war, sie stärker der Partei zu untergliedern. Als die „sogenannte Arbeiteropposition nach dem Ende des Bürgerkrieges versuchte, die Gewerkschaften als tragende Kraft des wirtschaftlichen Wiederaufbaus neu zu beleben, erlitt sie mit ihrem Vorhaben auf dem X. Parteitag von 1921 eine klare Niederlage“ und so verblieb die Kontrolle über die Wirtschaft bei der Partei, „der die Gewerkschaften nun endgültig als ausführendes Werkzeug untergeordnet wurden.“ (Malia, Vollstreckter Wahn. S. 165 f.) Diese setzte sich nach Malia im Verlauf des Bürgerkrieges aus ca. 6 Millionen Soldaten zusammen, darunter mehrheitlich Bauern. (Ebd. 150.)

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unterscheide.145 Sowohl in Moskau als auch in anderen Städten146 erlebt Snowden teilweise eigens für die Delegation organisierte Militärparaden. Anhand dieser Erfahrung resümiert sie, dass diese Armee durchaus zufriedenstellend der neuen Regierung dienen könne.147 Die prioritäre Stellung der Armee zeigt sich nach Snowden in der besseren Versorgung der Soldaten mit Nahrungsmitteln148 und einem speziellen Bildungsangebot149. Die gute Moral der Armee ergäbe sich jedoch aus dem patriotischen Geist der Soldaten. 150 Den von jedem Soldaten zu schwörende Eid nimmt Snowden auszugsweise in ihren Bericht auf.151 Zudem führt sie die Anordnung der Bereitstellung von Reservetruppen an, die sich aus bewaffneten Arbeitern zwischen 18 und 40 Jahren speise152 und fügt hinzu, dass auch Kinder bereits militärisches Training erhielten 153 . Abschließend erwähnt Snowden, dass gegen ranghohe, ehemals zaristische Offiziere der Verdacht der Konterrevolution gehegt würde.154 145

146 147 148 149 150 151 152 153 154

Vgl. Snowden, TBR. S. 85. – Obwohl Trockij im Frühjahr 1918 eine Armee von „disziplinlosen Freiwilligen“ übernommen hatte, konnte man bereits ein Jahr später eine gut ausgebaute Armee bewundern. (Vgl. Schmid, Churchills privater Krieg. S. 47.) Von nicht geringer Bedeutung war in dieser Situation die Rekrutierung ehemaliger Generäle der zaristischen Armee (beispielsweise Semën M. Budënnyj). Diese brachten militärisches Wissen mit und verwirklichten mit den Bolschewiki Pläne, die sie bereits unter dem Zaren ausgearbeitet und nach dem Vorbild europäischer Kolonialmächte entwickelt hatten (beispielsweise Zwangskonfiszierung von Getreide, Erschießung von Geiseln, Deportationen und Einrichtung von Konzentrationslagern). Was die einfachen Soldaten anging, so waren unter den 5–600.000 Rekruten vor allem Soldaten aus der Arbeiterschaft „am diszipliniertesten und der Sache der Revolution am loyalsten ergeben [...]“. (Malia, Vollstreckter Wahn. S. 150.) Obgleich der Zeitpunkt einer Rekrutierung des Proletariats nicht der günstigste war, „da die zivile Ökonomie [damit] zum Stillstand kam und die Fabriken die Produktion drosselten oder einstellten“, befand sich die Rote Armee in einem Zustand, der es erlaubte, „die ebenso improvisierten, ideologisch weniger motivierten und sozial unbeständigeren weißen Armeen zurückzuschlagen. Und das war ausschlaggebend.“ (Ebd.) Vgl. Snowden, TBR. S. 88. Vgl. ebd. S. 87. Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 89. Vgl. ebd. S. 87. Vgl. ebd. S. 85 ff. Vgl. ebd. S. 87. Vgl. ebd. S. 88. Vgl. ebd. S. 90 f. – Über die ehemals zaristischen Offiziere schreibt Ulam, dass viele von ihnen, „die Kerenskij zur Hölle gewünscht hätten“, in die Rote Armee eintraten und einen entscheidenden Beitrag zu deren militärischen Erfolgen leisteten. (Vgl. Ulam, Rußlands gescheiterte Revolutionen. S. 494.) Nicht Wenige unter ihnen, „da-

1.2 Russische Welt

113

Ein ausgeklügeltes System der gegenseitigen Überwachung regele die disziplinierte Anwendung der Vorschriften, deren Nichteinhaltung mit dem Tode bestraft würde.155 Snowden stellt fest, dass die Zentralisierung von Macht noch dadurch verschärft würde, dass im Gesamtgefüge des militärischen Systems sogenannte politische Agenten als Zwischenstelle zwischen Armee und Regierung eine beobachtende und berichtende Rolle einnähmen: Als Exekutive setzen sie um, was Trockij anordnet. Dieser regiere mit harter Hand, wie Snowden erfährt, und ein einzelnes Leben sei ihm wenig wert.156 Internationale Angelegenheiten

Snowden thematisiert auch den zum Zeitpunkt der Reise noch anhaltenden Krieg Sowjetrusslands mit Polen. Sie führt Details zur aktuellen Lage an 157 und konstatiert, dass die sowjetische Regierung einen schnellen Frieden intendiere.158 Generell jedoch stellt sie ihren konkreten Ausführungen über die Armee voran, dass ungeachtet der Tatsache, dass die Mehrheit der führenden Politiker Frieden anstrebe, eine Minderheit diesem Ziel indifferent gegenüberstehe. Diese seien sogar froh über den Krieg, da sie ihn als Akt der Konsolidierung des patriotischen Geistes und der Unterstützung der „extremeren kommunistischen Anführer“ (extremer Communists at the head of the State) verstünden.159 Unter Betonung der Stärke der Bolschewiki als Propagandisten weist Snowden auf spezielle Züge hin, die mit Propagandamaterial ihren Weg nach Polen anträten, um die dortigen Soldaten auf friedlichem Weg für die kommu-

155

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158 159

runter die wichtigsten Generäle der Roten Armee“, taten diesen Dienst „aus patriotischem oder soldatischem Pflichtgefühl heraus“. (Ebd.) Vgl. Snowden, TBR. S. 91 ff. – Die Todesstrafe für Soldaten wurde unter der provisorischen Regierung 1917 abgeschafft. (Vgl. Rabinowitsch, Die Sowjetmacht. S. 483.) Während dieser Zeit forderte u.a. Denikin aufgrund massenhaft undisziplinierten Verhaltens in der Armee, das sich u.a. im Desertieren zeigte, diese wieder einzuführen, um „Ansehen und Disziplin der alten Armee wiederherzustellen“. (Vgl. ebd. S. 147.) Es kommt zur Wiedereinführung und Beibehaltung dieser unter den Bolschewiki. „To the Commander-in-Chief, Trotsky, life is very cheap, they say. I wonder if that is the reason why so many people, including many Communists, spoke of the one-time pacifist as ‚that beast Trotsky‘?“ (Snowden, TBR. S. 92.) Vgl. ebd. S. 81. – Im Jahr 1920 verzeichnete die Rote Armee einen Siegeszug in vielerlei Hinsicht. Unter anderem gelingt es ihr, die polnischen Truppen auf deren eigenes Gebiet zurückzuwerfen. (Vgl. Schattenberg, „Der Sieg der Bolschewiki“. S. 19.) Vgl. Snowden, TBR. S. 82. Vgl. ebd. S. 84.

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1 Reisendes Delegationsmitglied – Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia

nistische Idee zu erwärmen.160 Nur kurz geht die Autorin auf die historische Entwicklung der III. Komintern ein161 und verweist auf ein Dokument, das in naher Zukunft veröffentlicht werden solle. Snowden scheint dieser Institution nicht sehr wohlwollend gegenüberzustehen, was sich insbesondere daran zeigt, dass sie im Hinblick auf diese kommende Veröffentlichung andeutet, dass es alle „außer die härtesten und extremsten britischen Sozialisten“ (exclude all but the bitterest and extremest of British Socialists) ausschließen würde.162 1.2.6

Religion

Das Thema Religion nimmt Snowden mit der Anmerkung auf, dass der Staat „Religionsunterricht“ an den Schulen untersage. 163 Verschiedene, von der Autorin wiedergegebene Maßnahmen würden von Regierungsseite ergriffen, den christlichen Glauben aus der Gesellschaft zu verbannen.164 160

161 162 163 164

„The propaganda trains they are sending daily to the Polish front are marvels of ingenuity. Inside and outside these trains are covered with vivid pictures portraying side by side the horrors of Capitalism and the glories of Communism in simple intelligible form, the horrid capitalist murdering the poor peasant or standing triumphant over a dying woman and child, whilst Communist fields bursting with grain yield to the sickle of the happy, sun-browned, well-fed harvester.“ (Ebd. S. 52.) Mit den hier benannten Bildern beschreibt Snowden vermutlich die sogenannten ROSTA-Fenster, die von 1919–1922, maßgeblich unter Federführung Vladimir Majakovskijs, in Russland erschienen. ROSTA war der Name einer 1918 ins Leben gerufenen Telegraphenagentur, die die Aufgabe hatte, einheimische und ausländische Nachrichten zu sammeln und zu verteilen. Kernaufgaben waren die Information, Agitation und Supervision der sowjetischen Presse im Allgemeinen. Das Informationsmaterial wurde geteilt in kurze Radioberichte und großformatige Posterberichte, die zwischen 500 und 600 Wörtern enthalten sollten. Diese Poster wurden ROSTA-Fenster genannt und an zentralen, zumindest belebten städtischen Plätzen aufgehangen. (Vgl. Stephen White, The Bolshevik Poster. New Haven 1990.) Charakteristisch für die ROSTA-Fenster war ihre enorme Verbreitung und die Mischung von Text und Bild. In allegorischer Manier wurden hier tagesaktuelle Sachverhalte thematisiert (bspw. Kampf der Roten gegen die Weiße Armee, Kampf der Proletarier gegen den Kapitalismus). Ihr Sprach- und Bildstil besaß einen hohen Verständlichkeitswert und sorgte für das mühelose Verständnis der Themen. (Vgl. Bodo Zelinsky, „Von der Revolution der Kunst zur Kunst der Revolution“. In: Russische Avantgarde 1917–1934. Kunst und Literatur nach der Revolution. Bodo Zelinsky (Hg.). Bonn 1991. S. 5–41. S. 21, 28, 30.) Vgl. Snowden, TBR. S. 120, 121 f. Vgl. ebd. S. 121. Vgl. ebd. S. 102. Vgl. ebd.

1.2 Russische Welt

115

Der zu erreichende Sollzustand in puncto Religion findet sich in einem von Snowden zitierten Manifest. Hieraus wird ersichtlich, dass nach kommunistischer Ansicht Religion und das mittlerweile überkommene gesellschaftliche Klassenverständnis in engem Wechselverhältnis stehen.165 Obwohl, wie Snowden zeigt, den bolschewistischen Machthabern bewusst sei, dass es sich beim Glauben um eine elementare anthropologische Konstante handelt, wird er mit dem alten Klassensystem in enge Verbindung gebracht. Mittels einer Substitution religiöser Handlungen durch ideologische, wird der Versuch gestartet, die basale Wichtigkeit von Religion gewinnbringend zu nutzen. Und so resümiert Snowden, dass die Kommunisten die Religion nicht zerstört, sondern lediglich das Glaubensbekenntnis abgeändert hätten.166 In diesem Rahmen erfährt die Čeka als Inquisition eine neue Deutung.167 In Snowdens Beschreibung der religiösen Umstrukturierung und Substituierung passt auch das Bild, das sie von Lenin zeichnet: Zum Zeitpunkt des geplanten Interviews treffen ihn die Delegierten in einer Modellsitzung an, in der ein neues „Götzenbild“ (graven image) von ihm erstellt wird.168 Gleichzeitig zieht Snowden positive Schlüsse aus der „Reformierung des Glaubens“, da die Menschen nun bestenfalls zur „wahren Religion“ (true religion) finden könnten, ohne von skrupellosen Dienern der Kirche korrumpiert zu werden.169 Bewundernd hebt die Autorin das durch goldschimmernde Kirchkuppeln geprägte Stadtbild vieler Orte hervor170 und betont, dass trotz aller Dekrete die Menschen ihren Glauben auch nach wie vor praktizierten und in die Kirchen gingen, welche deshalb aus allen Nähten platzten.171 Die Entdeckung eines buddhistischen Tempels in Astrachan offenbart die religiöse Vielfalt des postrevolutionären Russlands172 – eines Landes, „in dem Gott als Konterrevolutionär gesehen wird, offiziell verbannt, als Verräter an der Menschheit“ (where God is regarded as counterrevolutionary and banished, officially, as a traitor to mankind)173.

165 166 167 168 169 170 171 172 173

Vgl. ebd. S. 102 f. „And whether they realise it or not, it remains the fact that the Communists have not destroyed religion. They have simply changed the creed.“ (Ebd. S. 104.) Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd. S. 103. Vgl. ebd. S. 164, 170. Vgl. ebd. S. 103, 104, 113. Vgl. ebd. S. 170. Ebd. S. 103.

116 1.2.7

1 Reisendes Delegationsmitglied – Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia

Kunst und Kultur

Das größtenteils als ärmlich wahrgenommene und dargestellte Leben der russischen Bevölkerung findet, unter Belobigung der russischen Regierung, einen positiven Gegenpart im Zustand der künstlerischkulturellen Gegebenheiten. Am künstlerischen Leben Russlands spiegele sich, so Snowden, die „Weisheit“ der Bolschewiki, da sie es in einem bis dato unangetasteten Zustand belassen hätten und weiterhin in höchstem Maße förderten. 174 Obgleich Kunst per se den Kern einer jeden Rebellion darstelle, die in Russland repressiv unterbunden würde, sollten die künstlerischen Neigungen in der Bevölkerung befördert werden.175 Alle Künste Russlands seien institutionell der Verantwortlichkeit des Bildungsministeriums und damit dem Bildungsminister Lunačarskij176 unterstellt.177 Die Qualität der Aufführungen in den darstellenden Künsten ist nach eigener Erfahrung Snowdens hochwertig178 und vielseitig: Neben klassischen Stücken bekommen die Delegierten auch avantgardistische Kunst zu Gesicht 179 . Aufgrund der niedrigen oder komplett inexistenten Eintrittspreise für Arbeiter180 seien die Konzerthallen und Theater jede Nacht gefüllt und es zeigt sich, dass es die Preise sind, die dafür sorgten, so ein Gesprächspartner Snowdens, weshalb in London bestimmte Gesellschaftsschichten von der Kunst ausgeschlossen wären.181 Snowden setzt die Qualität der Kunst in Russland in einen internationalen Vergleich, um dem hohen Standard russischer Theater- und Opernaufführungen Gewicht zu verleihen.182

174 175 176

177 178 179 180 181 182

Vgl. ebd. S. 70 f., 74. Vgl. ebd. S. 94. Anatolij Lunačarskij (1875–1933) war ein russischer (politischer) Schriftsteller, Kunstkritiker und Politiker. Er gehörte in jungen Jahren der revolutionären Bewegung Russlands an, schloss sich auf dem Parteitag der SDAPR 1903 in London den Bolschewiki an. Von 1917 bis 1929 war er Volkskommissar für Aufklärung (Bildung). (Vgl. „Lunačarskij“. In: Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija. A. M Prochorov (Hg.). Bd. 15. Moskau 1974. S. 66–67. S. 66.) Vgl. Snowden, TBR. S. 94. Vgl. ebd. S. 71, 78. Vgl. ebd. S. 78. Vgl. ebd. S. 74. Vgl. ebd. S. 71, 80. Vgl. ebd. S. 71.

1.2 Russische Welt

117

Künstler wie Šaljapin183, „einer der größten Sänger, die jemals lebten“ (one of the greatest singers who ever lived)184, seien aus Sicht der Kommunisten Besserverdiener, was von Snowden umgehend durch die Angabe des Umrechnungskurses von Rubel und Pfund widerlegt und damit ins Gegenteil verkehrt wird.185 Aufgrund des geringen Geldwertes würden Künstler daher öfters in Naturalien ausbezahlt, beispielsweise in Weißmehl, einem „hoch geschätzten Gut“.186 Zufällig kommt Snowden in die Verlegenheit, im Hause einer russischen Komtesse der Geburtstagsfeier eines Schriftstellers beizuwohnen187 und findet damit einen Nachweis, dass das alte Kunstleben Russlands trotz der schlimmen Umstände noch immer existent ist.188 Allerdings trifft sie in diesem Zusammenhang auf zwei ebenfalls dem Künstlermilieu zuzuordnende Personen, deren ärmliches Erscheinungsbild die andere Seite der Künstlerwelt spiegelt.189 1.2.8

Bildung und Kinderbetreuung

Neben allgemeinen Äußerungen über den Zustand und die Unterteilung von Bildungseinrichtungen, geht Snowden näher auf jene persönlichen Erfahrungen ein, die sie anhand von Besuchen an drei Schulen Petrograds machen konnte. Ganz allgemein nimmt die Autorin das ihr zugetragene Wissen darüber auf, dass Bildung, inklusive der Ernährung und Ausstattung der Kinder, in Russland unentgeltlich und verpflichtend für alle Kinder bis 17 Jahre sei. 190 Kontrastierend stellt sie der eigentlichen 183 184 185

186 187

188 189 190

Fedor I. Šaljapin (1873–1938) war ein russischer, über die Grenzen Russlands hinaus bekannter Opernsänger. Ebd. S. 75. „But when it is borne in mind that ten thousand roubles can be bought for an English pound and that £20 is the nightly sum commanded by one of the greatest singers who ever lived, it is not so outrageous a reward as the little Commissar appeared to think.“ (Ebd. S. 74 f.) Ebd. S. 75. „The countess is graciously permitted the use of two or three rooms in the building, but the rest is open to the members of the club and their guests. We ‚happened in‘ on a very pleasant occasion, the birthday celebration of one of Russia’s most distinguished living poets, Belmont.“ (Ebd. S. 79.) Es ist anzunehmen, dass es sich hier um den russischen symbolistischen Dichter Konstantin D. Bal’mont (1867–1942) handelt. Dieser emigrierte noch im Jahr 1920 nach Frankreich. Ebd. S. 80. Vgl. ebd. S. 79 f. Vgl. ebd. S. 94 f.

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Schulpflicht die eigens erlebte Situation gegenüber, in der sie während der regulären Schulzeiten spielende Kinder auf Petrograds Straßen erlebte.191 Hier erfährt der Leser anhand der wortwörtlichen Wiedergabe Angelica Balabanovs192, dass die Motivation der Eltern, diese Schulpflicht ernst zu nehmen, noch mangelhaft sei.193 In ländlichen Arealen zeichne sich im Vergleich zu urbanen Gegenden ein anderes und weniger gutes Bild des Schulsystems, das noch dadurch Risse erführe, dass Kinder in dieser Gegend vielerorts unabkömmlicher Teil der Feldarbeit seien.194 Somit fänden sich sehr wohlwollenden Schätzungen der Regierung zufolge aktuell 25% aller Kinder Russlands im Schulunterricht wieder.195 Universitäre Bildung, so Snowden, stehe allen offen und es würden insbesondere mittellose Arbeiter durch garantierte Unterhaltungskosten gefördert. 196 Dem Ziel der Alphabetisierung der Einwohner Russlands Folge leistend197, würden vielerorts Erwachsenenschulen eingerichtet, was Snowden als Augenzeugin lobend hervorhebt.198 Zudem erfährt die Autorin von der eigens für Soldaten eingerichteten Beschulung an der Front, die im Sinne der von der Regierung intendierten Förderung der künstlerischen Neigungen der Menschen 199

191 192

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194 195 196 197

198 199

Vgl. ebd. S. 95. Angelica Balabanov (1878–1965) war eine russischstämmige Politikerin und Publizistin. Nachdem sie erste Erfahrungen in politischer Arbeit in der Sozialistischen Partei Italiens gesammelt hatte, kehrte Balabanov nach der Russischen Revolution 1917 zurück nach Russland und schloss sich – bis 1922 – den Bolschewiki an. Vgl. ebd. 95 f. – Fraglich ist, ob die Antwort Balabanovs hier nicht zu euphemistisch ist, da es sich bei der Erscheinung der Kinder auch um sogenannte „besprizornye“ gehandelt haben könnte. Diese, zumeist obdachlose, elternlose und verwahrloste Kinder, die als Folge der Revolution und des Bürgerkrieges bettelnd auf den Straßen russischer Städte lebten, wurden von vielen Reisenden als augenfälliges Phänomen beschrieben. (Vgl. Heeke, Reisen zu den Sowjets. S. 464 ff.) Vgl. Snowden, TBR. S. 101. Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 95. „It is realised that the greater part of the Russian people are illiterate, and the defect is sought to be remedied by giving the older folk opportunities of attending all sorts of evening classes.“ (Ebd. S. 100.) – Laut Zensus lag die Alphabetisierungsquote 1897 im urbanen Raum bei 57%, auf dem Land bei 23,8%. Generell waren mehr Männer als Frauen alphabetisiert. Die Bolschewiki konnten bis 1920 einen Anstieg auf 73,5% (Stadt) und 37,8% (Land) verzeichnen. (Vgl. Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion. S. 303.) Vgl. Snowden, TBR. S. 100. Vgl. ebd. S. 89, 94.

1.2 Russische Welt

119

auch Künstler und Autoren als Personal rekrutiert.200 Die Ausbildung, die Snowden an staatlichen Schulen vorfindet, beinhaltet auch das militärische Training der Kinder.201 In seiner Vielfalt erscheint das Bildungssystem in Snowdens Aufzeichnungen als sehr vorbildlich, doch moniert die Autorin, dass mit der Bildung offenbar nur ein Ziel verfolgt würde: die Lehre des Kommunismus.202 Dass dieses Vorhaben mitunter erfolgreich umgesetzt wurde, offenbart sich Snowden im Kontakt zu zwei Kindern, die auf kindlich unreflektierte Art und Weise die Ideale des Kommunismus „rezitieren“.203 Die sogenannten „Schulkolonien“, speziell für Arbeiterkinder eingerichtete Internate, erklärt Snowden zu einem „sehr charmanten Merkmal des russischen Bildungssystems“ (very charming feature of the Russian educational system). 204 Enteignete Anwesen fänden hierin eine neue Nutzung und in Form der Beschreibung einer Betreuerin in Samara bestätigt Snowden den Vorzug, den Russen ideellen vor materiellen Werten geben: Die ärmliche Bekleidung einer Kinderbetreuerin stehe ihrer der Ideologie ergebenen, stolzen Haltung nicht entgegen.205 1.2.9

Industrie und Wirtschaft

Im Gespräch mit einem Mitarbeiter des Volkskommissariats für Gewerkschaftsangelegenheiten erfährt Snowden viel über die aktuelle Struktur der Industrie. So bekommt sie beispielsweise Information über die bis dato vollzogene Verstaatlichung von 5000 Unternehmen, von denen 70 % „mehr oder weniger“ zufriedenstellend arbeiteten.206 Zukünftig solle der 200 201 202 203 204 205 206

Vgl. ebd. S. 89. Vgl. ebd. S. 88. Vgl. ebd. S. 53, 99, 104. Vgl. ebd. S. 66, 98 f. Ebd. S. 97 f. Vgl. ebd. S. 171. Vgl. ebd. S. 46. – Mit einem Dekret vom 12. Juni 1918 wurde in Russland die gesamte Schwerindustrie verstaatlicht. Nach und nach folgte die Verstaatlichung anderer Industriezweige, der gesamten wirtschaftlichen Einheiten (Leichtindustrie, Klein- und Großhandelskooperativen, das Handwerk und alle Handelsunternehmen). (Vgl. Malia, Vollstreckter Wahn. S. 159.) Somit hatte die Regierung die Hoheit über die Produktion und konnte die Rote Armee ausrüsten und ernähren, „obwohl die schwindende Stadtbevölkerung kaum mit dem Lebensnotwendigen versorgt war“. Die Distributionskontrolle des Staates blieb ohne Wirkung: Hiermit wurde der Markt nicht beseitigt, „sondern lediglich in den Untergrund und die Illegalität abgedrängt“. (Ebd. S. 160.)

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aktuelle Qualitäts- und Effizienzgrad weiterentwickelt und ausgeweitet werden. Obwohl die Delegation den Petrograder Putilov-Werken einen Besuch abstattet, belässt es Snowden bei einem Verweis, darauf an anderer Stelle ihrer „Erzählung“ (narrative) näher einzugehen207. Eine Wiederaufnahme des Themas unterlässt sie. In Bezug auf den Handel offenbart Snowden die Stellung der Bank als „buchhalterische Abteilung des Staates“ (bookkeeping department of the state).208 Sie erfährt, dass Geld zukünftig einem Tauschsystem weichen solle. 209 Weniger staatlichen denn privaten Handel findet Snowden auf den Märkten Moskaus vor – dieser dient vornehmlich dem Überleben der jeweiligen Händler, häufig bürgerlichen Ursprungs, die wenig ausgebildet der untersten Kategorie der Nahrungsmittelversorgung zugerechnet werden und mit dem Markthandel die einzige Chance der Existenzsicherung wahrnehmen.210 Die Lage der Industrie mache nach Snowden eine Arbeitspflicht für alle Männer und Frauen von 18 bis 50 Jahre notwendig. Insbesondere seien jene Arbeiter betroffen, die am wenigsten an ihrem Arbeitsplatz benötigt würden.211 Diese Zwangsarbeit beinhalte das Recht der Regierung, die Arbeiter an jeden Ort des Landes zu senden, an dem sie ge207 208 209

210 211

Vgl. Snowden, TBR. S. 102, 105. Vgl. ebd. S. 146 f. Ebd. S. 146. – Die in kommunistischen Theorien verankerte Abschaffung des Geldes sorgte für einen weiteren Niedergang des Währungssystems nach der Revolution im Oktober 1917. (Vgl. Heeke, Reisen zu den Sowjets. S. 123.) Nach Beseitigung von Privateigentum, Markt und Profit verlor das Geld seinen Nutzen; die nachrevolutionären Ereignisse in Russland, die zur höchsten Inflation führten, die Europa je erlebt hatte, sorgte „von sich aus dafür, daß mit dem Geldwert aufgeräumt wurde“ und so trafen die Bolschewiki Ende 1920 die formalen Vorbereitungen zur Abschaffung des Geldes. (Vgl. Malia, Vollstreckter Wahn. S. 160.) Dass es soweit nicht kam, zeigt sich am X. Parteikongress im Jahr 1921, an dem der „Grundstein für die Wiederherstellung eines funktionierenden Geld- und Bankensystems“ gelegt wurde. (Vgl. Heeke, Reisen zu den Sowjets. S. 123.) Im November 1921 nahm die neugegründete Staatsbank (Gosbank) ihren Betrieb auf. (Ebd.) Vgl. Snowden, TBR. S. 110. Vgl. ebd. S. 147. – Um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, sollte auch die Arbeit „militarisiert“ werden. Trockij war einer der Verfechter dieser Idee. Nach Ende des Bürgerkrieges sollten zum Zwecke des Wiederaufbaus dieselben Methoden in der Industrie eingeführt werden, die auch „im Bürgerkrieg zum Sieg geführt hatten“. (Malia, Vollstreckter Wahn. S. 161.) Das Programm sah vor, die Industrie nach dem Muster der Roten Armee zu führen und so kamen eine Zeit lang bei der Wiedereröffnung von Betrieben und Bergwerken Militäreinheiten zum Einsatz. (Vgl. ebd.)

1.2 Russische Welt

121

braucht werden – unter harten Strafen für Nichtausführung dieser Dienstpflicht. Obgleich eine solche Maßnahme drastisch wirkt, wird sie von Snowden, unter ausführlicher Darlegung der wirtschaftlichen Notwendigkeit, befürwortet.212 Neben der Zwangsarbeit verweist Snowden beiläufig auch auf die Existenz der sogenannten „freiwilligen Arbeit“.213 In der Begegnung mit dem ehemaligen Besitzer einer Fischfabrik in Astrachan erfährt Snowden, dass dieser mittlerweile zufrieden als Angestellter in seiner eigenen Fabrik arbeitet. 214 Diese Zufriedenheit zeigt sich Snowden nicht allerorten: So begehrten beispielsweise die Arbeiter der Petrograder Putilov-Werke aufgrund von Hunger auf, jene des Somova-Eisenwerks in Nižni Novgorod aufgrund der durch Bürokratie begründeten ineffizienten Produktion.215 Die staatlich verordnete Bürokratie träfe nicht nur bei den einfachen Arbeitern auf Unwillen und Unverständnis, sondern auch bei bereits mit höheren Ämtern versehenen Kommunisten.216 1.2.10 Infrastruktur Die durch den Krieg verursachte, weit verbreitete Beschädigung der Infrastruktur bezeichnet Snowden am Ende ihres Berichts als Grund für die schlechte Versorgung der städtischen Bevölkerung mit Lebensmitteln.217 Nichtsdestotrotz scheint der Schienenverkehr zumindest in einigen Teilen des Landes zu funktionieren, was sich daran zeigt, dass Snowden und die anderen Delegierten das Land vornehmlich mit der 212 213

214 215 216 217

Vgl. Snowden, TBR. S. 147. Ebd. S. 40. – Wie Stephen White schreibt, wurden eigens zu Ehren der Delegation an allen Moskauer Bahnhöfen am 24. Mai sogenannte „subbotniks“ initiiert. (Vgl. White, „British Labour“. S. 240.) Hierbei handelte es sich um eine für die Sowjetunion und später von anderen Ostblockstaaten übernommene Einrichtung, die freiwillige, unbezahlte sowie zumeist an Samstagen stattfindende Arbeit für das Gemeinwohl bezeichnete und ursprünglich (1919) den wirtschaftlichen Wiederaufbau Sowjetrusslands unterstützen sollte. Ab 1920 „wurde der Subbotnik zu einem festen Bestandteil des sowjetischen Lebens: Es gab nicht nur einzelne Tage, sondern ganze Wochen, in denen die Menschen zu unbezahlter Arbeit herangezogen wurden“. (Orlando Figes, Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891–1924. Berlin 1998. S. 767.) Vgl. Snowden, TBR. S. 37. Vgl. ebd. S. 165. Vgl. ebd. S. 125. Vgl. ebd. S. 178.

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1 Reisendes Delegationsmitglied – Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia

Bahn erkunden: In einem extra für sie bereit gestellten Zug unternehmen sie sowohl Hin- und Rückfahrt nach Russland und legen auch innerhalb des Landes einige Kilometer zurück. 218 Nach Snowden sei es dem Kommissar für Kommunikationswege Sverdlov zu verdanken, dass alle von „Kolčak und seinen Banden“ (the Koltchak bands) zerstörten Schienen und Brücken wieder aufgebaut wurden.219 Neben sehr komfortablen Pferdedroschken220 erwähnt Snowden die Existenz von Straßenbahnen in Moskau. Aufgrund der maßlosen Überlastung dieses Transportmittels, das Snowden an die U-Bahn Londons „in den Abendstunden während der Kriegszeit“ (at the evening hour during the war)221 erinnert, komme es nicht selten dazu, dass Passagiere aufgrund waghalsiger Manöver ihr Leben verlören. Autos sind nach Snowdens Einschätzung eine Seltenheit und ausschließlich in Besitz und Benutzung durch Funktionäre der Partei und der Regierung.222 Und so stellt sich die Tatsache, dass Snowden und ihre Begleiter im ehemaligen Auto des Zaren durch Petrograd gefahren werden223 und an anderer Stelle ein eigenes Regierungsauto zur Verfügung gestellt bekommen224 als besonders dar.

218 219

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221 222 223 224

Vgl. ebd. S. 106, 164, 178. Vgl. ebd. S. 126. – Aleksander V. Kolčak (1874–1920) war ein ehemaliger Admiral der zaristischen Armee und kämpfte als sogenannter Weißgardist gegen die Rote Armee der Bolschewiki. „For a thousand roubles you might drive a mile or so in a very comfortable little carriage out of which it would be almost impossible to fall.“ (Ebd. S. 112.) – Eine typische Erscheinung im Bild russischer Städte des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts waren die sogenannten „izvozčiki“, Fuhrmänner vornehmerer Stadtdroschken. Und so „hielt die umfassende Nutzung von Personen- und Gepäckschlitten [im Winter] den Verkehr auch bei starken Schneefällen aufrecht, ohne daß die Straßen aufwendig geräumt werden mußten.“ (Heeke, Reisen zu den Sowjets. S. 329.) Snowden, TBR. S. 112. Vgl. ebd. S. 111 f. Vgl. ebd. S. 38. Vgl. ebd. S. 112. – Häufig wurden ausländischen Reisenden, explizit Gästen der sowjetischen Regierung Regierungsautos – zum Teil inklusive eines Chauffeurs – zur persönlichen Verfügung überlassen. (Vgl. Heeke, Reisen zu den Sowjets. S. 319 f.). Mit Gründung von Intourist (Inostrannyj turist) im Jahr 1929 gab es einen ansehnlichen Fuhrpark für ausländische Gäste. (Vgl. ebd.) Inturist war zuständig für „die Abwicklung des Auslandstourismus in die SU und für die Organisation von touristischen Reisen sowjetischer Staatsbürger ins Ausland“. (Helmut Altrichter, „Intourist“. In: Historisches Lexikon der Sowjetunion 1917/22 bis 1991. Hans-Joachim Torke (Hg.). München 1993. S. 120.)

1.3 Russische Mitwelt

1.3

123

Russische Mitwelt

Im weitesten Sinne ist der elliptisch formulierte Matthäus-Spruch „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“ 225 programmatisch für Snowdens Darstellung der russischen Bevölkerung. Im übertragenen Sinn steht er implizit für den Vorsatz jener, die den bolschewistischen Umsturz verantworteten. Der Mangel am Notwendigsten jedoch, den Snowden der Allgemeinbevölkerung attestiert, offenbart die Ambivalenz, mit der die Menschen der „neuen Religion“ gegenüberstehen. Snowden beschreibt in ihrem Bericht sowohl jene Menschen, denen das neue System oktroyiert und deren Leben durch den Weltzustand maßgeblich beeinflusst wurde, als auch jene, die die neue Welt maßgeblich gestalteten und zum Zeitpunkt von Snowdens Reise als Akteure der Politik in Erscheinung traten. 1.3.1

„Kommunisten und andere“

Bereits im ersten Kapitel „A Starving People“ attestiert Snowden der russischen Bevölkerung, dass sie unglücklich sei: Mit der Aussage „Arme, unglückliche, liebenswerte Menschen Russlands!“ (Poor, unhappy, lovable people of Russia!)226 gibt die Autorin an prominenter Stelle ihre persönliche Einschätzung wieder und damit gleichzeitig auch dem Leser eine Einstimmung auf ihren Reisebericht. Betrachtet man diese erste Nennung vor dem Hintergrund der Wirkungsweise des primacy effects227 wird der Leser subtil dazu aufgefordert, alle weiterhin aufgeführten Charakteristika der russischen Bevölkerung durch eine von Mitgefühl getragene Schablone zu bewerten. Durch das mehrmalige Anführen der notdürftigen Lage der Russen zieht sich diese Beurteilung wie ein roter Faden durch Snowdens Bericht.228 Obgleich viele der Menschen, denen sie begegnet, in großer Not leben229, scheinen sie durchweg mit den Insignien des neuen Systems vertraut zu sein, da Snowden mehrfach (zumeist im Rahmen der für die Delegation initiierten Veranstaltungen) die anwesenden Menschen die „Internationale“230 anstimmen und mitsingen hört.231 225 226 227 228 229 230

Mt 4, 4. Snowden, TBR. S. 16. Vgl. Grabes, „Wie aus Sätzen Personen werden ...“. S. 415. Vgl. Snowden, TBR. S. 11, 16, 38, 131, 161, 187. Vgl. ebd. Bspw. S. 21. Von 1922, dem Jahr der Gründung der Sowjetunion, bis 1944 galt die „Internationale“ als Hymne des sowjetischen Staates.

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1 Reisendes Delegationsmitglied – Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia

Snowden zeigt großes Interesse an der Einstellung der Menschen zum neuen Regime. Sie konfrontiert den Leser mit dem ihrer Meinung nach geringen Stellenwert, den sowohl das intellektuelle Konzept des historischen Materialismus als auch sozialistische Institutionen wie die Komintern in der Bevölkerung besitzen. 232 Im Verlauf ihrer Aufzeichnungen deckt sie diesbezüglich sowohl lokale Unterschiede im Grad der Systemtreue als auch Gründe für diese Unterschiede auf. Während sich die Einwohner Petrograds, im Speziellen seine Kommunisten, für Snowden als (historisch bedingt) systemtreuer offenbaren 233 , fehlt der multiethnischen 234 ländlichen Bevölkerung jedes Interesse an Politik. Allerdings stellte eben diese die absolute Mehrheit der Einwohner Russlands dar.235 Nur aus rein pragmatischen Gründen stünden sie eher hinter den Bolschewiki als hinter der Weißen Armee.236 Den Grund für die loyale Haltung der Menschen gegenüber der Regierung sieht Snowden bei den orthodoxeren Kommunisten im Krieg237 und bei der einfachen Bevölkerung in deren Patriotismus238. Zugleich sei sie Ausdruck der Angst vor einer Verschlimmerung der politischen Situati231 232 233

234 235

236 237 238

Vgl. ebd. Bspw. S. 17, 54, 76 f. Vgl. ebd. S. 16. „The reason why it is ‚redder‘ than Moscow is due in all probability to the fact that, as the capital city and the place of residence of the Czars, it has been the scene of more revolutionary propaganda and anarchist intrigues than any other single city in the wide dominions of Russia.“ (Vgl. ebd. S. 60.) Die von Snowden zitierten Gründe gelten auch als historisch belegt. So schreibt Rabinowitsch: „Erstens war Petrograd die Hauptstadt des russischen Reiches. Aufgrund der langen Tradition einer starken, zentralisierten Selbstherrschaft war die politische Lage in Petrograd, insbesondere die Kontrolle über die Einrichtungen und Symbole der Staatsmacht, für den Verlauf der Revolution im Land insgesamt von herausragender Bedeutung. Neben seiner Rolle als Regierungssitz war Petrograd [...] das wichtigste Handels- und Industriezentrum des Landes. [...] Und weil sich schließlich auch das nationale Hauptquartier der bolschewistischen Partei 1917 in Petrograd befand und sie dort besonders aktiv waren, kann man anhand dieser Stadt die Arbeitsweise der Bolschewiki, von den oberen bis zu den unteren Parteirängen, und ihren Interaktionen mit den Massen besonders gut studieren.“ (Rabinowitsch, Die Sowjetmacht. S. xxxvii f.) Vgl. Snowden, TBR. S. 170 f. „Eighty-five per cent of the population is composed of peasants, most of whom I am convinced never heard of such things. To these, Lenin is no more than a name, a devil to the rich peasant, a name with which to conjure out of both rich and poor peasant the stocks of food they are believed to be hiding.“ (Ebd. S. 16.) „Our talks with the peasant men and women revealed the fact that they were not Communists in the Marxian sense, scarcely Communist in any sense.“ (Ebd. S. 168.) „Everybody is behind the Government at present, because of the war.“ (Ebd. S. 62.) Vgl. ebd. S. 152.

1.3 Russische Mitwelt

125

on239. Was diese Menschen wirklich wollten, so Snowden, sei Frieden.240 Wenn sich auch die Wahrnehmung des Zaren durch die Bauern, Snowdens Erkenntnissen nach, nicht grundlegend von jener der Bolschewiki unterscheide, so sei Erstgenannter doch der bäuerlichen Vorstellung näher gewesen. Dies veranschaulicht die Autorin mit der Betitelung des Zaren als deren „‚kleiner Vater‘“ (their ‚little father‘)241. Allgemein charakterisiert Snowden die Einwohner Moskaus trotz ihrer schlechten Versorgung als lebensfroh242 und Stadt- wie Landbevölkerung als freundlich und kunstinteressiert243. Nachdem Snowden anfänglich konstatiert, dass die „Männer und Frauen [Russlands]“ ihnen, den Lesern (ourselves), sehr ähnlich wären244, betont sie am Ende ihres Reiseberichts die Unterschiedlichkeit der russischen und englischen Menschen 245 und begründet dies mit den historischen Gegebenheiten in Russland. Tendenziell bestehe die Möglichkeit, dass sich die Einwohner Russlands unter den gegebenen Umständen, die eine politische Partizipation ausschlössen, zu einem „lethargischen Volk, das nicht an Freiheit gewöhnt sei“ (a lethargic race, unused to the ways of freedom)246 entwickelten. Im Rahmen ihrer Besuche kommt Snowden bewusst und aufmerksam in Kontakt mit Unterstützern des Systems, d.h. Kommunisten, und weitaus seltener mit Nicht-Kommunisten. Generell scheint die Auffassung der kommunistischen Ideologie aufgrund historischer Gegebenheiten in Petrograd hyperkritischer und schärfer zu sein als in Moskau247. Und so stellt Snowden fest, dass nicht alle Kommunisten dieselbe Haltung zur Ideologie verträten, diesbezüglich aber auch eine gewisse Kritikoffenheit bestehe.248 Umgehend postuliert sie ihre Einschätzung, dass trotz einiger Differenzen in der Auffassung der praktizierten kommunistischen Idee alle 239 240 241 242 243 244 245

246

247 248

Vgl. ebd. S. 163. Vgl. ebd. S. 17, 84. Ebd. S. 16. Vgl. ebd. S. 106, 108. Vgl. ebd. S. 73 f., 167. Vgl. ebd. S. 10. „The Russian people are the most illiterate in Europe. Their civilisation is generations behind Western civilisation and is of a different sort. They have a tradition of tyranny that sets them in a different category from the people of Anglo-Saxondom.“ (Ebd. S. 183 f.) „It may very well be that what they seek to impose and the methods by which they seek to impose it will in some ways benefit a lethargic race, unused to the ways of freedom.“ (Ebd. S. 151.) Vgl. ebd. S. 60. Vgl. ebd. S. 62.

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1 Reisendes Delegationsmitglied – Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia

„sogenannten“ Kommunisten hinter der aktuellen Regierung stünden.249 Es zeigt sich hier, dass die Unterschiede zumeist in der Affinität zu kommunistischen Methoden bestehen, alle Kommunisten jedoch im letztlichen Ziel, der Umsetzung des Sozialismus in die Praxis, übereinkommen. Aufgrund der ökonomischen Besserstellung der Kommunisten 250 betitelt Snowden sie als die neue Aristokratie251, merkt jedoch auch an, dass die Besserbehandlung in einer stärkeren Aufopferung für das Land begründet liege252. Nach Beweisen der Gleichbehandlung von Menschen im Sinne der Idee einer klassenlosen Gesellschaft sucht Snowden vergebens. Sie erfährt, dass noch immer eine herablassende Haltung gegenüber jenen herrscht, die einfachen Dienstleistungstätigkeiten nachgehen. Snowden behauptet, dass die Wertschätzung der Arbeit gewisser Menschengruppen im alltäglichen Umgang nirgends geringer wäre als in Russland.253 Auch das Wort „tovarish“ kann an diesem scheinbaren Missstand nichts ändern. Nichtsdestotrotz nähmen die Betroffenen diesen Umstand kritiklos hin und dies, obwohl solcherlei Zustände in England bereits zu Aufständen geführt hätten.254 Die Autorin belegt diese Aussage mit mehreren Beispielen.255 Im Verlauf der Reise begegnet Snowden auch dem Tolstojaner Vladimir Čertkov256. An ihm offenbart sich der Umgang mit Andersdenkenden: Er wirkt unterernährt und verhärmt. 257 Snowden erfährt einerseits, dass Čertkov und seine Mitstreiter das kommunistische Regime als schlecht, doch immer noch besser als andere „hoch zentralisierte“ Syste249 250 251

252 253

254 255 256

257

Vgl. ebd. S. 62 f. Vgl. ebd. S. 64. „Some work quietly, live nobly, and starve on the rations which only the very best men decline to augment. But, for the most part, the Communists live better than the rest and form the new aristocracy.“ (Ebd. S. 63.) Vgl. ebd. „It is idle to say that there are no class divisions in Communist Russia. The differences may not be so wide, but they are clearly marked. Even the generous use of the word comrade (tovarisch) cannot cover up the fact that class distinctions exist.“ (Ebd. S. 132.) Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 133 f., 136. Es handelt sich hier höchstwahrscheinlich um Vladimir Čertkov (1854–1936), der dem russischen Adel entstammte, Literaturagent und später enger Vertrauter Lev Tolstojs war. (Vgl. Carol L. Peaker, Reading Revolution. Russian Émigrés and the Reception of Russian Literature in England, c. 1890–1905. Oxford 2006. S. 43.) Tolstoj begegnete er erstmals 1883 (ebd. S. 74) und emigriert 1896 nach England. Dort lebte Čertkov bis 1908 (ebd. S. 77.) Vgl. Snowden, TBR. S. 129.

1.3 Russische Mitwelt

127

me bewerten.258 Andererseits jedoch wird sie Zeugin von Klagen über die im Vergleich zum Zarenregime noch stärker eingeschränkte Freiheit, und erfährt von initiierten Morden an Regimegegnern.259 Der Aussage eines Arztes nach, scheinen auch wenige Ärzte die kommunistische Ideologie zu teilen260, was das Bild der dem Arbeitermilieu zuzuordnenden Unterstützer bestätigt. Im Dienstleistungssektor trifft Snowden mit dem Vorfinden von Bediensteten auf Relikte vergangener Zeiten. Eine dieser Begegnungen nimmt Snowden zum Anlass, den bewirtenden „tovarish“ in seiner würde- und geheimnisvollen Art zu skizzieren261, hinterfragt jedoch nicht seine Anwesenheit, die als konkretes Gegenargument für die Gleichstellung der Menschen dienen würde. An einer Stelle verweist Snowden direkt auf ihre „unabhängige Übersetzerin“ (independent translator)262. Diese scheint dem System kritisch gegenüberzustehen, da sie nach dem Gespräch mit einem Mitarbeiter der Čeka ihre ohnmächtige Verzweiflung gesteht, keinen Einspruch gegen die übersetzten Lügen erhoben zu haben.263 1.3.2

Bolschewistische Elite

Insgesamt bezeichnet die Autorin die sowjetischen Machthaber als „schlaue Gastgeber“ (clever hosts)264 und gute Propagandisten265, die alle 258 259 260 261 262

263 264

265

Vgl. ebd. S. 129 f. Vgl. ebd. S. 130. Ebd. S. 124. Vgl. ebd. S. 46. Snowden äußert sich nicht weiter zu ihrer Übersetzerin oder woher die Delegation sie kannte. Die Autorin sprach selbst kein Russisch und war daher auf solcherlei Dienste angewiesen. Heeke schreibt, dass in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre „freie Übersetzerdienste“ noch zu den selbstverständlichen Dienstleistungen zählte. (Vgl. Heeke, Reisen zu den Sowjets. S. 478.) Die zu Propaganda und Bespitzelungszwecken eingesetzten, parteitreuen Übersetzer, die Sylvia Margulies in ihrer Studie eingehender beleuchtet (Margulies, The Pilgrimage to Russia), können anhand Heekes Reiseschriften in der Mehrzahl nicht bestätigt werden. Stephen White schreibt, dass Charles R. Buxton als Dolmetscher der Delegation fungierte und die Reise sonst von durch die sowjetische Regierung zur Verfügung gestellten Dolmetschern begleitet wurde. (Vgl. White, „British Labour“. S. 237.) Vgl. Snowden, TBR. S. 159. Vgl. ebd. S. 51. – Vgl. Snowdens Aussage, dass die Delegation Gast der sowjetischen Regierung ist: „[...] although we might be the guests of the Government […]“. (Ebd. S. 24.) Vgl. ebd. S. 51 f.

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1 Reisendes Delegationsmitglied – Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia

Mittel und Wege zu nutzen wüssten, das Image ihrer Regierung zu schmücken.266 Zudem weist sie diese als gute Rhetoriker aus, die sich jedoch in ihren zielorientierten Reden so redundant ausnähmen, dass auch die englischen Besucher nach kurzer Zeit die Inhalte vorhersagen könnten.267 Sie deklariert sie als „harte Männer“ (bitter men)268, „Männer von einem eher gewalttätigeren Charakter“ (men of more violent character) und „extreme Männer“ (extreme men)269. Signifikante Unterschiede zu englischen Politkern sieht Snowden nicht, nur dass die russische Regierung sich aktuell mit einer diffizilen Situation auseinandersetzen müsse.270 Einerseits beurteilt Snowden die Werte der kommunistischen Führungsriege als überlegen im Vergleich zu anderen in den Krieg involvierten Regierungen (superior in morals to any European Government engaged in the recent war)271, verlautbart an anderer Stelle jedoch, dass es sich doch nur um eine „neue Gruppe von Autokraten“ (a fresh group of autocrats)272 handelt. Begründet sieht sie diese Einschätzung sowohl in der persönlichen Vergangenheit dieser Menschen als auch in deren Zielsetzung: Während sie zur Zarenzeit Verfolgung und Marter ausgesetzt waren, strebten sie nun um jeden Preis die Vervollkommnung der kommunistischen Ideale an. 273 Snowden entbindet die Regierung von der Verantwortung für die Notlage der Menschen274, wirft jenen Dogmatikern, die zu keinem Kompromiss in der aktuellen Lage zu bewegen wären jedoch vor, eine große Schuld an der Misere zu tragen275. Der persönlich problematischste Zwiespalt zwischen Snowden und den Bolschewiki offenbart sich in dem Punkt der Herangehensweise an den Aufbau der neuen Gesellschaft: Für Snowden scheint es im Gegensatz zu den Bolschewiki unmöglich, eine Gesellschaft auf Hass276 zu gründen.277 Männer 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276

Vgl. ebd. S. 55. Vgl. ebd. S. 66. Ebd. S. 69. Ebd. S. 63, 84. Vgl. ebd. S. 10. Ebd. S. 84. Vgl. ebd. S. 134. Vgl. ebd. S. 68, 69. Vgl. ebd. S. 70. Vgl. ebd. S. 14. Die Autorin spart an dieser Stelle aus, auf wen sich der vermeintliche Hass der Bolschewiki bezieht. Ausgehend von der Kritik, die Snowden in Bezug auf die bolschewistische Führungselite und deren Handlungen anführt, und in der die Auswirkungen dieses Hasses sichtbar sind (beispielsweise Gewalt gegen Andersdenkende), kann vermutet werden, dass sie das Wort auf alle „Feinde des Systems“ bezieht und damit

1.3 Russische Mitwelt

129

wie Kamenev278, Sverdlov279 und Krasin280 nimmt Snowden aus der fanatischen Führungsriege aus, indem sie ihnen einen moderateren Zugang zum Kommunismus bescheinigt. Snowden zeigt sich hoffnungsvoll, dass damit auch in „hohen und verantwortungsvollen“ Positionen Menschen säßen, die an eine Umsetzung des letztlichen Ziels durch friedliche Mittel wie „Bildung und Organisation“ glaubten.281 So kristallisiert sich bei aller

277

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auf die verallgemeinernde und dogmatische Umsetzung theoretischer Konstrukte unter Anwendung gewaltsamer Maßnahmen durch die Regierung anspielt. „It was the great point of difference which separated spiritually my hosts and me. ‚You can never build a permanent system on hate,‘ I said again and again; but they believe they can.“ (Ebd. S. 44.) Lev Kamenev, geboren als Lev B. Rosenfeld (1883–1936), schloss sich bereits zu Schulzeiten der revolutionären Bewegung in Russland an und lebte ab 1902 für eine Zeit in Paris, wo er den Decknamen Kamenev annahm. Als Bolschewik und Berufsrevolutionär musste auch er die Erfahrung einer Verbannung nach Sibirien machen, von wo er 1917 nach Petrograd zurückkehrte. Als Schriftsteller und Geschichtsschreiber machte er sich noch vor der Revolution einen Namen außerhalb der Kommunistischen Partei. (Vgl. „Unpersonen“. Wer waren sie wirklich? Bucharin, Rykow, Trotzki, Sinowjew, Kamenew. Berlin Dietz 1990. S. 186.) In der Kommunistischen Partei und unter den Bolschewiki galt er aufgrund seiner weniger fanatischen Haltung in Revolutionsfragen und einer differenzierteren Auslegung von Lenins Aprilthesen (1917) als umstritten. (Vgl. ebd. 187 ff.) 1922 wurde er von Lenin zu einem der Stellvertreter des Rates der Volkskommissare auserwählt und zählte ab 1924 zu den kollektiven Nachfolgern Lenins (Vgl. ebd. S. 191.) Unter seiner Redaktion erschienen die ersten drei Ausgaben von Lenins Gesammelten Werken. (Vgl. ebd. S. 193.) Gemäß dem offiziellen Delegationsreport handelt es sich hierbei um Benjamin M. Sverdlov (1886–1939), den jüngeren Bruder des bekannten Bolschewiken Jakov M. Sverdlov. Benjamin M. Sverdlov war Minister für Kommunikationswege des Narkom (Narodnyj Kommissariat putej soobščenija). (Vgl. Guest, British Labour Delegation. S. 149.) Leonid B. Krasin (1870–1926) war einer der engsten Vertrauten Lenins. Im Gegensatz zu diesem jedoch wird er als Kriegsverfechter, ausdrücklich gegen Deutschland charakterisiert. Er ist während des Ersten Weltkrieges maßgeblich damit betraut, russische Kriegsproduktion zu kontrollieren und zu organisieren. Aufgrund seiner Erfahrungen in Industrie und Handel – er war vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges Direktor deutscher Werke in Russland (Siemens Shückert) – wird er 1918 zum Präsident der neu gegründeten Außerordentlichen Kommission zur Versorgung der Roten Armee ernannt und zum Volkskommissar für Auslandshandel und Transport. In dieser Funktion führte er die sowjetische Delegation an, die im Winter 1919/1920 Friedensverhandlungen mit Estland führte und wurde im Mai 1920 von Lloyd George im Rahmen der sowjetischen Handelsdelegation eingeladen. (Vgl. Ullman, Anglo-Soviet Relations. S. 89 f.) Das am 31.05.1920 stattfindende Treffen mit dem britischen Premierminister stellt das erste Treffen dar, in dem ein Abgesandter der Sowjetmacht von der Führungsspitze einer Weltmacht empfangen wird. (Vgl. ebd.) Snowden, TBR. S. 62 f.

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1 Reisendes Delegationsmitglied – Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia

Uneinigkeit, die die Autorin in ihrem Urteil offenbart, zumindest sehr deutlich Snowdens konsequente Ablehnung extremer Herangehensweisen: sei es im Sinne von Gewaltanwendung (Revolution, Machterhalt) oder kompromisslosen Haltungen im Angesicht der wirtschaftlichen und menschlichen Notlage (Dogmatismus). 1.3.2.1

Vladimir I. Lenin

Dem eigentlichen Treffen mit Lenin widmet die Autorin ein eigenes Kapitel (Interview with Lenin), das jedoch, dem Titel zum Trotz, weit mehr Informationen als nur das benannte Interview bereithält. Bereits in ihrer Einführung erklärt die Autorin, dass in Russland – und vermutlich bezieht sie sich hier auf gesellschaftspolitische Sachverhalte – Fehler gemacht wurden, wobei sie mildernd hinzufügt, dass Lenin „und ein paar der anderen“ (and some of the others) den Mut gehabt hätten, dies einzugestehen.282 Mit dieser Aussage findet der Anführer der Revolution, Vladimir I. Lenin, erstmalig Erwähnung in ihrer Schrift: als eine nicht perfekte, doch moralisch integre Person. 283 Diese Beschreibung lässt dreierlei Schlüsse zu. Zum einen zeigt Snowden die Machtverhältnisse auf und stellt Lenin als einen der Gestalter des postrevolutionären Landes dar. Gleichzeitig zeigt sie seine Fehlbarkeit – anders als es die öffentliche Meinung glauben machen will, handelt es sich um einen Menschen, der auch falsche Entscheidungen zu treffen vermag. Bei all dem jedoch ist er, drittens, kritikfähig. Mit dieser Information entlässt Snowden den Leser in ihren Reisebericht und gibt bereits im ersten Kapitel an, dass Lenin ungewollt mit einem Heiligenschein versehen worden sei284. Er sei der „kleine große Mann“ (little great man)285, der im Kreml auf legislativer Seite agiere. Dass Lenin aus Sicht reicherer Bauern als „Teufel“ (devil)286 wahrgenommen wird, ergänzt dieses Bild um eine negative Komponente. Wenn Lenin auch, nach Informationen zweiter Hand, der Einzige sei, der keine Angst vor der Čeka hätte 287, so herrsche über seinen Regie282 283 284 285 286

287

Vgl. ebd. S. 10. Vgl. Grabes, „Wie aus Sätzen Personen werden ...“. S. 413. Vgl. Snowden, TBR. S. 13. Ebd. „To these, Lenin is no more than a name, a devil to the rich peasant, a name with which to conjure out of both rich and poor peasant the stocks of food they are believed to be hiding.“ (Ebd. S. 16.) Vgl. ebd. S. 156.

1.3 Russische Mitwelt

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rungsstil doch eine uneinheitliche Meinung288. Anhand der direkt wiedergegebenen Aussage eines Petrograder Kommunisten, stehe Lenin gar im Verdacht, parteilich-ideologische Grundsätze nicht konsequent zu verfolgen und sei somit nicht über jeden Zweifel erhaben.289 Obgleich die Autorin Lenin als fanatisch beschreibt, erscheint er ihr im Vergleich zu anderen Kommunisten geradezu milde.290 Generell, so statuiert sie, stimme sie seinen schriftlich fixierten Ideen grundlegend nicht zu, zolle ihm jedoch Respekt dafür, dass er die Regierung seit der Revolution gut zusammengehalten hätte. Alle Welt staune, sie inbegriffen, über die Errungenschaften seiner im Vergleich mit der Weißen Armee unter Kolčak noch viel schrecklicheren Heerscharen291. Snowden beschreibt Lenins Äußeres sehr knapp, bezieht sich hier in zwei Sätzen auf ganz augenfällige physiognomische Merkmale seines Gesichts.292 Dann deckt sie die Wahrheit auf: Sie warnt vor der Maske, hinter der der „private“ Lenin als „der netteste und höflichste Mensch“ erscheine, die jedoch nur seine professionelle Grausamkeit verdecke, wie sich exemplarisch an der Bauernfrage zeigt.293 Dieser Charakterzug wird durch die stilisierte Wiedergabe seines Lachens (Ha! ha! ha!) untermalt. Ganz eindeutig dient diese Wiedergabe nicht einer sachorientierten Darstellung, sondern vielmehr der Untermauerung eines starken emotionalen Eindrucks. Auch Lenins manipulative Art zu kommunizieren wird von Snowden entlarvt: Der vermeintliche Austausch von Meinungen verkommt letztlich zu einer einseitigen Offenbarung auf Seiten der Delegierten, da sich herausstellt, dass Lenin weniger von sich preis gegeben hat als seine Gesprächspartner – dafür nun über mehr Informationen verfüge.294

288 289 290 291 292

293 294

Vgl. ebd. S. 142. „Even Lenin himself is not above suspicion. There is a great and growing opposition to Lenin in Red Petrograd.“ (Vgl. ebd. S. 61.) Vgl. ebd. S. 117. Vgl. ebd. „He is a small man with a bald head, having a fringe of reddish hair at the back and a tiny red beard. His mouth is large and his lips thick; his eyes are red-brown, and possess the merriest twinkle.“ (Ebd. S. 116.) Vgl. ebd. S. 116. „Lenin’s method with his visitors is clever. He has a most engaging frankness. He suggests by his manner a more or less confidential exchange of opinions. But when the interview is over, it is found that he has told you far less than you have told him.“ (Ebd. S. 116 f.)

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Generell spielt das Äußere Lenins in Snowdens Aufzeichnungen eine sehr untergeordnete Rolle. Primär charakterisiert sie ihn indirekt anhand seiner Kenntnisse und Haltung zu bestimmten Sachverhalten, wie beispielsweise zur britischen Arbeiterbewegung und dem Kommunismus in Großbritannien generell 295 , zur Anziehungskraft der kommunistischen Idee in Großbritannien und weltweit sowie dem eigentlichen Ziel der Russischen Revolution296. Eingewoben sind vereinzelte direkte und kommentierte Beschreibungen, so beispielsweise zum Selbstbewusstsein Lenins, das von ihr exemplarisch für das Selbstbewusstsein aller Kommunisten steht, und die damit verbundene Überzeugtheit von Idealen, die ihn mit der Bereitwilligkeit zum Opfer kompromisslos agieren ließen. 297 Laut Snowden ist Lenin die Umsetzung der kommunistischen Theorie zuzutrauen, da er in ihren Augen „ein scharfsinniger, dogmatischer Professor der Politik“ (the keen-brained, dogmatic professor in politics) ist.298 1.3.2.2

Lev Trockij

Im Gegensatz zu Lenin wird sein „unermüdlicher“ Kollege Trockij299 von den Delegierten nicht extra für ein Interview aufgesucht. Im Gegenteil: Trockij sucht die Abgeordneten auf. Scheinbar zufällig trifft er im Vorraum eines Opernhauses300 mit der Delegation zusammen.301 Die Faszination, die für die Delegation von diesem Mann ausgeht, spiegelt Snowden durch Beschreibung der räumlichen Aufstellung der Delegation um Trockij: „We all crowded round him eager to have the latest news from the Polish front from which he had just come and to which he was immediately returning.“ 302 Hinzu fügt sie, dass Trockij sich in Europa als der „größte Pazifist und Antimilitarist einen Namen gemacht hat“ (name and fame in Europe as the greatest of pacifists and anti-militarists)303, jedoch 295 296 297 298 299 300 301

302 303

Vgl. ebd. S. 117 f. Vgl. ebd. S. 118. Vgl. ebd. S. 119. Ebd. Ebd. S. 115. Es handelt sich um das Bol’šoj Theater zum Anlass einer Aufführung der Oper „Prinz Igor“. (Vgl. White, „British Labour“. S. 239.) „During the big interval in the first opera in Moscow, a performance of ‚Prince Igor,‘ an interesting thing happened: Trotsky came into the anteroom to see the Delegates.“ (Snowden, TBR. S. 75.) Ebd. S. 75. Ebd. – Nach Robert Service war Trockij bereits 1914 strikt gegen einen militärischen Einsatz im Ersten Weltkrieg und daher enttäuscht von anderen Sozialisten der

1.3 Russische Mitwelt

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ihre Gesellschaft nicht im „Gewand des Heiligen Franziskus von Assisi“ (not in the garb of St. Francis)304 aufsuchte. Sein Gewand an diesem Abend ist eine sehr gut sitzende Offiziersuniform.305 Auch seine Reaktion auf die Ausweisung eines der Delegierten als Kriegsdienstverweigerer deutet weniger auf Trockijs pazifistische, denn auf seine pragmatische Haltung in militärischen Angelegenheiten: „‚We can have nobody here who preaches peace and wants to stop the war.‘“ 306 Dass der Volkskommissar für militärische Angelegenheiten Trockij307 derzeit wirklich nicht als großer Pazifist wahrgenommen wird, zeigt sich an der später verlautbarten Aussage Snowdens, dass „so viele Menschen“ (so many people) ihn gemeinhin als „die Bestie Trockij“ (that beast Trotsky) bezeichneten, da ihm in Ausführung seines Amtes ein einzelnes Menschenleben nicht viel bedeutete.308 Die „hohen Ideale“ (superb ideals) und „prächtigen Ideen“ (splendid visions), die Trockij einst hatte, seien in Brest-Litovsk durch andere Akteure zerstört worden.309 Der Bekanntheitsgrad und die Wertschätzung Trockijs durch die russische Bevölkerung wird exemplarisch durch die Wiedergabe der Reaktion

304 305 306 307

308 309

II. Internationale, die für diesen stimmten. Letztlich erwuchs in ihm die Hoffnung, dass „aus der Asche des Krieges […] der Sozialismus als Retter der Menschheit aufsteigen“ würde. (Robert Service, Trotzki. Eine Biographie. Berlin 2012. S. 177.) Auch seine Position als Vertreter der Bolschewiki (neben Joffe) in den Friedensverhandlungen von Brest-Litovsk zeichnete ihn mehr als Kriegsgegner denn Kriegsbefürworter aus, obgleich sich der Frieden aufgrund der Nichtübereinkunft über den Friedensvertrag nicht leicht herstellen ließ. Im November 1917 schlugen die Bolschewiki unter Trockij den Alliierten und den Mittelmächten den Waffenstillstand vor. Es kam zu Verhandlungen mit den Mittelmächten in Brest-Litovsk, denen Trockij, als Nachfolger Adolf Joffes, ab Januar 1918 beiwohnte und die von bolschewistischer Seite „weder Krieg noch Frieden“ zum Ziel hatten. (Vgl. Curtis Feeble, Britain and the Soviet Union, 1917–89. Houndsmill [u.a.] 1990. S. 27.; vgl. auch Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949. München 2003. S. 152.; vgl. auch Service, Trotzki. S. 272.) Snowden, TBR. S. 75. Ebd. S. 76. Ebd. Nachdem Trockij 1917 den Vorsitz des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten übernommen hatte, wechselte er – nicht ganz freiwillig, vielmehr auf Drängen Lenins – im März 1918 in das Amt des Volkskommissars für Militärische Angelegenheiten. (Vgl. Service, Trotzki. S. 247, 280.) Vgl. Snowden, TBR. S. 102. Ebd. S. 77.

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des Opern-Publikums auf Trockijs Erscheinen gespiegelt: Er wird mit nicht enden wollendem Applaus gewürdigt. 310 Direkt charakterisiert Snowden ihn als „Mann von schlagender Vitalität und großen Gefühlen“ (a man of throbbing vitality and of strong feeling)311. Die Beschreibung von äußeren Merkmalen beschränkt sich auch bei Trockij auf zwei Sätze, die jedoch das Augenmerk auf seine Attraktivität legen.312 Die Trockij zugeschriebene Unermüdlichkeit313 findet Bestätigung in einem von Snowden kurz geschilderten Ereignis, in das die Delegierten involviert sind: Als sie eines Nachts aufgrund einer Autopanne außerhalb von Moskau auf Hilfe warten, erblicken sie Trockij auf dem Rücksitz eines haltenden Autos, dessen Fahrer den Delegierten jedoch mit einer Waffe gegenübertritt. 314 Hiermit wird zum einen die Rastlosigkeit und Unabdingbarkeit Trockijs untermalt, zum anderen die entschlossene Kompromisslosigkeit seiner Gefolgsleute zu seinem Schutz. 1.3.2.3

Weitere kommunistische Persönlichkeiten

Im Verlauf der Reise trifft Snowden auf weitere Politiker, deren Beschreibung sie zuweilen auf einen Satz beschränkt. Einige dieser sollen im Folgenden aufgeführt werden. Einen besonderen Platz nimmt Sverdlov 315 ein. Als Kommissar für Kommunikationswege, wird er von der Autorin als einer der fähigsten Menschen im Volkskommissariat gehalten.316 Seine Gesellschaft scheint Snowden sehr angenehm, da er hilfsbereit und aufmerksam ist. 317 Wie Trockij ist er Jude318 und der Bruder eines bekannten und jüngst verstor310

311 312

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„As soon as the great audience caught a glimpse of Trotsky it rose like one man, and with wild enthusiasm applauded its hero again and again. Naturally we rose with the rest to pay our respects to the man who was leading in his country’s battles and winning all the time. The cheers doubled and trebled. People shouted themselves hoarse. It was the most spontaneous thing I have ever seen. It was wonderful!“ (Ebd.) Ebd. S. 77. „Physically he is a remarkably fine-looking man; a Jew, dark and keen, with penetrating eyes, and a quiet manner suggestive of enormous reserves of strength. He was in an officer’s uniform, which fitted him extremely well.“ (Ebd. S. 76.) Vgl. ebd. S. 115. Vgl. ebd. S. 112. Gemäß dem offiziellen Delegationsreport handelt es sich hierbei um Benjamin M. Sverdlov (1886–1939). Vgl. Snowden, TBR. S. 124. Vgl. ebd. S. 177. Vgl. ebd. S. 124.

1.3 Russische Mitwelt

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benen Revolutionärs319. Seine Vita ist die eines russischen Sozialisten und lässt ein weiteres Mal Licht auf die zaristische Umgangsweise mit Revolutionären fallen. Auch zeigt sich an seiner Arbeitsweise exemplarisch sowohl die Aufopferung von im Amt befindlichen Revolutionären als auch die unerbittliche Konsequenz, mit der auch gegen den geringsten Ungehorsam im sowjetischen Arbeitsalltag vorgegangen wird.320 Angelika Balabanov wird als „wunderbare kleine Gastgeberin“ (brilliant little hostess) und hervorragende Sprachkünstlerin bezeichnet321, die mit ihrer Eloquenz, so es ihr erlaubt wäre, eine eigene Revolution machen würde. So verwundert es die Autorin auch nicht, dass Balabanov zur Botschafterin in Rom gemacht werden soll. Äußerlich einer Italienerin ähnlich, vermag sie mit ihrer bezaubernden Stimme die Italiener bald für den Bolschewismus zu gewinnen. 322 Dennoch offenbart auch sie fanatische Züge und so traut ihr Snowden zu, ihren besten Freund für den Bolschewismus zu opfern.323 Auch Karl Radek 324 erfährt eine direkte Charakterisierung. Er wird von der Autorin mit einem viktorianischen Gutsherrn verglichen und äußerlich beschrieben.325 An zwei Stellen innerhalb der recht kurzen Beschreibung Radeks deutet Snowden seinen Fanatismus an. Auch sagt sie, dass er ein unbegrenztes Wissen über die sozialistische Bewegung zeige326 und sein größtes Interesse der III. Komintern gelte327. 319

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Vgl. ebd. S. 124 f. – Bei diesem jüngst verstorbenen Revolutionär handelt es sich um Jakov M. Sverdlov (1885–1919). Dieser nahm eine wichtige Stellung innerhalb der revolutionären Bewegung ein, wurde 1917 zum Vorsitzenden des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei (ZK der KP) Russlands gewählt und galt als einer der Lenin am nächsten stehenden und protegierten Personen. Er starb 1919 an der Spanischen Grippe. (Vgl. Rabinowitsch, Die Sowjetmacht.) Vgl. Snowden, TBR. S. 125 f. Vgl. ebd. S. 47. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Karl Radek (1885–1939) war ein in Lemberg geborener Journalist und Sozialdemokrat. Er schloss sich 1917 den Bolschewiki an, beteiligte sich 1918/19 am Aufbau der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), wurde daraufhin verhaftet und in Abwesenheit in das ZK der KP Russlands gewählt. Er war entschiedener Anhänger Trockijs, was nach dem Jahr 1924 den Ausschluss aus allen Parteiämtern in der Sowjetunion für ihn bedeutete. (Vgl. „Radek“. In: Brockhaus Enzyklopädie. 30 Bd. Bd. 22. Leipzig [u.a.] 2006. S. 431.) Snowden, TBR. S. 119. Vgl. ebd. S. 119 f. Vgl. ebd. S. 120.

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Die amerikanische Anarchistin Emma Goldman328 wird von Snowden als sehr unglücklich in Russland wahrgenommen. Weniger fanatisch als der durchschnittliche Kommunist ist es ihr nicht erlaubt, wieder in die USA zurückzukehren.329 Im Gegensatz zu anderen, grausam und unerbittlich erscheinenden Kommunisten wirkt Goldman auf die Autorin sanft und mütterlich.330 Eine weitere Person der politischen Riege, der Snowden jedoch nicht persönlich begegnet, ist Anatolij Lunačarskij. Zweiter Hand gibt sie wieder, was sie über ihn weiß. Seine Eigenschaften gehen dem eigentlichen Namen vorweg und wieder handelt es sich bei ihm um einen Mann mit „großen Fähigkeiten“ (great ability). 331 Trotz seiner wichtigen Stellung als Bildungsminister des Landes wird über ihn gesagt, dass bezüglich der Auffassung der Gesellschaft zwei Seelen in seiner Brust schlagen: Während er einerseits romantisch verklärt an Symptomen der alten Zeit hänge, sei ihm die Notwendigkeit der mit dem Kommunismus einhergehenden Ziele bewusst.332 Den Vorsitzenden der im Dezember 1917 eingesetzten Čeka, Feliks E. Dzeržinskij 333 , den sie auch nicht persönlich kennenlernt, stellt Snowden als fanatischen Kommunisten und unverhohlenen Bewunderer Lenins dar.334

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Emma Goldman (1869–1940) war eine amerikanische Anarchistin und feministische Theoretikerin. Sie wurde aufgrund ihrer politischen Aktivitäten nach Russland deportiert. Mitte der 1920er Jahre erschienen ihre Veröffentlichungen My Disllusionment in Russia (1923) und My Further Dissilusionment (1925). Vgl. Snowden, TBR. S. 131 f. Vgl. ebd. S. 132. – Siehe auch die Wahrnehmung Snowdens durch Goldman: „Mrs. Snowden, the erstwhile suffragette, had not a word in reply. She preserved a ‚dignified‘ aloofness. However, the lady became enlivened when the speeches were over and she got busy collecting autographs.“ (Emma Goldman, My Disillusionment in Russia. New York 1923. S. 92 f.) Vgl. Snowden, TBR. S. 93. Vgl. ebd. Feliks E. Dzeržinskij (1877–1926) war ein russischer Berufsrevolutionär und im Auftrag Lenins Begründer und Vorsitzender der Čeka von 1917 bis zu ihrer Umbenennung in GPU 1921. (Vgl. Oscar Blum, Russische Köpfe. Kerenski. Plechanow. Martow. Tschernow. Sawinkow-Ropschin. Lenin. Trotzki. Radek. Lunatscharsky. Dzerschinsky. Tschitscherin. Sinowjew. Kamenew. Berlin 1923. S. 99.; vgl. „Dzeržinskij“. In: Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija. A. M. Prochorov (Hg.). Bd. 8. Moskau 1972. S. 219–220. S. 219.) Vgl. Snowden, TBR. S. 154.

1.3 Russische Mitwelt

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Sowohl Čičerin, der die Delegation in Moskau zu einem Empfang begrüßt335, als auch die Ehefrau Zinovievs finden Erwähnung. Ohne sie zu treffen erwähnt Snowden die Frau Zinovievs als Petrograder Bildungsverantwortliche; zudem weist sie sie zusammen mit Angelica Balabanov als Gründerin der III. Komintern und deren aktuelle Sekretärin aus.336 Als eine der „fähigsten Kommunistinnen“ wird „Madame Colontaj“ aufgenommen. Sie entbehrt jedoch jeder weiteren Beschreibung.337 Die Ehefrauen Lenins, Trockijs und Kamenevs finden lediglich eine namentliche Erwähnung.338 Resümee Die Vielzahl der Themen, die die Autorin in Bezug auf alltägliche und weltliche Gegebenheiten in ihrem Bericht aufgreift, spricht für ein reges Interesse an der russischen Realität. Am ausführlichsten widmet sich Snowden der politischen Situation. Generell ist die russische Welt, die Snowden darstellt, ideologisiert. In jeder noch so kleinen lebensweltlichen Facette, angefangen bei den Essensrationen für Nicht-Kommunisten bis hin zu den terrorisierenden Auswirkungen der Čeka, zeigen sich die Ausläufer von Partei und Ideologie. Es scheint, als ob diese über sämtliche Lebensbereiche des Menschen verfügen und Macht auf ihn ausübten. In der von Snowden beschriebenen Welt ist niemand sicher – weder der einzelne Einheimische noch der gelegentliche Besucher (Instrumentalisierung für Propaganda). Es ist eine Welt, die vorgibt ein Garten Eden zu werden 339, jedoch keine Garantie hierfür geben kann. Es ist eine Welt, die den Erwartungen der Autorin, gemessen an der reinen sozialistischen Lehre, nicht gerecht werden kann. Dem Kommunismus, der sich Snowden nicht nur in Form der führenden Bolschewiki zeigt, sondern auch anhand von Institutionen, steht sie zwiespältig gegenüber. So bedeutet er als logischer Schritt der sozialisti335

336 337 338 339

Vgl. White, „British Labour“. S. 239. – „Tchicherine, Commissar for Foreign Affairs, gentle by nature, artistic by temperament, uncomfortable in the whirlpool of politics as it seemed to me, and shrinking, sad-eyed, into nothing with the burden of the office unto which he was not born, turned tyrant through suffering, the instrument of less admirable men than himself.“ (Snowden, TBR. S. 126.) Vgl. ebd. S. 94. Vgl. ebd. S. 126. Vgl. ebd. S. 126 f. „a chimerical Garden of Eden“ (Ebd. S. 185.)

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schen Theorie in die Praxis für sie zwar Hoffnung auf eine bessere Welt340, doch offenbart er in der von ihr erlebten sowjetischen Realität nicht das von ihr erhoffte theoretische kommunistische Ideal. Dies zieht eine Ernüchterung auf Seiten der Autorin nach sich. Zwischen Hoffnung und Ernüchterung sich bewegend, gelingt es Snowden allerdings nicht, klar Position zu beziehen. Einerseits verurteilt sie die bolschewistischen Machthaber, die als Minderheitendiktatur einer Mehrheit ihren Willen aufzwingen, andererseits verweist sie in Bezug auf die Ursachen bestimmter wirtschaftlicher Missstände nicht selten auf internationale Einflüsse, beispielsweise die Wirtschaftsblockade der Alliierten. Vergleiche ökonomischer und institutioneller Gegebenheiten Russlands mit anderen Ländern finden sich, abgesehen von benannten Zukunftsvisionen über den politischen Weg Großbritanniens, verhältnismäßig selten. Eine Ausnahme bildet sowohl die Darstellung der hungernden Menschen in Moskau (Vergleiche mit Wien und Berlin) als auch der Erfolg demokratischer Institutionen (Sowjets) im Land (Vergleiche mit Großbritannien und den USA)341. Damit weist Snowden Russland einerseits ex negativo als wirtschaftlich rückständigen Staat aus, stellt andererseits die enge Verbindung von Ökonomie und Politik heraus. Vor dem Hintergrund der von ihr skizzierten aktuellen wirtschaftlichen Lage lässt sich schlussfolgern, dass Demokratie in Russland in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist. Topoi

Russland zeigt sich für Snowden als das Andere, das nach Übertreten des „Eisernen Vorhangs“ 342 erlebt wird. Nicht nur, dass die Menschen sich grundlegend von der britischen Bevölkerung unterscheiden, auch alltägliche Umgangsweisen (Zeit, Nahrung) und die repressive Politik erscheinen Snowden ungewohnt und unvertraut. Bereits mit der dezidierten Ausweisung der örtlichen Abgrenzung Russlands durch den „Eisernen Vorhang“, den die Delegation mit Passieren der Grenze durchschreitet, weist Snowden darauf hin, dass es sich hier um eine abgegrenzte Welt handelt. Die Andersartigkeit, die dem oben Benannten eingeschrieben ist, wird von Snowden zwiefach bewertet: Innerhalb der russischen Grenzen 340

341 342

„[...] and no loss to the world is more to be regretted than that loss of a valuable social experiment which would have shown the rest of the world what to imitate and what to avoid in its march towards a happier lot for all mankind.“ (Ebd. S. 152.) „But whatever it might be capable of doing in a highly educated, industrially efficient country like England or the United States, it does not work in Russia.“ (Ebd. S. 140 f.) Ebd. S. 32.

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mag es funktionieren und mögen die Errungenschaften der Bolschewiki auch zukünftig erfolgreich sein; als Exportgut zugunsten einer beschleunigten Veränderung des Eigenen ist es untauglich und wird als Gefahr wahrgenommen. Die Passunfähigkeit wird von Snowden als zu groß eingeschätzt. Fremdes und Eigenes und der damit einhergehende Topos des Anderen kristallisieren sich bei Snowden im Zusammenspiel ihrer Wahrnehmungsmöglichkeiten, der Charakterisierung der bolschewistischen Führungsebene und der Darstellung des täglichen Lebens. Ein weiterer Gemeinplatz bei Snowden ist Sowjetrussland als locus terribilis für den Einzelnen. Parteiliche Akte, verübt von einer Minderheit, und allgegenwärtige existentielle Not der Einwohner Russlands tragen zum Umstand der stillen Unzufriedenheit der russischen Bevölkerung bei – Kritik jedoch scheint unmöglich. Snowdens stereotype Ausweisung der russischen Bevölkerung als „passiv“ und „fatalistisch“, „nicht an Freiheit gewöhnt“343 untermauert die Möglichkeit, dass eine Minderheit erst diktatorisch vorgehen kann. Umgang mit der Fremde

Aus ihren Aufzeichnungen liest sich das Fremde als Gegenbild zum Eigenen.344 Vergleichend stellt sie die Unterschiedlichkeit Großbritanniens und Russland respektive seiner Einwohner heraus und betont die höhere Entwicklungsstufe der englischen Gesellschaft. Das eigentlich Fremde zeigt sich bei Snowden als die Umsetzung der sozialistischen Idee. Es erscheint mitunter als „Negation der Eigenheit und zwar im Sinne einer gegenseitigen Unvereinbarkeit“345. Da der Fokus dieses Deutungsmodus’ der Fremde vornehmlich auf der Grenzlinie zwischen Eigenem und Fremdem liegt, zieht er eine gegenseitige Unvereinbarkeit nach sich. Als „Ausgegrenztes“ erfüllt das Fremde die Funktion eines „signifikanten Kontrasts, der […] die Identität des Eigenen verstärken kann.“ 346 Bei Snowden erfolgt diese Grenzziehung zwischen Eigenem und Fremdem durch das explizite Aufzeigen der Errungenschaften eines demokratischen Staates (Großbritannien). Als das „Nicht-Eigene“ fungiert der Bol343 344

345 346

Ebd. S. 151. Schäffter, „Modi des Fremderlebens“. S. 15. In Schäffters Termini ausgedrückt, handelt es sich um verschiedene Ordnungen: „Ordnungen transzendenter Ganzheit“, „Ordnungen perfekter Vollkommenheit“, „Ordnungskonzepte dynamischer Selbstveränderung“ und „Konzeptionen komplementärer Ordnung“. Ebd. S. 19. Ebd.

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schewismus in seiner ernüchternden Praxis. Diese Erkenntnis setzt Snowden jenen britischen Lesern vor, die im Kommunismus um jeden Preis eine Alternative zum bestehenden System sehen wollen. Zusammenfassend zeigt sich, dass Snowden nicht nur die Darlegung des Zustandes der RSFSR intendiert, sondern auch eine weiterführende und über die bloße Beobachtung hinausgehende Deutung und Mutmaßung über künftige Entwicklungen bieten möchte. Im Gegensatz zum offiziellen Report, in dem geschrieben steht, dass sich die verantwortlichen Autoren nicht „kompetent“347 genug fühlten, bestimmte Fragen zu beantworten, traut sich die Ko-Autorin Snowden eine weiterführende Einschätzung von zukünftigen Entwicklungen zu; so beispielsweise die indirekte Beantwortung der Frage, „ob die Russische Revolution als Modell für andere Länder“ dienen soll und wenn ja, in welcher Hinsicht348. Der auf den ersten Blick wenig relevant erscheinende Hinweis Snowdens, dass in Russland Unkenntnis über den Zustand des Kommunismus in England herrscht349, untermauert die diesbezügliche Haltung der Autorin. Indem sie diese Bewertung als falsch ausweist, untergräbt sie die Autorität der Bolschewiki. Möglicherweise geschieht dies hinsichtlich starker Sympathien britischer Sozialisten für die Bolschewiki und deren Intention, den Sozialismus in Großbritannien ebenfalls auf revolutionärem Wege herbeizuführen. Snowden zählt im letzten Kapitel noch einmal dezidiert die Gründe auf, die gegen eine Übernahme des russischen revolutionären Weges in Großbritannien sprechen. In diesem Zusammenhang betont sie nachdrücklich die Unterschiede zwischen der russischen und englischen Bevölkerung, die sich gleichermaßen als Warnung verstehen lassen. 350 Damit entdeckt die Autorin ihre Angst vor unüberlegten Taten, die in eine Übernahme gleichartiger Handlungsweisen (Revolution) in Großbritannien münden könnten. Mitwelt

Die Aufzeichnungen Snowdens werden von Äußerungen über den Zustand der russischen Bevölkerung durchzogen. Diese zum Teil repetitiven Bemerkungen scheinen in ihrer verallgemeinernden Art häufig eher ein 347 348 349 350

Guest, British Labour Delegation. S. 26. Vgl. ebd. S. 25. Vgl. Snowden, TBR. S. 64, 117. „But the biggest blunder of all is made by those people who start with the assumption that Russia is like the rest of Europe, and that her people are the same as ours. It is the most fatal blunder.“ (Ebd. S. 183.)

1.3 Russische Mitwelt

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emotionaler Eindruck zu sein, denn ein Beleg für das mangelhafte Funktionieren des Bolschewismus. Um diese Haltung grundsätzlicher zu stützen, zieht die Autorin einzelne Personen heran und beleuchtet damit konkret Aktion und Reaktion von Individuum und Regierung, um so gesellschaftliche Gesamtzusammenhänge deutlicher hervorzuheben. Generell scheint Snowden mehrheitlich im Kreise von Kommunisten zu verkehren, was ihrer Funktion als Delegierte geschuldet sein mag. Sofern es sich bei den begegnenden Menschen nicht um Personen des öffentlichen Lebens handelt, werden sie von der Autorin zumeist ihrer Parteizugehörigkeit nach charakterisiert und damit kategorisiert (Communists and others). Die „Anderen“, derer es im Reisebericht nicht viele gibt, werden nicht weiter benannt. Mit jenen, die durch die Bolschewiki enteignet sowie zu deren Opfern wurden und die Snowden im Kapitel „Ghosts“ betrauert, trifft sie scheinbar mehr zufällig als intendiert zusammen351. Snowden verzichtet zumeist darauf, Gesprächspartner von Beginn an als Anhänger des Systems auszuweisen. Kritische Worte, die sie bisweilen von als Kommunisten ausgewiesenen Menschen vernimmt, bleiben somit erst einmal neutral und finden erst mit der Ausweisung ihres Sprechers als Kommunist das notwendige Gewicht. Mit der häufigen Nennung dieser innerparteilichen kritischen Stimmen offenbart sich die Unzufriedenheit von Parteianhängern mit der aktuellen Regierung. Anders als bei den einfachen Menschen handelt es sich bei den führenden Politikern um jene, die die Welt gestalten und als gesetzgebende und -ausführende Schicht Macht und Befugnisse innehaben. Sie nehmen damit maßgeblich Einfluss auf die Ordnung der Gesellschaft, der russischen Welt schlechthin. Abgesehen von durch Snowden häufig ins Feld geführte „äußere Mächte“352, die von ihr stellenweise für den verheerenden Zustand Russlands verantwortlich gemacht werden, verweist die Autorin auch auf die Schuld der Bolschewiki. An diesem Sachverhalt, an der Schuldfrage, kristallisiert sich die uneindeutige, auch kritisierte 353 Haltung der Autorin zu den bolschewistischen Machthabern. Eine Skala 351 352 353

Vgl. ebd. S. 37. Vgl. ebd. Bspw. S. 8, 181. „On one page Mrs. Snowden attributed ‚a large part of the misery of the unhappy people of Russia‘ to the Bolshevik coup d’état, and three pages later suggested that ‚the experiment in Russia might have been of the greatest possible value to the rest of the world had its purity not been sullied by civil wars and unpardonable alien aggression‘.“ (Graubard, British Labour. S. 218.)

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1 Reisendes Delegationsmitglied – Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia

ihrer Haltung zu den Bolschewiki umfasst vom „entschuldigen“ ihrer Taten mit dem Verweis auf ausländische Eingriffe354 bis zur mehrmaligen Warnung vor ihrer Grausamkeit355 vielfältige Urteile. Mehrheitlich verzichtet Snowden auf eine ausführliche äußere Beschreibung namentlich bekannter und benannter Bolschewiki. Vielmehr geht sie auf deren gesellschaftspolitische und parteiliche Funktionen sowie auf persönliche Fähigkeiten und den Kenntnisstand zu bestimmten Sachverhalten ein. Das Attribut „fähig“ (able) erscheint in diesem Rahmen als eines der bezeichnendsten Charakteristika für Parteianhänger und Kommunisten.356 Auch Fanatismus357 und das divers abgewandelte Attribut „grausam“358 zählen zu den Charaktereigenschaften der Kommunisten. Diese häufig applizierten Zuschreibungen geben mithin den Eindruck, dass allein die ideologische Prägung solcherlei Wesenszüge mit sich bringt und diese freilegt. Abgesehen von Emma Goldman und Angelica Balabanov verzichtet die Autorin auf die Angabe der Vornamen ihrer Gesprächspartner. Inwiefern diese (abgesehen von Lenin und Trockij) von den Lesern wiedererkannt werden, ist fraglich. Doch lässt diese Unschärfe in der Nennung ein Merkmal des für den Reisebericht intendierten Lesepublikums erahnen: Es ist politisch aufgeklärt. Lenin erscheint in vielen ihrer Aussagen als Inbegriff der Macht in Russland: als personifizierte Legislative (writing decrees) und Exekutive (er steht außerhalb der Čeka und ist Akteur dieser) in Einem. Als solches kann er auch in Bezug auf das Ansinnen der Regierung gesehen werden, den religiösen Gottesglauben durch den Glauben an die Partei zu substituieren und sakrale Insignien durch profane zu ersetzen: Statt einer Ikone finden sich nun Bilder von Lenin und Karl Marx an den Wänden einer jeden Schule oder eines jeden öffentlichen Gebäudes.359 Snowden tendiert dazu, diesen Strang der Darstellung – Lenin als geistiger Führer – bewusst oder unbewusst weiterzuverfolgen, wenn sie schreibt, dass man aus aller Welt nach Moskau käme, um sich das geografische und politische Herzstück dieses neuen Landes zu besehen und, als Bewunderer des „Sowjetismus“ und Verehrer Lenins, vor diesem, dem neuen „Herrn des 354 355 356 357 358 359

Vgl. Snowden, TBR. S. 152, 181. Vgl. ebd. Bspw. S. 63, 116. Vgl. ebd. S. 126, 133 f. Vgl. ebd. S. 61, 117 [Lenin und andere Kommunisten], 120 [Radek], 154 [Dzeržinskij]. Vgl. ebd. S. 60, 63, 69, 114, 116, 151, 153, 156, 157. Vgl. ebd. 104.

1.4 Literarizität in Snowdens Reisebericht

143

Kremls“ (lord of the Kremlin), niederzuknien. 360 Der Meinung eines durchaus kritischen Kommunisten nach, erfülle er den Anspruch dem jeder gute Anführer (guter Hirte, Vater) gerecht werden sollte: Er ist selbstlos (he seeks nothing for himself).361

1.4

Literarizität in Snowdens Reisebericht

1.4.1 1.4.1.1

Rhetorische Vorgehensweise Äußere Anordnung

Der kurze, elliptische Titel der Reiseschrift verweist auf eine „Bewegung“ durch das postrevolutionäre Russland. Da die zeitgenössischen Leser in der Lage waren zu erfahren, dass Snowden Teil der Britischen Arbeiterdelegation nach Russland war, erweist sich der Zusammenhang dieser Schrift mit der tatsächlichen Fahrt durch Russland als eindeutig. Das Augenmerk wird von der Autorin durch das im Titel befindliche Attribut bereits auf die politischen Gegebenheiten des Landes gelegt. Die Explosivität des Begriffs „bolschewistisch“ legt Snowden im einleitenden Kapitel en passant dar: „The word [Bolshevism] is a veritable bomb when exploded in the ears of the timid and conventional.“362 Der in 15 durchnummerierte und betitelte Kapitel sowie eine Einleitung eingeteilte Reisebericht umfasst in der dieser Arbeit zugrunde liegenden Ausgabe 188 Seiten. Der Titel des Berichts findet sich neben der Ausweisung im Schmutztitel und der Buchtitelseite abermals vor dem ersten Kapitel. Damit erfährt die nicht nummerierte Einleitung eine weitere Trennung vom restlichen Text. Die Kapitel belaufen sich auf fünf bis vierzehn Seiten. Ausgehend von der Tatsache, dass dieses Werk Snowdens komplementär zu dem im Herbst 1920 veröffentlichten Delegationsreport der Britischen Arbeiterdelegation erschien, wird die Erwartungshaltung provoziert, dass sich in ihrem Bericht weiterführende Fakten und Darstellungen zum offiziellen Delegationsdokument finden. Dies natür360

361 362

Ebd. S. 114 – Man beachte hier die scheinbare Homonymie des Wortes „lord“, die sich jedoch als Homophonie im geschriebenen Text offenbart, da Lord im Sinne von Gott als Majuskel verfasst wäre. Die klangliche Übereinstimmung führt zu einer Doppeldeutigkeit. Ebd. S. 61. Ebd. S. 10.

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lich mit dem Wissen, dass hier lediglich eine Teilnehmerin der Delegation ihre Sicht der Dinge in Russland darlegt. Die häufig elliptischen Kapitelnamen geben die Haltung einer kritischen Autorin wieder.363 Sie verweisen unterschiedlich stark und konkret auf ihren jeweiligen Inhalt. Während beispielsweise das sechste, siebte und achte Kapitel364 eindeutige Aussagen über ihren Inhalt geben, bleiben Kapitel drei und vier vage365 und damit vorerst problematisch für ein eindeutiges Verstehen. Insbesondere Kapitel drei verhält sich wie ein Fremdkörper in diesen zumeist auf Politik und Gesellschaft Russlands sowie die Reise bezogenen Themenblöcken. Märchenhaft transzendent erscheint diese Formulierung im Reisebericht und sticht somit heraus. Gleichwohl Snowden mit den Kapiteln nicht gänzlich dem ordo naturalis der Reise folgt, finden sich mitunter schon in den Titeln chronologische Anhaltspunkte.366 Während Kapitel vier als Frage formuliert ist, stellt Kapitel 13 eine Aussage dar und weist den Leser auf die Zustände in Russland hin. Auffällig ist auch die Betitelung von Kapitel 12367, da sie assoziativ die Marx’sche Phrase der „Diktatur des Proletariats“ generiert. Da eine straffe Chronologie von der Autorin scheinbar nicht intendiert war und die Anordnung der Kapitel somit auf eine größtenteils thematische Ordnung schließen lässt, lohnt sich ein genauerer Blick auf selbige. Abgesehen von den drei den Reiseverlauf andeutenden Kapiteln (2, 9, 14) widmet sich Snowden hauptsächlich politischen (5, 7, 10, 11, 12) und gesellschaftlichen Sachverhalten (1, 6, 8). Damit zeigt sich, dass das Schwergewicht des Inhalts auf den politischen Zuständen liegt. Die Autorin beginnt nach der Einleitung mit der Analyse der Lebensumstände der Bevölkerung Russlands (A Starving People). Sodann folgt ein auf die Delegation bezogenes Kapitel (Making Our Plans). Ob sich die Erwartungen, die dieses Inhaltsverzeichnis erzeugt, erfüllen, zeigt sich im Folgenden. 1.4.1.2

Innere Anordnung (Kapitelaufbau)

Der Einführung kommt eine wichtige Funktion im Reisebericht zu, da Snowden hier zum einen das Ziel der Veröffentlichung des Berichts, zum 363 364 365 366 367

Bspw. Kapitel 1 „A Starving People“, 12 „The Dictatorship of the Communists“ und 13 „The Suppression of Liberty“. Kapitel 6 „The Artistic Life of Russia“, 7 „The Military Power of Russia“, 8 „Education and Religion“. Kapitel 3 „Ghosts“, 4 „Investigation or Propaganda?“. Vgl. Kapitel 2, 9, 14. Kapitel 12 „The Dictatorship of the Communists“.

1.4 Literarizität in Snowdens Reisebericht

145

anderen das Ziel der eigentlichen Reise wiedergibt. Mit Darlegung der Ziele und Gründe für ihre Reiseschrift und auch der Fahrt nach Russland erfüllt dieses Kapitel auf Werkebene nach rhetorischen Gesichtspunkten die Funktion der „Einleitung“. Die „Lernbereitschaft des Hörers“ (in diesem Fall Lesers) wird aktiviert durch „eine kurze Aufzählung der zu explizierenden Gründe beziehungsweise ein Hinweis auf die Hauptsache“. 368 Bei aller Einstimmung des Lesers auf das „Vorzufindende“ 369 verzichtet Snowden doch auf die Offenlegung ihrer Anordnungs- und Kompositionskriterien, auch auf die namentliche Benennung der anderen Delegierten und die Erwähnung des parallel zu ihrem Bericht erscheinenden Delegationsreports. Somit ergibt sich bereits hier die Frage, warum sie zusätzlich zu diesem die Notwendigkeit einer persönlichen Darlegung der Geschehnisse verspürt. Das erste Kapitel beschränkt sich auf allgemeine Aussagen über das politische „Experiment“ in Russland, seine Verortung und seine zeitlich nah zurückliegende Revolutionsgeschichte. Die einleitenden Worte innerhalb des Kapitels dienen der Darlegung der „Hauptsache“370, der Gründe dafür, dass es sich um ein „hungerndes Volk“ handelt. 371 Bald schon kommt Snowden erstmalig zu dem Sachverhalt, der im Namen angeführt ist: die Versorgung der russischen Bevölkerung. Sie legt damit den „Fall“ aus ihrem Blickwinkel dar, schildert den objektiven Sachverhalt (narratio) in subjektiver Weise.372 Synoptisch legt sie ihre tiefe Überzeugung (I am convinced without a shadow of a doubt) dessen dar, was die russische Bevölkerung ablehnt (Krieg und Ideologie) und wonach sie sich sehnt (Frieden und Brot, Ruhe und Arbeit).373 Mit Darlegung der vielfältigen und überschwänglichen Reaktionen der Russen auf kleinste materielle Geschenke weckt Snowden das Mitgefühl des Lesers und stachelt seine Affekte an374. Mit der Gegenüberstellung der persönlichen Not einerseits und der Uneinigkeit auf ideologisch-theoretischer Ebene andererseits beendet sie dieses Kapitel.375 Damit erfüllt es zwar die Erwartungen hinsicht368 369 370 371

372 373 374 375

Göttert, Einführung in die Rhetorik. S. 31. Ebd. S. 29. Ebd. S. 31. Man beachte die Mehrdeutigkeit des Verbs „hungernd“ (starving), da es alternativ zu physischer Nahrung auch andere Objekte nach sich ziehen. So kann beispielsweise Hunger nach geistiger Nahrung formuliert werden. Vgl. Göttert, Einführung in die Rhetorik. S. 33. Vgl. Snowden, TBR. S. 17. Göttert, Einführung in die Rhetorik. S. 39. Vgl. Snowden, TBR. S. 22.

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lich des im Titel enthaltenen „hungernd“, umfasst jedoch neben der semantisch naheliegenden „Entbehrung von Nahrung“ ein weiteres Feld: Es ist nicht nur Brot, wonach die Menschen hungern, sondern auch Frieden, Arbeit, Kleidung und Ruhe, kurz: die Grundlagen für ein normales Leben. Die „Hauptsache“ des zweiten Kapitels bildet die Delegation dem Namen nach selbst. Der elliptische, in der dritten Person Plural gehaltene Name bezieht sich auf die Reisenden und ihre ideologische und gedankliche Vorbereitung auf die Reise. Snowden thematisiert hier die ihr bewussten Grenzen der menschlichen Objektivität und setzt diese in Bezug zur Herangehensweise der Delegierten an die Visite Sowjetrusslands. Dieses Kapitel gibt damit auch einen chronologischen Hinweis, da Snowden sich bei diesen „Vorüberlegungen“ auf das Kommende bezieht (with which we were soon to come to close quarters)376. Der Sprung zwischen chronologischen und achronologischen Passagen zeigt sich hier als ein Sprung zwischen ihrer Hinfahrt (Treffen mit verschiedenen Menschen in Reval) und verschiedenen thematischen Exkursen377. Mit der von einem Gesprächspartner zitierten Gleichsetzung der russischen Bevölkerung mit Kindern (ungebildet, unwissend) 378 gibt Snowden ihren Lesern bereits in diesem Kapitel ein Bild an die Hand, das diese als Deutungsvorlage bei weiteren Benennungen der russischen Bevölkerung nutzen können. Sie beendet das Kapitel mit der chronologisch konnotierten Aussage: „We were behind the ‚iron curtain‘ at last!“379 „Making our Plans“ entfaltet so zum Teil einen dem Namen gemäßen Inhalt: Es offenbart die Angabe des Vorwissens der Delegierten, ihre Zweifel und Ängste, ihre Vorurteile und Unsicherheiten in Bezug auf Russland. Durch die Einstreuung kurzer Exkurse wirkt das Kapitel heterogen. Jedoch zeigt sich, dass diese thematischen Abstecher chronologisch auf die Zeit der Hinfahrt und der Planung fallen. So zeichnet sich bereits hier ab, dass Snowden an einer stringent thematischen Aufschlüsselung nicht primär gelegen war. Anmerkungen zu bereits in Großbritannien stattfindenden Vorbereitungen fehlen. Der Schluss (‚iron curtain‘) ist keine „Anstachelung“380 im rhetorischen Sinn, vielmehr ein Neugier weckender Verweis auf das Kommende. 376 377 378 379 380

Vgl. ebd. S. 23. Vgl. ebd. S. 26 [Alkoholverbot in Russland], 27 [Stellung von Juden in der Regierung, Wiedergabe von Allgemeinplätzen über die Einwohner Russlands]. Ebd. S. 29. – Diesem Zitat setzt sie ihre eigene verallgemeinernde Einschätzung der Russen voran: „[...] plastic, passive people like the typical indolent Russian [...]“. (Ebd.) Ebd. S. 32. Göttert, Einführung in die Rhetorik. S. 39.

1.4 Literarizität in Snowdens Reisebericht

147

Das geheimnisvoll anmutende dritte Kapitel „Ghosts“ lässt sich seinem Inhalt nach chronologisch der Aufenthaltszeit in Petrograd zuordnen. Es finden sich chronologische Verweise auf die Reise 381 , thematische Exkurse382, Gespräche383 und die Noten eines Liedes384. Zum Schluss legt Snowden den großen Unterschied zwischen sich und den Bolschewiki dar. Die „Geister“, die sie sieht, beziehen sich demnach auf all jene, die sowohl unter dem Zaren als auch unter den Bolschewiki ihr Leben verloren haben. Und so schließt sie das Kapitel mit den Worten, dass „Russland voller Geister“ wäre.385 „Märtyrer“ wäre hier mithin ein treffenderer Titel, jedoch inkludiert der Begriff „Geister“ eine metaphysische Komponente, die nicht unbeachtet bleiben soll: Unsichtbar, unfassbar und nur für den sensiblen Besucher spürbar bleiben all jene Opfer des Hasses und der Gewalt weiterhin Teil dieser neuen Gesellschaft, deren Anführer aus den Erfahrungen als Opfer eines repressiven Systems scheinbar nichts gelernt haben. Mit einem allgemeinen Satz über das Schlafverhalten russischer Menschen und der für die Delegation problematischen Zeitumstellung startet Snowden in das vierte Kapitel. Erst auf der vierten Seite dieses Kapitels wird deutlich, worauf sie sich thematisch bezieht: auf den Umgang der sowjetischen Gastgeber mit ausländischen Gästen.386 Der auf den ersten Blick schwer zu kontextualisierende Titel des Kapitels erschließt sich mit dem Lesen. Es handelt sich um den Zweck, den die Delegation erfüllt. Das eigentliche Subjekt der Reise (die Delegierten) findet sich als Objekt (für die Propaganda der Regierung) wieder und ist damit ad absurdum in einem Rollentausch verfangen: Eigentliches Ziel der Delegation war es, Russland als Untersuchungsobjekt näher zu befragen. Bei aller Themenvielfalt, die sich auch in diesem Kapitel findet, handelt es sich doch um die Frage des Zwecks der Delegation für die Regierung, also um eine grundlegende Frage an die russische Regierung. Mit 12 Seiten zeigt sich das fünfte Kapitel als eines der längeren. Angefangen mit einem Exkurs über die Stellung der Presse387 führt Snowden 381 382

383 384 385 386 387

Vgl. Snowden, TBR. S. 34 f. [Beschreibung der ersten Nacht in Petrograd]. Vgl. ebd. S. 33 [russische Romanciers], 34 [Umgang mit politischen Gegnern im Zarenreich, Unterbringung in Petrograd], 35 ff. [Zwangsenteignung der besitzenden Klasse durch die Bolschewiki, Luxus im Allgemeinen], 39 [Märtyrer der Revolution]. Vgl. ebd. S. 43. Vgl. ebd. S. 42 [Lied für die gefallenen Märtyrer (Song of the Martyrs)]. Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 47 f. Vgl. ebd. S. 58, 59 f.

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1 Reisendes Delegationsmitglied – Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia

Informationen über das „rote“ Petrograd aus388. Hiermit findet eine chronologische Fixierung statt, die jedoch zuungunsten einer rhetorisch wertvollen Anordnung geschieht. Die Sachverhalte werden scheinbar willkürlich dargelegt389, jedoch hängen sie weitestgehend mit den Akteuren des Kommunismus zusammen. Dieses namentlich ein großes Thema umfassende Kapitel dient daher in seinen weiten Grenzen als Sammelbecken für vielerlei Gedanken und Sachverhalte zum Kommunismus. Einführend in das sechste Kapitel erwähnt die Autorin die schlechte Versorgungslage der russischen Bevölkerung und steigt in dieses konkret bezeichnete Kapitel klar vom Thema abweichend ein. Jedoch zieht sie mit diesem negativen und erschütternden ersten Satz die Aufmerksamkeit des Lesers an sich. Im Vergleich zur Versorgungslage stellt Snowden nun die Beschaffenheit des russischen Kunstlebens dar. 390 Obwohl dieses Kapitel heterogen erscheint, bleibt es thematisch immer auf Kunst und seine institutionellen Ausläufer fokussiert und erfüllt damit die Erwartungen, die der Titel erzeugt. Im siebten Kapitel über die militärische Macht Russlands nimmt Snowden eine zukunftsweisende Hoffnung auf, dass nämlich bei Drucklegung ihrer Reiseschrift bereits Frieden zwischen Russland und Polen herrschen werde. 391 Mit Bezug auf die strenge Disziplin innerhalb der militärischen Truppen gibt Snowden ihr Wissen über Trockij preis, der von „so vielen Menschen, darunter auch viele Kommunisten“ (so many people, including many Communists) als „die Bestie Trockij“ (that beast Trotsky) bezeichnet würde.392 Hiermit weist sie noch einmal auf den Gegenstand des Kapitels hin und rührt mit dieser kursierenden Bezeichnung Trockijs an die Affekte des Lesers.393 Das Kapitel zeigt sich thematisch 388 389

390 391

392 393

Vgl. ebd. S. 60 ff. Vgl. ebd. Bspw. S. 62 ff. [Gedanken über Kommunisten], 65 f. [ausführlichere Beschreibung des ersten öffentlichen Meetings der Delegierten], 67 f. [Missverständnis über Mission der Delegierten], 68 [Gedanken über Methoden zur Erringung des Ziels „Sozialismus“ und Gründe für die konsequente Umsetzung der Theorie]. Vgl. ebd. S. 70. Der russisch-polnische Krieg begann im April 1919 mit dem Vorstoß polnischer Truppen „in die kurz zuvor proklamierte Litauisch-Weißrussische SowjetRepublik“ und fand sein Ende mit dem „Rigaer Vorfrieden“ im Oktober 1920, der im förmlichen Friedensvertrag von Riga im März 1921 bestätigt wurde. (Vgl. Michael G. Müller, „Russisch-polnischer Krieg“. In: Historisches Lexikon der Sowjetunion 1917/22 bis 1991. Hans-Joachim Torke (Hg.). München 1993. S. 276–277. S. 276.) Snowden, TBR. S. 92. Vgl. Göttert, Einführung in die Rhetorik. S. 39.

1.4 Literarizität in Snowdens Reisebericht

149

recht homogen dem Militär gewidmet und speist seine Informationen aus vorhandenen oder neu gewonnenen Erkenntnissen. Das folgende achte Kapitel besticht bereits mit seinem Titel. Es verspricht die Behandlung zweier gesellschaftlich institutionell verankerter, jedoch einander nicht zwingend ergänzender Themenfelder. Indem die Autorin die Strategien der Kommunisten, den religiösen Glauben durch den ideologischen zu ersetzen, aufdeckt, findet im Schluss des Kapitels eine Verbindung beider Themen statt.394 Hier zeichnet sie mit dem Vergleich der Inquisition und der Čeka ein aufrüttelndes Bild, das nicht die zusammenfassenden Anforderungen an einen Schluss erfüllt, jedoch als letzte Aussage eine eindrucksvolle Wirkung entfaltet. In den zeitlichen Reiseverlauf reiht sich das neunte Kapitel ein. Es stimmt den Leser mit dem ersten Satz auf eine Beschreibung der Stadt ein. Vorfindlich sind in diesem Kapitel jedoch erst einmal retrospektive Reflexionen über Petrograd 395 , bevor dann abermals ein „Auf nach Moskau“ ertönt und nun eine Beschreibung des Empfangs in dieser Stadt und ein Eindruck der äußerlich und innerlich-ideologischen Einstellung der Stadtbewohner gegeben wird 396 . Für einen elftägigen Aufenthalt findet sich hier verhältnismäßig wenig über Gegebenheiten dieser „wahren russischen Stadt“. Freilich jedoch bleibt die Stadt Moskau in allen behandelten Sachverhalten des Kapitels das „Gesetzte“, das Thema397. Mit den anschließenden Anmerkungen, dass Moskau Regierungssitz ist, gliedert sich auch das zehnte Kapitel chronologisch in die Fahrt ein. „Ein Interview mit Lenin“, das im Kreml stattfindet398, ist dafür geschaffen, Spannung und Interesse zu erzeugen. Lenin, als der Kopf der Russischen Revolution und des postrevolutionären Russlands, wird in diesem Kapitel als Thema vorgegeben. Das Kapitel enttäuscht jedoch hinsichtlich dieser Erwartung. Somit scheint der Titel „Interview mit Lenin“ mehr als Aufhänger zu dienen und das Kapitel dazu, neben Lenin auch andere Akteure der Macht darzustellen. Lenins Person erfährt damit eine Relativierung in den Kreis anderer, ebenso wichtiger kommunistischer Mitgestalter. Ein weiteres Mal treten die „Kommunisten“ in einem Kapitelnamen des Reiseberichts auf. Hier zieht Snowden eine klare Grenze zwischen 394 395 396 397 398

Vgl. Snowden, TBR. S. 104. Vgl. ebd. S. 105. Vgl. ebd. S. 106 f. Wilpert, Sachwörterbuch. S. 829. [Thema] Vgl. Snowden, TBR. S. 116.

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„Kommunisten und anderen“. Der Titel impliziert die Frage, um wen es sich bei den „Anderen“ handelt. Unerwartet startet Snowden dieses Kapitel mit einer kurzen quantitativen Aufzählung der bäuerlichen Bevölkerung in Russland und leitet damit auf das die nächsten Seiten führende Thema hin: ein Besuch beim Tolstoj- und Bauernfreund Čertkov.399 Zu erwähnen ist, dass in der vorliegenden Ausgabe die Kapitelüberschrift im Inhaltsverzeichnis mit „Talks with Communists and Others“ angegeben wird, auf den eigentlichen Seiten des Kapitels jedoch nur noch „Communists and Others“ lautet. Mag dies aus typografischen Erfordernissen erwachsen sein, so evoziert es doch eine grundlegende Veränderung der Erwartungshaltung des Lesers. Der ursprüngliche Titel impliziert die aktive Partizipation einer Augen- und Ohrenzeugin (Talks with...) in Interaktion mit den „Kommunisten“. Die innerhalb des Kapitels vorfindliche Überschrift verweist nur noch auf die „Beschreibung“ beziehungsweise Darstellung der „kommunistischen und anderen“ Objekte (Communists and Others). Wer die anderen sind, kann nur empirisch anhand der dargestellten Personen eruiert werden: Es handelt sich um Menschen, die der kommunistischen Idee aus teils benannten, teils unbenannten Gründen kritisch gegenüberstehen oder unwissentlich zu Gegnern des Systems wurden. Das zwölfte Kapitel führt abermals das Wort „Kommunisten“ im Titel. Vermeintlich geht es nun um die Diktatur derselben. Snowden eröffnet das Kapitel mit der grundsätzlichen Frage nach dem Erfolg demokratischer Prozesse in Russland durch die Sowjets (Räte)400. Mit diesem Aufhänger evoziert sie Interesse. Die Antwort auf die Frage inklusive einer Erklärung liefert die Autorin prompt: Das demokratische Rätesystem (Sowjets) funktioniert nicht. 401 Persönlichen Reflexionen über Umgang und Möglichkeiten von Demokratie folgt ein abschließender Appell an die Leser, die sie als ihresgleichen bezeichnet (and for ourselves)402. Es ist dies ein Appell an die englische Bevölkerung, sich über den Wert ihrer gesellschaftlichen Errungenschaften bewusst zu werden. Thema des Kapitels ist die demokratische Teilhabe der zivilen Bevölkerung – die Snowden sowohl am Beispiel der Sowjets als auch der Gewerkschaften als mangelhaft ausweist. Der abschließende Appell wirkt wie eine Handlungsmotivation für die englischen Leser, einen gewaltlosen, nicht399 400 401 402

Vgl. ebd. S. 128 ff. Vgl. ebd. S. 140. Vgl. ebd. S. 141. Ebd. S. 153.

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revolutionären Weg zum Sozialismus auf Basis einer demokratischen Ordnung einzuschlagen. Auf das Kapitel „The Dictatorship of the Communists“ folgt „The Suppression of Liberty“. Snowden beginnt das Kapitel mit Ausführungen über die Čeka und ihren Vorsitzenden403 und schreibt exemplarisch über die Auswirkungen dieser Außerordentlichen Kommission in der Bevölkerung404. Vorerst führt sie Informationen zweiter Hand über die Handlungen dieser Sonderkommission an405 und richtet sich hernach mit diesem Wissen in einem persönlichen Gespräch an einen offiziellen ČekaMitarbeiter. Die vermutliche Falschaussage dieses Mitarbeiters wird zum einen von der verzweifelten Reaktion der „unabhängigen Dolmetscherin“ in direkter Rede in Snowdens Aufzeichnungen flankiert, zum anderen von einer von Snowden als „verlässlichen“ (credible), außenstehenden Person widerlegt. 406 Untermauert wird die willkürliche Herrschaft nachfolgend auch noch durch Darlegung eines Schicksals, von dem Snowden zweiter Hand berichtet.407 Damit legt sie die „Hauptsache“ bereits zu Beginn dar und untermauert diese mit Informationen aus dem Gespräch mit einem Sprecher der Čeka408, womit sie einen weiteren Beweis für Russlands repressives System entdeckt 409 . Thematisch korrespondiert dieses Kapitel mit dem vorhergehenden und unterstützt einmal mehr die Vermutung einer systematischen Unterdrückung der Menschen durch die regierenden Kommunisten. Ein expliziter Verweis auf das zwölfte Kapitel erfolgt nicht. Das vorletzte Kapitel widmet sich wieder chronologisch der Russlandfahrt: Nach einem Besuch in Petrograd und Moskau begibt sich die Delegation auf eine „schätzungsweise“ (it was estimated)410 sechstägige Dampfschifffahrt entlang der Wolga411. Obwohl das Kapitel oberfläch403 404 405 406 407 408 409 410 411

Vgl. ebd. S. 154, 156. Vgl. ebd. S. 155 f. Vgl. ebd. S. 156. Vgl. ebd. S. 156 ff. Vgl. ebd. S. 157. Vgl. ebd. S. 157 f. Vgl. ebd. S. 159 f. Ebd. S. 164. Snowden erwähnt, dass eine Fahrt auf der Wolga vor dem Krieg als eine der großartigsten Erfahrungen des reichen Reisenden galt. (Vgl. ebd. S. 166.) Auch Heeke äußert sich, dass in dem von ihm untersuchten Zeitraum (1921–1941) eine „Tour auf der Wolga – insbesondere im mittleren Teil […] zu den geläufigeren Reiserouten“ zählte. (Vgl. Heeke, Reisen zu den Sowjets. S. 243.) Die Fahrt der Delegation sollte eigentlich sechs Tage dauern und von Nižni Novgorod nach Saratov gehen. Aufgrund von

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1 Reisendes Delegationsmitglied – Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia

lich betrachtet auf die „glücklichen“ (happy)412 Tage auf der Wolga fokussiert ist, führt Snowden die bereisten Orte nicht dem Reiseverlauf entsprechend an. Geografisch besehen passierte Snowden auf ihrer Fahrt gen Süden erst Nižni Novgorod, dann Kazan’, Samara und schließlich Saratov. Aufgrund der Erkrankung eines Delegierten fährt sie von Saratov weiter nach Astrachan und die gleiche Strecke auf dem Schiff zurück nach Saratov. Demnach passierte sie diese Stadt zweimalig. Diese eigentliche Reiseroute spiegelt sich nicht in ihrem Reisebericht wider.413 Das Kapitel hält sich damit nur thematisch, nicht jedoch chronologisch an die Orte, die sie während der Wolga-Schifffahrt passiert. Chronologisch bleiben nur Anfang (Start der Schifffahrt) und Ende des Kapitels (Erwähnung der baldigen Rückfahrt nach England). Der innere Kapitelzusammenhalt geschieht durch willkürliche Exkurse zu unterschiedlichsten Themen. Der Name des letzten Kapitels beinhaltet mit „Zukunft“ eine zeitliche Komponente, die sich auf das Land generell bezieht und evoziert die Erwartung der Darlegung weiterer Fakten über Russland. Stattdessen handelt es sich um ein persönliches Resümee der Autorin über die Reise, unter Hinzunahme der Meinung anderer Delegierter. Snowden wirft einen Blick zurück, indem sie, anhand ihrer Reiseerfahrungen, sowohl die Regierung, das „russische Experiment“ und die Bevölkerung Russlands beurteilt. 414 Dieser „Ausblick als Rückblick“ kann als das Fazit Snowdens zur Reise gesehen werden. Zusammenfassend stellt sie politische Gegebenheiten heraus und positioniert sich dazu. Auch die Involvierung der englischen Arbeiter und das Aufzeigen ihrer verhältnismäßig vorteilhafteren Situation deutet auf Snowdens Intention hin, einen emotionalen und prägnanten Schlusspunkt zu setzen, der abermals die Leser von der Relevanz eines evolutionären Ansatzes überzeugen soll. Dieses Kapitel offenbart mehrheitlich die Haltung der Autorin zu den russischen Gegebenheiten: Mit dem hier vorfindlichen Resümee über die Errungenschaften der britischen Demokratie, das Snowden ihren Erfahrungen in Russland gegenüberstellt, weist sie den

412 413 414

Krankheit sind einige der Teilnehmer genötigt, bis zur Flussmündung in Astrachan weiterzufahren. Snowden scheint dazuzugehören, da sie ihre persönlichen Eindrücke der Stadt Astrachan schildert. Vgl. Snowden. TBR. S. 172, 177. Die Städte werden in der Reihenfolge Nižni Novgorod, eine Stadt nahe Astrachan’, Samara, Saratov, Kazan’, Astrachan’ besucht. Vgl. ebd. S. 181 ff.

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Lesern ihres Heimatlandes als Augenzeugin eine Alternative zum russischen Weg. Betrachtet man die im gesamten Bericht häufig kritischen Worte zur praktischen Umsetzung des Sozialismus, findet in diesem letzten Kapitel eine Kulmination des pazifistischen Grundgedankens der Autorin statt. Es liegt nicht fern, dieses Kapitel daher als Warnung zu verstehen. 1.4.1.3

Selektion

Die Unmöglichkeit, alle Erfahrungen eines Tages respektive der Reise in einen Reisebericht aufzunehmen ist ursächlich für einen individuellen Selektionsvorgang. Für nicht anwesende Außenstehende kann sich dieser nicht erschließen, sofern die Auslassungen nicht vom Autor selbst thematisiert werden oder ein Dokument zum Abgleich vorliegt. Zweiteres ist der Fall bei Snowden: Der offizielle Delegationsreport soll im Folgenden dazu dienlich gemacht werden, nach Lücken in Snowdens Reisebericht zu suchen und die Ursachen dafür zu ergründen. Vorangestellt sei, dass sich die Delegierten zeitweilig in kleineren Gruppen oder einzeln unterschiedlichen Besuchen und Besichtigungen widmeten 415 . Für den letztlichen Delegationsreport bedeutete das den Versuch, die Anzahl an Erkenntnissen zu erhöhen. Somit war auch Snowden nicht an jedem persönlichen Besuch beteiligt. Und doch lässt sie in ihren Bericht Informationen einfließen, die ihr von anderen Delegierten zugetragen wurden. Sie markiert diese Stellen, nennt jedoch nicht den konkreten Urheber.416 Generell zeigt ein Vergleich des Delegationsreports mit Snowdens Schrift, dass die im Report benannten Sachverhalte weitestgehend auch von Snowden thematisiert wurden. Die größten Unterschiede liegen in der quantitativen Ausgestaltung der Themen, kleine Unterschiede in der Qualität. So steigt der offizielle Report mit der Anführung der generellen „Untersuchungsbedingungen“ (Conditions of Inquiry)417 ein, legt damit in allgemeiner Art offen, welche Orte aufgesucht wurden und mit welchen politischen Anhängern die Delegierten in Kontakt kamen. Ergänzt wird diese Beschreibung durch eine am Ende des Sammelreports angegebene

415

416 417

Stephen White schreibt hierzu, dass beispielsweise das Delegationsmitglied Robert Williams die Verkehrsvereinigung (transport union) besucht und Turner einem Treffen von Textilarbeitern beiwohnt. (Vgl. White, „British Labour“. S. 240.) Vgl. Snowden, TBR. S. 162. Guest, British Labour Delegation. S. 5 f.

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Auflistung der besuchten Orte418 sowie der interviewten und getroffenen Personen419. Snowden benennt die hier aufgelisteten Personen zwar größtenteils auch, behält sich aber eine einführende Ordnung und Aufschlüsselung vor und so tauchen sie in ihrem Reisebericht scheinbar willkürlich in den einzelnen Kapiteln auf. Der Delegationsreport klärt auch darüber auf, dass die Delegation sehr wohl mit Nicht-Kommunisten zusammentraf (Abgeordnete anderer Parteien, Akademiker und Vertreter des Bürgertums und des Adels). Bei Snowden wird außer Čertkov keiner dieser „Anderen“ namentlich erwähnt. Dies ist vor allem auffällig bei Prinz Kropotkin, den Snowden zwar in einem anderen Kontext in ihrem Bericht anführt, aber darauf verzichtet zu erwähnen, dass es eine Zusammenkunft mit ihm und der Delegation gab. Während der Delegationsreport beispielsweise dem Zustand des Wohnungswesens 420 , der Arbeit 421 , Frau und Familie 422 und vor allem dem Frauenreferat der Kommunistischen Partei 423 ein eigenes Kapitel widmet, werden diese Themen von Snowden zwar angesprochen, jedoch in weitaus kleinerem Umfang, geschweige denn in eigenen Kapiteln thematisiert. Wie zuvor untersucht, lassen die meisten der kurzen elliptischen Kapitelnamen vielerlei Assoziationen zu und können damit als Sammelbecken für diverse Inhalte dienlich gemacht werden. Dies spricht dafür, dass es Snowden – vielleicht auch, um sich vom offiziellen Report abzusetzen – weniger um eine klare faktische Darlegung, denn um die persönliche Sichtweise geht. Diese wird individuell angeordnet und mit Titeln versehen. 418

419

420 421 422 423

„Astrakhan, Borisov (near), Dmitri, Ilinskaia-Pust, Kamyschin, Kazan, Markstad (formerly Baronsk), Moscow and surrounding country, Nijni-Novgorod, Novodzevichies, Petrograd, Samara and villages in province, Saratov, Simbirsk, Smolensk, Timounievka, Tsaritsyn, Razan, Vladimirovka, Yambourg.“ (Ebd. S. 149.) „List of Persons Interviewed: People’s Commissars [Chicherin, Kristinsky, Lenin, Lunacharski, Milutin, Semasko, Sereda, Sverdlov, Schmidt, Trotski, Tzupura, Xenofontoff], Political Parties […], Representatives of other political parties were also seen […] Numerous representatives of Soviets of towns, villages and provinces visited […] Members of the Committee were also seen […] A very large number of private persons were seen, including Prince Kropotkin, M. Tchertkoff, M. Belmont, M. Cheliapine and many others representing the professional classes and many of the former bourgeoisie and nobility.“ (Ebd. S. 149 f.) Vgl. ebd. S. 7. Vgl. ebd. S. 17–19. Vgl. ebd. S. 20 f. Vgl. ebd. S. 21.

1.4 Literarizität in Snowdens Reisebericht

155

Vor dem Hintergrund, dass die Autorin eine langjährige Kämpferin für Frauenrechte war, ist es besonders verwunderlich, dass sie Themen zur Gleichstellung der Frau übergeht. Bis auf einen kurzen Exkurs über die „Nationalisierung der Frau“ und der generellen Situation der Ehe in Russland 424 nimmt sie keine weiteren diesbezüglichen Daten auf. Bei allen ökonomischen Schwierigkeiten konnten die russischen Kommunisten für sich verbuchen, sich ernsthaft um die Auflösung der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Frau und damit um ihre Emanzipierung aus den tradierten Rollen bemüht zu haben. Dies zeigte sich u.a. bereits im Dezember 1917 an der Anwendung vereinfachter Scheidungsgesetze sowie der Garantie des Arbeitsplatzes bei Schwangerschaft und Einführung einer Mutterschutzzeit. 425 Snowden unterlässt eine Erwähnung dieser Tatsache. Fraglich bleibt in diesem Rahmen, weshalb Snowden Alexandra Kollontaj 426 zwar lobend erwähnt427 , aber kein persönliches Gespräch mit ihr sucht, obgleich sie doch, u.a. auch in ihrer Position als Volkskommissarin für Gesundheit, die führende Rolle in der Diskussion um Frau und Familie in Russland spielte.428 Auch war Kollon-

424

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Vgl. Snowden, TBR. S. 172 f. – Die Lockerung der ehelichen Gemeinschaft und vereinfachte Scheidungsmodalitäten, die nach der Revolution insbesondere in Städten auf großen Zuspruch stießen, fanden in ländlicheren Gegenden weniger Anklang. Vielmehr sorgten sie, auch durch eine zähe Informationspolitik für die Entstehung von Gerüchten. Eines davon verunsicherte besonders, da es vorgab, man wolle „den obligatorischen Gemeinbesitz an Frauen einführen“. (Vgl. Françoise Navailh, „Das sowjetische Modell“. In: Geschichte der Frauen. Françoise Thėbaud (Hg.). Frankfurt a. M. [u.a.] 1995. S. 257–289. S. 270.) Vgl. Navailh, „Das sowjetische Modell“. S. 259. Aleksandra M. Kollontaj (1872–1952) war eine sowjetische Politikerin und Diplomatin. Während ihrer Emigrationszeit (ab 1908) in Westeuropa war sie aktive Akteurin in der sozialdemokratischen Bewegung. Sie nahm als Delegierte an den internationalen Sozialistenkongressen in Stuttgart (1907), Kopenhagen (1910) und Basel (1912) teil. Nach der Februarrevolution 1917 kehrte sie nach Russland zurück und wurde dort noch im gleichen Jahr in das Allrussische Zentrale Exekutivkomitee (Vserossijskij Central’nyj Ispolnitel’nyj Komitet, kurz: VCIK) gewählt. Ab 1920 war sie Leiterin des Ženotdel und von 1921 bis 1922 Sekretärin des Internationalen Frauensekretariats der Komintern. Sie war die weltweit erste weibliche Botschafterin und als solche in Norwegen (1923–1926, 1927–1930), Mexiko (1926/27) und in der Schweiz (1930– 1945) tätig. Ab 1945 war sie im Außenministerium der UdSSR beschäftigt. (Vgl. „Kollontaj“. In: Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija. A. M. Prochorov (Hg.). Bd. 12 (1973). Moskau 1970–1981. S. 437.) Vgl. Snowden, TBR. S. 126. Vgl. Navailh, „Das sowjetische Modell“. S. 261.

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taj im Jahr 1920 Vorsitzende des Ženotdel 429 , der Frauensektion im Zentralkomitee. 430 Einer vergleichbaren Institution in Großbritannien, der Frauenabteilung (Women’s Section) der Labour Party, die sich für die Gleichberechtigung der Frau einsetzte und mit dem Parliament Qualification Act von 1918 jüngst ins Leben gerufen wurde, gehörte Snowden an.431 Obwohl in diesem Rahmen im offiziellen Report darauf hingewiesen wird, dass der Staat „alle Unterschiede zwischen legitimen und illegitimen Kindern“432 abgeschafft hat, geht Snowden darauf nicht ein. Weder der Delegationsreport noch Snowden geben Hinweise darauf, wie mit Hilfebedürftigen umgegangen und in welcher Art und Weise für die Erholung der Arbeiter gesorgt wird – zwei Punkte, die die positiven Errungenschaften des bolschewistischen Systems hervorgehoben hätten. Bei allen Ausführungen über die Sowjets und die demokratischen Gegebenheiten verzichtet die Autorin darauf, diesen, durch persönliche Erfahrungen geprägten und determinierten Blick aufzuzeigen. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass Snowdens Fokus ein anderer war. Es war ihr nicht primär daran gelegen, alle erlebten und zugetragenen Errungenschaften und Mängel des Systems zu offenbaren. Hierfür konnte der offizielle Delegationsreport zu Rate gezogen werden. Sie verfolgte das Ziel, die Auswirkungen einer weithin von ihr wahrgenommenen repressiven Politik darzustellen – inklusive einer Deutung und Begutachtung auf Tauglichkeit im britischen Kontext.

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430 431

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Die sogenannte Frauensektion (Ženskij otdel, kurz: Ženotdel), die 1919 auf parteilichen Beschluss eingerichtet wurde und auf allen parteilichen Ebenen partizipierte, sollte der „Erziehung der Frau im kommunistischen Geiste“ dienen. Alexandra Kollontaj war die erste Vorsitzende dieser Institution. Das Aufgabenfeld dieser Einrichtung umfasste u.a. den Aufbau des Komitees zur Hilfe Kranker und Verletzter der Roten Armee, Angelegenheiten der Essensversorgung und Einrichtung von Internaten für Kinder. Die Sektion existierte bis ins Jahr 1929. (Vgl. „Ženotdel“. In: Bol’saja Sovetskaja Enciklopedija. A. M. Prochorov (Hg.). Bd. 9. Moskau 1972. S. 169.) Vgl. Navailh, „Das sowjetische Modell“. S. 265. Vgl. Anne-Marie Sohn, „Zwischen den beiden Weltkriegen. Weibliche Rollen in Frankreich und England“. In: Geschichte der Frauen. Françoise Thėbaud (Hg.). Bd. 5. Frankfurt a. M. [u.a.] 1995. S. 111–139. S. 135; vgl. Cross, Philip Snowden. S. 168.; Auf die Vergleichbarkeit beider Institutionen verweist auch der offizielle Delegationsreport: Guest, British Labour Delegation. S. 21. Ebd.

1.4 Literarizität in Snowdens Reisebericht

1.4.1.4

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Verwendung von rhetorischen Stilmitteln

Rhetorische Mittel setzt Snowden mehrheitlich zur Unterstützung und Verbildlichung von im Reisebericht kundgetaner Erfahrungen und Meinungen ein. Eine Auswahl des zu unterschiedlichen Zwecken genutzten Sprachschmucks soll im Folgenden, geordnet nach Tropen, Wortfiguren, Sinnfiguren und Wortfügungen, beleuchtet werden. Insbesondere zur Darlegung des Kommunismus und seiner institutionellen und gesellschaftlichen Ausprägung, bedient sich Snowden an Metaphern. An sieben Stellen betitelt Snowden die Umsetzung kommunistischer Ideen als „Experiment“, ergänzt durch „russisches“, „in Russland“ oder auch „soziales“.433 Nicht nur ihr, sondern auch anderen Menschen scheint diese Metapher geläufig, was Snowden mit der wortwörtlichen Wiedergabe der Aussage eines Russen unterstreicht. Das Wort „Experiment“ evoziert Bedeutungsinhalte wie „Wagnis“ und „Risiko“ sowie „Nachweis“434 und verweist damit als Metapher auf die (erwarteten) Unsicherheiten, die mit dem in die Praxis umgesetzten Sozialismus einhergehen. Moskau nimmt als Ort die Bedeutung einer Schaltzentrale ein, wenn Snowden unter Nutzung einer Variatio darlegt, was es alles ist: Es ist das „Hauptquartier der Regierung“, „das Heim der Kommissare“ und „Sitz des erstaunlichsten Experiments, das die moderne Welt je sah“. 435 Mit dem Verweis darauf, dass „dort in Moskau Fehler gemacht wurden“ setzt sie diesen Ort in einen metonymischen Zusammenhang.436 In metonymischer Manier erscheint auch das Wort „Brot“, einerseits bereits im ersten Kapitel, wo Snowden angibt, was die russische Bevölkerung wirklich will: „Frieden und Brot“ 437 ; auch in Snowdens abschließender Einschätzung des britischen Arbeiters.438. In beiden Fällen scheint es pars pro toto für Nahrung im Allgemeinen zu stehen. In litotischer Darstellung veranschaulicht die Autorin die schwierige Anpassung an die dreistündige Zeitverschiebung gen Osten, indem sie 433 434 435 436 437 438

Vgl. Snowden, TBR. S. 9, 14, 23, 114, 135, 152. Catherine Soanes (Hg.), Oxford English Dictionary. Oxford 2002. S. 287. [Experiment] Snowden, TBR. S. 114. Vgl. ebd. „The people of Russia want peace and bread, peace that will last and bread that they can eat.“ (Ebd. S. 17.) „He knows there are even greater things in the world than bread and meat, important though these things be.“ (Ebd. S. 185.)

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schreibt, dass die Delegierten untereinander des Öfteren Bestätigung darin suchten, dass es „wirklich erst Mitternacht wäre“.439 Hyperbolisch wird die Macht der Čeka von Snowden abgebildet. So gäbe es niemanden in Russland außer Lenin, „der keine Angst vor ihr hätte“440. Dies wird noch einmal bestätigt durch die verallgemeinernde und damit absolute Aussage, dass dies „überall und die ganze Zeit so ist“: „And so it is everywhere and all the time. The people are afraid of the police and spies, the spies are afraid of one another.“441 Hyperbeln sind zudem ein von Snowden gern genutzter Wortschmuck, wenn es darum geht, die Freude von Russen über abgetragene Kleidung442 darzulegen, denn „von Petrograd bis Astrachan gab es ganz sicher nicht einmal 100 Menschen“ (From Petrograd to Astrakhan I am quite sure that not a hundred people […].)443, die nicht in heruntergekommener Kleidung angetroffen wurden. Auch die hygienischen Gegebenheiten in ihrem Moskauer Hotel 444 und die Polarisierung, die der Kommunismus mit sich führt445, stellt Snowden rhetorisch geschickt anhand einer Übertreibung dar. In metonymisch-hyperbolischer Manier beschreibt sie, dass es nicht die Gewehrkugeln wären, die für einen Sieg in den Kriegsgräben gesorgt hätten, sondern die Propagandaflyer der Bolschewiki446.

439 440 441 442 443 444 445 446

Ebd. S. 45. Vgl. ebd. S. 156. Ebd. S. 161. Vgl. ebd. S. 22. Ebd. S. 20. „I give my word, there are more crawling things in that Moscow hotel than I had imagined were contained in the whole universe!“ (Ebd. S. 107.) „The friendships of a lifetime are being broken in fruitless efforts to prove either the faultlessness or the folly of the theory of Communism.“ (Ebd. S. 13.) „I am quite convinced from my own observation that they have won their victories on the battlefield far more through their leaflets than their bullets.“ (Ebd. S. 52.) – Obgleich Snowden diese Information ironisch konnotiert und sie als Fazit ihrer eigenen Erfahrungen mit „bolschewistischen Propagandisten“ zieht, hat sie nicht Unrecht damit. Es war Lenins Plan, noch vor der Revolution im Oktober 1917 eine gründliche erzieherische Propaganda unter den Soldaten zu verbreiten. Ihnen müsse „der organische Zusammenhang zwischen dem Kapitalismus und dem imperialistischen Krieg“ vor Augen geführt und die Erkenntnis vermittelt werden, „daß ohne die Niederwerfung des Kapitalismus ein demokratischer Friede nicht zu erreichen ist“. (Vgl. Ulam, Rußlands gescheiterte Revolutionen. S. 420.) Dieses Argument sollte an der Front propagandistisch verbreitet werden, mit der praktischen Zielsetzung, die Soldaten zur Verbrüderung mit den Deutschen und Österreichern zu veranlassen, die ihnen in den Schützengräben gegenüberlagen. (Vgl. ebd.)

1.4 Literarizität in Snowdens Reisebericht

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Petrograd wird personifiziert, indem Snowden konstatiert, dass „das rote Petrograd, sehr stolz auf seinen Namen“ (Red Petrograd is very proud of its name.)447 sei. Die sowjetische Nationalhymne, „Internationale“, nennt Snowden pejorativ „ausgeleiertes Liedchen“ (overworked ditty)448. Als Kyklos stellt sich die Wiederholung des Wortes „ghosts“ im gleichnamigen Kapitel dar: Das Kapitel beginnt in Form der Überschrift mit diesem Wort 449 und endet mit eben diesem (Russia is full of ghosts.)450. Vielleicht eher zufällig umschließt Snowden dieses Thema, doch erweckt sie damit den Anschein, den Leser bei aller Heterogenität des Kapitels auch am Ende noch einmal darauf hinzuweisen, worum es ihr darin eigentlich ging. Die von Snowden an manchen Stellen eingesetzte Wiederholung bestimmter Wörter und Wortgruppen dient der Festigung eines Gedankens oder der Wiederaufnahme, manchmal auch einfach nur als ausschmückendes Element. So findet sich die im zweiten Kapitel anfänglich negativ konnotierte Bezeichnung der Delegierten selbst als „Cook’sche Touristengruppe oder Königliche Familie“ 451 am Ende desselben Kapitels wieder. Obzwar unterschiedlich kontextualisiert, offenbart sich auch hier wieder die Abstufung zwischen dem „Cook’schen Touristen“ und der „Königlichen Familie“. 452 Jedoch scheint das Spiel mit diesen Vergleichen keinem weiteren Ziel zu dienen, denn einzig dem Schmuck der Rede. Mit Nachdruck hingegen erscheint die zweimalige Wiederholung, dass es der „größte Fehler“ (biggest blunder) sei, Russland und seine Bevölkerung anderen „europäischen Ländern“ gleichzusetzen. 453 Die Wortgruppe „Off to Moscow“ findet im Kapitelnamen und zwei weitere Male Einzug in den Text und sorgt mit seinem appellierenden Charakter für eine gewisse Dynamik, die kennzeichnend für die Neugier der Delegierten auf diese „wahre russische Stadt“ stehen könnte.454

447 448 449 450 451 452 453

454

Snowden, TBR. S. 60. Ebd. S. 76 f. Vgl. ebd. S. 33. Vgl. ebd. S. 44. Ebd. S. 24. Vgl. ebd. S. 30. „But the biggest blunder of all is made by those people who start with the assumption that Russia is like the rest of Europe, and that her people are the same as ours. It is the most fatal blunder.“ (Ebd. S. 183.) Vgl. ebd. S. 106.

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Bereits zu Beginn des Reiseberichts findet sich ein erster Vergleich. Snowden gibt ihr Bild der Einwohner Russlands455 wieder und unterstützt es durch die Aussage eines Gesprächspartners, dass russische Menschen (ungebildet, unwissend) wie Kinder und seit Jahrhunderten an Sklaverei und Diktatur gewöhnt seien.456 Obwohl Snowden diesen Vergleich umgehend kritisch hinterfragt, steht er als wortwörtliche Rede für den Leser geschrieben und kann somit durchaus seine Wirkung entfalten. Das theoretische Ergebnis des Experiments „bolschewistisches Russland“ wird von Snowden mit einem irdischen Himmelreich verglichen – was es jedoch nur hypothetisch ist. 457 Nachdem die Autorin vieles in Russland gesehen und erlebt hat, stellt sie in ihrem Fazit kontrastiv die Errungenschaften der englischen Gesellschaft dar. Fast appellierend schreibt sie, dass der britische Arbeiter schlau genug sein wird, seine aktuelle Glückseligkeit nicht für diesen „phantastischen Garten Eden“ (i.e., bolschewistisches Russland) zu riskieren.458 Im Moskauer Hotel setzt sie das Ungeziefer, das ihr des Nachts den Schlaf nimmt, metaphorisch mit der Roten Armee gleich.459 Obwohl dies einerseits der Verbildlichung dient, schafft die Autorin damit ein nicht wenig abwertendes Bild der Roten Armee und zeigt zugleich ihre eigene Haltung. Dergleichen nutzt Snowden Vergleiche, um die Situation der Menschen in Russland darzustellen. Einerseits nutzt sie einen Vers des 2. Brief des Paulus an die Thessalonicher (The passport to food and clothing is work.)460, um den nicht bedingungslosen Zugang zur Nahrung darzustellen; andererseits einen Vers aus dem 2. Buch Mose (making bricks without straw)461, um auf die mangelhafte Ausstattung der russischen Bevöl455

„plastic, passive people like the typical indolent Russian“ (Ebd. S. 29.) „‚But the Russian people are like children. They are not educated. They know nothing. They have been accustomed for centuries to slavery and dictation. Would you have us allow them to destroy themselves by their own incapacity and inexperience? Would you give a vote to each of those millions of ignorant peasants? It would be like putting a knife into the hands of a baby.‘“ (Ebd. S. 29) – In dieser direkten Aussage findet sich zudem die metaphorische Ausweisung der gesamten russischen Bevölkerung als Bauern. 457 Vgl. ebd. S. 185. 458 „chimerical Garden of Eden“ (Ebd. S. 185.) 459 Vgl. ebd. S. 107. 460 Ebd. S. 19. – Es handelt sich hier um einen Verweis auf den 2. Brief des Paulus an die Thessalonicher. (Vgl. 2. Thess 3.) 461 „We drove back to the ship impressed with the pluck and cleverness of those heroic people making bricks without straw.“ (Snowden, TBR. S. 172.) – Snowden lehnt sich mit der Redewendung „making bricks without straw“ an die Bibel an. Dieses Zitat 456

1.4 Literarizität in Snowdens Reisebericht

161

kerung hinzuweisen. Obwohl die hehren Ideale vorhanden sind, wie sich an der Kinderbetreuerin zeigt, auf die sich dieser Ausspruch bezieht, mangelt es den Menschen am Lebensnotwendigsten. Die ärmlichen Verhältnisse finden einen bildlichen Ausdruck darin, dass die Delegierten, obgleich sie „ihre ältesten“ Sachen tragen462, in den Augen der Russen „wie Prinzen gekleidet“ (were attired like princes)463 erscheinen. Dies ist kein Wunder für Snowden, wenn selbst russische Professoren aussähen „wie englische Landstreicher“ (English tramps)464. Auf die mangelhafte Ausstattung verweist Snowden mithilfe einer Analogie auch an anderer Stelle, hier in Bezug auf die Kälte, die dazu führte, dass „Kinder und alte Menschen wie die Fliegen an Kälte gestorben sind“ (Tender children and old people died like flies, of simple cold)465. Die „extremeren“ unter den führenden Bolschewiki und die dazugehörige Geheimpolizei werden mit einer „Plage, die sich über die terrorisierte Bevölkerung und die ängstlichen Behörden zugleich legt“ (like the plague upon terror-stricken population and frightened administrators alike)466, verglichen. Die „extremsten britischen Sozialisten“ (extremest of British Socialists), die zum intellektuellen Vergnügen mit hochexplosiven menschlichen Kräften jonglierten, vergleicht Snowden mit einem Kind, das mit Feuer spielt.467 Die „Rote Armee“, die den Stolz der Regierung genießt, wird dem Vergleich des Verhaltens eines Jungen, dem man ein Messer in die Hand gibt, unterzogen: Hat er erst die Waffe, möchte er damit auch etwas tun.468 Auf Satzebene lassen sich sowohl eine rhetorische Frage469, Parallelismus 470 , Ellipsen 471 als auch weitestgehend eine Antithese 472 ausfindig

462 463 464 465 466 467 468 469

steht im Zusammenhang mit der Gefangenschaft der Israeliten in Ägypten. Mose und Aaron teilten dem Pharao mit, dass sie ein religiöses Fest für Jahwe, ihren Gott, feiern wollen. Anstatt sie für diesen Zeitraum freizustellen, steigerte der Pharao ihr Arbeitspensum. In Vers 18 heißt es: „Jetzt aber fort mit euch und tut eure Arbeit! Stroh bekommt ihr nicht, aber euer Soll an Ziegeln müsst ihr erfüllen.“ So wurde den Israeliten kein Stroh mehr zur Verfügung gestellt, jedoch ihr Frondienst verschärft, da sie es für die Ziegelherstellung selbst auf den Feldern sammeln mussten. (Vgl. 2 Mose 5, 1–19.) Snowden, TBR. S. 21. Vgl. ebd. Ebd. Ebd. S. 173. Ebd. S. 63. Ebd. S. 121. „A boy with a knife wants to whittle something.“ (Ebd. S. 89.) „Will the music of the country also be sacrificed to the insatiable spirit of Karl Marx?“ (Ebd. S. 35.)

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machen. Während Snowden die parallelistische Anordnung nutzt, um die geleugneten Gräueltaten der Čeka „aufzuzählen“ und damit auf das Lügenpotential der Bolschewiki hinzuweisen, wirft die Ellipse ein Licht auf die emotionale Ergriffenheit der Autorin. Mit dem antithetischen Einstieg in das Kapitel „The Artistic Life of Russia“ gelingt es Snowden, ihrem Lob für den Zustand der Künste Gewicht zu verleihen, indem sie direkt vorweg weniger erfolgreiche Taten der Bolschewiki anführt. Zur Darstellung des erschöpften und erschöpfenden, jedoch typisch kommunistischen Skandierens leerer Worthülsen zu Propagandazwecken bedient sich Snowden einer parallelistischen Anordnung. Exemplarisch nimmt Snowden zweimal hintereinander drei Phrasen auf.473 Wie sich an den genannten Beispielen zeigt, findet sich auch in Snowdens Reisebericht rhetorischer Schmuck, der sowohl der uneigentlichen Rede dient (oft in Bezug auf den Bolschewismus und seine Institutionen) als auch der besseren Veranschaulichung der Auswirkungen großer Politik auf die einfachen Menschen durch eine semantische Erweiterung (Vergleiche). Quantitativ betrachtet handelt es sich im Hinblick auf den 188 Seiten umfassenden Text nur um einen marginalen Einsatz dieser Elemente, doch besitzen sie qualitativ besehen eine große Bedeutung. Mit ihrer Hilfe lässt sich insbesondere die Notlage der Menschen in Russland sehr gut verbildlichen und wird damit für das lesende Publikum greifbar. 1.4.2 1.4.2.1

Authentifizierungsstrategien Erzählen und zeigen

Größtenteils übernimmt Snowden als Erzählerin des Berichts die Funktion einer Gutachterin der Gegebenheiten. An manchen Stellen tritt sie jedoch vom Erzählvorgang zurück und „übergibt“ das Wort einzelnen Menschen. Scheinbar aus der Erinnerung heraus legt sie Dialoge und 470

471 472 473

„It was denied that any conscientious objector had been shot. It was denied that anybody had been shot without trial. It was denied that any great tyranny was exercised. It was declared that the object of the Extraordinary Commission was to protect perfect liberty of speech outside of those who were fomenting armed opposition to the Republic.“ (Ebd. S. 158 f.) „And then the clothing!“ (Ebd. S. 20.) – Elliptisch ist auch der Name des vierten Kapitels „Investigation or Propaganda?“. Vgl. ebd. Bspw. S. 70. Vgl. ebd. S. 66, 175.

1.4 Literarizität in Snowdens Reisebericht

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Monologe anderer dar und verleiht deren Aussagen damit Authentizität.474 Eine nähere Betrachtung jener Stellen, an denen sich die wortwörtliche Wiedergabe von Aussagen auf zwei bis vier Sätze beschränkt, weist auf einen gezielten Einsatz hin. Zum einen dienen diese Passagen u.a. der indirekten Charakterisierung bekannter Persönlichkeiten, zum anderen zur Untermauerung von Fakten. Im Zuge der Darstellung des Treffens mit Trockij gibt Snowden nur zwei Aussagen von diesem wortwörtlich wieder475 – dadurch erfährt Trockij eine indirekte Charakterisierung als Krieger und Charmeur. Lenin, mit dem es ein geplantes Interview gibt, wird ebenfalls quotiert. Die Antwort auf die Frage, wie es um die Bauernschaft stünde, nimmt Snowden sämtlich wortwörtlich auf und unterlässt nicht, auch sein Lachen in höchst auffälliger Weise darzustellen476. Dies dient ihr als Beweis für ihre Einschätzung seiner Person: Eine Maske der Freundlichkeit versteckt ein eigentlich erbarmungsloses Wesen. Balabanovs Worte werden an zwei Stellen wörtlich und in direkter Rede zitiert477. Diese „hervorragende kleine Gastgeberin“478 entpuppt sich durch ihre Aussagen zum einen als wissend und schlagfertig, zum anderen als konsequente Anhängerin und Verteidigerin des kommunistischen Systems. Auch zur Untermauerung von Fakten zieht Snowden die direkte Rede zu Rate. So erklärt sie sich und dem Leser damit zwei Phänomene, die ihr und anderen Delegierten in Russland aufgefallen sind: Viele Frauen und Mädchen haben kurz geschorenes Haar und tragen übergroße Strümpfe479. Der Grund für die Frisuren, die von Snowden als „russischer Brauch“ gedeutet werden, liegt tatsächlich in einer kurz zuvor kursierenden Typhusepidemie. Auch die Kleidung, die von einem anderen Delegierten der Gruppe als die neueste Mode aufgefasst wird, stellt sich nur als Notlösung heraus: So handelt es sich nicht um die „neueste Mode, sondern um die letzte Wirtschaft“ (it is not the latest fashion but the last economy)480. In Gesprächen mit weniger bekannten und vor allem lediglich ihrer politischen Haltung nach charakterisierten Menschen (wobei es sich immer um langjährige Kommunisten handelt) erfährt Snowden viel über deren 474 475 476 477 478 479 480

Vgl. ebd. S. 61 f., 137 ff. Vgl. ebd. S. 76, 77. Vgl. ebd. S. 116. Vgl. ebd. S. 95, 128 f. Ebd. S. 47. Vgl. ebd. S. 18, 22. Ebd. S. 22.

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Haltung zum System und kann aufdecken und mit Angabe der wörtlich zitierten Aussagen untermauern, dass jene häufig von der aktuellen Regierung enttäuscht sind.481 In den meisten Fällen geht sie nicht monologisch, sondern dialogisch vor und druckt auch ihre eigene Frage in direkter Rede ab. Zur doppelten Untermauerung des repressiven Systems nimmt Snowden die Reaktion ihrer Dolmetscherin in wörtlicher Rede auf.482 Damit belegt sie zum einen, dass der Abgeordnete der Čeka die Unwahrheit spricht; zum anderen die Unmöglichkeit der russischen Dolmetscherin, dies zu kritisieren. 1.4.2.2

Textsorten

Snowdens Reisebericht zeigt sich als „literarische Hybridform“483. Obwohl er auf den ersten Blick rein aus mit Zahlen ergänzten Beschreibungen zu bestehen scheint, offenbart sich auf den zweiten Blick, dass auch in diesem Bericht, wenn auch wenige, weitere literarische Gattungen, beschreibende und appellierende Textpassagen vorfindlich sind. Auf Ebene der Textgattung findet sich beispielsweise ein Lied. Bereits im dritten Kapitel notiert die Autorin den Text der ersten beiden Strophen des Liedes „The Red Flag“, das „Lieblingslied von Sozialisten in Großbritannien“ (the favourite song of Socialists in Great Britain)484, um es dann in individuell abgewandelter Form nochmals im letzten Kapitel des Berichts aufzunehmen485. Das Lied bildet nun den Auftakt zur Wiedergabe des allgemeinen Eindrucks der Fahrt unter den Delegierten. Kurz und knapp beinhaltet dieser „neue“ Text eine Kritik an der Umsetzung der sozialistischen Idee: das erwartete Rot der Fahne ist doch nur ein blasses Rosa. 486 Auch „Die Internationale“ 487 , zu dessen Aufführung die Delegierten mehrmals fast genötigt werden, findet seinen Platz mit englischem Text in ihrem Reisebuch.488 481 482 483 484

485 486 487 488

Vgl. ebd. S. 18, 36, 55, 134, 157, 158. Vgl. ebd. S. 159. Zahn, Reise als Begegnung. S. 370. „The people’s flag is deepest red, / It shrouded oft our martyred dead. / And ere the lips grew stiff and cold, / Their heart’s blood dyed its every fold. / Then raise the scarlet standard high. / Within its shade we’ll live or die. / Though cowards flinch and traitors sneer, / We’ll keep the Red Flag flying here.“ (Snowden, TBR. S. 31.) „The people’s flag is palest pink, / It’s not so red as you might think; / We’ve been to see, and now we know / They’ve been and changed its colour so.“ (Ebd. S. 180.) Vgl. ebd. Ebd. S. 77. Vgl. ebd. S. 56 f.

1.4 Literarizität in Snowdens Reisebericht

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Dem Ziel der Delegationsreise treu bleibend und im Rahmen ihrer Beschreibungen nimmt Snowden gelegentlich Zahlen auf, um Wissen über Russland zu vermitteln. Diese sachorientierten Ausführungen umfassen sowohl die Angabe der Einwohnerzahl Petrograds und die Zusammensetzung Russlands489, den quantitativen Anteil jüdischer Volkskommissare490, als auch die Umrechnung des Rubels in Pfund, das entsprechende Einkommen eines Gewerkschafters491 und die Kosten für Lebensmittel auf dem Markt492. Auch eine Tabelle zur Typhusrate493 fügt sie ihren Aufzeichnungen bei. Einhergehend mit den Beschreibungen erhält ihre Schrift damit den sachlich-nüchternen Charakter eines Berichts. Auch zitiert Snowden aus ideologischen Grundlagentexten der Bolschewiki, wie beispielsweise dem kommunistischen Manifest von 1919494, dem Eid der Soldaten der Roten Armee495 sowie zudem aus der Bibel496. Auf funktionaler Ebene finden sich überwiegend berichtende Passagen, wie beispielsweise über ihre Unterbringung in Petrograd497, diverse Paraden zu Ehren der Delegierten498 sowie die Strukturen von Armee499 und Partei500. Als „berichtend“ können diese Passagen auch deshalb charakterisiert werden, weil sie sich an einen „bestimmten Hörer bzw. Hörerkreis“ wenden, dessen Informationsbedürfnis damit befriedigt werden soll. 501 Appellierend geht Snowden u.a. dann vor, wenn sie in ihrem Reisebericht für den Frieden eintritt und dazu auffordert, dass die Notwendigkeit desselben „Gegenstand des Gebets und Impuls der Anstrengung

489 490 491 492 493 494 495 496

497 498 499 500 501

Vgl. ebd. S. 15, 16, 17. Vgl. ebd. S. 27. Vgl. ebd. S. 75. Vgl. ebd. S. 108. Vgl. ebd. S. 123. Vgl. ebd. S. 53. Vgl. ebd. S. 85 ff. „Thou shalt not be afraid for the terror by night nor for the pestilence that walketh in darkness.“ (Ebd. S. 107.) – Die Verse 5 und 6 des 91. Psalms lauten in der Lutherbibel wie folgt: „[...] dass du nicht erschrecken musst vor dem Grauen der Nacht, vor den Pfeilen, die des Tages fliegen, / vor der Pest, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die am Mittag Verderben bringt.“ (Ps 91, 5–6.) Vgl. Snowden, TBR. S. 35. Vgl. ebd. Bspw. S. 40, 87 f. Vgl. ebd. S. 91. Vgl. ebd. S. 141 ff. Vgl. Jürgen Lehmann, Bekennen, erzählen, berichten. Studien zu Theorie und Geschichte der Autobiographie. Tübingen 1988. S. 61.

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eines Jeden“ sein sollte.502 Direkt fordert sie den Leser auf, Lenins „funkelnden Augen“ (twinkling eye) als Zeichen eines „guten Geistes“ (betokens a tender spirit) nicht zu vertrauen, da er sich mit seiner Aussage zur Bauernfrage hart und unnachgiebig grausam zeigt.503 Gleich zu Beginn ihres Berichts wendet sich die Autorin in personifizierter Du-Form appellierend an die russische Bevölkerung, den „härtenden, bildenden und organisierenden Prozess“, der gerade „in [ihrer] Mitte“ stattfindet, hoffnungsvoll zu ertragen.504 Das einheimische britische Publikum fordert sie auf, darauf zu hoffen, dass sich nicht nur die russischen Methoden jenen des restlichen Europas anglichen, sondern auch alle europäischen Demokratien eine weiterhin erfolgreiche Entwicklung sozialer und ökonomischer Angelegenheiten erführen.505 Mit zwei rhetorischen Fragen über die Legitimität der Diktatur einer Minderheit impliziert sie die Aufforderung zur Stellungnahme des Lesers.506 Auch stellt sie in Bezug auf Lenin Suggestivfragen und gibt damit ein Deutungsschema vor. 507 Nicht minder appellierend wirken Snowdens Darlegungen über die mutmaßliche zukünftige Entwicklung Russlands und die internationalen Auswirkungen russischer Gegebenheiten.508 1.4.2.3

Augen- und Ohrenzeugin

Im Reisebericht Snowdens spielt die Tatsache der persönlichen Anwesenheit und der Informationsvermittlung durch Augenzeugen eine große Rolle. Als eine Reisende, die persönlich verschiedentliche Gegebenheiten beobachten oder in Kenntnis bringen konnte, legt Snowden Wert darauf, dies in ihrem Bericht auch zu betonen.

502

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„The need of Europe and the world for a real peace and the awful possibilities of the alternative ought to be the subject of everybody’s prayer and the impulse to everybody’s endeavour until peace becomes an accomplished fact.“ (Ebd. S. 81.) Ebd. S. 116. „The hardening, educating, organising process which is going on in your midst may one day prove a boon to you, though it adds unspeakably to your present misery.“ (Ebd. S. 16.) Vgl. ebd. S. 11. „The great and fundamental question for all who are thinking seriously about these things is this […].“ (Ebd. S. 151.) „What sort of man was this Lenin, it was questioned? Was he man or devil?“ (Ebd. S. 115.) Zudem fragt sie: „What helped and enabled him to keep all the main forces of his country together and to sweep, one by one, his enemies out of his path?“ (Ebd.) Vgl. ebd. S. 84, 88, 90.

1.4 Literarizität in Snowdens Reisebericht

167

Untermauert wird diese als Strategie der Authentifizierung deklarierte Tatsache dadurch, dass die Autorin bereits auf der ersten Seite des Einleitungskapitels und damit des Reiseberichts insgesamt darlegt, weshalb sie die Reise nach Russland antritt: Neben anderen wurde sie von der Labour Party und dem Gewerkschaftskongress ausgewählt, für benannte Untersuchungen nach Russland zu fahren.509 Damit genießt sie in Bezug auf die Auswahl und Richtigkeit der beobachteten Phänomene (the truth must at all costs be discovered)510 das Vertrauen der durch die Gewerkschaft und die Labour Party vertretenen Arbeiter. 511 Obgleich die Benennung der Hintergründe für die Fahrt zur Transparenz des Unterfangens beiträgt, untermauert Snowden damit auch ihre legitimierte Deutungshoheit über die von ihr in Augenschein genommenen und später dargelegten Sachverhalte. Der Leser erfährt, worum es in der Reise geht: Es ist keine Vergnügungsreise, sie dient einzig der Ent- beziehungsweise Aufdeckung der wirklichen Gegebenheiten (to discover) des nachrevolutionären, bolschewistischen Russlands. Dieses Ziel wird in detaillierter Ausführung, hier in Bezug auf den europaweit merklichen Vertrauensverlust in die Demokratie, noch einmal in der zweiten Hälfte ihres Berichtes elaboriert.512 So verwundert es nicht, dass Snowden ihre Deutungshoheit nutzt und an verschiedenen Stellen darauf verweist, dass sie persönlich oder zusammen mit den anderen Delegierten selbst gesehen, gehört oder anderweitig wahrgenommen hat. Als Beobachterin der schlechten Versorgungslage in Russland kommt es Snowden dienlich zugute, dass sie bereits an anderen Orten der Welt in Not lebenden Menschen begegnet ist. So setzt sie den Zustand der Bevölkerung Wiens und Berlins in der Nachkriegszeit mit jenem Moskaus in Vergleich und geriert sich betont als Zeugin der menschlichen Not: „Als

509 510 511 512

Snowden war Mitglied der Partei ILP, die jedoch mit Gründung der Labour Party 1906 deren Mitglied wurde. (Vgl. Pugh, Speak for Britain! Bspw. S. 68.) Snowden, TBR. S. 7. Vgl. ebd. S. 7, 8. „One baleful result of the late European war has been to weaken faith in political democracy against those people whom it most seriously concerns. And the most pitiful part of the tragedy is that the wounds of democracy have been delivered in the house of its friends. That is a big story which will one day be written in full. The important fact remains, that Parliamentary political machinery is in danger of being thrown upon the scrapheap by those who see in it something antiquated and rusty and so incapable of serving their needs. With this in mind, we sought to discover if Russia had truly anything better to offer.“ (Ebd. S. 140.)

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erstes habe ich es in Wien erfahren.“513 Diese Information untermauert die Vermutung, dass Snowden Erfahrung in der Beurteilung von Menschen in derlei Situationen hat. Sie ist eine Person, die den Blick auf das Leiden der Menschen, auf Opfer von höherer Gewalt, nicht scheut und daher auch den Zustand der russischen Bevölkerung gut einschätzen kann.514 Sie und die anderen Delegierten spüren in Russland das „verzweifelte Verlangen der Menschen nach Frieden“515. Bereits im ersten Satz ihres Reiseberichtes betont Snowden, dass sie mit dem Reisebericht einen „weiteren Augenzeugenbericht liefern möchte, als Beweis für das schreckliche Leiden des russischen Volkes“516. Eine ausdrückliche Betonung ihres Augenzeugendaseins findet sich dann im Rahmen der Beschreibung des Umgangs der Bolschewiki mit undiszipliniertem (Arbeits-)Verhalten. Nach Anführung zweier Beispiele, an denen die objektiv betrachtet ungerechtfertigte Härte der Strafe exemplarisch aufgezeigt wird, betont Snowden, dass diese Fakten der Wahrheit entsprächen, denn Snowden hat sie mit eigenen Augen gesehen (for I saw them) 517 . Durch „aufmerksames Lesen“ (reading carefully) der Thesen des Exekutivkomitees der Kommunisten, findet sie zudem heraus, dass die Regierung in Bezug auf die Sowjets und die Demokratie zukünftig eine neue Richtung einschlagen würde.518 Um einen Einblick in die Preise für Nahrungsmittel zu bekommen, besucht sie Moskauer Märkte und durch die Auflistung der Preise für Eier, Blumen, Sauermilch und Gurken, bezeugt sie ihre Augenzeugenschaft.519 In dem strengen Vorsatz, die Wahrheit zu entdecken, besucht sie mit anderen Delegierten verschiedene Schulen und sieht hier beispielsweise „erwachsene Männer und Frauen mit Kindern und Jugendlichen im Singen, Tanzen und Schauspielern vereint“ (saw grown men and women with young people and children join together in singing, dancing and dramatic performances) 520 . Relevant erscheint ihr die Betonung ihrer Zeugenschaft in Bezug auf die Auswirkungen der Wirtschaftsblockade, 513 514

515 516 517 518 519 520

Ebd. S. 18. „And because I had seen these things in Vienna I knew, without asking any questions in Petrograd, that the two cities hare with most of the cities of Eastern and Central Europe the bonds of a common suffering.“ (Ebd. S. 19.) Vgl. ebd. S. 84. Ebd. S. 7. Vgl. ebd. S. 125. Vgl. ebd. S. 142 f. Vgl. ebd. S. 109. Ebd. S. 100.

1.4 Literarizität in Snowdens Reisebericht

169

für deren Einstellung sie und die gesamte britische Linke kämpften. Bereits während der ersten 24 Stunden ihres Aufenthalts sehen die Delegierten „mit ihren eigenen Augen“ (through the evidence of our own eyes) die grauenvollen Auswirkungen dieser Blockade in der russischen Bevölkerung, die sie animieren, ein nachdrücklich die Abschaffung der Blockade forderndes Telegramm nach Großbritannien zu senden.521 Zur Ohrenzeugin wird sie im Theater, als sie hinter der Bühne das direkte Gespräch zu Künstlern sucht, um zu ergründen, ob diese wirklich zufrieden mit den aktuellen Umständen seien.522 Persönliche Gespräche mit Kommunisten offenbaren Snowden die Gründe für die Unzufriedenheit mit der Partei523. In puncto Čeka wird Snowden direkte Ohrenzeugin für Pro- und Contra-Argumente.524 Von einem den Menschewiki nicht gewogenen Delegierten erfährt sie eine Begebenheit, die die Behandlung Andersdenkender durch die Bolschewiki exemplifiziert. 525 Dank der Tatsache, dass Snowden in dieser Angelegenheit angibt, nicht selbst Ohrenzeugin gewesen zu sein, gewinnt sie an Vertrauenswürdigkeit. Hieraus lässt sich schließen, dass ihre Angaben entweder auf eigener Erfahrung basieren oder aber durch jeweils andere „Anwesende“ autorisiert sind.526 In Gesprächen mit Bauern erfährt sie erster Hand, dass diese keine Kommunisten im Marx’schen Sinne, schwerlich überhaupt Kommunisten seien.527 „[In] langen Gesprächen mit Generälen und Admirälen“ kann sie das Gerücht, dass jene der zaristischen Armee entstammenden Angehörigen einen Aufstand planten, nicht belegen. 528 Das persönliche Gespräch mit Čertkov 529 und seinen Freunden bringt Einsichten in das Leben dieser Menschen: Sehend und hörend vernehmen die Delegierten 521

522 523 524 525 526 527 528 529

„The cruel effects of the blockade upon Russia’s hapless people became obvious through the evidence of our own eyes in the first twenty-four hours of our investigation. So unmistakable was that evidence that a telegram was despatched to Great Britain, urging the folly of helping the war and maintaining in effect the blockade, and requesting that the British people might no longer continue to be implicated in either.“ (Ebd. S. 16.) Vgl. ebd. S. 73. Vgl. ebd. S. 133, 134. Vgl. ebd. S. 156 ff. Vgl. ebd. S. 158 f. Vgl. ebd. S. 93, 160. Vgl. ebd. S. 168. Vgl. ebd. S. 90. „anti-government, pacifist philosophy of our friend and host“ (Ebd. S. 129.)

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deren elende Situation.530 Durch Angabe und Beschreibung der nonverbalen Charakteristika untermauert Snowden die Tatsache der eigenen Anwesenheit.531 Günstig auf die Authentizität jeglicher Aussage wirkt sich eine Äußerung Snowdens über ihre Wahrnehmungsgrenzen in Bezug auf Lenin aus. Ihre eigenen Möglichkeiten relativierend räumt sie ein, dass auch sie nicht in der Lage wäre, über einen Menschen, explizit Lenin, innerhalb der kurzen Zeit eines Interviews urteilen zu können.532 Durch dieses Bekenntnis verschafft sie sich weitere Glaubwürdigkeit, da die nun folgende Charakterisierung Lenins allein auf dieser bereits kritisch betrachteten Grundlage beruht und damit richtig erscheint. Die generelle Einschätzung des Leidens der Bevölkerung Russlands wird von der Augen- und Ohrenzeugin Snowden nachdrücklich betont, indem sie bereits im ersten Kapitel (A Starving People) schreibt, dass sie „ohne den kleinsten Zweifel“ davon „überzeugt“ wäre, dass die russischen Menschen des Blutvergießens überdrüssig wären.533 1.4.3

Vorurteile, Verallgemeinerungen... Stereotypen?

Zur Ausschmückung und zum vermeintlich besseren Verständnis bedient sich auch Snowden an Verallgemeinerungen. Marginal lässt sie diese nebst einigen Vorurteilen in ihren Text einfließen. Mitunter verschwimmt hier die Trennlinie zwischen Vorurteil und Stereotyp. Das Verhängnis einer Analyse von Stereotypen besteht nicht selten darin, selbst Stereotype zu prägen. Da eine wissenschaftliche Ausarbeitung über zu jener Zeit in Großbritannien existente Stereotype bislang fehlt534, wird im Folgenden der Fokus auf jene Verallgemeinerungen gelegt, die sich auf eine zusammenfassende Darlegung der Einwohner Russlands beziehen und auch als Heterostereotype gelesen werden können. Vereinzelt weist Snowden die Menschen Russlands als „passiv“ aus.535 Exemplarisch zeigt sie diese Eigenart an der Art und Weise, in der ihr ein 530 531 532 533 534 535

„They both looked under-nourished. Being non-workers in the Communist sense they probably come in the lowest category for food.“ (Vgl. ebd.) Vgl. ebd. S. 130. Vgl. ebd. S. 115. Vgl. ebd. S. 17. Bestehende Heterostereotype über Russland und die russische Bevölkerung werden mit Verweis auf Oberloskamp in Kapitel I, 2.2.3 thematisiert. Vgl. Snowden, TBR. S. 29, 183.

1.4 Literarizität in Snowdens Reisebericht

171

junger russischer Kommunist über seine Erfahrungen mit den Bolschewiki berichtet: „He told the story quietly, in the passive Russian fashion […]“536. Anhand der passiv vorgetragenen Erfahrungen des jungen Kommunisten fasst die Autorin zusammen, dass sie diesen „Fatalismus“ (fatalism) für den „erstaunlichsten“ (most amazing) Zug des russischen Charakters hält. 537 In dieser verallgemeinernden Kennzeichnung liegt der Kern für einen Stereotyp, da Snowden von einem konkreten Beispiel ausgehend auf alle Mitglieder einer bestimmten „Nation“ schließt. Dass die russischen Menschen „leiden“ und dies schon immer taten538, zeigt sich für Snowden an persönlichen Schicksalen aus der Geschichte, beispielsweise an Märtyrern, die noch unter dem Zaren für ihre freiheitlichen Ideale ihr Leben ließen.539 Ausgehend von den großen russischen Schriftstellern schreibt Snowden den Einwohnern Russlands zu, große Visionäre und Träumer zu sein.540 Wiederholt wird dieser Eindruck am Ende ihres Werkes mit den letzten drei Sätzen ihres Berichts, in dem sie die russische Bevölkerung abermals als „der Welt größte Träumer“ ausweist und sich wünscht, dass es derer mehr gäbe.541 Im Gegensatz zum eher „gefühlvollen Volk“ erscheint eine Aussage über russische Revolutionäre: „Russische Revolutionäre weinten nicht so schnell“, stattdessen erfülle ein „hartes Funkeln die Augen“ eines wütenden Kameraden542. Sie untermauert diese allgemeine Aussage mit Wiedergabe 536 537 538

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540 541

542

Ebd. S. 137. Ebd. „It is a country peopled with human beings who dream dreams and see visions, who have suffered more cruelly and aspired more loftily than the people of most other European countries.“ (Ebd. S. 33.) Vgl. ebd. S. 34. – Dieser (Auto-)Stereotyp der Leidensfähigkeit der Russen findet sich u.a. in russischer Literatur wieder, die nicht wenig zur Prägung dieser vermeintlichen Eigenschaft beitrug. (Vgl. Michaela Fridrich, „Die russische Seele und die Lust am Leiden. Hintergründe einer Mentalität“. Essay und Diskurs. Deutschlandfunk 31.07.2011. Onine verfügbar unter http://www.deutschlandfunk.de/dierussische-seele-und-die-lust-am-leiden.1184.de.html?dram:article_id=185459 (abgerufen am 01.03.2018).) Vgl. Snowden, TBR. S. 33. „For the Russians are amongst the world’s most tender dreamers. Humanity sorely needs their vision in this hour. At a time when the fatal folly and weakness of a few has flung mankind into the pit of materialism, it would be of incalculable value to Europe and the world to restore to it the idealism of a hundred millions of dreamers.“ (Vgl. ebd. S. 188.) „Russian revolutionaries do not weep easily. Instead of tears a hard glitter filled the eyes of a fierce fellow.“ (Ebd. S. 41.)

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1 Reisendes Delegationsmitglied – Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia

der Worte dieses Revolutionärs: „‚But we will be avenged,‘ […] ‚For every one of our comrades who has died like this we will send ten of the bourgeois to their graves.‘“543; zudem durch ihre eigene Einschätzung, dass es sich hierbei um „furchtbaren Fanatismus“ (terrible fanaticism)544 handele. Snowden betont nachdrücklich, dass Russland „anders ist“ und offenbart durch eine persönliche Aussage über ihre Reise, dass sie wirklich daran glaubt. Bereits zu Beginn des Berichts schreibt sie: „We knew we were going to a land radically different from all the European countries we had hitherto visited.“545 So geht Snowden mit dem Wissen über Russlands Andersartigkeit an die Reise und eicht mit Angabe dieses Vorurteils zu Beginn des Berichts auch den Leser auf diesen vermeintlichen Fakt. Jedoch unterlässt sie vorerst die Angabe von Gründen. Erst abschließend benennt sie diese mit Angabe der hohen Analphabetismusrate in Russland und durch Wiedergabe ihres Eindrucks, dass die russische „Zivilisation Generationen hinter der westlichen liegt und von anderer Art“ sei.546 Die Überschreitung der Grenze nach Russland kommentiert Snowden mit der Phrase, dass man sich nun endlich „hinter dem ‚Eisernen Vorhang‘“ befände. 547 Obgleich dieser Terminus spätestens mit der Abgrenzung des Ostblocks gegen die Länder Westeuropas fest als Metapher institutionalisiert wurde548, ist die ursprüngliche Bedeutung dem Theatermetier entnommen: Der Eiserne Vorhang ist eine Brandschutzeinrichtung im Theater, die dem Schutz vor Feuer dienen soll. Detailliert stellt Snowden dar, welche Ausprägungen der Untersuchungsmodalitäten die Delegierten im Vorhinein in Betracht ziehen: Vom absolut freien Umgang bis zur permanenten Kontrolle erscheint ihnen alles als möglich.549 Das Misstrauen, das in diesen noch vor Betreten des 543 544 545 546 547 548

549

Ebd. Ebd. S. 41. Ebd. S. 23. „Their civilisation is generations behind Western civilisation and is of a different sort.“ (Ebd. S. 183 f.) Ebd. S. 32. Diese gemeinhin Winston Churchill als Urheber zugeschriebene Phrase wird überraschenderweise bereits von Snowden genutzt. Cross meint, dass sie damit vermutlich die erste Person wäre, die ihn in diesem politischen Zusammenhang setzt. (Vgl. Cross, Philip Snowden. S. 169.) Wright schreibt, dass dieser ursprünglich aus dem Theater stammende Begriff bereits in der zweiten Dekade des zwanzigsten Jahrhunderts in politische Nutzung kam. (Vgl. Wright, Iron Curtain. S. 152.) Zur detaillierten Begriffsgeschichte siehe ebenda. „One was quite sure that, although we might be the guests of the Government, we should be allowed to go where we liked and do what we pleased. Another thought we

1.4 Literarizität in Snowdens Reisebericht

173

Landes formulierten Ideen mitschwingt, verweist auf ein Phänomen, das in Russlandreiseberichten nicht selten thematisiert wurde: die Täuschung durch sogenannte Potëmkin’sche Dörfer und die Angst, nicht die Wahrheit, sondern ein künstlich geschöntes, nur temporär existentes Ideal zu sehen. Snowden greift diesen Begriff nicht direkt auf, sondern bezieht im Namen der Delegation die Möglichkeit ein, eine eigens errichtete Wirklichkeit zu Gesicht zu bekommen beziehungsweise in ständiger Begleitung durch die sowjetischen Gastgeber zu leben.550 Dieses Vorurteil wird bestätigt: Der freie Umgang erweist sich nach Snowden als Illusion, denn die Delegierten werden nahezu allerorten von Repräsentanten der Behörden begleitet (6–20 Personen pro Tour), die sie an ihren eigentlichen Investigationen behindern551. Auch ein eng gestrickter Zeitplan spricht dafür, dass individuelle Untersuchungen nicht erwünscht sind. Dieser Zeitplan, eine kurze und engmaschige Abfolge aus Appellen, Vorführungen und Treffen, verhindert ihrer Meinung nach Recherchen auf eigene Faust.552 Mit der Feststellung, Teil einer Inszenierung zu Propagandazwecken zu sein, die in Snowdens Ausweisung der Bolschewiki als „unübertreffliche Propagandisten“ 553 mündet, bestätigt die Autorin ein eigenes Vorurteil. Verallgemeinernd stellt Snowden zudem fest, dass die Menschen in Russland nicht schlafen. So sieht sie um mitternächtliche Stunde kleine Kinder auf der Straße spielen oder des Nachts auf einem Acker Menschen bei der Arbeit.554 Auch schreibt Snowden den Menschen Patriotismus zu, der Ursache dafür sei, dass sie trotz aller aktuellen Entbehrungen hinter der Regierung stünden.555 Snowden spiegelt mit ihren Verallgemeinerungen und stereotypisierten Charakterisierungen von russischen Menschen und russischer Welt den bestehenden Korpus an Stereotypen über Russland. Mit den Zuschreibungen „passiv“, „gefühlvoll“, „leidensfähig“ gliedert sie sich in den von Oberloskamp benannten Heterostereotyp von Russland als „eu-

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should see as little as the Royal Family sees when it takes an excursion amongst the people. A third welcomed the idea of a conducted party because of the language difficulty. A fourth expressed the view that we should ask for our passports and return home at once if we were placed under any kind of restraint.“ (Snowden, TBR. S. 24 f.) „We had been in mortal terror of being a conducted party.“ (Ebd. S. 48.) Vgl. ebd. S. 49. Vgl. ebd. S. 49 f. Vgl. ebd. S. 50 f. Vgl. ebd. S. 45, 50. Vgl. ebd. S. 152.

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1 Reisendes Delegationsmitglied – Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia

ropäisch-asiatischer Zwitter“ ein, dem die benannten Merkmale zu eigen sind.556 Snowden zeigt sich damit als Konsumentin vorhandener stereotyper Ausweisungen und verfestigt das bestehende Bild der russischen Bevölkerung. Resümee Sowohl Snowdens äußerer Textaufbau (Kapitelanordnung) als auch die Anordnung der Sachverhalte innerhalb der Kapitel zeigen den Versuch der Autorin, von der natürlichen, den Reiseverlauf nachahmenden, auf eine thematische Ordnung zu schwenken. Der zeitliche Reiseverlauf bleibt grob an den Kapitelnamen ablesbar und findet sich manchmal in Form chronologischer Verweise auch innerhalb der Kapitel. Während Snowden die Reisevorbereitungen in Großbritannien an keiner Stelle thematisiert, benennt sie Ankunft und Aufbruch in Russland. Diese, die eigentliche Reise zeitlich umgrenzenden Momente, werden aufgenommen557 und am Anfang und Ende ihres Berichts durch das Erblicken einer roten beziehungsweise blassrosa Fahne symbolisiert. Anhand der Farbsymbolik zeigt sich die graduell abnehmende Überzeugung der Delegierten vom Erfolg des in Russland praktizierten Kommunismus. Eine Stringenz in der thematischen Anordnung ist bei Snowden nicht vollends gegeben. An der äußeren und inneren Kapitelstruktur und der Verflechtung thematischer mit zeitlichen Angaben zeigt sich, dass die Autorin keine konkreten Kompositionskriterien ansetzt. Die mithin willkürliche Anordnung verschleiert teilweise die nicht eindeutige Haltung der Autorin zum bolschewistischen Regime. Vereinzelt finden sich Kapitel, die nach rhetorischen Maßgaben konstruiert zu sein scheinen („fesselnde“ Einleitung, folgende Schilderung des Sachverhaltes mit Argumenten und Beispielen und handlungsmotivierendes Ende) und die zum Teil die Intention der Autorin entbergen. Anhand eines Vergleichs ihrer Kapitelüberschriften mit jenen des offiziellen Delegationsreports offenbart sich außerdem die Subjektivität von Snowdens Reisebericht. Während Snowden sich und die Delegierten häufig implizit in den Titeln thematisiert, so beispielsweise in den Kapitelnamen „Investigation or Propaganda?“ und „Making Our Plans“, geschieht dies im offiziellen 556 557

Vgl. Oberloskamp, Fremde neue Welten. S. 343. Vgl. Snowden, TBR. Kapitel 2 „Making Our Plans“, S. 30 und Kapitel 15 „The Future of Russia“, S. 179.

1.4 Literarizität in Snowdens Reisebericht

175

Report nicht; hier werden ausschließlich thematisch konkrete Phänomene angegeben558. Schon das Inhaltsverzeichnis, die Namensgebung und die Anordnung der Kapitel lassen ein großes Interesse der Autorin für den Kommunismus erkennen. Vor dem Hintergrund der durchaus kritischen Namensgebung einzelner Kapitel verwundert es nicht, dass die Autorin sich auch innerhalb der Kapitel als Kritikerin gewalttätiger Umstürze und Diktaturen geriert. Und doch finden sich häufig Relativierungen der Gräueltaten und des Machtmissbrauchs durch die Bolschewiki – hier werden ausländische Kräfte für das Elend der Menschen verantwortlich gemacht, dort ist es die Weiße Armee, die noch grausamer vorgeht als die Rote Armee. Selbst die Čeka erfährt zumindest zu Beginn ihrer Thematisierung eine Relativierung, obgleich Snowden mehr als einmal in ihrem Bericht auf die Angst verweist, die vor dieser Institution unter den Einwohnern Russlands herrscht. Der letzte kryptische Absatz ihres Reiseberichts: For the Russians are amongst the world’s most tender dreamers. Humanity sorely needs their vision in this hour. At a time when the fatal folly and weakness of a few has flung mankind into the pit of materialism, it would be of incalculable value to Europe and the world to restore to it the idealism of a hundred millions of dreamers.559

gibt ihre nach wie vor bestehende Hoffnung in die Idee des Sozialismus zu erkennen. Als Handlungsmotivation kann dieser Abschnitt ob seiner Undeutlichkeit nicht verstanden werden. Jedoch zeigt er einmal mehr Snowdens Fokus an: die Menschen und die sozialistische Idee. Für Snowdens Auswahl kann festgehalten werden, dass sie vornehmlich kommunistische Gesprächspartner nebst ihren mehrheitlich kritischen Aussagen abbildet und offensichtlich oppositionelle Personen zwar erwähnt, jedoch nicht näher beleuchtet. Vor dem Hintergrund der Aufnahme und Darstellung kritischer Stimmen durch vermeintliche Systemanhänger zeigt die Autorin das (kommunistische) „Gebilde“ als nicht fehlerfrei und unbedingt reformbedürftig, da es vom ursprünglichen Kern des Sozialismus abweicht. Die besondere Auswahl der Zeugen, die Snowden abbildet, sorgt dafür, dass es der Autorin besser gelingt, die Ambivalenz des Kommunismus authentisch darzustellen. Da offensichtlich oppositionelle Personen leicht dem Vorwurf fehlender Objektivität 558 559

Vgl. Guest, British Labour Delegation. S. 6–11 (Bspw. „General Conditions: Food and Clothing, Housing, Industrial and Political Life“). Snowden, TBR. S. 188.

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1 Reisendes Delegationsmitglied – Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia

und einer übertrieben kritischen Haltung anheimfallen könnten, würde deren Meinung zuzeiten geringer gewertet. „Wahren“ Kommunisten jedoch, die dem System wohlwollend gegenüberstehen, wird in Bezug auf Kritik a priori größere Neutralität zugesprochen. So gewinnt deren Unzufriedenheit die Kraft eines schlagenden Arguments für Snowdens These der mangelhaften Funktionsweise des Bolschewismus. Es kann geschlussfolgert werden, dass die Selektion bei Snowden u.a. der Entdeckung systemimmanenter Mängel dient, die als einfache Tatsachen, aber auch als Warnung an die britische Leserschaft (die sich größtenteils aus hoffnungsvollen Sozialisten speiste) verstanden werden können.560 Indem die ‚Erzählerin‘ selbst zurücktritt und verschiedenen Personen in Form von Monologen oder Dialogen das Wort übergibt, gewinnen die thematisierten Angelegenheiten an Glaubwürdigkeit, da nun nicht mehr durch den Blick einer Außenstehenden perspektiviert, sondern Wissen erster Hand preisgegeben wird. Obgleich Snowden als Auge und Ohr für den Leser fungiert und viele Sachverhalte persönlich kommentiert, versucht sie, sehr persönliche Gedanken über innere Vorgänge, von wenigen Ausnahmen abgesehen 561 , auszulassen. Damit leistet sie der erwarteten Objektivität eines Berichts Folge. Auch gemessen an einer Definition für „berichtendes Sprechen“ erfüllt Snowden ihre Aufgabe als Abgesandte: Sie nimmt sich selbst explizit zurück und artikuliert in ihrem Text „weniger Details als vielmehr […] Resultate bestimmter prozessualer Abläufe“. 562 Die meistenteils politischen Forderungen jedoch, mit denen sie die Leserschaft konfrontiert, lassen indirekt auf ihre persönliche Einstellung schließen – damit wiederum gibt sie sich selbst implizit zu erkennen. Generell kann Snowden durch ihre Teilnahme an der gewählten Delegation vom Vertrauen des lesenden Publikums in ihre Aussagen ausgehen. Der Verweis auf die endoxa, d.h. ihre Ausweisung als Delegationsmitglied weist sie als von höherer Stelle legitimiert für dieses Unternehmen aus. Allein die mediale Begleitung dieser Reise durch inländische britische Zeitungen weist jeden Zweifel, Snowden wäre nicht vor Ort gewesen, zurück. Ihre persönlichen, internationalen Erfahrungen mit Men560

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Auf Seiten ihrer Parteigenossen in der ILP generiert diese Kritik wenige Sympathien. (Vgl. Graubard, British Labour. S. 28; Hannam, Snowden, Ethel. S. 501; Cross, Philip Snowden. S. 170 f.) Angesichts einiger Situationen äußert Snowden ihre Gefühle. Vgl. Snowden, TBR. S. 41 (Schauder aufgrund von Fanatismus), 159 (Abscheu nach dem Gespräch mit einem Mitarbeiter der Čeka). Vgl. Lehmann, Bekennen, erzählen, berichten. S. 61.

1.5 Die Ich-Erzählerin des Reiseberichts als erlebendes Ich

177

schen in Notsituationen untermauern zudem die Richtigkeit, die mit ihrer Wahl für diese Delegation getroffen wurde. Die Offenlegung der Herangehensweise an die „Untersuchung“ (investigation) und ihr Zweck stärkt Snowdens Autorität. Bereits im ersten Satz führt Snowden an, dass es sich bei vorliegendem Reisebericht um einen weiteren Augenzeugenbericht handelt. Im Sinne der Investigation563 geht Snowden gezielt an die zu untersuchenden Parameter: Sie schaut genau hin (straight looking at) und erfragt Informationen. Die wenigen ausdrücklichen Verweise auf die Augen- und Ohrenzeugenschaft der Autorin finden sich dann, wenn Snowden auf „Unglaubliches“ hinweisen will. In diesem Fall wird die bloße Darstellung des Fakts transzendiert und die wirkliche Existenz unvorstellbarer Tatsachen bezeugt.564

1.5

Die Ich-Erzählerin des Reiseberichts als erlebendes Ich

Ethel Snowden fährt mit einer klaren Mission nach Russland: Als eine von neun gewählten Abgeordneten soll sie die wirklichen „industriellen, ökonomischen und politischen“ Gegebenheiten des postrevolutionären Russlands prüfen.565 Es ist diese Rolle, aus der heraus sie die Welt vornehmlich in Augenschein nimmt und auch von dieser erblickt wird. Sie befasst sich in unterschiedlich vertiefender Weise mit institutionellen Strukturen Sowjetrusslands und versucht, Funktionsmodi aufzudecken. Die Ergebnisse ihrer Untersuchung fließen letztlich in den offiziellen Bericht der britischen Delegation ein, jedoch verfasst Snowden im Gegensatz zu anderen Delegierten, wie Margaret Bondfield, L. Haden Guest, A. A. Purcell, Robert Williams, Charles R. Buxton keinen eigenen Beitrag für diesen Report.566 Die Wirkung dieser Begegnung mit Welt auf Snowdens eigene Person findet marginal Platz in ihrem eigenen Bericht. Hier erblickt sie die Welt nicht einhellig nach den Maßstäben ihrer Funktion als Delegierte, sondern auch als Sozialistin und Menschenfreundin. 563

564 565 566

Das Oxford English Dictionary gibt als Erläuterung für „Investigation“ „search“ und „examine a matter systematically or in detail“ an. („Investigation“. In: The Oxford English Dictionary. 20 Bd. Bd. 8. Oxford 1989. S. 47.) Damit wird bereits die Determiniertheit der Reisenden und auch der Reise impliziert: Der Fokus der Reisenden liegt auf der Entdeckung der Gegebenheiten in Russland. Vgl. Michel de Certeau (1985, S. 68), zitiert in: Greenblatt, Wunderbare Besitztümer. S. 193. Vgl. Snowden, TBR. S. 7. Vgl. Guest, British Labour Delegation.

178 1.5.1

1 Reisendes Delegationsmitglied – Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia

Delegierte

Als Delegierte ist sich die Autorin der Verantwortung und Deutungshoheit bewusst und legt von vornherein die Grenzen ihrer Einmischung in die Belange des Landes fest567; zudem legt sie offen die Zweifel dar, die sie in Anbetracht ihrer Mission überkommen 568 . Die Unsicherheiten, gerade in Hinblick auf den missverständlichen Umgang und die Erwartungshaltung seitens der russischen Regierung, werden ausgeräumt, nachdem der Delegation die „totale Freiheit im Umgang“ zugesagt wird.569 Diese Freiheit sind sie gewillt zu nutzen: Sie wollen sehen, hören und erkunden. 570 Auch in ihrem Fazit macht Snowden sich noch einmal klar, dass es ein Ergebnis der Untersuchungen geben muss – etwas, worüber berichtet wird. 571 Im Bewusstsein der prekären Beziehungen zwischen Russland und Großbritannien planen die Delegierten, mit Vorsicht und Diplomatie an die Publikation der Untersuchungsergebnisse zu gehen.572 Als Delegierte agiert Snowden als eine im weitesten wissenschaftlichen Sinne „Teilnehmende Beobachterin“. Die Teilnehmende Beobachtung bedeutet als Methode der ethnologischen Feldarbeit das mehr oder weniger aktive Dabei-Sein bei einer Situation. 573 Dabei befindet sich der Teilnehmende Beobachter in einem Spagat aus Nähe und Distanz. 567

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„We had very definite views of the main principles embodied in the various Communist manifestos which, from time to time, had mysteriously found their way into this country. But we were solid in our conviction that, whatever we found in Russia, good, bad or indifferent, it was the concern of the Russians themselves, and became our business only when it was sought to impose upon Great Britain the same things, without regard to the vital differences between the two countries.“ (Snowden, TBR. S. 24.) Vgl. ebd. S. 24 f. Vgl. ebd. S. 48. Vgl. ebd. S. 49, 73, 95. – Dass allen Delegierten bewusst zu sein scheint, dass die Umstände der Untersuchung stark vom Wohlwollen ihrer Gastgeber abhängen, zeigt sich daran, dass sich unter den Delegierten nur zögerlich ein Einvernehmen finden lässt, sich vollends und kritiklos in die Hände ihrer Gastgeber zu begeben. (Vgl. ebd. S. 47.) „We speculated upon the possible change of view which might have been effected in some of us by our experiences. What should we say to the people who had sent us out? And what ought we to say to the great working-class public at home anxious to have our report?“ (Ebd. S. 179.) „One thing we were unanimous in hoping: That nothing might be said or done that would make it more difficult for peace with Russia to be concluded speedily.“ (Ebd. S. 179.) Vgl. Brigitta Hauser-Schäublin, „Teilnehmende Beobachtung“. In: Methoden und Techniken der Feldforschung. Bettina Beer (Hg.). Berlin 2003. S. 33–54. S. 34.

1.5 Die Ich-Erzählerin des Reiseberichts als erlebendes Ich

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Zu viel Nähe verdeckte den eigentlichen Blick von außen, zu viel Distanz sorgte dafür, dass die zu einem besseren Verständnis dienenden Einsichten in den „fremden“ Alltag unzugänglich blieben.574 Es handelt sich um eine Herangehensweise, mit der sich „der Ethnologe den Menschen, deren kulturelles Verhalten er untersuchen möchte, anzupassen versucht“ 575 . Idealiter zeigt sich der Teilnehmende Beobachter seiner Umgebung gegenüber empathisch und mitfühlend und ist bestrebt, sowohl vertrauenswürdig zu agieren als auch den der erforschten Umgebung zugehörigen Menschen Vertrauen entgegenzubringen.576 Snowden erfüllt diese an den idealen Teilnehmenden Beobachter gestellten Anforderungen größtenteils. Sie sucht die Nähe zu einzelnen Menschen der Bevölkerung und schenkt ihren Worten Gehör. Obwohl sie die jeweiligen Lebensumstände ihrer russischen Gesprächspartner für ihre Zwecke zu nutzen weiß – beispielsweise als Beleg für den desaströsen Zustand der russischen Lebensbedingungen –, verzichtet sie auf die namentliche Nennung ihrer „Zeugen“. Somit schützt sie diese vor den mutmaßlichen Folgen kritischer Äußerungen und zeigt ihre eigene Vertrauenswürdigkeit. Als Delegierte sieht sie sich als Vermittlerin und als Zeugin für die britische Bevölkerung, für die sie ihre Erfahrungen notiert. Auch dieser Sachverhalt des „Festhaltens des Erlebten“ zeichnet sie als Teilnehmende Beobachterin aus. Zur wissenschaftlichen Methode der Teilnehmenden Beobachtung gehört ein Spektrum an weiteren Methoden, hierunter u.a. das (mitunter zufällige) persönliche Gespräch beziehungsweise das gezielte Interview.577 Nicht umhin kommt der Forscher, sich in solchen Fällen Notizen zu machen, um das Erlebte schriftlich zu fixieren. Eingehende Nachbereitungen dieser Mitschriften dienen hernach dazu, das Gesehene und Gehörte mit dem Erlebten abzugleichen. 578 Sowohl der 574 575 576 577 578

Vgl. ebd. S. 38. Ebd. S. 43. Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 45. Vgl. ebd. S. 44 f. – Hauser-Schäublin schreibt hierzu: „Wenn Beobachten während der Teilnahme schon immer selektiv ist [bedingt durch absichtliche und unabsichtliche Auswahl des Erlebten, d. Vf.], dann stellt das Notieren von Gesehenem, Gehörtem und Gesagtem nochmals eine Auswahl aus der Summe der Sinneseindrücke dar: Manche werden festgehalten, andere – und in den meisten Fällen: die Fülle der Eindrücke – werden nicht aufgezeichnet. Vieles bleibt als Eindruck und Stimmung irgendwo im Kopf – und beginnt, sich im Lauf der Zeit als Erinnerung zu verändern.“ (Ebd. S. 49.) Damit steht der Teilnehmende Beobachter vor dem gleichen

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offizielle Delegationsreport als auch Snowdens Through Bolshevik Russia stellen solcherlei Aufzeichnungen im weitesten Sinne dar. Mit dem offiziellen Delegationsreport findet sich das Ergebnis des Blickwinkels der gesamten Delegation auf Russland – der Blick des Wir. Snowdens eigener Reisebericht hingegen widerspiegelt die höchst persönliche Sichtweise der Autorin. Als Teil der Delegation formuliert sie in ihrem persönlichen Bericht das Erblicken der russischen Welt sowohl aus Sicht des Wir579 als auch aus der Warte der singulären ersten Person. Die Teilnehmende Beobachtung wird als offene Methode betrachtet, die einer ersten Exploration dienen soll und durch ihre „Offenheit“ – bestenfalls auch die Offenheit des Forschers – die Untersuchung mitunter in eine völlig neue Richtung führen kann.580 Die von Snowden in der „Einleitung“ und im Kapitel „Making Our Plans“ dargelegten Ziele und Herangehensweisen deuten darauf hin, dass dies bei der Reise nicht konsequent der Fall war, da ihr eine allgemein formulierte Zielsetzung zugrunde lag 581 , jedoch zugleich alle beteiligten Delegierten mögliche praktische Umsetzungsschwierigkeiten in Betracht zogen 582 . Wie von Snowden erwähnt, lag zudem auch von russischer Seite ein solcher Plan vor – dieser, ausgehend von Stephen Whites Ausarbeitungen 583 , scheint teilweise 584 von der Delegation mitgestaltet worden zu sein, hatte also vermutlich die anvisierten Ziele der Untersuchung im Fokus. Schaut man auf die im Reisebericht auffindbare Fremdwahrnehmung, entbirgt sich Folgendes: Der Umgang der russischen Regierung mit den Delegierten verweist auf die Wichtigkeit, die den Abgeordneten in Sowjetrussland zugeschrieben wurde. Sie werden überdurchschnittlich gut versorgt und untergebracht, ihnen zu Ehren werden Empfänge und Paraden veranstaltet585, doch offenbart sich recht schnell, dass die Zu-

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Dilemma wie auch der Reisende beziehungsweise der Rezipient des Reiseberichts: Was vorliegt ist die Selektion einer Selektion. Vgl. Snowden, TBR. S. 8. Vgl. Hauser-Schäublin, „Teilnehmende Beobachtung“. S. 45. Vgl. Snowden, TBR. S. 7. Vgl. ebd. S. 24 ff. Vgl. White, „British Labour“. S. 236. „The time-tables given to us when we entered Petrograd and Moscow were simply staggering. ‚Can human beings go through that and live?‘ we asked one another.“ (Snowden, TBR. S. 50.) Vgl. ebd. Bspw. S. 31, 107.

1.5 Die Ich-Erzählerin des Reiseberichts als erlebendes Ich

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sage kompletter Freiheit im Land, eine Illusion ist586. Zudem wird die Intention der Delegierten, eine objektive Untersuchung der Umstände durchzuführen, missverständlich aufgenommen: Sie werden durchweg als Abgesandte desselben kommunistischen Geistes verstanden, wogegen sich Snowden mit Verweis auf die Differenz zwischen Russland und Großbritannien heftig wehrt. 587 Die zugesagte Freiheit entpuppt sich als Schein, da die Delegierten nach Snowdens Dafürhalten permanent beobachtet werden. 588 Dies mag dem Umstand geschuldet sein, dass ihnen, als vermutlich erste Delegation aus Großbritannien589, nicht durchgängig vertrauensvolles Wohlwollen entgegengebracht werden konnte. Betrachtet man den politischen Hintergrund und die erst im Januar 1920 erfolgte formale Beilegung der Wirtschaftsblockade durch die Alliierten, kann das Misstrauen, das sich in einer, Snowdens Meinung nach, permanenten Begleitung ausdrückt, nachvollzogen werden. Auch innerhalb dieser Arbeiterdelegation hätte der Mutwillen zur Spionage, Unterwanderung und Sabotage einen Platz gefunden. 590 Die Instrumentalisierung der Delegierten zu Propagandazwecken, die sich als weiterer Blick der Regierung auf die Delegation zeigt, deutet sowohl auf die Bolschewiki selbst, als auch auf die Wichtigkeit der Delegierten in ihrer Außenwirkung. 1.5.2

Sozialistin, Philanthropin, Pazifistin

Grundlegend für Snowdens Teilnahme an der Reise ist ihre jahrelange parteipolitische Arbeit. Ihr Engagement für den Sozialismus zeigt sich nicht zuletzt an ihrer Mitgliedschaft in der Fabian Society. Ihre Vertrautheit mit der ideologischen Grundidee durchschimmert an verschiedenen 586 587 588 589 590

Vgl. ebd. S. 50 f., 59. Vgl. ebd. S. 67 f. Vgl. ebd. S. 49. Vgl. Heeke, Reisen zu den Sowjets. S. 84. Dies zeigt sich auch an der Aussage eines Geheimdienstmitarbeiters, den Snowden direkt mit ihrem Eindruck konfrontiert, dass die Menschen Angst hätten, frei mit den Delegierten zu sprechen: „‚Why,‘ I asked, ‚have many people expressed a fear of coming to see us? And when they come, why are they afraid to speak with perfect confidence?‘ – ‚Because,‘ said this clever person, sarcastic and evasive, ‚English people have been here before and have tempted our people into counterrevolutionary activities which have got them into very serious difficulties. They do not want to be caught again.‘“ (Snowden, TBR. S. 158.)

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1 Reisendes Delegationsmitglied – Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia

Stellen ihren Reisebericht und steht gleichzeitig für die Hoffnung, die Snowden in den Sozialismus legt. Wichtig ist ihr jedoch die Durchsetzung aller Ziele auf friedlichem Wege und so kann sie den bolschewistischen Machterhaltungsstrategien, der Diktatur der Kommunisten und Proletarier, nur kritisch und ablehnend gegenüberstehen. Grundlegend verantwortlich für diese pazifistische Haltung ist Snowdens Anteilnahme und ihr Interesse am Wohlergehen des Einzelnen. Diese scheinen ihr als Grundlage für jedwede politische Entscheidung zu dienen. Hier legt sie den Maßstab für Erfolg und Misserfolg einer Regierung und damit nicht zuletzt für ihre zustimmende oder ablehnende Haltung. Ihre Vertrautheit und Hinwendung zum Sozialismus zeigt sich an der Reaktion der Delegierten auf das Symbol der sozialistischen Bewegung an der Grenze zu Russland: die rote Fahne. 591 Wenn es jedoch einen grundlegenden Konflikt zwischen ihr und den Bolschewiki gibt, ist es die Frage nach der Mittel-Zweck-Relation. Für Snowden gibt es keinen Zweck, der jedes Mittel heiligen würde – schon gar nicht, Mittel der Gewalt gegen Menschen. Im Gegensatz zu den Bolschewiki besteht sie auf der Annahme, dass ein System niemals auf Hass basieren könne592 und bemängelt daher an der „Diktatur des Proletariats“ zweierlei. Zum einen, dass es nicht sämtlich die humanistische Idee umfasst593, zum anderen, dass es sich um die „künstliche“ Diktatur einer Minderheit handelt, die jedwede freie Meinungsbildung verhindert und somit das Ziel einer „Diktatur der Idee“, die Snowden favorisiert, unterbindet594. Durch und durch von der Wirksamkeit demokratischer Systeme überzeugt, kritisiert sie den undemokratischen Machterhalt einer Minderheit, der ihrer Meinung nach nicht den Willen der Bevölkerung widerspiegelt.595 Der mit einer Diktatur, 591

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„Perhaps the most thrilling and dramatic note was struck by the fixture of a big red flag on the frontier. The sight of it was altogether too much for some of our more ardent spirits. They burst rapturously into song, first ‚The Internationale‘.“ (Ebd. S. 30.) Vgl. ebd. S. 44, 182. „Some of the thoughts so advertised were very fine, and one I cannot refrain from mentioning, representing as it does all that is best and finest in the Communist idea: ‚We are working for the children, for the future, for humanity.‘ This is a much bigger conception than the ‚dictatorship of the proletariat,‘ which is a very big and very important section, but only a section of ‚humanity.‘“ (Ebd. S. 53 f.) „Let there be no mistake whatever about this. I am wholly hostile to the artificial dictatorship of any class in those matters which are the serious concern of all. I believe in the dictatorship of the idea, that is in the power of the idea to conquer without force, and the right of the majority to decide all those matters of high policy which cannot be settled amicably without a vote.“ (Ebd. S. 150.) Vgl. ebd.

1.5 Die Ich-Erzählerin des Reiseberichts als erlebendes Ich

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sei es durch das Proletariat oder durch die Kommunisten, in Zusammenhang stehende und vielen Kommunisten eigene Fanatismus scheint Snowden bei Lenin zwar zu beeindrucken596, ist ihr an anderer Stelle jedoch zuwider597. Selbiges gilt auch für jene, mit der Diktatur zusammenhängenden Institutionen wie die Čeka, die Terror in der Bevölkerung verbreitet und damit bei der Pazifistin, Demokratin und Philanthropin Snowden nur auf Widerwillen stoßen kann.598 Bereits im ersten Satz des Kapitels über die militärische Kraft Russlands gibt sie ihre größte Hoffnung an: den baldigen Frieden zwischen Polen und Russland.599 Dass Frieden generell das Ziel, vor allem im Sinne einer erfolgreichen und menschenwürdigeren Umsetzung des „großen Experiments“ in Russland sein sollte, legt Snowden auch noch einmal dezidiert in ihrem Resümee dar.600 Ihrer Meinung nach sind jene an der aktuellen Misere schuldig, die durch nationale und internationale Kriege die Lage verschlimmern und damit die Regierungsaufgabe der Russen behinderten.601 Damit entschuldigt sie indirekt partiell die repressive Vorgehensweise der bolschewistischen Regierung und übt gleichermaßen Kritik an der britischen Regierung. Als Humanistin legt sie großen Wert auf gute Bildung – die sie in Russland nicht vorfindet. Einziges Ziel des russischen Bildungswesens, so ihre Erkenntnis, scheint die Indoktrinierung mit kommunistischen Ideen zu sein.602 Während sie die politische Elite kritisch betrachtet, findet sie freudig erfüllte Worte über die russische Bevölkerung, die ihr in Form persönlicher Kontakte und auch als namen- und zahllose Vertreter 596 597

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Vgl. ebd. S. 117. „I shuddered in the presence of a terrible fanaticism.“ (Ebd. S. 41.) – „[...] but I am convinced that his is the fanaticism which would run the ship of State upon the rocks if not controlled by more temperate men.“ (Ebd. S. 120.) „The pervading fear worked terribly on the subconscious selves of some of us, and we lived hourly in a spirit of hot hate of the cruelties and tyrannies which met us at every turn.“ (Ebd. S. 156.) Vgl. ebd. S. 81. „My great hope for the future of Russia lies in the possibilities of peace.“ (Ebd. S. 186.) „And the greater part of the blame for all that has happened and is happening to the opponents of unadulterated Communism must be laid upon the shoulders of those who, by promoting wars, civil and foreign, have made their task of government impossibly hard.“ (Ebd. S. 69.) „But I have been interested in education all my life, and I feel very strongly that it is a wrong to a child to bend its mind towards any special theories, Communist or other.“ (Ebd. S. 99.)

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1 Reisendes Delegationsmitglied – Ethel Snowdens Through Bolshevik Russia

der Gewerkschaften begegnet. Fern der Politik findet sie hier Menschlichkeit und erfüllende Momente, die ihre leichte Erstarrung (half frozen minds), vermutlich ob des in Erfahrung gebrachten repressiven Vorgehens der Regierung, auflöst.603 Obgleich sie die Substituierung des christlichen Glaubens durch die Ideologie der Bolschewiki stark kritisiert und auch in Frage stellt604, hebt sie lobend die dadurch forcierte Abschaffung einer korrupten Kirchenadministration hervor. Sie sei positiv für den einfachen Menschen605. Wieder sind es die Menschen, auf die sie ihr Augenmerk legt und an denen sie ihre Bewertung ausrichtet. Selbst dem Mittelstand Großbritanniens entstammend, wäre zu vermuten, dass sie an den Belangen und dem Schicksal der liquidierten bürgerlichadligen Gesellschaftsklasse weniger interessiert war. Diese Annahme bewahrheitet sich nicht, da Snowden in ihrem Bericht an mehreren Stellen jenen ihr tiefes Mitgefühl ausspricht, die durch die Machtergreifung der Bolschewiki ihr Leben und ihre Habe lassen mussten.606 In Bewusstwerdung der Tatsache, dass ihre eigene luxuriöse Unterbringung in Petrograd in ehemaligen Gemächern Adliger stattfindet und, dass das von der Regierung für die Delegation bereitgestellte Auto dem Zaren gehörte, wird sie gefühlvoll, nahezu pathetisch.607 Doch auch dies scheint ein Zeichen für ihre persönlichen Lebensprinzipien zu sein: Kein menschliches Leben, irrelevant ob adlig oder bürgerlich, sollte um eines Systems willen geopfert werden.608 603 604

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Vgl. ebd. S. 31, 130, 177. „Not by the decrees of Lenin nor of any other person will that which is rooted in the nature and needs of men be cast out – the need of worship and the aspiration after the ideal.“ (Ebd. S. 103 f.) Vgl. ebd. S. 103. Vgl. ebd. Bspw. S. 35 ff. Vgl. ebd. S. 38. „It was the most exaggerated kindness on the part of our hosts, so anxious to make us comfortable and happy, to give us the very best they possessed. But there, for me, was the trouble. They gave us all this luxury and beauty, but was it theirs to give or ours to receive? They had no doubts on this score whatever. They could see nothing at all in the argument that the present possessor of property that belongs morally, if not legally, to the State, having been permitted to grow up in the belief that what the law sanctioned must necessarily be right, is not quite fairly treated if he is quite suddenly turned into the streets without resources, and his property confiscated.“ (Ebd. S. 35 f.) – „I felt like a guilty thing, lying uninvited by its owner in that soft, white bed, whilst the poor creature who once occupied it might be sleeping on straw. I dozed; and inevitably cold, sad eyes in a thin, hungry-looking face would gaze at me with the look of any woman whose house had been entered by intruders she was powerless to put outside. When we rode in the late Czar’s motor-car, I did not feel the presence of my fellow-delegates, but the ghosts of the murdered unhappy little man and his family.“ (Ebd. S. 38.) – „‚For every

1.5 Die Ich-Erzählerin des Reiseberichts als erlebendes Ich

185

Auch Trockij wird im Hinblick auf seine vergangenen Taten in BrestLitovsk anfänglich nach dieser Maßgabe beurteilt und als Mann mit „vorzüglichen“ Idealen hingestellt609. Später findet seine Person mit einer anderen Charakterisierung (zweiter Hand) Einzug in ihren Bericht: Als „das Biest Trockij“, so Snowden, bezeichne man diesen Menschen, der ein Menschenleben hinter militärische Erfordernisse und Disziplin stellt.610 Resümierend legt sie mit dem Ende ihres Berichts noch einmal unmissverständlich ihre Haltung dar, die verdeutlicht, dass sie die Evolution einer Revolution vorzieht. Subtil offenbart sie hiermit auch ihre Wertschätzung des politischen und gesellschaftlichen Zustands in Großbritannien. Die Autorin misstraut dem Versprechen eines „Himmlischen Königreichs auf Erden“ (hypothetical Kingdom of Heaven on earth), das der Kommunismus vorgibt, zukünftig zu sein. Lieber vertraut sie auf die beständige und immerwährende Entwicklung zur sozialistischen Demokratie und erfüllt mit diesem Anspruch die Leitidee der Fabian Society.611 Snowdens Rolle als Delegierte überwiegt quantitativ und auch qualitativ. So liefert der Reisebericht viele Ergebnisse – Snowdens Auftrag entsprechend. Die Ergebnisse werden ohne große Umschweife dargelegt – ebenfalls gemäß ihrer Funktion oder besser: der Funktion des Reiseberichts. Dabei unterlässt es Snowden jedoch, sich schriftlich näher mit ihrer eigenen Rolle zu befassen oder, mit Ausnahme der Thematisierung ihrer Instrumentalisierung, auch die Fremdwahrnehmung zu reflektieren. Der „Blick zurück“, i.e. die Fremdwahrnehmung der Delegierten, findet sich abgesehen vom Verweis auf die Instrumentalisierung zu Propagandazwecken, nur indirekt in Snowdens Bericht. Ihr Fokus liegt auf der Darstellung der Welt und nicht auf der Spiegelung ihrer selbst darin und damit bleibt ihr Reisebericht zumindest in dieser Hinsicht thematisch angemessen.

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one of our comrades who has died like this we will send ten of the bourgeois to their graves.‘ I shuddered in the presence of a terrible fanaticism. Poor ghosts!“ (Ebd. S. 41.) Vgl. ebd. S. 77. – Hiermit wird höchstwahrscheinlich auf Trockijs Rolle in den Friedensverhandlungen von Brest-Litovsk angespielt. (Vgl. Service, Trotzki. S. 272.) Vgl. Snowden, TBR. S. 92. Vgl. ebd. S. 184 f.

2

Reisende Aktivistin – Sylvia Pankhursts Soviet Russia As I Saw It

2.1

Die Reisende und die Reise

Sylvia Pankhurst Sylvia Pankhurst (1882–1960) gehörte zu jenen britischen Persönlichkeiten, die aufgrund ihrer radikalen Hingabe an eine politische Sache weltweiten Ruhm erlangten. Ihr Kampf für das Frauenwahlrecht ging in den Kampf für eine allumfassende Stärkung der Rechte für Frauen über. Aufgewachsen in einer progressiven und politisierten Familie – ihre Eltern waren Dr. Richard und Emmeline Pankhurst 1 – widmete sich Pankhurst bereits in jungen Jahren politischen Anliegen. Die ursprünglich anvisierte Ausbildung zur Künstlerin, die sie nach einem zweijährigen Italienaufenthalt mit der Einschreibung als Studentin der Royal Academy of Arts in London im Jahr 1904 begann2, verlor sich im Taumel der politischen Arbeit, und so blieb die Malerei nurmehr ein Hobby. Erste Erfahrungen als „militante Suffragette“ machte Pankhurst im Jahr 1906, was ihr den ersten von vielen Gefängnisaufenthalten einbrachte3. Obgleich sie dem physisch militanten Kampf der Frauenrechtlerinnen, mit dem ihre Mutter Emmeline Pankhurst die Bewegung nicht nur berühmt, sondern auch berüchtigt machte, recht früh abschwor, entwickelte sie sich zu einer beinahe dogmatischen Propagandistin für diese Sache4. 1

2 3 4

Dr. Richard und Emmeline Pankhurst waren mit der Gründung der Women’s Franchise League nicht nur Initiatoren, sondern aktive Kämpfer für das Frauenwahlrecht in Großbritannien. (Vgl. Romero, E. Sylvia Pankhurst. S. 14, 188.) Politisch standen sie der Fabian Society in ihren Idealen nahe und waren Mitglieder der ILP, gut befreundet auch mit dem Gründer dieser Partei, James Keir Hardy. (Vgl. ebd. S. 15.) Dies brachte es mit sich, dass Sylvia Pankhursts Elternhaus zu einem Treffpunkt für britische Sozialisten wurde. (Vgl. ebd. S. 17.) Vgl. ebd. S. 29. Ebd. S. 45. – Allein im Jahr 1914 absolvierte Pankhurst neun Gefängnisaufenthalte, diese zumeist im Londoner Gefängnis Holloway. (Ebd. S. 80.) „She seemed to believe that more was better. By producing figures which were high [...], she felt that she was aiding her cause of the moment and it is in that light that most of Sylvia’s inaccuracies must be judged.“ (Ebd. S. 82).

2.1 Die Reisende und die Reise

187

Während ihres Kunststudiums in London bewegte sie sich in sozialistischen Kreisen und gründete 1905 den ersten Zweig der Women’s Social and Political Union (WSPU).5 Im Zuge dieser Tätigkeit unternahm sie weltweite Vortragsreisen, u.a. mehrmals in die USA und auf den europäischen Kontinent, wodurch sie nicht nur ein weitreichendes Netzwerk im Bereich der Suffragetten-Bewegung aufbaute, sondern auch generell große Bekanntheit erlangte.6 Ein offener Brief an die britische Regierung, in dem sie ihre Forderungen in Bezug auf das Frauenwahlrecht formulierte, sowie öffentliches Aufsehen erregende Gefängnisaufenthalte, während derer sie in den Hungerstreik trat, machten sie kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges für kurze Zeit zur berühmtesten Person der Frauenwahlrechtsbewegung.7 Schon frühzeitig verdiente sich Pankhurst ihren Unterhalt mit publizistischen Arbeiten 8 , in denen sie u.a. über die Lebensumstände der Menschen in den Arbeitervierteln East Londons berichtete9, ihre Leserschaft über Alternativen zur existenten britischen Regierungsform aufklärte und ihre eigenen politischen Forderungen formulierte. Die von ihr gegründete und herausgegebene Zeitung Women’s Dreadnought 10 wurde zum publizistischen Organ der East London Federation of Suffragettes (ELFS)11, deren Mitinitiatorin Pankhurst war. Mit Ausbruch des 5 6

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Vgl. ebd. S. 42 f. Nach Veröffentlichung ihres ersten Buches, The Suffragette, das in England und in den USA im Jahr 1911 erschien und die Geschichte der Suffragetten-Bewegung nachzeichnet, unternahm sie zwei längere Vortrags- beziehungsweise Lesereisen durch die USA. (Vgl. ebd. S. 57, 60, 62.) Netzwerke innerhalb der Suffragetten-Bewegung knüpfte sie im Rahmen von Reisen auf dem „Kontinent“, d.h. Kontinentaleuropa (Deutschland, Österreich, Ungarn, skandinavische Länder; vgl. ebd. S. 80, 82, 86). Ebd. S. 83. – Vielleicht traf sie aufgrund dieser Bekanntheit noch im Jahr 1914 mit Lloyd George, zu dieser Zeit Kabinettsmitglied, zusammen, um ihn in Bezug auf ihre Vorhaben zu interviewen. (Vgl. ebd. S. 85.) Von Juli bis Dezember 1916 war Lloyd George Kriegsminister (Minister of Munitions and Secretary for War) und wurde in der darauffolgenden Legislaturperiode zum Premierminister gewählt. (Vgl. ebd. S. 102.) Eine Zeit lang schrieb sie für den von George Lansbury edierten Herald, später Daily Herald. (Vgl. ebd. S. 65.) Zudem schreibt Romero: „There was usually a newspaper willing to pay for the privilege of carrying Miss Sylvia Pankhurst as a by-line.“ (Ebd. S. 102). Ebd. S. 65 f. Im Juli 1917 benennt Pankhurst die Zeitung um in Worker’s Dreadnought. (Vgl. ebd. S. 124.) Die ELFS wurde später umbenannt in Workers’ Suffrage Federation (WSF). (Vgl. ebd. S. 114.)

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2 Reisende Aktivistin – Sylvia Pankhursts Soviet Russia As I Saw It

ersten Weltkrieges änderte sich Pankhursts politische Priorität: Als Pazifistin sah sie sich dem Kampf gegen das Kapital, das ihrer Ansicht nach allem kriegerischen Gebaren zugrunde lag, gegenüber12 und kämpfte nun in erster Linie für die gleiche und faire Bezahlung von weiblichen und männlichen Arbeitern.13 Während der Kriegsjahre änderte sich auch der Fokus ihrer Zeitung: The Dreadnought, however, was almost entirely given over to the war, dealing with food and clothing shortages in the East End [of London, d. Vf.] and the relationship between wages and women’s work, but with few references to suffrage. This was a fundamental shift, not only for Sylvia but for the feminist movement as a whole. Before the war, she had followed the lead of the suffrage movement and had given first priority to the vote, although she and other suffragettes had voiced the need for better wages for working women and greater opportunities in the professions. From the outset of the war, she altered her priorities, seeing money as the crux of women’s problems in a world controlled by male capitalists. She placed equal wages first, with the vote as a supporting measure.14

Nach Ausbruch der (zweiten) Russischen Revolution im März 1917 propagierte Pankhurst die Errichtung von Räten (Sowjets) in Großbritannien15 und, obgleich hier über die russische revolutionäre Bewegung nur wenig bekannt war16, führte der Fakt der Revolution zur politischen Radikalisierung ihrer Person.17 Im Gegensatz zu vielen ihrer Mitstreiter im 12 13

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Vgl. ebd. S. 92, 97. Zugleich zeigte sie sich in dieser Zeit als sehr pragmatische Geschäftsfrau, indem sie im Oktober des Jahres je eine Produktionsstätte für Kleidung und Spielsachen errichtete, die Frauen und Männern gleichermaßen die Möglichkeit des Broterwerbs gab und die durch den Krieg sich zum negativen entwickelnde Grundversorgung verbessern sollte (Vgl. ebd. S. 98 f.) Ebd. S. 97 f. Vgl. Bullock, „Sylvia Pankhurst“. S. 140. Ebd. S. 127 f. „Throughout the years of 1918 and 1919, Sylvia moved from one radical cause to the next, even more radical, cause: from peace at any price to strong support for the Bolsheviks in the Russian Revolution, to organization of the first Communist Party in Great Britain – the Communist Party, British Section of the Third International (CP–BSTI). The utopian strain in her old socialist faith reappeared in her new one […].“ (Romero, E. Sylvia Pankhurst. S. 122; vgl. auch ebd. S. 128.) – „The Dreadnought, which presumably reflected Sylvia’s stand, took a radical line – indeed, Lenin’s phrase, ‚leftwing Communism‘, best describes Sylvia and her paper during this phase.“ (Ebd. S. 124.)

2.1 Die Reisende und die Reise

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politisch linken Milieu war ihre Haltung zu den Bolschewiki ab November 1917 eindeutig: Sylvia, meanwhile, increasingly adopted the Russian cause as her own in the campaign from Old Ford Road […]. Russia, under the leadership of Lenin, was the utopia she had been seeking ever since she first developed strong anti-British government attitudes in the suffrage crusade.18

Abermals spiegelte sich die Entwicklung auch in ihrer Zeitung wider, weshalb der Dreadnought eine Zeit lang als die kommunistische Stimme Englands galt und neben George Lansburys (Daily) Herald zu den von sowjetischer Seite am stärksten finanziell unterstützen Medien Großbritanniens gehörte. 19 Im mittlerweile in Workers’ Dreadnought umbenannten Blatt wurden nun neben politischen Kolumnen auch russische Propaganda und Übersetzungen von Lenins und Trockijs Schriften abgedruckt.20 Eines der großen Ziele, die Pankhurst in dieser Zeit verfolgte, war die Bündelung der mannigfaltigen sozialistischen und kommunistischen Strömungen Großbritanniens zu einer Partei. Hierbei kristallisierte sich deutlich ihre Haltung zu zwei stark diskutierten Punkten innerhalb der verschiedenen Gruppierungen: Gleichermaßen vehement sprach sie sich gegen eine Angliederung an die Labour Party und auch eine Einbindung der neu zu gründenden Partei in parlamentarische Strukturen aus. 21 Da diese zwei Punkte im Rahmen der ersten Zusammenkünfte aller sozialistisch beziehungsweise kommunistisch organisierten Kräfte zu den grundlegenden Streitpunkten wurden22, wandte sie sich mit ihrer 18

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Ebd. S. 124, 132.; vgl. auch Bullock, „Sylvia Pankhurst“. S. 122,; vgl. auch Sylvia Pankhurst, „The Lenin Revolution: What It Means to Democracy“. In: Workers’ Dreadnought. London 17.11.1917. Vgl. Romero, E. Sylvia Pankhurst. S. 130. Vgl. ebd. S. 128. – Im Zuge der Propaganda für Russland beziehungsweise die Bolschewiki kam es auch zur Durchsuchung des Büros ihrer Zeitung. (Vgl. ebd. S. 124.) Vgl. ebd. S. 134. „Sylvia’s brief period as a political leader in the British communist movement and her correspondingly larger audience was rooted in this discontent.“ (Ebd. S. 134, 139.) – Ein Artikel von Pankhurst und William Gallacher, der am 21.02.1920 im Dreadnought veröffentlicht wurde, stellt ihre Position (außerparlamentarisches Wirken der neu zu gründenden Partei, Ablehnung einer Anbindung an die Labour Party) noch einmal dezidiert heraus. Lenin antwortet darauf im Frühjahr 1920 mit einem Artikel „‚Left Wing‘ Communism, an Infantile Disorder“ und stellt diese Position nicht

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2 Reisende Aktivistin – Sylvia Pankhursts Soviet Russia As I Saw It

festen Einstellung schriftlich an Lenin, der ihr unmissverständlich antwortete: „For my own part, I am convinced that the revolutionary British workers are mistaken in their refusal to participate in the Parliamentary elections.“23 Während Pankhurst in den zwei Fragen ihrem Standpunkt treu blieb24, kam es auf Grundlage des kleinsten gemeinsamen Nenners, i.e. die Anbindung der zu gründenden kommunistischen Partei Großbritanniens an die III. Komintern, im Mai 1919 zu ersten Verhandlungen25. Pankhurst selbst setzte ihre Propaganda für eine kommende Revolution in Großbritannien fort26 und nutzte nun öffentliche Auftritte, um diese unverhohlen zu fordern27. Die ihr eigene „hysterische Rhetorik“, gemäß ihrer Biografin typisch für Pankhursts „kommunistische Jahre“, traf jedoch mit Ausnahme einiger radikaler Mitkämpfer ausschließlich auf taube Ohren.28 Ihre stoische Haltung brachte ihr im Laufe des Jahres 1920 weitere Kritik von Seiten Lenins ein. Darauf reagierte Pankhurst im Frühsommer 1920 mit den folgenden Worten in einem Brief: „If you [i.e. Lenin, d.Vf.], through the influence of the Labour Party […] can obtain me a passport, I shall gladly meet you in debate.“29 Ihre Bitte fiel auf fruchtbaren Boden, und während es im Juni 1920 zur Gründung der ersten offiziellen Kommunistischen Partei Großbritanniens30 kam, der der Workers’ Dreadnought als offizielles publizistisches Organ diente31, befand sich Pankhurst32 bereits in Vorbereitungen zu ihrer Reise nach Russland.33

23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33

nur in Frage, sondern widerlegt sie kategorisch. Dieser Diskussionspunkt kann als einer der Aufhänger für Pankhursts Brief an Lenin, der den Vorschlag der Fortsetzung dieser Debatte im persönlichen Gespräch in Russland unterbreitet, gesehen werden. (Vgl. Bullock, „Sylvia Pankhurst“. S. 121.) Romero, E. Sylvia Pankhurst. S. 135. Vgl. ebd. S. 139. Vgl. ebd. S. 134. Vgl. ebd. S. 126. Vgl. ebd. S. 135 f. Vgl. ebd. S. 136. Dreadnought (10.07.1920), zitiert in: ebd. S. 141. Die Communist Party–British Section of the Third International (CP–BSTI), später schlicht Communist Party Great Britain (CPGB) genannt. Vgl. ebd. Pankhurst sprach kein Russisch. (Vgl. Pankhurst, SR. S. 21.) „It was at this stage of disorder on the home front that Sylvia left, still without a travel permit, to attend the Second Congress of the Third International. Her trip was paid by more funds from Russia.“ (Romero, E. Sylvia Pankhurst. S. 142.)

2.1 Die Reisende und die Reise

191

Nur einen Monat nach ihrer Rückkehr aus Russland, am 20. Oktober 1920, wurde Pankhurst mit dem Vorwurf der Aufwiegelung der britischen Armee zur „Meuterei und Gesetzlosigkeit“ mit Hilfe ihrer Zeitung Workers’ Dreadnought zu einer Gefängnisstrafe von sechs Monaten verurteilt, wovon sie vier Monate verbüßte 34 und im Mai 1921 unter medialem Aufsehen vorzeitig entlassen wurde 35 . Nicht viel später erreichte sie die Information, dass der Workers’ Dreadnought ohne Absprache als Sprachrohr der mittlerweile neu formierten Communist Party Great Britain fungieren solle. 36 Da Pankhurst diesen Vorgang als Herausgeberin der Zeitung ablehnte, wurde sie im September 1921 aus der Partei ausgeschlossen. 37 Diese Tatsache veranlasste sie, eine weitere kommunistische Partei, die Communist Workers’ Party, zu gründen, die jedoch, so die Biografin Romero, niemals den Status einer wirklichen Partei erreicht hätte.38 In späteren Stellungnahmen zu diesem Sachverhalt sprach Pankhurst von einem selbstgewählten Austritt aus der Communist Party Great Britain und gab damit bereits jenem zukünftigen persönlichen Narrativ Raum, in dessen Rahmen sie ihre kommunistische Vergangenheit leugnete.39 34

35

36

37

38 39

Vgl. ebd. S. 148; vgl. „Miss Sylvia Pankhurst Arrested“. In: The Times. London 20.10.1920. S. 12.; vgl. „Sylvia Pankhurst Charged.“ In: The Times. London 21.10.1920. S. 7.; vgl. „Mysterious Alien. Sylvia Pankhurst’s Letter to Lenin.“ In: The Times. London. 27.10.1920. S. 12.; vgl. Bullock, „Sylvia Pankhurst“. S. 142. Vgl. Romero, E. Sylvia Pankhurst. S. 151; vgl. „Sylvia Pankhurst Released.“ In: The Times. London 31.05.1921. S. 12. – Dazu schreibt Romero: „A large crowd gathered at the entrance and sang ‚The Red Flag‘“. (Romero, E. Sylvia Pankhurst. S. 153.) Bereits seit Mitte des Jahres 1920 wurde das Büro des Dreadnought regelmäßig durchsucht und sie selbst stand spätestens seit ihrer Rückkehr aus Russland und dem Gerücht, dass Lenin sie geschickt hätte, um die Einigung der kommunistischen Strömungen voranzubringen, unter besonderer Überwachung der Special Branch der britischen Polizeikräfte und des britischen Home Office (Home Department, ein Teil des Innenministeriums, das für die innere Sicherheit (Bekämpfung von Verbrechen, Terrorismus, Datenschutz) zuständig ist). (Vgl. ebd. S. 146.) Während der Zeit ihres Gefängnisaufenthalts, im Januar 1921, wurde die Communist Party–British Section of the Third International in die Communist Party Great Britain (CPGB) umformiert. (Vgl. Bullock, „Sylvia Pankhurst“. S. 142.) Vgl. ebd. 122 f., 142.; Vgl. Mary Davis, Sylvia Pankhurst. A Life in Radical Politics. London 1999. S. 88.; Vgl. auch „Communist Discipline. Miss S. Pankhurst Expelled.“ In: The Times. London 17.09.1921. S. 10.; Vgl. „Miss S. Pankhurst and the Communists.“ In: The Times. London 20.09.1921. S. 8. Vgl. Romero, E. Sylvia Pankhurst. S. 153 ff. Vgl. ebd. S. 154 ff. – Bullock stellt die Angelegenheit so dar: „Later, she would argue that since the merger of the parties had taken place when she was ‚inside‘, and she had

192

2 Reisende Aktivistin – Sylvia Pankhursts Soviet Russia As I Saw It

Pankhursts lebenslang aktive publizistische Arbeit beläuft sich auf vier gegründete Tageszeitungen, darunter (Women’s/Worker’s) Dreadnought im März 1914, 22 veröffentlichte Bücher und unzählige Zeitungs- und Zeitschriftenartikel.40 Eine dieser 22 Publikationen stellt ihr Reisebericht Soviet Russia as I saw it aus dem Jahr 1921 dar. Die Reise

Es ist nicht eindeutig eruierbar, wann genau Pankhurst nach Russland aufbrach. Allein eine Mitteilung in der Londoner Times bezeugt, dass sie sich am 11.08.1920 bereits in Russland aufhielt.41 In ihrem Reisebericht bleibt sie vage und schreibt lediglich, dass sie Russland in den ersten Augusttagen erreichte.42 Die von den Bolschewiki koordinierte abenteuerliche, wenn nicht gar gefährliche Reise führte Pankhurst von London über den (englischen) Hafen von Harwich, mit einem norwegischen Frachter (kommunistische Besatzung) nach Kopenhagen.43 Auf dem Landweg durchquerte sie Schweden bis nach Vardo, im nordöstlichsten Zipfel Norwegens gelegen. Von dort überquerte sie in einem kleinen Fischerboot die Barentssee um nach Murmansk zu gelangen.44 Von Murmansk fuhr sie über Petrosavodsk innerhalb von vier Tagen nach Petrograd45 und von dort nach einem kurzen Aufenthalt weiter nach Moskau. Sie übernachtete in Hotels und spontan akquirierten privaten Unterkünften im nördlichen Russland.46 Die Rückkehr kann größtenteils anhand ihres Berichts rekonstruiert werden und beläuft sich auf die gleiche Strecke von Moskau nach Murmansk. Dieses Mal fuhr Pankhurst in Begleitung von drei britischen Männern, die ebenfalls zum Zwecke des Besuchs des zweiten Kongresses der III. Komintern vor Ort waren – einer davon war der offizielle schottische Delegierte der III. Komintern, William Gallacher47. Von Murmansk

40 41 42 43 44 45 46 47

never signed an application form or membership card, she had never been a member and therefore could not be expelled.“ (Bullock, „Sylvia Pankhurst“. S. 142.) Vgl. Romero, E. Sylvia Pankhurst. S. 73.; Vgl. Davis, Sylvia Pankhurst. S. 2. Vgl. „Miss Sylvia Pankhurst among the Reds“. In: The Times. London 11.08.1920. S. 9. Vgl. Pankhurst, SR. S. 176. Vgl. Romero, E. Sylvia Pankhurst. S. 142. Vgl. ebd. S. 142 f. Vgl. Pankhurst, SR. S. 22–25. In Petrograd übernachtete sie im „Hotel International“ (vgl. ebd. S. 30) und in Moskau im „Delavoj Dvor“ (vgl. ebd. S. 34). Vgl. Gallacher, Memoirs. S. 141.

2.1 Die Reisende und die Reise

193

kam Pankhurst per Boot nach Zipnavalok, einem Dorf auf einer Insel in der Barentssee und weiter nach Vaida Guba, von wo aus sie abermals mit einem Boot, jedoch ohne ihre Begleiter, heimlich auf einer abenteuerlichen Reise russische Gewässer verließ und nach Norwegen übersetzte.48 Da sie am 27. September 1920 nachweislich an einer Konferenz britischer Kommunisten in Manchester teilnahm 49 , kann ihre Reisezeit auf den 11. August bis 26. September 1920 eingegrenzt werden. Auch der Zweck ihrer Reise wird im Reisebericht nur vage formuliert. 50 Der vom 19. Juli bis zum 07. August 1920 stattfindende zweite Kongress der III. Komintern, die die Grundlage für die britische kommunistische Partei bildete, kann als eine Inspiration zur Reise betrachtet werden. Allerdings berichtet der schottische Delegierte Gallacher, dass Pankhurst aufgrund ihrer Hinreise als blinder Passagier nicht rechtzeitig nach Moskau kam, als dass sie hätte am Kongress teilnehmen können.51 Demnach schien sie die wichtigsten Inhalte aufgrund einer verspäteten Ankunft verpasst zu haben. Betrachtet man Pankhursts Lebenssituation und die von finanziellen Schwierigkeiten geprägten Umstände ihrer politischen Arbeit, ihre Auseinandersetzungen mit anderen Sozialisten und Kommunisten und nicht zuletzt die regelmäßigen Verhaftungen, liegt es nahe, von einer Flucht vor den Umständen in Großbritannien zu sprechen.52 Ihr Schreiben an Lenin, er möge ihr den Weg nach Russland ebnen, deutet auf einen dritten möglichen Grund für die Reise: ein persönliches Treffen mit Lenin.

48 49 50

51

52

Vgl. ebd. S. 158; vgl. Romero, E. Sylvia Pankhurst. S. 145 f. Vgl. „‚Comrade‘ Sylvia Pankhurst at Manchester“. In: The Times. London 27.09.1920. S. 11. Sie selbst schreibt in ihrem Reisetext: „I had been sent for to take part in the Commission on English affairs, which had been set up by the Third International.“ (Pankhurst, SR. S. 42.) „The Second Congress of the Communist International was scheduled to open in Leningrad in July; after the opening it would move to Moscow.“ (Gallacher, Memoirs. S. 141.) „Sylvia [Pankhurst, d. Vf.] had also taken the stowaway route to Bergen, as had several others, but had turned up too late for the Congress.“ (Ebd. S. 154.) Vgl. Romero, E. Sylvia Pankhurst. S. 142.

194

2.2 2.2.1

2 Reisende Aktivistin – Sylvia Pankhursts Soviet Russia As I Saw It

Russische Welt Allgemein

Murmansk, Petrograd und Moskau sind die drei Städte, die Pankhurst eingehender thematisiert. Murmansk die junge Stadt53, wo sie erstmalig russischen Boden betritt, stellt sie als vom Krieg geschädigt doch als nichtsdestotrotz sauber und aufgeräumt dar54. In der ehemaligen Hauptstadt Petrograd sei der Glamour vergangener Tage bereits lange vor der Sowjetherrschaft verschwunden und die Läden auf dem Nevskij Prospekt seien verbarrikadiert und „bräuchten einen neuen Anstrich“ (a new coat of paint). 55 Petrograd erwähnt sie sowohl im Zuge der Hin- als auch der Rückfahrt, und während sie bei der ersten Erwähnung den Smolny als Herzstück der bolschewistischen Macht charakterisiert 56 , wird später die Stadt als die wichtigste „Brutstätte“ (forcing ground) der revolutionären Arbeiterbewegung benannt57. Nun jedoch, sei sie „verlassen“ (deserted).58 Moskau wird mit einleitender Interjektion als „seltsame Stadt der Widersprüche“ (oh, strange city of contradictions) 59 beschrieben. Der Widerspruch liege, so Pankhurst, darin, dass die Stadt trotz der Revolution „tief mittelalterlich“ (deeply medieval)60 erscheint. Russland stuft sie als ein „großes agrarisches Land“61 ein.

2.2.2

Nahrungsmittelversorgung

Ihre Einschätzung der gesamten Ernährungslage ist widersprüchlich: Während sie zu Beginn der Reise anmerkt, dass die Menge an Essen Engländern nicht ausreichen würde 62 , betont sie an anderen Stellen das

53 54 55 56 57 58 59 60 61 62

Pankhurst, SR. S. 9. Ebd. S. 11. Ebd. S. 28. Ebd. S. 31. Ebd. S. 180. Ebd. Ebd. S. 33. Ebd. Ebd. S. 172. Vgl. ebd. S. 14.

2.2 Russische Welt

195

Übermaß an Essen für sich und Einheimische63. Obwohl sie von einer „langanhaltenden Lebensmittelnot in manchen Gebieten“ 64 berichtet, resümiert sie letztlich, dass Armut und Hunger entgegen der landläufigen ausländischen Meinung bis auf wenige Ausnahmen nicht zu sehen seien65. Sie selbst macht in Petrograd die Erfahrung mangelnder Versorgung, relativiert dies jedoch mit den Worten, dass der Monat September, in dem sie sich im Land aufhält, immer ein Monat der Lebensmittelknappheit sei.66 Mehrmals betont sie die Priorität der Nahrungsverteilung: Kindern, Rotarmisten und Arbeitern in verantwortungsvollen Positionen kämen Extraportionen zu. Seit Mai 1918, so notiert sie, stünden freie Mahlzeiten für alle Kinder zur Verfügung.67 Die eigene Ernährung Pankhursts spiegelt jene der Bevölkerung wider: Schwarzbrot und der „unumgängliche russische Tee ohne Milch, aber mit viel Zucker“ 68 (the inevitable Russian tea, without milk, but with much sugar) stellen das Zentrum dieses Essens an jedwedem der besuchten Orte dar. 69 Daneben ernährt sie sich während ihres Aufenthalts in Russland u.a. von salzigem Fisch und Suppen.70 Während der zweiten Konferenz der Komintern entdeckt Pankhurst Luxusgüter wie Eier, Kakao und Kaffee71; zudem Fleisch und Fisch in sehr kleinen Portionen72. Auch Genussmittel finden in Form von Kvas und Alkohol Erwähnung in Pankhursts Text. Letzterem widmet sie ein ganzes Kapitel, in dem sie die Prohibition und Zuwiderhandlungen gegen das Alkoholverbot thematisiert.73 Sie schreibt: „To-day it is believed that the Russian people have mostly forgotten the very existence of alcohol.“74 Die Delegierten der Konferenz kommen u.a. in den Genuss von Zigaretten und Pfeifentabak.75 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75

Vgl. ebd. S. 77, 82, 152, 156. Ebd. S. 75. Vgl. ebd. S. 172. Vgl. ebd. S. 182. Vgl. ebd. S. 175. Ebd. S. 19. Vgl. ebd. S. 19, 31, 36, 77, 79. Vgl. ebd. S. 14, 31. Vgl. ebd. S. 37, 53. Vgl. ebd. S. 37. Vgl. ebd. S. 183. Ebd. S. 184. Vgl. ebd. S. 38.

196 2.2.3

2 Reisende Aktivistin – Sylvia Pankhursts Soviet Russia As I Saw It

Kleidung

Pankhurst legt ihr Augenmerk nur marginal auf das äußere Erscheinungsbild der Menschen, beobachtet einerseits sehr einfache Kleidung76, die ärmlichen Schuhe eines Arbeiters 77 und Menschen mit „abgetragenen Schuhen und schäbiger Kleidung“ (worn shoes and shabby clothing)78, zudem Menschen in alten Militäruniformen 79 ; merkt an anderer Stelle jedoch an, dass die Menschen „mehrheitlich besser bekleidet sind als in anderen Ländern“ (better clad than in other countries)80. Zudem räumt sie mit dem Vorurteil auf, dass Bekleidung in Russland knapp sei: so seien die meisten Menschen mit einer erfrischenden, anmutigen Einfachheit gekleidet. 81 Auf dem Kongress der III. Komintern bekommt sie keine zerlumpten oder schmutzigen Menschen, sondern „viele russische Blusen aus hellbuntem Leinenstoff“ zu Gesicht.82 Insgesamt will sie feststellen, dass bei der Vielzahl von Menschen, die sie gesehen hat, die Mehrzahl durchaus gut ausgestattet sei.83

2.2.4

Erholung

In Bezug auf kranke Menschen – ohne Krankheit näher zu spezifizieren – schreibt Pankhurst, dass es bei vollem Lohn während der Zeit der Krankheit einen Anspruch auf freie Kuren und Unterhalt gäbe.84 In einem eigenen Kapitel geht Pankhurst auf die Einrichtung von Erholungsheimen ein und zeichnet unter Nutzung blumiger Adjektive einen dieser Orte als locus amoenus.85 Sowohl die Menschen als auch die Ausstattung des eigentlichen Gebäudes werden in einer eigentümlich romantischen Art dargestellt:

76 77 78 79 80 81 82 83 84 85

Vgl. ebd. S. 19, 28. Vgl. ebd. S. 63. Vgl. ebd. S. 172. Vgl. ebd. S. 23. Ebd. S. 171. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 175. Vgl. ebd. S. 146–54. [Kapitel „The Rest Houses“]

2.2 Russische Welt

197

Up the marple stairs in the first of the great windowed, sunny bedrooms, furnished with costly daintiness, are a young husband and a wife, obviously proletarian, she with a book, he with a pen in his hand. In the next white room are three smiling young women in white muslin dresses.86

Die Akteure dieser Szenen, sich erholende Arbeiter, erscheinen dabei statisch, wie Schauspieler auf einer Bühne. Im Gespräch mit diesen erfährt Pankhurst vom vielfältigen kulturellen Angebot des Heims. 87 Sie erlebt eine ganzheitliche Versorgung inklusive der Bewirtung durch Dienstpersonal88 und berichtet, ohne Angabe der Quelle dieses Wissens, von den allgemeinen Bedingungen, die ein Besuch eines solchen Erholungsheims mit sich bringt89. Sie gibt die Darstellung der Umstände durch einen Gast wieder und unterstützt damit ihr Bild des schönen Ortes: „‚It is all most delightful, and all free, nothing to pay. We are here for two weeks, and we have dances, the ballet, concerts, a magnificent library, boating, games; and before, it all belonged to few rich people.‘“90

2.2.5

Medizinische, hygienische und sanitäre Gegebenheiten

Der Zustand der medizinischen Versorgung wird von Pankhurst einerseits und größtenteils anhand der Darstellung der legislativen Gegebenheiten, andererseits anhand eigener Erfahrungen beschrieben. Den gesetzliche Gegebenheiten widmet sie mit „Gesundheitsministerium“ (Commissariat of Health) ein eigenes Kapitel.91 Unter Hinzunahme von Daten erläutert sie die Arbeitsweise desselben und den gesundheitlichen Zustand der Bevölkerung. 92 Besondere Erwähnung findet hier die Einführung einer verpflichtenden Schutzimpfung (compulsary vaccination) gegen Pocken. Russland stelle demnach weltweit die am stärksten treibende Kraft gegen epidemische Krankheiten dar93, wovon die Welt profitieren könne.

86 87 88 89 90 91 92 93

Ebd. S. 147. Vgl. ebd. S. 147 f. Vgl. ebd. S. 149. Vgl. ebd. S. 152. Ebd. S. 147. Vgl. ebd. S. 136. Vgl. ebd. S. 137 ff. Vgl. ebd. S. 138.

198

2 Reisende Aktivistin – Sylvia Pankhursts Soviet Russia As I Saw It

Hygienischen Missständen würde anhand von Aufklärung94 und bestimmten Maßnahmen, besonders in ländlichen Gegenden95, beigekommen. Mit der dennoch vorhandenen Knappheit an Seife und medizinischen und chirurgischen Arbeitsmitteln macht nicht nur das Ministerium96, sondern sie selbst während einer kurzen Erkrankung in Petrograd Erfahrung97. 2.2.6

Umgang mit Hilfebedürftigen

Ihre aufgeschriebenen Beobachtungen der Behandlung von mehr oder weniger hilfebedürftigen Bevölkerungsschichten beziehen sich sowohl auf Mütter mit Babys als auch auf Kinder allgemein sowie auf den Umgang mit Invaliden und Hinterbliebenen von Arbeitern. In einem eigens hierfür entworfenen Kapitel geht Pankhurst auf die sogenannten Mutter-Kind-Häuser ein.98 Neben den Erfahrungen, die sie beim Besuch eines solchen Hauses in Kolomna und einer Baby-Klinik in Moskau macht, gibt sie die Geschichte der Mutter-Kind-Klinik99 und, anhand von Gesetzestexten, die aktuelle Situation der Frau und der Ehe wieder. Sie stellt das Haus als einen genügend Privatsphäre bietenden Ort dar, an dem professionelle Schwestern die Versorgung des Nachwuchses zugunsten der Erholung der Mütter übernähmen.100 Die Zustände in Kolomna bewertet sie positiv, da ausreichend und gutes Essen vorhanden und eine gute Versorgung der Kinder gewährleistet seien. In den sogenannten Babyhäusern und Kliniken – ebenfalls ein eigenes Kapitel – werden Babys, die entweder krank oder elternlos seien durchweg vorurteilslos in Bezug auf ihre soziale Herkunft auf Kosten des Staates versorgt. 101 Das entsprechende Pendant in Moskau wird von Pankhurst aufgrund des schlechten Zustandes der Kinder und der hygienischen Umstände negativ dargestellt.102 Insgesamt beschreibt Pankhurst in erster Linie die baulichen Einrichtungen und Aufklärungskampagnen für werdende und seiende Mütter und legt anhand von Daten die Entwicklung und deutliche Verbesserung der Säuglingssterblichkeit seit 94 95 96 97 98 99 100 101 102

Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 134. Vgl. ebd. S. 137. Vgl. ebd. S. 168. Vgl. ebd. S. 126–31. [Kapitel „The House of the Mother and Child“] Vgl. ebd. S. 129. Vgl. ebd. S. 130. Vgl. ebd. S. 131 f. Vgl. ebd. S. 133.

2.2 Russische Welt

199

der Vorkriegszeit dar. Der Besuch eines Waisenhauses in Kolomna wird analog dem Erholungsheim als ein paradiesischer Ort ausgezeichnet. Dies obwohl es nicht dem hohen Standard eines anderen von ihr besichtigten Waisenhauses entspricht. 103 Die elternlosen Kinder würden durch unterschiedliche Erwachsene und Lehrer betreut. In der Auseinandersetzung mit der Frage nach der Versorgung von Invaliden und Hinterbliebenen berichtet Pankhurst über die von den Bolschewiki eingerichtete Arbeitsunfähigkeitsund Hinterbliebenenrente.104 2.2.7

Politische Ordnung

Kommunistische Partei

Abgesehen davon, dass Pankhurst an vielen Stellen ihres Reiseberichts direkt oder indirekt auf die Kommunistische Partei als die maßgebliche politische Macht im Land verweist, geht sie einigen Kapiteln detaillierter darauf ein. Im Kapitel „How the Communist Party is Organised“ beschreibt sie anhand von Resolutions- und Gesetzestextauszügen die Arbeit der Kommunistischen Partei unter häufiger Charakterisierung ihrer Mitglieder.105 Sie entwirft damit das Bild einer von verantwortungsvollen, arbeitsamen und fokussierten Menschen getragenen neuen Führung. Die Partei symbolisiere, Pankhursts Meinung nach, die Richtlinie für alle Kämpfe und bekommt damit den Charakter der maßgeblichen Ordnung, die bis in die kleinste Zelle der Gesellschaft hinein wirkt.106 Die „vereinten Kräfte der Kommunisten“ könnten mit jeder Situation umgehen107; entsprechend hänge eine Mitgliedschaft mit harter Arbeit zusammen108. Sowjets

Der Beschreibung des Aufbaus, der Geschichte und Wirkungsweise der Sowjets, widmet Pankhurst ebenfalls ein eigenes Kapitel. 109 Sie unternimmt die Darstellung einzig anhand von Auszügen aus Resolutionen, 103 104 105 106 107 108 109

Vgl. ebd. S. 144. Die Rente wird mit 40 und 75% des ursprünglichen Lohns bezeichnet. (Vgl. ebd. S. 175.) Vgl. ebd. S. 65–78. Vgl. ebd. S. 69 f. Vgl. ebd. S. 70. Vgl. ebd. S. 72. Vgl. ebd. S. 84–99. [Kapitel „The Soviets“]

200

2 Reisende Aktivistin – Sylvia Pankhursts Soviet Russia As I Saw It

offiziellen Texten, unbenannten Statistiken und Aufstellungen von Zahlen110 und gesteht, den aktuellen Abhängigkeitsstatus der Sowjets von der Kommunistischen Partei nicht zu kennen111. Allerdings bedeuteten sie dem russischen Arbeiter „den größten Segen“, da die Arbeiter fortan in der Sicherheit lebten, „ihren Teil an jedwedem Essen oder Kleidung, die Russland hat“ zu bekommen112. Im Rahmen von Pankhursts Reiseerfahrungen wird offenbar, dass selbst noch im nördlichsten arktischen Dorf ein Sowjet existiert, um ein demokratische Vorgehen strukturell zu gewährleisten.113 Genossenschaften

Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit den Genossenschaften.114 Mit dem ersten Satz gibt Pankhurst an, welche Stellung diese zum Zeitpunkt ihres Aufenthalts hatten: Ihre noch vor November 1917 vorhandene relative Autonomie schwände zunehmend, und Pankhurst prophezeit, dass diese Institution vorerst „unausweichlich in die Sowjetadministration übergehen“ und über kurz oder lang gänzlich verschwinden würde. 115 Pankhursts Einschätzung nach sei diese Einrichtung Ausdruck eines „kleinlichen Kapitalismus“116 und in einer historischen Aufschlüsselung dieser Bewegung zeigt sie, dass diese alten Strukturen nicht selten auch konterrevolutionären Strömungen einen Hort böten.117 Die Parallelität der Aufgabenverteilung von Genossenschaften und Sowjets forciere ihrer Meinung nach die Abschaffung ersterer. 118 Gewerkschaften

Im anschließenden Kapitel „Trade Unions. The Trade Unions and the Revolution“ geht die Autorin auf Aufbau, Geschichte und Zukunft gleichnamiger Institutionen ein und stellt gleich zu Beginn deren Anachronismus fest, da die Gewerkschaften ursprünglich „Organe des Kampfs gegen den kapitalistischen Arbeitgeber“ gewesen seien.119 Auf110 111 112 113 114 115 116 117 118 119

Vgl. ebd. S. 91, 96 ff. Vgl. ebd. S. 94. Ebd. S. 174. Vgl. ebd. S. 188. Vgl. ebd. S. 100–104. [Kapitel „The Co-operatives“] Vgl. ebd. S. 100. Vgl. ebd. S. 100. Vgl. ebd. S. 102. Vgl. ebd. S. 103. Vgl. ebd. S. 105 ff.

2.2 Russische Welt

201

grund der gesellschaftspolitischen Veränderungen sei eine starke Zusammenarbeit der Kommunistischen Partei und der Gewerkschaften unumgänglich geworden; nach Pankhursts Auffassung seien Letztere nunmehr „politische Übungsplätze der Massen“120. Dass diese Denkweise im Sinne der Gewerkschaften ist, die sich gegen eine neutrale Position und für „Solidarität mit der sowjetischen Regierung“ ausgesprochen hätten121, bezeugt, dass dieser Institution eine Zukunft gewährt scheint. Pankhurst nimmt den Vorwurf auf, dass die Gewerkschaften von der Regierung vereinnahmt würden und versucht, das Missverständnis, das diesem Vorwurf zugrunde liegt, in einer weiteren Darlegung unter Hinzunahme von statistischen Daten aufzuklären.122 Armee

Die Rote Armee wird von Pankhurst als Akteur des Bürgerkrieges angeführt. Im Gegensatz zu den vorbenannten Institutionen und Organen der kommunistischen Regierung schildert Pankhurst hier weniger den Aufbau, denn ihre Erfahrung mit einem militärischen Aufmarsch, der den Einzug von sowjetischen Soldaten an die polnische Front markiert.123 Sie vermittelt mit der Beschreibung des volksfestgleichen Aufmarsches in Petrograd ein heroisches Bild, das ergänzt wird durch ihre Aussage, dass diese Soldaten „mutig“ „in ihren Tod gehen“. 124 Die Heldenhaftigkeit wird untermalt durch die Aussage einer anwesenden Nicht-Kommunistin, dass die Soldaten, ohne sich zu beschweren, in den Krieg zögen. So heißt es, dass „Soldaten nirgendwo so mächtig seien wie in Sowjetrussland“125. Der Grund für den Kampf sei die Beseitigung des Kapitalismus, so die Gesprächspartnerin Pankhursts, weshalb die sowjetischen Soldaten für den Fortschritt der ganzen Welt kämpften. Ehegesetze

In vielerlei Hinsicht benennt Pankhurst in ihrem Bericht auch die von den Bolschewiki eingeführten und umgesetzten Gesetze; hierunter auch Frauenrechte, denen sich Pankhurst am ausführlichsten widmet. Gleich zu Be120 121 122 123 124 125

Ebd. S. 105. Ebd. S. 106 f. Vgl. ebd. S. 110 f. Vgl. ebd. S. 179 ff. Vgl. ebd. S. 180. Ebd. S. 181.

202

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ginn der Darstellung der Mutter-Kind-Häuser geht Pankhurst auf die neuen Ehegesetze ein, die insgesamt die Rechte der Frau stärkten und für ökonomische Gleichberechtigung von Mann und Frau sorgen sollten.126 Um zu zeigen, dass die Gleichberechtigung von Mann und Frau auch eine Gleichbehandlung von unehelichen Kindern und deren Müttern inkludiert, gibt Pankhurst Daten zur Ausstattung des Sorgerechts und der Unterhaltszahlungen an.127 Obgleich die meisten russischen Kommunisten, so Pankhurst, den Ersatz der legalen Ehe durch freie Verbindungen, die nun möglich seien, nicht favorisierten, bestehe unter den intelligenten Russen schon lange der Glaube in die „freie Verbindung“128. Insbesondere die Frauensektion der Kommunistischen Partei treibe diese Entwicklung voran. Zeugnis über die Umsetzung dieser Gesetze legt Pankhurst anhand der Erfahrungen in Gesprächen mit betroffenen Frauen im Mutter-Kind-Haus dar und untermauert damit die regelrechte Umsetzung dieser modern anmutenden Gesetzeslage. Pankhurst erwähnt, dass nicht alle Mütter gleichermaßen vom System der Kinderbetreuung in abgeschlossenen Kinderkolonien überzeugt seien, dieser jedoch aus ökonomischen Gründen zustimmten.129 2.2.8

Religion

Der Zustand der Religion und religiösen Praxis schimmert zuweilen durch Pankhursts Aufzeichnungen, insbesondere dann, wenn die Autorin Sakralbauten beschreibt. Dies ist unter anderem die IsaaksKathedrale in Petrograd, in deren Innerem sich ein paar wenige Menschen zum Gottesdienst tummelten und wo insgesamt eine Atmosphäre von Armut und Verfall herrsche.130 Auf dem Weg von Petrograd nach Moskau fällt Pankhursts Blick auf Kirchen, die von ihr als „Festungen der alten Welt“ (fortresses of the old world) 131 gedeutet werden und langsam verschwänden. Nur selten erlebt Pankhurst Menschen, die ihre Religion ausüben, und verweist auf den Aberglauben, der ihrer Meinung nach mit dem christlichen Glauben einhergeht. 132 Die Basilius126 127 128 129 130 131 132

Vgl. ebd. S. 126. Vgl. ebd. S. 127. Vgl. ebd. S. 129. Vgl. ebd. S. 143. Vgl. ebd. S. 29 f. Vgl. ebd. S. 33. Vgl. ebd. S. 34.

2.2 Russische Welt

203

Kathedrale nimmt Pankhurst als „unheimlich“ und zugleich von barbarischer Schönheit wahr; sie erscheint der Autorin wie der „Alptraum eines Schuljungen“.133 Auf der Rückfahrt stößt Pankhurst in einem der Orte an der nördlichen Küste Russlands (Zipnavalok) auf eine alte hölzerne und im Verfall befindliche Kirche, deren Fenster und Türen verbarrikadiert und zerschlagen und deren Altar zerbrochen sind.134 Pankhurst gibt hier einen Ort der Zerstörung wieder, fragt sich jedoch zugleich, weshalb niemand zum Gottesdienst gehe, obwohl die Kirche noch immer wetterfest sei.135 Dass dies nicht geschieht, stellt für sie ein Argument für den nicht existenten Wunsch nach Ausübung der religiösen Praxis dar. 2.2.9

Kunst und Kultur

Künstlerische Einrichtungen nimmt Pankhurst nur marginal auf. Von Anbeginn an erwähnt sie die allerorten, insbesondere in Petrograd ersichtliche Propagandakunst 136 : Plakate, die die Wände an den Straßen zieren, rote Fahnen und Banner mit Losungen außer- und innerhalb von Gebäuden. Im Rahmen eines Besuchs einer Camouflage-Schule beschreibt sie ihren Besuch von Theaterstücken und Rezitationen – gegeben von Künstlern erstrangiger Moskauer Theater.137 Ihrer Aussage nach fänden diese regelmäßig für Soldaten und Einwohner dieser Gegend statt. Diese Art der Unterhaltung erlebt sie auch in Murmansk, wo sie ein hölzernes Theater aufsucht, mit schlichter Loge und einfacher Gestaltung.138 Außerhalb des Theaters entdeckt sie musizierende Soldaten, die umstehende, tanzende Menschen unterhalten. Am Rande erwähnt Pankhurst die Entwicklung des Proletkults, der „danach strebt, sich zu entwickeln und den bestehenden Kunstfakultäten der Arbeiter und Bauern Ausdruck in Musik, Malerei, Bildhauerei und Theater zu verleihen“.139

133 134 135 136 137 138 139

Ebd. Vgl. ebd. S. 189 „Had the people so desired the government allows complete freedom to all religious observances.“ (Ebd. S. 189.) Vgl. ebd. S. 28, 41, 125. Vgl. ebd. S. 157. Vgl. ebd. S. 182. Vgl. ebd. S. 141 f.

204

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2.2.10 Bildung Auf Bildungseinrichtungen, insbesondere die Bildung von Kindern, geht Pankhurst sehr oft ein. Ein eigenes Kapitel, „Education“, bündelt zudem diesbezügliche Fakten im Spiegel von Resolutionen und Dekreten, die Pankhurst unkommentiert wiedergibt. Die eingestreuten Informationen, die sich zum Teil auf eigene auf der Reise gemachte Erfahrungen stützen, umfassen die Schilderung russischer Kinder auf einer öffentlichen Sitzung. Pankhurst preist enthusiastisch die (sowjetische) Umgebung als Ort der besten Erziehung und Kindheit.140 Sie schreibt über faktische Gegebenheiten und jongliert mit Zahlen aus nicht benannten Quellen. Zudem konstatiert Pankhurst, dass Bildungsarbeit in der sowjetischen Republik an erster Stelle stünde, da das Wohlergehen der kommenden Generation Priorität genieße.141 Sie benennt die bemerkenswerte Steigerung der Anzahl von Kindergärten, Grundschulen und eingeschriebener Studenten. Im Kampf gegen den Analphabetismus seien viele Schulen für erwachsene Analphabeten mit guter Ausstattung an Fibeln eröffnet worden. Generell sei Bildung auf allen Ebenen kostenlos 142 , was Pankhurst anhand einer Reiseerfahrungen untermauert: Im Petrograder Arbeiterpalast wohnt sie einer Physikstunde für Textilarbeiter bei und sagt, dass die Studenten freie Kost und Logis genössen und die Unterrichtsstunden als Arbeit bezahlt bekämen. 143 Auch schreibt Pankhurst über die der Armee eigene Bildungsmaschinerie, die sich auf sehr hohem Niveau befände.144 Während es im Januar 1919 noch keine einzige Schule für Armeeangehörige gegeben habe, wären es im Dezember desselben Jahres schon 3800 Schulen.145 Selbst in den abgelegensten Dörfern wird die Bildung vorangetrieben, was Pankhurst eigens an den Vorbereitungen für eine in Kürze entstehende Schule in Vaida Gouba, dem nördlichsten russischen Ort, gelegen auf einer Insel vor Norwegen, erlebt.146 Indem sie die Frage nach der ideologischen Prägung des Unterrichtsstoffes aufnimmt, geht Pankhurst aktiv ein bestehendes Vorurteil an: Sie bestätigt, dass Kommunismus ganz offenbar und selbstbewusst gelehrt würde, nur um diese 140 141 142 143 144 145 146

Vgl. ebd. S. 81. Vgl. ebd. S. 139. Vgl. ebd. S. 142. Vgl. ebd. S. 125. Vgl. ebd. S. 158. Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 188.

2.2 Russische Welt

205

Praxis umgehend in den Vergleich mit kapitalistischen Ländern zu setzen, die ihrer Meinung nach nicht minder ideologisch vermittelten.147 2.2.11 Wirtschaft und Industrie In puncto Wirtschaft findet die Einführung des Achtstundentages, Pankhursts Angabe nach am 29. Oktober 1917, besondere Erwähnung.148 Pankhurst erläutert die damit einhergehenden verbesserten Arbeitsbedingungen, beispielsweise in Bezug auf Nachtarbeit und Frauen- und Kinderarbeit.149 Der Besuch einer Metallfabrik in Kolomna mit 6000 Arbeitern bringt ihr Erkenntnisse über die Ausstattung der Fabrik und sie erfährt vom Manager der Firma etwas über die Arbeitsatmosphäre und disziplin, die Produktionsrate und den Anteil der Mitglieder in der Kommunistischen Partei unter den Arbeitern.150 Dabei stellt sich heraus, dass die Produktionsrate trotz Mangel an Werkstoffen, Benzin und gut ausgebildeten Arbeitern zunimmt. Sie begegnet der ärmlichen Kleidungsausstattung eines Arbeiters, dem konsequenten Umgang mit undisziplinierten Arbeitern und dem Umstand, dass aufgrund des Mangels an Arbeitern auch alte Menschen noch zur Arbeit herangezogen werden. 151 Später flicht sie Zitate der Ausarbeitung eines kritischen russischen Ökonomen ein, der einen Rückgang der industriellen Produktion im Vergleich zur Vorkriegs- und damit Zarenzeit bescheinigt. Obwohl Pankhurst in ihren gesamten Bericht mit Statistiken unbenannter Herkunft – auch in Bezug auf Russland – arbeitet, stellt sie diese eine in Frage: I find it exceedingly difficult to accept statistical estimates regarding Russia, especially in regard to agricultural production, because exact statistics were not a feature of Russian life before the Revolution, and even yet it seems impossible that exact statistics can be obtained about Russia’s agricultural production.152

Sie fügt an, dass nunmehr die Lebensmittelversorgung in Russland steige.153 147 148 149 150 151 152 153

Vgl. ebd. S. 142. Vgl. ebd. S. 121 f. Vgl. ebd. S. 122. Vgl. ebd. S. 61 f. Vgl. ebd. S. 62 ff. Ebd. S. 173. Vgl. ebd. S. 174.

206

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2.2.12 Infrastruktur Die Verkehrs- und Transportsituation sowie die infrastrukturellen Gegebenheiten werden direkt und indirekt in Pankhursts Reisebericht angesprochen. Die Ausführungen belaufen sich auf Schilderungen des schlechten Straßenzustands in Murmansk 154 , die Erwähnung der ersten elektrischen Bahn, die nur kurze Zeit nach ihrem Aufenthalt in Russland getestet werden sollte155 und Pferdewagen. Zu guter Letzt thematisiert sie auch die Nutzung von Autos durch Regierungsangehörige und deren Gäste, da „in Russland Züge unregelmäßig und Straßen oft in schlechtem Zustand oder inexistent“ 156 seien. In Petrograd erlebt Pankhurst, dass Straßenbahnen nicht regulär, sondern nur zu besonderen Zeiten fahren.157 Sie selbst nutzt für die Hin- und Rückreise innerhalb des Landes Züge, die sie als „Spezialzüge“ (special trains) ausweist. Im Rahmen ihrer Ausführungen zur teilweise schlechten Nahrungsmittelversorgung erwähnt sie die für den „Russlandbesucher“ offensichtlichen strukturellen Probleme, die sie als Auswirkung des Bürgerkriegs deklariert.158

2.3 2.3.1

Russische Mitwelt Die russische Bevölkerung

An verschiedenen Stellen äußert sich Pankhurst allgemein über die russische Bevölkerung. Bereits in Murmansk taucht sie in eine Atmosphäre von „geselliger Freundschaft und fröhlicher Zuversicht“ ein. 159 Von „Murmansk bis Petrograd, von Petrograd bis Moskau und in den umliegenden ländlichen Gegenden“160 ist sie permanent von der glücklichen und gesunden Erscheinung der Menschen, insbesondere der Jugend beeindruckt. Glück und Zufriedenheit der Menschen mehrmals

154 155 156 157 158 159 160

Vgl. ebd. S. 10. Vgl. ebd. S. 22. Vgl. ebd. S. 60 f. Vgl. ebd. S. 28. Vgl. ebd. S. 172. Vgl. ebd. S. 10. Vgl. ebd. S. 169.

2.3 Russische Mitwelt

207

betonend161 geht Pankhurst insbesondere auf die nachfolgende Generation, die Kinder ein. Diesen, „glücklichen und gesunden Jüngsten“ 162 kommt in ihrer Beschreibung in dieser neuen Gesellschaft ein ganz besonderes Augenmerk zu: Mehrmals betont sie, das für diese insgesamt gesorgt wäre, und nicht nur Bildung, sondern auch Kleidung und Essen kostenlos für diese zur Verfügung ständen.163 Russland produziere eine „enorme Generation“ an „jungen Kommunisten“, die sich danach sehnten, zukünftig sowohl gegen den mittelalterlichen Barbarismus vorzugehen als auch gegen den Kapitalismus, der Ursache der Kriege ihrer Eltern war, um diese ein für alle Mal auszulöschen.164 Eine der bleibenden Erinnerungen Pankhursts ist jene an schöne, wohlgenährte Kinder und glückliche Menschen an denen sich die Ausstrahlung der Konstrukteure der Revolution widerspiegele.165 Die bereits vonstattengehende Gleichbehandlung zeige sich nach Pankhurst am Umgang mit elternlosen Kindern, die in nichts den anderen Kindern nachstünden: „Children in Soviet Russia do not suffer economically for the sins or misfortunes of their parents.“166 2.3.2

Russische Kommunisten

Pankhurst schreibt, dass es Menschen gibt, die die russische Bevölkerung als „das Salz der Weltbevölkerung“ betrachteten; andere wiederum machten diese Bevölkerung schlecht und bestritten gar, dass die russischen Kommunisten die organisatorischen Fähigkeiten für eine Revolution besäßen beziehungsweise diese aktiv herbeigeführt hätten.167 Von Beginn ihres Textes an trifft die Autorin auf Menschen, die sie als Kommunisten betitelt. Zu vielen dieser auch „Kameraden“ genannten gibt sie den Werdegang an, der sich in ein vor- und nachrevolutionäres Leben teilt.168 Sie charakterisiert diese Personen als unermüdliche Arbeiter169, die sich trotz der ökonomischen Lage mit ganzer Kraft ein161 162 163 164 165 166 167 168 169

Vgl. ebd. S. 80, 182. Ebd. S. 144. Vgl. ebd. S. 131, 143, 174, 187. Ebd. S. 81 f Vgl. ebd. S. 170. Ebd. S. 145. Vgl. ebd. S. 54. Vgl. ebd. Bspw. S. 15. Vgl. ebd. S. 15, 19.

208

2 Reisende Aktivistin – Sylvia Pankhursts Soviet Russia As I Saw It

setzten 170 . Diese Hingabe an den kommunistischen Zweck beinhalte auch die totale Verfügbarkeit durch die Partei.171 Pankhurst schlussfolgert, dass es der „heitere, selbstbewusste Enthusiasmus [...] der aktiven Macher der Revolution und Erbauer des proletarischen Staates“ sei, der sich positiv auf weite Teile der Bevölkerung auswirke. 172 Auch die einfachen Kommunisten seien durch Krieg und Verantwortung gestärkt – ein Charakteristikum, das Pankhurst auch der Führungselite zuschreibt173. Über diese gibt sie in sehr generalisierender Art und Weise insbesondere im Kapitel „Congress at the Kremlin“ Auskunft. Sie beschreibt sie als Realisten und als fokussierte, zukunftsorientierte Gruppe, die in ihrem Handeln pragmatisch und mit einem fundamentalen Misstrauen gegenüber dem Kapitalismus vorgehe.174 In Pankhursts Charakterisierung besteht der Großteil der Mitglieder der Kommunistischen Partei aus „heldenhaften, klardenkenden und kraftvollen Persönlichkeiten“ (heroic, clear-thinking and powerful personalities)175. Sie führt diese Eigenschaften auf die vorrevolutionäre Zeit zurück, in der ihrer aller Leidensfähigkeit durch Exil, Verbannung und Verfolgung herausgefordert worden sei. In diesen Eigenschaften unterschieden sich die Führungskräfte der Partei von den einfachen Parteimitgliedern, denn nur erstgenannten seien „spezielle Charakteristika“ zu eigen: The leaders of the Bolshevik Party only came to the head of that Party of truest, strongest stalwarts and clearest thinkers, by virtue of special qualities, tested in time of danger, when courage and strength of conviction are of most account.176

Sie seien nicht nur gestählt und für ihre Aufgabe angemessen gewappnet, sondern unerschütterlich177 und zudem gute Propagandisten178.

170 171 172 173 174 175 176 177 178

Vgl. ebd. S. 125. Vgl. ebd. S. 56, 74 f., 99, 192. Ebd. S. 170. Vgl. ebd. S. 56. Vgl. ebd. S. 50 f. Ebd. S. 55. Ebd. Vgl. ebd. S. 43. Vgl. ebd. S. 41.

2.3 Russische Mitwelt

2.3.3

209

Akteure der Revolution und der Kommunistischen Partei

Von den führenden Bolschewiki unterhält sich Pankhurst mit Vladimir I. Lenin, Michail M. Borodin179 und Angelica Balabanov. Grigorij J. Zinoviev180, Nikolaj I. Bucharin181 und Karl Radek, Lev Trockij sieht und beschreibt sie. Ausgehend von ihrer vorab geführten brieflichen Konversation scheint sie von Lenin erwartet worden zu sein und so lässt er „direkt nach ihrer Ankunft“ im Hotel in Moskau nach ihr rufen182. Im „Innersten der Privaträume des Zaren“ trifft sie auf einen lächelnden Lenin, der sie direkt begrüßt, obwohl andere bereits auf ihn warten.183 Äußerlich beschreibt sie ihn als kleinen, kräftigen Mann, der keine der typischen russischen Blusen, sondern gewöhnliche europäische Kleidung trage. Jeder Teil seines Gesichts sei ausdrucksvoll und sein ganzes Auftreten erscheint Pankhurst als anziehend und energetisch. 184 Sie stellt die Fremdwahrnehmung Lenins durch andere Menschen dar, die ihn auch als „sehr netten alten Mann“ (very nice old man)185 charakterisieren. Gegenüber Fremden tritt er als selbstloser, gewöhnlicher Kamerad auf und obwohl er aufgrund 179

180

181

182 183 184 185

Michail M. Borodin (1884–1951) war bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts Teil der revolutionären Bewegung, emigrierte 1904/05 für kurze Zeit nach Bern, arbeitete in Riga und lebte von 1907–1918 in den USA. Im Jahr 1919 übernahm er den Posten des ersten sowjetischen Generalkonsuls in Mexiko, arbeitete danach bis 1923 für die Komintern. (Vgl. „Borodin“. In: Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija. A. M. Prochorov (Hg.). Bd. 3 (1970). Moskau 1970–1981. S. 578.) Grigorij J. Zinoviev (1883–1936) war von 1917 bis 1925 Vorsitzender des Petrograder Sowjet und von 1919 bis 1926 Vorsitzender des Exekutivkomitees der Komintern. Bereits 1907 schloss er sich den Bolschewiki an, zählte jedoch neben Kamenev zu jenen eher moderaten Revolutionären, die im Oktober 1917 gegen einen bewaffneten Aufstand plädierten. (Vgl. „Unpersonen“. S. 137, 145, 151.) Nikolaj I. Bucharin (1888–1938) war ein sowjetischer Politiker. Als frühes Mitglied der RSDRP (ab 1906) ging er 1911 in die Emigration und hielt sich in verschiedenen westeuropäischen Ländern und den USA auf, arbeitete dort 1916 bis 1917 an der russischen sozialdemokratischen Zeitung Novyj Mir mit. 1917 kehrte er nach Russland zurück und wurde 1919 Mitglied im Politbüro und dem Exekutivkomitee der Komintern. Von 1925 bis 1927 leitete er zusammen mit Stalin das Politbüro. 1929 wurde er aus diesem Posten entlassen und fiel 1938 den Stalin’schen Säuberungen zum Opfer. (Vgl. „Bucharin“. In: Bol’šaja ėnciklopedija ‚TERRA‘. Sergej Kondratov (Hg.). Bd. 7. Moskau 2006. S. 552–553.) Vgl. Pankhurst, SR. S. 40. Vgl. ebd. S. 41. Vgl. ebd. S. 41 f. Vgl. ebd. S. 54.

210

2 Reisende Aktivistin – Sylvia Pankhursts Soviet Russia As I Saw It

seiner Gestik vertraut wirke, irritiere er durch seine Mimik seine Gesprächspartner. 186 Pankhurst scheint Lenin ein weiteres Mal zu treffen und charakterisiert ihn nun, vor dem Hintergrund einer schlechten Entwicklung des Kriegsgeschehens an der polnischen Front, als „erschöpft und besorgt“187. Nichtsdestotrotz seien seine Reden weiterhin von dem „üblichen offenen Realismus und kompletter Aufrichtigkeit“ (usual frank realism and complete absence of bluff)188 gekennzeichnet. Lenins Beliebtheit wird von Pankhurst durch die Tatsache symbolisiert, dass er nach dem Kongress von vielen seiner Mitstreiter auf die Schultern genommen wird. Diese menschelnde Geste lässt ihn als einen „glücklichen Vater unter seinen Söhnen“ (happy father amongst his sons) 189 erscheinen. Nicht nur von seinen russischen Mitstreitern auch von ausländischen Delegierten wird Lenin, nach Pankhursts Darstellung als „Anführer einer weltweiten Bewegung gesehen“190 und selbst die bürgerlichen Klassen liebten ihn191. Es sei nicht nur seine „politische Größe“, sondern auch seine „Persönlichkeit“, die von allen Delegierten des Kongresses wahrgenommen und geschätzt würde. 192 Seine Taktik und Cleverness zeigen sich sowohl an seiner Aussage, dass die Macht in Russland in dem Moment errungen wurde, in dem die Massen dafür bereit gewesen seien193, als auch daran, wie er mit der Frage der Ausgestaltung der britischen Kommunistischen Partei umgeht: die zwei strittigen Punkte erklärt er für weniger wichtig und jederzeit änderbar194. Weltweite Bewunderung195 findet auch Trockij, den Pankhurst an anderer Stelle bei einem öffentlichen Auftritt als sehr beherrschten, kontrollierten und „äußerlich sehr gepflegten“ Sprecher kennenlernt196. Zinoviev hingegen erscheint als leidenschaftlicher, von Applaus umringter Redner.197 Im Gegensatz zu anderen Rednern, wird er als von Kontroversen gelangweilt und ungeduldig mit der Opposition dargestellt; entsprechend 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197

Vgl. ebd. S. 41 f. Ebd. S. 178. Vgl. ebd. S. 179. Ebd. S. 53. Ebd. S. 54. Vgl. ebd. S. 21. Ebd. S. 54. Vgl. ebd. S. 48. Vgl. ebd. S. 45 f. Vgl. ebd. S. 54. Vgl. ebd. S. 44. Vgl. ebd. S. 43.

2.3 Russische Mitwelt

211

unzufrieden sei er mit jenen kommunistischen Parteien weltweit, deren Überzeugungskraft noch nicht die Massen erreicht hätten.198 Bucharin sei einer der Führer des linken Parteiflügels und wird als jung, lebendig und lächelnd über die hitzigen Debatten der Delegierten beschrieben. 199 Er sähe aus wie ein Maler, der eben erst seine Zeichenutensilien zur Seite gelegt hätte. Karl Radek, obwohl er kurz vor seinem Einzug an die polnische Front stehe, sähe fröhlich aus und hätte eine leicht verträumte Aura.200 Angelica Balabanov erscheint Pankhurst als von ihrer Dolmetschertätigkeit auf dem Kongress übermüdet und krank, zudem doppelt unzufrieden: einerseits mit der individuellen Porträtierung einzelner Delegierter, andererseits mit ihrer geringen Zuhörerschaft. 201 Borodin, mit dem Pankhurst zufällig einen Abend verbringt, ist der Übersetzer des Artikels „Infantile Sickness of Leftism“ 202. Er wird als Revolutionär der ersten Stunde dargestellt, der im Exil in London viel über die Mentalität und Beschaffenheit der britischen Arbeiter gelernt habe.203 2.3.4

Nicht-Kommunisten

Ihre Kontakte zu Menschen, die keine Mitglieder der Kommunistischen Partei sind, lassen sich in zwei Kategorien unterteilen: Einerseits sind dies jene, die als partielle Kapitalismuskritiker Verständnis für die Ziele des Kommunismus aufweisen 204 sowie als ehemalige Befürworter der Revolution zum Teil für diese kämpften205; andererseits solche Menschen, die sich als permanente Kritiker des kommunistischen Systems gerieren.206 Während die Darstellung der Kritiker konsequent negativ konnotiert ist, werden Mitglieder der Partei und die Kommunisten im Geiste in ein positives Licht gerückt.

198 199 200 201 202

203 204 205 206

Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 42 f. Vgl. ebd. S. 43. Vgl. ebd. S. 53. Lenins Artikel, auf den sich Pankhurst hier bezieht, heißt eigentlich „‚Left Wing‘ Communism, an Infantile Disorder“. Vgl. dazu S. 189, Fußnote 22 der vorliegenden Arbeit. Vgl. Pankhurst, SR. S. 39. Vgl. ebd. S. 181. Vgl. ebd. S. 190. Vgl. ebd. S. 13 f., 60 f.

212 2.3.5

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Kinder

Ein besonderes Augenmerk kommt in Pankhursts Text Kindern zu. Abgesehen von der Darlegung der strukturell-gesetzlichen Gegebenheiten beschreibt Pankhurst ihre eigenen Erfahrungen mit Kindern im russischen Alltag, in den Mutter-Kind-Heimen und den Babykliniken. Der gesetzliche Schutz und die Bildungsmaßnahmen, die Kindern gemäß Pankhurst zugutekommen, unterstreicht die Hoffnung, die das System auf den Nachwuchs setzt. Als Teil einer neuen Generation trägt das Kind symbolisch den Keim des Zukünftigen in sich, um ihn als Erwachsener zur Blüte zu bringen. Pankhurst beschreibt nicht nur die Umstände, in denen die Kinder in Sowjetrussland aufwachsen, sondern sinniert darüber hinaus über deren Zukunft. Explizit baut sie das Symbol des „Kindes“ aus, wenn sie schreibt, dass sowjetische Kinder sich später mit aller Kraft gegen den Grund des Elends ihrer Eltern, den Kapitalismus, wenden würden.207 Die Autorin beschreibt Kinder damit implizit als die neuen Menschen, die von Geburt an mit Ursache und Wirkung des Bösen vertraut sind, und in denen der kommunistische Funke zu einem Feuer erwachsen werde.208 Obwohl Pankhurst nicht explizit auf die zu jener Zeit in den urbanen Zentren allgegenwärtigen „besprizornye“ 209, i.e. revolutions- und kriegsbedingte russische Waisen, eingeht, erwähnt sie sowohl die sogenannten Kinderkolonien als auch ihren Besuch in Waisenheimen. In gewisser Hinsicht mache die ökonomisch bedingte Trennung von Mutter und Kind jene Kinder in den Kinderkolonien elternlos, da sie dort von Pädagogen und Betreuern auf- und erzogen werden.210 Der mit den Waisenheimen ins Spiel gebrachte Begriff des Waisenkinds evoziert Verlassenheit und Rückweisung von der ursprünglichen Familie; gleichermaßen wird der sowjetische Staat in seiner umfänglichen Fürsorge zur neuen Familie.211 Pankhurst verbalisiert dies, indem sie in Bezug auf das Bildungssystem schreibt, dass Sowjetrussland die „Liebe und den Enthusiasmus“ (love and enthusiasm) 212 der Kinder gewänne, wie auch Eltern ihrer Kinder Zuneigung dadurch erhielten, dass sie ihnen das Beste von dem gäben, 207 208 209 210 211 212

Vgl. ebd. S. 82. Vgl. Ami Ronnber (Hg.), Das Buch der Symbole. Köln 2011. S. 86. [Funke] Zur Definition des Begriffs „besprizornye“ vgl. S. 118, Fußnote 193 der vorliegenden Arbeit. Vgl. Pankhurst, SR. S. 141, 144 f. Vgl. ebd. S. 143. Ebd. S. 142.

2.3 Russische Mitwelt

213

was zu haben ist und ihre eigenen Ansprüche zurückstellten. Symbolisch impliziert sie mit dieser „Adoption“213 eine Neugeburt der Kinder: Das Heranwachsen innerhalb einer Familientradition wird substituiert durch ein ideologisches System. In Pankhursts Beschreibung erleben die Kinder durch die familiäre Trennung zudem bereits jene, echten Revolutionären wiederholt zugeschriebene Marter des Exils und der Heimatlosigkeit; in den staatlichen Heimen wüchsen sie dadurch letztlich zu selbstbeherrschten und selbstgenügsamen Menschen heran – mithin zu jenen Kommunisten, die das implizit von Pankhurst beschriebene Ideal eines neuen Menschen symbolisieren. Resümee In Pankhursts Beschreibung der weltlichen Gegebenheiten in Russland sind zwei Dinge auffällig: Einerseits die Art und Weise, vorgefundene Tatsachen in Vergleich zu Umständen in Großbritannien zu setzen, andererseits die Charakterisierung einzelner Phänomene durch ausschließliche Wiedergabe von Primärdokumenten. An signifikant vielen Stellen arbeitet Pankhurst in der Darlegung von Gegebenheiten mit direkten und indirekten Vergleichen. Vergleichspunkt für sowjetische Phänomene ist nahezu durchweg das kapitalistische Ausland. Direkte Vergleichsobjekte sind u.a. das Gesundheitssystem214, sowjetische Kinderkolonien215 und Waisenheime216. Indirekt verglichen werden die Zukunftsaussichten von Kindern217 und die Grundversorgung mit Lebensmitteln 218 . Die indirekten Vergleiche leitet Pankhurst vom Erscheinungsbild der Menschen ab, denen sie begegnet. Während die meisten der von Pankhurst ins Feld geführten Vergleiche dazu dienen, anhand des mangelhaften Zustands kapitalistischer Länder den höheren Entwicklungsstand der RSFSR aufzuzeigen, dienen andere der Rechtfertigung von Gegebenheiten.219 Die Funktion der Vergleiche liegt also nicht darin, 213 214 215 216 217 218 219

Ronnber, Symbole. S. 484. [Waise] Vgl. Pankhurst, SR. S. 137 f. Vgl. ebd. S. 143 f. [Vergleich mit britischen Boarding Schools] Vgl. ebd. S. 144. Vgl. ebd. S. 81. Vgl. ebd. S. 146, 169. Beispielsweise die Thematisierung von Boarding Schools als gängiger Praxis reicher Bevölkerungsschichten zur Rechtfertigung der von manchen Russen skeptisch betrachteten sowjetischen Kinderkolonien (vgl. ebd. S. 144); zudem vergleicht Pank-

214

2 Reisende Aktivistin – Sylvia Pankhursts Soviet Russia As I Saw It

das Verständnis des nicht-russischen Lesers für fremde Phänomene zu fördern, sondern vielmehr, eine spezifische Sicht auf die kommunistische und kapitalistische Welt zu untermauern. Damit deuten sie offensichtlich auf die Haltung der Autorin. Für gewöhnlich halten Reiseberichte persönliche Eindrücke der Fremde vor. Bei Pankhurst jedoch werden einige sowjetische Phänomene nicht anhand persönlicher Erfahrungen, sondern lehrbuchartig anhand von Auszügen aus politischen Dokumenten, wie Resolutionen, Deklarationen und Gesetzestexten, dargestellt. Wenn auch dieses Verfahren zur Untermauerung von Erfahrungen oder zum besseren Verständnis nicht unüblich ist, nutzt Pankhurst es nicht nur als Ergänzung, sondern in Darstellung der Gewerkschaften, der Sowjets und der Kooperativen als alleiniges Mittel. Damit erfahren die Funktion des Reiseberichts220 und der Begriff der „Reiseerfahrung“ einen Bedeutungszuwachs. Bei der unreflektierten und unkommentierten Wiedergabe von politischen Primärdokumenten kommt als Rezipient einzig ein Fachpublikum in Frage. Der Reisetext wird an diesen Stellen zum Lehrbuch und nicht zuletzt zum Medium für ungefilterte Propaganda. Und doch erfüllt er noch immer seine Funktion: Die in Deklarationen, Gesetzestexten und Resolutionen verfügbaren Informationen geben Aufschluss über die fremden Phänomene. Leseerfahrung wird in diesen Kapiteln zur eigentlichen „Reiseerfahrung“, was mit einem Blick auf die Verfügbarkeit von ausländischer Literatur in jener Zeit nicht gar so befremdlich erscheinen mag. Letztlich führt diese auffällige Darstellungsweise aber auch zur Frage nach dem schriftlichen Umgang mit der Fremde durch die Autorin. Die Tatsache, dass Pankhurst politisch versiert war und im Dreadnought jahrelang sozialistische Ideen propagierte221, verhindert nicht, dass die Autorin keine eigenen Worte zur Beschreibung manch fremden Phänomens fand und sich deshalb fremder Worte bedienen musste. Topoi

Fasst man die weltlichen Erscheinungen zusammen, kristallisieren sich bei Pankhurst verschiedene Topoi. Am auffälligsten unter diesen erscheint der Topos der RSFSR als Ort der gelebten Utopie, wobei Utopie hier im

220 221

hurst ein russisches Dorf im Norden mit einem norwegischem Dorf, wobei das russische Dorf ökonomisch rückständiger wirkt. Schuld daran sei jedoch nichts anderes als die Blockade und der Krieg (vgl. ebd. S. 193). Vgl. Brenner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur. S. 1. Vgl. Pankhurst, SR, S. 73; vgl. Romero, E. Sylvia Pankhurst. S. 82.

2.3 Russische Mitwelt

215

Sinne einer ‚eu-topia‘222 verstanden werden soll. Die Autorin formt mit ihrem Bericht insbesondere den Topos vom sowjetischen locus amoenus, der die Idee von Gleichheit und Wohl der Allgemeinheit im Sinne eines Arbeiter- und Bauernstaates involviert. Diese Idee zieht sich durch ihren gesamten Bericht, wird reichlich bebildert durch eigene Erfahrungen und unterstützt durch Auszüge aus Resolutionen und Gesetzen.223 Sowjetrussland als locus amoenus wird des Weiteren untermauert durch permanent angewandte Vergleiche verschiedentlicher Sachverhalte in der RSFSR und in kapitalistischen Ländern. Solcherlei Vergleiche werden konsequent zu Ungunsten des kapitalistischen Landes geführt; dies beginnt bei der Versorgung von Kindern, geht über das Gesundheitssystem allgemein bis hin zu den gesetzlichen Grundlagen für die Familie. Selbst vor einem Vergleich der Nahrungsmittelversorgung, die auch Pankhurst in Russland nicht als durchweg positiv bezeichnen kann, macht sie nicht Halt – abermals ist es in ihrem Beispiel die RSFSR, deren Bevölkerung es besser geht als der deutschen und der britischen. Diese Kontrastierungen zementieren in ihrer Quantität und Qualität den von Pankhurst transportierten Gedanken der Alternativlosigkeit des sowjetischen Systems; sie zementieren die Idee, das Land sei ein Ort der Gleichbehandlung, an dem die Menschen frei von ökonomischen Zwängen lebten. Gemessen am Wohlbefinden der Menschen scheinen die gesetzliche Ordnung, die gesicherte Grundversorgung und die bereits in vielen Teilen durchgesetzte soziale Gleichheit dazu beizutragen, dass es sich hier um einen utopischen Ort handelt. Pankhurst weist mit ihrem Reisebericht nach, dass der erträumte „Nicht-Ort“ (griech. „u-topos“) zum existenten „guten Ort“ (griech. „eu topos“) geworden ist. Zudem und mit dem Vorbenannten in Einklang stehend zeigt sich ihr das postrevolutionäre Land als materialisierte Zukunft – auch dies ein Topos, der sich implizit gibt, wenn man die Verweise auf neuerliche Ehegesetze, die Gesundheitsvorsorge, die erfolgreiche Beseitigung des Analphabetismus und den Umgang mit Kindern, die das Zukünftige symbolisieren, betrachtet. Sowjetrussland scheint den schwierigen Umständen zum Trotz in vielen Punkten der Entwicklung kapitalistischer Länder weit voraus. Unterstützt wird dieser Eindruck durch Pankhursts Darstel222 223

Griech. eu topos „guter Ort“. (Vgl. Klass, Tobias Nikolaus, „Utopie“. In: Lexikon der Raumphilosophie. Stephan Günzel (Hg.). Darmstadt 2012. S. 433–434. S. 433.) Sie betont u.a. die gute Versorgung von Kindern jedweder sozialer Herkunft. (Vgl. Pankhurst, SR. S. 145) und den Umgang der Regierung mit der arbeitenden Bevölkerung in puncto Erholung (vgl. ebd. Kapitel „Rest Houses“).

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2 Reisende Aktivistin – Sylvia Pankhursts Soviet Russia As I Saw It

lung sakraler Gebäude, die explizit als Zeichen der alten Welt verstanden werden und im Verfall befindlich sind.224 Die „alte“ Religion hinter sich lassend blickt das Land auf eine neue: den Kommunismus, den auch die hier geborenen Kinder bereits eifrig aufnehmen, um deren zukünftige Soldaten im Kampf gegen den Kapitalismus zu werden. Die Tatsache, dass das endgültige Entwicklungsziel auch mit den aktuellen Errungenschaften noch nicht erreicht ist, zeigt sich an Pankhursts Hinweisen auf zukünftige Projekte. Ein drittes in diesem Rahmen zu nennendes Deutungsmuster ist das des antagonistischen westlichen Auslands, das die Entwicklung des Sozialismus aktiv behindert. Exemplarisch und symbolisch hierfür steht die alliierte Wirtschaftsblockade. 225 Nicht nur, dass Pankhurst anhand von Vergleichen häufig die Rückständigkeit und Mangelhaftigkeit des Westens aufzeigt, sie thematisiert ebenso dessen Widerständigkeit gegen das kommunistische System und den Versuch, dieses zu blockieren, wenn nicht zu zerstören. Der Westen steht damit in Opposition zum Zukünftigen und zur schönen neuen Welt. Umgang mit der Fremde

Pankhursts allgemein sehr positive und umfängliche Darstellung der sowjetischen Welt und Mitwelt lässt ahnen, dass sie keine soziale Fremdheit erlebt. Allein der von ihr dargelegte Umgang Lenins mit ihrer Person und die Benennung der sie umgebenden Menschen als „Kameraden“ zeigen, dass sie Zugang zum Kreis derer hatte, die die fremde Welt mitgestalteten. Kulturelle Fremdheit zeigt sich in dem Fakt, dass Pankhurst in der Beschreibung von Phänomenen, die sie aus ihrer eigenen politischen Arbeit nur theoretisch kennt, nicht mit eigenen sondern mit fremden Worten spricht (Zitate aus Primärdokumenten). Die Konfrontation mit anderen, für sie neuen Arbeitsweisen und Gegebenheiten, die ihr nur aus der Theorie bekannt zu sein scheinen, verursacht eine „produktive Verfremdung“226 des Mediums, das die Fremde schriftlich transportiert: an diesen Stellen wird ihr Reisebericht zum Lehrbuch. 224

225 226

Auf die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem in Moskau verweist auch Zahn. In den von ihr analysierten Berichten wird die Vergangenheit durch sakrale Gebäude symbolisiert; Gegenwart und Zukunft werden anhand von auf den Straßen angebrachtem Propagandamaterial der Bolschewiki ausgemacht. (Vgl. Zahn, Reise als Begegnung. S. 135 ff.) Vgl. Pankhurst, SR. S. 148, 168 f., 172, 193. Schäffter, „Modi des Fremderlebens“. S. 15.

2.3 Russische Mitwelt

217

Pankhurst dient das Fremde als Vergleichspunkt zur Darstellung der Umstände im eigenen Land beziehungsweise in kapitalistischen Ländern allgemein. Insbesondere diese häufigen Vergleiche mit dem kapitalistischen Ausland deuten auf ihr dualistisches Weltbild hin, das auf dem zweiten Ordnungsschema nach Schäffter beruht: Eigenes und Fremdes stehen sich diametral gegenüber. Allerdings zeigt sich, dass das eigentlich Fremde, die Gegebenheiten des postrevolutionären Russland, zum Eigenen werden kann und das ursprünglich Eigene dann fremd erscheint. Man kann dies einen Wechsel der Vorzeichen nennen, würde Pankhurst nicht von jeher diesen Standpunkt vertreten haben. Der Ort, an den Pankhurst reist, scheint ihr mehr als vertraut; die Gegebenheiten scheinen sich größtenteils mit ihren Ansprüchen und Erwartungen zu decken und die Menschen sind ihresgleichen. So liegt die Schlussfolgerung nahe, dass es bei ihr nicht die geografische Entfernung ist, die Fremdheit evoziert, sondern die ideologische. Pankhurst kommuniziert zwischen den Zeilen, dass der Kommunismus ihr eigenes ist und scheidet von diesem konsequent den Kapitalismus als das Fremde. Sowohl Nichtvorhandensein von sozialer und kultureller Fremdheit als auch die strenge Gegenüberstellung von Kommunismus und Kapitalismus verweisen auf Pankhursts Standort: Ideologisch befindet sich dieser nicht in Großbritannien, sondern in Sowjetrussland. Allein, dass der Reisebericht eine Nennung von Abfahrt und Ankunft in Großbritannien konsequent ausschließt und einzig Pankhursts Aufenthalt in Sowjetrussland thematisiert, zeugt davon, dass die Autorin das „woher“ und „wohin zurück“, das einer Reise immanent ist, selbst nicht thematisieren will. Von Relevanz ist einzig das Dasein im postrevolutionären Land – ein Standort in der Zukunft. Mitwelt

Augenfällig kristallisiert sich in Pankhursts Beschreibung ihrer Mitwelt die offensichtliche Einteilung in Kommunisten und Nicht-Kommunisten. Während Erstere in Pankhursts Darstellung durch das gemeinsame Merkmal einer verlustreichen und schweren Exil- oder Gefängnisvergangenheit zu zielstrebigen, selbstlosen und fleißigen Menschen erwachsen sind, und diese Charaktereigenschaften von der Autorin konsequent zugeschrieben bekommen, erfahren Nicht-Kommunisten, sofern sie sich dem System gegenüber kritisch zeigen, eine irgendwie geartete Demontage – sei es durch Entlarvung ihrer intellektuellen Fähigkeiten oder ihrer moralischen Eigenschaften. Die explizit benannte Selbstlosigkeit der Kommunisten wird ergänzt durch die Wiedergabe ihres Umgangs mit

218

2 Reisende Aktivistin – Sylvia Pankhursts Soviet Russia As I Saw It

anti-kommunistischen Taten und Sachverhalten – durchweg erscheinen sie in Pankhursts Darstellung nicht nur selbstlos, sondern auch großmütig und davon überzeugt, dass nichts und niemand ihre Idee zerstören könne. Die Charakterisierung konkreter Menschen vollzieht Pankhurst an Eigenschaften wie politischer Stärke, intellektueller Fähigkeiten und ideologischer Überzeugtheit. Nur am Rande finden Beschreibungen des äußeren Erscheinungsbildes statt. Spricht sie jedoch über die Bevölkerung insgesamt, werden die Menschen an ihrem äußeren Erscheinungsbild gemessen und nachdrücklich als wohlgenährt, glücklich und zufrieden dargestellt. Mit der wiederkehrenden Thematisierung der Situation von Kindern unterstreicht Pankhurst symbolisch den Willen der kommunistischen Regierung zur Veränderung und zum Neuanfang. Die besondere Fürsorge des Staates für die Kinder, die Pankhurst mit eigenen Augen erlebt, unterstützt diese These und trägt dazu bei, dass das kommunistische Land wächst und an Stärke gewinnt.

2.4

Literarizität in Pankhursts Reisebericht

2.4.1 2.4.1.1

Rhetorik Anordnung

Äußere Anordnung

Der als vollständiger Satz dargelegte Titel des Buches Soviet Russia as I Saw It verweist eindeutig auf den politisch-geografischen Raum, der thematisiert wird. Die Satzstellung lässt offen, ob die Betonung auf dem Prädikat oder dem Subjekt liegt. Je nach Auslegung bekommt der Titel eine andere Konnotation: Soll durch das Subjekt schlicht dargelegt werden, was in dem Land gesehen wurde oder aber handelt es sich um eine Darstellung des Landes in einem neuen, anderen Licht, beispielsweise als Antwort auf vorangegangene Augenzeugenberichte über Russland? Auffällig ist die Ähnlichkeit des Titels mit zwei älteren Berichten über Russland. Es sind die gleichnamigen Werke What I saw in Russia von Maurice Baring (1913) und George Lansbury (1920). Allein der Verlag227 verrät, 227

Pankhurst veröffentlichte ihren Reisebericht in ihrem eigenen Verlag, dem „Workers’ Dreadnought Publishers“, der sich durch politische Publizistik auszeichnete.

2.4 Literarizität in Pankhursts Reisebericht

219

dass es sich beim vorliegenden Werk nicht um Belletristik handelt. Das im Titel verankerte Subjekt lässt jedoch die Möglichkeit offen, dass es sich bei dem vorliegenden Werk um ein Tagebuch handelt – Subjekt und das Prädikat „sehen“ verleihen dem Buch eine persönliche und damit gleichermaßen authentische Note, der Augenzeuge wird bereits hier thematisiert. Das in 22 Kapiteln konzipierte Werk umfasst in der vorliegenden Ausgabe 189 Seiten, die Namensgebung lässt vage die Reiseroute nachvollziehen. Dynamik evozierende Kapitelnamen228 wechseln sich mit kurzen statischen Ortsangaben229 ab. Die Bewegung der Reise und Momente der Rast sind dem Buch damit immanent. Die mehrheitlich kurzen Kapitelnamen wirken sachlich, konkret und bestehen entweder aus Ortsangaben, Institutionsbezeichnungen, Begebenheiten230 oder aber bilden ganze Sätze231, wobei nur ein Satz auch mit Satzzeichen (Fragezeichen) versehen ist232. Während das Inhaltsverzeichnis neben vermeintlichen Reisepunkten thematische Schwerpunkte setzt, sticht das Kapitel „What Russia thought of the British Labour Delegation“ heraus. Mit dem Wissen um die nur einen Monat vorher beendete Reise der Britischen Arbeiterdelegation mit Ethel Snowden verstärkt sich der Eindruck, dass die Betonung des Reiseberichttitels auf dem Subjekt liegt und es sich bei dem vorliegenden Text um eine Antwort auf die Reise der Delegation handelt. Der Umfang der Kapitel ist bis auf ein Kapitel („Trade Unions“) nahezu gleichmäßig verteilt; genanntes liegt mit 21 Seiten weit über den durchschnittlich ca. 10 Seiten. Alle Kapitel sind, anders als im Inhaltsverzeichnis, im Fließtext nummeriert und jede Seite ist überschrieben mit dem Titel des Werkes, der ergänzt ist um das Jahr („Soviet Russia as I saw it in 1920“). Innere Anordnung

Medias in res wird der Leser in das Buch eingeführt233 und gleich im ersten Satz wird er mit einem Erzähler-Ich konfrontiert: das Subjekt des Titels. Es handelt es sich um die Autorin selbst, die sich, abgesehen von den Wetterverhältnissen, in einer nicht weiter konkretisierten Umgebung 228 229 230 231 232 233

Vgl. ebd. Kapitel „To Soviet Russia across the Arctic Sea“, „From Murmansk to Petrograd“. Vgl. ebd. Kapitel „Moscow“. Vgl. ebd. Kapitel „The Congress in the Kremlin“, „Fire in the Train“, „The Polish War“, „A whiff of Alcohol“. Vgl. ebd. Kapitel „How the Communist Party is Organised“. Vgl. ebd. Kapitel „What and Where ist the Shortage?“ „To Soviet Russia, across the Arctic Sea“

220

2 Reisende Aktivistin – Sylvia Pankhursts Soviet Russia As I Saw It

bewegt.234 Das Kapitel stimmt mit Ausweisung einer lebensfrohen Atmosphäre auf den folgenden Text ein. Im zweiten Kapitel 235 beschreibt Pankhurst, dem Verlauf des Zuges folgend, in dem sie sich befindet, Land und Leute. Sie zeigt ihr Erstaunen über unterschiedliche Dinge und stellt ihre Ankunft in Petrograd dar.236 Sie beendet das mit allgemeinen Beschreibungen dieses Ortes und tatsächlicher Begebenheiten gespickte Kapitel mit ihrem Eindruck von der Peter-Pauls-Festung, dem Ort, an dem „seit vielen Generationen revolutionäre Kameraden lange Jahre dahin siechten“ (for many generations revolutionary comrades wearied away long years)237. Der ordo naturalis der Reise wird hier mehrheitlich, dem Titel entsprechend wiedergegeben. Das dritte Kapitel238 eröffnet Pankhurst ohne zeitliche, aber mit einer örtlichen Konkretisierung: Sie nimmt Moskau aus dem Schlafwagen heraus wahr: „And now to Moscow – oh strange city of contradictions – so deeply medieval, inspite of the revolution.“239 Die Stadt bleibt Thema des Kapitels und dies durchweg vor dem Hintergrund der angedeuteten Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Zukunft.240 Diesem Bild werden die Eindrücke der Kirchen beigefügt.241 Einer Ansammlung von negativen Attributen über diesen alten Teil Moskaus 242 wird ein Bindesatz nachgestellt, der zum neuen Moskau überleitet: „With the old superstitious, the old buttresses of autocracy still living within her, Moscow goes hastening onward in the creation of the newest brotherhood.“243 Dieses ist durch positive Attribute gekennzeichnet. 244 Sehr bildhaft stellt sie der Lethargie der alten Welt die Lebhaftigkeit der neuen gegenüber.245 Pankhursts eingangs dargelegter Eindruck der Widersprüchlichkeit der Stadt wird ergo konsequent durch Beispiele untermauert und durch die Anordnung der Wörter sichtbar gemacht. Der Weg Russlands in die Zukunft 234 235 236 237 238 239 240 241 242 243 244 245

Vgl. ebd. S. 7. „From Murmansk to Petrograd“ Vgl. ebd. S. 26. Ebd. S. 32. „Moscow“ Ebd. S. 33. „nothing seem to move“ (Ebd. S. 33.) Ebd. S. 33. „weird“, „strange“, „nightmare“ (Ebd. S. 34.) Ebd. S. 34. „magnificent“ (ebd. S. 34), „wonderfully“, „tremendous“ (ebd. S. 35) „Big John Reed, apparently full of radiant health, clear eyed, good tempered… brilliant talents.“ (ebd. S. 36)

2.4 Literarizität in Pankhursts Reisebericht

221

zeigt sich an seiner Hauptstadt, die in ihrer Widersprüchlichkeit als Symbol für das ganze Land gedeutet werden kann. Zu Beginn des fünften Kapitels 246 erfolgt die Anmerkung, dass die Geschehnisse des vorherigen Kapitels nicht dem Reiseverlauf folgten, sondern vorgezogen worden seien 247 – alle kommenden Informationen werden demnach auch unter dem Gesichtspunkt der „Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Zukunft“ und der Widersprüchlichkeit Moskaus gelesen. Es erfolgt ein unkonkreter Verweis auf den Grund für diese Reise.248 Mehrheitlich ist dieses Kapitel der Darstellung politischer Sachverhalte gewidmet; örtlich ist es im Kreml angesiedelt. Mit der dezidierten Benennung der Örtlichkeit gibt die Autorin unmissverständlich und bereits zu Beginn ihres Berichts die Macht der Bolschewiki zu erkennen: Sie halten die Versammlungen, die der Weltrevolution ihre Gestalt verleihen sollen, im Herzen der ehemaligen Macht ab und zeigen sich damit als die neuen Machthaber. Im sechsten Kapitel249 thematisiert Pankhurst die Beschreibung ihrer Fahrt nach Kolomna und anhand der Aussagen des Werkleiters und dessen Charakteristik den Zustand der dortigen Fabrik. Pankhurst schreibt, dass eine Knappheit an Lederschuhen keine Neuheit in Russland wäre, da schon in einer amerikanischen Studie von 1908 zu lesen sei, dass auch in vorrevolutionären Zeiten, arme Russen nicht nur im Sommer sondern ganzjährig keine Lederschuhe hätten tragen können.250 Mit diesem Zitat autorisiert sie den nicht ausgesprochenen doch zugrundeliegenden Hinweis, dass sich die Lebensumstände der Menschen seit der Machtübernahme durch die Kommunistische Partei nicht verschlechtert hätten, sondern auf dem gleichen Niveau geblieben wären. Pankhurst geht antithetisch vor, spricht offen über den Missstand, relativiert ihn aber umgehend. Zu Beginn des siebten Kapitels251 geht Pankhurst thematisch vor und beschreibt die Strukturen der praktischen Parteiarbeit.252 Sie schreibt, dass

246

247 248 249 250 251 252

„The Congress in the Kremlin“ – In der zugrundeliegenden Ausgabe der Reiseschrift wird das vierte Kapitel als fünftes ausgewiesen, das vierte Kapitel numerisch ausgelassen. Vgl. ebd. S. 40. Vgl. ebd. S. 42. „To Kolomna with Melanchansky“ Vgl. ebd. S. 63. „How the Communist Party is Organised“ Vgl. ebd. S. 65 ff.

222

2 Reisende Aktivistin – Sylvia Pankhursts Soviet Russia As I Saw It

das letztliche Ziel der „Weltkommunismus“ sei.253 Den ordo naturalis der Reise aufnehmend gibt sie die Begegnung mit einem Kritiker der Nahrungsversorgung in der RSFSR wieder. Vorweg stellt sie sein verwahrlostes Äußeres254 und im Anschluss beschreibt sie im direkten Vergleich „fröhliche, sonnengebräunte Russen“255. Mit dieser vergleichenden Vorgehensweise diskreditiert Pankhurst den anonymen Kritiker und entzieht seiner Bewertung die Relevanz. Im achten Kapitel256 nimmt Pankhurst Bezug auf die eigentliche Reise und beschreibt den Ort, weniger die Inhalte eines öffentlichen Treffens. Der beschriebene Ort stellt sich als locus amoenus dar.257 Anhand von Beobachtungen geht Pankhurst auf Gedanken über eine sowjetische Kindheit und Jugendzeit über und prophezeit dem Nachwuchs eine „großartige Epoche“.258 Sie führt die Charakterisierung und mutmaßliche Entwicklung der Kinder aus259 und beendet das Kapitel mit einer ihr zugetragenen Anekdote, die den Einfallsreichtum der Revolutionäre anschaulich macht260. Das auf eine öffentliche politische Versammlung verweisende Kapitel stellt sich größtenteils als Gedankensammlung der Autorin über die Lebensqualität sowjetischer Menschen heraus. Die persönlichen Erfahrungen der Autorin untermauern ihre eigene Vision eines aufstrebenden Landes. Aufbau, Wirkungsweise und Organisation der Sowjets beschreibt Pankhurst im neunten Kapitel 261 fast ausschließlich unter Hinzunahme von Reporten 262 und Statistiken 263 . Die Erzählerfunktion besteht einzig darin, zwischen den zitierten Originaldokumenten zu vermitteln und diese durch eingefügte Sätze, wie beispielsweise „Wie ich bereits sagte“, zu verbinden.264 253 254 255 256 257

258 259 260 261 262 263 264

Vgl. ebd. S. 70. „poor clothes, unshaven and looking ill and neglected“ (Ebd. S. 76.) „He was a striking contrast to the strong, cheerful, sunbrownded Russians in their coloured blouses.“ (Ebd. S. 78.) „At a Public Meeting“ „[...] pleasure garden, where throngs of men, women and children of the neighbourhood, a handsome, shapely crowd in their simple garments, strolled amongst the flower beds, whilst the band played.“ (Ebd. S. 80.) Ebd. S. 81. „These Russian youngsters grow to be of soldierly metal […].“ (Ebd. S. 82.) Vgl. ebd. S. 83. „The Soviets“ Vgl. ebd. S. 86. Vgl. ebd. S. 91 ff., 96 f. Vgl. ebd. S. 93 ff.

2.4 Literarizität in Pankhursts Reisebericht

223

An den Anfang des zehnten Kapitels265 setzt die Autorin eine These und stimmt damit auf die folgenden Sätze ein. Sie stellt die historische Entwicklung der Genossenschaften266 und ihre Relevanz unter den veränderten nachrevolutionären Bedingungen dar, nur um letztlich die Ausgangsthese zu bestätigen, dass eine Integration derselben in die Sowjets forciert würde. Der Reiseverlauf wird in diesem Kapitel gänzlich außen vor gelassen. Das elfte Kapitel267 ist von Beginn an dem im Titel benannten Thema gewidmet. Pankhurst legt die veränderte Funktionsweise und Notwendigkeit der Gewerkschaften nach der Revolution dar, beschreibt sehr ausführlich die historische Entwicklung der Gewerkschaften in Russland, ihre Relevanz, den gesellschaftlichen und politischen Standort und ihre Aufgaben.268 Zwischenzeitlich gibt sich Pankhurst als Erzählerin zu erkennen, indem sie den berichtartigen Vorgang verlässt und eigene Einschätzungen darbietet.269 Angaben zum Reiseverlauf lassen dieses Kapitel bis auf den Schluss gänzlich vermissen: Das Kapitel endet mit einer Benennung und Beschreibung des Aufenthaltsortes, der Petrograder Arbeiterpalast.270 Pankhurst steigt in das zwölfte Kapitel 271 mit Darlegung der Fortschrittlichkeit und permanent in Entwicklung befindlichen Familiengesetze ein.272 Damit verweist sie indirekt auf die zukunftsorientierten Veränderungen des Landes. Beispielhaft legt sie die bereits erreichten Errungenschaften für Frauen und Kinder dar und untermauert ihre Ausführungen durch persönliche Eindrücke.273 Im direkten Anschluss an das zwölfte Kapitel geht Pankhurst mit einem verbindenden Satz auf Babykliniken und -heime ein und beschreibt exemplarisch ihre persönlichen Eindrücke.274 Sie veranschaulicht die Umsetzung der Gesetze, die die Gleichheit aller Menschen herkunftsunabhängig gewährleisten sollen. Eine weniger optimale Baby-Klinik in Moskau 275 wird dadurch entschuldigt, dass „ein Land, das im siebten 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275

„The Co-operatives“ Vgl. ebd. S. 100–104. „The Russian Trade Unions“ Vgl. ebd. S. 105–118. Vgl. ebd. S. 112. Vgl. ebd. S. 124 f. „The House of the Mother and Child“ Vgl. ebd. S. 126 f. Vgl. ebd. S. 129 ff. „Babies’ Homes and Clinics“ – Vgl. ebd. S. 132. Vgl. ebd. S. 133 f.

224

2 Reisende Aktivistin – Sylvia Pankhursts Soviet Russia As I Saw It

Kriegsjahr und noch immer durch verfallende mittelalterliche Relikte belastet ist“276, nicht in allem perfekt sein könne. Damit entschärft Pankhurst ihre Kritik, relativiert mangelhafte Zustände und fordert implizit Verständnis für die Umstände. Das vierzehnte Kapitel277 steigt mit der im Titel benannten Sache ein und kreist konsequent um das Gesundheitssystem der RSFSR. Dabei vergleicht die Autorin unter Hervorhebung der schwierigen Umstände die aktuellen Konditionen mit denen in vorrevolutionären Zeiten278 und jenen in Großbritannien279. Ort und Zeit werden in diesem Kapitel nicht markiert. Die aktuellen nachrevolutionären Gegebenheiten für Bildung und Kinderbetreuung werden, auch anhand von Statistiken, im fünfzehnten Kapitel280 dargelegt.281 Pankhurst nimmt das Vorurteil ideologisierten Schulunterrichts auf und bestätigt es, um ihm mit Verweis auf selbige Praxis in kapitalistischen Ländern umgehend die Schlagkraft zu nehmen. 282 Die initial skeptische Betrachtung der Institution der Kinderkolonie wird mit Verweis auf die schlechte ökonomische Situation der Mütter, ausgelöst durch die „kapitalistische Blockade“, ausgehebelt. 283 Auch vergleicht Pankhurst Kinderkolonien mit privaten Internaten in kapitalistischen Ländern, um die als schmerzhaft wahrgenommene Trennung von Mutter und Kind zu relativieren.284 Das sechzehnte Kapitel285 nimmt die eigentliche Reise zum Ausgangspunkt. Das Kapitel thematisiert die im Titel benannten Erholungsheime, die jedoch vorerst nicht als solche benannt werden. Die Autorin beschreibt in traumhafter Manier über viele Seiten hinweg einen Ort, der auch anhand seiner Vergangenheit charakterisiert wird. 286 Das Kapitel bezeugt durch Darlegung der architektonischen Geschichte und der aktuellen Umnutzung sowie einer Beschreibung der postrevolutionären Umgebung 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285 286

Ebd. S. 134. „The Commissariat of Public Health“ Ebd. S. 137. „[...] where the great hospitals run by private charity are, one by one, closing down“ (Ebd. S. 138.) „Education“ Vgl. ebd. S. 139. Vgl. ebd. S. 142. Vgl. ebd. S. 143. Vgl. ebd. S. 144. „The Rest Houses“ Vgl. ebd. S. 146.

2.4 Literarizität in Pankhursts Reisebericht

225

einmal mehr die von Pankhurst scheinbar wahrgenommene Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Zukunft.287 Mehr noch, Pankhurst unterstellt den historischen, vorrevolutionären Akteuren, dass sie bereits zu ihrer Zeit die revolutionäre, sowjetische Entwicklung vorhergesehen und danach gehandelt hätten. 288 Ohne konkrete Ausweisung von Ort und Zeit eröffnet Pankhurst das siebzehnte Kapitel 289 mit einem Vorfall, der eine Einladung zu einem nicht konkretisierten Treffen nach sich zieht. 290 Die Sache selbst, die das Kapitel umfasst, ist uneindeutig. Die im Titel benannte Schule ist lediglich der Ort, an dem Pankhurst verschiedene persönliche Eindrücke und Informationen sammelt. Das Kapitel spiegelt in seiner Heterogenität und der scheinbar zufälligen Anordnung Merkmale des Tagebuchs wider und symbolisiert so das „Zufällige“ des Reisens 291 sehr bildhaft. Auch hier werden Informationen nicht in abgeschlossenen Blöcken gewonnen, sondern durch die zufällige Begegnung mit Mensch und Welt. Außerhalb einer raumzeitlichen Verortung beinhaltet Kapitel achtzehn 292 eine Darlegung der Wahrnehmung des Besuchs der Britischen Arbeiterdelegation durch die russischen Gastgeber. Pankhurst nimmt Punkte auf, die auch in Snowdens Bericht zu lesen sind – nur eben nicht in Selbst- sondern in der Fremdwahrnehmung. Es sind explizit jene Sachverhalte, die in Snowdens und Haden Guests293 Reiseberichten systementlarvende Funktionen einnehmen294. Pankhurst arbeitet mit Originalzitaten aus Snowdens Bericht. An der Charakterisierung Haden Guests und Snowdens wird Pankhursts Skepsis der Delegation gegenüber offenbar.295 Neben der Delegation widerspricht Pankhurst auch George Lansbury, der im Januar

287 288 289 290 291 292 293

294 295

Vgl. ebd. S. 146, 150. „The artist who painted the ceiling might well have foreseen the Revolution, for it is perfectly appropriate.“ (Ebd. S. 150.) „At a Camouflage School“ Vgl. ebd. S. 155. Vgl. Claus Vogelsang, „Das Tagebuch“. S. 185.: „[Das] Tagebuchschreiben basiert auf der ontologisch primären Wirklichkeit und wirkt auch auf diese wieder zurück.“ „What Russia Thought of the British Labour Delegation“ Leslie Haden Guest (1877–1960) ist Herausgeber des Reports der Britischen Arbeiterdelegation. Er war Mediziner, Autor und Journalist, der sich nach dem Ersten Weltkrieg gänzlich politischen Angelegenheiten widmete. Vgl. Pankhurst, SR. S. 161 f. Vgl. ebd. 163 f.

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2 Reisende Aktivistin – Sylvia Pankhursts Soviet Russia As I Saw It

und Februar 1920 nach Russland reiste.296 Auch sein Verhalten stellt sie in Frage und untergräbt seine Autorität297 indem sie die Wahrnehmung seiner Person durch „junge russische Kommunisten“ wiedergibt.298 Das Kapitel steht abseits des ordo naturalis der Reise und gibt keine eigenen Reiseerfahrungen wieder, sondern einzig die Erfahrungen der Bolschewiki mit anderen Reisenden. Dies vor Augen entbirgt das Kapitel Pankhursts eigentliche Schreibmotivation: Die Wiedergabe des Blicks einer anders wahrnehmenden britischen Sozialistin beziehungsweise Kommunistin und die Entlarvung vermeintlich sozialistischer Zeitgenossen. Das kurze neunzehnte Kapitel 299 beginnt mit einer Ortsangabe (Zug von Moskau nach Petrograd) und verweist auf die Rückfahrt.300 Wie der Kapitelname andeutet, thematisiert Pankhurst den Vorfall eines Feuers, das im Zug ausbricht. Anhand einer fragwürdigen Kausalkette erklärt sie, dass das Feuer eine der „Auswirkungen der Blockade und des konterrevolutionären Krieges“301 sei. Dem Reiseverlauf folgend geht sie abermals auf Petrograd ein. Während sie das neunzehnte Kapitel mit einem Verweis auf die Knappheit von Lebensmitteln beendet, fragt sie im zwanzigsten302 nach Details der Knappheit. Pankhurst arbeitet mit persönlichen Eindrücken und Vergleichen mit Großbritannien.303 Sie teilt ihre „anhaltende Erinnerung an schöne, gut gewachsene Kinder und gesunde Menschen“ in Russland mit und nennt die Gründe dafür, die in der ideologischen Überzeu296

297

298 299 300 301 302 303

George Lansbury (1859–1940) war ehemaliger Mitstreiter im Kampf für den Sozialismus in Großbritannien, der in dem von ihm herausgegeben (Daily) Herald häufig ihre Artikel veröffentlichte. (Vgl. Romero, E. Sylvia Pankhurst. S. 65.) Er war Vorsitzender der Labour Party und zeitlebens als Politiker aktiv. Pankhurst war seit der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts persönlich mit ihm bekannt und fand in ihm einen Förderer ihrer publizistischen Aktivitäten. (Vgl. ebd. S. 43 f.; vgl. S. 13, Fußnote 1 der vorliegenden Arbeit.) „It is regarded as extraordinary that a man who is supposed to be a leader of British progress and enlightenment, should single out as the first matter for rejoicing, the fact that, though bread may be lacking, there is still gold on the domes of the churches, and poor people are still held by chains of ignorance and superstition under the influence of the reactionary church.“ (Pankhurst, SR. S. 165.) Vgl. ebd. S. 166. „A Fire in the Train“ Vgl. ebd. S. 167. Vgl. ebd. S. 168. „What and Where is the Shortage?“ Deutschland: „pale, tired, hopeless and discontened“ (ebd. S. 169); Großbritannien: „gnawing anxiety, chronic undernourishment and lack of health“ (ebd. S. 170).

2.4 Literarizität in Pankhursts Reisebericht

227

gung und den ökonomischen Konditionen des Landes lägen.304 Sie wiederholt u.a. vormals getätigte Aussagen zur kostenlosen Versorgung von Kindern und zur besseren Lage von Sozialgesetzen. 305 Auffällig ist ihre Skepsis gegenüber einer angeführten Statistik zur rückläufigen Entwicklung der industriellen Produktion: Sie stellt deren Richtigkeit in Frage.306 Das Kapitel kann insgesamt als Resümee gelesen werden: Im Kontext des Kapitelnamens betrachtet oszilliert die Autorin zwischen Vorurteilen und eigenen aus positiven Erfahrungen gezogenen Fazits über die Verfassung der russischen Bevölkerung. Einleitend in das einundzwanzigste Kapitel 307 gibt die Autorin eine Nachricht zur aktuellen Lage des russisch-polnischen Krieges wieder, zitiert aus einem Manifest zum Thema und legt die Entwicklung der Kampfhandlungen dar. 308 Den Reiseverlauf einbindend nimmt sie eine weitere Begegnung mit Lenin im Kreml auf, ohne diese zeitlich zu konkretisieren, beschreibt ihre Eindrücke eines Soldatenaufmarsches der Roten Armee in Petrograd für die polnische Front. Die Aussage einer Passantin nutzt Pankhurst, um das postrevolutionäre Land in einer weltweiten Entwicklung zu verorten und seine Fortschrittlichkeit und das Heldentum der Armee aufzuzeigen.309 Das zweiundzwanzigste Kapitel 310 folgt dem Reiseverlauf von Petrograd nach Murmansk und deutet auf das Ende der Reise hin.311 Es finden sich Beschreibungen vom kulturellen Leben in Murmansk von der aus Pankhurst auf die im Titel benannte Sache, Alkohol, hinführt.312 Negative Auswirkungen sieht sie an einem Trinker und markiert Alkohol als Überbleibsel des kapitalistischen Westens. Die Anordnung von Erfahrung, Vermutung und Wissen in puncto Alkohol unterstreicht ein weiteres Mal Pankhursts Perspektive auf Russland und nicht minder Großbritannien: Wieder führt sie das Übel am anschaulichen Beispiel auf den Kapitalismus zurück. 304 305 306 307 308 309 310 311 312

Vgl. ebd. S. 170. Vgl. ebd. S. 175. Die benannte Statistik belegt den Rückgang der industriellen Erträge auf 20% der Vorkriegszeit in den Jahren 1919/20. „The Polish War“ Vgl. ebd. S. 176 ff. „It is said, that there are no soldiers so mighty as the soldiers of Soviet Russia, because they fight for principles.“ (181) „A Whiff of Alcohol“ Vgl. ebd. S. 182. Vgl. ebd. S. 182 f.

228

2 Reisende Aktivistin – Sylvia Pankhursts Soviet Russia As I Saw It

Das letzte Kapitel313 beginnt mit einer räumlichen Konkretisierung314: Pankhurst schildert ihr Verlassen des russischen Festlandes und die Erfahrungen an einem weiteren Ort. Sie unterstreicht die Fortschrittlichkeit des sowjetischen Systems 315 und setzt eine Zäsur, indem sie ihre Aufzeichnungen mit den Worten: „So kehrte ich ins Britische Königreich zurück.“316 eigentlich beendet. Dann jedoch fügt sie ihre Erinnerung an die letzten Eindrücke in Großbritannien vor ihrer Fahrt nach Russland an: The last I had seen of it [i.e the British Empire, d. Vf.] was a pile of dingy, smoke-begrimed buildings, and nearest to the quay, a row of hovels, built for the working class, which had fallen to decay. Poor little children, bare-legged, ill-clad and dirty, climbed amongst the ruins. Two ragged shawl-girt women with towzelled hair passed by us. A ragged shoeless dwarf, with legs all twisted, crawled after, supporting himself on his hands and one great toe, and wincing as the sharp stones cut his palms.317

Mit diesem nachhaltig eindrücklichen Bild von „Großbritannien“ schließt sich der Kreis ihrer Reise: Der britische Abfahrtsort wird als Erinnerung an den Schluss gestellt und kontrastiert damit umso mehr den von Pankhurst mehrmals betonten lobenswerten Umgang mit Kindern in der RSFSR. Mit ihrem Satz über die Rückkehr ins Britische Königreich setzt sie einen symbolischen Punkt unter die Reise und unterstreicht die Trennung dieses Ortes der, ihren Aufzeichnungen nach zu urteilen, gelebten Utopie von der kapitalistischen Welt. 2.4.1.2

Rhetorische Stilmittel

Die Einbindung von Redeschmuck findet nur marginal statt. Während Pankhurst sehr oft mit Vergleichen arbeitet, ist der Einsatz literarischer Vergleiche nur an wenigen Stellen zu finden. 318 Hierunter findet sich der Vergleich der Basilius-Kathedrale in Moskau, der ihr wie der

313 314 315 316 317 318

„The Villages on the Arctic Coast“ Vgl. ebd. S. 185. Vgl. S. 188, 192. Ebd. S. 195. Ebd. S. 195. „cold as a grave“ (ebd. S. 8); „intense heat like a heavy cloak“ (ebd. S. 33); „children sat as quietly as little mice“ (ebd. S. 80); Lenin: „like a happy father amongst his sons“ (ebd. S. 52).

2.4 Literarizität in Pankhursts Reisebericht

229

„weihnachtliche Alptraum eines Schuljungen“319 vorkommt. Sie erwähnt diesen Vergleich im Kontext ihrer ersten Eindrücke von Moskau, einer Stadt, in der Vergangenheit und Zukunft parallel zu existieren scheinen. Damit eröffnet die Autorin zwei semantische Felder, die sich antithetisch begegnen: Der alten Welt, die durch bewegungslose Kirchgänger und verfallende Kirchen gekennzeichnet ist, steht die neue Welt in ihrer lebhaften Rastlosigkeit innerhalb weniger Zeilen gegenüber. 320 Auch Lenins auf den ersten Blick erkennbare Skepsis und Konsequenz gibt sie anhand einer Gegenüberstellung wieder: Obwohl seine braunen Augen oft nette Amüsiertheit widerspiegeln, kann sein Blick sich „plötzlich in ein kaltes, festes Starren“ (suddenly to a cold, hard stare)321 verwandeln. Personifizierend geht sie in der Beschreibung beispielsweise der Kommunistischen Partei vor, die „heroische, klar-denkende und kraftvolle Persönlichkeiten“322 besitze. Das rote Petrograd erscheint ihr bei ihrem zweiten Besuch „hungriger als während ihres ersten Besuchs“ 323 und Moskau beschreibt sie als „vorwärts hastend“ 324 und ein Versprechen abgebend325. In den letztgenannten Fällen steht das personifizierte Subjekt metonymisch – totum pro parte – für seine Einwohner beziehungsweise die politische Führungsriege. Ebenfalls metonymisch schreibt Pankhurst vom Beweis der überragenden Eigenschaften der Kommunistischen Partei, meint dabei jedoch ihre Mitglieder.326 An manchen Stellen nutzt sie Hyperbeln, um Eindrücke nachdrücklich zu untermalen. So hört sie in Murmansk Menschen das Lied der „Internationale“ mit einer Energie singen, die sie „niemals zuvor“ gehört hätte327; sagt, dass „jeder Zoll des Gesichts“ Lenins ausdrucksstark sei328 und er ihr auf den ersten Blick so nah scheint, als „würde sie ihn schon immer kennen“329. Über die Kinder des jungen Staates weiß Pankhurst zu berichten, dass sie aufgrund bester Fürsorge in ein paar Jahren zu 319 320 321 322 323 324 325 326 327 328 329

Ebd. S. 34. Ebd. S. 33 ff. Ebd. S. 42. Ebd. S. 55. Ebd. S. 168. Ebd. S. 34. Ebd. S. 139. Vgl. ebd. S. 55. Ebd. S. 14. Ebd. S. 42. Ebd. S. 41.

230

2 Reisende Aktivistin – Sylvia Pankhursts Soviet Russia As I Saw It

„Millionen“ in den Kampfreihen gegen den Kapitalismus stehen würden.330 Im Rahmen der Beschreibung führender Bolschewiki gibt sie an, diese stünden „gegen eine ganze Welt von Feinden“331, und die Soldaten der Roten Armee, deren Aufmarsch sie beobachtet, gingen „in ihren Tod“332. Im Kontext des Krieges betrachtet mag diese Aussage größtenteils zutreffen, in ihrer Absolutheit bleibt sie als Übertreibung stehen, unterstreicht jedoch den heroischen Charakter der sowjetischen Armee nachdrücklich. Die von der Roten Armee unterstützte Macht der Bolschewiki zeigt Pankhurst deutlich durch die wiederholte Angabe des Ortes, an dem die verschiedenen Debatten im Rahmen des Kongresses der Komintern in Moskau stattfinden: Es ist das „Innerste der privaten Räume des Zaren“ (the innermost of the private apartments of the Czar’s)333, Schlafzimmer und Thronsaal, in dem Lenin und andere Bolschewiki tagen. Diese metaphorische Ortsangabe unterstreicht die erfolgreiche Aneignung der Macht durch die Bolschewiki. Nicht nur, dass diese den Kreml bewohnen, auch wird das „Herz“ des Kremls zur Festigung und Weiterentwicklung der kommunistischen Idee genutzt. Metaphorisch kann auch der Nebel 334 gedeutet werden, der kurz nacheinander zweimalig von Pankhurst angeführt wird und ihrer Meinung nach das „wahre Leben“ Sowjetrusslands verdecke. In beiden Fällen steht er für Pankhursts starken Eindruck der konkreten politischen Vorgänge in Gestalt des Kongresses der III. Komintern. Letztlich kann er als die allseits spürbare, jedoch nicht greifbare Idee gedeutet werden, die den Machern der Revolution vorschwebt und die mit der Komintern zunehmend Gestalt annimmt. Metaphorisch beschreibt Pankhurst auch das Wesen zukünftiger Menschen in Sowjetrussland: Die „enormen Generationen junger Kommunisten“ erwüchsen zu soldatisch eisernen Persönlichkeiten. 335 Um ihrem Unverständnis gegenüber der Kritik Snowdens Ausdruck zu verleihen, wählt sie drei rhetorische Fragen, die anaphorisch aufgebaut die Argumente für die Sichtweise Snowdens entkräften.336

330 331 332 333 334 335 336

Vgl. ebd. S. 82. Ebd. S. 43. Ebd. S. 180. Ebd. S. 41. „fog“ (ebd. S. 34); „mist“ (ebd. S. 38). Ebd. S. 82. Vgl. ebd. S. 151.

2.4 Literarizität in Pankhursts Reisebericht

2.4.2 2.4.2.1

231

Authentifizierungsstrategien Erzählen und zeigen

Dialoge bindet Pankhurst mit den im Kapitel „Form“ benannten Funktionen ein. Einerseits bewirken sie eine Auflockerung der nahezu durchgehend berichtartigen Erzählung 337 ; zudem involviert die Autorin direkte Rede, um die eigene Wahrnehmung beziehungsweise ein Verständnis von Sachverhalten zu authentifizieren338. Insgesamt bildet die Einbindung von direkter Rede als Monolog oder Dialog eine Ausnahme in Pankhursts Text. Die Frage nach dem Erinnerungsvermögen, das die Wiedergabe langer Monologe beziehungsweise Dialoge erfordert stellt sich bei ihr nur an zwei Stellen.339 An diesen beiden Stellen authentifizieren die Aussagen Pankhursts vorweg benannte Beobachtungen. Es zeigt sich, dass Pankhurst dieses Mittel der direkten Rede konsequent als Beleg für Charakteristika des neuen Staates einsetzt: Im Sinne ihrer Idee einer neuen Welt, stellt sie deren Anführer in ein gutes Licht und dekonstruiert jene, die sich kritisch äußern, jedoch teilweise im kapitalistischen Ausland Gehör finden. Die explizite Ich-Erzählerin in der ersten Person Singular tritt an vielen Stellen zugunsten eines berichtartigen Erstattens von Informationen zurück. 2.4.2.2

Textsorten

In ihren Bericht bindet Pankhurst häufig Zitate aus anderen Texten ein. Unter diese inhaltlich zumeist politischen Texte fallen nach ihren eigenen Angaben: Reporte/Berichte340, Bekanntmachungen341, Beschlüsse342, Gesetzestexte343 und (Partei-)Programme344. Auch Statistiken345 und tabellarische Aufzählungen346 finden Einzug in ihren Reisebericht. 337

338 339 340 341 342 343 344 345 346

Sie verstärken z.B. die vermeintliche Dramatik bestimmter Situationen (bspw. im Ausruf „There’s a fire in the train“ (ebd. S. 167), „You might have been shot“ (ebd. S. 40 f). Vgl. ebd. S. 12 ff., 54, 166. Vgl. ebd. S. 112, 181. Vgl. ebd. S. 63, 85 f., 89 f., 101 f., 106 f. [report] Vgl. ebd. S. 110, 134. [declaration] Vgl. ebd. S. 33, 70 ff., 117. [resolution] Vgl. ebd. S. 73 f. [rule] Vgl. ebd. S. 177. [manifesto] Ebd. S. 111. Ebd. S. 91, 96 ff., 115 f., 120 f.

232

2 Reisende Aktivistin – Sylvia Pankhursts Soviet Russia As I Saw It

Zumeist finden sich derlei Textauszüge dicht gedrängt in den Kapiteln über politische Organe und Institutionen. Es ist fraglich, inwiefern in diesen Fällen dem eigentlichen Reiseberichtcharakter Genüge getan wird. Der explizit auf das „Sehen“ verweisende Buchtitel wird scheinbar ad absurdum geführt, wenn Pankhurst über mehrere Seiten hinweg Auszüge aus benannten Textquellen darbietet. Obwohl diese Zitate an vielen Stellen als Beleg und damit der Authentifizierung vorweg oder hernach genannter Erfahrungen dienen, scheinen beispielsweise die Kapitel „Soviets“ und „Co-operatives“ aufgrund der häufigen Einbindung von Zitaten und dem Fehlen persönlicher Erlebnisse den Charakter des Reiseberichts zu entstellen. Diese Beschaffenheit erfordert einen erweiterten Augenzeugenbegriff. Letztlich dient das Reisen der Informationsbeschaffung über die Fremde. Für gewöhnlich werden darunter eigene Erfahrungen im Umgang in der Welt verstanden, doch zählt auch die Lektüre von in dieser Welt verfügbarer Literatur dazu – umso mehr, als dass die Zeit der allgegenwärtigen Verfügbarkeit von schriftlichen Informationen durch das Internet noch nicht gekommen war. Als Leserin hat Pankhurst ebenfalls „gesehen“; die unzähligen Reporte nehmen in diesem Fall die Rolle dessen ein, der den Reisenden in Kenntnis setzt. So substituieren die Zitate die durch eine Reise gewonnenen Informationen, die der Reisende dem lesenden Publikum zur Verfügung stellt. Neben diesen Textauszügen politisch-dokumentarischer Art zitiert Pankhurst aus dem namentlich aufgeführten Werk Russias Message, einer gesellschaftspolitischen Abhandlung über Russland des (politisch links orientierten) Amerikaners William English Walling aus dem Jahr 1908347; außerdem direkt und indirekt aus Snowdens Reisebericht Through Bolshevik Russia348. Auch nimmt sie in einem Satz die Legende um das Schicksal des Erbauers der Basilius-Kathedrale in Moskau auf. 349 An zwei Stellen werden Zitate auch typografisch kenntlich gemacht. So gibt Pankhurst an einer Stelle im Rahmen des Kongresses der III. Komintern in Petrograd politische Parolen wieder. 350 Durch die gesonderte typografische Ausweisung im Fließtext wirken sie auffordernd. Zudem erinnert ihr Bericht an vier Stellen an eine wissenschaftliche Ausarbeitung, da die Autorin Fußnoten einbaut; dies für eine Erklärung über 347 348 349 350

Vgl. ebd. S. 60, 63. Vgl. ebd. S. 151, 163, 164. Vgl. ebd. S. 34. Vgl. ebd. S. 26.

2.4 Literarizität in Pankhursts Reisebericht

233

die Nutzung elektrischer Züge351, die Definition und Arten von Kasha, einer, wie sie es nennt, „Mahlzeit, die aus gekochtem Getreide und einem Stück Butter obendrauf“352 bestehe. Zudem die Erklärung der Wirkungsweise sogenannter „Reiseleiter“ (travelling instructors)353 und letztlich zur Kontextualisierung und Quellenangabe eines Zitats im Fließtext 354. Bis auf das Letztgenannte sind die Fußnoten somit Anmerkungen und nur die letzte dient der vagen Angabe einer Quelle. Der Grund für die Verwendung bleibt unklar, da Pankhurst diese Zusatzinformationen schlichtweg in den Fließtext hätte einbauen können, wie sie es an anderen Stellen getan hat.355 Es ist anzunehmen, dass die Fußnoten eher aus der Not heraus geboren sind, dem Text als nachträgliche Informationen hinzugefügt wurden. Sie verweisen damit im weitesten Sinne auf die Genese des Reiseberichts. Nach pragmatischen Gesichtspunkten setzt Pankhurst häufig Beschreibungen von Orten und Zuständen ein und berichtet über Vorgänge, bspw. in der von ihr besuchten Fabrik356 oder einer Parteiversammlung357. Analog zu Snowden nimmt sich die Autorin hier selbst vor dem Gegenstand, über den berichtet werden soll, zurück. Ihr Bericht ist unausgesprochen an ein politikinteressiertes Publikum gerichtet, das jedoch nicht benannt wird. 358 2.4.2.3

Augen- und Ohrenzeugin

Generell sind es die auditiven und visuellen Sinneseindrücke, die der Reisende während seiner Reise in der Fremde wahrnimmt und in seinen Aufzeichnungen verschriftlicht. Diese Annahme gilt als unthematisierte 351 352 353 354 355 356 357 358

Vgl. ebd. S. 22. Ebd. S. 37. Ebd. S. 90. Ebd. S. 92. Beispielsweise erklärt sie den Begriff „subbotnik“ innerhalb des Fließtexts. (Vgl. ebd. S. 154.) Vgl. ebd. S. 61 ff. Vgl. ebd. S. 65 ff. Snowdens Bericht wendet sich an einen „bestimmten […] Hörerkreis“ (Lehmann, Bekennen, erzählen, berichten. S. 61.), nämlich die dem Sozialismus beziehungsweise Kommunismus gegenüber aufgeschlossene Arbeiterschaft, für die sie als Delegierte nach Russland fährt. Pankhursts autonome Reise lässt das anvisierte Publikum nur erahnen. Nichtsdestotrotz kann der größte Teil ihres Textes als Bericht deklariert werden, da sie sich selbst, vor dem zu thematisierenden Gegenstand explizit zurücknimmt.

234

2 Reisende Aktivistin – Sylvia Pankhursts Soviet Russia As I Saw It

und mitverstandene Voraussetzung für die Reise eines zum Sehen und Hören befähigten Reisenden. Im Rahmen der Aufzeichnungen von Reiseerfahrungen werden Fakten per se als „gehört und/oder gesehen“ deklariert. Manchmal jedoch wird die Ausweisung des Hör-, Seh- oder auch Geruchssinns als Strategie benutzt, Sachverhalte zu authentifizieren und den Autor als ausdrücklichen Augenzeugen zu manifestieren. Nach Ette ist es die Bewegung des Reisens, die Ortsveränderung, die „eine direkte Sicht auf die Dinge gewährt [...], die ein unmittelbares Sehen ermöglicht“ und „dem Schreiben über das Andere Autorität und damit erst eigentliche Autorschaft“ verleiht.359 Der Blick an sich spielt bei Pankhurst eine besondere Rolle, da er schon im Titel benannt wird; Pankhursts Augenzeugendasein wird damit offenbar. Der Einstieg in den Reisebericht erfolgt in medias res ohne eine konkrete Zeit- oder Ortsangabe, jedoch taucht bereits hier das sehende Subjekt, die erzählende Autorin auf, und fixiert die Perspektive des Berichts in der ersten Person Singular. Ausgehend allein von diesen formalen Gegebenheiten mutet der Text eher wie eine Erzählung und weniger wie eine „sachlich nüchterne, folgerichtige Darstellung eines Handlungsablaufs“360 an. Folglich lieferte ein Bericht von Beginn an eine Erklärung des Zustandekommens des hier beschriebenen Zustands oder gäbe zumindest Aufschluss über den Kontext analog dem Reisebericht von Snowden. Pankhurst unterlässt dies. Der Leser erfährt erst im fünften Kapitel vom Zweck der Reise, jedoch konkretisiert die Erzählerin den Auftraggeber nicht, sagt lediglich, dass „sie gesandt wurde, um in der Kommission für englische Angelegenheiten“ mitzuwirken.361 Mit Unterlassung der Nennung einer endoxa verzichtet Pankhurst auf eine zusätzliche Legitimation ihrer Aussagen. Die Ich-Perspektive, aus der berichtet wird, macht eine jede zusätzliche Betonung überflüssig: die Erzählerin bleibt bei Darlegung ihrer Erfahrungen durch Angabe des Personalpronomens größtenteils explizit sichtbar. Informationen, die sie von anderen zugetragen bekommt, komplettiert sie teilweise durch Angabe der Quelle. Dies geschieht insbesondere dann, wenn es sich um Autoritäten auf dem jeweiligen Gebiet handelt. So beispielsweise bei der Wiedergabe einer Diskussion mit Lenin im Kreml, in der Möglichkeiten der weiteren Entwicklung der Kommunisti-

359 360 361

Ette, Literatur in Bewegung. S. 121. Wilpert, Sachwörterbuch. S. 79. [Bericht] Vgl. Pankhurst, SR. S. 42.

2.4 Literarizität in Pankhursts Reisebericht

235

schen Partei Großbritanniens diskutiert werden362; auch im Mutter-KindHeim, wo sie die Einschätzung der Umstände durch die Bewohnerinnen wiedergibt363. Snowdens kritische Einschätzung Russlands dekonstruiert Pankhurst geschickt durch Wiedergabe der „Meinung Russlands“ über die Britische Arbeiterdelegation. Durchweg gibt sie für in diesem Zuge wiedergegebene Informationen das „man“, also eine unkonkrete russische Öffentlichkeit als Quelle der Informationen an.364 Derlei vage Quellenangabe kann zweierlei Auswirkung haben: einerseits impliziert der Hinweis auf „den aktuellen Gesprächsstoff in Moskau“, dass die Delegation von Wichtigkeit war, ansonsten würde zwei Monate später nicht mehr in dieser Weise davon gesprochen werden. Andererseits muten diese Aussagen wie Gerüchte an. Das, was „man“ sich in Moskau erzählt, ist in diesem Fall schlichtweg Gerede und damit nicht mehr vertrauenswürdig. Während also das ganze Kapitel „What Russia thought of the British Labour Delegation“ viel über die Veröffentlichungsintention der Autorin verrät, verfehlt es mit seiner Darstellungsweise unter Umständen das Ziel der Demontage bestimmter anderer Russlandreisender. Auf der anderen Seite erfährt der Augenzeuge bei Pankhurst eine ganz neue Ausprägung: Die unkommentierte Wiedergabe politischen Primärmaterials weist den Augenzeugen auch ohne zusätzliche Betonung als einen solchen aus. Der Abdruck von Auszügen aus Resolutionen und ähnlichen Texten kommt einer Betonung gleich, da diese Dokumente haptische Zeugnisse der Anwesenheit des Augenzeugen sind. Insgesamt wechseln sich in Pankhursts Text die Passagen ab: Einmal tritt sie unter Beibehaltung der sehenden Perspektive als ausgewiesene Ich-Erzählerin zurück365, dann wieder berichtet sie unter Beibehaltung der ersten Person über die Geschehnisse, sieht, hört und entdeckt selbst. Diese Anwesenheit markierenden Prädikate finden sich zuhauf, werden von der Autorin jedoch nicht durch Adverbien wie bspw. „wirklich“ oder „tatsächlich“ überbetont. Die Nähe, die durch die häufige Einbindung des Personalpronomens zustande kommt, führt dazu, dass ihr gesamtes Werk 362 363 364 365

Vgl. ebd. S. 48 f. Vgl. ebd. S. 131. „the current talk of Moscow“, „it is said“ (Ebd. S. 161.) „Ist das Auge – und folglich eine auf Reisen und eigener Anschauung basierende Erkenntnis – der Garant des Wissens, so erfüllt für Polybios das Ohr eine komplementäre und zweifache Funktion. Das Ohr nimmt jene Informationen auf, die bei möglichst zahlreichen Informanten eingeholt wurden, ist in Erweiterung dieser Vorstellung damit aber auch jenes Organ, das Informanten in der Form schriftlich fixierter Texte befragt.“ (Ette, Literatur in Bewegung. S. 125.)

236

2 Reisende Aktivistin – Sylvia Pankhursts Soviet Russia As I Saw It

zuweilen einen tagebuchartigen Charakter annimmt und allein durch diese subjektive Prägung keiner weiteren Authentifizierung durch explizite Betonung des Augen- oder Ohrenzeugen bedarf. 2.4.3

Vorurteile, Verallgemeinerungen, Stereotypen

Vorurteile gegenüber Gegebenheiten in Russland finden sich bei Pankhurst in reflektierter Art und Weise: Pankhurst greift einige der in Großbritannien kursierenden Vorurteile zum Zwecke ihrer Widerlegung auf und entkräftet sie anschließend so weit wie möglich. So beispielsweise die vermeintliche Zerstörung von Eigentum der ehemals besitzenden Klasse in Russland durch die Bolschewiki. Pankhurst zeigt Beispiele auf, die den Nachweis erbringen, dass insbesondere Gebäude keine Zerstörung sondern Umnutzung in der besten Art und Weise erfahren hätten: Sie wurden der Allgemeinheit zugeführt.366 Das Vorurteil von Armut und Hungersnot, das in „erschütternden Bildern“ von anderen367 – vermutlich sind hier Reisende gemeint – gezeichnet wurde, widerlegt sie ausdrücklich, indem sie mehrmals auf den ausgezeichneten physischen Zustand der Menschen eingeht. Im Kapitel „What Russia thought of the British Labour Delegation“ entkräftet Pankhurst am direkten Beispiel die Vorurteile, die die Arbeiterdelegation um Ethel Snowden in puncto Überwachung und Propaganda in der RSFSR erschaffen beziehungsweise bestätigt hat. Sie selbst bedient sich im Fluss ihrer Erzählung an manchen Stellen verallgemeinernder Aussagen. So konstatiert sie beispielsweise, dass alle „russischen Kommunisten“ Realisten seien, Kinder in kapitalistischen Ländern jedenfalls eine schlechtere Kindheit genössen und man in Russland die gegebene Hausausstattung bestens nutze.368 Auffällig in puncto Stereotyp sind zudem Pankhursts wiederholt eingebundene Verweise auf die Vergangenheit der Kommunisten, die als ehemalige Revolutionäre und Gegner des zaristischen Systems das Leiden gelernt hätten. Die meisten der von ihr als Kommunisten ausgewiesenen Personen teilen in ihren Aufzeichnungen das Los von Exil369, Verbannung und dadurch forcierte Leidensfähigkeit. Durch derlei Charakterisierung 366 367 368 369

Vgl. Pankhurst, SR. S. 39, 125, 152 f., 156. „The harrowing pictures of poverty and famine some others tell of I did not see […].“ (Ebd. S. 172.; vgl. auch S. 169.) Vgl. ebd. S. 51, 81, 11. Vgl. ebd. S. 57, 59.

2.4 Literarizität in Pankhursts Reisebericht

237

erschafft Pankhurst den Typus des unermüdlichen, fokussierten und kraftvollen Kommunisten, der bereits vor der Revolution für die Idee eines gesellschaftspolitischen Wandels alles auf sich nahm und nun die Umsetzung dieser Idee gestärkt und unbeirrt vorantreibt. Stereotyp sind bei Pankhurst bestimmte Äußerungen über ein „typisch russisches“ Aussehen unterlegt370; zudem die Darstellung Sowjetrusslands als Ort der Zukunft und als gelebte Utopie. Da sie diesen Charakterzug jedoch vielen Lebensbereichen zuschreibt, soll nicht mehr von einem Stereotyp, sondern vielmehr bereits von einem Topos gesprochen werden 371. Abgesehen von ihrer Charakterisierung der Revolutionäre372 kann konstatiert werden, dass Pankhurst Stereotype im Vergleich zu anderen ausländischen Reiseberichterstattern signifikant marginal anwendet. Resümee Markant für den Aufbau des Reiseberichts ist die direkte Korrespondenz des ersten und letzten Kapitels: Die Fahrt „weg vom Kapitalismus“ 373 wird beendet mit einer Fahrt dorthin zurück. Da Pankhursts Aufzeichnungen über Russland durchzogen sind von Äußerungen über glückliche Menschen und beste Bedingungen für Kinder, zeigt sich mit ihrer an den Schluss des Berichts gesetzten Erinnerung an Großbritannien ein eindrücklicher Kontrast. Gleichzeitig schließt Pankhurst damit den Kreis der Zukunft, in der es den Menschen besser geht, und hebt einmal mehr den isolierten „schönen Ort“, den Sowjetrussland für sie darstellt, hervor. Auffällig bleibt in der gesamten Anordnung das Kapitel „What Russia thought about the British Delegation“. Es steht nicht nur außerhalb der Logik der Reiseroute, sondern auch außerhalb der thematischen Logik. Es kann als Schlüssel für Pankhursts Schreibmotivation gelesen werden: Sie intendiert nicht nur mit ihrem Titel, sondern auch mit dem Inhalt ihrer Reiseschrift eine Wiederlegung von bereits kursierenden Russlandbildern britischer Sozialisten, deren Kritik am kommunistischen System in Pankhursts Augen einer Revision bedarf. 370

„typical russian blouses“ (Ebd. S. 23.) Vgl. zur Unterscheidung Stereotyp/Topos vgl. Kapitel I, 2.2.3 der vorliegenden Arbeit. 372 Diese Charakterisierung kann durchaus bestehenden Heterostereotypen zugeordnet werden. (Vgl. Oberloskamp, Fremde neue Welten. S. 343.) 373 Pankhurst, SR. S. 8. 371

238

2 Reisende Aktivistin – Sylvia Pankhursts Soviet Russia As I Saw It

Der innere Kapitelaufbau ist heterogen, jedoch auch vage in rhetorische Muster unterteilbar; die Einleitung der Sache, die das im Kapitelnamen benannte Thema vorgibt, erfolgt in jedem der Kapitel initial. In den darauffolgenden Auseinandersetzungen mit den jeweiligen Themen und dem Abschluss der Kapitel lässt sich kein stringentes Muster erkennen. Argumentativ widerlegt Pankhurst vermeintliche Missstände in der sowjetischen Republik, indem sie diese in den Vergleich mit mehrheitlich kapitalistischen Ländern setzt oder kontextualisiert374. So geht sie bestehende Vorurteile direkt an und entschärft sie geschickt. Der Kontrast zwischen den Zuständen in der RSFSR und in Großbritannien wird durch wiederholte Hinweise darauf deutlich und prägt sich dem Leser ein. Durchweg verlieren Großbritannien oder andere kapitalistische Länder Vergleiche in puncto Lebensqualität mit der RSFSR. Die Anordnung zeigt, dass der Verlauf der Reise an den Kapitelnamen und auch innerhalb der Kapitel grob abgebildet wird. Unterbrochen wird eine stringente Abbildung nur durch rein thematische Kapitel, die sich gesellschaftspolitischen Sachverhalten widmen. Da Anordnungskriterien nicht offen von der Autorin dargelegt werden, lassen sie sich nur anhand des faktischen Textes eruieren. Allerdings weist ihre Schrift aufgrund der konsequenten zeitlichen und räumlichen Eingrenzung auf die Zeit in Russland formal eine Nähe zum Reisetagebuch auf: Hinund Rückfahrt werden dem Reiseverlauf entsprechend an Anfang und Ende der Schrift gestellt und vorweggehende beziehungsweise nachfolgende Ereignisse ausgelassen. Diese Abgrenzung evoziert nicht nur den Schein der Isolation des locus amoenus Russland, sondern gibt der eigentlichen Reise Anfang und Ende. Rhetorische Mittel finden sich selten und immer dann, wenn Pankhurst Aussagen nachdrücklich unterstützen möchte. Zudem werden sie zur besseren Verständlichkeit und Lesbarkeit eingesetzt. Durch die explizite Anwesenheit des Ich-Erzählers, mit dem medias in res in den Text eingeführt wird, wirkt der Reisebericht nah und der Beginn des Textes mutet belletristisch an. Die Themen, die zuweilen sehr politisch sind und häufig mit dem eigentlichen Reiseverlauf nichts zu tun haben, wirken sachlich. Dies wird durch die Einbindung unterschiedlicher anderer Textsorten wie Reporte und Statistiken unterstützt. In Kapiteln, die sich 374

Damit ist gemeint, dass Pankhurst mangelhafte Umstände zum Teil mit Verweis auf die schwierige außenpolitische Lage relativiert – sie erinnert den Leser damit an die Umstände. Vgl. dazu auch die Resümees der Kapitel II, 2.2 und 2.3 der vorliegenden Arbeit.

2.5 Die Ich-Erzählerin des Reiseberichts als erlebendes Ich

239

der Beschreibung gesellschaftspolitischer Institutionen widmen (Trade Unions, Soviets, Co-operations) taucht die Ich-Erzählerin nicht mehr in Form der ersten Person Singular auf, vielmehr erfolgt die Wiedergabe der Informationen entweder als direktes Zitat oder in indirekter Rede. Diese Kapitel nehmen einen lehrbuchartig-aufklärenden Charakter an. Obwohl sich Pankhurst mehr als einmal auf Statistiken und die Aussagen anderer Menschen in Form von Zitaten beruft, stellt sie doch eine Fremdaussage in Frage. Es handelt sich um die Analyse des „bekannten sowjetischen Ökonomen“ J. Larin.375 Während die Autorin andere Statistiken kommentar- und kritiklos einbaut, hinterfragt sie die Aussagen Larins, indem sie schreibt, dass sie es „äußerst schwierig“ fände, „statistische Einschätzungen über Russland“ zu treffen.376 Es scheint, als ob der eigentliche Grund für das Infragestellen explizit dieser Statistik in der Passunfähigkeit der Zahlen mit ihrer eigenen Aussage beziehungsweise ihrem Standpunkt liegt. Dies ist umso wahrscheinlicher als dass auch Pankhursts Biografin schreibt, dass Pankhurst in der Herausgabe des Dreadnought nicht zögerlich war, Statistiken so einzusetzen, wie sie zum jeweiligen Zeitpunkt passend waren, ohne deren Genauigkeit zu hinterfragen oder die Quelle anzugeben.377

2.5

Die Ich-Erzählerin des Reiseberichts als erlebendes Ich

Pankhursts Biografie ist bis zur Reise nach Russland gekennzeichnet durch den aktiven Kampf für das Frauenwahlrecht. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs umfasst dieser Kampf Frauenrechte allgemein. Hinzu kommt in der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts Pankhursts zunehmendes Engagement für sozialistische Sachverhalte, die in ihre führende Rolle als Vermittlerin zwischen sozialistischen und kommunistischen Gruppierun375

376 377

Vgl. Pankhurst, SR. S. 173. – Gemeint ist hier mit hoher Wahrscheinlichkeit die 1920 in Moskau erschienene Arbeit des Wirtschaftswissenschaftlers Jurij Larin, Očerk chozjajstvennoj žizni i organizacii narodnogo chozjajstvo Sovetckoj Rossii (1917– 1920) (Мoskau, 1920), in deutscher Übersetzung ab 1921 unter dem Namen: Wirtschaftsleben und wirtschaftlicher Aufbau in Sowjet-Russland (1917–1920). Vgl. Pankhurst, SR. S. 173. „Sylvia’s Dreadnought articles, published at this time, were often informative, but they were not always accurate. She developed a habit in the Dreadnought, which she retained for the rest of her publishing life, of using statistics which suited her purpose, without troubling to verify their accuracy and rarely, if ever, mentioning their source.“ (Romero, E. Sylvia Pankhurst. S. 82)

240

2 Reisende Aktivistin – Sylvia Pankhursts Soviet Russia As I Saw It

gen in Großbritannien im Zuge der Bildung einer kommunistischen Partei münden.378 Mithin soll im folgenden Kapitel ein Blick auf Pankhurst als Frauenrechtlerin und Kommunistin, damit im weitesten Sinne Kämpferin für eine neue Ordnung geworfen werden. 2.5.1

Frauenrechtlerin

Die Frauenrechtlerin Pankhurst offenbart sich in erster Linie an den Themen des Reiseberichts. Die dezidierte Wiedergabe der Beschaffenheit von Mutter-Kind-Heimen und Kinderkliniken zeigt nicht nur das eigene Interesse der Autorin für die Themen, sondern auch ihr Interesse daran, anhand dieser Thematik die Fortschrittlichkeit der RSFSR einer britischen Leserschaft zu demonstrieren. Pankhurst führt nicht nur die geltenden Gesetze auf, sondern weist deren Umsetzung am eigens erlebten Beispiel nach. Da die Autorin als beste Kennerin des Metiers gelten darf, was sie im Reisetext nur subtil offenbart, gilt sie in dieser Bewertung als vertrauenswürdige Instanz. Durch ihre langjährigen Aufenthalte in den Armenvierteln Londons379 hat sie reichlich Erfahrung im Umgang mit Frauen und deren Kindern in ökonomisch misslicher Lage. So kommt es auch, dass sie an zwei Stellen nachdrücklich betont, dass im postrevolutionären Staat kein Unterschied zwischen „legitimen und illegitimen“ Kindern gemacht wird und deren Herkunft insgesamt irrelevant sei, denn allen käme die gleiche Fürsorge zugute. Eine Fürsorge durch den Staat, die sie in Großbritannien vermisst. 2.5.2

Kommunistin

Pankhurst schreibt, dass sie nach Russland gesandt wurde. Biografien geben darüber Auskunft, dass dies vermutlich im Zuge der Gründung einer britischen kommunistischen Partei und deren Anbindung an die Komintern geschah. Als Vermittlerin und Suchende mit einer eindeuti378

379

Pankhursts gesellschaftspolitisches Wirken manifestiert sich deutlich an den Namen biografischer Werke, als da wären E. Sylvia Pankhurst. Portrait of a Radical (Patricia W. Romero), Sylvia Pankhurst. From Artist to Anti-fascist (Ian Bullock, Richard Pankhurst (Hg.)), Sylvia Pankhurst. Sexual Politics and Political Activism (Barbara Winslow) und Sylvia Pankhurst. A Life in Radical Politics (Mary Davis). Vgl. Pankhurst, SR. S. 136 ff.; vgl. Romero, E. Sylvia Pankhurst . S. 70 ff.

2.5 Die Ich-Erzählerin des Reiseberichts als erlebendes Ich

241

gen Haltung überquert sie in einem nussschalengleichen Boot die See, um „weg vom Kapitalismus“380 nach Russland zu fahren. Freilich kann davon ausgegangen werden, dass diese abenteuerliche Reise nicht in der Art vorherzusehen war, jedoch war aufgrund der politischen Situation und vorangegangener Berichte über Russlandfahrten bekannt, dass es keine luxuriöse Fahrt sein würde. Pankhurst unternimmt sie trotz dieses Wissens, um mit Lenin persönlich „weiter zu debattieren“. Dass der Kapitalismus für sie keine lebenswerte Gesellschaftsform darstellte, zeigt sich an dessen explizit und implizit negativer Attribution, wie beispielsweise die explizite Nennung der „kapitalistischen Blockade“ und des „kapitalistischen Aggressors“ sowie der impliziten Ausweisung von Hunger und Elend in kapitalistischen Ländern. 381 Pankhursts Interesse gilt den Menschen und der Welt, allen voran jedoch den Kommunisten. Abermals ist es die Themenauswahl, die ihr Interesse entbirgt; zudem die Detailversessenheit innerhalb der diesbezüglichen Themenblöcke. Als Kämpferin für eine neue politische und gesellschaftliche Ordnung, die für sie der Kommunismus darstellt, führt sie deren Gegebenheiten en detail aus 382 , sei es anhand von Diskussionen (beispielsweise mit Lenin383), der Aufnahme von Resolutionen oder der Benennung kommunistischer Gesprächspartner als Kamerad384. Sie verzichtet nicht darauf, negative Seiten des neuen Systems zu erwähnen, jedoch relativiert sie diese konsequent durch das Aufzeigen der noch mangelhafteren Situation in kapitalistischen Ländern. Sie lobpreist in höchsten Tönen die Errungenschaften, was sich an positiven Attributen und der Nutzung von Hyperbeln zeigt.385 Als wahrnehmende Instanz gibt sie sich einerseits explizit durch die erste Person Singular zu erkennen, verschleiert diese jedoch an anderen Stellen, indem sie in die indirekte Rede wechselt. Solche Passagen nehmen dann berichtartigen Charakter an.386 Dass Pankhurst sich als gleichgesinnte Kommunistin verstanden wissen will, zeigt sich an ihrer Beschreibung von Lenins Reaktion auf sie: Er unterbricht eine Unterhaltung, um sie herzlich zu begrüßen. Ihre (vermeintlich) soziale Zugehörigkeit zeigt sich daran, dass sie sowohl in Pet380 381 382 383 384 385 386

Pankhurst, SR. S. 8. Vgl. ebd. S. 143, 193. Vgl. ebd. S. 50 ff. Vgl. ebd. S. 41 ff. Vgl. ebd. S. 15, 21. „great achievements“ (ebd. S. 52), „splendid for the children“ (ebd. S. 81). „as I have already pointed out“ (ebd. S. 93), „as we have seen“ (ebd. S. 113).

242

2 Reisende Aktivistin – Sylvia Pankhursts Soviet Russia As I Saw It

rograd als auch in Moskau jeweils eine explizite Einladung ins „Innere der Macht“ bekommt.387 Die Diskussionsthemen, die sie im Rahmen ihres Besuchs im Kreml erfährt, gibt sie derart detailreich wieder, dass auch daran indirekt abgelesen werden kann, wie stark sie in die kommunistische Idee und das Werden und Wachsen derer involviert wird. 388 Die Tatsache, dass die britischen Delegierten, denen sie sich in derlei Gesprächen zugehörig fühlt, im Sinne der gemeinsamen Idee der Gründung einer kommunistischen Partei, eine andere Linie als Lenin im Sinn haben, nimmt sie ebenfalls auf und berichtet darüber mit den Worten: „On the defeat oft the English amendments and the unanimous adoption of Lenin’s Thesis, with which, in the main, I am in complete agreement, the congress ended.“389 Vor dem bereits benannten Hintergrund ihrer festen Haltung zu zwei wichtigen Punkten der zukünftigen Ausgestaltung einer kommunistischen Partei Großbritanniens erscheint diese „Übereinstimmung“ haltlos. Ihre Rolle als Gast der RSFSR zeigt sich u.a. auch daran, dass gemäß ihren Aufzeichnungen ihr zu Ehren entlang des eintreffenden Zuges in Petrograd Soldaten in britischer Uniform und mit roten Flaggen stehen, die die Internationale singen.390 Weiterhin nutzt sie die der Regierung eigenen Luxuszüge für die Fahrten innerhalb Russlands391 und lebt durchweg auf Kosten der Regierung 392 . Auch von den Arbeitern wird sie als Delegierte einer bestimmten politischen Haltung wahrgenommen, da sie sie bitten, britischen Arbeitern eine Nachricht zu übermitteln.393

387

388 389 390 391 392 393

Die von Pankhurst in direkter Rede wiedergegebenen nachdrücklichen Einladungen zu Treffen mit kommunistischen Führungspersönlichkeiten lassen auf ihre Bekanntheit und verhältnismäßige Wichtigkeit als politische Akteurin in Großbritannien schließen: „Soon after my arrival at the hotel came Comrade Kingisepp of the Third International, saying: ‚Come to Smolney,‘ […]“ (ebd. S. 32); „Lenin has sent for you to come to the Kremlin“ (ebd. S. 80; vgl. auch S. 14). Vgl. ebd. S. 45 ff. Ebd. S. 53. Vgl. ebd. S. 14. Vgl. ebd. S. 21, 26. Vgl. ebd. S. 38, 187. „They urged us to tell the workers at home in Britain that the Russian workers are suffering from severe privations, but are happy because they have won their freedom. They look to British workers to follow their example.“ (Ebd. S. 183.)

2.5 Die Ich-Erzählerin des Reiseberichts als erlebendes Ich

243

Resümee Obgleich der Reisetext zuweilen tagebuchartig verfasst ist, nimmt Pankhurst Fremdwahrnehmungen zu ihrer Person nur sporadisch auf. Letztlich sind es jene Momente, die Pankhursts Nähe zur kommunistischen Führungsriege widerspiegeln und somit ihrer Person Autorität beim lesenden Publikum verleihen. Da solcherlei Sachverhalte jedoch selten vorkommen, lässt sich schlussfolgern, dass es der Autorin in diesem Text bei aller Anwesenheit der Erzählerin als erste Person Singular nicht um sich selbst ging, sondern tatsächlich um die Darstellung des postrevolutionären Landes. Betrachtet man die Analyseergebnisse der Kapitel „Vorurteile“ und „Ich-Erzähler“ zusammen, zeigt sich, dass die Stereotype, die von Pankhurst angesprochen werden, zu ihrer Rolle als Kommunistin passen. Die angewandten Verallgemeinerungen und stereotypen Merkmale eines locus amoenus gehen einher mit ihrem Wunsch nach politischer Veränderung. Die praktische Umsetzung dieses Wunsches findet sie im kommunistischen Russland. Anhand ihrer Biografie kann abgelesen werden, wie sehr in diesem Land bereits vor der Reise einen utopischen Ort394 sah und dabei gekonnt jene Strukturen ausblendete, die nicht zu ihrem Ideal passten.

394

„And in the Voice of Labour, published in Ireland, she [Pankhurst, d. Vf.] explained ‚Why I Want the Soviets‘. All of these articles were based on pure utopian fantasy.“ (Romero, E. Sylvia Pankhurst. S. 131.) „Russia, under the leadership of Lenin, was the utopia she had been seeking ever since she first developed strong anti-British government attitudes in the suffrage crusade.“ (Ebd. S. 132.)

3

Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

3.1

Die Reisende und die Reise

Clare Sheridan Am 11. September 1920 machte sich Clare Sheridan, englische Bildhauerin und Cousine des britischen Kriegsministers Winston Churchill auf den Weg nach Russland und kehrte nach gut zwei Monaten, am 18. November 1920 nach Großbritannien zurück. Im Gepäck hatte sie u.a. die selbst gefertigten Büsten von Lenin, Trockij, Zinoviev und Dzeržinskij. In den darauffolgenden Tagen stellte sie ihr in Russland geführtes Tagebuch (auszugsweise) den Lesern der britischen Tageszeitung The Times1 zur Verfügung; zudem präsentierte sie ihre Erfahrungen in Russland in öffentlichen Vorträgen2 und publizierte darüber im Jahr 1921 sowohl in England als auch den USA3 ein Buch. Vor dem Hintergrund ihres sozialen Umfeldes betrachtet, gehörte Sheridan weniger zu jenen Reisenden, für die Russland ein primäres Reiseziel darstellte. Als Tochter der amerikanischen Millionärin Clara Jerome und des englischen Gutsbesitzers Moreton Frewen, wuchs Sheri1

2

3

Unter dem Titel „Mrs. Sheridan’s Diary“ wurden vom 22. bis zum 27. November 1920 Auszüge aus Sheridans Russlandtagebuch in der Times veröffentlicht („With Lenin And Trotsky.“ In: The Times. London 22.11.1920. S. 13.; „Mrs. Sheridan’s Diary.“ In: The Times. London 23.–27.11.1920. S. 11/13. – Am 23. und 24.11.920 werden im Text zudem Fotos der Büsten abgedruckt und am 25.11.1920 findet sich ein Foto mit Sheridan und fünf dieser Büsten und der Bildunterschrift: „Mrs. Sheridan in her London studio with her busts of (from left to right) Zinoviev, Trotsky, Lenin und Dzherjinsky“. (Vgl. „The Sculptor And The Busts.“ In: The Times. London 25.11.1920. S. 14.) Vgl. Ankündigung eines Vortrages von Sheridan zu ihren Russlanderfahrungen in der Times. (Vgl. „News in Brief“ In: The Times. London 30.11.1920. S. 14.). Zudem lieferte die Times ihren Lesern nachträglich eine kurze Zusammenfassung. (Vgl. „Mrs. Sheridan On Her Visit To Russia“. The Times. London 06.12.1920. S. 7.) Als Arbeitsgrundlage der vorliegenden Arbeit soll die englische Ausgabe Russian Portraits dienen (London, Jonathan Cape, 1921), die in der vorliegenden Ausgabe 202 Seiten umfasst. Zudem gibt es eine amerikanische Ausgabe: Mayfair to Moscow (New York 1921), die im selben Jahr veröffentlicht wurde. (Vgl. „Multiple Display Advertisements.“ The Times. London 18.03.1921.)

3.1 Die Reisende und die Reise

245

dan in einem wohlsituierten Umfeld auf. 4 Obgleich Sheridans Familie aufgrund Frewens erfolgloser Spekulationsgeschäfte5 dem verarmenden Adel zuzählte, war sie von Hause aus ein luxuriöses Leben gewöhnt6. Ihre sozialen Kontakte und der gesellschaftliche Umgang umfasste eine große Anzahl von Menschen des öffentlichen Lebens, aus Politik7 und Kultur8. Auch die politische Stellung ihres Cousins Churchill zeichnete hierfür Verantwortung. Sheridans Biografin Anita Leslie schreibt dazu: „All through her youth Clare had met and listened to the statesmen of England – because if you were a young lady in Society those were the gentlemen you met at dinner parties you were expected to listen and to amuse.“9 Der Erste Weltkrieg zeigte sich als persönliche Zäsur in Sheridans Leben. Nicht nur, dass 1915 ihr Ehemann fiel, auch die Gesellschaftsschicht, der sie entstammte, schien einen grundlegenden Wandel durch die internationalen kriegerischen Auseinandersetzungen zu erfahren. 10 Der Wunsch nach ökonomischer Unabhängigkeit führte dazu, dass Sheridan sich die Bildhauerei größtenteils im Selbststudium aneignete, um damit Geld zu verdienen. 11 Das Atelier wurde zu ihrem Lebensmittelpunkt; es diente sowohl als temporärer Wohnort als auch als sozialer Treffpunkt. Neben einer Witwenrente vom britischen Kriegsministerium in Höhe von 250 Pfund12 im Jahr verdiente Sheridan ihr Geld fortan mit 4 5 6

7

8

9 10

11 12

Leslie, Cousin Clare. S. 7 Siehe hierzu David Cannadine, Aspects of Aristocracy: Grandeur and Decline in Modern Britain. New Haven [u.a.] 1994. S. 140. „Oswald’s diary reveals the extraordinary situation in which the Frewens lived. They always stayed at Claridges or the Ritz because the Jerome women had been taught that hotels were a method of economizing.“ (Leslie, Cousin Clare. S. 51.) So war Sheridan bspw. gut bekannt mit Herbert H. Asquith (Politiker und britischer Premierminister von 1908 bis 1916) (vgl. ebd. 46, 95), Kronanwalt F. E. Smith (später Lord Birkenhead) (vgl. Sheridan, RP. S. 23, Schmid, Churchills privater Krieg. S. 29) sowie den Königlichen Familien Englands und Schwedens (vgl. Leslie, Cousin Clare. Bspw. S. 39, 41, 45). So zählten bspw. Schriftsteller wie H. G. Wells (vgl. ebd. S. 95), Rudyard Kippling (vgl. ebd. S. 102) und Henry James (vgl. ebd. S. 44) zu ihrem Freundes- und Bekanntenkreis. Ebd. S. 76. „[Sheridan’s, d. Vf.] entire background had crumbled. The patterns of ordinary behaviour in which she had been brought up and secretly resented, had, after a twelvemonth blood bath, ceased to exist.“ (Ebd.) Ebd. S. 64.; vgl. ebd. S. 76, 83 f. Ebd. S. 79.

246

3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

dem Verkauf getöpferter Inneneinrichtungsgegenstände.13 Obgleich dies nicht ihrer eigentlichen Vorstellung vom unabhängigen Dasein als Künstlerin entsprach, nahm sie die Situation an und versuchte sich in Bezug auf das Bildhauern in jeder möglichen Form weiterzubilden: Sie nahm Unterricht bei dem Bildhauer John Tweed 14 und ließ sich selbst von Jacob Epstein15 modellieren, um seine Technik „passiv“ kennenzulernen16. Eine erste Ausstellung unter Federführung der National Portrait Society in London brachte ihr gesellschaftliche Aufmerksamkeit17, was u.a. dafür sorgte, dass sich ihr Kundenkreis erweiterte und ihr schon bald Persönlichkeiten wie H. G. Wells, Arnold Bennett und Herbert Asquith Modell saßen. 18 Hinzu kamen Büsten von Winston Churchill und ihm bekannter Männer von gesellschaftlichem und politischem Rang.19 Eine zweite große Ausstellung, ebenfalls verantwortet durch die National Portrait Society, sollte im Herbst 1920 in der Londoner Bond-Street stattfinden20, doch konnte die Künstlerin dieser nicht mehr beiwohnen, da sie sich bereits auf dem Weg nach Moskau befand. Politische Ambitionen lassen sich aus Sheridans Biografie bis 1920 sehr selten herauslesen. Eindeutig wird nur ihre Haltung zum Krieg: Hier erweist sie sich als klare Kriegsgegnerin – und das, obwohl sie einer gesellschaftlichen Klasse angehörte, deren patriotische Einstellung selbst die schwersten familiären Verluste mit der Begründung hinnahm, dass „englische Söhne für ihr Land sterben“ müssten.21 Ihre Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen Oberschicht sorgte dafür, dass sie sich meistenteils in einem politisierten Milieu aufhielt. Das Reisemotiv wird bei Sheridan im ersten Tagebucheintrag klar benannt: Sie möchte künstlerisch tätig sein.22 Bereits der erste Kontakt mit den Bolschewiki (in Form eines Zeitungsartikels mit Fotos der ersten sow13 14 15

16 17 18 19 20 21 22

Ebd. S. 88 f. Ebd. S. 89. Sir Jacob Epstein (1880–1959) war ein britischer Bildhauer polnisch-russischer Herkunft, der dem Vortizismus nahe stand und u.a. Porträtbüsten von Albert Einstein, George B. Shaw und Winston Churchill anfertigte. („Epstein“. In: Brockhaus Enzyklopädie. 30 Bd. Bd. 8. Leipzig [u.a.] 2006. S. 214.) Leslie, Cousin Clare. S. 95. Leslie, „Sheridan, Clare Consuelo“. S. 293. Leslie, Cousin Clare. S. 95. Ebd. S. 98 f. – Vgl. auch Leslie, „Sheridan, Clare Consuelo“. S. 293. Vgl. Leslie, Cousin Clare. S. 103. „English sons must die for their country.“ (Ebd. S. 76.) Vgl. Sheridan, RP. S. 32.

3.1 Die Reisende und die Reise

247

jetischen Handelsdelegation)23 verrät ihre Aufregung über die ihr in diesem Zusammenhang erschienene Idee: „What fun to add a Bolshevik to my Agnew exhibition!“24 Zudem schützt sie sich mit der Aussage, dass das Führen eines Tagebuchs für sie nichts Außergewöhnliches, sondern vielmehr ein Teil ihres Lebens sei25, vor dem Vorwurf, ihr Reisetext sei einzig zur Vermittlung eines bestimmten Russlandbildes veröffentlicht worden. Sie fügt hinzu, dass sie weder Schriftstellerin noch Politikerin sei26 und unterstreicht damit den unpolitischen Geist, mit dem sie nach Russland fuhr. Die Reise

Ihre Reise, die durch Zeit- und Ortsangaben innerhalb der Tagebucheinträge sehr gut nachvollzogen werden kann, führte Sheridan von London über Newcastle, Bergen (Norwegen), Kristiania (i.e. Oslo, Norwegen), Stockholm (Schweden), Hango (i.e. Hanko, Finnland), Reval (i.e. Tallinn, Estland) nach Russland. In der Nacht vom 18. zum 19. September überquerte sie in einem „Sonderzug“ (special train) die Grenze nach Russland und wartete „an einem kleineren Bahnhof“ auf den Zug nach Petrograd.27 Es wird nicht ersichtlich, ob sie hier umstieg oder direkt nach Moskau weiterfuhr28, ihr Tagebuch gibt keinerlei Auskunft über einen längeren Aufenthalt in Petrograd. Die nächsten und verbleibenden Wochen verbrachte sie in Mos23

24

25 26 27 28

Leslie, Cousin Clare. S. 103. – Da Litvinov aufgrund eines in 1918 vorgenommenen Gefangenenaustauschs nicht nach Großbritannien einreisen durfte, bestand zwischen den Abgeordneten eine telegrafische Verbindung; Litvinov weilte unterdessen in Kopenhagen. (Vgl. Ullman, Anglo-Soviet Relations. S. 41 ff.). Am 31. Mai sowie am 7. und 29. Juni 1920 fanden Treffen Krasins mit Premierminister Lloyd George statt. Diese Treffen erfuhren ob ihrer Besonderheit – es handelt sich um den ersten partnerschaftlichen Kontakt zwischen den beiden Ländern nach Beendigung der alliierten Intervention – viel mediales Interesse. Auch Interviews des Premierministers mit den Delegierten wurden von der Times begleitet. (Vgl. ebd. S. 96.) Am 07. Juli fuhr Krasin nach Moskau (vgl. ebd. S. 116), um vier Wochen später, abermals auf Einladung des britischen Premierministers, nach Großbritannien zurückzukehren. (Vgl. ebd. S. 130.) Kamenev reiste im August 1920 im Rahmen einer „besonderen Friedensdelegation“ (special peace delegation) nach Großbritannien. (Vgl. ebd. S. 193.) Leslie, Cousin Clare. S. 103. – Bei der besagten Ausstellung („Agnew exhibition“) handelt es sich um jene Ausstellung im Herbst 1920, der Sheridan aufgrund ihres spontanen Aufbruchs nach Russland nicht mehr beiwohnen konnte. „I have always kept a diary, in monotonous as in eventful days.“ (Sheridan, RP. S. 7.) Vgl. ebd. S. 5. Ebd. S. 61. Vgl. ebd. S. 62 f.

248

3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

kau.29 Am 6. November verließ Sheridan Moskau in einem „Sonderzug“30 und kehrte über Reval (12. November), Stockholm (16. November) und Newcastle (19. November)31 am 23. November 1920 nach London zurück.32 Während der Hinreise übernachtete Sheridan sowohl in Hotels (Grand Hotel in Kristiania, Grand Hotel Stockholm)33, in Schiffskabinen (S.S. Jupiter)34 als auch in Zügen (Schlafwagen im Zug von Kristiania nach Stockholm) 35 . In Moskau zog sie, nach anfänglicher Unterbringung in einem Zimmer im Kreml (Privaträume der Familie Lev Kamenevs, 20.– 22. September)36, auf eigenen Wunsch in ein Gästehaus für „ausländische Beamte“ (Foreign Officials) um37, wo sie für ihren gesamten Aufenthalt wohnen blieb. Hier standen ihr neben einem eigenen Zimmer auch gemeinschaftlich genutzte Aufenthaltsräume zur Verfügung. Um ihrer künstlerischen Tätigkeit nachzugehen, machte sie sich bereits am ersten Tag in Moskau auf die Suche nach einem Atelier, das sie mit Hilfe Kamenevs schon kurz darauf beziehen konnte. Es befand sich im Kreml.38 Dort modellierte sie Zinoviev39 und Dzeržinskij40. Lenins Büste entstand in dessen Büro im Kreml41 und Trockij suchte sie im Kriegsministerium auf42. 29

30

31 32 33 34 35 36 37

38 39 40 41

Die Times schreibt hierzu: „She had been two months in Moscow, and never went outside the city. She went in a special train and left in a special train which did not even stop at Petrograd.“ („Mrs. Sheridan On Her Visit To Russia.“ The Times. London 06.12.1920. S. 7.) Vgl. Sheridan, RP. S. 180. – Sheridan fährt mit einem Sonderzug nach Großbritannien zurück und schreibt, dass dieser Gold transportiert. (Vgl. ebd. S. 190). Mehr zum Goldhandel zwischen Sowjetrussland und Westeuropa siehe Christine H. White, „‚Riches Have Wings‘. The Use of Russian Gold in Soviet Foreign Trade. 1918–1922“. In: Contact or Isolation? Soviet Western Relations in the Interwar Period. John Hiden, Aleksander Loit (Hg.). Stockholm 1991. S. 117–136. Leslie, Cousin Clare. S. 128. Vgl. Sheridan, RP. S. 199. Vgl. ebd. S. 43, 48. Vgl. ebd. S. 40, 52. Vgl. ebd. S. 46 f., 60–63. Vgl. ebd. S. 65. Vgl. ebd. S. 70. – Das „Gästehaus“ befand sich in der Sofijskaja Naberežnaja 14 (vgl. ebd. S. 187 f.), der zukünftigen britischen Botschaft in der UdSSR. Üblicherweise wurden Gäste der Regierung entweder in Hotels oder sogenannten Sowjethäusern untergebracht (vgl. Heeke, Reisen zu den Sowjets. S. 369). Dass Sheridan im Haus ausländischer Beamter untergebracht wird, kann mehrfach gedeutet werden, u.a. war damit die Möglichkeit der permanenten Beobachtung gegeben. Vgl. Sheridan, RP. S. 77. Vgl. ebd. S. 83. Vgl. ebd. S. 85. Vgl. ebd. S. 105 f.

3.2 Russische Welt

3.2

249

Russische Welt

3.2.1

Russland allgemein

Moskau

Bereits im ersten „Moskauer“ Eintrag hält Sheridan fest, dass es sich bei Moskau um eine unsaubere Stadt handelt43. Geschickt gibt sie diese Aussage in direkter Rede eines anderen wieder und fügt in ironischer Weise ihren eigenen Eindruck nach. Sie stellt Moskau als eine Stadt voller Kuppeln dar44 und erwähnt, dass es früher eine der reichsten Städte der Welt war45, die sie als unerwartet groß wahrnimmt46. 3.2.2

Nahrungsmittelversorgung

Die allgemeine Nahrungsmittelversorgung der russischen Bevölkerung wird von der Autorin nur marginal beleuchtet, vielmehr lassen sich Anhaltspunkte für die persönliche Ernährung der Autorin analysieren. Die Verpflegung auf der Hinreise zwischen Estland und Russland besteht aus Räucherlachs47, an anderer Stelle benennt Sheridan Kaviar, Käse, Äpfel und Schinken48. Dass dies nicht die gängige Ernährungsweise in Moskau ist, erfährt der Leser durch Wiedergabe der direkten Rede einer Moskauerin, die sich zu den Resten der Reiseverpflegung äußert: „‚We don’t live chic like that in Moscow.‘“49 Untermauert wird diese Aussage damit, dass Sheridan von nun an von Schwarzbrot, Butter, manchmal Käse, auch Kohlsuppe und lauwarmem Reis lebt.50 Ein für englische Verhältnisse vermutlich schnöder Apfelkuchen wird zum corpus delicti in der Frage nach der Verköstigung von Gästen51. Anlässlich eines Banketts gerät sie fast in Eu42 43 44 45 46 47 48 49 50 51

Vgl. ebd. S. 126 f. Vgl. ebd. S. 64. Vgl. ebd. S. 65, 66. Vgl. ebd. S. 155. Vgl. ebd. S. 156. Vgl. ebd. S. 56. Vgl. ebd. S. 62. Vgl. ebd. S. 64. Vgl. ebd. S. 103. Im Zuge des Besuchs von H. G. Wells kommt es zum Streit um einen „wunderschönen Apfelkuchen“. (Vgl. ebd. S. 101.)

250

3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

phorie über die reich gedeckte Tafel, an der sie partizipieren kann und legt dar, dass ihr diese als „traumhaft“ erscheint (like things we have seen in dreams).52 Die Begeisterung, die hieraus spricht, impliziert die Abstinenz vielfältiger Mahlzeiten im Alltag. Auch mit ihren Augen saugt sie das frische und besondere Essen förmlich auf. 53 Aus ihren leidenschaftlichen Niederschriften über die benannten kulinarischen Höhepunkte in Russland, die objektiv betrachtet als solche nicht erscheinen wollen, und vor dem Hintergrund einer Besserstellung ihrer Person als westlicher Gast in Bezug auf die Verköstigung, lässt sich schließen, dass eine Grundversorgung mit Lebensmitteln zwar gegeben ist, diese jedoch jedwede Vielfalt ausschließt. Aussagen zum Thema Lebensmittelversorgung der Normalbevölkerung findet man im Tagebuch an zwei Stellen. Einerseits erfährt Sheridan, dass jene, die dem Regime wohlwollend gegenüberstehen, reichlich zu essen bekämen, ansonsten jedoch Nahrungsmangel herrsche.54 An anderer Stelle erfährt Sheridan, dass in Russland durchaus Essen zu haben wäre, das Beste davon jedoch an Krankenhäuser und Kinder ginge.55 Genussmittel finden sich in Sheridans Aufzeichnungen nur in Form von Zigaretten, die als kostbar dargestellt werden 56 . Der für Russland so typische Wodka beziehungsweise andere Arten von Alkohol finden keine Erwähnung. Kaffeegenuss notiert sie nur ein einziges Mal, als Frühstück (neben trockenem lauwarmem Reis), ansonsten erwähnt sie Tee als Getränk57. Schlussfolgernd stellt Sheridan fest, „dass es [in Russland] vielleicht keine Nahrung für den Körper gäbe, dafür jedoch Unmengen an Nahrung für den Geist“58. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass Sheridan sowohl die persönliche als auch die gesamte Ernährungssituation als einseitig empfindet. Der Ernährung schreibt sie jedoch im Vergleich zu anderen Kategorien individuellen Daseins in dieser Gesellschaft eine geringere Wichtigkeit zu.59 Dies erscheint umso plausibler, als dass ihr Tagebuch selbst Auskunft über ihre üblichen Essgewohnheiten in Großbritannien 52 53 54 55 56 57 58 59

Vgl. ebd. S. 167. Vgl. ebd. S. 168. Vgl. ebd. S. 76. Vgl. ebd. S. 169. Vgl. ebd. S. 115, 173, 200. Vgl. ebd. S. 44, 56, 109, 130 f., 140, 146, 161. Vgl. ebd. S. 175. „Of course one dislikes cold baths in cold weather, and bad food, and all the discomforts to which a pampered life has made one unaccustomed, but these need not blight one’s outlook. They are not necessarily indicative of a disruption.“ (Vgl. ebd. S. 103.) – Vgl. ebd. S. 121.

3.2 Russische Welt

251

und die dazugehörigen Treffpunkte gibt, bei denen es sich um renommierte Hotels und Restaurants handelt.60 Die letzte Aussage, die Sheridan über Verpflegung tätigt, findet sich in ihrem Eintrag der Rückreise, womit sie anzeigt, dass sie selbst Essen, dass ihr als „schlechtes Essen“ prophezeit wurde, als „hervorragend“ deklariert.61 3.2.3

Kleidung

Aufgrund der Witterungsverhältnisse, die im Jahr 1920 einen frühen Winter bedeuteten62, thematisiert Sheridan im Tagebuch auch, dass sie nur ungenügend mit Kleidung ausgestattet ist. Ihre eigene Ausstattung kontrastiert sie mit der Bekleidung einheimischer Bauern, die ihrer Meinung nach mit ihren „Schafwollmänteln“ (sheepskin coats) weitaus besser angepasst wären als sie selbst in ihren dünnen Sachen.63 Dies nimmt sie zum Anlass, einen dickeren Mantel zu erbitten64. Daraus ergibt sich der Besuch eines vormals privaten, nun verstaatlichten Pelzdepots.65 Ein gemischtes Bild über den Zustand der Kleidung Einheimischer entsteht durch die Anmerkung Sheridans, dass die meisten Menschen in Russland seit zwei Jahren nur die Kleidung besäßen, die sie auf dem Leib tragen.66 An anderer Stelle notiert sie jedoch, dass alle in Moskau Astrachan-Pelz67 trügen68 und ihr auf der Straße bürgerliche Frauen begegneten, die Kleidung trügen, nach der man sich sogar in der „Bond Street“, i.e. eine der teuersten Einkaufsstraßen Londons, umdrehen würde 69 – Moskau wird hier kontrastiv als Pflaster für arm und reich gezeigt. Letztlich zeigt sich jedoch an Sheridans eigener Pelzwahl, dass sie der Stadt in Bezug auf die aktuelle Mode nicht den höchsten Rang einräumt: In dieser Frage ist Moskau ihrer Meinung nach rückständig.70 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70

Beispielsweise vermerkt sie Besuche in den Luxushotels Café Royal und Claridge’s. (Vgl. ebd. S. 18, 24.) Vgl. ebd. S. 196. Vgl. ebd. S. 132. Vgl. ebd. S. 117 f. Vgl. ebd. S. 116. Vgl. ebd. S. 136. Vgl. ebd. S. 74. Es handelt sich hier um eine sehr hochwertige Pelzart. Vgl. ebd. S. 137. Vgl. ebd. S. 118. „The coats dated back three years, and some were even too old-fashioned for Moscow.“ (Ebd. S. 137.)

252 3.2.4

3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

Medizinische, hygienische und sanitäre Gegebenheiten

Die Lage des Gesundheitssystems wird an zwei Stellen marginal von Sheridan thematisiert: Zum einen anlässlich des Todes von John Reed71, der während ihres Aufenthalts an Typhus stirbt, aber ihrer Meinung nach nicht hätte sterben müssen: „Es wurde alles Mögliche für ihn getan, aber es gibt hier natürlich keine Medikamente: Den Krankenhäusern mangelt es grauenhaft an Notwendigem.“72 Zum anderen erwähnt sie mit Hinweis auf das desolate Abwassersystem in Moskau eine im Vorjahr herrschende Typhusepidemie73. Generell scheint das Abwassersystem in Moskau weniger gut ausgebaut zu sein, so dass selbst Sheridan diese Information weit in ihrem Tagebuch ausführt. Unter Anwendung von drei Hyperbeln74 versucht sie, diesen Missstand deutlich hervorzuheben und räumt ihm damit einen großen Stellenwert ein.75 Die konkrete sanitäre Ausstattung erscheint in ihren Aufzeichnungen im Zusammenhang mit täglichen Hygieneeinrichtungen. Warmes Wasser ist auch für sie als westlicher Gast eine nicht täglich verfügbare Einrichtung. Deutlich wird dies an der dargestellten Freude über ein überraschend zur Verfügung stehendes heißes Bad.76 Der hygienische Zustand ihrer Mitmenschen zeigt sich an Sheridans Äußerung über russische Theaterbesucher, die sie als „die außerordentlich Ungewaschenen“ (the great unwashed) deklariert, wobei sie jedoch den beißenden Geruch (concentrated aroma) verständnisvoll auf die fehlende Versorgung der Bevölkerung mit Seife und Kleidung zurückführt.77

71

72 73 74 75 76 77

John Reed (1887–1920) war ein amerikanischer Journalist, der im Rahmen seiner journalistischen Arbeit über die Russische Revolution 1917 Anhänger der kommunistischen Idee wurde und 1919 maßgeblich an der Gründung der Amerikanischen Kommunistischen Arbeiterpartei (anfänglich: Labor Party of America) beteiligt war. Als Autor des Augenzeugenberichts über die Russische Revolution Ten Days that Shook the World (1919) erlangte er Weltberühmtheit. Er starb 1920 an einer Typhuserkrankung und wurde als einer von wenigen US-Amerikanern an der Kremlmauer beerdigt. Siehe auch Eric Homberger, John Reed. Manchester 1990. „Everything possible was done for him, but of course there are no medicaments here: the hospitals are cruelly short of necessities.“ (Sheridan, RP. S. 151.) Vgl. ebd. S. 155. „drain-smells are such that one climbs the stairs two at a time“, „that are enough to kill the healthiest person“, „that people do not die like flies“ (Ebd. S. 155.) Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 89. Ebd. S. 74.

3.2 Russische Welt

3.2.5

253

Politische Ordnung

In Sheridans Aufzeichnungen finden sich nur wenige Fakten über Struktur und Organisation des politischen Lebens. Der russisch-polnische Krieg wird am Rande erwähnt.78 Jedoch wird die diesbezügliche Front von Sheridan zweimalig als Arbeitskulisse in Erwägung gezogen79. Relativ zu Beginn ihres Aufenthaltes besucht Sheridan auf eigene Faust eine Militärparade auf dem Roten Platz, doch geschieht dies nicht um des Aufmarsches Willen, sondern weil Sheridan Trockij, der zu dieser Gelegenheit öffentlich auftritt, erleben möchte.80 Der Leser erfährt, dass nur Bolschewiki sich frei auf dem Gelände des Kremls bewegen dürfen, andere eine eigene Erlaubnis des Kommandanten benötigten.81 Obgleich Sheridan sowohl einer politischen Versammlung als auch einem diplomatischen Bankett beiwohnt 82 , sie sich insgesamt in einer politisierten Umgebung aufhält, unterlässt sie jedwede detaillierte Erörterung politischer Zusammenhänge. Sowohl Kamenev als auch Trockij berichten ihr von den historischen Hintergründen der Revolution und ihren eigenen damaligen Aktivitäten, was als Tatsache mit bruchstückhaften Fakten Einzug in Sheridans Tagebuch findet.83 Auf eine nähere Erläuterung zu der von ihr erwähnten III. Komintern und den Sowjets verzichtet sie. 84 Damit untermauert Sheridan ihre dem eigentlichen Tagebuch vorangestellte und hierin mehrfach erwähnte „unpolitische“ Art. 3.2.6

Religion

Als religiös sozialisierte Person ist Sheridan zutiefst betroffen, eine Beerdigung mitzuerleben, die nach rein kommunistischen Vorgaben ausgerichtet wird.85 Die Beschreibung dieser Beerdigung nebst der Angabe des 78

79 80 81 82 83 84 85

Vgl. ebd. S. 22, 52, 107, 129. – Auffällig erscheint die Aussage Sheridans „There may be a ‚State of War‘ in a few days, and as things now stand, they all depart on Friday.“ (Ebd. S. 22.) Möglicherweise bezieht sich diese Aussage auf das von Lloyd George an Sowjetrussland gestellte Ultimatum zur Beendigung des Kriegs mit Polen. Vgl. ebd. S. 129 f. Vgl. ebd. S. 95. Vgl. ebd. S. 162. Vgl. ebd. S. 79, 167. Vgl. ebd. S. 26 ff., 130 f. Vgl. ebd. S. 63. Vgl. ebd. S. 151.

254

3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

Ortes scheint ihr wichtig zu sein, denn Sheridan zeichnet sie detailliert nach und zeigt damit die praktizierte Alternative zur religiösen Beerdigungszeremonie. 86 Angesichts einer vermeintlichen Krankheit thematisiert die Autorin ihren christlichen Glauben, was bei ihren (russischen) Freunden auf Irritation stößt.87 Diese kritische Haltung zur Religion stellt Sheridan als weitverbreitete Attitüde in Russland dar, da sie diese scheinbar bereits mehrfach erlebte.88 Ihrer Beobachtung nach werden Kirchen jedoch noch immer als Orte religiöser Praxis genutzt. 89 Laut Litvinov verhalte sich die Regierung tolerant gegenüber Religionen, was sich darin zeige, dass Kirchen für jedermann frei zugänglich seien. Sheridan hingegen hebt das frisch vor einer Kirche am Roten Platz angebrachte Schild hervor, das „Religion als Opium für das Volk“ (Religion is the opiate of the people.) deklariert und betont, dass es ihr bei nahezu jedem Besuch mit besonderem Stolz gezeigt würde.90 3.2.7

Kunst und Kultur

Gleich zu Beginn der Bekanntschaft Sheridans mit Kamenev in London gibt er ihr zu verstehen, dass Künstler die „privilegierteste Klasse“ Russlands seien.91 Da Sheridan nicht nur Kunstproduzentin, sondern auch Kunstkonsumentin ist, partizipiert sie am kulturellen Leben Moskaus. So besucht sie des Öfteren, zumeist organisiert und in Begleitung, Theater92, Opern93, Galerien94 und Museen95. Durch diese eigene aktive Teilnahme am Kunstbetrieb und nicht minder durch Informationen Nikolaj Andreevs96 über die 86 87 88

89 90 91 92 93 94 95 96

Vgl. ebd. S. 151 ff. Vgl. ebd. S. 170. Vgl. ebd. S. 171. – Noch in Großbritannien berichtet Kamenev über die Verdopplung der Eheschließungen in Russland nach der Revolution. Sheridan gibt diese Information in indirekter Rede wieder und fügt in Klammern hinzu, dass es sich hier „natürlich um standesamtliche“ (civil of course) Eheschließungen handele. (Vgl. ebd. S. 14.) Vgl. ebd. S. 83, 171. Ebd. S. 171. Vgl. Ebd. S. 12. Vgl. ebd. S. 70, 155 f. Vgl. ebd. S. 73, 91. Vgl. ebd. S. 83, 91. Vgl. ebd. S. 68. Es handelt sich hier um den russischen, später sowjetischen Bildhauer Nikolaj A. Andreev (1873–1932), der der Schöpfer jener Gogol’-Bronzestatue (1909) war, die heute auf dem Gogol’-Boulevard in Moskau zu sehen ist. Er fertigte zwischen 1920

3.2 Russische Welt

255

Bildhauerei in Russland, kann sie sich ein konkretes Bild der Gegebenheiten in diesem Bereich machen. Aus eigener Erfahrung berichtet sie darüber, dass Theater und Oper in Angebot und Ausstattung sehr gut seien97 und jenen in England in nichts nachstünden.98 Zudem notiert sie, dass zu den Theaterbesuchern Arbeiter und Bauern zählten, da Kultureinrichtungen für alle Bürger generell ohne Eintritt wären.99 Mit gespannter Aufmerksamkeit, die reges Interesse offenbart, verfolge das hiesige, bäuerlich-proletarische Publikum die Vorstellung „klassischer Opern“ in teilweise „überfüllten Häusern“.100 Dies stellt Sheridan in Kontrast zu englischen Gegebenheiten, in denen die gebildete Klasse „beschämend mittelmäßigen“ (of humiliating mediocrity)101 Dramen applaudiere.102 Vor dem Hintergrund der mangelhaften Bekleidungsausstattung erachtet es Sheridan als bemerkenswert, dass die Besucher zu kulturellen Anlässen trotzdem in feiner Kleidung erschienen.103 Diese Aussage steht im Kontrast zur Äußerung Sheridans, dass ihr Kunstgenuss an einem Abend durch den starken Geruch der „außerordentlich Ungewaschenen“ 104 eingeschränkt worden sei. Auch Galerien und Museen würden von Arbeitern besucht, während im Gegensatz Londoner Galerien leer seien und man im Britischen Museum lediglich sporadisch einen deutschen Studenten treffe. 105 Das Moskauer Museum Alexanders III. 106 ge-

97 98

99 100

101 102

103 104 105

und 1932 hunderte grafische und bildhauerische Darstellungen von Lenin an. (Siehe hierzu auch Larisa P. Trifonova, Skul’ptor Andreev i ego ‚Leniniana‘. Moskau 1969.) Vgl. Sheridan, RP. S. 70, 73. In einer Randbemerkung erwähnt Sheridan, dass nicht mehr alle Autoren öffentlich aufgeführt würden, da beispielsweise Čechov für eine Klasse schrieb, die „zeitweise“ ausgestorben sei. (Vgl. ebd. S. 156.) Vgl. ebd. S. 177. – „The audience consisted of working people, who had admission free through the distribution of tickets to certain unions.“ (Ebd. S. 73.) „It was intensely moving to see the absorbed attention of the audience. [...] There was not a cough nor a whisper.“ (Vgl. ebd. S. 73.) – „Here the houses are overcrowded with workers and peasants who listen to the most classical operas.“ (Ebd. S. 178.) Ebd. S. 177. „The galleries of London are empty. In the British Museum one meets an occasional German student. Here the galleries and museums are full of working people. London provides revues and plays of humiliating mediocrity, which the educated classes enjoy and applaud. Here the masses crowd to see Shakespeare. At Covent Garden it is the gallery that cares for music, and the boxes are full of weary fashion, which arrives late and talks all the time. Here the houses are overcrowded with workers and peasants who listen to the most classical operas.“ (Ebd. S. 177 f.) Vgl. ebd. S. 73. Ebd. S. 74. Vgl. ebd. S. 177.

256

3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

fällt ihr mit seiner Ausstattung und Einrichtung derart, dass sie es mehr schätzt als die Originale, die im Britischen Museum hängen.107 Auch die Büsten des Bildhauers Konenkov108 beeindrucken sie in ihrer Qualität109. Die Architektur Moskaus findet vom ersten Tag an ihre Bewunderung und so schlagen Informationen darüber von ihrer Ankunft bis zur Abfahrt einen Bogen.110 Die von Sheridan eingangs notierte Bemerkung Kamenevs, Künstler gehörten der privilegiertesten Klasse des neuen Staates an, wird kontrastiert durch die von ihr dargestellten Arbeitsverhältnisse dieses Berufsstandes.111 Den besten der Arbeitsräume, die sie vom bedeutenden Bildhauer Konenkov angeboten bekommt, vergleicht sie mit einer „leeren Küche“, die den Blick auf einen „trostlosen Hinterhof“ (empty kitchen looking into a bleak courtyard) freigibt.112 Mitnichten hervorra106

107 108

109 110

111

112

Es handelt sich hier um das Puschkin-Museum (Gosudarstvennyj musej isobrazitel’nych iskusstv imeni A. S. Puškina), das am 13.06.1912 als Kaiser-Alexander-IIIMuseum der schönen Künste (Musej izjaščnych imeni imperatora Aleksandra III, ab 1937 Puschkin-Museum) seine Pforten für die Öffentlichkeit auftat (siehe Historie des Puschkin-Museums, online verfügbar unter http://www.arts-museum.ru/museum/ history/index.php). Vgl. Sheridan, RP. S. 68. An zwei Stellen ihres Tagebuchs (S. 76, 83) verweist Sheridan auf die Begegnung mit dem Bildhauer Sergej T. Konënkov (1874–1971), der als einer der angesehensten russischen, späterhin sowjetischen Bildhauer galt. Als „russischer Rodin“ ging er in die Geschichte ein. Er stellte im Kreis der „Welt der Kunst“ aus und schuf u.a. Skulpturen von Gorkij, Dostoevskij und Mussorgskij. (Vgl. „Konënkov“. In: Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija. A. M. Prochorov (Hg.). 31 Bde. Bd. 13 (1973). Moskau 1970–1981. S. 22.; siehe hierzu auch Marie Turbow Lampard, John E. Bowlt, Wendy R. Salmond (Hg.), The Uncommon Vision of Sergei Konenkov, 1874–1971. A Russian Sculptor and His Times. New Brunswick 2001.) Vgl. Sheridan, RP. S. 83. „The sun was shining when we arrived and all the gold domes were glittering in the light. Everywhere one looked there were domes and towers.“ (Ebd. S. 65.) – „I looked round at the beloved Kremlin, to which I had already said good-bye not expecting to see it again. It seemed more beautiful than ever, more still, more dignified, more impassive.“ (Ebd. S. 189.) Die Stroganov-Kunsthochschule, die Sheridan besucht, war zu der Zeit von Sheridans Reise eine der verstaatlichten freien sogenannten höheren künstlerisch-technischen Werkstätten, die ab November 1920 unter dem allgemeinen Namen VchuTeMas (Vysšije chudožestvenno-techničeskie masterski) firmierten. Hiermit wollten die Bolschewiki gewährleisten, dass sich auch jeder Arbeiter künstlerisch bilden und betätigen konnte. Siehe auch: Moskovskaja Gosudarstvennaja chudožestvennojpromyšlennaja akademija imeni S. G. Stroganova. Online verfügbar unter https://mghpu.ru/history. Vgl. Sheridan, RP. S. 76.

3.2 Russische Welt

257

gend scheint auch die wirtschaftliche Lage der Kunststudenten zu sein.113 Die einzige Aussage, die die benannte Tatsache Kamenevs weitestgehend unterstützt – abgesehen von einer sehr hochwertigen Kunstproduktion –, ist der Fakt, dass die Theater montags geschlossen hätten, da die Künstler frei hätten.114 Ausstattung mit Arbeitsmaterialien

Nach einer erfolglosen anfänglich selbstständigen Suche nach einem Atelier115 ist es Kamenev, der Sheridan einen Arbeitsraum im Kreml organisiert116 und die erforderliche Zugangsmöglichkeit für den Kreml, in Form eines Passes, besorgt 117 . Laut dem Historiker Heeke wurde der Kreml 1918 mit Übernahme der Funktion als Regierungssitz für den Publikumsverkehr geschlossen. Damit bestand die Möglichkeit einer Besichtigung der ehemaligen Zarenresidenz nur noch auf Anfrage, allerdings erfolgte eine strenge Eingangskontrolle und nur eine begrenzte Auswahl der Räume und Exponate war wirklich zugänglich.118 Umso bemerkenswerter ist die Tatsache, dass man Sheridan ein eigenes Atelier innerhalb der Kremlmauern zur Verfügung stellte und sie das Gelände, als Inhaberin eines Ausweises, jederzeit frei betreten konnte. Zudem bekommt sie Ton als Werkstoff, das notwendige Werkzeug und zudem auch einen Gehilfen zur Seite gestellt.119 Woran es Sheridan zu Zeiten mangelt, sind die Termine mit ihren Modellen. 3.2.8

Bildung und Kinderbetreuung

Verhältnismäßig wenig erfährt man aus Sheridans Tagebuch über die Betreuungssituation von Kindern und den allgemeinen Zustand des Bildungssystems für Kinder beziehungsweise Erwachsene. An einer Stelle begegnen ihr Kinder in einem Museum und sie beschreibt sie als „extrem gut genährt und gut gekleidet“ (extremely well fed and well dressed)120. 113 114 115 116 117 118 119 120

Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 86. Vgl. ebd. S. 75 f. Vgl. ebd. S. 77, 78. Vgl. ebd. S. 81. Vgl. Heeke, Reisen zu den Sowjets. S. 169. Vgl. Sheridan, RP. S. 81, 88. Vgl. ebd. S. 68.

258

3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

Zudem erfährt man, dass auch Kinder kulturelle Einrichtungen besuchen, denn an einer Stelle hört sie „die herrlich leisen Wellen kontrollierten Kinderlachens“ (delicious low ripples of controlled laughter from the children) 121 im Theater. Kamenevs bereits anfänglichen Ausführungen zufolge kommt Kindern generell die erste Fürsorge des Landes zu. 122 Diese Aussage wird an anderer Stelle untermauert.123 Sie wird über die konkrete Betreuung in Form von Kindertagesstätten und deren Zustand unterrichtet.124 Die von Kamenev thematisierte „Anordnung der Bildung aller Klassen“ (enforced education of all classes)125 zeigt sich Sheridan u.a. in verschiedenen kulturellen Einrichtungen, deren Besucher sich mehrheitlich aus Arbeitern zusammensetzen 126 . Auf ihrer Suche nach einem Atelier trifft sie zufällig auf eine Kunstschule für Soldaten und Matrosen, unterlässt jedoch jede weitere Thematisierung der institutionellen Grundlagen der Erwachsenenbildung.127 3.2.9

Industrie und Wirtschaft

Sheridan besucht während ihres Aufenthalts eher zufällig eine Fabrik. Sie begleitet den im selben Gästehaus wohnenden amerikanischen Unternehmer Vanderlip128, der ihr die nötigen weiterführenden Informationen liefert, die sie im Tagebuch festhält.129 Aufgrund von Treibstoffmangel lägen seiner Aussage nach alle Maschinen brach. Zudem könnten 240 russische Arbeiter durch 50 amerikanische ersetzt werden. Jedoch hebt Sheridan 121 122 123 124 125 126 127 128

129

Vgl. ebd. S. 73. Vgl. ebd. S. 14. Vgl. ebd. S. 169, 124 f. Vgl. ebd. S. 123. Vgl. ebd. Vgl. dazu auch Kapitel II, 2.2.7 der vorliegenden Arbeit. Vgl. Sheridan, RP. S. 92. Der Amerikaner Washington B. Vanderlip hielt sich in seiner Position als Repräsentant von Finanzinstituten der Vereinigten Staaten für einige Wochen in Russland auf und begegnete in diesem Rahmen Sheridan. Nach Aussage Sheridans verbrachten sie einige Zeit zusammen und reisten auch gemeinsam zurück. In einem Artikel der Times wird er als „enthusiastischer Bewunderer der sowjetischen Führer“ bezeichnet. (Vgl. „All Baku Prisoners Free“. In: The Times. London 16.11.1920. S. 11.) Für weitere Informationen zur „Vanderlip Konzession“ siehe: Elizabeth Bastida, Thomas W. Waelde, Janeth Warden-Fernández (Hg.), International and Comparative Mineral Law and Policy. Trends and Prospects. The Hague 2005. Vgl. Sheridan, RP. S. 116.

3.3 Russische Mitwelt

259

hervor, dass die Qualität der produzierten Fabrikate gut sei.130 Ohne Angabe von Quellen gibt sie wieder, wie sehr sich die Arbeitsbedingungen von russischen Arbeitern verbessert hätten, insofern, als dass für Frauen ein Achtstundentag und eine Mutterschutzzeit eingeführt worden wären. 131 Generell, so erfährt sie noch in Großbritannien von Kamenev, musste von der Idee der gleichen Bezahlung für alle Arbeiter wieder zugunsten des Leistungsprinzips Abstand genommen werden.132 3.2.10 Infrastruktur Die Straßenverhältnisse werden von Sheridan als nicht ideal dargestellt.133 Obwohl sie von Regierungsseite ein Auto, oft nebst Chauffeur 134 , zur Verfügung gestellt bekommt135, scheinen die Straßen weniger von Autos, denn von Pferdewagen befahren zu sein.136 Anhand der Aufzeichnungen stellt sich heraus, dass es wenige Autos gibt und diese zumeist im Besitz der Bolschewiki zu sein scheinen.137 Ausstattung und Zustand der Züge in Russland zeigen sich auf Hin- und Rückfahrt. Beide Male fährt sie in einem Sonderzug, auf der Rückreise offenbart dieser jedoch seinen brüchigen Zustand.138

3.3

Russische Mitwelt

Die Kunst als Broterwerb und Lebensinhalt findet sich in vielen Facetten von Sheridans Reiseschrift wieder. Die Menschen, denen sie auf ihrer Reise begegnet, werden aus den Augen einer bildenden Künstlerin betrachtet. Von primärer Wichtigkeit stellt sich die Charakterisierung jener 130 131 132 133 134 135

136 137 138

Vgl. ebd. S. 116, 155. Vgl. ebd. S. 125. Vgl. ebd. S. 14. Vgl. ebd. S. 64, 99, 157. Vgl. ebd. S. 64, 126, 138, 144, 146, 159. Vgl. ebd. S. 91, 135, 149, 187. – Anzunehmen ist, dass es sich hier entweder um ein Auto nebst Chauffeur handelte oder Sheridan einen Begleiter hatte, der sie gefahren hat. Explizit eigene Autofahrten werden nicht erwähnt. Vgl. ebd. S. 132. Vgl. ebd. S. 157. „Periodically the axle of the gold car breaks, or the oil-box takes fire, and we stop perpetually: but we are steadily nearing our goal.“ (Ebd. S. 191.)

260

3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

Personen dar, die zu treffen und zu modellieren den Zweck ihrer Reise bilden (Bolschewistische Modelle). Hinzu kommen bei Sheridan Menschen, mit denen sie ihren Alltag in Russland verbringt und jene des öffentlichen Lebens, die sie am Rande benennt und die dem Regime wohlgesonnen gegenüberstehen, so beispielsweise John Reed und Angelica Balabanov. Eine weitere Kategorie der begegneten Personen ergeben jene namenlosen, die die Autorin auf der Straße und auf Ausflügen zufällig trifft und die sich dem System gegenüber häufig kritisch äußern. 3.3.1

Bolschewistische Modelle

Not all the people with wonderful heads are wonderful people. 139

3.3.1.1

Vladimir I. Lenin

Ausschlaggebend für die Reise nach Russland ist die Aussicht auf ein Treffen mit Lenin und Trockij zum Zwecke einer Büstenmodellierung.140 Noch bevor Sheridan Lenin persönlich trifft, finden sich in ihrem Tagebuch Einträge, die davon zeugen, dass er häufig Thema des Gesprächs ist. So zeichnet sie anhand direkter und indirekter Charakterisierungen, die jedoch bis zu ihrem ersten Treffen auf Informationen zweiter Hand basieren141, das Bild eines Menschen, der die Idee einer Revolution von Beginn an unterstützt hat142, dessen Konterfei in einem „düsteren Raum“ (grim room) im Hotel Petersbourg in Reval die Wand „schmückt“143 und von dem sie nach Meinung vieler Menschen kaum erwarten kann, dass er ihr Modell sitzen würde144. Sympathisch erscheint Lenin dem Leser aufgrund seiner durch Kamenev übermittelten Zusage, Sheridan Modell sitzen zu wollen, da er die Mühen der langen Anreise zur Herstellung seiner Büste zu schätzen wisse.145 Durch den zur gleichen Zeit durch Russland reisenden beziehungsweise in Moskau weilenden englischen Schriftsteller H. G. Wells erfährt Sheridan, dass Lenin prinzipiell Besuch zu empfangen 139 140 141 142 143 144 145

Ebd. S. 152. Vgl. ebd. S. 15. „He described to us shortly, but vividly, the individuality and psychology of Lenin.“ (Ebd. S. 27.) Vgl. ebd. S. 26 f. Vgl. ebd. S. 58. Vgl. ebd. S. 60, 80 f., 88 f. Vgl. ebd. S. 63.

3.3 Russische Mitwelt

261

scheint und sie notiert auch den starken Eindruck, den Lenin bei ihm hinterlassen hat: „[Wells] was impressed by the man and liked him.“146 Als atypisch russisch erscheint Lenin in ihren Aufzeichnungen durch die Wiedergabe seines Verhaltens in Bezug auf Pünktlichkeit: In Russland kämen Menschen generell zwei Stunden später als verabredet; „Trotsky and Lenin are, I hear, the only two exceptions to the rule.“147 Der Leser erfährt, dass Lenins öffentliche Präsenz sehr rar ist148 und dies, obwohl sein Konterfei selbst noch am kleinsten Landbahnhof auf Bannern zu sehen ist, was für seine mediale Präsenz und seinen Status im Land spricht149. Nachdem es am 7. Oktober zu einem ersten, von Sheridan ersehnten Treffen kommt, zeichnet Sheridan ein vielseitiges Bild dieses Mannes. Was sie hier aufgrund persönlicher Erfahrungen mit Lenin wiedergibt, mutet ehrlich und frei an und legt den Blick einer in Arbeit begriffenen Künstlerin frei. Dass dieser Blick sich teilweise „ungünstig“ auf das Modell auswirkt, zeigt sich in ihren verschriftlichten Gedanken zur Arbeit an Lenins Büste. So sei es harte Arbeit, „da [Lenin] niedriger [saß] als der Ton war und sich weder drehte noch still saß“ (for [Lenin] was lower than the clay and did not revolve nor did he keep still)150. Sheridan zeigt Lenin als einen gefragten Mann, dessen Telefon immerwährend klingelt, was ihr im Arbeitsprozess jedoch zugutekommt, da sich sein Gesichtsausdruck während der Telefonate verändern und dann die „Mattheit der Ruhe“ (dullness of repose) verlieren würde und „belebt und interessant“ (animate and interesting) aussähe.151 Auch seine Bewegungen beim Telefonieren werden von ihr dargestellt: „He gesticulated to the telephone as though it understood.“152 Von verschiedenen Seiten betrachtet, veränderte sich sein Gesicht und Sheridan ist erstaunt, da sie noch niemals jemanden gesehen hätte, der eine so vielseitige Mimik aufgewiesen habe:

146 147

148 149 150 151 152

Ebd. S. 102. Ebd. S. 126. – Obgleich diese Tatsache viele Ursachen haben kann (hohes Maß an Selbstdisziplin, Gewohnheit aufgrund langer Auslandsaufenthalte in Westeuropa etc.), gewinnt sie durch die kontrastive Gegenüberstellung an Gewicht und lässt Lenin und Trockij als „anders“ erscheinen. Vgl. ebd. S. 184. Vgl. ebd. S. 193. Ebd. S. 106. Ebd. S. 107. Ebd.

262

3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

Lenin laughed and frowned, and looked thoughtful, sad, and humorous all in turn. His eyebrows twitched, sometimes they went right up, and then again they puckered together maliciously.153

Ihre Bitte, sich auf den Drehstuhl zu setzen, kommentiert er mit den Worten, dass er noch nie so hoch gesessen hätte.154 Zusammenfassend stellt Sheridan nach der ersten Sitzung fest, dass Lenin ein merkwürdig slawisches Gesicht hätte und krank aussähe.155 Jedoch gelingt es ihr mit der Büste einen Blick Lenins einzufangen, der ihn als einmalig auszeichnet.156 Charakterlich beschreibt Sheridan ihn als einen höflichen Menschen, dessen Gesellschaft beruhigend sei157 und der, trotz seiner vielen Verantwortlichkeiten, viel läse158; er rauche nicht und trinke während einer vierstündigen Sitzung als Modell nicht einmal Tee159. Zudem sei er, gemäß Sheridan, während der Sitzungen so in seine Arbeit vertieft, dass er manchmal die Anwesenheit der Künstlerin nicht mehr bemerke.160 In den Gesprächen der Beiden thematisiert Lenin politische Sachverhalte, auch die familiäre Verbindung Sheridans zu Winston Churchill, wobei Lenin seine skeptische Haltung zum aktuellen Kriegsminister Großbritanniens offenbart.161 Im Verlauf dieses Gesprächs stellt sich durch indirekte Charakterisierung auch heraus, dass Lenin scheinbar offen mit Kritik an seiner Person umgeht: Er verheimlicht Sheridan nicht, dass er von Churchill in einem „bitteren Zeitungsartikel“ als „eine höchst abscheuliche Kreatur“ dargestellt wurde.162 Mit der Aufnahme dieser Bemerkung fügt Sheridan der Beschreibung Lenins eine weitere Facette hinzu: das Bild, das die englische Regierung von ihm zeichnet. 153 154 155

156 157 158 159 160 161 162

Ebd. S. 110. „He said he never had sat so high.“ (Ebd. S. 111.) Vgl. ebd. S. 109. – Nach einem Attentat auf Lenin im Jahr 1918, für das die Sozialrevolutionärin Fanny Kaplan verantwortlich gemacht wurde, wirkte sich eine nicht entfernte Bleikugel in Lenins Hals maßgeblich auf seinen gesundheitlichen Zustand aus und führte zu anhaltenden Schmerzen und Dauerleiden (Augenleiden, Kopfschmerzen, Magenbeschwerden). (Vgl. Robert Service, Lenin. Eine Biographie. München 2000. S. 566, 572.) Nach zwei Hirnschlägen im Jahr 1922 hielt sich Lenin bis zu seinem Tod 1924 von allen Ämtern fern. (Vgl. Malia, Vollstreckter Wahn. S. 178.) „Wonderful! No one else has such a look, it is his alone.“ (Sheridan, RP. S. 111.) Vgl. ebd. S. 106. Vgl. ebd. S. 108. Vgl. ebd. S. 109. Vgl. ebd. S. 139. Vgl. ebd. S. 112 f. Vgl. ebd. S. 112 f.

3.3 Russische Mitwelt

3.3.1.2

263

Lev Trockij

Lev Trockij ist neben Lenin der Beweggrund zum Aufbruch nach Russland. Parallel zur Charakterisierung Lenins finden sich auch über Trockij bis zu dem Zeitpunkt ihres ersten (geplanten Treffens) nur Beschreibungen zweiter Hand. Er wird oft in einem Zug mit Lenin genannt.163 Noch bevor Sheridan ein Treffen zum Modellieren mit Trockij bekommt, erlebt sie ihn persönlich auf einer Versammlung in einem Theater.164 Von einer Proszeniumsloge aus hat sie einen guten Blick auf die Redner auf der Bühne, unter denen sich auch Trockij als Übersetzer einer Rede Clara Zetkins befindet. 165 In der Wiedergabe dieser Begebenheit kontrastiert Sheridan die äußere Wahrnehmung Trockijs mit der Clara Zetkins: Während sie Zetkin als hysterisch und in der unschönen deutschen Sprache Gift spuckend auf der Bühne erfährt 166 , entdeckt sie in Trockij einen Mann, der ihr Interesse weckt und dessen äußerer Gestalt sie in ihrer Beschreibung durch die Gegenüberstellung mit Zetkin als „grimmiger Alte“ (ferocious old soul) 167 noch zusätzlichen Glanz verleiht. Sheridan beschreibt Trockij als einen Mann von „schlanker, guter Figur“ (slim, good figure), herausragender kämpferischer Zurückhaltung und einer Persönlichkeit, die voller Kraft steckt.168 Ein zweites Mal erlebt sie ihn von weitem auf einer Truppenparade auf dem Roten Platz – in der Absicht, ihn aus nächster Nähe zu sehen, wird sie durch Sicherheitsvorgaben eingeschränkt, weshalb sie ihn nur von weitem hören kann, unterbrochen von Beifallrufen der Soldaten.169 In der Zeit zwischen dem 2. und 15. Oktober 1920 hält sich Trockij an der (polnischen) Front auf. Auf die Mitteilung, dass Trockij ein Treffen mit ihr abgelehnt hat, schreibt sie: „I gathered that Trotsky had been emphatic 163

164

165 166 167 168 169

Vgl. ebd. S. 15, 27, 32, 58. – Diese zumeist von Kamenev zugetragenen Informationen lassen auf das Bild des Teams „Lenin und Trockij“ schließen, das auch Robert Service zeichnet. Nach der Oktoberrevolution waren die beiden Politiker zu „siamesischen Zwillingen der russischen Politik“ geworden, „an der Hüfte zusammengewachsen in ihrer Entschlossenheit, gegen Feinde mit rücksichtslosen Maßnahmen einschließlich des staatlichen Terrors vorzugehen“. (Service, Trotzki. S. 245.) Vgl. Sheridan, RP. S. 79 f. – Dieses Treffen fand zum Anlass und Thema von Kamenevs Englandbesuch statt, in dessen Rahmen Sheridan erst in Kontakt mit den Bolschewiki kam. Vgl. ebd. S. 80. Vgl. ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. S. 95.

264

3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

and brusque in his refusal [...]“170. Sein Ruf eilt ihm voraus, man nennt ihn den „Wolf“, was Sheridan auch im Tagebuch festhält.171 Nach mehreren Anläufen stimmt Trockij einem Treffen am 18. Oktober schließlich zu.172 Anhand der beschriebenen Umstände des ersten Treffens lässt sich unschwer ablesen, dass er eine wichtige Position im Staat innehat: Sheridan wird von einem Chauffeur in Trockijs Auftrag von zu Hause abgeholt und zum Kriegsministerium gebracht, das sie nicht ohne Pass betreten darf. 173 Im Innersten des Kriegsministeriums muss Sheridan mehrere Räume durchqueren, um in Trockijs Büro zu gelangen, das zudem von einem „Wachmann“ (sentry) gesichert wird und das, im Gegensatz selbst zu Lenin, nur nach vorheriger telefonischer Erlaubnis zu betreten ist.174 Trockij Willkommensgruß geschieht ohne ein Lächeln.175 Die eingehende Beschreibung von Trockijs Gesichtsphysiognomie, die auch am kleinsten Detail, welches das Künstlerauge entdeckt, nicht mangeln lässt, wird jeder weiteren Charakterisierung voran gestellt: vom schiefen Unterkiefer über eine gekrümmte Nase (looks as though it had been broken), die die feine Linie von der Stirn an unterbricht, finden sich Augenbrauen, die einen Winkel formen, Augen mit einem „pathetischen“ (solemn) Blick und letztlich ein spitzer und trotziger Bart.176 Sheridan entwirft ein Bild, das so genau ist, dass es für sich spricht, doch garniert sie es noch mit einem selbst gezogenen Vergleich: „Full-face he is Mephisto.“177 In indirekter Charakterisierung, anhand der wortwörtlichen Wiedergabe einiger von Trockijs Aussagen in Bezug auf die Künstlerin selbst, zeigt sich, dass es sich um einen sehr charmanten, aufmerksamen Mann handelt 178 , der sie mit seinem stechenden Blick und seiner kritischen und interessierten Art sowohl nervös macht als auch von ihrem eigentli170 171 172

173 174 175 176 177 178

Ebd. S. 129. Ebd. Vgl. ebd. S. 126. – Dieses Treffen kam durch die Fürsprache Litvinovs, Sheridans Mitbewohner im Gästehaus, zustande, nachdem Trockij scheinbar bereits mehrere Anfragen negativ beantwortet hat. Insgesamt treffen sich Sheridan und Trockij vom 18. bis zum 22. Oktober 1920 täglich einige Stunden zur Anfertigung der Büste. Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 127. Vgl. ebd. S. 127. – Sheridan vermerkt hier auch die Vorgeschichte, die sie mit Trockijs Schwester, die die Ehefrau Kamenevs ist, verbindet. Ebd. S. 129. Ebd. Vgl. ebd. S. 127 ff., 133, 141.

3.3 Russische Mitwelt

265

chen Fokus abzubringen vermag 179 . Prägnant sind seine Lebendigkeit und Energie, die Sheridan versucht, auf die Büste zu übertragen.180 Trockijs Charme und seine trotz aller Verpflichtungen männliche Seite werden durch die Wiedergabe seiner Bemerkungen über eine Mitarbeiterin deutlich.181 In den Tagebucheinträgen, die die Zeit der Sitzungen mit Trockij umfassen, finden sich viele wortwörtliche Zitate Trockijs und ihrer selbst. Die schriftliche Wiedergabe französischer Sätze zeichnet Trockij als Polyglott aus und verweist damit weitestgehend auf seine kosmopolitische und gebildete Art.182 In seiner „ungewöhnlich melodiösen Stimme“ (unusually melodious voice) spricht er sehr schnell, aber sehr fließendes Französisch, so dass er für einen Franzosen gehalten werden könne.183 Ohne zusätzlichen Kommentar nimmt Sheridan auch einen von ihm vermeintlich humorvoll gemeinten Ausspruch, er würde sie solange als Geisel nehmen, bis England Frieden mit Russland geschlossen hätte, auf.184 Im Zusammenhang mit der einige Seiten weiter offenbarten Aussage Trockijs, dass es sich bei England um den wahren Feind Russlands handeln würde185, bekommt diese Aussage eine besondere Note: So erscheint Trockij als ein Mensch, dem man bei aller Sympathie radikale Taten zutrauen würde. Der Vergleich mit Mephisto tut das Übrige, dieses Bild zu untermauern. Als sie zu einem verabredeten Treffen zu spät kommt, kritisiert der selbst für seine Pünktlichkeit bekannte Trockij die Künstlerin für diese „Ungenauigkeit“ (inexactitude) 186 . Auch mit ihm kommt es zur Konfrontation mit seinem in England kursierenden Bild: Überrascht über seine Freundlichkeit, fragt Sheridan ihn, wie sie in England auf die Frage 179 180 181

182

183 184

185 186

Vgl. ebd. S. 139. Vgl. ebd S. 148. „A matronly peasant-woman with a handkerchief tied round her head came and lit it. He said he liked her because she walked softly, and had a musical voice.“ (Ebd. S. 128.) Vgl. ebd. S. 129 f. – Auch Service verweist auf Trockijs Sprachgewandtheit und bringt beispielhaft die Friedensverhandlungen von Brest-Litovsk an, in denen Trockij mit seinem fließenden Deutsch die anwesenden Deutschen und Österreicher verblüffte. (Vgl. Service, Trotzki. S. 254.) Vgl. Sheridan, RP. S. 129, 146. „He took for granted that Asquith must like me, which is not necessarily the case, and said half-laughingly: ‚You have given me an idea – if Asquith comes back into office soon […] I will hold you as a hostage until England makes peace with us.‘“ (Ebd. S. 134.) Vgl. ebd. S. 138. Vgl. ebd. S. 133.

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„‚What sort of a monster is Trotsky?‘“ reagieren solle. Die Antwort, die Trockij hierauf scheinbar gibt187, bleibt sie in ihrem veröffentlichten Tagebuch schuldig. Diese Auslassung lässt jede Interpretation zu – Sheridan versagt damit dem Leser die Möglichkeit, ein vollständigeres Bild Trockijs zu rekonstruieren und bietet zusätzlichen Raum für Spekulationen. Im Vergleich mit Lenin beschreibt sie Trockij trotz passionierter Hinwendung zu seiner Arbeit als einen Mann, der während des Modellierprozesses aufmerksamer als Erstgenannter agiere.188 Eine weitere Facette von Trockijs Persönlichkeit wird in der Anmerkung gesetzt, dass er, aufgrund seiner Arbeit beziehungsweise seines Arbeitsstiles überfordert wirke und einmal sogar fast ohnmächtig zu werden schien: „alles kann einem Mann passieren, der so arbeitet wie er“ (anything may happen to a man who works as he does)189. Die Darstellung seiner Person als einen müde wirkenden und der Ohnmacht nahestehenden Menschen widerspricht dem Bild des „Wolfs“, das Sheridan vormals aufnahm.190 Dieser „Wolf“ wird jedoch wieder erweckt in der Frage nach Sheridans Haltung zu Russland. Obwohl sie von Russlands authentischer Art nach eigener Aussage ein für alle Mal für den Umgang in ihrer eigenen oberflächlichen Welt verdorben wäre, müsse sie dorthin zurück.191 Dies nimmt Trockij zum Anlass, Sheridan Böswillen gegenüber Russland zu unterstellen. Seiner nun folgenden unausgesprochenen Drohung, „‚If, when you get back to England, vous nous calomniez as the rest have, I tell you that I will come to England et je vous ---‘“192, setzt Sheridan einen körperlichen Ausdruck voran, der animalische Züge hat. Sie beendet diesen Absatz damit, dass Trockijs Mimik offenbarte, dass er zu allem bereit gewe-

187 188 189

190 191 192

„‚Tell them in England, tell them ---‘“ (Ebd.) Vgl. ebd. S. 139. Ebd. S. 135. – Anfang der 1920er Jahre stellten Ärzte bei Trockij die vage Diagnose einer Epilepsie, da er sich oft schlecht und schwach fühlte. (Vgl. Service, Trotzki. S. 433.) In der Tat litt er an Ohnmachtsanfällen und weiteren, nicht thematisierten Leiden, deren Ursprung seiner Zeit in der Verbannung (1900–1902, 1906–1907) zuzurechnen ist. (Vgl. ebd. S. 434.) Vgl. Sheridan, RP. S. 129. „‚Russia with its absence of hypocrisy and pose, Russia with its big ideas, has spoilt me for my own world.‘“ (Ebd. S. 145.) „Then suddenly turning on me, with clenched teeth and fire in his eyes, he shook a threatening finger in my face […].“ (Ebd.) – Leslie nimmt diesen Vorfall in der Sheridan-Biografie auf und ergänzt die im Reisetagebuch fehlenden Worte: „‚[...] if you vilify us back in England I will follow you and cut your throat...‘.“ (Leslie, Cousin Clare. S. 125.)

3.3 Russische Mitwelt

267

sen wäre (but there was murder in his face)193. Abermals bleiben weiße Flecken im Gesamtbild Trockijs und Sheridan schafft ein hyperbolisch zugespitztes Bild. Noch auf der Rückreise nach Großbritannien wird Sheridan derart von Journalisten bedrängt, dass sie ihre Verantwortung in Fragen der öffentlichen Stellungnahme zur sowjetischen Führungsriege vergisst und so berichtet später eine „konservative“ Zeitung (a Conservative one), Sheridan hätte Trockij als den „perfekten Gentleman“ dargestellt. 194 Ihre eigene Entrüstung darüber – „This, if it gets back to Moscow, is most embarrassing.“ 195 – zeigt einerseits Angst vor der Reaktion der russischen Regierung, andererseits den Kontrast zu ihrer tatsächlichen Meinung über die Person Trockij: „Never in my wildest moments would I use so mediocre a description to apply to Trotsky. I might say he was a genius, a superman, or a devil.“196 Als eine der letzten Erwähnungen Trockijs in Sheridans Aufzeichnungen, dient dies als gute Zusammenfassung ihrer Wahrnehmung des Politikers und Menschen. Obzwar er ihrer Beschreibung nach eine charmante Ader besitzt und vielseitig erscheint, würde die mittelmäßige Auszeichnung dieser polarisierenden Person als „Kavalier“ zu kurz greifen.197 3.3.1.3

Lev B. Kamenev

Lev Kamenev 198 ist derjenige unter den Bolschewiki, der in Sheridans Reisebericht von Beginn an regelmäßig und am häufigsten benannt wird. Er entfacht in ihr die intrinsische Motivation, in ein Land zu fahren, das ihr bis dato unbekannt ist und nicht zu den von Sheridans Gesellschaftskreisen bevorzugten Reisezielen zählt. Noch in London modelliert sie eine Büste von Kamenev und begleitet ihn dann nach Russland. Dort 193 194 195 196 197 198

Sheridan, RP. S. 145. Vgl. ebd. S. 197. Ebd. Ebd. Zu einem weiteren Verständnis der Beziehung zwischen Sheridan und Trockij siehe u.a. Leslie, Cousin Clare. S. 122 ff.; auch Service, Trotzki. S. 337 f. Die Schreibweise der Namen ist bei Sheridan sehr auffällig: Während noch Trockij und Lenin richtig transkribiert werden, sind viele andere Namen weder transkribiert noch transliteriert, sondern verweisen auf eine schriftliche Nachahmung des akustisch Vernommenen. (Vgl. Sheridan, RP. Bspw. Dzhirjinsky, S. 88.) Auch zeigt Sheridan eine Tendenz zur Romanisierung von Namen: Aus „Nikolaj“ (i.e. Nikolaj Andreev, den sie durchweg Andrev schreibt) wird bei ihr „Nicholas“, aus „Alexander“ wird „Alexandre“.

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kommt ihm, neben seiner eigentlichen Aufgabe als Vorsitzender des Moskauer Sowjets199 die Fürsorge Sheridans zu – er ist derjenige, der die wegweisenden Verbindungen animiert. Kurzum, Lev Kamenev nimmt eine tragende Rolle auf Clare Sheridans Russlandreise ein. Die Kenntnisse, die Sheridan über Kamenev hat, entstammen vornehmlich ihren eigenen Begegnungen und Erfahrungen mit ihm. Bereits in der ersten Begegnung am 14. August 1920 offenbart sich Kamenev als ein freundlich lächelnder200 und energischer Mensch, der von Beginn an Französisch mit Sheridan spricht – wenn auch, wie Sheridan nicht unterlässt zu schreiben, schlechtes Französisch201. Kontrastiv setzt sie Kamenevs Erscheinung während der ersten Begegnung in den Kontext ihrer eigenen stereotypen Vorstellung der Bolschewiki.202 Sein Gesicht beschreibt sie als ein perfektes Oval mit wenig „Formgebung“ (modelling) und einer geraden Nase von der Stirn weg, die sich jedoch „leider“ (it’s a pity)203 zum Ende hin leicht hoch biegt.204 Zudem erfährt der Leser, dass es sich bei Kamenev um einen sehr belesenen, eloquenten Mann205 und einen Revolutionär der ersten Generation handelt, der mit der Historie Russlands bestens vertraut ist206. Als Anknüpfungs- und Motivationspunkt für ihre Reise nach Russland wird Kamenev von der ersten Tagebuchseite an thematisiert, d.h. für Sheridan verbindet er das Hier und Dort. Er ist die Verbindung zwischen ihrem aktuellen Aufenthaltsort London, an dem sie ihn kennenlernt und dem zukünftigen Ort Moskau, der ihr Reiseziel darstellt. Mit Kamenev schwingt das Ferne und ihr Unbekannte immer mit, sei es durch seine Erzählungen über das Land oder seine Erfahrungen als Delegationsmitglied der ersten sowjetischen Wirtschaftsdelegation207. Sheridan und Kamenev verbringen in Großbritannien viel freie Zeit miteinander, Sheridan 199 200 201 202

203 204 205 206 207

Vgl. „Unpersonen“. S. 184, 190. Vgl. Sheridan, RP. S. 12, 13, 24, 28. Vgl. ebd. S. 26. „Here was I, at all events, in the outer den of these wild beasts who have been represented as ready to spring upon us and devour us! This movement that has caused consternation to the world, and these people so utterly removed from my environment, these myths of what seemed almost a great legend, I was now quite close to. […] At last the word came and we were ushered into the office of Mr. Kameneff who received me amiably and smilingly.“ (Ebd. S. 11 f.) Ebd. S. 13. Ebd. Vgl. ebd. S. 14, 26. Vgl. ebd. S. 26 f. Vgl. Ullman, Anglo-Soviet Relations. S. 193 f.

3.3 Russische Mitwelt

269

lernt etwas über Russland, Kamenev lernt Sheridan als künftige Besucherin des von ihm maßgeblich mitgestalteten und geführten neuen Staates208 kennen. Obgleich sein Aufenthalt in Großbritannien geschäftlicher Natur ist209, sucht er in London wiederholt ihre Nähe, was letztlich auch dazu führt, dass Sheridan ein Vertrauensverhältnis zu ihm aufbaut210. Sein Bekanntheitsgrad in England ist hoch. Besonders bei der politisch links orientierten Bevölkerung genießt er Ansehen, was sich im Rahmen einer Demonstrationsteilnahme zeigt 211 . Auch der britischen Regierung ist er kein Unbekannter – ganz im Gegenteil ist er als Mitglied der sowjetischen Handelsdelegation geladener Gast. 212 Aufgrund des Vorwurfs der illegalen Finanzierung der linkspolitischen britischen Tageszeitung Daily Herald 213 , muss Kamenev relativ überstürzt am 208

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213

Als langjähriger Revolutionär und Wegbegleiter Lenins trug Kamenev nicht wenig Verantwortung für die Strukturen und Gegebenheiten in Sowjetrussland. 1917 übernahm er für kurze Zeit die Staatsführung als Vorsitzender des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees. Vgl. Sheridan, RP. S. 22. Vgl. hierzu ihre Gedanken auf der Fahrt nach Russland: „Now for the first time I had leisure and calm in which to think over what I am doing. There persist in my mind faint echoes of warnings, but I must have no misgivings, it seems to me unlikely that Kameneff would invite me to go to his country if I were likely to be either unhappy or in danger there. He must know what he is doing, and what he is taking me to. There are moments in life when it is necessary to have blind faith.“ (Ebd. S. 39.) Vgl. ebd. S. 18 ff. – Im Austausch von Privilegien für die Mitglieder der sowjetischen Handelsdelegation gaben diese ihr Versprechen, sich in keiner Weise in innenpolitische Sachverhalte beziehungsweise interne Belange Großbritanniens einzumischen. Auch durften nur mit Zu- und Abstimmung der britischen Regierung Interviews an Zeitungen gegeben werden. (Vgl. Ullman, Anglo-Soviet Relations. S. 92.) Zusammen mit Krasin traf Kamenev am 4. August 1920 mit Lloyd George und anderen britischen Politikern in der Downing Street Nr. 10 zusammen. Thema des Treffens war größtenteils die Frage nach Beendigung des Krieges mit Polen (vor dem Hintergrund des Vorwurfs, die Bolschewiki wollten es okkupieren und ideologisieren). (Vgl. ebd. S. 205.) Am 6. August trafen Kamenev und Lloyd George abermals zusammen; Lloyd George forderte den sofortigen Stopp aller militärischen Operationen in Polen mit einem Ultimatum von 48 Stunden, drohte, anderenfalls, mit erneuter Intervention in Russland. Die hierfür erforderlichen Flaggschiffe waren bereits auf dem Weg nach Kopenhagen. (Vgl. ebd. S. 206.) Es handelt sich um die Zahlung von £ 75.000 zur Rettung der sozialistischen Tageszeitung Daily Herald. Für diesen Zweck hatte Kamenev Diamanten und Edelsteine im Wert von £ 40.000 mitgebracht, die er in London zu Geld machte und der Zeitung als Teilspende zukommen ließ. (Vgl. ebd. S. 271 ff.) Dies stellte laut Ullman „die größte und schamloseste Tat eines Eingriffs in die nationale britische Politik dar“. (Ebd. S. 273.)

270

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11. September 1920 das Land verlassen.214 Seine Abreise wird von den Medien begleitet und steht häufig im Mittelpunkt des Interesses Mitreisender.215 Mit zunehmender Entfernung von England, d.h. auf der Reise nach Russland, lässt sich an Sheridans Aufzeichnungen auch eine Entfernung von Kamenev ablesen: Je näher sie der russischen Grenze kommen, umso stärker wird er in seiner Rolle als Politiker in Beschlag genommen. Bereits in Stockholm, am 15. September, ist Kamenev permanent beschäftigt und abends entsprechend erschöpft216, in Estland und auf russischem Boden (noch auf der Reise) ist er Zentrum ständiger Diskussion und in viele Treffen involviert217. Tatsächlich kennenzulernen vermeint der Leser Kamenev jedoch erst, als dieser russischen Boden betritt: Während er in England und noch auf der Reise als Gentleman dargestellt wird218, vermerkt Sheridan, dass er nach Ankunft auf dem Moskauer Bahnhof erst einmal „in der pöbelhaftesten Art und Weise“ (the most plebeian way) auf den Bahnsteig spuckt 219 . Dies, wie Sheridan schreibt, sicherlich nur um seiner Ehefrau220 zu zeigen, dass er weder Russland vergessen habe, noch bürger214 215 216 217 218

219

220

Vgl. Sheridan, RP. S. 37 – Vgl. auch „Why Kameneff left“. In: The Times. London 13.09.1920. S. 10. Vgl. Sheridan, RP. S. 45. Vgl. ebd. S. 49. Vgl. ebd. S. 55, 57, 60. Vgl. ebd. S. 17 [Rosen für Sheridan], 18, 21 [Besuch teurer Restaurants], 21 [Bootsausflug], 26 ff. [Kurzurlaub auf der Isle of Wight]. – Diese Darstellung Kamenevs durch Sheridan wird durch Ullman bestätigt, der schreibt, dass man vergeblich versuchte, in Kamenev den westlichen Stereotyp des bolschewistischen Revolutionärs bestätigt zu bekommen. (Vgl. Ullman, Anglo-Soviet Relations. S. 195.) „As we left the train she [i.e. Ol’ga Kameneva, d. Vf.] said to me: ‚Leo Kameneff has quite forgotten about Russia, the people here will say he is a bourgeois.‘ Leo Kameneff spat upon the platform in the most plebeian way, I suppose to disprove this.“ (Sheridan, RP. S. 64.) Seine Ehefrau, Ol’ga D. Kameneva (1883–1941) war die Schwester Trockijs und bekleidete ebenfalls politische Posten: Nach der Revolution von 1917 wurde sie bekannt „als Leiterin der Theaterabteilung des Narkompros und als Organisatorin eines Revolutionssalons“, in dem notleidende Schriftsteller und Dichter Aufnahme fanden. Von 1923–1929 war sie Leiterin sowohl des Vereinigten Büros der Information (Obedinennoe bjuro informacij, kurz: OBI), eine Institution, mithilfe derer die kulturelle und wissenschaftliche Isolation Russlands aufgehoben und das Renommee verbessert werden sollte, als auch der Allunionsgesellschaft für kulturelle Verbindungen mit dem Ausland (Vsesojuznoe obščestvo kul’turnoj svjazi s zagranicej, kurz: VOKS). So wurden diese Institute, erst OBI, später VOKS oft auch als „Kameneva-Institute“ bezeichnet. (Vgl. Heeke, Reisen zu den Sowjets. S. 25 f.)

3.3 Russische Mitwelt

271

lich geworden sei. Obwohl Sheridan diese überraschende Wendung seines Benehmens mit den Worten kommentiert, dass ihm dies gar nicht ähnlich sei – „It was extremely unlike him.“ 221 – und ihn distanziert beim vollen Namen nennt, anstatt wie bisher „Kameneff“, gibt sie durch Aufnahme dieser Begebenheit ein differenzierteres Bild dieses in Großbritannien nicht unbekannten Menschen. Sie zeigt auf, welchen Einfluss sein Umfeld auf ihn hat. Während er sich zumindest in ihrer Gegenwart in Großbritannien als Gentleman gibt, wird er in Russland wieder zum „volksnahen“ Politiker. Obwohl Kamenev von Sheridan nach der Ankunft in Russland in den verbleibenden 141 der insgesamt 202 Seiten des Tagebuchs viel seltener benannt wird, ist er es, der die eigentlich relevanten Bedingungen für die erfolgreiche Durchführung ihrer Aufgabe umsetzt. So teilt er ihr schon auf der Hinreise mit, dass er Lenins Einverständnis zu einem Treffen eingeholt habe.222 In Moskau lässt er sein Tagesgeschäft ruhen, um ihr eine Unterkunft in einem Gästehaus zu besorgen223 und kümmert sich um Beschaffung von Arbeitsmaterial und Atelier für Sheridan.224 Zusätzlich stellt er ihr als Gehilfen einen ausgebildeten Bildhauer zur Seite. 225 Er vermittelt ihr ein Treffen mit Zinoviev226 und, nach Sheridans verzweifelten eigenen Versuchen, auch das Treffen mit Lenin227. Zweimal vermerkt Sheridan in ihrem Tagebuch, dass sie für Kamenev eine Liste von Dingen anfertigt, die sie dringend benötigt.228 Zum Abschluss ihres Aufenthaltes führt er Verhandlungen über das Urheberrecht ihrer Büsten.229 Seine Sorge geht so weit, dass er Sheridan für die Zeit, in der er an der Front ist (ab dem 10. Oktober) einen „Organisator“ an die Seite stellt, der an seiner Stelle Aufgaben für sie erledigt. Anhand dieser Taten zeigt Kamenev, dass er verlässlich ist und versucht, seine Versprechen vom ersten 230 bis zum letzten 231 , selbst unter schwierigen Umständen zu halten. Dieser besondere Umstand, der Ka221 222 223 224 225 226 227 228 229 230 231

Sheridan, RP. S. 64. Vgl. ebd. S. 63. Vgl. ebd. S. 70. Vgl. ebd. S. 79. Vgl. ebd. S. 88. Vgl. ebd. S. 81. Vgl. ebd. S. 105. Vgl. ebd. S. 91, 117. Vgl. ebd. S. 117. Vgl. ebd. S. 15, 24. Vgl. ebd. S. 38, 184.

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menev zu einer Art Organisator und Verbindungsmann für Sheridan macht, offenbart nicht nur seine Selbstlosigkeit, sondern auch seinen Pragmatismus. An Sheridans letztem Abend in Moskau stellt Kamenev die indirekte Forderung, Sheridan möge sich nicht als Spionin entlarven. Damit beweist er noch in den letzten Momenten ihres Zusammenseins sein ihr gegenüber bestehendes Misstrauen.232 Mit dem Vorwurf, Sheridan könne eine britische Spionin sein, lagen die sowjetischen Politiker nicht falsch. Wie ein Zeitungsinterview mit der Künstlerin vom 25. August 1936, dem Tag von Lev Kamenevs Hinrichtung, offenbart, bespitzelte Sheridan Kamenev im August 1920 im Auftrag des britischen Geheimdiensts.233 3.3.1.4

Feliks E. Dzeržinskij

Der Ruf Dzeržinskijs eilt der eigentlichen Person voraus: Sheridan schreibt, dass behauptet würde, sein Märtyrertum kristallisiere sich in seinen Augen und dass er durch Jahre im Arbeitslager „metaphorisch“ (metaphorically) zu Stein erstarrt sei.234 Er lebe asketisch, zurückgezogen235 und sei fanatisch236. Zweimalig weist Sheridan darauf hin, dass es sich bei Dzeržinskij um den Organisator und Kopf des Roten Terrors handelt. 237 Dies kontrastiert das eigens erfahrene Bild der Autorin. Sie beschreibt einen Menschen, der vom Leben gezeichnet ist: „His eyes certainly looked as if they were bathed in tears of eternal sorrow, but his mouth smiled an indulgent kindness.“238 Dem Verhalten nach vergleicht Sheridan ihn mit einem Engel: Ruhig und leise habe er ihr für anderthalb Stunden Modell gesessen. 239 Sheridan begründet die Ruhe mit seinen 232

„‚Of course we were glad to receive you, and to have you among us, une Jemme artiste, what did it matter to us, your nationality, or your relations. There is only one thing, que nous ne pouvons pas supporter,‘ and for the first time in all the months I have known him, a hard look passed over his face, and he set his teeth: ‚The only thing we cannot stand c’est l’espionage,‘ and the way he said it gave me a shiver down my spine.“ (Ebd. S. 184 f.) 233 Vgl. Clare Sheridan, „I Shadowed Kameneff“. Evening Standard. London 25.08.1936. – Siehe hierzu auch Timothy Phillips, The Secret Twenties. British Intelligence, the Russians and the Jazz Age. London 2018. 234 Vgl. Sheridan, RP. S. 27. 235 Vgl. ebd. S. 27, 80 f. 236 Vgl. ebd. S. 27. 237 Vgl. ebd. S. 27, 85. 238 Ebd. S. 85. 239 Vgl. ebd.

3.3 Russische Mitwelt

273

Erfahrungen im Arbeitslager und erklärt, weshalb er einer bestimmten Kategorie von Revolutionären angehört.240 Die Ausweisung Dzeržinskijs als „Savonarola der Revolution“ deutet auf seine äußerliche Anmutung hin, könnte jedoch auch Dzeržinskijs Aufopferung für eine bestimmte Sache charakterisieren. 241 Während der spätmittelalterliche Bußprediger Savonarola sich aufgrund tiefer Überzeugung, Florenz würde das neue Rom werden, gegen die staatlichen Mächte stellte und dafür als Häretiker und Schismatiker sein Leben geben musste242, stellt Dzeržinskijs allumfassende Lebensaufgabe die Umsetzung der Revolutionsideen dar, die er in seiner Rolle als „Polizeichef“ akribisch ausübte243. Da Sheridan den von Dzeržinskij mitverantworteten Roten Terror thematisiert, kann dieser Verweis durchaus in Betracht gezogen werden. 3.3.1.5

Leonid B. Krasin

Neben Kamenev ist Krasin244 der erste Bolschewik, der in Sheridans veröffentlichtem Tagebuch erwähnt wird. Seine Büste wird noch in London angefertigt und Sheridan vermerkt, dass sein Kopf hübsch sei und er fast die gesamte Zeit ausdruckslos, ernst und sphinxgleich Modell sitze. 245 Sein Französisch sei noch „weniger gut“ als das Kamenevs246 und er sei aus Sibirien247. Als Person sei er entzückend und über seinen Kopf sagt Sheridan: „[…] never have I done a head that I admired more“.248 Sein Gesicht erfährt eine konkrete Beschreibung durch die Autorin. Unter 240 241 242 243 244

245 246 247 248

Vgl. ebd. Ebd. S. 88. Vgl. „Savonarola“. In: Brockhaus Enzyklopädie. Mathias Münter-Elfner (Hg.). 30 Bd. Bd. 24. Leipzig [u.a.] 2006. S. 99. Vgl. Blum, Russische Köpfe. S. 101. Aufgrund seiner Erfahrungen in Industrie und Handel wird Krasin 1918 zum Präsident der neu gegründeten Außerordentlichen Kommission zur Versorgung der Roten Armee ernannt und zum Volkskommissar für Auslandshandel und Transport. In dieser Funktion führte er die sowjetische Delegation an, die im Winter 1919/1920 Friedensverhandlungen mit Estland führt. Im Mai 1920 begleitet er als einer der Abgeordneten die von Lloyd George eingeladene sowjetische Handelsdelegation. (Vgl. Ullman, Anglo-Soviet Relations. S. 89 f.) Das am 31.05.1920 stattfindende Treffen mit dem britischen Premierminister stellt das erste Treffen dar, in dem ein Abgesandter der Sowjetmacht von der Führungsspitze einer Weltmacht empfangen wird. (Vgl. ebd.) Vgl. Sheridan, RP. S. 15. Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 16. Vgl. ebd. S. 22 f.

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3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

anderem erwähnt sie, dass sich Krasins „Nasenlöcher mit Feingefühl“ (nostrils that dilate with sensitiveness)249 bewegten. Auch ihm eignen teilnahmslose Gelassenheit, Ruhe und Geduld, obgleich er von Sheridan gleichzeitig auch als unerbittlich eingeschätzt wird. 250 In einem Eintrag auf der Hinreise nach Russland erwähnt sie zudem, dass Krasins Familie ein „entzückendes“ (perfectly charming) Privatapartment in Stockholm besitze.251 3.3.1.6

Grigorij J. Zinoviev

Auch Zinoviev wird nur am Rande erwähnt, obwohl Sheridan auch von ihm eine Büste anfertigt. Das erste Treffen und die erste Erwähnung finden bereits auf russischem Boden statt, wo sie ihm noch im Zug vorgestellt wird.252 Sie gibt wieder, dass es sich bei ihm um den Präsidenten des Petrograder Sowjets und der Komintern handele. Analog zu den anderen Modellen Sheridans ist auch er scheinbar stark in seine Arbeit eingebunden, wird ihr jedoch trotzdem als Modell „versprochen“.253 Er erfährt eine direkte Charakterisierung durch Sheridan, wobei er als unruhiger Mensch dargestellt wird. Er habe schwarze lockige Haare und die Augen eines Kämpfers. Zudem habe er, laut Sheridan, den Mund einer launischen Frau und erscheint ihr insgesamt wie ein besonderer Mix aus in Konflikt stehenden Persönlichkeiten.254 Zugleich erinnert er sie an einen Poeten255. Sein junges Alter nimmt sie zum Anlass, ihr generelles Erstaunen darüber auszudrücken, dass alle diese Revolutionäre sehr jung wären.256 3.3.1.7

Georgij V. Čičerin

Während Sheridan noch an der Büste Trockijs arbeitet, wird ihr von diesem das auffordernde Angebot unterbreitet, eine Büste Čičerins anzufertigen.257 Bis zu diesem Zeitpunkt findet dieser in Sheridans Tagebuch bereits dreimal kommentarlos Erwähnung.258 Nach anfänglicher Ablehnung 249 250 251 252 253 254 255 256 257 258

Vgl. ebd. S. 23. Vgl. ebd. S. 16, 23. Vgl. ebd. S. 47. Vgl. ebd. S. 63. Vgl. ebd. S. 70. Vgl. ebd. S. 83. Vgl. ebd. S. 84. Vgl. ebd. S. 84. Vgl. ebd. S. 142. Vgl. ebd. S. 24, 60, 86.

3.3 Russische Mitwelt

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dieses Angebots stimmt sie zu und doch kommt eine Sitzung aufgrund zeitlicher Engpässe auf Seiten Čičerins letztlich nicht zustande. Im Gegensatz zu ihren anderen Modellen lässt Sheridan eine eingehende Beschreibung von Čičerins Gesichtsphysiognomie aus. Stattdessen beschreibt sie jenes Äußere, das sie im ersten Moment an ihm wahrgenommen hat und vergleicht ihn in diesem Zug mit einem „Nachtwächter“ (night watchman).259 Nachdem für Sheridan endgültig feststeht, dass Čičerin dem vereinbarten ersten Treffen nicht beiwohnen wird, notiert sie, was sie über ihn weiß und wie sie ihn erlebt hat.260 Sie schreibt, dass man ihn mit einem Engel oder einem Heiligen vergleicht, kontrastiert diese Darstellung jedoch umgehend mit ihrer Wahrnehmung als einen „unruhigen, aufgescheuchten Vogel“261 und kann nicht verstehen, weshalb er gemeinhin als Gentleman der Partei betrachtet wird262. Sie gibt zudem Informationen von Litvinov über Čičerins Tagesablauf und sein Verhalten wieder.263 3.3.2

Mitbewohner und Mittelsmänner

Abgesehen von den „bolschewistischen Modellen“ trifft Sheridan bereits auf der Fahrt und in Russland mit anderen Menschen zusammen. Es handelt sich neben den Modellen um jene Mitwelt, in der sie sich zumeist und zunächst in Russland aufhält, Menschen, die sie im Alltag umgeben. Diese werden von Sheridan namentlich genannt und gehören zum großen Teil der politischen Öffentlichkeit Russlands an. 3.3.2.1

Maksim M. Litvinov

Viel Erwähnung erfährt Maksim Litivinov, ein Mitbewohner Sheridans im Gästehaus. In der Darstellung ihrer ersten Begegnung auf der Hinreise zeigt sich, dass sie ihn bereits vom Hörensagen kennt und ein Bild vor Augen hat, das in ihren Aufzeichnungen in einem Satz vermerkt

259 260

261 262 263

Ebd. S. 158. „He is an abnormal man, living month after month in that Foreign Office with closed windows and never going out. He insists on having a bedroom there, as he says he has not time to go home to sleep.“ (Ebd. S. 159.) Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 170.

276

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wird. 264 Die für Sheridan untypisch kurze Wiedergabe des Äußeren spricht dafür, dass Litvinov für sie nicht als Modell in Frage kommt. Sein Äußeres wird durch Charaktereigenschaften265 und das Bild, das in Großbritannien von ihm kursiert 266 , ergänzt. Die Aufnahme von Litvinovs Selbstwahrnehmung rundet die Charakterisierung ab. 267 Am 15. Oktober zieht Litvinov in Sheridans Gästehaus ein und der Tagebucheintrag zeigt ihre Freude über das Wiedersehen.268 Von nun an verbringen die beiden viel Zeit miteinander269 und Litvinov übernimmt die Rolle Kamenevs in organisatorischen Angelegenheiten. 270 Generell scheinen ihre Gespräche am gemeinsamen Wohnort stattzufinden. Letztmalig wird Litvinov im Tagebucheintrag vom 6. November erwähnt. Ohne weiter darauf einzugehen, gibt Sheridan seine letzten Worte an sie indirekt wieder: Geheimnisvoll gibt er an, dass er ihr ein besserer Freund gewesen wäre, als sie vermutet haben könnte, behält sich jedoch eine Erklärung für diese kryptische Aussage vor.271 3.3.2.2

Michail M. Borodin

Eine weitere Begegnung, die Sheridan in ihrem Tagebuch festhält, ist jene mit Michail M. Borodin. Obwohl sie seit dem 22. September im Gästehaus wohnt, unterlässt sie es zu erwähnen, wer ihre eigentlichen Mitbewohner sind. Borodins erste Erwähnung findet sich im Eintrag vom 27. September.272 Hier beschreibt sie sein Äußeres und, dass sie ihn aufgrund seiner Arbeitszeiten bisher selten gesehen hätte.273 In Borodin, einer der „Diplomaten“, findet Sheridan einen echten Kommunisten, der im Rahmen seiner ersten Erwähnung im Tagebuch indirekt durch die Wieder264 265 266 267 268 269 270 271

272 273

„I had visualized a small, sharp-faced, alert man. Instead I found a big, square, amiable, smiling man.“ (Ebd. S. 43.) Vgl. ebd. S. 150 f. Vgl. ebd. S. 150. Vgl. ebd. S. 171. „Our pleasure at seeing each other again was mutual and spontaneous. He is coming to stay at our house, and will occupy the vacated room of Borodin.“ (Ebd. S. 122.) Vgl. ebd. S. 150, 158, 161. Vgl. ebd. S. 125, 130, 154, 181, 186. „He then aroused my curiosity by telling me that he had been a better friend to me than I should ever know. I begged him to explain, but he said that I must wait ten years or so.“ (Ebd. S. 190.) Vgl. Sheridan, RP. S. 86. „I have not seen much of him as he works half the day and all the night, like the other Foreign Office officials.“ (Vgl. ebd.)

3.3 Russische Mitwelt

277

gabe seiner Fragen zu Sheridans wirtschaftlichen Lebenssituation charakterisiert wird.274 Sheridan beschließt diese erste Beschreibung mit ihrer Einschätzung seiner Person als geheimnisvoll.275 Im Laufe der gemeinsamen Zeit – er hält sich bis zum 14. Oktober im Gästehaus auf und geht am 15. Oktober als Botschafter nach Madrid – offenbaren sich seine strikten Prinzipien als Kommunist: Ob es sich um die Bewirtung von H. G. Wells handelt276 oder seine Reaktion in Bezug auf Sheridans Begegnung mit einem vermeintlichen Konterrevolutionär277, immer stellt Sheridan Borodin als kompromisslos in seiner Haltung und seinen Handlungen dar. So kommt es, dass sie ihn letztlich „diesen seltsamen Kommunisten-Revolutionär“ (that strange Communist-Revolutionary) nennt.278 Sheridans soziale Herkunft wird durch ihn stärker als durch andere Kommunisten herausgefordert. Ohne dies täglich im Tagebuch zu thematisieren, finden zwischen den beiden Gespräche politischer Art statt279, die Sheridan bisweilen dazu anregen, sich Gedanken über ihre Haltung zum Kommunismus zu machen.280 3.3.2.3

Nikolaj A. Andreev

Als weiterer temporärer Begleiter gesellt sich der Bildhauer Nikolaj Andreev zu Sheridan. Er wird ihr durch Kamenev zu Beginn ihres Aufenthaltes in Moskau als professioneller Bildhauer zur Seite gestellt.281 Er hat „typisch russische“ Gesichtsmerkmale282 und weist Sheridan, noch bevor sie dies selbst feststellen kann, auf die Schwierigkeiten hin, die er einst bei dem Unterfangen hatte, Lenin zu modellieren283. Ihr gemeinsames Thema ist die Kunst und so erfährt Sheridan von ihm etwas über die „schwierigen Umstände“, denen er als bildender Künstler in Russland ausgesetzt ist284 274

Vgl. ebd. S. 87. „Borodin mystifies me, I cannot make out, when all his questions have been answered, what he thinks.“ (Ebd.) 276 Vgl. ebd. S. 101. 277 Vgl. ebd. S. 98, 100 f. 278 Ebd. S. 122. 279 Vgl. ebd. S. 104. 280 „Now Borodin unfurled his Communist spirit to me slowly, because he knew me, and to what I belonged, and he realised that the thing hurled at me in a crude mass would stagger me.“ (Ebd. S. 122.) 281 Vgl. ebd. S. 88. 282 Vgl. ebd. 283 Vgl. ebd. 284 Vgl. ebd. S. 89. 275

278

3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

und auch über den Wert, den Geld im postrevolutionären Russland besitzt285. Gemeinsam besuchen sie Galerien im Kreml, Kunstschulen und Ausstellungen von Arbeiterkunst. 286 Mit ihm lernt sie die künstlerische Seite der Stadt kennen, verbringt mit ihm an den Tagen Zeit, an denen sie nicht arbeitet. 287 Neben indirekten Charakterisierungen finden sich auch direkte Charakterisierungen seiner Person durch Sheridan selbst.288 3.3.3

Bekannte und unbekannte Mitwelt

Abgesehen von den sie temporär umgebenden Modellen und Mitbewohnern äußert sich Sheridan auch zu Menschen, denen sie im Umgang in der russischen Welt oder auch auf der Hinreise begegnet. Die hier involvierten Mitmenschen lassen sich grob in Befürworter des politischen Systems und seiner Umsetzung kritisch gegenüberstehende Zeitgenossen einteilen. So macht Sheridan Bekanntschaft mit zwei durchaus überzeugten Kommunistinnen, die sie auf ihre je eigene Art und Weise „anleiten“: zum einen mit der Aufforderung in England, „Gutes über Russland“ zu erzählen289, zum anderen mit dem Hinweis auf Sheridans Äußeres, dass sich ein roter Stern als Anstecker und weiße Handschuhe nicht vertragen würden290. Auch die Bekanntschaft mit der namentlich genannten und bekannten Angelica Balabanov nimmt Sheridan auf: Mit der Aussage, dass auch vor der Kunst alle Menschen gleich seien, trifft Balabanov Sheridans Künstlerstolz empfindlich, offenbart damit jedoch auch unumwunden ihre prokommunistische Haltung.291 Abgesehen von oben bereits genannten Kommunisten stellen diese drei Begebenheiten die Ausnahme dar. In der Anführung von Bekanntschaften mit Kritikern des Systems unterlässt Sheridan die Wiedergabe von Namen und charakterisiert anderweitig, beispielsweise durch Angabe der Profession. So trifft sie auf einen Bediensteten (manservant) 292 , zwei Studenten der Stroganov-Kunstakademie 293 285 286 287 288 289 290 291 292 293

Vgl. ebd. S. 144. Vgl. ebd. S. 91, 92, 93, 165. Vgl. ebd S. 94 f., 161. Vgl. ebd. S. 89. Vgl. ebd. S. 46. „One, she said, contradicted the other; the white gloves were bourgeois.“ (Ebd. S. 74.) Vgl. ebd. S. 118. Vgl. ebd. S. 72. Vgl. ebd. S. 76 f.

3.3 Russische Mitwelt

279

und auf der Rückfahrt nach England einen Eisenbahnexperten, „einen charmanten Mann, der D--- heißt“ (a charming man called D---)294. Zwei weitere Begegnungen notiert Sheridan, unterlässt es jedoch auch hier, die Unbekannten namentlich zu bezeichnen.295 Die zweite dieser beiden Personen, der sie zufällig bei einem Truppenaufmarsch auf dem Roten Platz begegnet, beschreibt Sheridan flüchtig. 296 Dieser Fremde gibt ihr zufolge scheinbar „rein konterrevolutionäres Zeug“ wieder und sie wundert sich, dass er sich dies vor dem Hintergrund der jubelnden Masse auf dem Roten Platz traut.297 Er will Sheridan für seine Anschuldigungen gegen das sowjetische Regime Beweise liefern und lädt sie ein, sich die „andere Seite“ (the other side) von ihm zeigen zu lassen. 298 Nach anfänglichem Interesse schlägt sie letztlich sein Angebot aus, obwohl der Unbekannte sie zwei Tage später im Gästehaus aufsucht, um die versprochene Aufdeckung der wirklichen Gegebenheiten vorzunehmen.299 Sie wendet damit bewusst oder unbewusst eine für sie durchaus verfängliche Situation ab, die ihr ebenfalls den Vorwurf der Konterrevolution hätte einbringen können.300 Resümee Alltägliche Gegebenheiten zeigen sich bei Sheridan nicht als isolierte Fakten, sondern zumeist im Kontext ihres selbst erlebten Alltags. Ausdrücklich in Erfahrung gebrachte und außerhalb ihrer persönlichen Belange stehende Sachverhalte zum postrevolutionären Russland fehlen größtenteils. Dies kann auch als Begründung gesehen werden, weshalb sie keine Aussagen über Errungenschaften in puncto Erholung und den Umgang mit Hilfebedürftigen trifft – mit solcherlei Angelegenheiten kam sie gemessen an ihrem Umgang nicht in Berührung. Sheridans Neugier auf das „wahre Russland“ ist im Vergleich zu anderen Reisenden wenig ausgeprägt. So zeigt sich ihre eher passive Haltung gegenüber dem Fremden im Kontrast zur Herangehensweise H. G. Wells’, der ihr zufolge

294 295 296 297 298 299 300

Vgl. ebd. S. 191. Vgl. ebd. S. 94, 96 ff., 100. „[…] the man was young, and, though ill-shaved, was well-dressed in uniform.“ (Ebd. S. 96.) Vgl. ebd. S. 97. Vgl. ebd. S. 97 f. Vgl. ebd. S. 100. Vgl. ebd. S. 98.

280

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durch aktive Suche an Informationen gelangt.301 Sheridans Art, die Atmosphäre eines Ortes durch die Hingabe an „dumpfe Routine und Arbeit“302 aufzunehmen, schließt die aktive Suche nach dem Unbekannten aus, da dies ein Durchbrechen des Alltags darstellen würde. Bei jenen Informationen, die nicht, wie größtenteils, durch ihren eigenen alltäglichen Erfahrungshorizont gespiegelt werden, handelt es sich zumeist um zugetragene Informationen zweiter Hand. Nicht immer geschieht dies auf aktive Nachfrage ihrerseits, häufig spielen Zufälle und das Mitteilungsbedürfnis ihrer russischen Mitmenschen eine Rolle. Bezeichnend ist, dass das Bild, das sie von der russischen Welt wiedergibt, zuweilen stark von ihrer jeweiligen Tagesstimmung abhängt. So beschwert sie sich am 03. Oktober im Rahmen eines Eintrages, der das erfolglose Unternehmen, Lenin zu modellieren, thematisiert, über das schlechte Essen, nicht verfügbare heiße Bäder und den schlechten Zustand der Straßen. Sie resümiert, dass man in diesem Land unbedingt eine Aufgabe bräuchte (One must have work to do.)303. Dies steht im Kontrast zu diversen anderen Einträgen, an denen sie das soziale und kulturelle Leben lobt – immer dann, wenn sie Erfolge in ihrer Arbeit verzeichnen konnte.304 Die Gegebenheiten des täglichen Lebens sind letztlich immer dieselben, doch werden sie abhängig vom Erfolgsgrad ihres Vorhabens bewertet. Ihr Maßstab bleibt ihre Arbeit.305 Ihre Einschätzung der (alltäg301

302 303

304

305

„H. G. [Wells, d. Vf.] may learn a lot of facts about schools and factories and things, but it is only by living a life of dull routine and work, even of patient inactivity and waiting, that one absorbs the atmosphere.“ (Ebd. S. 103.) – Vgl. auch Wells’ verdeckten Hinweis auf Sheridan: „The Moscow Guest House, which we shared with Mr. Vanderlip and an adventurous English artist who had somehow got through to Moscow to execute busts of Lenin and Trotsky, was a big, richly-furnished house upon the Sofiskaya Naberezhnaya (No. 17), directly facing the great wall of the Kremlin and all the clustering domes and pinnacles of that imperial inner city.“ (H. G. Wells, Russia in the Shadows. London 1921. S. 126.) Vgl. Sheridan, RP. S. 103. „I have been five days out of work. [...] Perhaps I should be calmer if I had already accomplished Lenin, but my anxiety is lest I should have to wait weary weeks.“ (Ebd. S. 98 f.) „I am happy, I am happy! I sing when I wake in the morning, I sing when I wash in cold water, I come down to my breakfast of black bread with a lighter step!“ (Ebd. S. 150) „The relief of having accomplished him [i.e. Trockij, d. Vf.] as well as Lenin is indescribable. I wake up in the night and wonder if it is true or a dream. Now I am completely happy. I have achieved my purpose. I have proved myself to these people, and they in return have proved their belief in me by their trouble and courteousness. I am

3.3 Russische Mitwelt

281

lichen) russischen Gegebenheiten hängt folglich mit ihrer Aufgabe als Künstlerin in Russland zusammen und muss auch in diesen Zusammenhängen verstanden werden. Topoi

Die weltlichen Gegebenheiten ergeben zusammenfassend ein Bild, das Russlands ökonomische Armut und Rückständigkeit offenbart 306 . Dies steht in Kontrast zu Sheridans abschließendem Lob der geistigen Freiheit, die sich ihr in Russland zeigt.307 Sheridan verzichtet nicht darauf, den Grund für die ökonomische Misere darzulegen: Schuld ist ihrer Meinung nach nicht direkt die Politik, Schuld ist der fehlende Frieden. Den Krieg jedoch führe „nicht Russland mit der Welt, sondern die Welt mit Russland“. 308 Kurz vor Überqueren der russisch-estnischen Grenze schreibt sie, dass es nun zurück gehe, in die „alte Welt der Trinkgelder und Restaurants und der Zivilisation“ (to the old world of tips and restaurants and civilisation).309 Russland wird dieser Welt unmissverständlich nicht zugeordnet und steht damit auch außerhalb ihrer kulturellen Welt. Und doch betitelt sie es im Anschluss zärtlich als „Wunderwelt“ (wonder world).310 Diese Aussage führt zu einem weiteren Topos, der sich im Laufe ihrer Reise entbirgt: Sowjetrussland als Ort geistiger Freiheit. Von der Mitte bis zum Ende ihres Aufenthaltes zieht sie Russland häufig mit dem westlichen Ausland in Vergleich. Hierbei scheint sowohl ihr Heimatland als

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308 309 310

no longer harassed by anxieties and fears. Those who discouraged me in the early days treat me now with respect, consideration and even admiration.“ (Ebd.) Das zeigt sich auch an ihrer Deklarierung einfachster Dinge als „wertvolle Geschenke“ (valueable presents). (Vgl. ebd. S. 136.) „There may be no food for the body, but there is plenty of food for the soul, and I would rather live in discomfort in an atmosphere of gigantic effort, than in luxury among the purposeless.“ (Ebd. S. 175.) – „There is leisure to read, leisure to think, leisure to observe. The big ideas, wide horizons and destruction of all the conventions have taken hold of me.“ (Ebd. S. 176.) – „I do not mean that I am a Communist, nor that I think it is a practical theory, perhaps it is not, but it seems to me, nevertheless, that the Russian people get gratis a good many privileges, such as education, lodging, food, railways, theatres, even postage, and a standard wage thrown in. If the absence of prosperity is marked, the absence of poverty is remarkable. The people’s sufferings are chiefly caused by lack of food, fuel and clothing.“ (Ebd. S. 177.) „Russia is not at war with the world, the world is at war with Russia.“ (Ebd. S. 177.) Ebd. S. 193. Ebd.

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3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

auch der Westen insgesamt einen negativen Gegensatz abzugeben.311 Im Hinblick auf Sheridans kurz vor ihrer Abfahrt aus Russland gezogenes Fazit können die just aufgezeigten Vergleiche eingeordnet werden: Sie dienen der Unterstützung ihrer einhelligen Überzeugung, dass dieses Land mehr als ihr Heimatland ihrem Künstlerdasein einen guten Nährboden bietet. Auch die Andersartigkeit von Mensch und Welt zeigt sich an ihren Aufzeichnungen. Die Bewertung dieser Andersartigkeit ändert sich im Verlauf ihres Aufenthalts. Während die rückständige Andersartigkeit sich anfänglich im Alltag beispielsweise durch nicht vorhandene sanitäre Einrichtungen zeigt, prägt sie sich im Verlauf als etwas Positives aus. Insbesondere in puncto künstlerische Möglichkeiten, Kunstproduktion und -konsumption zeigt sich Russland als Avantgarde und damit dem Westen in vielen Punkten weit voraus. Das „Andere“ wird zur Attraktion. Die Andersartigkeit changiert zudem im semantischen Feld der Romantik. Das ist nicht nur konkret an beschriebenen Assoziationen zum „Sla311

So erwähnt sie die ihr zugetragene Information, dass Napoleon seine Pferde in der St. Basilius-Kathedrale untergebracht hätte und kommentiert damit, dass bei allem, was man über die „Gräueltaten“ (outrages) der Bolschewiki erfahre, diese doch nichts vergleichbar schlimmes getan hätten. (Ebd. S. 99.) Auch kulturell besehen scheint das nachrevolutionäre Russland ihrem Heimatland voraus zu sein, so merkt sie in Betrachtung einer Statue an, dass es in London keine vergleichbar gute gäbe. (Vgl. ebd. S. 95.) Im Rahmen ihrer Ausführungen zum kulturellen Leben in Russland führt sie einen dezidierten Vergleich zu den Verhältnissen in der ihr vertrauten englischen Gesellschaft ins Feld. In diesem fällt einerseits kein gutes Licht auf das englische Publikum, jedoch wird der russische Kunstrezipient in Person des „Arbeiters“ lobend hervorgehoben. Andererseits wird die Qualität englischer kultureller Erzeugnisse bemängelt. (Vgl. ebd. S. 177.) Indirekt fordert sie dazu auf, die „Zivilisation“ abzustreifen und neu zu beginnen – wie sie es in Russland erlebt hat, wie es Lenin predigt und wie es nur durch eine Revolution zustande gebracht werden könne. (Vgl. ebd. S. 178.) Mit dem Wissen, dass die russischen Menschen nicht frei sind und das Land nicht ohne Weiteres verlassen dürfen (dies versinnbildlicht sie ironisch durch „paper pass“ und „identification card“) merkt Sheridan an, dass es doch dieses Land ist, das ihr zum ersten Mal das Gefühl moralischer und geistiger Freiheit vermittelte. Die vermeintlich in England herrschende Freiheit stellt sie mit dem Umstand ihrer eigenen heimlichen Abreise in Frage. Woher Sheridan das Wissen darüber nimmt, dass sie als einheimische Russin das Land nicht verlassen dürfte, bleibt ungeklärt. (Vgl. ebd. S. 179.) Dies steht im Widerspruch zu den tatsächlichen Ausreisemöglichkeiten in der RSFSR. (Vgl. Kerstin Armborst, Ablösung von der Sowjetunion: Die Emigrationsbewegung der Juden und Deutschen vor 1987. Münster 2001. S. 97.) Während Sheridan mit ihrer Reise in die RSFSR „nur“ ihre Reputation auf Spiel setzte, riskierten Einwohner Russlands mit einer (inoffiziellen) Ausreise vermutlich ihre Freiheit bei Rückkehr. (Vgl. Leslie, Cousin Clare. S. 105, 111 ff., 130 ff.)

3.3 Russische Mitwelt

283

ven“ sowie an Vergleichen, denen sie einzelne Personen unterzieht, abzulesen, sondern auch in der verallgemeinernden Charakterisierung der russischen Bevölkerung als eine „melancholische“ und „vom Feuer gereinigte“. Weitere Unterstützung findet dieser Topos in Sheridans Feststellung, dass in Russland ein anderer Umgang mit Zeit herrsche, der auch mit einer besonderen Gelassenheit der Menschen einhergehe. Dies wird von ihr partiell als „typisch russisch“ ausgewiesen. Am eigenen Leib erfährt Sheridan, dass die Dinge letztlich funktionieren und erfolgreich sind und das, obwohl die Uhren anders zu ticken scheinen. Letztlich ist auch dies ein Verweis auf Russland als das „Andere“. Umgang mit der Fremde

Für Sheridan nehmen sich die weltlichen Gegebenheiten scheinbar weniger fremd aus. Der selbst gewählt eingeschränkte Kontakt zu den einfachen Menschen und deren Lebenssituation trägt durchaus zu dem Umstand bei, dass Sheridan viele Fakten über die mangelhafte Versorgung nicht erfährt. Das Russland, das sie kennenlernt, erscheint ihr lebenswert und so resümiert sie zum Ende der Reise darüber, weiter in diesem und/oder für dieses Land zu arbeiten, da es ihr ungeahnte geistige Freiheit offeriert. Damit deutet Sheridan das Fremde, das sich im Rahmen ihres Alltags zeigt, als Option, das Eigene zu ergänzen und eigene Möglichkeiten zu entdecken und auszuschöpfen312: „Fremderfahrung ermöglicht in diesem Zusammenhang Selbsterfahrung im Sinne eines Aufdeckens von Lücken, Fehlstellen oder, wenn man will, auch von ‚Fehlern‘“. 313 Gleichwohl die Autorin an einzelnen Stellen die Andersartigkeit Russlands betont und teilweise zugibt, dass sie über bestimmte Sachverhalte keine Kenntnis hat, betrachtet sie das Fremde „für sich selbst“ als Ergänzung. Ungeachtet ihrer mehrmaligen Betonung, dass sie keine Kommunistin und generell unpolitisch sei, zeigt sich ihr Russland aus gegebenem Grund als künstlerischer locus amoenus und damit als Alternative zu ihrem Heimatland Großbritannien. Zum Ende ihrer Reise resümiert Sheridan über das Phänomen des Bolschewiken und setzt ihn in den Vergleich zum „Anti-Bolschewiken“ (the anti-Bolshevik) 314 . Verallgemeinernd charakterisiert sie „den Bolschewik“ als eine „neue Erscheinung“ (new phenomenon)315, während der „An312 313 314 315

Schäffter, „Modi des Fremderlebens“. S. 22. Ebd. S. 23. Vgl. Sheridan, RP. S. 201. Ebd.

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3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

ti-Bolschewik“, der in dieser Aussage als Sinnbild des kapitalistischen Westens erscheint, für sie eine immerwährende Wiederholung des Vergangenen darstellt, das einzig reaktionäre Kräfte in sich berge. Die Entstehung des „Neuen“ hat Sheridans Meinung nach einen tieferen Grund als bloße „Propaganda“ oder „Verschwörungen“ und kann evolutionär anhand von Ursache und Wirkung in einer Gesellschaft nachvollzogen werden.316 Abschließend betrachtet – und dies untermauert Sheridan mit einem Zitat aus Modern Russia 317 – ist solch eine Revolution keine Erfindung einzelner Personen, sondern das „Gesetz von Evolution und Veränderung, das sich in bestimmten Teilen der Erde zeigt“ (it is the law of evolution and change that is demonstrating in certain parts of the earth).318 Das hier von Sheridan zitierte Buch mag zwar das Ergebnis revolutionärer Überlegungen sein, betrachtet man jedoch den politischen Hintergrund des Zeitpunkts der Veröffentlichung, das Jahr 1913, sowie die Personalien des Autors, wirkt es im Jahr 1920 nurmehr anachronistisch; ebenso wirkt das Zitat, das Sheridan einflicht. Der Wandel der sozialistischen Theorie in eine zum Teil bereits sehr repressive Praxis scheint von Sheridan nicht in seiner Wirklichkeit wahrgenommen worden zu sein und so bezeugt sie mit diesem Zitat ein weiteres Mal ihre Unkenntnis der Gegebenheiten. Die Autorin scheint weder einen tieferen Einblick in die Revolutionsgegebenheiten bekommen zu haben noch scheint eine persönliche Auseinandersetzung mit dem ihr bekannten „La Terreur“319 durch die Čeka stattgefunden zu haben. Andernfalls würde sie nicht Revolution und Evolution gleichsetzen.320

316 317 318

319 320

Ebd. Gregor Alexinsky, Modern Russia. London 1913. Sheridan. RP. S. 202. – „Aleksinskii, Grigorii“. In: Online Archival Search Information System (OASIS). Harvard University Library. Online verfügbar unter http://oasis.lib.harvard.edu/oasis/deliver/~hou00147 (abgerufen am 01.02.2018). – Bei Aleksinskijs Modern Russia handelt es sich um eine 1913 erstmals in englischer Sprache erschienene Abhandlung über unterschiedliche, von Politik und Gesellschaft umfasste Sachverhalte. Gregor Aleksinskij (1879–1967) selbst war Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Russlands und der 2. Duma (1907) und ein Gegner der Bolschewiki. Nachdem diese 1917 die Macht ergriffen hatten, galt er als Konterrevolutionär und emigrierte nach Frankreich, von wo aus er sich der Weißen Armee anschloss. Sheridan. RP. S. 27. Die von Sheridan zitierten Zeilen befinden sich bei Alexinskys Modern Russia im Buch IV („The Political Conflict“), Kapitel I „The Russo-Japanese War and the Revolutionary Crisis“ (S. 231–249). S. 234.

3.3 Russische Mitwelt

285

Mitwelt

Insbesondere in der Darstellung ihrer Modelle zeigt sich Sheridans Profession als Künstlerin: Sie betrachtet die sie umgebenden und zu modellierenden Menschen in ganz eigener Art und Weise. Neben der Tatsache, dass sie detaillierteste Beschreibungen der physischen Merkmale ihrer Modelle vornimmt, benutzt sie, bewusst oder unbewusst, eine eigene Sprache, um die Menschen, die sie modelliert, darzustellen. Die schriftliche Beschreibung der Modelle impliziert, dass die Künstlerin ihre Modelle zuweilen nicht mehr als ganzheitliche Persönlichkeiten, sondern als dienliches Material für ihren Arbeitsprozess wahrnimmt. Ungeachtet der Tatsache, dass es sich um die politischen Führungspersönlichkeiten Russlands, eines im Jahre 1920 in einer brisanten politischen Gemengelage mit Großbritannien befindlichen Landes, handelt, entwirft Sheridan ein teilweise verzerrendes und verunglimpfendes Bild der tatsächlich existierenden Menschen. In ihren Aufzeichnungen werden die Menschen zu Modellen und damit als Mittel zum Zweck für Sheridan umfunktioniert – im engsten Sinne als Mittel zur Herstellung des Werkes (ihrer Büsten). Die Personen funktionieren in Sheridans Tagebuch als Körper, die es mimetisch nachzuahmen gilt. Es sind mithin nicht die charakterlichen Eigenschaften der jeweiligen Person, sondern viel öfter physiognomische Attribute, welche die Künstlerin von Zeit zu Zeit lobend hervorhebt oder aber als ursächlich für einen müßigen Arbeitsprozess benennt, so beispielsweise Trockijs „dreifache Persönlichkeit“ (triple personality)321. Obwohl Sheridan diese Aussage umgehend relativiert322, bleibt sie als auslegbare Tatsache im Tagebuch stehen. Insbesondere in den Aufzeichnungen über Trockij zeigt sich Sheridans eigenmächtige Deutungshoheit. So thematisiert sie seine Sehschwäche, die dazu geführt habe, dass der ihm typische Kneifer mittlerweile ein Teil von ihm geworden sei323. Sie gibt sein Bekenntnis, dass er sich ohne den Kneifer „entwaffnet“ und „total verloren“ (désarmé and absolutely lost) 321

322

323

Vgl. Sheridan, RP. S. 13 [Kamenev], 80, 106 [Lenin],S. 140, 147 [Trockij] – „The reason I have found him [Trockij, d. Vf.] so much more difficult to do than I expected, is on account of his triple personality.“ (Ebd. S. 149.) „He is the cultured, well-read man, he is the vituperative fiery politician, and he can be the mischievous laughing school-boy with a dimple in his cheek. All these three I have seen in turn, and have had to converge them into clay interpretation.“ (Ebd. S. 149.) Vgl. ebd. S. 140.

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3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

fühle in indirekter Rede wieder und schreibt auch die Wirkung auf sich selbst nieder: Er erscheint ihr mit seinen halbgeschlossenen Augen hilflos 324 . Gleichzeitig bedauert sie diese Augmentierung durch einen Kneifer, da dieser Umstand einen, das heißt Trockijs, „ansonsten klassischen Kopf“ (otherwise classical head)325 ruiniere. Von Bela Kun326, einem weiteren potentiellen Modell, ist sie „fürchterlich enttäuscht“ (frightfully disappointed), weil sie sich eine romantische Figur vorgestellt habe, Kun in der Realität jedoch höchst „unrühmlich“ (disreputable)327 aussähe. Kalinins328 Kopf sagt ihr zu, da er dem bäuerlichen Typ entspräche, den sie gern herstellen wollte.329 Dass Sheridan die bolschewistischen Führungspersönlichkeiten Trockij und Lenin als Urbild für ihre Büsten wahrnimmt, zeigt sich nicht zuletzt an ihrer Reaktion auf das anfängliche Nichtzustandekommen von gemeinsamen Sitzungen. Das Porträtwerk erfordert als Abbildung per se ein Urbild. Dieses kann sowohl in Form einer Fotografie als auch als lebendiges Modell begegnen. Aufgrund dieser für das Porträtschaffen ursächlichen Verbindung wird das menschliche Modell ungeachtet seines Subjektseins zum notwendigen Objekt im Arbeitsprozess, das im besten Falle dienlich auf die Werkentstehung einwirkt.330 Wenn Objekte im Arbeitsprozess fehlen – und dies ist der Fall bei den auf Textebene zu Objekten deklarierten Modellen – wird die Herstellung des Werkes verunmöglicht. Insbesondere zu Beginn ihres Moskauaufenthalts ist es Sheridan daher auch versagt, ihre Aufgabe durchzuführen, und so wird 324 325 326

327 328

329 330

„While he was standing there helplessly with half-closed eyes […].“ (Ebd.) Ebd. Béla Kun (1886–1939) war ein aus Österreich-Ungarn stammender Sozialrevolutionär, der während des Ersten Weltkrieges (1916) als Kriegsgefangener nach Russland kam. Hier schloss er sich den Bolschewiki an und gehörte ab 1917 der KP Russlands an. (Vgl. „Kun“. In: Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija. A. M. Prochorov (Hg.). Bd. 13. Moskau 1973. S. 606-607.) Ebd. S. 88. Michail I. Kalinin (1875–1946) war ein Sozialrevolutionär der ersten Stunde. Nach der Ermordung von Jakov Sverdlov wurde er Vorsitzender des VCIK der RSFSR. Von 1925 bis zu seinem Tod war er Mitglied des Politbüros des ZK der KPdSU. (Vgl. „Kalinin“. In: Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija. A. M. Prochorov (Hg.). Bd. 11. Moskau 1973. S. 207–208.) Vgl. Sheridan, RP. S. 180. Dass bestimmte räumliche Umstände zu einer erschwerten Arbeit führen, zeigt sich an Sheridans Aufzeichnungen sehr gut, da sie sich nicht selten über schlechte Licht- oder Temperaturverhältnisse beschwert, die sich negativ auf den Arbeitsprozess und auch auf das Modell auswirken.

3.3 Russische Mitwelt

287

der Grund der Reise331 in Frage gestellt. Anfänglich zeigt sich die Unmöglichkeit der Durchführung in einer von anderen kommunizierten Vorahnung 332 und nach einigen Tagen des Wartens in Russland 333 erscheint der Autorin selbst die Möglichkeit eines Treffens als fast inexistent und Lenin kommt ihr in Moskau „weiter entfernt vor als er es in England war“334. Sheridan wird durch die Meinung anderer, die nicht an das Zustandekommen eines Treffens glauben, wiederholt in ihrer Hoffnung, Lenin zu modellieren, zurückgeworfen. Ihre Haltung entspannt sich erst mit Lenins Zusage für den ersten Termin: Das Versprochene ist möglich geworden und damit kann sie ihr Werk beginnen.335 Nach Fertigstellung von Lenins Büste vergehen abermals Tage, bevor sie einen Termin mit Trockij bekommt. Die Enttäuschung über das Warten äußert sich in einer Degradierung von Trockijs Bedeutung im Vergleich zu Lenin: „[…] I have done Lenin, and he is the one who counts most. I can go back to England without the head of Trotsky, but I could not have gone without the head of Lenin. I have accomplished what I came for, and so to hell with Trotsky.“336 Auch die „Nichtverfügbarkeit“ Čičerins wirkt sich negativ auf seine Darstellung aus. Seine offensichtliche Unpässlichkeit als Modell für eine Büste äußert sich dann zum einen in einer degradierenden Beschreibung seines Äußeren337, zum anderen in der ironischen Darlegung ihrer Reaktion auf seine verspätete Zusage als Modell338. Auch setzt Sheridan Lenin und Trockij in Bezug auf ihre Wichtigkeit für sie als Künstlerin in Vergleich zu Čičerin. Während Sheridan für Erstgenannte die widrigen Arbeitsbedingungen in Russland in Kauf nimmt, will sie diese für eine Büste Čičerins anfänglich nicht annehmen.339

331 332 333 334 335

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„He said, ‚You can come with me, and I will get you sittings from Lenin and Trotsky.‘“ (Ebd. S. 15.) Vgl. ebd. S. 59, 76, 80, 88. Vgl. ebd. S. 98. „Lenin seems to me further away than he did in London.“ (Ebd.) „It was marvellous news. I went directly to the Kremlin, and with the help of someone from the Foreign Office, got my stands and clay moved from my studio to Lenin’s room. I happily had him built up, ready to work on as soon as the order should come.“ (Ebd. S. 105.) Ebd. S. 122. Vgl. ebd. S. 158, 159. Vgl. ebd S. 160. Vgl. ebd. S. 142.

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3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

Nicht nur an der Beschreibung, auch am Umgang mit den Modellen zeigt sich Sheridans Zielorientiertheit. So hält Sheridan in ihrem Tagebuch fest, dass sie eine Liste von benötigten Dingen (list of requirements) erstellt hat. 340 Hierauf findet sich auch der Eintrag „Trockij“. Sheridan verzichtet darauf, zu notieren, dass sie sich einen „Termin mit Trockij“ wünscht und so findet sich auf dieser Bedarfsliste lediglich sein Name wieder – was ihn auf den ersten Blick objekthaft erscheinen lässt. Des Weiteren zeigt sich an ihren Aufzeichnungen, dass sie im persönlichen Umgang Trockijs höfliche Ergebenheit durchaus zu nutzen weiß: Sie nimmt „ihrem Mann“ (my man)341 den für ihn so wichtigen Zwicker ab und legt dar, wie sie mit einem Messschieber (caliper) sein Gesicht ausmisst342. Zudem bittet sie ihn auf einen plötzlichen Einfall hin, seinen Oberkörper zu entkleiden343. Im Mikrokosmos dieser Situationen scheinen die Machtverhältnisse in zweierlei Hinsicht zugunsten von Sheridans Person beschieden: Erstens hat sie die aktive Rolle als Künstlerin inne und kann dem Modell – sofern dieses willens ist – Anweisungen geben, um dem künstlerischen Ziel näher zu kommen344. Zweitens zeigt sich an ihrer Darstellung im Tagebuch Trockijs äußerst wohlwollende Haltung gegenüber ihrer Rolle als Frau.345 Obgleich das Verhältnis, das, wie Robert Service vermutet, in eine kurze Affäre mündete346, nicht überschätzt werden darf, offenbart sich doch für die Momente der Büstenherstellung Sheridans doppelte Überlegenheit über den amtierenden Volkskommissar für Militärische Angelegenheiten Sowjetrusslands und der damit neben Lenin wichtigsten Person im Staate. Besonders auffällig und zweideutig wird Sheridans Sprache in der Wahl der Benennung der anzufertigenden Büsten. Sheridan benutzt insgesamt 18 Mal das Wort „bust“ und im selben Zusammenhang ebenso oft

340 341 342 343 344 345

346

„I headed my list of requirements with the request for a coat – as well as caviare, Trotsky, and a soldier of the Red Army whom I want to model.“ (Ebd. S. 118.) „I looked at my man, who was bending down, writing at his desk.“ (Ebd. S. 128.) „As I measured him with calipers, he remarked: ‚Vous me caressez avec des instruments d’acier.‘“ (Ebd. S. 129.) Vgl. ebd. S. 148. Vgl. ebd. S. 133, 144. „After a few seconds, realising the absurdity of our attitudes, I had to laugh, and said: ‚I hope you don’t mind being looked at.‘ ‚I don’t mind,‘ he said. ‚I have my revanche in looking at you, and it is I who gain.‘“ (Ebd. S. 128.) Vgl. Service, Trotzki. S. 337 f.; vgl. Leslie, Cousin Clare. S. 116–126 [Duet with Trotsky].

3.3 Russische Mitwelt

289

synonymisch das Wort „head“ 347 . Obwohl die synonymische Verwendung dieses Wortes weder falsch noch unüblich ist, konstruiert Sheridan mit seinem Einsatz in bestimmten Kontexten sehr spezifische Bilder. Ihre verschriftlichten Gedanken zu den anzufertigenden beziehungsweise angefertigten Büsten reichen von der Feststellung, dass sie unbedingt Lenins Kopf in ihren Armen zurück nach London bringen wolle348, bis hin zur Wiedergabe eines Vorfalls auf der Rückfahrt nach England, in dem sie darlegt, wie mit ihrem Transportgut, den Büsten, umgegangen wird. In direkter Rede gibt sie hier den Dialog mit einem estnischen Schiffskapitän wieder349 und legt damit die semantische Vielfalt des Wortes „head“ offen – zum Nachteil der sowjetischen Führungspersönlichkeiten. Implizit bergen die Semantik und der Einsatz des Wortes „head“ zudem die historischen Stoffe „Salome“ und „Judith“. Die diesen beiden Stoffen zugrunde liegenden Legenden thematisieren die Ermordung eines Mannes durch eine Frau, wobei sowohl die Tötung durch Enthauptung als auch die je weibliche Akteurin analoge Elemente darstellen. Im Falle Salomes ist es der stellvertretend für ihre Mutter geäußerte Wunsch nach Ermordung des Täufers Johannes.350 Bei Judith dient die Enthauptung des assyrischen Generals Holofernes gemäß biblischer Übertragung der Errettung des Volkes Israel.351 Beiden Fällen liegt die Stärke der weiblichen Verführung zugrunde, die gleichermaßen die Schwäche politischer Akteure kennzeichnet. Mit ihrer Wortwahl fokussiert auch Sheridan die „Köpfe“. Obwohl der Leser weiß, dass es sich um die Büsten handelt, werden bei der ganz besonderen Kontextualisierung des Wortes „Kopf“ diese Legenden assoziativ evoziert. So lässt sich Sheridan in diesem übertragenen Sinn als Verführerin und mithin sogar Märtyrerin verstehen. Die Folgen dieser 347 348 349

350

351

Vgl. Sheridan, RP. bspw. S. 99, 122, 195. „I claimed an artist’s zeal in wishing to do a bust of Lenin and to bring his head back in my arms.“ (Ebd. S. 32.) – Vgl. auch ebd. S. 99. „‚They contain the heads of Lenin and Trotsky,‘ I exclaimed. The Captain looked awfully impressed and pleased, so pleased that I added ‚plaster heads – and breakable.‘ – ‚A plaster head of Trotsky – and breakable? – Come on! let us break Trotsky’s head,‘ and he made towards it threateningly, much to the amusement of the onlookers.“ (Ebd. S. 195 f.) Vgl. Hartmut Böhme, „Die Enthauptung von Johannes dem Täufer.“ In: Glaube Hoffnung Liebe Tod. Ausstellungskatalog Wiener Kunsthalle/Albertina. Christoph Geissmar, Eleonora Louis (Hg.). Klagenfurt 1995. S. 379–384. S. 379.; vgl. Elisabeth Frenzel, Stoffe der Weltliteratur. Das Lexikon dichtunggeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart 2005. S. 445. [Johannes der Täufer] Vgl. Frenzel, Stoffe der Weltliteratur. S. 461. [Judith]

290

3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

Darstellung fallen auf die porträtierten Bolschewiki zurück, die durch die künstlerische, mitunter sehr unkonventionelle Charakterisierung ihrer Personen den Verlust ihrer medialen Autorität riskieren und damit im weitesten Sinn einen „Gesichtsverlust“ erleiden. Sheridans Darstellungsweise wirft ein neues und weniger respektables Licht auf die in Großbritannien nur vage bekannten Politiker Sowjetrusslands. Sheridans detaillierten Verweisen auf die physischen Unzulänglichkeiten ihrer Modelle ist es geschuldet, dass diese als verletzliche Wesen erscheinen. Sie untermauert hiermit gewissermaßen das Bild, das gemäß Service von den Bolschewiki in Russland und der Welt kursierte, so nämlich, dass sie eine „Bande wildgewordener Nichtsnutze [seien], die es niemals schaffen würde, sich an der Macht zu behaupten“352. Sheridan liefert mit Darstellung dieser menschlichen Seiten der führenden Bolschewiki Beweise für den Zweifel, der am politisch und wirtschaftlich stabilen Fortbestehen des Landes existierte. Neben den „bolschewistischen Modellen“ sind es vornehmlich Kamenev, Litvinov, Borodin und Andreev, die in Sheridans Tagebuch charakterisiert werden. Abgesehen von Kamenev, der sowohl Modell und Mittler ist, erfahren diese keine elaborierte Beschreibung ihres Äußeren. Das unterstützt die Annahme, dass Sheridan die diesbezüglichen Ausführungen über ihre Modelle als zusätzliche schriftliche Abbildung im Zuge der Büstenherstellung unternimmt. Die vier Männer werden als gute Bekannte dargestellt. Aus Sheridans Aufzeichnungen geht hervor, dass sich größtenteils je einer der vier in ihrer Nähe aufhält. Die Unterbringung im Gästehaus und gemeinsam unternommene Aktivitäten lassen vermuten, dass Sheridan weitestgehend unter Kontrolle stand; eindeutige Belege hierfür finden sich nicht. Tatsache ist, dass alle vier eine Art „Verbindung zur Welt“ für Sheridan darstellen, die sich auch aufgrund nicht vorhandener russischer Sprachkenntnisse in Russland in einer abhängigen Situation befindet.353 Wie sich anhand ihrer Aufzeich352 353

Service, Trotzki. S. 244. Die Abhängigkeit offenbart sich auf offizieller Seite gut an Trockijs Frage an Sheridan, wer für sie, den westlichen Gast innerhalb Russlands verantwortlich ist: „‚Are you under the care here of our Foreign Office?‘ I said I was not. ‚But who are you here with? Who is responsible for you?‘ – ‚Kameneff,‘ I said. ‚But Kameneff is at the front.‘ – ‚Yes.‘“ (Sheridan, RP. S. 130.) Nun zeigt sich, dass es Litvinov ist, der als vertrauenswürdige Person in die Verantwortung gezogen wird: „‚Then you are alone? H’m, that is very dangerous in a revolutionary country. Do you know Karahan, Tchicherin’s secretary?‘ – ‚Yes; he is living in our house, so is Litvinoff.‘ – ‚Ah, Litvinoff, I will ring him up.‘“ (Ebd.)

3.3 Russische Mitwelt

291

nungen bereits gezeigt hat, kommt Kamenev eine tragende Rolle zu, die jedoch abnimmt, sobald das Reiseziel erreicht ist. Nun sind es abwechselnd Michail M. Borodin, Maksim M. Litvinov und für eine kurze Zeit auch „Comrade Alexandre“ 354 , die ihr Organisatoren und Gesprächspartner zugleich sind. Als Verbindungsmänner und Gesprächspartner über ihre Erlebnisse und Ideen scheinen Kamenev und Borodin der Autorin von primärer Relevanz zu sein, was sich spätestens an ihren Anmerkungen über den jeweiligen Weggang der Männer aus Moskau ablesen lässt.355 Kamenev weckt in Sheridan ein bis dato nicht vorhandenes Interesse an einer Reise nach Russland. Doch bringt er sie mit dieser Reise in eine Situation, der sie aufgrund ihrer Sozialisierung nicht gewachsen ist. Die Fürsorge, die er ihr im Laufe der Wochen zukommen lässt, gleicht dem, was Heidegger als ein Extrem der Sorge für den anderen auffasst.356 Kamenev „springt“ für Sheridan ein, nimmt ihr die Sorge gleichsam ab, indem er alles für sie regelt. Der andere, für den gesorgt wird, wird zum Abhängigen. Auf Sheridan übertragen heißt das, Kamenevs Hilfe reicht von der Organisation von Arbeitsterminen mit den jeweiligen Modellen, des Arbeitsraums und Arbeitsmaterials bis zur Beschaffung von Kleidung und einer Unterkunft. Gemeinsame Zeit verbringt sie mit Nikolaj Andreev. Seine Art der Fürsorge besteht eher darin, ihr die Welt aus Sicht eines Künstlers zu erklären. Durch ihn und mit ihm lernt Sheridan einen für sie als Künstlerin wichtigen Teil Russlands kennen. Nach Heidegger käme dies der Form der Fürsorge gleich, „die wesentlich die eigentliche Sorge – das heißt die Existenz des anderen betrifft und nicht ein Was, das er besorgt 354

355

356

Bei Comrade Alexandre handelt es sich um einen jungen Kommunisten, der Sheridan für die Zeit der Abwesenheit Kamenevs für organisatorische Angelegenheiten zur Seite gestellt wird. („He brought with him a young man with close-cropped hair and clear-cut features, calling himself Alexandre. Kameneff thinks Alexandre may be able to take care of me during his absence. I certainly need someone, as Michael Borodin goes to Madrid on Tuesday, and then I do not know what will become of me.“ (Ebd. S. 117.)) Eher erfolglos in dieser Aufgabe offenbart er Sheridan mit seiner ungeduldigen und hölzernen ideologischen Art unbewusst jedoch die persönlichen Vorzüge Borodins. Mit beiden Männern thematisiert Sheridan den Kommunismus und seine Errungenschaften. Auf eine nähere Erläuterung wird im Rahmen dieser Arbeit verzichtet, da seine Anwesenheit nur marginal von Sheridan thematisiert wird. „I certainly need someone, as Michael Borodin goes to Madrid on Tuesday, and then I do not know what will become of me.“ (Ebd. S. 117.) – „Tonight I regret him, but then I am lonely for the moment – friendless, and this is a place where one needs friends.“ (Ebd. S. 122.) Vgl. Heidegger, Sein und Zeit. S. 122.

292

3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

[...].“ 357 Mit Andreev verbringt sie immer dann Zeit, wenn sie keine „bildhauerischen Aufgaben“ hat, und macht sich so mit der ihr fremden Welt vertraut. Dieses „Miteinandersein“ gründet am ehesten in gemeinsam „besorgten“ Angelegenheiten. 358 Im Falle der Bekanntschaft von Sheridan und Andreev handelt es sich um Besprechung und Beratschlagung über das Künstlerische. Für Sheridan zeigen sich grundlegende Unterschiede im Künstlerdasein in Russland und in England. Andreev bereitet sie auf die sie im Arbeitsprozess zu erwartenden Umstände vor und vermittelt ihr in Gesprächen und gemeinsamen Unternehmungen ein Verständnis für das Künstlerdasein in Russland. Damit lernt sie das Land und auch ihre eigene Position besser zu verstehen. Die Verbundenheit auf professioneller Ebene führt dazu, dass seine Fürsorge Sheridan nicht abhängig, sondern vielmehr für das künstlerische Leben in Russland frei macht. Borodin scheint in seiner Art der Fürsorge eine Mittlerstellung einzunehmen. Er kümmert sich weder um die praktischen Belange ihres Aufenthalts, noch ist er Gesprächspartner für ihre Ideen und die Welt der Kunst. Anhand der Aufzeichnungen zeigt sich, dass er ihr den Blick für die Welt der kommunistischen Ideen eröffnet. Seine konfrontativen Fragen und nur selten klaren Antworten regen Sheridan zum Nachdenken an und setzen gleichsam und letztlich einen Samen, der im Verlauf von Sheridans Moskauaufenthalt aufgeht. Auch hiermit hat eine Form der Fürsorge stattgefunden, die Sheridan sich selbst näher bringt. Sie wird in der gemeinsam verbrachten Zeit durch die Konfrontation geradezu dazu aufgefordert, sich mit den ideologischen Gegebenheiten des Landes auseinanderzusetzen – und das, obwohl sie es als unpolitischer Mensch vehement verweigert. Und so ist sie letztlich, sicherlich auch dank der Gespräche mit Borodin, in der Lage, ein Fazit für sich zu ziehen und ihre eigene Position in dieser, ihr bis dahin fremden Welt zu finden.359 Anhand der Aufnahme von Begegnungen mit systemkritischen Menschen, deren Anzahl im Tagebuch sehr gering ist, zeigt sich zweierlei. Zum einen stellt sich Sheridan in zwei solcher Situationen als diejenige dar, die die vermeintliche Fremdwahrnehmung360 zur Eigenwahrnehmung 357 358 359 360

Ebd. Ebd. Vgl. Sheridan, RP. S. 170 ff. „Kameneff had warned me that most of the artists I should meet would not be Bolsheviks, so that probably the students I met were not, but thought that I was.“ (Ebd. S. 76.) – „Happily I have nothing with which to reproach myself. I adopted a perfectly good

3.3 Russische Mitwelt

293

macht und vor Kritikern des Systems die Ideale desselben verteidigt.361 Dies jedoch vor dem Hintergrund, dass sie bereits im Vorwort und dann wiederholt im Tagebuch zu verstehen gibt, dass sie sich selbst als unpolitisch versteht. Zum anderen sind es diese Begegnungen, die Sheridan die Möglichkeit eröffnen, eine andere Wahrheit, die Wahrheit von Systemkritikern, kennenzulernen und aufzudecken. Jedoch scheint diese Wahrheit Sheridan nicht vordergründig zu interessieren. Möglich ist auch, dass sie diese aus Gründen der Vorsicht meidet oder aber vermeidet, sie schriftlich zu fixieren. Im Rahmen der Unterhaltung mit einer ihr begegnenden Kunststudentin erfährt sie von deren regulären Arbeitszeiten und den scheinbar widrigen Arbeits- und Lebensumständen. Die Wiedergabe der Situation umfasst nicht nur Teile der „anderen Wahrheit“362, sie zeigt auch, dass Sheridan nichts davon verstanden hat363. Diese Aussage, die konkrete Fakten und Ursachen für die Unzufriedenheit verschiedener Systemkritiker ans Licht bringen könnte, bleibt für den Leser schleierhaft, weil sie scheinbar auch für die Autorin schleierhaft war. Trotzdem wird sie in die Aufzeichnungen aufgenommen. Die darauffolgende Aussage eines anderen Studenten, der den Wunsch nach „Erlösung“ aus den aktuellen Umständen thematisiert, wird von Sheridan in direkter Rede wiedergegeben364. So erfährt der Leser von einer Unzufriedenheit mit dem System, doch bleibt unaufgeklärt über die konkreten Missstände, die dazu geführt haben. Abgeschwächt werden diese kritischen Worte zudem dadurch, dass Sheridan an dieser Stelle explizit die „Vorwarnung“ Kamenevs einfließen lässt, dass die meisten Künstler, auf die sie treffen würde, keine Bolschewiki seien. 365 Es bleibt die Frage, warum es Sheridan wichtig war, Dinge zu thematisieren, die sie nicht näher beleuchten wollte oder konnte, und die daher zu keinem Zugewinn an Erkenntnissen über die Gegebenheiten in Russland führen konnten. Alle vermeintliche Kritik zweiter Hand, die das Bild Russlands komplettieren würde, wird bei ihr abgeschwächt und ohne weitergehende eigene Positionierung letztlich nur genannt. Übrig bleibt ein zwar mehrseitiges,

361 362 363 364 365

Bolshevik point of view, and argued in my usual way about wars and blockades, and urged him to have imagination and to look further ahead than today and tomorrow.“ (Ebd. S. 97.) Ebd. S. 77, 97. „rations and distribution and State Control“ (Ebd. S. 76.) „It was obvious that I did not understand the condition of things, and that I looked rather stupid in consequence.“ (Ebd. S. 76 f.) Vgl. ebd. S. 77. Vgl. ebd. S. 76.

294

3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

doch verschwommenes Bild des Landes. Abgesehen von persönlich wahrgenommenen mangelhaften Gegebenheiten zeigt Sheridan an wenigen Beispielen und in kryptischer Ausführung, dass es Unzufriedenheit innerhalb der Bevölkerung gibt. Der Leser wird jedoch im Unklaren darüber gelassen, welche Ursachen dies im Detail hat.

3.4

Die Fremde verstehen – Literarizität des Reisetagebuchs

Everything that one hears and sees here stirs the imagination – my mind is seething with allegories with which to express them, but they are so big that I should have to settle for life on the side of a mountain, and hew out my allegories from the mountain side. 366

Obgleich Sheridans Tagebuch stilistisch dem Vergleich mit Tagebüchern professioneller Schriftsteller, wie Ernst Jünger, Lev Tolstoj oder Thomas Mann367 sicher nicht Stand halten würde, offenbart sich doch eine ästhetische Gestaltung ihres Buches. Bereits als Jugendliche versuchte sie sich an schriftstellerischen Arbeiten, die von namhaften englischen Schriftstellern wie Rudyard Kipling und Henry James vor einem freundschaftlichen Hintergrund kritisch begleitet und begutachtet wurden.368 Vielleicht gründet in diesen frühen Ambitionen auch die Lust an der Gestaltung des Reisetagebuchs. 3.4.1 3.4.1.1

Rhetorik Aufbau des Reisetagebuchs

In der Anordnung der Einträge hält sich Sheridan an die Chronologie, die das Tagebuch poetologisch auszeichnet und die der Reise erst ihre eigentliche Gestalt gibt.369 Sowohl die Einträge als auch die Inhalte sind zumeist chronologisch geordnet. Jeder Eintrag ist mit einem Datum versehen und auch innerhalb der Einträge findet sich die Angabe von Uhrzeiten und Tageszeiten. Und doch finden sich in Form von Anekdo-

366 367 368 369

Vgl. Sheridan, RP. S. 104. Vgl. hierzu Gräser, Das literarische Tagebuch. Vgl. Leslie, „Sheridan, Clare Consuelo“. S. 293. Vgl. Wuthenow, Europäische Tagebücher. S. 165.

3.4 Die Fremde verstehen – Literarizität des Reisetagebuchs

295

ten370, Erinnerungen und Gedanken an die Zukunft die Gegenwart durchbrechende Einheiten. Noch während ihrer Zeit in England nimmt sie ausschließlich tagesaktuelle Ereignisse auf und es scheint, als würde sie in ihrer Heimat England ganz gegenwärtig leben. Erst mit Antritt der Reise halten Gedanken an die Zukunft in Form ihrer Erwartungen an Russland Einzug in ihr Tagebuch. Es ist dies eine Zeit, in der Sheridan das gewohnte und bekannte Umfeld zusehends hinter sich und sich selbst dem Unbekannten überlässt. Bereits im Vorwort schreibt die Autorin: „I have always kept a diary, in monotonous as in eventful days.“371 In erster Linie erfüllt sie mit der Wiedergabe dieses Sachverhaltes den theoretischen Anspruch der gemeinhin an ein Tagebuch gestellt wird: Jeder einzelne Tag des Lebens findet Einzug in das „Buch des Tages“. Dass dies in Praxis nicht immer bewerkstelligt werden kann, zeigt sich auch bei Sheridan, die diesem idealen Anspruch mit ihrem Reisetagebuch nicht gerecht wird. Insgesamt umfasst das Tagebuch 66 TAGE372, getätigt in einem Zeitraum von 97 Tagen (14. August bis 23. November 1920) – es bleiben somit 31 TAGE im Tagebuch „unausgesprochen“ beziehungsweise „ungeschrieben“. Damit werden zwangsläufig gleichermaßen die Fragen nach den „ungeschriebenen“ TAGEN und den Parametern der Auswahl evoziert. Generell lässt sich Sheridans Tagebuch grob in vier Abschnitte unterteilen. Dies sind die Zeit vor ihrer Abreise in London, die Hinfahrt nach Russland, der eigentlichen Russlandaufenthalt und die Rückreise nach London.373 Die Einträge ihrer Zeit in London, die für den Leser als Erklärung beziehungsweise Vorgeschichte zu Sheridans Reise nach Russland betrachtet werden können, belaufen sich auf 15 und stehen 27 Tagen gegenüber (ohne den Tag der Abfahrt). Die eigentliche Hinreise umfasst neun Tage, wovon jedem Tag ein Eintrag gewidmet ist. Für die Zeit, die Sheridan auf russischem Boden verbringt, finden sich 40 Einträge, die 47 verbrachten Tagen gegenüberstehen (19. September bis 06. November) – bis auf einen Tag verbringt sie alle diese Tage in Moskau, kommt hier 370 371 372 373

Zur Anekdote in Sheridans Tagebuch finden sich weitere Anmerkungen in Kapitel II, 3.4.2.2 der vorliegenden Arbeit. Sheridan, RP. S. 7. Dusini nennt den Tagebucheintrag als abgeschlossene Einheit TAG. (Vgl. Dusini, Das Tagebuch. S. 93.) Jede Ortsveränderungen gibt Sheridan einmalig an, was auch bedeutet, dass auf der Hinund Rückfahrt viele Orte benannt werden, während der längere Aufenthalt in Moskau nur einmalig markiert wird. In Moskau kennzeichnet Sheridan lediglich ihre zwei Unterkünfte am jeweiligen Tag des Einzugs: Kreml und Gästehaus. (Vgl. Sheridan, RP. S. 63, 70.)

296

3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

am 20. September an und verlässt die Stadt mit dem Zug am 6. November. Der insgesamt 17 Tage dauernden Rückfahrt nach England sind vier Tagebucheinträge gewidmet. Die meisten Auslassungen finden sich demnach auf der Rückfahrt und auch während der Zeit in London, die vor ihrer Abfahrt nach Russland steht. So umfasst der quantitative Schwerpunkt von Sheridans Tagebucheinträgen die Zeit in Russland und unterstützt damit formal betrachtet die Deklarierung des Werkes als Reisetagebuch. Sheridan gibt schon im Titel des Werkes an, dass es sich hier um eine zweckgebundene Reise nach Russland handelt und leitet das Tagebuch mit der Darlegung des Zustandekommens der Motivation zur Reise ein (erste Einträge in London). In diesen TAGEN macht sich die Fokussierung auf das Ziel, das heißt, die Reise dahingehend bemerkbar, dass die Einträge größtenteils thematisch mit Russland in Verbindung stehen. So beschreibt die Autorin in erster Linie ihr Kennenlernen mit Kamenev, den sie ab dem 17. August nahezu täglich trifft. Hinzu kommen Notizen zu beruflichen Angelegenheiten (als Künstlerin, beispielsweise Beschreibungen der Modellierarbeit an den „bolschewistischen Köpfen“) und auch Gedanken zu ihrer Abreise und damit verbundene Treffen mit Freunden und Familie. Das Thema der Russlandfahrt zeigt sich also bereits vom allerersten Eintrag an. Mit der Abfahrt wird dieses Thema konkreter und aus dem „normalen“ Tagebuch wird mit Blick auf den Inhalt ein Reisetagebuch. Die Kennzeichnung der mit Datum versehenen Einträge durch eine zusätzliche Ortsangabe vereinfacht dem Leser das Wissen über die Reise, untermauert somit die auf der Reise stattfindende Fortbewegung auf den ersten Blick. Die sich zahlenmäßig kongruent gegenüberstehenden Einträge und Tage der Hinfahrt stellen eine erste Zäsur in der Form dar und deuten darauf hin, dass Sheridan das Tagebuch in dieser Zeit des Auftakts zu einer Reise als Ort der Auseinandersetzung mit ihren Gedanken und Beobachtungen sucht.374 Hier finden sich neben Beschreibungen der gegenwärtigen Umstände gleichermaßen Gedanken über die ungewisse Zukunft und die bekannte Vergangenheit.375 374

375

Dies bestätigt die These Klaus Günther Justs: „Die Schreibenden haben den vertrauten Kreis ihrer engeren Heimat, der ihnen allzu begrenzt erscheint, durchstoßen und sind ins Unbekannte aufgebrochen. Die Aufbruchstimmung teilt sich als Impuls in den Niederschriften mit, die in einem Zuge von der Hand gehen. Dieser Aufbruchstimmung, die sich gelegentlich in geradezu hektischen Tönen äußert, steht aber ein Gefühl der Vereinsamung, der Isolation gegenüber, das die ganz und gar unvertrauten Verhältnisse mit sich bringen […].“ (Just, Übergänge. S. 28.) Es findet hier an manchen Stellen eine Gegenüberstellungen ihrer gewohnten Lebenswelt und jener Erfahrungen als Begleiterin führender Bolschewiki statt, bei-

3.4 Die Fremde verstehen – Literarizität des Reisetagebuchs

297

In Russland selbst sind es nur sieben Tage, die Sheridan nicht mit einem eigenen Eintrag versieht. Insbesondere im Eintrag vom 29. Oktober376 versucht Sheridan die vergangenen nicht thematisierten zwei Tage rückblickend zusammenzufassen. In jenen Einträgen, die auf ausgelassene folgen377, nimmt sie keinen Bezug auf die vorweg unerwähnten Tage. Es zeichnet sich jedoch ab, dass die Lücken in den Einträgen auf Zeiten fallen, in denen sie nicht (mehr) an Modellen arbeitet beziehungsweise aufgrund ungünstiger Gegebenheiten und nicht zustande gekommener Termine mit den Modellen nicht arbeiten kann. Sie befindet sich in jenen auf die fehlenden Einträge folgenden entweder in einem nachdenklichen Zustand378 oder hat ihre Aufgabe erfüllt und die anvisierte Arbeit bewerkstelligt379. Die Zeiten, in denen sie arbeitet beziehungsweise mit der Besorgung von Dingen rund um ihr Werk beschäftigt ist, sind nahezu lückenlos vorhanden. Für die 17 Tage dauernde Rückfahrt finden sich vier Einträge. Die geringe Anzahl und die Kürze der einzelnen TAGE raffen die Rückfahrt auf textueller Ebene und dienen als stilistisches Mittel der Darstellung einer kurzen Rückreise. Diese Darstellung wird kontrastiert durch Sheridans eigene Aussage, dass der aktuellen Reisedauer von zwei Wochen eine Dauer von zwei Tagen in der Vorkriegszeit gegenüberstehe.380 Dass es unmöglich ist, sich zu beeilen, um nach England zu kommen, kann auf die eigenartige Zeitwahrnehmung in Russland hinweisen, die durch Sheridans Darstellung durchbrochen wird. Gleichzeitig verweist die geraffte Art und Weise der Darstellung auch darauf, dass das Geschehen um sie herum der Autorin vertraut ist und sie daher möglicherweise keinen Anlass sieht, schriftlich zu reflektieren. Die chronologische Anordnung durchbrechend, fallen in diesem Tagebuch Anekdoten auf, die im Rahmen des Fazits (Eintrag vom 2. No-

376 377 378 379 380

spielsweise Sheridans Gedanken über das Stockholmer Grand Hotel und das schwedische Königshaus. (Vgl. Sheridan, RP. S. 43, 47.) Vgl. ebd. S. 161. Es handelt es sich um die Einträge vom 1., 14., 31. Oktober und 2. und 5. November. (Vgl. ebd. S. 91, 119, 165, 170, 179.) Vgl. ebd. S. 119. [Eintrag vom 14. Oktober] Vgl. ebd. S. 161 ff., 165, 170. [Einträge vom 29. Oktober bis 02. November] Vgl. ebd. S. 199. – Der vor dem Ersten Weltkrieg existierende Luxuszug „NordExpress“ verkehrte zwischen den westeuropäischen Hauptstädten Berlin, Brüssel, Paris, London (via Fähre) und Warschau, Moskau und St. Petersburg. (Vgl. Heeke, Reisen zu den Sowjets. S. 129.) „Der Zug benötigte 1896 für die Strecke von Paris nach St. Petersburg nur 48 Stunden, eine Zeit, die nach dem Ersten Weltkrieg für Jahrzehnte nicht mehr erreicht wurde.“ (Ebd.)

298

3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

vember) auftauchen. Um sich selbst, und durch Veröffentlichung auch dem fremden Leser, noch einmal das Besondere der mit ihr eng in Russland lebenden Menschen zu verdeutlichen, gibt Sheridan verschiedene Situationen wieder.381 In der kurzen und achronologischen Art und Weise der Wiedergabe dieser Situationen liegt das Anekdotische. Hätte Sheridan diese Momente chronologisch in ihr Tagebuch eingegliedert, wären es lediglich einige von vielen Begebenheiten gewesen. So hat sie diese bisher unbekannten, „geheimen“ Vorfälle „als merkwürdige Begebenheit“, zur Charakterisierung einer „Gesellschaftsschicht“ in der der Anekdote eigentümlich „prägnanten Knappheit der objektiven Geschehensdarstellung“382 in ihre Abschlussreflexion über Russland eingebunden und verleiht ihnen damit eine größere Wichtigkeit als anderen in zeitlicher Abfolge geschilderten Situationen. 3.4.1.2

Aufbau der Tagebucheinträge und Selektionsvorgänge

Auch auf Ebene der quantitativen Ausgestaltung von Sheridans Einträgen lassen sich Unterschiede feststellen: So umfassen einige Einträge nur wenige Zeilen383, andere füllen mehrere Seiten und sind gemäß der vorliegenden Paginierung acht bis knapp zehn Seiten lang384. Die Ursachen für die quantitativ besehen unterschiedliche Ausgestaltung der Einträge können vielfältig sein – angefangen von wenig erlebnisreichen oder uninspirierten Tagen bis hin zur fehlenden Schreiblust, Zeitnot oder aber Auslassung persönlicher, nicht für die Öffentlichkeit bestimmter Sachverhalte385. Letztlich zeigt sich hier, dass der „TAG des Tagebuchs […] das Ergebnis einer rigorosen Selektion [ist]. Die unzähligen Wörter, die potentiell für einen TAG in Betracht kommen, finden sich auf einige wenige reduziert.“386 Fakt ist, dass Sheridan hier eine Selektion vorgenommen hat, die sich nicht nur in der Quantität, sondern auch in der Qualität der Einträge zeigt. 381 382 383 384 385

386

Bspw.: „There are little incidents I like to recall that in no way lessen my love of the people.“ (Sheridan, RP. S. 172.) Wilpert, Sachwörterbuch. S. 28. [Anekdote] Vgl. Sheridan, RP. Bspw. S. 160. Vgl. ebd. Bspw. S. 63 ff., 136 ff. [Einträge vom 20. September und 20. Oktober] Gemäß ihrer Biografin Anita Leslie wurde Sheridans Tagebuch vor Veröffentlichung durch ihren Cousin Sir John Randolph Leslie, genannt Shane, revidiert. Ein Brief von ihm an seine Cousine besagt: „Do stick to Art and Literature and leave Politics... and say nothing about poor Winston [i.e. Sheridans anderer Cousin Winston Churchill, d. Vf.]. […] So treat delicately and print nothing that has not passed over my typewriter. – Shane.“ (Leslie, Cousin Clare. S. 130.) Dusini, Das Tagebuch. S. 104.

3.4 Die Fremde verstehen – Literarizität des Reisetagebuchs

299

Im Eintrag vom 18. September387 findet sich neben der Beschreibung der örtlichen und menschlichen Umgebung auch die Wiedergabe direkter Rede – in diesem Fall an die Autorin selbst gerichtete Fragen – und Gedanken zu ihrer aktuellen Situation. Unverblümt zeichnet sie hier auch Gefühle von Einsamkeit und Verlorenheit 388 nach. Der Eintrag vom 20. Oktober 389 umfasst auf circa acht Seiten neben einem Besuch im Pelzdepot das dritte Treffen mit Trockij zum Zwecke der Büstenherstellung. Die ausgiebige Beschreibung von Sheridans Gedanken zu den ihr vorgelegten Pelzen umfasst knapp zwei Seiten, was in Anbetracht der objektiv besehen geringen Relevanz einer solchen Angelegenheiten in einem Reisetagebuch seltsam wirkt, jedoch ein Licht auf die Persönlichkeit und Bedeutungsmaßstäbe der Autorin wirft. Der mit knapp zehn Seiten längste Eintrag findet sich für den 2. November390. Ausgehend von der Notiz, dass sie sich krank fühle und Symptome einer Krankheit aufweise391 nutzt Sheridan diesen Eintrag, um ihre Gedanken über die Zeit in Russland zu sammeln. In ausgedehnter Manier reflektiert sie anhand ihrer Erlebnisse und Erfahrungen ihre Haltung zu Russland. Neben Beschreibungen und direkt wiedergegebenen Aussagen finden sich hier Anekdoten und Gedanken über ihre Erlebnisse, einschließlich der Reflexion ihrer Einstellung und Vergleiche mit vertrauten englischen Gegebenheiten. Insgesamt kann dieser Eintrag als Fazit ihrer Reise betrachtet werden. Zum einen handelt es sich um den drittletzten Eintrag auf russischem Boden, in dem das Ende der Reise sich bereits ankündigt. Die Äußerungen über ihr Verhältnis zu Russland werden durch ihre Erfahrungen, über die die Tagebucheinträge Zeugnis ablegen, authentifiziert. Zum anderen umfasst dieser Eintrag im Vergleich zu vorhergehenden weniger die Beobachtungen des eigentlichen Tages, sondern Gedanken und Reflexionen der Autorin über die Reise und sich selbst. Man kann von einem nahezu idealtypischen Tagebucheintrag sprechen, da die Autorin das Medium hier als Ort der Reflexion des Zusammenstoßes ihrer Selbst mit der Welt nutzt und ihre Schrift damit die nach Just statuierten Grundformen – „das Tagebuch als Spiegel der Seele und [...] als Spiegel der Welt.“392 – erfüllt. 387 388 389 390 391 392

Vgl. Sheridan, RP. S. 53 ff. Vgl. ebd. S. 55, 57 f., 60. Vgl. ebd. S. 136 ff. Vgl. ebd. S. 170 ff. Vgl. ebd. S. 170. Just, Übergänge. S. 30.

300

3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

Den kürzesten Eintrag verzeichnet mit einem Satz der 26. Oktober393. Hier handelt es sich um die Darlegung einer Begebenheit und Sheridans (gedankliche und schriftlich fixierte) Reaktion darauf. Der ironische Unterton kommt durch die Kürze zustande und symbolisiert die Selbstbehauptung der Autorin gegenüber vermeintlicher Willkür. Offensichtlich markiert Sheridan zudem Auslassungen auf Wort und Satzebene. So kürzt sie an verschiedenen Stellen die Namen von Personen auf die Anfangsbuchstaben ab und markiert diese mit (doppelten) Gedankenstrichen. 394 Diese Unkenntlichmachung von Personen dient selbigen zum Schutz. Während die durch Kürzung vorgenommene Verschleierung im Falle ihres „monarchistischen“ Mitfahrers im Sonderzug auf der Rückfahrt (a charming man called D---)395 vor dem Vorwurf antibolschewistischer Haltung geschützt wird, verlieren ihre britischen Bekannten durch eine derartige Verschleierung nicht ihren öffentlichen Ruf. Desgleichen verkürzt Sheridan an wenigen Stellen auch Sätze um eine mitunter wichtige, jedenfalls charakterisierende Aussage. Dies geschieht im Rahmen der Treffen mit Trockij zweimalig.396 3.4.1.3

Verwendung von rhetorischen Mitteln

In Clare Sheridans Tagebuch lassen sich neben Metaphern auch Metonymien und literarische Vergleiche ausfindig machen, die vermutlich unter393 394

395 396

Vgl. Sheridan, RP. S. 160. „At about 5 o’clock S–L–, walked in unexpectedly, and was very surprised and interested to find Kameneff, who was not less interested at hearing from S–L– that Archbishop Mannix is his guest, and I got a good innings at my work while these two talked together.“ (Ebd. S. 17 f.; vgl. auch ebd. S. 11, 17, 18, 32.) Bei S–L– scheint es sich um Sheridans Cousin Shane Leslie zu handeln, der der Einzige aus ihrer Familie war, der im Vorhinein über ihre Fahrt nach Russland in Kenntnis gesetzt wurde. (Vgl. Leslie, Cousin Clare. S. 104.) Sheridan, RP. S. 191. „I said to him: ‚I cannot get over it, how amiable and courteous you are. I understood you were a very disagreeable man. What am I to say to people in England when they ask me:, »What sort of a monster is Trotsky?«‘ With a mischievous look he said: ‚Tell them in England, tell them– ‘ (but I cannot tell them!).“ (Ebd. S. 133.) – „‚Ah! that is what you say now, but when you are away‘ and he hesitated. Then suddenly turning on me, with clenched teeth and fire in his eyes, he shook a threatening finger in my face: ‚If, when you get back to England, vous nous calomniez as the rest have, I tell you that I will come to England et je vous– ‘ He did not say what he would do, but there was murder in his face.“ (Ebd. S. 145.) Für den zweiten Satz liefert die Biografin Anita Leslie den Rest: „‚[...] if you vilify us back in England I will follow you and cut your throat...‘.“ (Leslie, Cousin Clare. S. 125.)

3.4 Die Fremde verstehen – Literarizität des Reisetagebuchs

301

schiedlichen Zwecken dienen, in jedem Falle jedoch eine gewisse Tendenz in der Einstellung der Autorin zur fremden Welt offenbaren. Die Metaphorik, die zur Untermauerung des Bildes der Bolschewiki zur Anwendung kommt, zeigt nicht zuletzt die (ursprüngliche) Haltung der Autorin zum Bolschewismus und seinen Anhängern. Bereits eingangs als „wilde Bestien“ (wild beasts) deklariert, benutzt Sheridan im Zusammenhang mit einem (vermeintlichen) Bolschewiken die Zuschreibungen „wild“ und „blutrünstig“ (savage bloodthirsty Bolshevik) 397 . Auch die Aussage, dass sie sich hier auf das tradiert englische Bild bezieht, vermindert nicht die Schlagkraft dieses Bildes. Das kleinste Gemeinsame beider Metaphern liegt in der vermeintlichen Grausamkeit, Unberechenbarkeit, schlichtweg der Unzivilisiertheit des ideologisierten russischen Menschen. Konkreter wird das Bild noch wenn man jene Vergleiche hinzunimmt, die Sheridan im Rahmen der Arbeit an Trockijs Modell benutzt. Eine Bestätigung des Bildes des unzivilisierten bolschewistischen Menschen findet sich in Sheridans indirektem Vergleich Russlands mit Englands: Mit ihrer auf dem Rückweg getätigten Aussage, dass sie nun zurückkehrt „in die gute alte Welt der Trinkgelder, Restaurants und Zivilisation“ (good old world of tips and restaurants and civilisation) 398 spricht sie Russland den Zustand der Zivilisiertheit ab. Im gleichen Atemzug bezeichnet sie es als „Wunderwelt“ (wonder world)399, ein Begriff, der zumindest zweierlei Assoziationen und Interpretationsoptionen mit sich führt. So deutet er zum einen darauf hin, dass es sich, kurz gesagt, um einen Ort handelt, an dem Träume erfüllt werden und Wunder geschehen400 (im Sinnes eines Zauberlandes), zum anderen, eine Welt, die man, aufgrund ihrer Andersartigkeit und, vor dem Hintergrund des Gewohnten und Bekannten, nicht versteht, über die und in der man sich „nur wundern kann“. Letztlich betont Sheridan mit dieser Metapher die Andersartigkeit und Fremdheit Russlands, das ihr in vielem scheinbar unvertraut und neu erscheint. Diese Idee von Russland als geheimes, rätselhaftes Land findet sich bereits in ihren Aufzeichnungen auf der Hinfahrt nach Russland401. Als sich wiederholende, am Anfang und Ende auftauchende Idee bekommt sie in Sheridans Tagebuch Gewicht. Metaphorisch 397 398 399 400 401

Sheridan, RP. S. 121. Ebd. S. 159. Ebd. Vgl. hier auch die Aussage Kamenevs, dass in Russland „alles möglich sei“. (Ebd. S. 81.) „Mystery lay ahead of us in the new world that is our destination.“ (Ebd. S. 39.)

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und personifiziert stellt die Autorin das Land als Maschine dar, die „langsam, sehr langsam immer kompetenter und freier läuft“ (slowly, very slowly, working with more competence and freedom) 402 . Die Aussage impliziert Sheridans Zuversicht in die wie auch immer geartete Entwicklung des Landes und ihr Wissen darum, dass jedwede Entwicklung Geduld fordert. Metonymisch kann die bereits oben genannte Verwendung des Wortes „head“ für ihre Büsten gedeutet werden. Im Sinne Quintilians steht hier der Besitzer für das Besitztum403. Vornehmlich finden sich literarische Vergleiche „als Stilmittel zur Erhöhung der Anschaulichkeit und Bedeutungsverdichtung“ 404 bei Sheridan im Rahmen der Beschreibung von Menschen und Orten. Mit der Aussage, Trockij hätte ein Gesicht wie „Mephisto“ und er erinnere sie an einen „zähnefletschenden Wolf“ (snarling wolf), führt sie (bewusst oder unbewusst) zwei Vergleiche ins Feld, die das Grausame und Unberechenbare an einem Menschen – zumal einem der wichtigsten im neuen System – unterstreichen.405 Krasin verhalte sich während der Modellsitzung „wie eine Sphinx“406 , wobei Sheridan diese Behauptung begründet. Unbegründet lässt sie die Vergleiche Zinovievs mit einem „Poeten“407, von Borodins „maskengleichem Gesicht“408, Trockijs mit „Scipio Africanus“409 und Trockijs Sohn Serge, der auf sie wirkt wie ein „als Bauer verkleideter Thronerbe“ (the heir to a throne in the guise of a peasant)410. Die äußerlichen Attribute des armenischstämmigen Sekretärs Karachan 411 werden durch Vergleiche untermauert: So

402 403 404 405 406 407 408 409

410 411

Ebd. S. 103. Wilpert, Sachwörterbuch. S. 516. [Metonymie] Ebd. S. 873. [Vergleich] Sheridan, RP. S. 111, 129. Ebd. S. 15 f. Ebd. S. 84. Ebd. S. 86, 131. Ebd. S. 140 – Publius Cornelius, genannt Scipio Africanus Maior (236–183 v. Chr.) war ein den römischen Patriziern entstammender Feldherr und Politiker und erlangte im 2. Punischen Krieg durch den Sieg seines Heeres über Hannibal Berühmtheit (202 v. Chr.). (Vgl. „Scipio“ (1). In: Brockhaus Enzyklopädie. 30 Bd. Bd. 24. Leipzig [u.a.] 2006. S. 712.) Sheridan, RP. S. 67. Lev M. Karachan, (1889–1937) war ein Jurist und sowjetischer Diplomat. Seit 1904 gehörte er der RSDPR an. Im August 1917 wurde er in das Präsidium des Petrograder Sowjets gewählt und war von 1918 bis 1920 Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten. Von 1921 bis 1934 war er als Diplomat in Polen, China und der Türkei.

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sei sein hübsches Gesicht wie aus „Elfenbein gemeißelt“412 und sein Aussehen gleiche einem „reich begüterten Gentleman aus Europa“ 413 . Im Rahmen der Darstellung ihr fremder Menschen und Menschengruppen zieht Sheridan ebenfalls Vergleiche heran, um Bilder zu evozieren: Sie begegnet einem Mann und einem Priester, die aussähen wie Christus414, einem weiteren, der Moses ähnelte 415 und einem nächsten, der auf sie wirkt „wie ein Geist, der einen Ort heimsucht, den er kannte“416. Und während die Menschen in Reval (Estland) sich „wie Schatten bewegten“417, kommen ihr erwachsene Menschen mit ihren beladenen Schlitten im winterlichen Moskau „wie große Kinder [vor], die Spielzeug an das Ende einer Schnur binden“418. Auch manche Orte unterzieht sie Vergleichen. Die Atmosphäre auf einer Bootsfahrt in London fühlt sich an, als sei man in Italien419, das beste Atelier der Stroganov-Kunsthochschule in Moskau erinnert sie an eine „leere Küche, mit Ausblick auf einen öden Hinterhof“420, das größte Pelzkaufhaus Moskaus kommt ihr vor wie eine Höhle: „dunkel und kalt wie Stein“421, und die Versiegelung der Fenster mancher Kremlräume ist ihrer Meinung nach so hermetisch, dass sie ihre Verwunderung über diesen nicht lebenswerten Ort mit der hyperbolischen Frage beschließt, warum die Menschen hier „nicht wie die Fliegen“ 422 stürben. Überhaupt erfährt der Leser gleich bei Ankunft Sheridans in Moskau, dass man hier nicht so „chic“ lebe, wie auf dem Weg dorthin423. Personifiziert wird von ihr eine abendliche Situation umschrieben, in der sie von ihrem Gästehauszimmer aus beobachtet, wie „die Dämmerung hinter dem Kreml hervorkriecht“ (the dusk crawl up behind the Kremlin).424 England wird in einem ihrer „inneren Monologe“ (als unaus-

412 413 414 415 416 417 418 419 420 421 422 423 424

Er fiel den Stalin’schen Säuberungen zum Opfer. (Vgl. „Karachan“. In: Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija. A. M. Prochorov (Hg.). Bd. 11. Moskau 1973. S. 397.) Sheridan, RP. S. 167. Ebd. Ebd. S. 100, 152. Vgl. ebd. S. 136. Ebd. S. 94. Ebd. S. 56. Ebd. S. 164. Vgl. ebd. S. 21. Ebd. S. 76. Ebd. S. 136. Ebd. S. 155. Vgl. ebd. S. 64. Ebd. S. 121.

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gesprochene Antwort auf die direkte Rede eines anderen)425 metaphorisch als „die in ein Leichentuch gewickelte alte Welt“ (just the old world wrapped in a shroud)426 bezeichnet und die aus den Glocken einer Turmuhr am Kreml erklingt ihrer Meinung nach eine Beschwerde: „‚My people are gone! and I am sad, and I am sad.‘“427. Mit eben dieser Feststellung personifiziert Sheridan nicht nur die Turmglocken, sondern fügt die Worte in einen Parallelismus. Desgleichen ordnet sie ihre Aussage über den Eindruck, den Russland auf sie selbst macht: „Russland mit seiner authentischen Art, Russland mit seinen großen Ideen“ (‚[…]Russia with its absence of hypocrisy and pose, Russia with its big ideas […]‘)428. 3.4.2 3.4.2.1

Authentifizierungsstrategien Sprechweisen

Mehrheitlich gibt Sheridan Aussagen anderer indirekt wieder, manchmal vertraut sie jedoch auch auf die Kraft des wortwörtlichen Zitats. Bereits auf den ersten Blick offenbaren sich an unterschiedlichen Stellen in Anführungszeichen notierte Aussagen, die sich als Wiedergabe direkter Rede verschiedener Menschen (die Autorin eingeschlossen), sowohl namentlich benannt als auch unbenannt, erweisen. Bereits im ersten Tagebucheintrag findet sich eine solche direkte Rede von Kamenev: „Mais non! Artists are the most privileged class.“429 Teils auf Französisch, teils auf Englisch offenbart Kamenev ihr die Sichtweise der Sowjetregierung auf die im postrevolutionären Russland existente gesellschaftliche Gruppe der Künstler. Die Bilingualität des Zitats sticht hervor und unterstreicht in dieser Besonderheit seine Echtheit. Das Zitat bildet nicht nur den Auftakt zur eigentlichen Idee der Reise, sondern zeigt auch die Funk425

426 427 428 429

An mehreren Stellen finden sich in Sheridans Tagebuch Äußerungen, die sie „unausgesprochen“ als Antwort oder Kommentar auf Begebenheiten beziehungsweise direkte Rede anderer Personen aufnimmt. Gekennzeichnet sind diese häufig durch Klammern. Obwohl Sheridans Tagebuch ursprünglich einzig sie selbst zum Leser hat werden manchen Aussagen somit hervorgehoben, jedenfalls abgegrenzt und erhalten den Anschein eines Sprechens „ad spectatores fictos“ oder aber eines inneren Monologs. Ebd. S. 39. Ebd. S. 69. Ebd. S. 145. Ebd. S. 12.

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tion von direkt wiedergegebener Rede und von Zitaten als Authentifizierungsinstrument im Reisetagebuch an. Prinzipiell bekräftigen die meisten der von Sheridan aufgenommenen direkten Reden die Echtheit der jeweils beschriebenen Situation: Angefangen beispielsweise bei Sheridans Zusage zur Reise430, über ihre Auseinandersetzung mit einem in Bezug auf Russlands politische Situation skeptischen Freund 431 , Aussagen über die politische Vergangenheit Dzeržinskijs 432 und die Würdigung Lenins durch andere Bolschewiki 433 bis hin zur Aussage, dass in Russland „alles möglich wäre“434. Die Gespräche, die Sheridan während der Modellsitzungen mit Lenin und Trockij führt, sind ebenfalls durchsetzt von direkter Rede. Mit dem Wissen, dass die Modellierarbeiten Stunden und Tage am Stück in Anspruch nahmen, ist zu hinterfragen, ob Sheridan sich wirklich so detailliert an die Aussagen erinnern konnte. Häufig handelt es sich hier um kurze Sätze, doch allein die Tatsache, dass sie im Rahmen der Sitzung mit Lenin politische Sachverhalte thematisiert435, deutet darauf hin, dass Sheridan Erkenntnisse „erster Hand“ weitergeben möchte. Im Rahmen der Sitzungen mit Trockij nimmt sie Sätze auf, die auch Trockijs „grausame“ Seite veranschaulichen und authentisch charakterisieren.436 Doch nutzt Sheridan die direkte Rede nicht nur als Authentifizierungsstrategie, sondern auch zur Verbildlichung und Untermalung von Sachverhalten. Insbesondere die Auflistung von Fragen, die die namentlich unbenannte Frau eines „Kameraden“ während der Hinfahrt in Reval an sie richtet, stellt eine immense Gedächtnisleistung Sheridans dar.437 So es sich auch um kurze einfache Sätze handelt, gibt sie Sheridan doch in direkter Rede nacheinander wieder. Hiermit gelingt es ihr, eine für sie sehr anstrengende, nahezu überfordernde Situation bildhaft zu gestalten. Ebenfalls in Reval wird sie das erste Mal mit einem möglichen Misserfolg ihres selbstgewählten Auftrags konfrontiert. Die diesbezügliche lan430 431 432 433 434 435 436 437

„‚You should come to Russia‘ I said that I had always dreamed it. [...] He said, ‚You can come with me, and I will get you sittings from Lenin and Trotsky.‘“ (Ebd. S. 15.) Vgl. ebd. S. 33. „I asked how long he was in prison. ‚A quarter of my life, eleven years,‘ he answered.“ (Ebd. S. 85.) „‚Just remember that you are going to do the best bit of work today that you have ever done.‘“ (Ebd. S. 105.) „Kameneff [...] then said to me: ‚Here everything is possible.‘“ (Ebd. S. 81.) Vgl. ebd. Bspw. S. 107, 113. Vgl. ebd. Bspw. S. 145 f. Vgl. ebd. S. 57.

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ge Aussage wird von Sheridan wortwörtlich aufgenommen 438 . Mit der direkten Wiedergabe der vermeintlichen Sätze ihres eigenen Sohnes zur Abwesenheit seiner Mutter an seinem Geburtstag drängt sie dem Leser förmlich eine Kinderstimme auf und verdeutlicht damit umso mehr die für sie zu Zeiten schwer erträgliche familiäre Trennung.439 3.4.2.2

Textsorten

Ganz allgemein kennzeichnet Vogelsang das Tagebuch als „ProsaBericht“440, doch innerhalb des Erzählten finden sich auch bei Sheridan unterschiedlich nuancierte Textsorten beziehungsweise Ansätze eigenständiger literarischer Gattungen. Dass das Tagebuch als Ort für die Beichte, Skizze oder die Reflexion dient441, zeigt sich an entsprechend ausgeprägten Textabschnitten. Auf die pragmatische Funktion beleuchtet, finden sich einige beschreibende Textpassagen. Diese prägen sich, im Sinne des Tagebuchs als „Spiegel der Welt“ 442 , bei Sheridan als Beschreibungen ihrer Umwelt und der darin umgehenden und sie umgebenden Menschen aus. Zu diesen Beschreibungen, die häufig von der subjektiven Wertung der Autorin und Ich-Erzählerin durchzogen sind, gesellen sich persönliche Gedanken, expliziter noch Reflexionen443 über ihre Umwelt. Das Ich, das sich hier spiegelt, umfasst die gesamte Person Sheridan, alle Erfahrung und Sozialisierung und zeichnet entsprechend auch Momente des Zweifels und der Selbstfindung nach. Das Tagebuch dient ihr hier als „Spiegel der Seele“444 vor dem russischen Hintergrund. Wie eine faktische Auflistung liest sich die schmucklose Aneinanderreihung von (ausgewählten) Geschehnissen des letzten Tages vor Sheridans Abreise nach Russland445. Ob intendiert oder nicht, führt der stakkatoartige Stil des Eintrags und auch die typografische Ausgestaltung dazu, dass dieser Absatz die Ästhetik einer To-do-Liste gewinnt, die zugleich 438 439 440 441 442 443

444 445

Vgl. ebd. S. 60. Vgl. ebd. S. 66. Vogelsang, „Das Tagebuch“. S. 185. Vgl. Wuthenow, Europäische Tagebücher. S. 1. Just, Übergänge. S. 30. Nach Wilpert handelt es sich hier um „auf die Beobachtung eigener seelischer Vorgänge zurückgewandtes Denken; im weitesten Sinne jedes prüfende und vergleichende Nachdenken und dessen Ergebnis“. (Wilpert, Sachwörterbuch. S. 667. [Reflexion]) Just, Übergänge. S. 30. Vgl. Sheridan, RP. S. 37 f.

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die Schnelligkeit des Tages und die Vielzahl der noch zu erledigenden Aufgaben vor der Abreise nachvollziehbar macht. Neben Passsagen, die als „innere Monologe“ 446 der Autorin gelesen werden können447, finden sich auch bekennende beziehungsweise beichtende Passagen. Charakteristisch für den bekennenden Stil ist die „besonders starke Profilierung der Sprechergestalt“, die „Sachverhalte erscheinen explizit aus der subjektiven Sicht des Sprechers“.448 Literaturwissenschaftlich betrachtet handelt es sich bei Bekenntnissen um eine „besondere Art der Autobiographie, die weniger Wert auf Erinnerungen der äußeren Welt als auf innerseelische Entwicklungen und psychologische Selbstergründungen legt“449. Als „Selbstaussprache des Individuums“450 findet das Bekenntnis mit der Zeit der Aufklärung und der Entdeckung des Individuums seinen Weg auch in das Tagebuch und so wird die „Schrift des Tages“ u.a. auch zum „Ort des Bekennens“451. Insbesondere Sheridans Fazit zur Russlandreise, der Eintrag vom 2. November, ist angereichert mit Bekenntnissen über ihre Haltung zu Russland. Schwankend zwischen scheinbar inniger Sympathie für das Land und der Angst, damit gegen die gesellschaftlichen Regeln ihres Heimatlandes zu verstoßen, setzt sich Sheridan hier schriftlich mit ihrer Einstellung und den dazugehörigen Ursachen auseinander. 452 Bereits vor diesem Eintrag beginnt ihre Auseinandersetzung 453 und je mehr sie den Eintrag vom 2. November vervollständigt, umso entschlossener steht sie hinter der Entwicklung, die sie in geistiger Hinsicht in Russland durchlaufen hat. Angefangen mit der Aussage, dass sie keine Bolschewikin ist, sich jedoch ungemein für den Geist des Bolschewismus interessiert, referiert Sheridan über ihre Einstellung zum Land und damit direkt und indirekt auch zu ihrem Heimatland. Sie offenbart immer wieder, dass ihr Russland intellektuelle Möglichkeiten offeriert, die sie in dieser Art nirgends sonst findet, so dass sie diesen Tagebucheintrag mit den Worten abschließt: „I should like to live among them [the Russians,

446 447 448 449 450 451 452 453

Vgl. ebd. Bspw. S. 43, 64, 79, 98, 120, 133, 134, 146, 172, 174, 175, 176. Als innere Monologe sollen sie deshalb deklariert werden, weil sie, häufig in Klammern geschrieben, Sheridans unausgesprochenen Worten gleichkommen. Vgl. Lehmann, Bekennen, erzählen, berichten. S. 60. Wilpert, Sachwörterbuch. S. 78. [Bekenntnis] Ebd. Just, Übergänge. S. 27. – Vgl. Sheridan, RP. S. 96. Vgl. ebd. S. 175–179. Vgl. ebd. S. 172.

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d. Verf.] for ever, or else work for them outside, work and fight for the Peace that will heal their wounds.“454 Mit der wortwörtlichen Wiedergabe einer Notiz Kamenevs nimmt Sheridan den Abdruck eines Briefes und damit eine eigene literarische Gattung auf.455 Durch die verglichen mit dem restlichen Satzbild besonders hervorgehobene Anordnung der Worte Kamenevs und der Gestaltung, die an einen Brief erinnert, fällt dieser Absatz ins Auge und erscheint in seiner vermeintlich direkten Rede als „schriftliche Nachricht an einen abwesenden Empfänger als Ersatz des mündlichen Verkehrs“456. Am Ende ihres Reisetagebuchs fügt die Autorin zudem ein Buchzitat ein.457 Einmalig nimmt Sheridan hier ein mit Werk- und Verfasserdaten ausgewiesenes Zitat zur Verstärkung ihrer an das Publikum appellierenden Ideen auf, und setzt dies, verbunden mit einem eigenen Satz, an den Schluss ihrer Reiseausführungen über Russland. Nicht unbeachtet bleiben darf bei der Betrachtung von Repräsentationsformen, dass Sheridan in der für die vorliegende Arbeit genutzten Ausgabe 33 Abbildungen in Form von Fotografien und einer Zeichnung eingebunden hat. Höchst wahrscheinlich handelt es sich um von Sheridan selbst aufgenommene Fotos, da sie an manchen Stellen ihres Tagebuchs explizit auf ihre „Kodak“ 458 verweist. Eine eindeutige Aussage über die Herkunft der Bilder trifft die Autorin jedoch nicht. Sie verzichtet zudem auf die Thematisierung des zusätzlichen Bildmaterials. Der „unbesehene Glaube an die Beweiskraft des Photos“ 459 trägt dazu bei, dass diese als weiteres Authentifizierungsinstrument für die Reise dienlich gemacht werden. Die Bilder unterstreichen die Authentizität des Textes von Sheridan visuell.460 Nicht minder wichtig sind auch die elf 454 455 456 457 458 459

460

Ebd. S. 179. Vgl. ebd. S. 17. Wilpert, Sachwörterbuch. S. 101. [Brief] Es handelt sich um bereits benanntes Werk Gregorij Alexinskys Modern Russia. (Vgl. Sheridan, RP. S. 201.) Vgl. ebd. Bspw. S. 42, 45, 95, 110. Bernhard Furler, Augen-Schein. Deutschsprachige Reisereportagen über Sowjetrußland 1917–1939. Frankfurt a. M. 1987. S. 63. – Zum generellen Verhältnis von Text und Bild vgl. ebd. S. 53–89. Fotografieren war im postrevolutionären Russland nur mit einer Erlaubnis gestattet. Obwohl sich die Strenge dieser Regelung mit den Jahren, explizit in den 1930er Jahren verschärfte (vgl. Heeke, Reisen zu den Sowjets. S. 511), erwähnt auch Sheridan eine Erlaubnis: „If he had come with me I should have taken my kodak, but I have not a permit and did not feel like risking a controversy alone.“ (Sheridan, RP. S. 95.) Vgl. Furler, Augen-Schein. S. 64.

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Fotos der von ihr angefertigten Büsten. Diese bezeugen einerseits die Erfüllung des Zwecks der Reise, anderseits die Richtigkeit der schriftlichen Darstellung der Modelle im Tagebuch. Obgleich Sheridan nach ihrer Rückkehr durch Ausstellungen eine Öffentlichkeit für ihre Büsten gesucht hat461, kommt sie der Bequemlichkeit des Lesers entgegen, indem sie den Grund für die „unerhörte Tat der Russlandreise“ fotografisch mitliefert. Weitere Bilder zeigen eine bereits in England entstandene Skulptur („Victory“), ein Porträt der Autorin selbst, ein Bild ihrer Kinder, ein signiertes Foto von Trockij an der Front und eine Zeichnung von Trockij. Alle Illustrationen finden sich eingangs aufgelistet462 und sind sowohl dort als auch innerhalb des Textes mit einer Bildunterschrift versehen, die die jeweilige Abbildung näher erläutert. In vielen Fällen sind die Fotos zeitlich kongruent mit den jeweiligen Einträgen, d.h. die Abbildungen thematisieren bildlich Sachverhalte, Personen und Momente ihrer Tagebucheinträge. Formal betrachtet, gliedert sich die Fotografie als Zeugnis eines individuellen Standpunktes, der Ich-Perspektive, äußerst gut in das Tagebuch als Ich-Aufzeichnung ein: Hier findet sich die visuelle autoptische Beglaubigung463 , dort die wörtliche. Das Ergebnis des „dritten Auges“ (der Kamera) sorgt damit nicht nur für eine Abwechslung im Leseprozess und befriedigt die Neugier der Rezipienten auf Bilder sondern ist einer zusätzlichen Versicherung der Sachverhalte dienlich 464 . Im Vergleich zu anderen Reiseschriften, insbesondere Reportagen über Sowjetrussland, muss für Sheridan jedoch konstatiert werden, dass es sich bei den Aufnahmen im Land nicht um tendenziöse Fotos handelt, die den einen oder anderen Fakt übertrieben unterstreichen, wie es beispielsweise Furler für bestimmte Reisereportagen feststellen konnte465.

461

462 463 464 465

Sheridans Büsten werden im Februar 1921 von der Modern Society of Portrait Painters in den Galerien des Royal Institutes im Rahmen einer aktuellen Ausstellung der britischen Öffentlichkeit zugeführt. (Vgl. „Mr. Rothenstein’s Art“. In: The Times. London 17.02.1921. S. 13.) Vgl. Sheridan, RP. S. 5 f. [„Illustrations“] Vgl. Furler, Augen-Schein. S. 65. Ebd. Vgl. ebd. Bspw. S. 68 ff. – Während das gesamte Tagebuch nach Aussage Sheridans generell nicht für eine Veröffentlichung vorgesehen und verfasst wurde, verweisen die Fotos auf seine nachträgliche Edition.

310 3.4.2.3

3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

Augen- und Ohrenzeugin

Nur selten werden sich Reiseschriften finden lassen, in denen Autoren ausschließlich über eigene Erfahrungen reden. Häufig liegt die eigentliche „Erfahrung“ im Kontakt zu Einheimischen, die ihnen Informationen zur Situation und Zustand erster Hand liefern, oder wie Ette sagt: Ist das Auge – und folglich eine auf Reisen und eigener Anschauung basierende Erkenntnis – der Garant des Wissens, so erfüllt für Polybios das Ohr eine komplementäre und zweifache Funktion. Das Ohr nimmt jene Informationen auf, die bei möglichst zahlreichen Informanten eingeholt wurden, ist in Erweiterung dieser Vorstellung damit aber auch jenes Organ, das Informanten in der Form schriftlich fixierter Texte befragt.466

Wenn beispielsweise Sheridan von Kamenev über die Ideale der Partei aufgeklärt wird und diese Information in ihr Tagebuch aufnimmt, handelt es sich hier um Wissen, das sie selbst nicht direkt erfahren hat (oder nur anhand bestimmter sie betreffender Merkmale überhaupt hätte erfahren können), sondern das sie erster Hand von einem Menschen mit dieser Erfahrung zugetragen bekam. Das Ergebnis dieses Gesprächs liegt dem Leser als Information vor. Solcherlei Vorfälle, die sich verständlicherweise zuhauf in ihrem Tagebuch finden lassen, werden im vorliegenden Fall „gehörten Informationen“ zugeordnet: hier fungiert Sheridan als Ohrenzeuge. Fast ausschließlich fügt sie solchen Sachverhalten die jeweilige Quelle (zumeist ihren Gesprächspartner) hinzu („X erzählte mir“).467 Diese auditiv erfahrenen Sachverhalte erlangen in jenen Situationen Gewicht, in denen sie sie ihren eigenen Erfahrungen vergleichend gegenüberstellt – hiermit offenbart sie zwei Sichtweisen, ihre eigene und die eines anderen Zeugen, womit sie sich abermals als wirklich vor Ort befindliche Autorin unter Beweis stellt.468 Aufgrund der Sprachbarriere waren Gespräche mit ausschließlich russischsprachigen Einheimischen für Sheridan unmöglich. Obzwar viele ihrer Gesprächspartner auf eine für Sheridan verständliche Sprache zurückgreifen konnten, i.e. Englisch, Französisch oder Deutsch, befand sich die Autorin häufig in rein russischen Gesprächsumgebungen, wo sie nicht in der Lage war, Informationen auditiv zu erlangen.469 In diesen Situatio466 467 468 469

Ette, Literatur in Bewegung. S. 125. Vgl. Sheridan, RP. Bspw. S. 14, 54, 78, 85, 98 f., 108, 134, 174, 192. Vgl. ebd. S. 35, 75, 149, 160, 196. Vgl. ebd. Bspw. S. 64, 70, 80, 100, 111, 130, 169, 182.

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311

nen verließ sie sich auf ihre visuelle Wahrnehmung. Der Ersatz der Ohren durch die Augen erlangt bei Sheridan enorme Wichtigkeit, denn sie versuchte, ihre mangelnden Sprachkenntnisse durch genaues Hinsehen und Rekonstruieren zu kompensieren.470 Sheridan betont immer wieder, dass sie in jenen Momenten, in denen sie einer russischsprachigen Umgebung interessiert ausgeliefert ist, auf ihren Sehsinn zurückgreife – damit wird sie zur Augenzeugin im eigentlichsten Sin. Dies zeigt sich dann auch an ihren vielfältigen Beschreibungen, in denen die Autorin darauf verzichtet, auditiv erfahrene Informationen wiederzugeben – sie belässt es bei den Dingen, die sie wirklich gesehen haben kann. Abschließend soll noch auf drei Einträge verwiesen sein, in denen sich Sheridan den olfaktorischen Sinn zu Hilfe nimmt, um Situationen zu untermalen, die sie geruchstechnisch vermutlich als sehr unangenehm wahrgenommen hat.471 Im Gros sind explizite Augen-, Ohren- und Nasenbezeugungen bei Sheridan verhältnismäßig selten zu finden. Wahrscheinlich ist dies dem Umstand geschuldet, dass sie, im Gegensatz zu Reiseberichterstattern, nicht die Notwendigkeit einer nachhaltigen Betonung sah. Mit dem Einsatz eines Tagebuchs als Reiseschrift wird die persönliche Anwesenheit des Autors mitverstanden. Als persönliches, mehr noch intimes Zeugnis von Erfahrungen eines Menschen, offenbart das Tagebuch per se die subjektive Sicht eines Autors auf Mensch und Welt in der Fremde und birgt damit die Glaubwürdigkeit der Geschehnisse implizit. Im Gegensatz zu einer als Reisebericht deklarierten Schrift muss sich der Autor nicht zwangsläufig vor dem Gegenstand zurücknehmen und Objektivität bewahren – im Gegenteil: Subjektivität erscheint hier als konstitutives Merkmal für die Gattung. 3.4.3

Stereotypen und Verallgemeinerungen

Auch Clare Sheridan kommt bei der Abfassung ihres Tagebuchs nicht umhin, sich an Verallgemeinerungen und Stereotypen zu bedienen. Diese 470 471

Vgl. ebd. Bspw. S. 47, 55, 182. „If my evening’s pleasure was neutralised by the concentrated aroma which arose from the great unwashed, it is only fair to observe that there is no soap in the country, and most people have, for two years or so, only had the one suit of clothes in which they stand up.“ (Ebd. S. 74.) – „Oh! the dark passages and the stuffy offices; they smelt as if the air belonged to bygone ages. I am sure no fresh air ever leaks in.“ (Ebd. S. 162.) – „Moreover, the hot goatskin smells stronger and stronger. Even the soldier seems to be affected by it.“ (Ebd. S. 165.)

312

3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

zeigen sich konkret insbesondere in der Darstellung der Russen im Umgang mit Zeit sowie anhand der Verwendung der Attribute bolschewistisch und russisch. Die nachfolgend benannten Phänomene stehen assoziativ mit dem nicht nur im Ausland geläufigen, sondern in Russland geprägten und applizierten Autostereotyp der „russischen Seele“ in Verbindung. Im Versuch, das Konzept der „russischen Seele“ zu fassen, diente dem russischen Philosoph Nikolaj Berdjaev die geografische Weite Russlands als Erklärungsmoment für den „Extremismus und Maximalismus des Russentums“472. Nach Aussage des Slawisten Felix P. Ingold veranschaulicht Berdjaev seine vorgenannte These durch eine Reihe exemplarischer Gegensatzpaare, wie Unterwürfigkeit und Aufrührertum, Grausamkeit und Mitleid, Anarchismus und Staatsgläubigkeit.473 Sheridan konstatiert am Ende ihres Tagebuchs: „I love the atmosphere laden with melancholy, with sacrifice, with tragedy. I am inspired by this Nation, purified by Fire. I admire the dignity of their suffering and the courage of their belief.“474 Sie entwickelt hier ein Bild weiter – Russland als Ort der Melancholie, des Opfers und der Tragik –, das als Assoziationsstereotyp 475 allein aufgrund von Kenntnis der nahen und fernen Geschichte Russlands auch in ihrem Heimatland verstanden wird. Anhand der religiösen Metapher des Landes als einer „vom Feuer gereinigten Nation“ weist sie der russischen Bevölkerung die Besonderheit zu, ein Gottesvolk zu sein. Im biblischen Kontext gedeutet476, impliziert Sheridan damit, dass die russische Bevölkerung (mit ihren Worten: Nation) bereits durch eine göttliche Läuterung stark dezimiert, nun jedoch als „Gottes Volk“ anerkannt wurde. Mit ihrer Wahrnehmung der „Würde des Leidens“ und des „Mutes im Glauben“ untermauert die Autorin den biblischen Zusammenhang und die gefühlte melancholische Atmosphäre. Die Wortwahl weist die russische Bevöl472 473 474 475

476

Felix P. Ingold, Faszination des Fremden. Eine andere Kulturgeschichte Russlands. München 2009. S. 23. Ebd. Sheridan, RP. S. 179. Siehe hierzu die lexikalische Einteilung von Denkstereotypen nach Zybatow: Unter dem Assoziationsstereotyp versteht der Autor eine „in Form von Prädikationen ausdrückbare Erwartungshaltung[...], die in einer Gesellschaft gegenüber den Kategorienmitgliedern [...] Geltung haben, jedoch ihre semantische Bedeutung nicht festlegen, sondern mit dieser assoziativ verbunden sind [...].“ (Zybatow, Russisch im Wandel. S. 52 f.) Vgl. Sach 13, 2 f.

3.4 Die Fremde verstehen – Literarizität des Reisetagebuchs

313

kerung als geprüft und geläutert 477 aus. Zudem als eine Bevölkerung, die trotz schwerer Zeiten Hiobsche Stärke im Glauben beweist. In nahezu lyrischer Manier baut die Autorin hier einen stereotypen Block auf, der, einmalig im gesamten Tagebuch, dem schwierigen Begriff der „russischen Seele“ nahe kommt. Auch über den Umgang mit Zeit in Russland und die hierdurch bedingte Gelassenheit der Menschen äußert sich Sheridan verallgemeinernd und baut Stereotypen vor. Ihre Darstellungen changieren zwischen verallgemeinernden Beschreibungen bis zu Notizen, die mit stereotypen Erklärungen kommentiert werden. Auf Sheridan macht besonders der laxe Umgang mit Zeit im Allgemeinen und mit Terminen im Speziellen Eindruck. Bereits in England bewundert sie die Gelassenheit und Ruhe ihrer zwei russischen Modelle Kamenev und Krasin, und sie ist sich nicht sicher, ob dies auf den „Menschenschlag“ 478 oder auf die Gefängniserfahrung der beiden Männer in Sibirien zurückzuführen ist. Allein die Vermutung der Autorin, dass es sich hierbei nicht bloß um individuelle Charakterzüge handelt, sondern in Erwägung gezogen wird, dass diese Merkmale mit „dem Russischen“ korrelieren, lässt darauf schließen, dass Sheridan ein eigenes Bild vom „Russischen“ hat. Dass nicht nur diesen beiden Modellen Gelassenheit zu eigen ist, sondern der Umgang mit Zeit in Russland generell anders aufgefasst wird, stellt Sheridan auf dem Weg dorthin fest, so nämlich, als selbst bei der deutlichen Verspätung einer Fähre keine Unruhe unter den russischen Passagieren an Bord aufkommt. 479 Auch diese Ruhe sieht sie als eine „wahrscheinlich russische“ Charakteristik. Dass letztlich alles länger dauert in Russland, und Pünktlichkeit eine untergeordnete Rolle spielt, erfährt die Autorin persönlich in den Momenten in Russland, in denen sie selbst auf eine gewisse Struktur angewiesen ist. Hier greift sie auf Verallgemeinerungen zurück.480 So wird bei Sheridan aus dem Wort „sichas“481 verallgemeinernd ein Symbol für die zeitliche Unzuverlässigkeit der Russen. Häufig benennt sie einzelne Vorkommnisse, die in Verbindung zur oben genannten 477 478 479 480 481

Vgl. Manfred Lurker, Wörterbuch biblischer Bilder und Symbole. München 1973. S. 116. [Feuer] Vgl. Sheridan, RP. S. 16. Sheridan nennt es „race“. „There was no attempt to keep a scheduled time: a calm atmosphere of fatalism, which is probably Russian, seemed to hang over us.“ (Ebd. S. 53.) Vgl. ebd. S. 81, 181. „He answered ‚Sichas‘ which literally translated is ‚immediately‘ but in practice means tomorrow, or next week!“ (Ebd. S. 132). – Gemeint ist das Wort „sejčas“ – das russische Wort für „jetzt“.

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3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

Attitüde des Zuspätkommens stehen482 und setzt sie in den Kontext des Russischen: „true Russian fashion“ oder „experience of Russian official appointments“. Mit den in Russland verbrachten Wochen zeigt sich an Sheridans Aufzeichnungen, dass sie durch eigene Erfahrungen über diesen vermeintlich russischen Habitus, zu offiziellen Termin zu spät zu erscheinen, Bescheid weiß.483 Nachdem sie anfänglich davon irritiert ist – dies ist daran erkennbar, dass sie derlei Vorkommnisse nicht nur notiert, sondern zumeist auch kommentiert –, nimmt sie diese Begebenheiten zum Ende ihrer Reise kommentarlos auf und signalisiert damit, dass sie mit dieser Umgangsweise vertraut ist und sich in ihrem Verhalten und ihren Handlungen darauf einzustellen weiß.484 Verallgemeinernd stellt sie in Bezug auf den Umgang mit Zeit in Russland zudem fest, dass es keine klaren Pläne gibt und vieles kurzfristig geschieht.485 Sheridan merkt an, dass „sie“, d.h. die Russen, „wunderbar im Ungefähren“ (divinely vague)486 lebten. Lenin und Trockij sind, wie sie hört, die Einzigen, die eine Ausnahme in dieser (scheinbar russischen) Gewohnheit des Zuspätkommens darstellten. 487 Die Wiedergabe der Information über Lenins und Trockijs Pünktlichkeit lässt die beiden als fast untypisch russisch erscheinen. Im Kontext betrachtet wird der eigene Umgang mit Zeit als „typisch russisch“ deklariert und ist daher stereotypisch konnotiert. Der Unterton, in dem Sheridan diese vermeintlich russische Attitüde der Unpünktlichkeit darlegt, ist nicht negativ. Dies mag darin begründet sein, dass der Hinweis eines anderen westlichen Besuchers des Landes, dass sich die Dinge in Russland zwar spät, doch letztlich erfolgreich entwickelten488, durch ihre eigenen Erfahrungen kurz nach ihrer Ankunft bestätigt wird. So agiert Sheridan in hoffnungsvoller Manier und behält ihre generell recht unvoreingenommene Haltung gegenüber Russland bei.489 Die Begriffe bolschewistisch, russisch und slawisch scheinen in Sheridans Tagebuch stereotypisch unterlegt zu sein. In ihrer attributiven Anwendung auf einzelne Menschen oder Menschengruppen in Russland490 482 483 484 485 486 487 488 489 490

Vgl. ebd. S. 167, 181. Vgl. ebd. S. 181, 199. Vgl. ebd. S. 184. Vgl. ebd. S. 120, 186. Ebd. S. 126. Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 75. Vgl. ebd. S. 81. Vgl. Hahn, „Nationale Stereotypen“. S. 20.

3.4 Die Fremde verstehen – Literarizität des Reisetagebuchs

315

unterlässt es Sheridan zumeist, näher auf die eigentliche Bedeutung der Begriffe im jeweiligen Kontext einzugehen. Würde die Anwendung dieser Begriffe auf einen geografischen Zusammenhang begrenzt, gäbe es keinen Verdacht, dass hier Stereotypen vorliegen. Doch Sheridan weitet diese Begriffe beispielsweise auf die Beschreibung von Äußerlichkeiten aus. Bereits in ihrem ersten Tagebucheintrag, der ersten Seite nach dem Vorwort, bedient sich Sheridan einer Metapher für jene russischen Kommunisten, die sie in einem Londoner Büro aufsucht: „Here was I, at all events, in the outer den of these wild beasts who have been represented as ready to spring upon us and devour us.“491 Ohne genauer auf die Umstände einzugehen, die Sheridan hierher führten – noch weiß der Leser nicht, wo sie sich befindet und in welchem Kontext die Aufzeichnungen geschehen – zeichnet sie ein eindrückliches Bild, das erst im darauffolgenden Satz mit Inhalt gefüllt wird. Indirekt erfährt man an dieser nächsten Stelle, dass es sich bei diesen „wilden Bestien“ um Bolschewiki handelt492. Mit dieser Ausdrucksweise prägt Sheridan eingangs ein ausdrücklich negativ konnotiertes Bild der Bolschewiki, die stellvertretend für das bolschewistische Russland gesehen werden können. Sie offeriert dem Leser damit eine Deutungsvorlage für Russland und seine Menschen und gibt damit eine Richtung für das Verstehen des folgenden Inhalts vor.493 Sheridan erklärt, dass sie die hier umgebenden Menschen, die ihrer Meinung nach Bolschewiki seien, als „Typen“ interessierten. Diese Aussage bedarf einer näheren Betrachtung. Zum einen ist sie im Zusammenhang mit ihrer Profession als bildende Künstlerin zu sehen, da Sheridan, wie sich im Verlauf des Tagebuchs zeigt, dazu tendiert, Menschen anatomisch genau zu erfassen, um sie als potentielle Modelle zu beurteilen. Zum anderen impliziert diese Aussage, dass es ihrer Meinung nach einen „bolschewistischen Typ“ gäbe. Was diesen ausmacht und worin sich der gemeinsame Nenner offenbart, unterzieht sie keiner näheren Erläuterung, verweist semantisch mit der metaphorischen Umschreibung ihrer Gastgeber (wild beasts) jedoch auf zweierlei Attribute: Grausamkeit und Unberechenbarkeit. Die Wildheit wird beispielhaft mit der Wiedergabe von Kamenevs Verhalten nach Ankunft in Moskau untermauert: Er verwandelt sich auf der Stelle vom Gentleman in einen volksnahen Politiker,

491 492 493

Sheridan, RP. S. 11. Vgl. ebd. Vgl. das Konzept des primacy effects bei Grabes, „Wie aus Sätzen Personen werden…“. S. 413.

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3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

indem er „in der pöbelhaftesten Art und Weise“ 494 auf den Bahnsteig spuckt. Die Verbindung zwischen Großbritannien und Kamenev scheint gekappt zu sein und damit auch die Verbindung zur Welt des guten Tons. Zur Beschreibung der „englischen Vorstellung“ (of English tradition) eines bolschewistischen Soldaten, bedient sie sich der Worte „blutrünstiger wilder Bolschewik“ (the bloodthirsty savage Bolshevik)495. Sheridan stellt hier zwar das Bild des Bolschewismus in England in ironischhyperbolischer Manier dar, nutzt es jedoch gleichzeitig in ihrem Tagebuch und gibt ihm damit Raum, sich in der Rezeption zu entfalten, sich mithin als Stereotyp zu verfestigen. Ein weiterer Beleg dafür, dass dem Russischem Attribute wie „grausam“ und „unberechenbar“ anhängen, liefert Sheridan zum einen mit der Wiedergabe der Meinung eines englischen Bekannten, der davon ausgeht, dass ein Russe „zu allem fähig“ wäre, so auch dazu, „sich gegen einen Freund zu wenden“496. Zum anderen unterfüttert sie mit der Aussage, dass die Russen nicht zögern würden, sie zu erschießen, wenn es notwendig wäre, das Bild des grausamen Bolschewiken, dem Fanatismus nicht fremd ist.497 Kontrastiv setzt die Autorin dem „blutrünstigen wilden Bolschewiken“ ein anderes, weniger geläufiges Bild gegenüber: das des „verträumten jungen Slaven, der weiß, wofür er kämpft“ (the dreamy-eyed young Slav who knows what he is fighting for)498. Hier verweist sie ein weiteres Mal auf die von ihr eigens wahrgenommene Melancholie in Russland. Das Slawische findet sie auch bei Lenin wieder.499 Hier stellt sie die unbegründete und verallgemeinernde Aussage in den Raum, er hätte ein slawisches Gesicht. Verallgemeinernd schreibt sie, dass alle Revolutionäre, d.h. im engeren Sinne Kommunisten, sehr jung wären.500 Dass es für Sheridan auch ein typisch russisches Aussehen gibt, wird u.a. daran anschaulich, dass sie in ihrer scheinbar deutlichen Vorstellung, was

494

495 496 497 498 499 500

„As we left the train she [i.e. Ol’ga Kameneva, d. Vf.] said to me: ‚Leo Kameneff has quite forgotten about Russia, the people here will say he is a bourgeois.‘ Leo Kameneff spat upon the platform in the most plebeian way, I suppose to disprove this.“ (Sheridan, RP. S. 64.) Ebd. S. 121. Ebd. S. 32. Vgl. ebd. S. 134. Ebd. S. 121. Vgl. ebd. S. 109. Vgl. ebd. S. 84.

3.4 Die Fremde verstehen – Literarizität des Reisetagebuchs

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darunter zu verstehen sei, enttäuscht wird.501 Kalinin symbolisiert für sie den „russischen Bauerntyp“, dessen Merkmale sie nicht weiter ausführt.502 Nicht nur die Ausweisung eines nicht weiter definierten „Bauerntyps“ wirkt stereotyp, sondern auch und besonders der „russische“ Bauerntyp lässt vorhandene Stereotypen erahnen503. Dass sie einen Unterschied zwischen „russisch“ und „kommunistisch“/„bolschewistisch“ macht, zeigt sich an ihren Gedanken über Borodin.504 Mit einer Reflexion der gemeinsamen Zeit im Gästehaus offenbart sie, dass es für sie einen Unterschied zwischen beiden Begriffen gibt, doch bleibt sie den Lesern abermals eine faktische Erläuterung schuldig. Ein prominenter Stereotyp über Russland, auch über die Zeit des Bolschewismus hinaus, ist die (vermeintlich) große Affinität der Russen zum Alkohol, speziell zum Wodka. Diesen Stereotyp bestätigt Sheridan eindeutig nicht. Obwohl sie an einer Stelle ihres Tagebuchs in sehr lebhafter Manier eine Szene beschreibt, die das Bild des alkoholtrinkenden Russen förmlich evoziert, fehlt jeglicher Hinweis auf Alkoholkonsum.505 Im Gegenteil, während der gesamten Wochen in Russland beschreibt Sheridan kein einziges geselliges Trinkgelage. Umso kontrastreicher erscheint die Darstellung der ersten Eindrücke, die sie nach ihrer Rückkehr in England notiert: Berauschte Jugendliche schreien, singen und stolpern durch den Bahnhof von Newcastle.506 Sie kommentiert diese Szene mit der Feststellung, dass sie an solcherlei Szenen nicht mehr gewöhnt sei und unterminiert damit indirekt den Stereotyp des „trinkenden Russen“. In Bezug auf den ökonomischen Entwicklungsstand Russlands lassen sich in Sheridans Aufzeichnungen ebenfalls drei vereinzelte Bemerkungen finden, die vage zwischen Bestätigung eines Vorurteils und Konstruktion eines Stereotyps rangieren. Es handelt sich hier um indirekte Hinweise auf die prekäre Versorgungslage der Bevölkerung und die Rückständigkeit der industriellen Entwicklung des Landes. Im Rahmen 501 502 503

504 505 506

„[...] and then Alexandre arrived accompanied by a soldier who was typically neither Russian, nor military, nor intellectual, nor even fine physically.“ (Ebd. S. 121.) „I am very disappointed, Kalinin has a head that interests me. I have wanted to do a Russian peasant type, and he is one.“ (Ebd. S. 180.) Dieses Bild filtert auch Inka Zahn in ihrer Analyse französischer Reiseberichte in das nachrevolutionäre Russland in der Zwischenkriegszeit. (Vgl. Zahn, Reise als Begegnung. S. 352 f.) „I have never quite made out in my own mind if they were typically Russian or typically Communist. I am still wondering.“ (Sheridan, RP. S. 173.) Vgl. ebd. S. 46. Vgl. ebd. S. 200 f.

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3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

ihrer Aufzeichnungen stellt Sheridan an zwei Stellen Dinge des täglichen Lebens metaphorisch als „wertvolle Geschenke“ (valuable presents) 507 dar, so zum einen ein Hühnerei, zum anderen eine Zahnbürste und eine Packung Tabletten. Ein Bankett, das in Sheridans britischem Alltag keine Seltenheit sein sollte, erwächst in ihren Aufzeichnungen zu einem „großen Ereignis“ (great event) – ausschlaggebend für die Euphorie Sheridans sind die Speisen, die ihr „wie im Traum“ erscheinen.508 Zu beachten ist natürlich, dass die Bemerkungen Sheridans sich hier rein auf ihre eigene Versorgung im Land richten und nicht jene der Allgemeinheit umfassen. Da ihre Versorgung als westlicher Gast jedoch große Priorität genießt, kann sie als Vergleichswert für die gesamtgesellschaftliche Lage, i.e. die Versorgung der Bevölkerung zu Rate gezogen werden. Die wirtschaftliche Rückständigkeit zeigt sich in Sheridans Frage, wie Russland den von ihr wahrgenommenen „eisernen Industrialismus“ (iron industrialism) 509 Englands bekämpfen kann. Hier streift Sheridan ein thematisches Feld, das bereits vor der Machtergreifung durch die Bolschewiki genügend Treibstoff für die Bildung von Stereotypen geliefert hat: Russlands ökonomische Rückständigkeit und die im Vergleich zu Ländern in Westeuropa verzögerte Industrialisierung. Resümee Wie sich zeigt, nimmt Sheridan stilistische Mittel zur Hand, um ihre Darstellung von Mensch und Welt zu untermalen und damit auch zu werten. Prinzipiell erfüllen sie ihren oben genannten Zweck der Verbildlichung einer Aussage. Die jeweiligen Anwendungsbeispiele für Metaphern und Vergleiche umfassen die Möglichkeit, Haltungstendenzen der Autorin anzuzeigen. Während die metaphorisch prägnante und eher negativ konnotierte Darstellung der Bolschewiki auf Sheridans gesellschaftlichen Hintergrund und ihr hierin begründetes „Allgemeinwissen“ verweist, deuten die Vergleichsparameter, die sie auf Menschen anwendet, sowohl auf ihre Sozialisation als auch auf ihre Profession als Künstlerin. Sowohl im metaphorischen als auch im Vergleichskontext bedient sich Sheridan romantischer Bilder (Christus, Geist, ein als Bauer verkleideter Königssohn). Ihr vermutlich hoher Anspruch an Wohn- und Arbeit507 508 509

Vgl. ebd. S. 125, 136. Ebd. S. 167. Ebd. S. 199.

3.5 Die Ich-Erzählerin im Tagebuch als erlebendes Ich

319

sorte bringt es mit sich, dass ihr manche Örtlichkeit in Moskau seltsam erscheinen musste und deshalb mit einem weniger positiv konnotierten verbum proprium ins Verhältnis gesetzt wurde. Nicht zu unterschlagen ist auch die Tatsache, dass die anfänglich und später wieder aufgegriffene negative Metapher für den bolschewistischen Menschen zum Ende, in ihrem Resümee vom 2. November, Relativierung erfährt. Das negativ konnotierte Attribut „bolschewistisch“ wird in Sheridans Tagebuch dadurch rehabilitiert, dass sie das bolschewistische Land und seine Gesellschaft in ihrem Resümee letztlich als sehr lebenswert für ihr eigenes Dasein und Wirken darstellt. Die in diesem Kontext angewandten nichtliterarischen Vergleiche Russlands mit England deuten auf eine kritische Haltung gegenüber dem Heimatland hin.510 Während die Autorin Zitate anderer in direkter Rede nur selten einbindet, nimmt sie viele unterschiedliche Textsorten und -stile in ihr Tagebuch auf. Größtenteils spiegeln die benutzten Textsorten, Gattungen und Stile das Tagebuch als Ort der persönlichen Einkehr und Auseinandersetzung mit der Welt. Das Fehlen berichtender Passagen zeigt, dass die Autorin keinen externen Referenten beim Verfassen ihres Textes denkt. Auch Ohren- und Augenzeugenbetonungen finden sich nur marginal – ein weiteres Indiz dafür, dass die Autorin für sich selbst schreibt. Mit Aufnahme der benannten Stereotypen über das „Russische“, „Bolschewistische“ und „Slawische“ gibt sie sich als Konsumentin von (mündlichen oder schriftlichen) Informationen über Russland zu erkennen.

3.5

Die Ich-Erzählerin im Tagebuch als erlebendes Ich

He considered that no matter what line the Government adopted here [...], it would not affect me. I should be regarded purely as an artist, international and non-political. 511

Die Aufnahme der direkten Charakterisierung Sheridans durch die Ehefrau eines führenden Bolschewiken, „‚That sort of person always gets what she wants‘ she said“512, zeigt an, dass Sheridan von verschiedenen Seiten unterschiedlich beurteilt wurde und diese Beurteilungen teilweise auch im Tagebuch schriftlich fixierte. Sheridans Kommentar zu dieser 510 511 512

Ebd. S. 34. Vgl. ebd. S. 39, 179. Ebd. S. 46.

320

3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

Aussage, „[...] and I am wondering what sort of person I am.“513, zeigt erstens sehr schön die Vielfalt der Rollen auf, die sie als Reisende einnahm, und zweitens ihre eigene offene Haltung in Bezug auf ihre Wirkung auf die Umwelt. Aus dieser Vielfalt sollen im Folgenden vier Blickwinkel beziehungsweise Rollen – Sheridan als Künstlerin, Adlige, Cousine Churchills und Kommunistin – näher beleuchtet werden; Rollen, die Sheridan scheinbar zugehörten beziehungsweise mit denen sie auf ihrer Fahrt konfrontiert wurde. Aus der jeweiligen Rolle heraus erblickt Sheridan die sie umgebende Welt und legt sie, dank des ihr gewählten Mediums Tagebuch, sich selbst und später dem unbekannten Leser, dar. Doch nicht nur Sheridan schaut auf die Welt, sie ist zudem erblicktes Objekt der anderen514. 3.5.1

Künstlerin

Mit dem Selbstverständnis eine bildende Künstlerin zu sein, geht Sheridan nach Moskau. Eine erste direkte Selbstcharakterisierung offenbart bereits das Vorwort der Russian Portraits, in dem Sheridan sowohl ihr professionelles Milieu darlegt515 als auch den „künstlerischen“ Antrieb und Zweck der Reise formuliert516. In gewisser Weise fungiert Sheridan auf dieser Reise in zweifacher, wenn nicht gar dreifacher Weise gestalterisch, da ihr Werk, die Büsten, mehrerlei Abbildung erfahren: erstens als plastische Modelle, zweitens durch die schriftliche Gestaltung der Büsten-Urbilder in ihrem Tagebuch und drittens durch die dem Tagebuch beigefügten Fotografien, die vermutlich aus ihrer Hand stammen. Die modellierten Abbilder wurden also durch schriftliche Abbildung komplementiert. Nun bescheinigt das Führen eines Tagebuchs dem Autor noch keine schriftstellerischen Qualitäten und auch Sheridan selbst nimmt sich nicht dezidiert als Schriftstellerin wahr517; und doch tritt sie mit Veröffentlichung ihrer Russlanderfahrungen in Zeitungsartikeln und in Russian Portraits als Autorin auf. Sie setzt ihre Darstellungen dem kritischen Blick beziehungsweise der Beurteilung durch eine Öffentlichkeit aus und begibt sich damit auf das Gebiet der Publizistik und in die Nähe anderer Autoren. 513 514 515 516 517

Ebd. Vgl. Sartre, Das Sein und das Nichts. S. 464. Vgl. Sheridan, RP. S. 7. „I went to Moscow where some portrait work was offered me.“ (Ebd.) „Mine is not the business of writing [...].“ (Ebd.)

3.5 Die Ich-Erzählerin im Tagebuch als erlebendes Ich

321

Mit der detailgenauen Abbildung der Figuren zeichnet Sheridan wörtlich noch einmal ein Bild dieser Menschen. Im Vergleich zu den Aufzeichnungen des amerikanischen Bildhauers Jo Davidsons, der nur drei Jahre später Lenin und andere bolschewistische Personen in Russland modellieren wollte, fällt Sheridans detaillierte Beschreibung auf.518 Ihre Verbindung mit dem Kunstwerk wird durch die schriftliche Fixierung des Urbilds und der Vor- und Nachteile der Bearbeitungsumstände im Tagebuch noch einmal gestärkt. Das Werkzeug, das ihr zur Herstellung des Werkes dienlich sein soll, wird an vielen Stellen des Werkes Teil von ihr. Sie nennt Tonerde (clay), Büstenstand (stand) und anderes Arbeitszeug in einem Atemzug mit sich selbst519 und lässt zudem an einer Stelle den Eindruck entstehen, dass das Arbeitszeug die Position vorgibt, an der sie sich selbst ausrichtet520. Mit ihren Werkzeugen bildet Sheridan für die sie erblickenden Augen eine eigene Welt521 und offenbart sich den Blicken anwesender Personen hier als mit ihrem Arbeitszeug verwoben. Sheridan wird nicht isoliert gesehen, sondern eingebunden in eine bestimmte Welt – die Welt des Kunstschaffens. Nach Sartre kann das „sehende Erfassen“ des anderen nur als „in der Welt und von der Welt aus gesehen erfassen“ bedeuten.522 Der Blick sucht den anderen „innerhalb [s]einer Situation und erfaßt von [ihm] nur 518

519 520 521 522

Vgl. Jo Davidson, Between Sittings. An Informal Autobiography. New York 1951. S. 182 f. – Nicht unerheblich ist der Faktor, dass es sich bei Davidsons Aufzeichnungen nicht um ein Tagebuch, sondern um eine Autobiografie handelt, die per se auf das hit et nunc verzichtet und aufgrund der retrospektiven Entstehungsweise zum einen auf Erinnerungen und Notizen angewiesen ist, zum anderen, mit dem Ziel der Darlegung des eigenen Lebens für ein unbekanntes Publikum eine Straffung der Ereignisse präferiert. Davidson führt seinen Russlandbesuch des Jahres 1924 auf sechs Seiten aus und belässt es dabei, seine Modelle mit je einem Satz zu beschreiben beziehungsweise nur zu nennen, wen er modelliert hat. Erfolglos war sein Unterfangen, einen Termin mit Lenin zu bekommen, der zu dieser Zeit bereits von mehreren Schlaganfällen geschwächt war: „I was told to wait and I waited and waited. But I couldn’t wait any longer.“ (Davidson, Between Sittings. S. 184.) Laut seiner Aussage modellierte er K. Radek, M. I. Kalinin, A. I. Rykov, der zu dieser Zeit Interims-Premier für Lenin war, und S. M. Budënnyj. (Vgl. ebd. S. 181.). In den 1940er Jahren reiste Davidson noch einmal in die UdSSR, um eine Büste von Stalin herzustellen. Die Kontaktaufnahme zu Stalin blieb jedoch erfolglos. (Vgl. ebd. S. 305 ff.) Vgl. Sheridan, RP. S. 127. „My stand and things were then brought into the room by three soldiers, and I established myself on the left.“ (Ebd. S. 106.) „When Kameneff looked in, bringing Zinoviev, I was up to my elbows in clay, my clothes were covered, and my hair was standing on end.“ (Ebd. S. 81.) Vgl. Sartre, Das Sein und das Nichts. S. 475.

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3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

unzerstörbare Bezüge zu den Utensilien: wenn [er] als sitzend gesehen [wird], muß [er] ‚auf-einem-Stuhl-sitzend‘ gesehen werden“523. Sheridan wird arbeitend erfasst. Sie setzt sich in ihrer Beschreibung in Bezug auf das sie umgebende Arbeitszeug und wird dementsprechend an einigen Stellen als arbeitende Künstlerin von der Außenwelt wahrgenommen. Anhand der Wiedergabe von Blicken anwesender Menschen – seien es Modelle oder Besucher – offenbart Sheridan den vermuteten Blick von außen. 524 Als Objekt für andere 525 wird Sheridan hier ebenfalls als Künstlerin beurteilt. Die Niederschrift dieser Momente zeugt davon, dass sich Sheridan darüber bewusst war, erblickt zu werden. 526 Jedoch findet sich nicht in jedem der ihr begegnenden Blicke Wohlwollen und Vertrauen in ihre Arbeit als Künstlerin: In manchen Situationen wird sie mit dem Zweifel anderer an ihrem Vorhaben konfrontiert. Nach Sartre ist der Erblickte als Objekt für die anderen deren Urteilen ausgesetzt, ohne auf diese unausgesprochenen „Wert-Beurteilungen“ einwirken zu können. 527 Die Beurteilung durch Blicke anderer kann dazu führen, dass das eigene Bild in Gefahr gerät. 528 Sheridans Selbstvertrauen wird durch den urteilenden Blick, der sie zuweilen in ihrer Rolle als Künstlerin trifft, irritiert. Durch die Blicke anderer wird Sheridan ein andersartiges Ich reflektiert und damit evozierte Zweifel und Unsicherheiten machen eine Entscheidung notwendig: Sheridan steht nun vor der Wahl entweder ihre Freiheit im Handeln zu nutzen und sich von den in Blicken offenbarten Urteilen anderer nicht beirren zu lassen oder sich-selbst-zu-entgehen und dem, was nur „flüchtig“ ist, zu entsprechen. Sheridans Aufzeichnungen lassen erahnen, dass sie (unbewusst) den ersten Weg wählte, denn schon nach dem kleinen Erfolg einer 523 524

525 526 527 528

Ebd. Vgl. Sheridan. Bspw. S. 84: „[...] then he [Zinoviev, d. Vf.] read his newspaper, every now and again flashing round with an imperative look at me to see how I was getting on.“ – „Every now and then he seemed to be conscious of my presence, and gave a piercing, enigmatical look in my direction. If I had been a spy pretending not to understand Russian, I wonder whether I should have learnt interesting things?“ (Ebd. S. 111; vgl. auch ebd. S. 16, 81, 129, 139.) Vgl. Sartre, Das Sein und das Nichts. S. 470 f. Vgl. ebd. S. 467. Vgl. ebd. S. 481 f. „I felt, as they looked at me, that I did not look much like a sculptor.“ (Sheridan, RP. S. 44.) – „‚Do you think that you are going to get Lenin to sit to you?‘ I did think so, and his eyes twinkled with merriment. ‚Well you won’t!‘ he said and chuckled.“ (Ebd. S. 59 f.) – „I feel very discouraged. Everyone I meet asks me what I have come to Moscow for. They assure me that there is no chance of modelling Lenin, and still less of doing Dzhirjinsky, who is a recluse.“ (Ebd. S. 80.)

3.5 Die Ich-Erzählerin im Tagebuch als erlebendes Ich

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Sitzung mit Zinoviev fasst sie neuen Mut und blickt hoffnungsvoller auf die Welt.529 Automatisch empfindet sie danach auch die Blicke anderer als positiver – die Scham vor dem vernichtenden (bewussten oder unbewussten) Urteil fremder Blicke ist vorerst geschwunden, da sie überzeugt ist, auf dem richtigen Weg zu sein. Nachdem ihr Unterfangen, die Büsten herzustellen, vollends gelungen ist, beschreibt sie, wie leicht sie sich fühlt.530 Neben dem Selbstbeweis, als Künstlerin ihre Ziele erreicht zu haben, führt sie als Begründung für die Freude über ihre fertiggestellte Arbeit u.a. die Tatsache an, auch anderen ihr Können bewiesen zu haben.531 Die zweifelnden Blicke anderer schwinden und sie nimmt nun respektvolle, gar bewundernde Blicke wahr. Es geht ihr damit nicht nur um das Werk an sich, sondern auch um eine Bestätigung ihrer Profession als Künstlerin vor sich selbst und vor anderen. Mit ihrem fokussierten Blick ist sie über fremde Entmutigungen hinweggegangen.532 Anhand der dargelegten Stimmungen kann man ablesen, wie wichtig ihr die eigens auferlegte Arbeit ist: Ist sie von dieser ungewollt entbunden, beispielsweise durch das Nichtzustandekommen von Terminen mit Modellen, empfindet sie Langeweile und Missmut533. Freie Tage bekommen erst Bedeutung, nachdem sie ihr Hauptwerk (Lenin und Trockij) beendet hat – nun kann sie diese genießen534. Es ist die Arbeitsaufgabe, die ihr von primärer Wichtigkeit im Leben erscheint, und so gesteht sie, dass sie sich sehr wohl vorstellen könne, als Künstlerin ein Leben in Russland zu führen.535 3.5.2

Adlige Engländerin

Sheridans Fahrt nach Russland ist vor dem Hintergrund ihrer Sozialisation sehr ungewöhnlich: Für eine adlige Engländerin begibt sie sich in Umstände, die zu Zeiten schwieriger politischer Gegebenheiten weder 529

530

531 532 533 534 535

„I walked home in face of a lovely sunset [...]. I sang as I walked, because I have begun work at last, but people looked at me, although they had never looked at me before.“ (Ebd. S. 84.) „The relief of having accomplished him as well as Lenin is indescribable. I wake up in the night and wonder if it is true or a dream. Now I am completely happy. I have achieved my purpose.“ (Ebd. S. 150.) Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 81. Vgl. ebd. Bspw. S. 98, 105, 119. Vgl. ebd. S. 161. Vgl. ebd. S. 176.

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3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

dem angemessenen Benehmen einer jungen Frau noch einem Mitglied der höheren englischen Gesellschaft entsprechen. Sie selbst, vor dem Hintergrund ihres unbedingten Willens zur Erstellung eines Werkes, schenkt diesem Wissen über die unerhörte Tat verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit. Ihr Tagebuch offenbart wenig Zweifel darüber, dass sie ihr Dasein als Künstlerin vor ihren gesellschaftlichen Status als Adlige stellt. Und doch zeigt sich an manchen Stellen, dass sie nicht frei ist, nicht frei sein kann von dem, was ihre Lebenswelt in England charakterisiert. Ihr Blick auf Menschen und Dinge ist der Blick einer Adligen; der Blick zurück ein Blick auf das westliche „Andere“. Im täglichen Leben zeigt sich, welcher englischen Lebenswelt Sheridan entstammt: Während sie überraschenderweise die schlichte Verköstigung in Russland nicht nennenswert betont – hier sei darauf verwiesen, dass sie noch zu Beginn ihrer Tagebuchaufzeichnungen mehrmals erwähnt, in England in hochpreisigen englischen Restaurants Gast gewesen zu sein536 –, hebt sie den als defizitär empfundenen Hygienestandard hervor.537 Die höchst detaillierte und ausführliche Beschreibung von Pelzen, die sie im Rahmen des Besuchs eines Pelzlagers in Moskau vorfindet, kann als weibliche Attitüde gedeutet werden, jedoch auch auf den gewohnten Luxus und den Geschmack adliger Klassen verweisen.538 Halb ironisch merkt sie in diesem Zug an, dass man ihr „grausamerweise Silberfuchs“ um den Hals legte. 539 Gleichzeitig ist ihr bewusst, dass das Äußere zu offenbar auf ihre Herkunft zeigen und sie als bürgerlich beziehungsweise adlig (bourgeois)540 entlarven könnte, was sie scheinbar ver536 537 538

539 540

Vgl. ebd. Bspw. S. 18. Vgl. ebd. S. 89, 103. „I liked a brown Siberian pony lined with ermine, but the moth had got into the pony. I liked a broadtail, but it was thin as cloth; they offered to have it fur-lined for me, but my need was immediate. There was a mink, but it had an old-fashioned flounce. There were astrachans, but everyone in Moscow has astrachan, it seemed too ordinary. I felt bewildered. My attention then wandered to a row of shubas: big sleeveless cloaks of velvet, that wrap around one, and descend to one’s feet. There was a dream lined with blue fox, and another with white. My friends put one round my shoulders, it was lined with sable: light as a feather, and warm as a nest. I despairingly voiced the fact that I could not walk about the streets of Moscow in a wine coloured velvet and sable cape.“ (Ebd. S. 137.) Ebd. S. 117. Obgleich Sheridan faktisch dem Adel entstammte, benutzt sie selbst nie den Begriff „aristocratic“ zur Beschreibung ihrer gesellschaftlichen Zugehörigkeit. Vielmehr bedient sie sich zum Ausdruck ihrer eigenen „Andersartigkeit“ in Russland des Begriffes „bourgeois“. Dieser soll im Folgenden auch im Sinne von großbürgerlich gelten.

3.5 Die Ich-Erzählerin im Tagebuch als erlebendes Ich

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hindern möchte. Dabei erfährt sie, dass Bürgerliche und Arbeiter in Bezug auf Bekleidung in Russland gleichgestellt seien.541 An manchen Stellen betont sie ihre adlige Herkunft (bourgeois) und verweist damit auf kleine Widersprüche, die sich für sie während ihres Aufenthaltes in Russland ergeben: „My bourgeois bringing-up is constantly having surprises!“542 So geht sie entgegen ihrer Erziehung mit einem ihr unbekannten Mann mit 543 und wundert sich über die Doppelrolle eines Soldaten als Kamerad und Diener auf ihrer Hinreise nach Russland. Die anfängliche Erschütterung über die Umnutzung einer Kirche als „Modellschule“ (modelling school) relativiert sich durch Sheridans eigene Geschichte: Auch ihr Vater nutzte eine kleine Familienkapelle einzig zum Arbeiten544. Prinzipiell passt sich Sheridan den Gegebenheiten in Russland schnell an, was ihr Verständnis für die in Russland angestrebte Gleichberechtigung von Mann und Frau einschließt545. Jedoch vermerkt sie anekdotisch eine Situation, die auf ihre diesbezügliche Sozialisierung und klar existierende Rollenbilder schließen lässt: Bei aller Emanzipation und Gleichstellung missfällt Sheridan in Russland das „unhöfliche“ Verhalten russischer Männer.546 Verständnis und Mitgefühl für Angehörige der in Russland liquidierten besitzenden Gesellschaftsschicht zeigt die Autorin im Rahmen ihrer Stadtrundgänge. Dabei erwähnt sie die Schönheit der Architektur von Galerien und Kunsthochschulen und kommt nicht umhin, auch auf die ehemaligen Besitzer hinzuweisen.547 Ihre Empathiebekundungen für jene,

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„Eigentliche städtische Ober- und Mittelschichten“ kristallisierten sich in Russland erst im Zuge der beschleunigten Urbanisierung heraus und ergaben sich aus verschiedenen sozialen Segmenten. Nach aktueller Forschung war das Bürgertum Russlands in die nachfolgenden sechs Gruppen zu unterteilen: Großbourgeoisie (die sehr heterogene Gruppe reicher Großkaufleute und Unternehmer, die auch Adlige, Vertreter der technischen Intelligencija, teilweise sogar Bauern umfasste), Angehörige des stadtsässigen Adels und der höheren Beamtenschaft, die vielgestaltige Gruppe der „Professionen“ (bspw. Mediziner, Ingenieure, Juristen – diese reifte relativ schnell zum Kern der neuen Mittelschichten heran), die Intelligencija (die nicht klar von der vorgenannten Gruppe zu trennen ist), Kaufleute beziehungsweise Gewerbetreibende und Besitzer kleiner Kapitalien. (Vgl. Goehrke, Russland. S. 171 f.) Vgl. Sheridan, RP. S. 137. Ebd. S. 62. Vgl. ebd. S. 97. Vgl. ebd. S. 92. Vgl. ebd. S. 172. Vgl. ebd. S. 172 f. Vgl. ebd. S. 93.

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3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

denen die baulichen Schönheiten einst gehörten, kann nun auf Sheridans eigene Klassenzugehörigkeit zurückgeführt oder einfach nur als Zeichen des Mitgefühls für die Enteigneten gedeutet werden. In jedem Fall scheint Sheridan zutiefst ergriffen zu sein, scheint gar, in einem der Häuser noch die Anwesenheit der Geister ehemaliger Besitzer zu verspüren. Dass sie selbst Teil dieser Gesellschaftsklasse ist, zeigt sich vor allem in einer Anmerkung auf der Hinreise nach Russland. Sie schreibt, dass die aktuelle Fahrt nach Stockholm in starkem Kontrast zu früheren Fahrten an diesen Ort des schwedischen Königspalastes stehe, in dem sie vormals ein und aus ging. 548 Und doch will sie sich unterschieden wissen von den üblichen Ansprüchen dieser gutsituierten gesellschaftlichen Klasse, da sie sich nach eigener Aussage weniger über materielle Dinge definiere, denn über geistige. Und so seien ihr ein Ort zum Arbeiten und entsprechende Arbeit genug zur Zufriedenheit.549 Die mit ihrer Sozialisation zusammenhängende müßige Lebensweise wird ihr im Angesicht des im Aufbau befindlichen sowjetischen Staates besonders deutlich und sie stellt fest, dass sie erst in Russland habe erfahren können, was Freiheit sei.550 Wie anzunehmen, findet sich Sheridan in ihrer Rolle als Bürgerliche beziehungsweise Adlige per se nicht auf der Seite der Revolutionsbefürworter wieder und es sind die Blicke anderer, der Einheimischen, die ihr dies zu Zeiten offenbaren. Erst die Blicke anderer rufen das Schamgefühl hervor, das sie im Land der Arbeiter und Bauern per se fühlen müsste. Sheridan fühlt sich zu Unrecht beurteilt durch Blicke, die sie als stereotyp adlig entlarven wollen.551 Hier zeigt sich, dass sie „adlig“ als negatives Attribut auslegt, von dessen Zuschreibung sie sich u.a. durch ihre unabhängigkeitschaffende Tätigkeit als Künstlerin zu befreien versucht.552 Ihr ist daran gelegen, nicht als Adlige wahrgenommen zu werden und daher ist sie beruhigt, dass 548 549 550

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Vgl. ebd. S. 47. Vgl. ebd. S. 176. „I like living in this way. It may seem a strange taste to those people who have the sense of possession, the collectors’ instinct, or the love of home. I have none of these; so long as I have a place to work in, and plenty of work to do, and leisure in which to think about it, I ask little more.“ (Ebd. S. 176.) – „Now for the first time I feel morally and mentally free, and yet they say there is no freedom here.“ (Ebd. S. 178 f.) Vgl. ebd. S. 74, 87, 111. „I said to Aunt Jennie, ‚And how is that grave condition of things, that dangerous ‚Liberty‘ going to be rectified? I am a widow, and earn my living, how is it to be otherwise ordered?‘ She had no suggestion, it would have been obviously out of place to suggest re-marriage, which in fact is the only way of ending it, of ending everything, liberty, work, and my happiness, which is dependent on my work.“ (Ebd. S. 25.)

3.5 Die Ich-Erzählerin im Tagebuch als erlebendes Ich

327

nicht jeder über ihren sozialen Hintergrund in Kenntnis gesetzt ist. Doch bleibt eine Konfrontation nicht aus und so begegnet sie Lenins Vorwurf und Urteil mit einem entschiedenen Blick553, andere eher indirekt formulierte Urteile nimmt sie ohne Entgegnung hin und in ihr Tagebuch auf554. 3.5.3

Cousine Winston Churchills

Eine weitere Rolle nimmt Sheridan als Cousine des allseits bekannten Feindes der Bolschewiki, Winston Churchill ein.555 Mit Übernahme des Postens als Kriegsminister im Jahr 1919 war er maßgeblich für die Entwicklung der britischen Interventionspolitik in der RSFSR verantwortlich. 556 Obwohl Sheridan die Thematisierung dieser familiären Verbindung meidet, wird sie von ihren Gesprächspartnern gelegentlich vor diesem Hintergrund betrachtet und beurteilt. Es sind insbesondere Lenin und Trockij, mit denen Sheridan direkt über ihre familiäre Bindung zu Churchill zu sprechen kommt. Bereits das erste Treffen mit Lenin beinhaltet nach Sheridans Aufzeichnungen die Erwähnung Churchills. Sheridans provokante Frage, ob Churchill der am „meisten gehasste Engländer“ wäre, verneint Lenin, stellt jedoch seine Sicht auf Churchill dar; er skizziert ihn als eine Person, die alle Kräfte des Kapitalismus hinter sich vereine.557 Obwohl Sheridan ein sehr gutes Verhältnis zu ihrem Cousin pflegt558, schreibt sie, dass sie vor Lenin „entschuldigend“ ihre Unschuld an dieser familiären Verquickung artikuliert559. Sie gibt durch diese Reak553

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„I protested that the sacrifice involved made Victory [i.e. a further work of Sheridan, d. Vf.] beautiful, but he would not agree. ‚That is the fault of bourgeois art, it always beautifies.‘ I looked at him fiercely. ‚Do you accuse me of bourgeois art?‘ – ‚I accuse you!‘ [Lenin said, d. Vf.].“ (Ebd. S. 112.) „He [i.e. Litvinov, d. Vf.] smiles tolerantly when my bourgeois breeding breaks out. But he says I am getting better.“ (Ebd. S. 161; vgl. auch ebd. S. 186.) „Winston was … interested about the Bolsheviks […] He said nobody hated Bolshevism more than he, but Bolsheviks were like crocodiles. He would like to shoot everyone he saw, but there were two ways of dealing with them – you could hunt them or let them alone, and it was sometimes to expensive to go on hunting them for ever.“ (Leslie, Cousin Clare. S. 103.) – Vgl. Alter, Winston Churchill. S. 86. Vgl. Schmid, Churchills privater Krieg. S. 15. Vgl. Sheridan, RP. S. 108. Vgl. Leslie, Cousin Clare. Bspw. S. 72. „He [Lenin, d. Vf.] talked about Winston being my cousin, and I said rather apologetically that I could not help it, and informed him that I had another cousin who was a Sinn Feiner.“ (Sheridan, RP. S. 109.)

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3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

tion ihre Anpassung an die Umstände zu erkennen und verheimlicht damit ihre tatsächliche persönliche Neigung. Im Rahmen des zweiten Treffens mit Lenin bietet sich Sheridan als Übermittlerin einer Nachricht an Churchill an, was Lenin mit der Begründung ablehnt, dass die letzte Kontaktaufnahme 560 in einen „bitteren Zeitungsartikel“ Churchills über die Russen mündete.561 Sheridans Bemühungen, Churchills Einfluss in England verbal zu relativieren, stoßen bei Lenin auf Unverständnis und so vermeidet sie jede weitere Thematisierung.562 Oberflächlich betrachtet scheint ihre unpolitische Haltung ihrer Sozialisation und familiären Verbindung zu Churchill zu widersprechen. Genau genommen befindet sie sich als Cousine Churchills in einer gefährlichen Situation in Russland, da der Vorwurf der Spionage nicht abwegig gewesen wäre. Ein im Tagebuch durch Kürzel ausgewiesener Bekannter warnt sie vor ihrer Reise davor, in Russland als Spionin deklariert und verurteilt zu werden.563 Sheridan widerlegt diese Vermutung unter Angabe ihrer künstlerischen Ziele.564 Jedoch kommt es während ihres zweiten Treffens mit Trockij halb scherzhaft zum drohenden Vorschlag seinerseits, sie als Geisel zu nehmen. 565 Der Scherz bekommt einen schalen Beigeschmack bei der näheren Betrachtung dieser Möglichkeit und wirkt wie ein Echo der Warnung von Sheridans Bekanntem. Indem sie einerseits Trockij offenbart, dass sie stolz wäre, in jedweder Art für „die Sache“ von Nutzen sein zu können, andererseits, dem Leser mitteilt, dass sie den unerbittlichen Geist gutheißt, charakterisiert sie sich indirekt selbst als furchtlos und idealistisch. 566 Im gleichen Atemzug setzt sie Churchill in den von ihr bewunderten Eigenschaften den Bolschewiki gleich. 567 Als jedoch auch Kamenev unumwunden und mit einem kalten

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564 565 566 567

Diese fand vermutlich über die Britische Arbeiterdelegation um Snowden statt. Vgl. ebd. S. 112. Vgl. ebd. S. 113. Vgl. ebd. S. 32. – Sheridan selbst thematisiert diesen Gedanken im Hinblick auf ihre Unkenntnis der russischen Sprache: „If I had been a spy pretending not to understand Russian, I wonder whether I should have learnt interesting things?“ (Ebd. S. 111.) „I claimed an artist’s zeal in wishing to do a bust of Lenin and to bring his head back in my arms.“ (Ebd. S. 32.) Vgl. ebd. S. 134. Vgl. ebd. „Winston is the only man I know in England who is made of the stuff that Bolsheviks are made of. He has fight, force and fanaticism.“ (Ebd.)

3.5 Die Ich-Erzählerin im Tagebuch als erlebendes Ich

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Gesichtsausdruck andeutet, sie könne eine Spionin sein, fühlt sie „einen kalten Schauer“ 568. Sheridan selbst schreibt ihrer Rolle als Cousine Churchills scheinbar keine große Bedeutung für den Umgang in Russland zu. Ob sie sich darüber bewusst war, dass der Einfluss ihres familiären Kontextes für den Zugang zu den bolschewistischen Führungspersönlichkeiten nicht gering zu schätzen ist, bleibt im Tagebuch unthematisiert. Deutlich wird jedoch, dass sie aufgrund dieser Gegebenheit weit davon entfernt ist, als „neutrale“ Besucherin wahrgenommen zu werden. Der gegenseitige Nutzen, der sich aus diesen Umständen heraus von beiden Seiten versprochen wurde, ist mit Blick auf die politischen Umstände und die familiären Verquickungen nicht zu unterschätzen. Als unpolitisches Sprachrohr in einer politisierten Umgebung hätte Sheridan dazu dienen können, ein Russlandbild zu multiplizieren, das der politischen Führung Russlands zugutegekommen wäre. 3.5.4

Kommunistin?

Bei der Betrachtung der Reise einer adligen Engländerin nach Russland liegt die Frage nicht fern, wie sich das Verhältnis beziehungsweise die Haltung der Reisenden zur Ideologie, exakter: zum Kommunismus beziehungsweise Bolschewismus in Russland darstellt. In erster Linie kristallisiert sich schon im Vorwort, dass es keine wirkliche Haltung zur Politik gibt, da sich Sheridan selbst als unpolitisch versteht. Im Rahmen einer Analyse der verschiedenen Rollen, die die Reisende einnimmt und in ihrem Tagebuch wiedergibt, scheint es auf den ersten Blick vermessen zu behaupten, dass sie sich als Kommunistin wahrnimmt. Eine detaillierte Analyse offenbart jedoch, dass oberflächliche Sympathien durchaus vorhanden sind. Prinzipiell kann Sheridans Haltung zum System bis auf ein paar Ausnahmen als unkritisch und offen, jedoch nicht durchweg befürwortend bezeichnet werden. Die Tatsache, dass sie sich in den höchsten politischen Kreisen bewegt, lässt ihr scheinbares Desinteresse an politischen Themen auffällig erscheinen. Während Interviews und persönliche Begegnungen mit den führenden Bolschewiki für den Großteil der Russlandreisenden ein begehrtes, doch mitunter schwer zu erringendes Unternehmen darstellte, hatte Sheridan nahezu täglich die Gelegenheit, auf 568

Vgl. ebd. S. 184.

330

3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

diese Weise detaillierte politische Informationen über das Land zu erlangen. Sie nutzt das jedoch nur marginal. Als unpolitische Person ist sie nicht per se mit den politischen Gegebenheiten vertraut, stellt sie jedoch an manchen Stellen sehr positiv dar. Zuweilen sind in diesem Rahmen Ansätze einer Kritik am eigenen, englischen Gesellschaftskonstrukt ablesbar. Zumeist zeigt sich ihre Haltung diesbezüglich an Vergleichen zu Gegebenheiten in englischen beziehungsweise westlichen kapitalistischen Gesellschaften.569 Bereits in der Einleitung ihres Reisetagebuchs sagt sie, dass sie sich nicht für Politik, sondern bei aller Ambivalenz für die „Menschheit“ (humanity) interessiere. 570 So stellt sie im Falle der Lektüre von Maupassants Yvette fest, dass es der Bolschewismus geschafft habe, wenigstens jene in der Novelle beschriebene „abscheuliche Welt untätiger Menschen auszumerzen“571. Mit Betonung darauf, dass sie sich nicht als Kommunistin sieht und es sich ihrer Meinung nach beim Kommunismus um keine praktische Theorie handele, konstatiert sie, dass den Menschen in Russland viele Privilegien zustünden und sie diese, im Gegensatz zur übersättigten Gesellschaft Englands, auch zu nutzen wüssten.572 Zum Teil lobt sie das kommunistische Land in Bezug auf seine sozialen Errungenschaften beziehungsweise die hier vorfindliche geistige Freiheit573. Vor die Aufgabe gestellt, eine Statue zu entwerfen, die die sowjetische Idee interpretiert, zeigt sich Sheridan maßlos inspiriert von ihrer russischen Umgebung. 574 An dieser Aussage zeigt sich, dass Russland für sie als Künstlerin einen präferierten Nährboden darstellt; gleichzeitig offenbart diese Aussage, dass es Sheridan an einem umfassenderen Verständnis der sie umgebenden Welt mangelt. Eine künstlerisch gestaltete, aussagekräftige Allegorie auf die sowjetische Idee zu erschaffen, übersteigt das politische Verständnis der Künstlerin.

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Vgl. ebd. S. 177 f. Vgl. ebd. S. 7. Ebd. S. 66. Vgl. ebd. S. 176 f. Vgl. ebd. S. 124, 175. „He wants me to think about a statue interpreting the Soviet idea, and told me a good deal about the Third International, as representing a world brotherhood of workers. [...] Everything that one hears and sees here stirs the imagination – my mind is seething with allegories with which to express them, but they are so big that I should have to settle for life on the side of a mountain, and hew out my allegories from the mountain side.“ (Ebd. S. 104.)

3.5 Die Ich-Erzählerin im Tagebuch als erlebendes Ich

331

Für Sheridan enthüllt sich nicht der Kern der kommunistischen Idee, sondern Moskau als idealer Ort für ihr Kunstschaffen. Dieser Vorteil offenbart sich nicht von vornherein. Noch zu Beginn ihrer Fahrt und nach dem ersten Zusammentreffen mit John Reed fragt sie sich, was einen „normalen jungen Mann aus den Vereinigten Staaten“ dazu bringen könne, sein Heimatland zu verlassen, um „sein Herz und Leben in die Arbeit“ in Russland zu werfen.575 Dies scheint sich zu ändern, nachdem auch sie einige Wochen die Erfahrung des Lebens als Gast mit einer Aufgabe in Russland machen konnte. Und so kann sie sich kurz vor Abfahrt nach England auch vorstellen, in Moskau zu bleiben, um zu arbeiten.576 Das, was aussieht wie die Übereinstimmung mit einer Ideologie und Übernahme einer Rolle als ideologisierte Besucherin, ist letztlich nichts anderes als das Erkennen eines persönlichen Vorteils. Im Kontrast zur gesellschaftlich verwehrten Freiheit in Großbritannien als Hausfrau, Mutter und Dame der Gesellschaft, muss Sheridan das postrevolutionäre Land wie eine lebenswerte Welt erscheinen.577 Für diese Zwecke übernimmt sie partiell die Position einer Befürworterin des Systems. Auch ihre Aussage, dass sie für immer unter den Russen leben oder außer Landes für sie arbeiten578 würde, bedeutet nicht die totale Übereinstimmung mit kommunistischen Werten, sondern nur eine Möglichkeit für Sheridan, ihre Menschenfreundlichkeit zu leben und für ihren Wunsch nach Frieden zu kämpfen. Denn eines ist Sheridan, die angibt, in Russland nichts anderes als sehr glücklich gewesen zu sein579, bewusst geworden: „Kommunistisch“ zu leben bedeutet für sie, dass man die Menschen, die man täglich für unbestimmte Zeit sieht, entweder lieben oder hassen muss. Unmissverständlich macht sie jedoch immer wieder klar, dass sie

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578 579

Vgl. ebd. S. 71. Vgl. ebd. S. 175. Sheridan vergisst nicht, zu erwähnen, dass sie als Gast eine Sonderbehandlung in Bezug auf Freiheiten hat und sich die Dinge für sie als reguläre Bürgerin anders gestalten würden. Doch fügt sie hinzu, dass auch die Freiheiten in ihrem Land, in weniger auffällig denn eher subtiler Gestalt, nicht wirklich vorhanden sind: „There may be restrictions to the individual, and if I were a Russian subject I might not be allowed to leave the country, but I seem to have been obliged to leave England rather clandestinely.“ (Ebd. S. 178.) Vgl. ebd. S. 179. „I tried to explain that I hadn’t played up, and that I had not been anything except very happy.“ (Ebd. S. 186 f.)

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3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

sich zwar für die Ideen dieser neuen Gesellschaft interessiert580 und die Hoffnung nicht aufgibt, diese irgendwann in ihrer Komplexität nachvollziehen zu können 581 , doch weder Kommunist noch Bolschewik ist 582 . Indem sie den intellektuellen Möglichkeiten und der geistigen Freiheit im postrevolutionären Land einen höheren Stellenwert einräumt als der materiellen Ausstattung charakterisiert sich die Autorin in erster Linie selbst.583 Von anderen wird Sheridan indes in einigen Situationen als Befürworterin des Systems wahrgenommen. Während die wenigen in Kenntnis gesetzten Menschen ihres englischen Umfelds erwartungsgemäß von ihrem geplanten Besuch in Russland überrascht sind, kann sie von Fremden nicht ad hoc auf ihren ideologischen Standpunkt hin beurteilt werden. So sind es maßgeblich bestimmte Orte (Heimwelt, Fremdwelt), die ihr einen „Rollenwechsel“ aufzwingen. Der Blick von außen und die vermeintliche Wahrnehmung als Bolschewik trifft sie beispielsweise bei einem Besuch in der englischen Geschäftsstelle der sowjetischen Handelsdelegation. Hier versucht sie nachzuvollziehen, wie sie in den Augen des bolschewistischen Publikums als Bolschewik beurteilt wird und stellt fest, dass sie als solche eine „große Versagerin“ sei.584 Auf russischem Boden vermeint sie zuweilen als ideologisch gleichgesinnte Besucherin aufgenommen zu werden, was sich an den Aussagen ihrer Gesprächspartner zeigt. 585 Auch auf ihrer Rückreise nach Großbritannien erfährt sie im Gegensatz zum mitreisenden amerikanischen Geschäftsmann Vanderlip eine gesonderte Behandlung. Während ihm zur Kurzweil in Stockholm „führende schwedische Banker“ zur Seite stehen, werden für

580 581 582 583

584 585

Vgl. ebd. S. 172. Vgl. ebd. S. 54. Vgl. ebd. S. 172, 177. „There may be no food for the body, but there is plenty of food for the soul, and I would rather live in discomfort in an atmosphere of gigantic effort, than in luxury among the purposeless.“ (Ebd. S. 175.) – „There is leisure to read, leisure to think, leisure to observe. The big ideas, wide horizons and destruction of all the conventions have taken hold of me.“ (Ebd. S. 176.) – „I do not mean that I am a Communist, nor that I think it is a practical theory, perhaps it is not, but it seems to me, nevertheless, that the Russian people get gratis a good many privileges, such as education, lodging, food, railways, theatres, even postage, and a standard wage thrown in. If the absence of prosperity is marked, the absence of poverty is remarkable. The people’s sufferings are chiefly caused by lack of food, fuel and clothing.“ (Ebd. S. 177.) Vgl. ebd. S. 30. Vgl. ebd. S. 76.

3.5 Die Ich-Erzählerin im Tagebuch als erlebendes Ich

333

Sheridan „Frederick Ström586 und russische Bolschewiki“ eingeladen.587 Auch hier spielt der Ort ihres Aufenthaltes im engeren Sinn eine Rolle: Ihre der Öffentlichkeit bekannt gewordene Nähe588 zu Lenin und Trockij lässt auch eine ideologische Nähe vermuten und so findet sie sich in der Gesellschaft von Kommunisten wieder. An zwei Stellen beschreibt Sheridan, wie sie gegenüber Unbekannten den kommunistischen Standpunkt einnimmt und sogar verteidigt. In diesen beiden Fällen ist sie diejenige, die die Fremdwahrnehmung als Kommunistin bestätigt. Im Tagebuch äußert sie jedoch, dass sie es weder als ihre Aufgabe sehe, dieses System zu verteidigen, noch dass ihr Hintergrundwissen ausreiche, in einer politischen Diskussion mitzuwirken.589 Resümee Nicht nur, dass das Tagebuch als persönliches Schriftstück die soziale und familiäre Eingebundenheit des auf die Welt Blickenden mit erfasst, auch lässt sich an ihm ablesen, inwiefern nur verdeckt nach außen getragene Rollen von der Umwelt wahrgenommen werden. Dies ist abermals der Funktion des Tagebuchs als Ort für Reflexionen über die Welt und Fremdwahrnehmungen geschuldet. Es kann festgehalten werden, dass Sheridans Tagebuch Ort der Fixierung von Selbst- und Fremdwahrnehmung der Autorin ist. Anhand der aufgeführten Rollen Sheridans zeigt sich, dass sie nicht unfrei von diesen mit ihrer Sozialisation zusammenhängenden Einflüssen in die Fremde reiste. Ihr Werk entbirgt das individuelle Wechselspiel zwischen Welt und schreibendem Mensch und ebnet damit einen Weg, die subjektive Weltanschauung eines Menschen nachzuvollziehen. Sheridans Blick nach vorn (auf die Welt) erweist sich damit im weitesten Sinne als ein Blick zurück (auf sich selbst). Dabei stellt sich grundlegend die Frage, inwiefern es sich bei diesem Text um ein „einfaches“ Tagebuch oder aber ein Reisetagebuch handelt. Freilich zeugt Sheridans Schrift von einer 586

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Fredrik Ström war einer der Gründer der Schwedischen Kommunistischen Partei und saß zu dieser Zeit im schwedischen Reichstag. Er war zudem Unterstützer der Russischen Revolution. Vgl. ebd. S. 197. Da der britischen Öffentlichkeit unterdessen Sheridans Reise nach Russland und scheinbar auch der Rückfahrttermin bekannt geworden war, wurde sie bereits in Schweden von Reportern belagert. (Vgl. ebd.) Vgl. ebd. S. 77, 97.

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3 Reisende Künstlerin – Clare Sheridans Russian Portraits

Auseinandersetzung der Autorin mit Welt. Vogelsangs These über den abnehmenden Grad an Widerspiegelung des schreibenden Ich zugunsten einer signifikant stärkeren Thematisierung des Gegenstands „Reise“ mit all seinen Facetten590 jedoch kann an Sheridans Schrift nicht nachgewiesen werden. Festgehalten werden kann, dass weltliche Phänomene immer in enger Verbindung zur Schreiberin selbst stehen und der Blick auf die Welt nicht zugunsten einer neutralen Darstellungsweise objektiviert wird, sondern eine jeweils ganz individuelle Seite der Autorin verrät. Dies bestätigt einmal mehr die poetologischen Charakteristika des Tagebuchs. Auch zeigt sich Sheridans Werk als Selbstfindungswerkzeug – ein weiteres Merkmal des Tagebuchs. 591 Die von Sheridan aufgenommenen Fremdwahrnehmungen ihrer Person entbergen allerdings den Unterschied zwischen „Alltag“ und der Heidegger’schen „Alltäglichkeit“: Erst die Erfahrung einer neuen Fremdwahrnehmung, die Sheridan in Russland in ihren unterschiedlichen Rollen macht, eröffnet der Künstlerin die Möglichkeit, persönliche Grenzen auszuloten und zu überschreiten. Dieses Überschreiten des „ManSelbst“ hin zu einem „Selbst“ 592, und das damit verbundene Heraustreten aus der Alltäglichkeit, wird in Sheridans Tagebuch implizit artikuliert und nach der Rückkehr vollends von der Autorin vollzogen. Die umgebende Welt spielt in diesem Fall nicht als eigentlicher Gegenstand eine Rolle, sondern lediglich als positiv oder negativ wirkender Faktor, der mehr oder weniger thematisiert wird.

590 591 592

Vgl. Vogelsang, „Das Tagebuch“. S. 199. Vgl. ebd. S. 185. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit. S. 129

Resümierende Schlussbetrachtungen

Mit der vorliegenden Arbeit wurden mehrere Ziele verfolgt. Erstens sollten in einer werkimmanenten Analyse weltliche und mitweltliche Gegebenheiten gefiltert werden, um daraus das jeweils entworfene Russlandbild zu rekonstruieren und damit transportierte Topoi freizulegen. Die formale Analyse der Werke war Gegenstand eines zweiten Schritts, in dem die Gestalt der Reisetexte näher beleuchtet werden sollte. Hierbei wurden im Zuge einer Literarizitätsanalyse jene Elemente des Textes ausfindig gemacht, die das rein Faktische transzendieren und einerseits die Verständlichkeit der Texte fördern, andererseits deren Authentizität betonen sollen. Drittens sollten biografische Spuren sichtbar gemacht werden, dies zum einen zur Veranschaulichung poetologischer Merkmale der jeweiligen Reiseliteraturgattung; zum anderen um an deren Anwesenheit im Folgenden die Nähe der Reisetexte zur Autobiografie zu ermessen. Topoi und Thema

Snowdens mehrheitlich kritischer Text durchzieht die Idee von Russland als dem „Anderen“, wobei dies nicht zwangsläufig unbekannt und fremd ist, sondern, auf subtilere Weise, eher ungewohnt und irritierend erscheint. Oft wird dies „Andere“ bei Snowden negativ konnotiert, und so erscheint das postrevolutionäre Land an manchen Stellen als locus terribilis. In Pankhursts Text materialisieren sich drei große Deutungsmuster für die RSFSR. Die Autorin zeigt das Land als einen Ort, an dem die „Utopie“ praktiziert wird. Darüber hinaus ergibt sich durch ihre Aufzeichnungen das Bild eines Ortes, an dem sich die Zukunft in materialisierter Form zeigt. Dies hebt Pankhurst kontrastreich anhand der Darstellung der Fortschrittlichkeit Russlands im Vergleich zur Rückständigkeit kapitalistischer Länder hervor; nicht zuletzt durch Betonung der besonderen Fürsorge, die der nächsten Generation, den Kindern, von staatlicher Seite zugutekommt. Kapitalistische Länder des Westens werden von der Autorin an vielen Stellen als Störfaktor für die Entwicklung des Sozialismus dargestellt. An Sheridans Text offenbart sich der Topos der „Andersartigkeit“ des Landes. Im Kontrast zur mangelhaften materiellen Ausstattung, die die Autorin zu Zeiten erlebt, stellt sie Russland zum Ende ihres Aufenthalts als Ort der geistigen Freiheit, als „locus amoenus für Künstler und

336

Resümierende Schlussbetrachtungen

Denker“ dar. Ihr Russlandbild ist damit auf den ersten Blick höchst widersprüchlich. Diese unterschiedlichen Topoi gliedern sich letztlich in den Korpus westeuropäischer Topoi über Russland und die Sowjetunion ein.1 „Furcht und Faszination“ bleiben, und dafür stehen diese drei Schriften exemplarisch, das Spannungsfeld in dem sich die ausländischen Besucher der RSFSR bzw. frühen Sowjetunion bewegten. Analog siedeln sich die schriftlich fixierten Erfahrungen zwischen diesen beiden Polen an. Während die Reisemotivation im Reisebericht von Snowden deutlich formuliert wird und bei Pankhurst rekonstruiert werden kann, wird die Schreibmotivation der beiden Berichterstatterinnen erst mit der Analyse sichtbar. Beide Autorinnen handeln „über den Weg der Reise“2 ein Thema ab. Bei Snowden korrelieren Reise- und Schreibmotivation im Wunsch, das Lesepublikum aufzuklären. Darüber hinaus scheint sie mit ihrem Werk dem faktischen und unpersönlichen offiziellen Delegationsreport einen zugänglichen, vor allem persönlicheren Erzähltext entgegenzusetzen. Einen Text, der neben der Aufklärung über Sowjetrussland auch Schlussfolgerungen bereithält, die der Delegationsreport verweigert. Es darf nicht vergessen werden, dass der offizielle Report initial mit Gerüchten um die desaströsen Zustände in Russland aufwartet3, um diese im Anschluss anhand von Erfahrungen und Fakten zu widerlegen beziehungsweise zu relativieren. Diese Gerüchte geben dem offiziellen Report einen Rahmen des „Grauens“. Snowden lässt die Einbindung derlei Fakten weg und stellt ihre Erzählung in einen anderen Kontext: den Kontext 1 2

3

Vgl. bspw. Heeke, Zahn und Oberloskamp. Vgl. Nora Bauer, „Landschaft mit Ruine“. Lange Nacht. Deutschlandfunk, 19.08.2017. Online verfügbar unter http://www.deutschlandfunk.de/eine-lange-nachtueber-reisen-nach-italien-landschaft-mit.704.de.html?dram:article_id=391006 (abgerufen am 29.11.2017). „We feel it necessary to begin by pointing out that most accounts of Soviet Russia which we had seen in the capitalist press of our own country proved to be perversions of the facts. The whole impression gained was of a different character from that presented by these accounts. We did not see any violence or disorder in the streets, though we walked about them freely at all hours of the day and night. We did not see people fall dead of starvation in the streets. We did not see any interference with the religious life of the people. We did not see any Chinese soldiers. We saw no evidence of extraordinary luxury on the part of the leading Commissars. We did not find that either women or children had been nationalised. We certainly did witness a widespread breakdown in the transport system with deplorable economic consequences, and we saw terrible evidences of under-feeding and suffering. These points have been dealt with, however, in the Reports already issued by the Delegation on the iniquitous policy of intervention and blockade.“ (Guest, British Labour Delegation. S. 6.)

Resümierende Schlussbetrachtungen

337

ihres Ideals vom menschenwürdigen Leben. Für ihren Reisebericht ergibt sich als Thema die „Aufdeckung des Scheins“. Für Pankhurst kann konstatiert werden, dass sie als Augenzeugin den Nachweis einer existierenden Utopie bringen möchte. Die sachlich anmutende und umfängliche Darstellung von Gegebenheiten darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Auswahl und Anordnung der Phänomene die gezielte Absicht der Autorin entbergen. Die von Pankhurst nicht explizit formulierte Motivation zur Reise mag ihren Grund im weitesten Sinne in der Bildung einer kommunistischen Partei in Großbritannien haben. Sie stünde dann der Schreibmotivation nahe: Die Autorin unterstützt mit ihrem Text die Notwendigkeit eines gesellschaftspolitischen Umschwungs in Großbritannien. Das Lehrbuchhafte, das ihrem Text zuweilen zu eigen ist, unterstützt die These, dass das zugrundeliegende Thema ihres Berichts als „Aufklärung über eine kommunistische Zukunft“ ausgewiesen werden kann. Mit dieser Aufklärung versucht die Autorin, neue Befürworter zu gewinnen, um nicht zuletzt auf Grundlage einer breiteren Basis in der britischen Bevölkerung politische Veränderungen in Großbritannien zu motivieren. Auch bei Sheridan fallen Reise- und Schreibmotivation zumindest teilweise aufeinander. Während die Reisemotivation dezidiert benannt wird, sind es die in Russland verbrachten Tage selbst, die „eigentlicher Anreger zur diarischen Selbstgestaltung“4 sind. Die Schreibmotivation ist schlichtweg die „alltägliche Auseinandersetzung mit der Welt“, die in Russland speziell ihre künstlerische Arbeit umfasst. Die Frage nach dem Thema von Sheridans Reisetagebuch soll über die oben benannte Theorie des Tagebuchs5 führen. Gesagt wurde, dass sich im Reisetagebuch „die sehr intim dargelegte Begegnung von Individuum und bereister Welt vermuten“ lässt und „das schreibende Ich und die Reise“ um thematische Vorherrschaft streiten. An Sheridans fragmentarischer Darstellung der weltlichen und mitweltlichen Gegebenheiten wird offenbar, dass die Autorin mit dem Verfassen ihrer Schrift nicht primär die Darlegung der Gegebenheiten am bereisten Ort intendierte. Vielmehr ging es ihr darum, Selbsterfahrung zu fixieren. Ausschließlicher Maßstab zur Bewertung der begegnenden Phänomene in Russland und Objekt der Beschreibung bleibt sie selbst. Damit wird sie beziehungsweise ihre persönliche Entwicklung zum impliziten roten Faden, ergo zum Thema ihrer Schrift. Der Ausbruch

4 5

Vgl. Jurgensen, Das fiktionale Ich. S. 11. Vgl. dazu Kapitel I, 2.2 der vorliegenden Arbeit.

338

Resümierende Schlussbetrachtungen

aus der in Großbritannien erlebten Alltäglichkeit führt im weitesten Sinne zur „Selbstfindung“, die am Tagebuch abgelesen werden kann. 6 Form der Reiseschriften

Im Abgleich mit der veranschlagten Reiseberichtdefinition Kortes kann festgehalten werden, dass sich auch an Snowdens und Pankhursts Werken die Begegnung mit Welt als hermeneutischer Vorgang zeigt. Bei Snowden geschieht dies in der selektiven Darlegung russischer Welt im Abgleich mit Phänomenen in Großbritannien. Ihre persönliche Schlussfolgerung zeigt, dass sie vom einzelnen Menschen auf das Ganze schließt. Bei Pankhurst erfolgt der Prozess in umgedrehter Weise. Sie schließt von ihrem theoretischen Wissen über das kommunistische System auf das Einzelne vor Ort. In dieser deduktiven Vorgehensweise blendet die Autorin zumindest in ihrem Reisebericht negative Seiten des Kommunismus für verschiedene Gesellschaftsgruppen aus oder aber relativiert diese durch kontrastierende Vergleiche mit kapitalistischen Ländern. Zum Teil entbergen seltsam kombinierte Vergleiche und Analogien7 den dogmatischen und auch manipulativen Impetus der Autorin und ihre eindeutig pro-kommunistische Haltung. Generell erfolgt Verstehen bei beiden Autorinnen im Zusammenspiel von Einzelnem und Ganzem. Oberflächlich scheint der zugrundeliegende Maßstab der Beurteilung beider Autorinnen der Mensch zu sein – im Detail jedoch unterscheidet sich dieser: Während Snowden den konkret begegnenden russischen, vor allem andersdenkenden Menschen zum Maßstab ihrer Bewertung nimmt, beurteilt Pankhurst anhand der theoretischen Möglichkeiten, die die zugrundeliegende Idee des Kommunismus für eine ganze Bevölkerung verspricht. Letztlich tragen die Autorinnen ihre „Denk- und Wahrnehmungsweisen [...] an die bereisten Gegenden [heran]“ 8 und geben den Texten damit einen subjektiven Charakter. Kortes These, dass der Reisebericht „nie allein etwas über die durchreiste Welt, sondern immer auch etwas über das reisende Ich“9 aussagt, findet daher mit diesen beiden Texten Unterstützung. 6

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Vgl. Nadine Menzel, „Encounters With Her Self. Clare Sheridan’s Russian Travel Diary of 1920“. Vortrag. Encounters. Institute for Advanced Studies. University of Bristol. 10.09.2015. So beispielsweise ihre Herleitung des Zusammenhangs, der zwischen in Brand geratenen Zügen und der Wirtschaftsblockade besteht. (Vgl. Pankhurst, SR. S. 167 f.) Korte, Der englische Reisebericht. S. 9. Ebd.

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Die Funktion des Reiseberichts findet mit den oben veranschlagten Themen eine Erweiterung. Für Snowdens und Pankhursts Reiseberichte kann die von Brenner benannte Funktion der „Vermittlung authentischer, durch Autopsie gewonnener Informationen“ 10 bestätigt werden. Beide Autorinnen berichten über weltliche Phänomene und authentifizieren ihre Erfahrungen unter Anwendung verschiedener Strategien. Darüber hinaus wird sichtbar, dass Reiseberichte nicht nur reinen Informationen Platz bieten, sondern auch deren Deutung und Kontextualisierung. Beide Autorinnen kontextualisieren Vorgefundenes in je eigener Art und Weise und stellen es in Relation zu Gegebenheiten in ihrem Herkunftsland. Zudem zeigt sich Pankhursts Bericht als Ort der Kritik an ihrem Heimatland. Während diese in früheren Jahrhunderten in Reiseschriften noch verdeckt und verschleiert über den Umweg der Fremde vorgenommen wurde, kritisiert Pankhurst unverblümt durch explizite Vergleiche, die zuungunsten Großbritanniens ausfallen.11 Sheridans Werk beinhaltet mit den ersten 15 Einträgen das Vorweg der eigentlichen Reise. Ein kleiner Ausschnitt ihres Alltags in Großbritannien wird zum Verständnis der gesamten Reise ebenso thematisiert wie die geografische und politische Welten verbindende Hin- und Rückfahrt. Der Tagebuchform gemäß zeichnet Sheridans Schrift den ordo naturalis der Russlandreise nach und so wird der Inhalt von den Gegebenheiten der Reise und des Aufenthalts bestimmt. Da sich mit dieser chronologischen Darstellung kein kohärentes Handlungsgefüge ergibt – nicht ergeben kann – ist auch ein Stoffzusammenhang im herkömmlichen literarischen Sinne nicht zu erkennen. Damit wird die These Vogelsangs bestätigt, dass eine Fabel12 im Tagebuch nicht vorhanden ist, da „das Tagebuchschreiben […] auf der ontologisch primären Wirklichkeit [basiert und] auch auf diese wieder [zurück wirkt].“ 13 Auch zeigt sich Sheridans Werk in Bezug auf bestimmte, mitunter literarische Strategien weniger stark bearbeitet. Als Ort für Erinnerungen und intime Bekenntnisse, als Hilfsmittel für die Ordnung von Gedanken über die (fremde) Welt, ist es ein privates und hierfür probates Instrument. Einzig das nachträglich hinzugefügte Vorwort wendet sich explizit an einen Leser außerhalb ihrer 10 11

12 13

Brenner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur. S. 1. So beispielsweise ihre Herleitung des Zusammenhangs, der zwischen in Brand geratenen russischen Zügen und der Wirtschaftsblockade besteht. (Vgl. Pankhurst, SR. S. 167 f.) Vgl. Wilpert, Sachwörterbuch. S. 254. [Fabel] Vogelsang, „Das Tagebuch“. S. 185.

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selbst. Das beinahe entschuldigende Vorwort steht der Unvoreingenommenheit der folgenden Tagebucheinträge kontrastiv gegenüber und zeugt von einer „anderen Zeit“ – jener nach der Rückkehr Sheridans aus Russland, in der sich die Autorin gesellschaftlich ausgegrenzt sieht14. Es kennzeichnet sowohl Reise als auch Tagebuch als den Ort zwischen ihrem alten und neuen Leben. So kann das Vorwort als Reaktion auf die Zeit nach der Reise gelesen werden. Da ein Tagebuch an sich gewissermaßen letztlich nichts weniger abbildet als die „Reise durch ein Leben“, alle Höhen und Tiefen der Entwicklung eines Menschen idealiter ungeschönt und zeitnah festhält, ist fraglich, welche Merkmale ein Reisetagebuch aufweisen muss, um als solches deklariert zu werden. In diesem Zuge sei auf Wuthenows Aussage verwiesen, dass erst das Reisetagebuch der Reise seine eigentliche Form gebe. 15 Dieser Blick aus der Perspektive der Reise erlaubt die Frage, ob andererseits die Reise an sich auch Sheridans Schrift zu einer besonderen Form verhalf? Handelt es sich bei ihr tatsächlich um ein Reisetagebuch oder doch nur ein „extrahiertes“ Fragment aus ihrem gewöhnlichen Buch des Tages? Für das Reisetagebuch, so wurde in Kapitel I, 2.2 behauptet, sei vonnöten, dass sich das schreibende Ich vor dem Thema „Reise“ zurücknimmt. Es soll Platz gewonnen werden für Beschreibungen und Reflexionen über die bereiste Gegend. Vergleicht man in Sheridans Buch die Anzahl der Einträge auf der Hin- und Rückfahrt mit der des Moskauaufenthalts stehen 13 Einträge 40 Einträgen gegenüber. Da sich Sheridans Aufenthalt nach Ankunft in Russland ausschließlich auf Moskau und das ihr dort zugewiesene Umfeld beschränkt, entsteht an diesem Ort, und das zeigt das Tagebuch, eine Art Alltag. Während ihre Aufzeichnungen auf der Hin- und Rückreise mehr denn je Reflexionen von Erkenntnissen und Gedanken über das eigene Dasein sind, und der Ort der Aufzeichnung damit per definitionem zum Tagebuch wird, bestimmen auch in Moskau die künstlerische Arbeit und damit einhergehende Gewohnheiten den Ton ihrer Aufzeichnungen. Die Frage, ob es sich bei Sheridans Werk tatsächlich um ein Reisetagebuch handelt, muss folglich verneint werden: Die Bewegung der Reise und der Aufenthalt am bereisten Ort spielen eine untergeordnete Rolle, können vielmehr als ein über den Text hinausge14

15

Sheridans Biografin Leslie schreibt, dass sich sowohl ihre Kundschaft, ihr Cousin Winston Churchill als auch die Englische Königsfamilie von ihr abwandten: „London Society now dubbed her ‚a traitor to her class‘.“ (Leslie, Cousin Clare. S. 130 f.) Wuthenow, Europäische Tagebücher. S. 165.

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hender Antrieb zur Selbstfindung gesehen werden; Thema bleibt in nahezu allen Fällen die Autorin selbst, die nicht das Ziel hat, einer außenstehenden Instanz zu berichten, sondern lediglich, das Erfahrene zu verstehen und sich selbst in der Welt zu verorten. Während sich auf der Reise ein (Arbeits-)Alltag einstellt, durchbricht Sheridan mit der Reise die Schranken der Alltäglichkeit16 ihres Daseins. Gewohnte Denkbilder und Selbstwahrnehmungen werden brüchig, letztlich hinfällig und so kann sich die Autorin für ihr eigentliches, „das heißt eigens ergiffene[s] Selbst“ 17 freimachen. In Bezug auf Dusinis These, dass das Verständnis des Inhalts eines Werkes erst mit Wissen um dessen Gattungszuordnung gewährleistet werden kann 18 , soll eingeschränkt werden, dass dies bei Reiseliteratur primär die Kategorie Fiktion betrifft. Mit anderen Worten: Die Ausweisung eines Werkes als fiktional beziehungsweise nicht-fiktional ist essentiell zur Beantwortung historiografischer Fragen. 19 In Bezug auf einen generellen Erkenntnisgewinn für den Rezipienten allerdings spielt es keine Rolle, ob ein Werk als Roman oder als nicht-fiktionales Tagebuch ausgezeichnet wird beziehungsweise dieses auch ist. Um mit Schlösser zu sprechen, ist Reisen „ein Muster der Welterschließung und der Persönlichkeits-Bildung, ‚Literatur des Reisens‘ wird so zum Ausdruck eines Erfahrungs- und Gestaltungsprozesses, in dem Reisen und Schreiben einander bedingen.“ 20 Autobiografische Befunde

Zwei der drei Schriften widerlegen die Annahme, dass sich die politische Voreinstellung kongruent mit der Bewertung des Landes zeigt. Von Snowden, der aktiven Sozialistin, hätte demnach ein überschwänglich positives Bild erwartet werden können. Sheridan, die Adlige und Verwandte Churchills, hätte dieser Annahme nach ein nüchterneres Bild 16 17 18 19

20

Vgl. Heidegger, Sein und Zeit. S. 370. Ebd. S. 129. Dusini, Das Tagebuch. S. 20. – Siehe hierzu auch die Diskussion bei Vogt, Aspekte erzählender Prosa. S. 13–19. Aufgrund ihres Status’ als Augenzeugenberichte über fremde Welten sind die Erwartungen an den faktischen Wahrheitsgehalt von Reiseberichten beziehungsweise Reisetagebüchern sehr hoch, während dies bei fiktionalen Werken nicht der Fall ist. Nach Aristoteles’ Einteilung würden Verfasser von Reiseberichten und Reisetagebüchern eher Geschichtsschreibern denn Dichtern zugeordnet werden. (Vgl. Aristoteles, Poetik. Stuttgart 2001. S. 29.) Vgl. Schlösser, Reiseformen des Geschriebenen. S. 15.

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zeichnen müssen. Heeke, der feststellt, dass es sich bei den von ihm untersuchten deutschen Reiseberichten und Reisetagebüchern über die Sowjetunion, „fast immer auch [um] politische Stellungnahmen“ 21 handelt, unternimmt den Versuch, die Reisenden anhand ihrer schriftlichen Äußerungen über das Land einzuteilen.22 Snowden fiele bei derlei Zuordnung den Prüfenden23 zu. Obgleich sie per se Befürworterin des Sozialismus ist, zeigt der Bericht ihre kritisch-distanzierte Haltung zum russischrevolutionären Weg. Ausgehend von ihrer Aufgabe einer Untersuchung der russischen Verhältnisse wägt sie ab und gesellt sich damit zu jenen von Heeke klassifizierten Autoren, die „suchend, prüfend, fragend und neugierig durch das Land reisten“ und dabei durchaus nicht unvoreingenommen, „doch offen für die Entwicklungen im Land“24 waren. Diesen hierunter subsumierten Autoren war häufig daran gelegen, „die offenkundigen Falschmeldungen über die Sowjetunion zu revidieren“25, gleichzeitig aber auch ihre etwaige Desillusionierung nicht zu verbergen26. Pankhurst changiert nach einer solchen Einteilung zwischen einer Befürworterin und Propagandistin. Sie ist insofern Propagandistin, als dass sie mit ihrer Argumentation konsequent den Blick auf die Errungenschaften des postrevolutionären Staates richtet und auch jene Menschen, die nicht zur sowjetischen Führungsriege zählen, am Maßstab des Heroischen misst. Ihr zugrundeliegendes Ideal ist das des politischen Märtyrers, der sich, wie Pankhursts Mitweltdarstellung zeigt, durch Entbehrung und Kampf auszeichnet. So wird die punktuell erwähnte Unterversorgung mit 21 22

23 24 25

26

Heeke, Reisen zu den Sowjets. S. 531. Er führt dabei die folgenden Kategorien an: „Propagandisten“, „Befürworter“, „Prüfende“, „explizite Gegner“, „Demagogen“, „Renegaten“ und „Unpolitische“. (Vgl. ebd. S. 530–542.). Ebd. S. 534. Ebd. „So much about Russia that was contradictory had appeared in the newspaper press, with the balance of statement on the side of evil report, that it was increasingly felt by the organised workers of Great Britain the truth must at all costs be discovered, if that were possible, by investigators selected by themselves. In addition, it was thought right and wise to discover if there existed anything in the behaviour of the Russian Government and people so menacing to ourselves as to warrant the attacks upon Russia of foreign Governments, including our own. We did not believe that any possible conduct of the Government of Russia could justify the supply of British men, arms and money to Russia’s enemies; and we have returned unanimously confirmed in that judgement, convinced that Russian internal affairs are her own business and not ours.“ (Snowden, TBR. S. 7 f.). Vgl. Heeke, Reisen zu den Sowjets. S. 535 f.

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Lebensmitteln als ein kleiner Preis betrachtet, der für das Ziel einer insgesamt lebenswerteren Welt gezahlt werden muss. Sheridan fiele bei einer solchen Kategorisierung den Unpolitischen27 zu. Sie betreibt mit ihren Aufzeichnungen weder allgemeine Werbung für das Land noch stellt sie über ihre eigenen Belange hinausgehende politische Bezüge her beziehungsweise prüft die politischen Verhältnisse. Eingangs und an wichtigen Stellen des Tagebuchs28 betont die Autorin ihr Unverständnis für Politik und stellt sich damit als ungeeignete Beobachterin für diese Angelegenheiten dar. Ihre vermeintliche Unvoreingenommenheit, die das Tagebuch, abgesehen von stereotypen Äußerungen offenbart, erweckt den Schein, dass die Autorin wenig Erwartungen an die gesellschaftspolitische Situation des Landes stellte, daher auch nicht enttäuscht werden konnte.29 Die mehrmalige Betonung ihres völligen Heraushaltens aus der Politik mag nun auf ihr generell politisches Desinteresse verweisen, zugleich könnte es jedoch auch für eine nachträgliche Edition ihrer Aufzeichnungen sprechen.30 Obgleich in der Forschung nachgewiesen werden konnte, dass die politische Voreinstellung in vielen Fällen mit dem entworfenen Russlandbild korreliert, belegen die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit, dass das Wissen um den Hintergrund des reisenden Autors nicht primär zum Vordergrund der Auslegung werden sollte. Vielmehr sollte in erster Linie der jeweilige Text sprechen.

27 28 29

30

Ebd. S. 542. Sheridan, RP. S. 7, 170 ff. Wie viel die Autorin wirklich über Russland wusste und ob sie sich der Abenteuerlichkeit, die mit solch einer Reise verbunden war, bewusst war, steht in Frage. Noch auf der Hinfahrt weist ein Tagebucheintrag darauf hin, dass die Entscheidung zum Aufbruch so spontan kam, dass sich Sheridan nicht darauf vorbereiten konnte: „Now for the first time I had leisure and calm in which to think over what I am doing. There persist in my mind faint echoes of warnings, but I must have no misgivings, it seems to me unlikely that Kameneff would invite me to go to his country if I were likely to be either unhappy or in danger there. He must know what he is doing, and what he is taking me to. There are moments in life when it is necessary to have blind faith.“ (Ebd. S. 39.) Leslie gibt in ihrer Biografie den Brief des Cousins Sheridans, Shane Leslie, wieder, den dieser ihr direkt nach ihrer Rückkehr aus Russland zukommen ließ. Hier fordert er sie auf, alle öffentlichen Aussagen und auch die Veröffentlichung ihrer Tagebuchauszüge betreffende Angelegenheiten „mit Vorsicht“ zu behandeln und nichts zu drucken, das nicht über seine „Schreibmaschine gegangen ist“. (Vgl. Leslie, Cousin Clare. S. 130.)

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Die eingangs behauptete Durchdringung von Mensch und Welt wird zweifach offenbar: Einerseits zeigen sich die Erzählerinnen als jeweils von ihrer heimweltlichen Ordnung eingenommen, was insbesondere an den von den Autorinnen vorgenommenen Vergleichen und Präkonzeptionen versinnbildlicht wird. Andererseits zeigen sich die Erzählerinnen selbst in ihrem Verstehensprozess als Akteure der Durchdringung fremder Welt. Mit Blick auf das eingangs angebrachte Gadamer’sche „Erlebnis“ soll Folgendes festgehalten werden: Die zwei Bedeutungsrichtungen des Erlebnisses, das „Selbsterlebte“ und der bleibende Gehalt dessen, „was da erlebt wird“31, das „Ergebnis“, spiegeln sich in allen drei Reisetexten mehr oder weniger wider. Das „Selbsterlebte“ materialisiert sich in den Reiseberichten durch die Anwesenheit der Autorinnen als IchErzählerinnen. Während diese oft nur implizit ihre Subjektivität wiedergeben, sind sie explizit in unterschiedlich starkem Maß als beschreibende beziehungsweise berichtende Instanz in der ersten Person Singular im Text anwesend. Das „bleibende Ergebnis“, welches das Erlebnis nach Gadamer erst vollständig mache, zeigt sich im oben benannten Thema der jeweiligen Schrift. Bei Snowden kristallisiert sich das Ergebnis als Schreck über den praktizierten Bolschewismus – ein nachwirkendes Erlebnis. Pankhurst gibt dem Erlebnis „Reise“ eine dezidierte Form mit ihrem Reisebericht, indem sie es zeitlich und räumlich auf Russland eingrenzt und damit eine Sinneinheit schafft. Diese ist der komprimierte Nachweis über die Existenz des utopischen Ortes. Die Reiseberichte werden wie die Biografie zum Zeugnis dieses Bleibenden. Ein Vergleich von poetologischen Charakteristika der Autobiografie und des Reiseberichts zeigte, dass sich die beiden literarischen Formen in drei Punkten gleichen: die Kongruenz von Autor, Erzähler und Protagonist, dem dezidierten Wahrheitsanspruch der Schriften und der Möglichkeit, Ort der Identitätsbildung zu sein.32 Während die ersten beiden Merkmale in den zwei Reiseberichten vorfindlich sind, soll die Frage nach dem Reisebericht als „Ort der Identitätsbildung“ noch analysiert werden. Snowden und Pankhurst verstehen sich als politische Akteurinnen auf der Suche nach einer Alternative zur bestehenden gesellschaftspolitischen Ordnung in Großbritannien. Nach Russland fährt Snowden deshalb als „abgeordnete Gutachterin“ einer sozialistisch gesinnten britischen Minderheit; Pankhurst fährt als aktiv Beteiligte an der Gründung einer britischen kommunistischen Partei. 31 32

Gadamer, Wahrheit und Methode. S. 66 ff. Vgl. dazu Kapitel I, 2.1.1 der vorliegenden Arbeit.

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Snowdens heimweltliches Wissen und die sozialistische Theorie bleiben implizites Korrektiv ihrer Bewertungen der russischen Welt. Ihre Irritation darüber, in Russland eine Bevölkerung in Armut und repressiven Lebensbedingungen vorzufinden, zeichnet sich im Reisebericht ab. In Verbindung mit dem Unverständnis für ihre kritische Einschätzung des Landes, das sie im Nachgang der Reise vonseiten der ILP und britischer Sozialisten erfährt33, führt die Russlanderfahrung zu einem Bruch ihres Selbstverständnisses als Linksintellektuelle. Dies spiegelt sich an Snowdens Entwicklung, die auf die Russlandreise folgt: Die Autorin wendet sich ab 1920 fast gänzlich von politischen Aktivitäten ab. 34 Der Reisetext deutet diesen Bruch bereits an. Pankhursts praktischer Reisegrund, die in Gründung befindliche britische kommunistische Partei an die Komintern anzubinden 35 , bezeugt einmal mehr ihre leidenschaftliche Suche nach einer Alternative zur „Klassengesellschaft“36. Bei Pankhurst ist dieser Wunsch alt: Die vertraute gesellschaftspolitische Ordnung wird von ihr schon lange als porös wahrgenommen. Als Pazifistin sieht sie sich als „Rebellin gegen die aktuelle Gesellschaftsordnung“ 37 . Ihr Reisebericht legt Zeugnis von der Existenz einer alternativen Ordnung ab und gibt ihrem Wunsch Ausdruck, die britische Bevölkerung vom Anachronismus kapitalistischer Systeme zu überzeugen. Der Text untermauert die Überzeugung der Autorin, in Russland eine wirkliche Alternative zu finden. Er bestätigt zudem die Richtigkeit ihres Kampfes, indem er das real existierende Ziel aufzeigt. Eine autobiografische Lesart ist demnach möglich, dabei sollen allerdings zwei Punkte beachtet werden. Erstens: Während in der Autobiografie eine retrospektive Einordnung von Lebensgegebenheiten in „übergreifende Zusammenhänge […] als Wechselwirkung zwischen Ich und Umwelt“ mit einer „nachträglichen Sinngebung des gelebten Lebens aus einheitlicher Perspektive“ vorgenommen wird38, findet dies in den Reise33 34 35 36

37 38

Vgl. Hannam, „Snowden, Ethel“. S. 501. Vgl. ebd. Vgl. Romero, E. Sylvia Pankhurst. S. 134. Ihre Biografin schreibt, dass sie während der Kriegszeit bereits sehr dogmatisch war: „At that time she was an inflexible socialist, dedicated to the poor amongst whom she lived and worked. This inflexibility meant that she once again lacked the pragmatism necessary to accomplish her goals and extract from wealthy people like the Astors and their guests the help she needed in carrying out her mission in East London.“ (Ebd. S. 105.) „[…] a rebel against the present organization of society.“ (Dreadnought (08.04.1916) zitiert in: ebd. S. 115.) Wilpert, Sachwörterbuch. S. 60. [Autobiographie]

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berichten nur sehr fragmentarisch statt. Der geringe zeitliche Abstand zwischen der eigentlichen Reise und der Publikation verursacht einen Unterschied in der Authentizität. Während Ereignissen in der Autobiografie retrospektiv häufig ein teleologischer Charakter zugeschrieben wird, zeigen die Momentaufnahmen der Reiseberichte Brüche auf. Beispielhaft kann in diesem Punkt Pankhurst angeführt werden, deren Bruch mit der kommunistischen Idee sich erst schleichend im Nachgang ihrer Reise vollzog. Ihr persönliches Narrativ verweigerte nach diesem Bruch jedwede Erinnerung an die Zeit als enthusiastische Befürworterin des Kommunismus39. Neben vielen ihrer publizistischen Arbeiten ist es insbesondere der Russlandreisebericht, der davon Zeugnis ablegt. Zweitens: Das eigentliche Thema der Reiseberichte ist nicht, wie dies bei einer Autobiografie angenommen werden kann, die Person selbst – es fehlt die reflektierte Wiedergabe einer Wechselwirkung zwischen „Ich und Umwelt“, wie in den Kapiteln zur Literarizität und zur Ich-Erzählerin bei Snowden und Pankhurst gezeigt werden konnte. Als wirklichkeitsbezogenes Dokument mit einem die eigene Persönlichkeit transzendierenden Zweck verhandelt der Reisebericht ausdrücklich Sachverhalte der Reise. Der Blick nach innen weicht dem Blick nach außen. Nichtsdestotrotz ist die schreibende Person, wie in der Analyse zu sehen ist, implizit auffindbar. Als Autorin, Erzählerin und Protagonistin in einem zeigt sie sich durch eine subjektive Darstellung von Welt. Das Reisetagebuch muss hinsichtlich des Gadamer’schen „Erlebnis“Begriffs differenziert beurteilt werden. So kann denn das „Erlebte“ ebenfalls an der anwesenden Ich-Erzählerin abgelesen werden. Das „bleibende Ergebnis“ dessen jedoch nur über den Text hinaus. Eine nachträgliche Edition von Einträgen, die die Gewissheit eines zumindest minimalen retrospektiven Blicks involviert und durch dezidierte Anordnungs- und Selektionskriterien motiviert ist, findet nicht statt; Erfahrungen werden zeitnah verbalisiert und so ist ihr bleibender Gehalt noch nicht absehbar. Auch für das Tagebuch gilt, dass es aus genannten Gründen eher biografische Brüche spiegelt als die retrospektiv verfasste Autobiografie. Das Tagebuch wirkt mithin authentischer. In puncto Thema steht es der Autobiografie näher als der Reisebericht: Der Ich-Erzähler bildet den Mittelpunkt der Erzählung. In Bezug auf Sheridan heißt das, dass die chronologischen Aufzeichnungen ihre persönliche Entwicklung enthüllen und das Überkommen althergebrachter Strukturen verbildlichen. „Lebensweltlich poröse Ordnungsvor39

Vgl. Romero. E. Sylvia Pankhurst. S. 155 f.

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stellungen“40 von Rollen und dem comme il faut einer Adligen stehen bei Sheridan nicht dezidiert am Anfang der Reise, kristallisieren sich aber im Laufe der Zeit heraus. Die Autorin befreit sich mit der Reise maßgeblich aus den Fängen des Man41, das ihr adlige Konventionen auferlegen, und überträgt das Selbstbewusstsein, das sie hierdurch gewinnt, in ihr zukünftiges Leben42. Ohne sich theoretisch damit in ihrem Tagebuch auseinanderzusetzen, geriert sich Sheridan mit der Durchsetzung eigener Handlungsfreiräume letztlich doch als politisch. Sie überwindet gesellschaftliche Konventionen zugunsten eines emanzipierten Lebens. Die Reise nach Russland kann als ihr erster Schritt in diese Richtung bezeichnet werden. Ausblick

Der Reiseberichtforschung steht im Internetzeitalter eine Felderweiterung, wenn nicht gar ein grundlegender Wandel bevor. Die mediale Landschaft wird mit seitenlangen, von Bildern versehenen Blogeinträgen bereichert. Über Facebook, Twitter und Co. lassen sich beinahe in Echtzeit Eindrücke und Erlebnisse weltweit veröffentlichen; Videoblogs und -tagebücher schicken endloses Ton- und Bildmaterial um die Welt. Die freien und damit unkontrollierten und nicht katalogisierten Veröffentlichungswege lassen die zukünftige qualitative und quantitative Vielfalt nur erahnen und stellen das Forschungsfeld vor neue Aufgaben. Die Gattungsge40 41 42

Alfred Opitz, „Berichte aus der ‚Zweiten Heimat‘“. S. 90. Zu den Begriffen des „Man“ und der „Eigentlichkeit“ vgl. Heidegger, Sein und Zeit. U.a. S. 126–130, 175–180. Sheridan lebte nach der Rückkehr aus Russland vorerst in Amerika, wo sie ab 1922 als Korrespondentin der New York World arbeitete. Sie war in diesem Rahmen international tätig und kam in Kontakt mit führenden politischen Persönlichkeiten. So war sie beispielsweise die einzige Journalistin, die im irischen Bürgerkrieg ein Interview mit Michael Collins und seinem politischen Gegner, dem irisch-republikanischen Aktivisten Rory O’Connor führte. Sie interviewte zudem den Begründer und ersten Präsident der modernen Republik Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, sowie den italienischen Politiker Benito Mussolini. Im Jahr 1923 kehrte Sheridan nochmals in die Sowjetunion zurück, wurde dort jedoch weniger herzlich empfangen. Eine Motorradtour, die sie mit ihrem Bruder 1924 quer durch Europa unternahm, führte sie auch in diesem Jahr noch einmal durch die südliche Sowjetunion. 1925 gab sie ihre Tätigkeit als Korrespondentin auf, um sich voll und ganz der Bildhauerei zu widmen. Hierfür siedelte sie nach Algerien um. In den 1920er Jahren veröffentlicht sie drei autobiografische Bücher (Across Europe with Satanella (1925), A Turkish Kaleidoscope (1926), Nuda Veritas (1927)). Darauf folgte im Jahr 1936 Arab interlude. Mit ihren Memoiren To the Four Winds fand ihr autobiografisches Schreiben 1957 einen Abschluss. (Vgl. Leslie, „Sheridan, Clare Consuelo“. S. 293 f.)

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schichte des Reiseberichts setzt sich ergo mit anderen Mitteln fort – doch auch hier findet der Versuch des Verstehens und der Rekonstruktion von Welt statt. Von Interesse wäre daher u.a. eine Untersuchung, inwiefern sich tradierte poetologische Charakteristika der Reiseliteratur in neuen Formen der Reiseberichterstattung finden lassen und wie sich die beschleunigte Produktion und Rezeption auf das jeweils transportierte Bild der Fremde auswirkt.

Literaturverzeichnis

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Sekundärquellen „All Baku Prisoners Free“. In: The Times. London 16.11.1920. S. 11. Alexinsky, Gregor, Modern Russia. London 1913. „Aleksinskii, Grigorii“. In: Online Archival Search Information System (OASIS). Harvard University Library. Online verfügbar unter http://oasis.lib.harvard.edu/oasis/deliver/ ~hou00147 (abgerufen am 01.02.2018). Alter, Peter, Winston Churchill (1874–1965). Leben und Überleben. Stuttgart: Kohlhammer 2006. Altrichter, Helmut, „Intourist“. In: Historisches Lexikon der Sowjetunion 1917/22 bis 1991. Hans-Joachim Torke (Hg.). München: C. H. Beck 1993. S. 120. Aristoteles, Poetik. Stuttgart: Reclam 2001. Armborst, Kerstin, Ablösung von der Sowjetunion. Die Emigrationsbewegung der Juden und Deutschen vor 1987. Münster: Lit 2001. Bartsch, Achim, „Literarizität“. In: Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze–Personen–Grundbegriffe. Ansgar Nünning (Hg.). Stuttgart [u.a.]: Metzler 2008. S. 453–454. Bauer, Nora, „Landschaft mit Ruine“. Lange Nacht. Deutschlandfunk, 19.08.2017. Online verfügbar unter http://www.deutschlandfunk.de/eine-lange-nacht-ueber-reisen-nachitalien-landschaft-mit.704.de.html?dram:article_id=391006 (abgerufen am 29.11.2017). Beer, Bettina (Hg.), Methoden und Techniken der Feldforschung. Berlin: Reimer 2003. Biernat, Ulla, ‚Ich bin nicht der erste Fremde hier‘. Zur deutschsprachigen Reiseliteratur nach 1945. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. Blum, Oscar, Russische Köpfe. Kerenski. Plechanow. Martow. Tschernow. SawinkowRopschin. Lenin. Trotzki. Radek. Lunatscharsky. Dzerschinsky. Tschitscherin. Sinowjew. Kamenew. Berlin-West: Schneider 1923. Böhme, Hartmut, „Die Enthauptung von Johannes dem Täufer“. In: Glaube Hoffnung Liebe Tod. Ausstellungskatalog Wiener Kunsthalle/Albertina. Christoph Geissmar, Eleonora Louis (Hg.). Klagenfurt: Ritter 1996. S. 379–384.

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