Nach der Urkatastrophe: Deutschland, Europa und der Erste Weltkrieg 9783412216658, 9783412221997


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German Pages [288] Year 2013

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Nach der Urkatastrophe: Deutschland, Europa und der Erste Weltkrieg
 9783412216658, 9783412221997

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Peter März

NACH DER URKATASTROPHE Deutschland, Europa und der Erste Weltkrieg

2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Nach der Unterzeichnung des Locarnopakts, London, 1. Dezember 1925. In der ersten Reihe v.r.n.l: Baldwin, Luther, Lady Chamberlain und Tochter, Briand, Vandervelde. Auf der Treppe v.r.n.l.: Skrzyński, Stresemann, Scialoja, BeneŠ; dahinter Churchill und Chamberlain. Foto: Politisches Archiv, Auswärtiges Amt, Berlin.

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D–50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Text | Bild | Recherche, Rainer Borsdorf (M.A.) Satz: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Druck und Bindung: Finidr s.r.o., Český Těšín Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Czech Republic ISBN 978-3-412-22199-7

Für Caroline

Inhalt

Einführung................................................................................................... 11 Dimensionen................................................................................................ 17 Der Weg in den Krieg.................................................................................. 22 Die Expansion des Krieges.. ......................................................................... 45 Erschöpfungskrieg und Erschöpfung.......................................................... 65 Andere Friedenstopographien in Europa – 1990, 1648, 1714, 1814/15............ 73 Versailles entgegen: Die USA als neuer Player und die Vorgeschichte mit Brest-Litowsk ....................................................................................... 85 Die Pariser Vorortverträge. . .......................................................................... 95 Versailles....................................................................................................... 100 Ökonomien, soziale Prozesse, Demographie............................................... 112 Mächtepolitik............................................................................................... 120 Die deutsch-polnisch-russische Dreieckstragödie. . ..................................... 141 Das Ende der großdeutschen Perspektive.. .................................................. 168 Milieus, Kulturen, Stile, Werte in Deutschland........................................... 190 Parteien in Deutschland............................................................................... 215 Zivilisationsbrüche, „Totaler Krieg“............................................................. 232 Schlussüberlegungen.................................................................................... 260 Literatur........................................................................................................ 268 Personenregister. . .......................................................................................... 280

Der britische Botschafter in Berlin, Viscount D’Abernon, in seinen Memoiren zur Bilanz des Krisenjahres 1923 an dessen 31. Dezember „Nun geht das Krisenjahr zu Ende. Die inneren und äußeren Gefahren waren so groß, dass sie Deutschlands ganze Zukunft bedrohten. Eine bloße Aufzählung der Prüfungen, die das Land zu bestehen hatte, wird einen Begriff davon geben, wie schwer die Gefahr, wie ernst der Sturm war. Obwohl ich diesen ganzen Zeitraum miterlebte und mich an manchen Ereignissen aktiv beteiligte, habe ich nicht immer im Augenblick erfasst, wie schicksalsschwer die Lage war. Wenn man zurückblickt, sieht man klarer, wie nah dieses Land am Abgrund stand. In den zwölf Monaten von Januar bis heute hat Deutschland die folgenden Gefahren überstanden: die Ruhrinvasion; den kommunistischen Aufstand in Sachsen und Thüringen; den Hitler-Putsch in Bayern; eine Wirtschaftskrise ohnegleichen; die separatistische Bewegung im Rheinlande. Jeder einzelne dieser Faktoren, falls er sich ausgewirkt hätte, würde eine grundlegende Veränderung entweder in der inneren Struktur des Landes oder in seinen Beziehungen nach außen herbeigeführt haben. Jeder dieser Gefahrenmomente, falls er nicht abgewendet worden wäre, hätte jede Hoffnung auf eine allgemeine Befriedung vernichtet. Politische Führer in Deutschland sind nicht gewohnt, dass ihnen die Öffentlichkeit Lorbeeren spendet, und doch haben diejenigen, die das Land durch diese Gefahren hindurch gesteuert haben, mehr Anerkennung verdient, als ihnen zuteil werden wird.“ 1

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Viscount D’Abernon: Ein Botschafter der Zeitwende: Memoiren Bd. II: Ruhrbesetzung, Leipzig o. J. (1929), S. 337f.

Einführung

Die sogenannte „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts war weithin „nur“ die katastrophale Eröffnung des 20. Jahrhunderts für die Europäer. In anderen Weltregionen mag sie heute als Auftakt zu Emanzipation, Befreiung und Bedeutungsgewinn gesehen werden. Und auch auf der Zeitachse der uns bekannten europäischen Geschichte muss der Erste Weltkrieg keineswegs als eine historische Urkatastrophe schlechthin erscheinen. Der Dreißigjährige Krieg war, jedenfalls für Deutschland, vermutlich die intensivere Katastrophe; ein Unterschied liegt allerdings darin, dass sich an sein Ende doch Besserung und Aufstieg anschlossen. Vor allem war die Ära der blutigen Konfessionskämpfe ein für alle Mal vorbei. Und vielleicht war die größte Katastrophe für die damals europäisch-mediterrane Welt das Verlöschen der antiken Zivilisationen in den Stürmen der Völkerwanderung. In der deutschen Rückschau erscheint der Erste Weltkrieg bis heute für die meisten Beobachter wie die Ouvertüre zu etwas noch Negativerem, zu etwas noch Böserem, zumal auf dem eigenen Schuldkonto: zur Herrschaft der Ideologien und Totalitarismen, zu Genozid und Eroberungskrieg, darunter an erster Stelle der Holocaust, und zum totalen Krieg, den jedenfalls Ludendorff miterfunden und den Goebbels im Februar 1943 öffentlichkeitswirksam proklamiert hatte. Freilich: Der Erste Weltkrieg ist weithin mehr und anderes als „nur“ Vorgeschichte. Und zugleich muss man die Kehrseite in den Blick nehmen, die Forcierung von Modernisierungen, einen tiefgreifenden und dynamisierten gesellschaftlichen Wandel. Das 1919 erstmals praktizierte Frauenwahlrecht in Deutschland ist nur ein Beispiel. Hinzu kommen die beschleunigte Demokratisierung in vielen europäischen Ländern, darunter nicht wenige, denen der Krieg überhaupt erst zur Verselbstständigung verholfen hatte, und nicht zuletzt der Beginn von Entkolonialisierungsprozessen, nicht so sehr im Sinne schon eines faktischen Rückzuges der Briten, Franzosen, Portugiesen oder auch Niederländer aus ihren Besitzungen, aber doch bereits im Sinne erkennbar werdender Überdehnungen, die die europäischen Imperialismen in die Krise stürzen würden. Hinzu kam, dass auch „Realpolitik“ in Rechnung stellen muss, was es an idealen Forderungen und ihnen zumindest offiziell dienenden Institutionen gibt. Dafür stehen in der Zwischenkriegszeit, bei allen Schwächungen und Verletzungen, Selbstbestimmungsrecht und Völkerbund.

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Der hier vorgenommene Versuch, bestimmte Entwicklungen, die sich aus dem Ersten Weltkrieg, in erster Linie für Deutschland, ergaben, in den Blick zu nehmen und ihren Fortgang zu begleiten, teilweise bis in unsere Gegenwart, ist unbestreitbar fragmentarisch und in seinen Schwerpunktsetzungen subjektiv geprägt. Wer alles haben möchte, wird manches, vielleicht vieles, vermissen, und über Gewichtungen wird es ohnehin nie Konsens geben können: Es geht hier z. B. nicht um die Verarbeitung des tief aufwühlenden Kriegsgeschehens in Kunst und Psyche der Menschen, darunter die Fülle an Romanen, die sich den vier Jahren Grabenkrieg von der Nordsee bis zur Schweizer Grenze widmeten. Auch die konstitutiven Wandlungen in Deutschland treten zurück: von der Monarchie zur Republik mit Reichspräsident als Ersatzkaiser, mächtig u. a. durch Oberbefehl und Notverordnungsrecht, im Kontrast zu Kanzlerdemokratie, gestärktem Parlament und gestärkten Parteien seit 1949. Diese zentralen Veränderungen, vielfach dargestellt, schwingen hier in ihren politisch-kulturellen Reflexen gewissermaßen mit. Die durchaus subjektiv gewählten Längsschnitte werden teilweise um „Vorgeschichten“ ergänzt: Denn nur wenn man, etwa was die außenpolitische Positionierung Deutschlands oder sein ökonomisches Gewicht anbelangt, auch die Welt vor 1914 in den Blick nimmt, kann man die Reichweite der durch den Krieg bedingten Veränderungen angemessen einordnen, unmittelbar und sofort wirksam wie mittelbar und teilweise bis in unsere Gegenwart spürbar. Dabei geht es, das sei ganz freimütig deutlich gemacht, eindeutig auch darum, Tendenzen aus den Betrachtungen der letzten Jahrzehnte zu relativieren: Das betrifft die geradezu autistische Fokussierung auf Deutschland als den nicht nur mehr oder weniger alleinigen Urheber des Ersten Weltkrieges, sondern überhaupt als den einzigen relevanten Faktor, dessen Handeln und dessen verantwortliche Akteure es immer wieder in eine Art Kernspintomograph zu legen galt, während, paradoxerweise gerade in der Wahrnehmung großer Teile der deutschen Geschichtswissenschaft, andere Mächte und deren zentrale Akteure mehr oder weniger weitgehend außer Betracht blieben. So kann aber kein Bild eines komplexen Geschehens entstehen, zumal dann nicht, wenn man plausibler Weise auch berücksichtigt, dass für jeweils eine Epoche, für die Phase einer jeweils bestimmten politischen und militärischen Kultur auch manches dafür spricht, dass die Verantwortlichen in den verschiedenen Hauptstädten durchaus ähnlichen Vorstellungen folgen und ähnlichen Zwängen unterliegen. Im Folgenden werden somit Fragestellungen in ihren Entwicklungslinien verfolgt und erörtert, die sich aus dem Ersten Weltkrieg ergaben und die, zumal im Blick auf Deutschland, für seine innere Lage wie für seine Außenbeziehungen von Bedeutung und Gewicht waren. Welche Fragen bzw. Themen sind dies?

Einführung  |

Es geht einmal um Fragen, die auch aus heutiger Sicht vielfach mit dem Ersten Weltkrieg verbunden werden: Die Entwicklung der europäischen Ökonomien, insbesondere im Weltmaßstab und im vergleichenden Blick auf die USA, das Auf und Ab der Mächte in den Internationalen Beziehungen und zugleich bezogen auf die sich bis in unsere Gegenwart mehrfach neu einrichtende globale Bühne, darunter zuletzt der Aufstieg Chinas zum Rivalen der USA, die Eröffnung des Zeitalters von im Exzess schließlich genozidalen und rassistischen Zivilisationsbrüchen und totalen Kriegen, letztere prototypisch schon bei Napoleons Feldzug 1812 in Russland und im vorletzten Jahr des amerikanischen Bürgerkrieges 1864. Damals setzten die Nordstaaten, von Kriegsmüdigkeit an der Heimatfront bedroht, durch Zerstörung des gegnerischen Hinterlandes alles daran, den Konflikt schnell und siegreich zugleich zu beenden. Schließlich geht es, vergleichend, um Kultur und Ergebnisse des Friedensschließens: Wie steht hier Versailles da, verglichen mit dem Zwei-Plus-VierVertrag von 1990 wie dem Wiener Kongress 1814/15 und den anderen großen europäischen Friedenswerken von 1648 und 1713/14? Innerdeutsch geht es um Werte, Kernüberzeugungen wie Stile und politische Kulturen, vor allem im Reflex auf den Krieg, während der Weimarer Jahre der Zwischenkriegszeit und, in vielem darauf aufbauend, um die Entwicklung der parteipolitischen Milieus und Formationen vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik. Zwei Fragestellungen mögen wenigstens manche Leserinnen und Leser überraschen: Die Frage nach kleindeutsch oder großdeutsch und die Darstellung der deutsch-polnischen-russischen Dreiecksgeschichte vom 1914 dreigeteilten Polen bis zum EU- und NATO-Mitglied Polen, in immer noch prekärer Beziehung zum postsowjetischen Russland, über alle Zäsuren und Schrecknisse des 20. Jahrhunderts hinweg. Ein großdeutsches Deutschland, unter Einbezug Österreichs, war 1848/49 wie 1919, obwohl vielfach gewünscht, nicht zustandegekommen, aber es blieb – wie realisierbar auch immer – lange auf dem zumindest offiziellen Wunschzettel in Berlin und Wien. 1945 war diese Perspektive buchstäblich aufgehoben, weil mit zwischenzeitlich im NS-Großdeutschland gemachten Erfahrungen wie mit den Fronten des heraufziehenden Kalten Krieges gänzlich unvereinbar. Nun war ganz unvorstellbar geworden, was der letzte Vorsitzende der Bayerischen Volkspartei bis 1933 und zugleich 1949 erste Bundesfinanzminister Fritz Schäffer, politisch und kulturell großdeutsch, ja mitteleuropäisch motiviert, am 27. November 1928 im Bayerischen Landtag so formuliert hatte: „Die Täler am Brenner, die Täler im Böhmerwald, die Täler an der Enns und am Inn, sie sind dem deutschen Boden, der deutschen Volks- und Kulturgemeinschaft von dem bayerischen Stamme, durch friedliche

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Kolonisationsarbeit des bayerischen Volkes gewonnen worden. Was die Ahnen dem deutschen Volksgedanken erobert, das müssen die Enkel dem deutschen Staatsgedanken auch zu erhalten streben“ – wenn auch eben nicht gegründet auf dem Gedanken der Macht und des Zwanges und der Zerstörung, sondern mittels „der Versöhnung, des Verstehens und des Sichfindens“ 2 – dies war denn doch ein kategorialer Unterschied zur NS-Imperialpolitik der dreißiger Jahre gegenüber Österreich. Gleichwohl: Die mitteleuropäische Landschaft ordnete sich nach 1945, in einer machtpolitisch und ideologisch zunehmend bipolaren Welt, ganz anders als nach 1919 – aber das bedeutet eben nicht, dass dieses Vorher es nicht wert wäre, einen Platz im historischen und im kulturellen Gedächtnis zu behalten. Diese Darstellung schildert die Genese des Ersten Weltkrieges, wie zwangsläufig auch immer, im Blick auf Mächtebeziehungen, Rüstungsstände und Entwicklung der Ökonomien vor 1914. Dagegen treten die innenpolitischen Aggregatszustände der beteiligten großen Staaten weithin zurück. Im Blick auf Deutschland, das hier ja im Vordergrund steht, sei dazu zumindest soviel festgehalten: Es war in seiner politischen Realverfassung gewiss keine Demokratie im Lehrbuchsinne, in gewisser Weise aber zugleich Trendsetter hinsichtlich zentraler politischer Entwicklungen: Insbesondere durch sein vorbildliches Reichstagswahlrecht3, durch sein ausdifferenziertes Parteiensystem, an das als eine Konstante nach 1919 wie nach 1945/49 angeknüpft wurde, mit der vor dem Ersten Weltkrieg größten Sozialdemokratie in Europa, freilich auch mit den hier typischen Spannungen zwischen Reformern und Dogmatikern. Regierungschefs, Minister in den Ländern und Staatssekretäre im Reich bedurften nicht der formalen parlamentarischen Zustimmung – diese entscheidende Klippe auf dem Weg zur echten parlamentarischen Monarchie ist in Deutschland erst in der sogenannten Oktoberverfassung von 1918 überwunden worden, rund zwei Wochen vor Kriegsende und Revolution und ohne noch Geltung finden zu können. Das Bild ist ambivalent: Auf der Negativseite die unbestritten große und prekäre Autonomie des Militärs, auf der Habenseite die Notwendigkeit aller politischer Führungen, sich mit den Reichstagsmehrheiten zu arrangieren, um Haushalte und Gesetze gebilligt zu erhalten und damit eben doch eine Einfallspforte für Parlamentarismus. Auf der einen Seite Minister und 2 3

Zit. nach Otto Altendorfer: Fritz Schäffer als Politiker der Bayerischen Volkspartei 1888–1945, Teilband 1, München 1993, S. 366f. Im Sinne auch politischer Modernisierung des Kaiserreiches Margaret Lavinia Anderson: Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich, Stuttgart 2009, ferner Sven Oliver Müller, Cornelius Torp (Hrsg.): Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009.

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Staatssekretäre ohne parlamentarische Sozialisation – was dazu führen sollte, dass die Regierungen der Weimarer Jahre notgedrungen aus Akteuren bestanden, die bis 1918 „nur“ Abgeordnete, Oberbürgermeister, Richter, im Falle der SPD zumeist Journalisten und Funktionäre neben dem Status als Parlamentarier gewesen waren, die aber eben nicht exekutive Erfahrungen mitbrachten. Aber man sollte, um die politische Verfasstheit des Kaiserreiches fair zu würdigen, drei Faktoren mit bedenken: Es gab auch schon vor 1914 in Deutschland, seine sehr plurale, oft sehr kritische Presse einbezogen, eine politische Klasse von hoher Kompetenz und verantwortungsethischer Grundhaltung, auch über Parteigrenzen vielfach kommunizierend und agierend. Das Zweite ist, dass auch für diese Zeit demokratische Verfasstheit keineswegs demokratisch-transparente Politik verbürgt: die Außenpolitik des liberalen britischen Außenministers Sir Edward Grey wurde, was ihre tatsächlichen Ziele und Vorgehensweisen anbelangt, schwerlich transparenter gestaltet als die der Staatssekretäre im deutschen Auswärtigen Amt in Berlin – wenn überhaupt. Und in Berlin wie in London gab es Presse wie Parlamentarier, die ähnlich „tickten“ – teils kritisch, teils affirmativ gegenüber der eigenen Führung. Solche tatsächlichen Analogien relativieren die gegebenen konstitutiven Unterschiede. Schließlich die deutsche Eigenheit von mehr als 20 monarchischen Höfen im Land. Ein Anachronismus, der im November 1918 ohne viel Federlesens von der Bildfläche verschwand? Vielleicht doch nicht ganz: Die Monarchen der mittelgroßen Staaten, in München, in Dresden, in Stuttgart, sorgten sich nicht nur um Wissenschaft und Bildung, um Prosperität und sozialen Ausgleich im Land, ihre Höfe, teilweise stark verbürgerlicht, waren auch Kristallisationskerne pluralföderaler, fortschrittlicher Identität, auch in Abgrenzung zur preußisch-deutschen Kapitale in Berlin; aber dies war in aller Regel eine produktiv-moderate, keineswegs eine apodiktische Abgrenzung. Und die Kleineren, denen die Potenz zu politischer Gestaltung abging, bemühten sich um kulturelle Profilierung, ob mit dem belgischen, höchst progressiven Architekten und Designer Henry van de Velde in Weimar, von dem die Linien zum späteren Bauhaus gehen, ob mit der Meininger Bühne, die der dortige Herzog Georg II. bis 1914 förderte.4 Kein Zweifel: Auch die heutige Bundesrepublik zehrt vielfach noch vom politischen und kulturellen Erbe der Zeit von vor 1914, und sie täte nicht schlecht daran, dieses Erbe auch anzunehmen. In der Geschichte gibt es wenig Gewissheiten, und umgekehrt gehört es zur wirklich aufgeklärten Gesellschaft, dass sie ihre 4

Alfred Erck, Hannelore Schneider: Georg II. von Sachsen-Meiningen. Ein Leben zwischen eroberter Macht und künstlerischer Freiheit, Zella-Mehlis, Meiningen² 1999.

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Bilder und Vorstellungen von der Vergangenheit stets aufs Neue daraufhin befragt, wie tauglich und zutreffend sie eigentlich sind oder ob man es sich in Vorstellungen von der Vergangenheit bequem und konsensual eingerichtet hat, um im Rahmen des jeweils geschichtspolitisch Gefälligen wohlbehalten einen akzeptierten Standort einnehmen zu können. Solche Muster gilt es nicht zu tradieren, sondern in Frage zu stellen.

Dimensionen

Vermutlich war der Erste Weltkrieg gar nicht der erste militärisch ausgetragene globale Konflikt; im eigentlichen Sinne, ja auf bestimmte Weise durchaus zutreffender, dürfte es der Siebenjährige Krieg von 1756 bis 17635 gewesen sein, ausgetragen in den ersten fünf Jahren zwischen Preußen und England in Mitteleuropa auf der einen Seite, Österreich als Motor der gegnerischen Koalition, Frankreich, Russland und dem Heiligen Römischen Reich auf der anderen Seite, mit ebensolcher Intensität aber auch in Nordamerika und annähernd auch auf dem indischen Subkontinent, wo es jeweils um die eigentlichen imperialen Erfolgsprämien zwischen Briten und Franzosen ging. Der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918 wurde hingegen, sieht man vom eher pittoresken Widerstand der Deutschen in ihren afrikanischen und asiatischen Kolonien (Tsingtau) ab, ebenso von den letzten Feldzügen der osmanischen Türkei zwischen Dardanellen und Kaukasus, wie vom U-Boot-Krieg im Atlantik, im Wesentlichen doch in der Mitte des europäischen Kontinents geführt – und auch hier entschieden. Blickt man auf ein Rechteck mit drei Kriegsfronten, nach Osten im heutigen Polen, Weißrussland und der Ukraine, nach Süden im heutigen Slowenien wie im nordöstlichen Italien und nach Westen im östlichen Frankreich, hier sozusagen im Herzen des alten Karolingerreiches, dann hat man das militärische, das geostrategische und das politische Zentrum dieses Weltkonfliktes ziemlich präzise fokussiert und damit zugleich ein Paradoxon beschrieben: In diesen Krieg waren – erstmals – alle Kontinente hineingezogen, Australien und Kanada von Anfang an als britische Dominions, am Ende die USA als die ausschlaggebende neue Weltmacht, und doch entschied sich alles auf einer Bühne, die von West nach Ost nicht mehr als ca. zweitausend Kilometer umfasste. Das, unter anderem, unterscheidet den Ersten auch vom Zweiten Weltkrieg, bei dem die militärischen Entscheidungen in der Mitte des Pazifiks, in der Mandschurei, an der Wolga, unweit des Nils und in der Normandie fielen, also um viele Tausende von Kilometern voneinander entfernt. Vom Zweiten Weltkrieg und seinen singulären Begleitumständen, den vielberufenen Zivilisationsbrüchen an erster Stelle, ist hier noch nicht zu reden. Was dem Ersten Weltkrieg vermutlich doch mit gutem Grund seinen Namen verleiht, das sind eher, wenn man das bei einer militärischen Auseinandersetzung so sagen darf, die qualitativen, nicht so sehr die 5

Vgl. Marian Füssel: Der Siebenjährige Krieg. Ein Weltkrieg im 18. Jahrhundert, München 2010.

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quantitativen Faktoren. Gewiss, die ca. zehn bis zwölf Millionen militärischen Gefallenen dieses Krieges dürften in der damaligen Weltgeschichte die höchste Zahl für bewaffnete Konflikte bedeuten, aber dieses Bild relativiert sich, rechnet man es in Bevölkerungszahlen und Größenordnungen der beteiligten Parteien um: Der Dreißigjährige Krieg von 1618 bis 1648 hat ganz Mitteleuropa, nimmt man insbesondere Böhmen und Mähren, die heutige Tschechische Republik, hinzu, zweifellos sehr viel mehr geschwächt, ja zerstört als der Erste Weltkrieg, Bevölkerungsrückgänge und strukturelle Schwächungen bis 1648 waren noch ein Jahrhundert später spürbar. Und die Napoleonischen Kriege haben zumindest Süddeutschland in einer Weise Opfer abverlangt, die denen des Ersten Weltkrieges gleichkommen – allein beim Feldzug des französischen Kaisers Napoleon 1812 nach Russland sind an die dreißigtausend Bayern gefallen, verhungert, erfroren, jedenfalls irgendwo zwischen Memel und Moskauer Kreml krepiert. Der Erste Weltkrieg ist aber zum einen jener Konflikt, mit dem das „Zeitalter der Ideologien“ 6 politisch wirkmächtig beginnt. Für alle drei, die in Europa ab 1917 politische Geltung, ja Herrschaft beanspruchen, ist das jeweilige Gedankengut schon vor 1914 ausgeprägt. Die Rede ist von Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus. Alle drei resultieren, wie im Übrigen auch das Aufkommen des Antisemitismus in dieser Zeit, aus einer Krise des liberalaufklärerischen Denkens wie parallel auch christlicher Überzeugungen und Bindungen. Es kam da manches zusammen: Der Machbarkeits- und Gestaltungsanspruch im Zusammenhang mit einem Fortschrittsoptimismus, der vor allem aus den scheinbar unentwegten naturwissenschaftlichen und technischen Errungenschaften des Zeitalters resultierte – inszeniert für das europäische und nordamerikanische Publikum an erster Stelle mittels Weltausstellungen. Der Glaube, eigentlich innerweltlich alles erklären und ganz neue Stufen des Menschseins planen wie erreichen zu können, korrelierte mit einem Verlust an transzendenten Überzeugungen in großen Teilen des europäischen Akademikertums. Zu diesem Moment eines deterministischen Fortschrittglaubens kamen, auf der Gegenseite, vielerlei Ängste und Feindbilder. Klassen, Schichten und Stände wie Nationen und ethnische Gemeinschaften fürchteten um ihre Rolle, um ihre Identität, um ihr Überleben. Der Adel glaubte sich dem Leistungsdenken und den Bankkonten des aufstrebenden Bürgertums unterlegen, das Bürgertum fürchtete seit der Pariser Kommune von 1871 die proletarische Revolution, die Proletarier selbst sahen sich ausgebeutet, drangsaliert und hintangesetzt, die 6 Karl Dietrich Bracher: Zeit der Ideologien. Eine Geschichte des politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982.

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Eliten Österreich-Ungarns fürchteten sich vor dem russischen Panslawismus, in Deutschland glaubte man die Polen und mit ihnen das Slawentum insgesamt in Posen, Westpreußen und Oberschlesien auf dem Vormarsch, in Frankreich grassierte die Furcht vor der – jedenfalls damals – überlegenen deutschen Demographie, und in ganz Europa wurde die Furcht vor der Gelben Gefahr inszeniert, einer künftigen chinesischen Weltdominanz – obwohl China in der Zeit zwischen Boxeraufstand und Erstem Weltkrieg machtpolitisch am Boden lag und von den europäischen Imperialmächten, aber auch von den USA und Japan drangsaliert wurde. In diesem Klima liegen Anfänge jener auf das menschliche Individuum, sein Lebensrecht wie seinen Anspruch auf Selbständigkeit und Glück keinerlei Rücksicht nehmenden Ideologien. Sie bedurften aber der Niederlagen wie der Traumata des Ersten Weltkrieges, um mit mehr oder weniger Zeitverzug an die Schalthebel der politischen Macht zu gelangen, in Russland mit den Bolschewiki bereits im Herbst 1917, in Italien mit dem Faschismus 1922 und in Deutschland, nach vielerlei Anläufen bereits zu Beginn der zwanziger Jahre, mit den Nationalsozialisten am 30. Januar 1933. Der Erste Weltkrieg wirkte aber nicht nur wie eine Art Initialzündung, durch die das Böse der Ideologien aus einer Pandorabüchse gelangte. Er brachte auch die großen Strömungen und Tendenzen des 19. Jahrhunderts auf einen Höhe- wie in gewisser Weise Schlusspunkt: Die Industrielle Revolution mit ihrer ungeheueren Erschließung von Produktionskapazitäten, das Ringen um den Verfassungsstaat und den Kampf um Nation, Nationalstaat und politische Selbstbestimmung. Er war zugleich ein Kampf der Maschinen und der Labors, der Stahlhütten und Gießereien, der Mikroskope und der hochgezüchteten chemischen Verbindungen und damit auch ein Kampf um die Rohstoffe, ohne deren Einsatz nichts hergestellt und transportiert werden konnte. Auch auf diesen Feldern war es so, dass während des Krieges wenig wirklich neu entstand, aber vieles in ganz neuen Dimensionen eingesetzt und immer weiter entwickelt wurde. Panzer, (Gift-) Gas, künstlicher Dünger, Flugzeuge und Funk, die Pläne und Verfahren für all dies kannte bereits die Welt vor dem Krieg. Aber ein bis zwei Jahre nach dessen Ausbruch genügten, um diese Techniken bestimmend werden zu lassen. Als zu Anfang August 1914 die mobilisierten europäischen Millionenheere aufeinander zu marschierten, sah es mitunter noch so aus, als nehme das 19. Jahrhundert in einer großen Oper seinen Abschied, mit der alten aristokratischen Waffengattung der Europäer, der Kavallerie, mit den berühmten roten Hosen der französischen Soldaten, mit Pickelhaube und Degen. Nach ein bis zwei Jahren war davon nichts mehr zu sehen. Der Krieg war grau, morastig, bestimmt durch Stahl, Sprengstoff und

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Gift, durch Traumata und psychische Erkrankungen, die bis dahin kein Mensch in Europa gekannt hatte. Dieser Krieg stellte auch die politischen Ordnungsformen auf die Probe – mit überraschenden Ausgängen. Viel ist von der Diktatur der Militärs die Rede, und doch stärkte er an erster Stelle den Gedanken der Demokratie, der politischen Teilhabe bis in die Arbeiterklasse hinein. Die monokratischen Imperien, das osmanische und das russische Reich, verschwanden ganz. Gleiches widerfuhr der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, freilich weniger aus konstitutionellen denn aus ethnischen Gründen. Die vermeintlich stärkste europäische Macht der Zeit, das monarchisch-konstitutionelle deutsche Kaiserreich, ging am Ende in die Knie, seine Verfassungsform schien obsolet und delegitimiert, und es präsentierte sich ab 1919 in einem neuen Aggregatszustand: geschwächt, verkleinert und, jedenfalls für das erste, demokratisiert. Einzig die beiden westeuropäischen Großmächte überlebten den Krieg in ihrem inneren politischen Gefüge scheinbar unverändert. In Frankreich amtierte Staatspräsident Poincaré über die gesamte Kriegszeit als Staatsoberhaupt. Erst die weitere Zukunft sollte zeigen, welche sozialen und politischen Wandlungen der Krieg in Frankreich und Großbritannien herbeigeführt hatte. Schließlich das Moment des Nationalen: Das 19. Jahrhundert ist in Europa vor allem auch das Jahrhundert der Ausprägung des Nationalstaates; die spektakulärsten Beispiele waren Deutschland und Italien, das traurigste Misslingen stellte der Fall Polen dar, nicht weil die polnische Nation zur Nationalstaatsbildung unfähig gewesen wäre, sondern weil die überlegene Macht des Zarentums sie daran hinderte. Das Verlangen nach dem eigenen Staat, für die eigene Ethnie bzw. auch für die eigene kulturelle oder religiöse Gruppe, war durch die großen Nationalstaatsbildungen aber noch bei weitem nicht gestillt. Der Erste Weltkrieg wirkte wie ein Katalysator, der allen möglichen Völkern Legitimation wie Perspektive gab, nun um den eigenen Staat zu kämpfen oder doch die eigenen Grenzen expansiv zu arrondieren. Dabei ging es gar nicht so sehr um die klassischen Großmacht-Konfliktlinien. Dass Frankreich bei entsprechendem Kriegsausgang Elsass-Lothringen zurückerhielte, war von vornherein klar. Jetzt aber wurde das Selbstbestimmungsrecht gewissermaßen zum Fetisch, an den sich, zumal in Ostmitteleuropa, alle Völker klammerten, wie hoch auch immer der Preis für Verselbstständigung, Abgrenzung, für militante Inklusion und Exklusion wäre. Das waren einmal alle die Ethnien, die bei günstiger Gelegenheit dem zaristischen Imperium entkommen wollten: die Finnen und die baltischen Länder, die Ukrainer oder jene Staaten und Völker im Kaukasusgebiet, die das zaristische Russland des 19. Jahrhunderts in einem viele Jahrzehnte dauernden Prozess gewaltsam in sein Imperium

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integriert hatte. Das waren die nach der Abtretung Venetiens 1866 an Italien verbliebenen Italiener in Österreich-Ungarn, im Trentino wie um Triest. Das waren die verschiedensten slawischen Völker, gleichfalls in der Donaumonarchie, die sich schon während des Krieges immer vehementer von Wien und Budapest abgewandt hatten und mit ihrem Verlangen nach Selbstbestimmung in Paris, in London und schließlich in Washington immer mehr Zuspruch und Unterstützung fanden. Und schließlich ging es auch um große Teile der osmanischen Erbschaft, im Zweistromland, auf der arabischen Halbinsel und in Palästina. Dieses Erbe würden Großbritannien und Frankreich für sich in Anspruch nehmen, es verwalten, vielerlei Zusagen geben und am Ende in diesem „Nahen Osten“ vor allem Unfrieden und Konfrontation stiften, zwischen Juden und Arabern wie beim Kampf ums Öl. Der Erste Weltkrieg, das machen diese wenigen Beleuchtungen deutlich, bringt für die Europäer das Ende jener Welt, die ihnen vertraut gewesen war und in der sie sich beheimatet gesehen hatten. Aber er kreierte zugleich aus sich heraus keineswegs eine neue Welt, deren Konturen sich bei Kriegsende und Friedensschlüssen schon deutlich erkennbar abgezeichnet hätten. Er zerstörte – vermeintliche – Sicherheiten, er gebar Verluste und Unsicherheiten.

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Der Weg in den Krieg

Am 28. Juni 1914 wurden in Sarajewo der österreichisch-ungarische Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, und seine Gemahlin Sophie, die Herzogin von Hohenberg, von Terroristen erschossen, die der serbische Geheimdienst instruiert, angeleitet und ausgerüstet hatte – es war der Auftakt zu jener sogenannten „Julikrise“, an deren Ende, zirka fünf Wochen später, der Krieg nahezu aller gegen alle in Europa stand. Von den namhafteren Akteuren auf der Bühne des Kontinents waren allein Italien und das Osmanische Reich vorderhand noch nicht einbezogen. Aber diese „Julikrise“ nahm einen merkwürdigen Verlauf. In den ersten gut drei Wochen passierte nahezu nichts, die politischen und militärischen Spitzen waren in aller Regel nicht an ihren Arbeitsplätzen, sondern auf Sommerfrische oder auf Kur, wie es sich die Angehörigen der europäischen Oberschichten damals schon leisten konnten, darunter die monarchischen Oberhäupter der sogenannten Mittelmächte an ihren üblichen Urlaubsorten, der österreichische Kaiser Franz Joseph in Bad Ischl, Kaiser Wilhelm II. zunächst auf seiner geliebten Nordlandfahrt durch die norwegischen Fjorde. Später hat man lange gemeint, dieses touristische „business as usual“ sei ein Ablenkungsmanöver gewesen, die Herrscher und ihre führenden Mitarbeiter hätten längst die Lunten an das europäische Pulverfass gelegt gehabt. Und dieses Bild stand im Zusammenhang mit der über Jahrzehnte dominierenden Auffassung, den europäischen Großmächtekonflikt habe Berlin initiiert, mit seinem Juniorpartner Wien (und Budapest) als Komplizen, der über den Konflikt mit Serbien die Pandorabüchse zum vom deutschen Generalstab wie von der deutschen politischen Führung erstrebten kontinentalen Showdown geöffnet habe. Eine der zentralen Stationen auf dem Weg zum Krieg war aber der Besuch der französischen Führung – Staatspräsident Poincaré und Ministerpräsident Viviani – bei der russischen Führung vom 20. bis 22. Juli 1914 in St. Petersburg. Der in Großbritannien lehrende, aus Australien gebürtige Historiker Christopher Clark war in den letzten Jahren durch Darstellungen hervorgetreten, die PreußenDeutschland wie die Figur seines letzten Monarchen, Wilhelms II., in ein von den gängigen Stereotypen ziemlich freies Licht rückten.7 Er schildert in seiner jüngsten Darstellung der innereuropäischen Entwicklungen dieser Phase eine 7

Christopher Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600 bis 1947, München 2006, ders.: Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten Deutschen Kaisers, München 2008.

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Begegnung zwischen Poincaré und dem österreichisch-ungarischen Botschafter Graf Szápáry in Petersburg am 21. Juli. Der französische Staatspräsident sprach die Frage einer österreichisch-ungarischen Genugtuung für die Mordtat vom 28. Juni an – immerhin ein ungeheures Sakrileg in einer weithin noch aristokratisch bzw. monarchisch geprägten Welt mit ihren Konventionen von Ehre und Satisfaktion. Ganz Europa wartete inzwischen seit über drei Wochen, wie die Wiener Führung auf die serbische Herausforderung reagieren würde – immerhin war eine der klassischen europäischen Großmächte faktisch wie symbolisch aufs Schwerste herausgefordert worden. Allerdings hatte man in Wien den Fehler begangen, sich zwar bereits wenige Tage nach der Mordtat vertraulich der Solidarität des großen Berliner Verbündeten zu versichern, Wilhelm II. selbst war naturgemäß besonders entsetzt über die Ermordung seines auch ganz persönlichen Freundes Franz Ferdinand, den er zuletzt erst wenige Wochen zuvor im böhmischen Konopischt getroffen hatte. Aber nun verpuffte über die Wochen die Solidarität der europäischen Führungen mit Österreich-Ungarn bzw., ganz unmittelbar, mit Kaiser Franz Joseph. Ein Grund für die verzögerte Antwort, das schließlich erst am 23. Juli in Belgrad überreichte österreichisch-ungarische Ultimatum, war das Kalkül, erst einmal den französischen Staatsbesuch in St. Petersburg abwarten zu wollen. Franzosen und Russen, seit nunmehr gut zwanzig Jahren politische wie militärische Verbündete, sollten nicht mehr die Gelegenheit haben, sich über die serbische Antwort unmittelbar austauschen und tatsächlich gemeinsam den Serben die Feder führen zu können. Das also war die Lage, als der französische Staatspräsident am 21. Juli den Botschafter der Donaumonarchie in der russischen Hauptstadt zur Rede stellte. Poincaré bestritt unverhohlen den österreichisch-ungarischen Anspruch auf Genugtuung, drückte seine Besorgnis hinsichtlich der erkennbar bevorstehenden Wiener Note aus und drohte mit den Großmächten des Zweibundes, die Serbien zur Seite stünden – schlicht eine Kriegsdrohung mit dem großen europäischen Konflikt: „I remark to the ambassador with great firmness that Serbia has friends in Europe who would be astonished by an action of this kind.“ In noch zugespitzterer Überlieferung: „Serbia has some very warm friends in the Russian people. And Russia has an ally, France. There are plenty of complications to be feared!“ 8 Über Jahrzehnte, das heißt rund gerechnet seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, hatte es in (West-) Deutschland so etwas wie eine kanonisierte Sprachregelung gegeben, Berlin habe diese Urkatastrophe der europäischen 8

Zit. nach Christopher Clark: The sleepwalkers. How Europe went to war in 1914, London, New York 2012, S. 445.

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Geschichte weitestgehend schuldhaft herbeigeführt, es trage somit die Hauptlast für alles Folgende; der Juniorpartner, Österreich-Ungarn, und sein Konflikt mit Serbien habe nur den günstigen Anlass geliefert: Weil es eben ein Balkankonflikt war, in den Wien und Budapest existentiell verstrickt waren, habe das Wilhelminische Reich lange Zeit die Rolle des scheinbar Unbeteiligten spielen können und zugleich habe Österreich-Ungarn als Bündnispartner unbedingt agieren müssen; wäre hingegen der Ausgangspunkt etwa ein Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich gewesen, dann hätte die Wiener Politik sich eher auf Distanz halten können. Und warum wollte Deutschland nach solchen Lesarten, deren „Urknall“ die Forschungen Fritz Fischers9 waren, eigentlich den Krieg? Es gab dazu in der einschlägigen deutschen Forschungslandschaft10, in einer gewissen Bandbreite, von Fritz Fischer über Egmont Zechlin und Karl-Dietrich Erdmann bis zu Gerhard Ritter, doch so etwas wie einen Basiskonsens, die deutsche Führung habe den österreichisch-serbischen Konflikt zum Anlass genommen, eine Präventivkriegssituation herbeizuführen: In einer Situation, in der man sich militärisch qualitativ – noch – überlegen sah, sollten die potentiellen Gegner des Zweibundes, Frankreich und Russland, entweder kriegerisch niedergeworfen oder unter äußerstem diplomatisch-militärischem Druck derart verunsichert werden, dass diese gegnerische Koalition zerbrach – in jedem Falle würde dem Deutschen Reich die europäische Hegemonie zufallen. Insbesondere bei Fritz Fischer kamen partiell noch offensivere deutsche Ambitionen hinzu, so der Wunsch, die Hand auf die Erzvorkommen in Ostfrankreich zu legen bzw. das eigene Kolonialimperium, geostrategisch verzettelt und ohne Schwerpunkt, durch ein deutsches „Mittelafrika“ auf Kosten Frankreichs, Belgiens und gegebenenfalls Großbritanniens zu einem wirklichen Kolonialimperium machen zu können. Hinzu kamen weitere Überlegungen, die sich aus den in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts in der deutschen Geschichtswissenschaft dominierenden sozialhistorischen Betrachtungsweisen speisten: Das Kaiserreich sei weithin monarchischer Obrigkeitsstaat gewesen, mit einem Antagonismus der „Klassen“. Die führende Rolle der ostelbischen Grundbesitzer, der Offiziersund Beamtenkaste, sei daher immer weitergehenden Gefährdungen unterlegen gewesen, verstärkt seit den Reichstagswahlen von 1912 mit ihrem Ergebnis einer de facto Mehrheit der linken Mitte, bestehend aus SPD, Zentrum und 9 Fritz Fischer: Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911–1914, Düsseldorf ² 1969. 10 Vgl. Wolfgang Schieder (Hrsg.): Erster Weltkrieg. Ursachen, Entstehung und Kriegsziele, Köln, Berlin 1969.

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Linksliberalen. Angesichts dieser Situation habe der Große Krieg, zumal gegen Russland, die Chance geboten, mittels einer Parole gesamtnationaler Solidarität die auch künftige politische Deklassierung der Unterschichten zu überspielen und durch kriegerische Erfolge politische Defizite zu kompensieren. Dahinter steht die Formel von einem „Primat der Innenpolitik“, dem auch und gerade das kaiserliche Deutschland jener Jahre gefolgt sei. Wenn man aber so habe handeln wollen, dann sei 1914 der richtige, wenn nicht ein schon sehr später Zeitpunkt gewesen: Das große Thema, das in diesen Jahren über Deutschland bzw. über Deutschland und Österreich-Ungarn wie ein Damokles-Schwert zu hängen schien und als solches wahrgenommen wurde, lautete schlicht: „Russland“. Russland avancierte in die Rolle des Dämons und dies in mehrfacher Hinsicht: Zum einen galt es bereits seit einem Jahrhundert, seit den Tagen der Heiligen Allianz der damaligen drei konservativen Großmächte Russland, Österreich und Preußen nach dem Wiener Kongress, als der „Gendarm Europas“, als der geschworene Feind aller liberalen, demokratischen und um so mehr aller sozialistischen Bewegungen – und damit wurde es auch zum Schreckgespenst, mit dem man, wenn es hart auf hart kam, sogar die deutsche Sozialdemokratie ins nationale Boot bugsieren konnte. Kein Zweifel: dieses Kalkül hat die politische Reichsleitung auch in den Krisentagen des Juli 1914 mitbestimmt. Des Weiteren aber galt Russland als zumindest potentiell militärisch übermächtig. Aus heutiger Rückschau kann man mit gutem Grund schlussfolgern, dass man damals in Wien wie in Berlin auch Imaginationen aufsaß, dass Zahlen schon für militärische Substanz gehalten wurden. Um es sehr verkürzt zu sagen: So sehr die deutschen Militärs Russland vor dem Ersten Weltkrieg, wie sich bald zeigen sollte, überschätzt haben, so sehr haben sie es dann, mehr als fahrlässig ihrem Führer Adolf Hitler zuarbeitend, vor dem deutschen Überfall vom 22. Juni 1941 unterschätzt. Eigentlich war Russlands militärische Bilanz während des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht sehr positiv gewesen: Im Krimkrieg von 1853 bis 1856 war es Frankreich und Großbritannien unterlegen, im Krieg gegen das eigentlich längst deklassierte Osmanische Reich 1877/78 hatte es sich zur allgemeinen Überraschung sehr hart getan – und gleichfalls zur allgemeinen Überraschung war es 1904/05 dem Newcomer auf der Weltbühne, dem kaiserlichen Japan, unterlegen. Aber nun beeindruckten die Zahlen: Bis ca. 1917 sollte die Friedensstärke des russischen Heeres 2,2 Millionen Mann betragen, und immer mehr, mit französischen Krediten finanzierte Eisenbahnen wurden durch das sogenannte Kongresspolen in Richtung auf die deutsche Grenze gebaut – der eigentliche militärische Vorteil, den man sich für einen Kriegsausbruch versprach, die überlangen Aufmarschzeiten der russischen Truppen,

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schien sehr bald nicht mehr gegeben, und am Ende drohte das Schreckgespenst der „Russischen Dampfwalze“. Gewiss, viele in Berlin, von Sozialdemokraten wie August Bebel und Albert Südekum bis zu den hohen Militärs, hielten dieses Schreckgespenst für bare Münze; wer in der historiographischen Nachfolge ganz auf die sich darauf gründende Argumentation baut, zitiert die Worte, die Generalstabschef von Moltke am 20. Mai 1914 gegenüber dem Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Gottlieb von Jagow, formulierte: „Die Aussichten in die Zukunft bedrückten ihn schwer. In zwei bis drei Jahren werde Russland seine Rüstungen beendet haben. Die militärische Übermacht unserer Feinde werde dann so groß, dass er nicht wüsste, wie wir ihrer Herr werden könnten. Jetzt wären wir ihnen noch einigermaßen gewachsen. Es bleibe seiner Ansicht nach nichts übrig, als einen Präventivkrieg zu führen, um den Gegner zu schlagen, solange wir den Kampf noch einigermaßen bestehen könnten. Der Generalstabschef stellte mir demgemäß anheim, unsere Politik auf die baldige Herbeiführung eines Krieges einzustellen.“ 11 Diese Sätze sind gewiss gravierend. Aber sind sie wirklich die verbale Ouvertüre für den deutschen Präventivkrieg des Jahres 1914? Um an dieser Stelle die Dinge zu relativieren, muss man zwei Schritte tun: Man muss sich zum einen, ziemlich radikal, von der Vorgehensweise der deutschen Historiker des ausgehenden 20. Jahrhunderts lösen, die die Quellen Berliner und am Rande auch noch Wiener Provenienz, derer sie habhaft werden konnten, stetig vor die Röntgenschirme legten, aber alle anderen Hauptstädte und Akteure aus ihren Betrachtungsweisen mehr oder weniger vollständig ausblendeten. Und man muss in einem weiteren Schritt fragen, wie eigentlich die strukturelle Position des Deutschen Reiches in dieser Zeit war, denn in diesem Fragehorizont lassen sich noch manche Anknüpfungspunkte finden, um die damalige deutsche Lage in Europa wie im globalen Maßstab in eine vergleichende Perspektive mit der Zwischenkriegszeit wie der zweiten Nachkriegszeit und mit der nach dem Ende des Kalten Krieges 1989/91 zu rücken. Mit anderen Worten: Es geht zunächst um etwas, das eigentlich selbstverständlich sein sollte und doch über Jahrzehnte vernachlässigt wurde – um Kontextualisierung. Christopher Clarks Buch „The Sleepwalkers. How Europe went to war in 1914“ bietet dafür vielerlei Anknüpfungspunkte. Es geht somit auch weder um Moralisieren noch um Apologie, es geht darum, sich wirklich allen Akteuren auf einer Bühne wie auf einem Spielfeld zuzuwenden. Bei der Berichterstattung über die Wochenendspiele in der Fußball-Bundesliga begegnet den Lesern am Montag mitunter 11 Zitiert nach Fischer, Krieg der Illusionen, S. 584.

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das Phänomen, dass über Partien so geschrieben wird, als habe überhaupt nur eine Mannschaft gespielt, mit Stärken und mit Schwächen, mit spektakulären Einkäufen und mit Nieten, die alles vermasselten. Sepp Herbergers banalberühmte Devise, „Man spielt immer so stark, wie es der Gegner zulässt“, gilt aber für Begegnungen, Auseinandersetzungen und Interaktionen jeder Art. Über die Entwicklung des internationalen Systems in den Jahren und Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg lässt sich vernünftig und begründet nichts aussagen, wenn die Aufmerksamkeit nicht allen Beteiligten gilt. Um im Bild zu bleiben und ohne zu moralisieren: Am europäischen nicht nur Spiel, sondern Turnier seit dem Ende des Bismarckschen Bündnissystems, rund zwei Jahrzehnte vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, waren in Europa sechs relevante Akteure beteiligt, die beiden „Flügelmächte“ , Russland und Großbritannien, auf dem Kontinent Frankreich, das Deutsche Reich und ÖsterreichUngarn sowie Italien und in gewisser Weise kann man auch noch das Osmanische Reich als den mit Abstand schwächsten, siebten Akteur hinzunehmen. Wichtig ist, dass die Aufmerksamkeit einmal mit Vorrang und ohne vordergründige Schuldvorwürfe auch auf Russland und vor allem auch Großbritannien gerichtet wird. Beide sind unter den Großmächten jener Zeit das, was der Historiker Ludwig Dehio12 „Flügelmächte“ genannt hat, also Staaten nicht im kontinentalen Zentrum der europäischen Großmacht-Kulisse, sondern an der jeweiligen geographischen Peripherie, was zugleich mit dem Vorteil verbunden ist, dass sie gewissermaßen ein großes Hinterland haben – Russland territorial bis zum Pazifik, Großbritannien maritim –, und dass sie nicht durch gegnerische Konstellationen gewissermaßen eingemauert werden können. Und wenn es kritisch wird, können sie auch Niederlagen hinnehmen, ohne in existentielle Krisen zu geraten, wie Russland im Krimkrieg. Deutschland hingegen, das war ja schon die zentrale Wahrnehmung Bismarcks für die ganzen zwei Jahrzehnte seiner verbleibenden Amtszeit nach der Reichsgründung, war, wie stark aus sich heraus auch immer, als Macht im Zentrum Europas durch Bündniskonstellationen bedrängt. Niederlagen konnten es in existentielle Gefahr bringen. Und das war eben nicht nur die Wahrnehmung in Berlin, sondern ebenso in London, in Paris und in St. Petersburg. Nimmt man einmal die reine ökonomische und demographische Datenlage, dann erschien das Deutsche Reich über die Zeitstrecke von 1871 bis 1914 wie die große, aufstrebende Macht: die Einwohnerzahl erhöhte sich von 41 Millionen 12 Ludwig Dehio: Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein Grundproblem der europäischen Staatengeschichte, Krefeld 1948.

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auf 67 Millionen, sie näherte sich dem Doppelten der damaligen französischen Bevölkerungszahl. Vor allem aber überholte Deutschland in den Jahren nach der Jahrhundertwende die Gründungsmacht der Industriellen Revolution, nämlich Großbritannien. Die jährliche Eisen- und Stahlproduktion lag in Deutschland 1913 bei 17,6 Millionen Tonnen, in Großbritannien bei nicht einmal mehr der Hälfte, 7,7 Millionen Tonnen – im Jahre der Entlassung Bismarcks, 1890, hatte Großbritannien noch das Doppelte des deutschen Volumens hergestellt, 8 Millionen Tonnen zu 4,1 Millionen Tonnen. 13 Und es gab modernere Branchen der industriellen Produktion, sozusagen die zweite Stufe der Industriellen Revolution, bei denen das Deutsche Reich nicht nur in Europa, sondern weltweit führend war: Elektrizität, Chemie und Pharmazie, Optik. Nimmt man jedoch alles in allem, dann erschien die relative deutsche Führungsposition zeitlich begrenzt und durchaus nicht ungefährdet. Hier bietet sich auch die Parallele zur aktuellen Konstellation an – das wiedervereinigte Deutschland als Industriestaat in Europa unbestritten auf Platz eins, aber, schon nach seiner prekären demographischen Lage, mit alternder und schrumpfender Bevölkerung, weltwirtschaftlich dem Wettbewerbsdruck potentiell dynamischerer Mächte ausgesetzt, China und Indien, viel berufen, auf längere Sicht aber auch Staaten wie Brasilien oder Indonesien, alles Staaten, die 1913/14 entweder noch niemand auf der Rechnung hatte oder die damals noch zu einem europäischen Kolonialimperium gehörten wie im Falle Indonesiens dem niederländischen. Nimmt man Ökonomie und Strategie zusammen, dann kann man für die letzten Jahre vor dem Ersten Weltkrieg für Deutschland also konstatieren: Es ist auf dem Kontinent der Stärkste, aber diese Position ist schon deshalb nicht ungefährdet, weil die herkömmlichen europäischen Großmächte insgesamt, schon damals, an Gewicht zu verlieren beginnen. Die klassische Flügelmacht Großbritannien in ihrer scheinbar ungefährdeten maritimen Lage, begann ja nicht nur wirtschaftlich an Bedeutung einzubüßen, sondern auch politisch und militärisch. Der Burenkrieg an der Jahrhundertwende im Süden Afrikas, am Ende mit größtem Aufwand gewonnen, hatte die Beobachter in den anderen Hauptstädten hellhörig gemacht: die britische Armee erwies sich als teilweise schwerfällig, wenig leistungsfähig und, da es eben auf der Insel keine Wehrpflicht gab, als quantitativ zu begrenzt. Das aber hatte auch zur Konsequenz, dass die in London Verantwortlichen zunehmend danach Ausschau hielten, wo Hilfestellung und wo Bedrohung für die bisherige weltpolitische Vorrangrolle des britischen 13 Zahlen nach Paul Kennedy: Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500 bis 2000, Frankfurt/Main 1989, S.307.

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Empire liegen könnten. Auf der anderen Seite war die Dynamik der deutschen Entwicklung zwar so beeindruckend, dass sie Großbritannien in mehrfacher Weise herausforderte – aber es gab eben noch Größere als Deutschland und dazu in jeweils sehr viel günstigerer geostrategischer Lage. Manche Beobachter der Zeit von vor dem Ersten Weltkrieg sahen schon, freilich noch ohne ideologische Prägungen, den amerikanisch-russischen Antagonismus als grundlegendes Strukturprinzip der Weltpolitik heraufdämmern, der tatsächlich dann erst die Zeit des Kalten Krieges nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmen sollte. Gewiss hatte sich die deutsche Bevölkerungszahl zwischen 1871 und 1913 von 41 auf 67 Millionen erhöht, im gleichen Zeitraum aber jene der Vereinigten Staaten von Amerika von 39,5 auf 96,2 Millionen Menschen. Das amerikanische Sozialprodukt hatte sich 1871 zum deutschen im Verhältnis vom 3:2 verhalten, 1913 war es bereits deutlich mehr als doppelt so groß. Dazu der russische Antipode: Das Zarenreich zählte 1914 164 Millionen Menschen. Gewiss war es wirtschaftlich weit zurückgeblieben, nach heutigen Maßstäben vielfach ein Entwicklungsland. Das führte auch dazu, dass es seine Armeen während des Ersten Weltkrieges zu keinem Zeitpunkt hinreichend ausrüsten konnte, dass das Verkehrssystem kollabierte und die Nahrungsmittelversorgung nicht funktionierte – Voraussetzungen für den revolutionären Zusammenbruch des Jahres 1917. Man muss aber auch die Kehrseite sehen: Gerade weil Russland so viel aufzuholen hatte, gab es vor 1914 teilweise auch bemerkenswerte Modernisierungsanstrengungen unter den Ministerpräsidenten Stolypin und Witte und, wenn auch auf niedriger Basis, Wachstumsraten, die denen aller etablierten Industriemächte weit voraus waren, acht Prozent jährlich im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Demographisch und zumindest potentiell wirtschaftlich war Russland so, bei allen strukturellen Schwächen der zaristischen Autokratie, auf der Überholspur. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges war die strukturelle deutsche Position somit ambivalent: Demographisch und ökonomisch so stark, dass es für Frankreich und auch Großbritannien zunehmend zur prekären, wenn nicht überlegenen Herausforderung avancierte, im globalen Maßstab freilich mit potentiell Stärkeren konfrontiert. Und diese ambivalente Situation fand eben ihren Niederschlag auch in der Wahrnehmung der britischen Eliten. 14 Aus dieser Perspektive kommt es nun gar nicht so sehr auf die tatsächlichen oder vermeintlichen Provokationen des Wilhelminischen Reiches gegenüber dem Vetter auf der anderen Seite der Nordsee an, auf koloniales Geplänkel, auf die deutschen Sympathien 14 Vgl. Andreas Rose: Zwischen Empire und Kontinent. Britische Außenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg, München 2011.

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für die Buren, auf die Phobien des Kaisers und selbst nicht auf den deutschen Flottenbau, der seit Ende des 19. Jahrhunderts buchstäblich Fahrt aufnahm: Gewiss, es mag sein, dass die heutige Literatur, dass Christopher Clark und Andreas Rose, hier überzeichnen, indem sie die mit den deutschen Schlachtschiffen und Schlachtkreuzern verbundene Provokation zu gering ansetzen. Bei beiden Autoren heißt es sinngemäß, die Briten seien sich zu jedem Zeitpunkt, ob vor dem Übergang zum neuen Schlachtschifftyp „Dreadnought“ 1907 oder danach, ihrer absoluten Überlegenheit, quantitativ wie geostrategisch, bewusst gewesen; und im Übrigen habe damals nicht nur Deutschland auf das Prestigevorhaben Dickschiff gesetzt, sondern ebenso Frankreich, Russland und die USA; mit Letzteren trifft die heutige Forschung unbestreitbar den Punkt: So wie sich die USA ökonomisch auf Platz eins setzten, so gingen sie, über den Ersten Weltkrieg hinweg, auch daran, zur weltweit stärksten Flottennation zu werden, nach dem Krieg mühsam gebändigt im Washingtoner Flottenabkommen von 1922, das noch einmal eine Parität zwischen der amerikanischen und der britischen Flotte festschrieb. Trotzdem wird man sagen können, dass es Teile der heutigen Forschung mit der Relativierung, ja Bagatellisierung des deutschen Flottenbaues vermutlich übertreiben, sozusagen überschießend in der Gegenreaktion auf die frühere Diabolisierung der deutschen Flotte. Denn diese deutsche Flotte war nicht nur ein prestigeträchtiges Spielzeug des Kaisers wie des aufstrebenden nationalliberalen Bürgertums. Da Großbritannien, ganz anders als Deutschland, vielerlei maritime Verpflichtungen hatte, im Mittelmeer und in Ostasien, da die Planungen des verantwortlichen Großadmirals von Tirpitz sich ganz auf die großen Einheiten fokussierten, und schließlich da es dem Newcomer Deutschland gelang, technisch exzellente Schiffe zu Wasser zu bringen, hatte England manch guten Grund, sich von der anderen Seite der Nordsee aus bedroht zu sehen. Ebenso aber kamen mancherlei Fiktionen und belletristische Inszenierungen hinzu: Die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg brachten auch eine Welle englischer Spionage- und Invasionsliteratur, die unentwegt Pickelhauben tragende deutsche Aggressoren auf den britischen Inseln an Land gehen sah. Wie immer man aber auch die britische Phobie vor der deutschen Flotte heute einschätzen mag, gravierender war etwa seit der Jahrhundertwende für die britischen Eliten ohne Zweifel die Frage, wie sich eigentlich ihr weltpolitisches Verhältnis zur anderen Flügelmacht, zu Russland, gestalten würde bzw. sollte. Deutschland wurde, und das ist heute überzeugend nachgewiesen, aus dieser Perspektive zu einer Sekundärgröße. Es erschien insbesondere den in London ab der Unterhauswahl 1905 tonangebenden Liberalen mit ihren vielerlei engen medialen Verbindungen nicht als existenzieller Herausforderer – das war

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zumindest in längerfristiger Perspektive das zaristische Russland – , wohl aber als ökonomisch und militärisch prekäre Provokation. Im letzten Jahrzehnt vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges avancierte Deutschland in den Augen vieler Briten zu jener Macht, die bedrohlich vor der eigenen Haustür lag, die also eingedämmt werden sollte und dies insbesondere durch die Partnerschaft mit der potentiell tatsächlich existenziellen Herausforderung, dem zaristischen Russland. Denn Russland erschien auf Dauer mächtiger, dazu geostrategisch unangreifbar, selbst wenn es, wie im Krimkrieg ein halbes Jahrhundert zuvor, gelang, ihm an seiner Peripherie moderate Niederlagen beizubringen. Denn von Russland ging nach dieser Wahrnehmung im Kern die tatsächliche Bedrohung für strategische Schlüsselpositionen des britischen Empires aus, vom Schwarzen Meer aus durch Bosporus und Dardanellen in Richtung Suezkanal und von seinen mittelasiatischen Positionen aus über Afghanistan gegen Indien. Letzteres Beispiel zeigt zugleich, wie mit Imaginationen, die fernab der tatsächlichen Ambitionen und Möglichkeiten liegen, innenpolitisch Stimmung gemacht und Druck aufgebaut werden kann: Denn die logistischen und geographischen Voraussetzungen ließen eine russische Invasion des indischen Subkontinents über Afghanistan gar nicht zu. So kam es im Jahr 1907 zu jenem britisch-russischen Arrangement über den Iran und damit zugleich zum Beginn einer strategischen Partnerschaft beider Flügelmächte, die auf den Korridoren der deutschen Außenpolitik für gänzlich unmöglich gehalten worden war. Und die russischen Ambitionen auf die Meerengen zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer begann man in London wohlwollender zu sehen – so wichtig wurde dieser potentielle Partner. Wurde Deutschland nun eingekreist, wie man vor und nach dem Ersten Weltkrieg glaubte, oder hat es sich durch Provokationen und Weltmachtpolitik ausgekreist, wie man seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts überwiegend annahm? Vermutlich war es eine Mischung und vermutlich spielten auf den Seiten aller Beteiligten Imaginationen eine besondere Rolle. Unbestreitbar sah sich Deutschland seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu „Weltpolitik“ berufen, glaubten insbesondere große Teile seiner bürgerlichakademischen Eliten, so und nur so mit den jetzigen oder den kommenden Weltmächten, Großbritannien, Russland und den USA, Schritt halten und zugleich Siedlungsland für seine wachsende Bevölkerung zu gewinnen, die dann nicht mehr in fremde Länder auswandern müsse. Gedacht wurde hier in imperialen Träumereien an Mittelafrika wie an Anatolien. Aber auf geradezu klassische Weise zeigt das Beispiel der sogenannten deutschen Weltpolitik in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, dass die eigentliche Substanz in der Ökonomie, nicht in der Politik lag. Ähnlich dem heutigen Deutschland, zählte das

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wilhelminische Deutschland als globaler Faktor vor allem ökonomisch, weniger politisch und auch weniger militärisch. Von der Reichsgründung bis 1913 vervierfachten sich die jährlichen deutschen Exporte, von 2,5 auf 10,1 Milliarden Mark und – dies ist entscheidend – die Adressaten der deutschen Warenlieferungen waren nicht etwa potentiell koloniale oder wenig erschlossene Räume, sondern die anderen ökonomisch entwickelten Staaten beiderseits des Atlantiks: Rund drei Viertel des deutschen Außenhandels gingen ins europäische Ausland, ein Sechstel in die USA.15 Damals wie heute waren es also die entwickelten und kaufkräftigen Märkte, die vorrangig die deutschen Produkte abnahmen – der Unterschied zu heute liegt eben wesentlich nur darin, dass sich die Kulisse entwickelter Abnehmer, die insbesondere deutsche Investitionsgüter nachfragen, inzwischen beachtlich nach Asien wie auch nach Lateinamerika verschoben hat. Weil aber die Industrialisierung in Deutschland so dynamisch vorankam, bedurfte das Land eigentlich auch gar keiner Siedlungskolonien mehr, um größere Auswanderungskontingente aufzunehmen. In den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts kam die deutsche Auswanderung weitgehend zum Erliegen, das Arbeitsplatzangebot im Reich war nun genügend, es provozierte allerdings eine Ost-West-Binnenwanderung. Im Grunde gab es während der wilhelminischen Ära nur ein großes koloniales bzw. imperiales deutsches Projekt, das strategisch und ökonomisch Gewicht hatte und daher von den strategisch benachbarten Großmächten, Russland und Großbritannien, als Provokation und Gefahr angesehen wurde, das Vorhaben der Bagdad-Bahn durch die osmanische Türkei bis zum Persischen Golf.16 Die Bagdad-Bahn konnte, wenn das Projekt als wesentlich deutsch bestimmtes gelang, in der Tat die Lage in der MittelostRegion gravierend verändern: Sie konnte die osmanische Türkei, den „Kranken Mann am Bosporus“, stärker kräftigen, als dies London oder St. Petersburg lieb sein mochte. Sie konnte diese verblichene Großmacht aber auch in eine deutsche Hegemonialzone hinein transferieren, sie drohte ein Verkehrssystem ohne britische Kontrolle zwischen London und Indien zu installieren, sie stärkte Deutschland als Technologieexporteur, und darüber hinaus war immer wieder von Anatolien als einer Region die Rede, die von deutschen Siedlern erschlossen werden könne. Und am Ende des Zeitraumes bis zum Ersten Weltkrieg gewann die Frage nach der Verfügung über die Ölvorkommen am Persischen 15 Zahlen nach Carsten Burhop: Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreiches 1871–1918, Göttingen 2011, S. 104. 16 Vgl. Gregor Schöllgen: Imperialismus und Gleichgewicht. Deutschland, England und die orientalische Frage 1871–1914, München³ 2000, S.86 ff.

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Golf zusätzliche Brisanz. So kam es zu einem langen und zähen Ringen um die Bagdad-Bahn, über Linienführung, Finanzierung und Kapitalanteile. Und am Ende kam es zur Einigung knapp zwei Wochen vor den Schüssen von Sarajewo: Am 15. Juni 1914 paraphierten der britische Außenminister Grey und der deutsche Botschafter in London Fürst Lichnowsky ein umfassendes Vertragswerk, nachdem sich zuvor die beteiligten britischen, französischen und deutschen Banken verständigt hatten. Wie in solchen Fällen üblich, war es naturgemäß ein Kompromiss, bei dem die britische Seite ihre Vorstellungen in besonders hohem Maße durchgesetzt hatte. Vor allem sollte die Bagdad-Bahn nur bis Basra gebaut werden, nicht bis zum Persischen Golf unmittelbar. Dieses Beispiel zeigt aber ein weiteres: Die eineinhalb Jahrzehnte von der vorletzten Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges kann man auch ganz anders als die Phase eines stetigen Spannungsaufbaues interpretieren, der sich am Ende sozusagen naturgesetzlich im Konflikt entladen musste. Ähnlich wie in der Zeit des Kalten Krieges von 1946/47 bis 1989/91 gab es vielerlei gegensätzliche Tendenzen, gab es Spannungsaufbau wie Spannungsabbau, immer wieder auch die Infragestellung von Allianzen und vielfach auch das Bemühen um Spannungsabbau, nicht zuletzt auch von deutscher Seite. So kann man die beiden Marokko-Krisen der Jahre 1905 und 1911 auch ganz anders deuten, denn als deutsche Drohgebärden am Maghreb, nämlich umgekehrt als das primäre französische, von Großbritannien gestützte Bemühen, Marokko in eine exklusive französische Imperialzone zu integrieren. Der Historiker Konrad Canis hat im Jahr 2011 den dritten Band seiner Geschichte zur Außenpolitik des kaiserlichen Deutschlands17 vorgelegt. Canis hat eine DDR-Sozialisation, er hat somit die Metamorphosen der westdeutschen Sozialhistoriker seit den sechziger Jahren nicht mitgemacht bzw. nicht mitmachen können, sondern kommt aus der Schule einer eher klassisch-konventionellen „nationalen“ Diplomatiegeschichte, mit dem Ende der DDR nicht mehr wie zuvor aus Legitimationsgründen pseudomarxistisch eingekleidet. Canis deutet die Geschichte der deutschen Außenpolitik jener Jahre, unabhängig davon, wie geschickt oder wie ungeschickt, wie professionell oder wie amateurhaft sie im Einzelnen operativ agierte, im Großen als die Geschichte eines nachgerade verzweifelt wirkenden Bemühens, in einer Umwelt Partner zu finden, in der sich die potentiellen Partner immer mehr entzogen. Was tut man in einer solchen Situation? Man versucht es einmal mit dem einen, einmal mit dem anderen, 1905 mit dem geschwächten Russland, 17 Konrad Canis: Der Weg in den Abgrund. Deutsche Außenpolitik 1902–1914, Paderborn u. a. 2011.

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in der Ära Bethmann Hollweg ab 1909 mit Großbritannien. Man versucht es mit Druck wie mit Gegendruck, mit Härte wie gegenüber Russland nach der Annexion von Bosnien und der Herzegowina durch Österreich-Ungarn 1908, mit Entgegenkommen gegenüber Großbritannien, nicht nur in der Frage der Bagdad-Bahn. Spannung und Entspannung – das betrifft in erster Linie das deutsch-britische, aber auch das deutsch-französische Verhältnis. Kaiser Wilhelm II. besaß eine beträchtliche persönliche Neigung zu Frankreich wie zur französischen Kultur, er suchte ostentativ die französische Botschaft in Berlin auf, 1914 wurde erwogen, dass der führende französische Politiker Aristide Briand, gerade nicht mit einem protokollarisch dann heiklen Regierungsamt belastet, den Kaiser wie zufällig zur Kieler Woche aufsuchen und die Gelegenheit zu einem umfassenden deutsch-französischen Gespräch nutzen könne. Großbritannien profitierte davon, dass die deutsche Politik nach der „weltpolitischen“ Ära des Reichskanzlers Bülow im Zeichen seines Nachfolgers Bethmann Hollweg auf Konfliktreduzierung und Spannungsabbau ging.18 Wichtig ist dabei, dass Entspannung in einem Bereich zu Spannungsaufbau in anderen führen konnte, politisch wie militärisch: Wenn einzelne Mächte unterschiedlicher Bündnissysteme einander nahe kamen oder doch nahezukommen schienen, dann provozierte dies Besorgnisse bei ihren Partnern und konnte zum Ausgangspunkt neuer Unsicherheiten werden. Dies wirkte sich bis in die Juli-Krise 1914 hinein aus: Weil die französische Führung sich angesichts des immer stärker werdenden Russlands nicht mehr sicher war, ob Letzteres eigentlich noch des Zweibundes bedürfte, zeigte sie sich der russischen Seite gegenüber über die Maßen loyal, verlässlich und damit gegebenenfalls auch konfliktwillig. Auf der anderen Seite glaubte sich das Deutsche Reich unter keinen Umständen eine auch nur partielle Distanzierung von Österreich-Ungarn leisten zu können, damit es nicht gegebenenfalls seinen einzigen Bündnispartner mit Großmachtrang verlor. Auf der militärischen Seite konnte man mit gutem Grund davon sprechen, dass der deutsch-britische Rüstungswettlauf zur See, wenn es ihn in derart fokussierter Weise überhaupt gegeben hatte, etwa 1911/12 seinen Höhepunkt erreichte, wenn nicht schon überschritt. Deutschland war, hier liegt der Hauptgrund, eher als Großbritannien beim Bau von immer mehr Schlachtschiffen und Schlachtkreuzern mit immer größerer Tonnage an seine finanziellen Grenzen gestoßen. Eine Ursache dafür lag in der Staatsstruktur des Deutschen Reiches: 18 Vgl. grundsätzlich Friedrich Kießling: Gegen den „Großen Krieg“? Entspannung in den internationalen Beziehungen 1911–1914, München 2002.

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Anders als heute waren die Einzelstaaten jene Ebene, die im Schwerpunkt die Steuerhoheit hatte. Hätte das Kaiserreich zur See mit Großbritannien mithalten wollen, dann hätte es einer großen Steuerreform mit einer Einkommenssteuer auf Gesamtstaatsebene bedurft; man kann sich unschwer vorstellen, dass das ebenso die Länder wie die sogenannten vermögenden Schichten vehement ablehnten. Der zweite Grund war, dass Deutschland, daran konnten alle Träumereien des Kaisers wie der sogenannten Flottenprofessoren nichts ändern, primär Landmacht war und seine militärische Lebensversicherung, wenn es hart auf hart kam, unbestritten in der Armee lag, nicht in der Flotte. Zirka 1911/1912 wurde dies der Reichsleitung auch wieder deutlich stärker bewusst. Auch ohne dezidiertes Flottenabkommen mit Großbritannien, auf das sich die deutsche Seite nur gegen eine definitive britische Neutralitätszusage einlassen wollte – die es nie gab –, hatte sich das Verhältnis bei den großen Schiffen ziemlich stabil auf circa fünf zu drei zugunsten der Royal Navy eingependelt. Da man auf der britischen Seite die französische Flotte hinzunahm, dokumentierte sich hier eine solide Überlegenheit gegenüber dem maritimen Newcomer Deutschland. In Deutschland aber glaubte man nun in erster Linie, fast zwei Jahrzehnte den Ausbau des Landheeres vernachlässigt zu haben – insbesondere im Blick auf die prekäre Zweifrontensituation gegenüber Frankreich und Russland. So waren die letzten Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges primär durch einen Rüstungswettlauf zu Lande gekennzeichnet. Der aber nahm in der Tat dramatische Formen an. Die quantitativ größten Sprünge gab es unbestritten auf russischer Seite; Deutschland vergrößerte die Friedenspräsenzstärke seiner Landstreitkräfte mit der Heeresvorlage von 1912 um knapp 30.000 Mann auf 650.000. Der entscheidende Sprung vollzog sich aber im Folgejahr mit der Heeresvorlage 1913. Nahezu gleichzeitig ging Frankreich, um quantitativ mithalten zu können, zur dreijährigen Wehrpflicht über. In Preußen galt das System der allgemeinen Wehrpflicht, im Kern ein Kind der Napoleonischen Kriege, seit 1814 – aber das Reservoire an wehrfähigen jungen Männern war zu keinem Zeitpunkt voll ausgeschöpft worden. Das hatte finanzielle wie gesellschaftspolitische und auch militärische Gründe: Bei vielen Militärs, insbesondere im preußischen Kriegsministerium, war die Vorstellung nicht gerade populär, dass alle jungen Männer, auch die körperlich weniger leistungsfähigen und die als wenig zuverlässig angesehenen potentiellen Sozialdemokraten, Wehrpflicht leisteten, schließlich gehe Qualität vor Quantität. Nun änderten sich die Vorstellungen: Generalstabschef Moltke, vom dynamischen Chef seiner Aufmarschabteilung, Oberst Ludendorff, der späteren Zentralfigur des deutschen Militärapparates seit 1916, dazu animiert, hatte am 21. Dezember 1912 eine berühmt gewordene

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„Denkschrift“ vorgelegt. In ihr wurde gefordert, ähnlich wie in Frankreich, nun das Potential an Wehrpflichtigen voll auszuschöpfen – Frankreich zog 85 Prozent eines Jahrganges ein, Deutschland knapp über 50 Prozent. Die Realisierung hätte die schlagartige Vergrößerung der Friedenspräsenzstärke des Heeres um 300.000 Mann auf knapp eine Million zur Folge gehabt.19 Gesellschafts- wie haushaltspolitisch war dies eine Extremforderung, deren Realisierung unter anderem auch eine große Steuerreform mit deutlich steigenden Belastungen zur Folge gehabt hätte. Am Ende kam es, wie in komplexen politischen Systemen üblich, zum Kompromiss, zur sogenannten Großen Heeresvorlage 1913, die die Mannschaftsstärke in Deutschland um 136.000 Mann auf 786.000 erhöhte. Und für die Folgejahre war in Aussicht genommen, dass sich Deutschland allmählich der vollständigen Realisierung der allgemeinen Wehrpflicht annähern würde. 1913 war also das Jahr der großen Rüstungssprünge der alten und der traditionellen Antipoden auf dem Kontinent Deutschland und Frankreich; der politische Signalcharakter war erheblich, die militärischen Auswirkungen hingegen blieben vorläufig begrenzt. Der tatsächliche Zuwachs für die deutschen Landstreitkräfte in Folge der Heeresvermehrung von 1913 betrug bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges „nur“ 60.000 Mann. Determinierten nun diese Rüstungsschritte den Weg in den Krieg? Keineswegs unbedingt. Auch wenn die Bedingungen des nuklearen Zeitalters ganz andere waren, hat doch auch der Kalte Krieg gelehrt, dass Hochrüstung keineswegs in die blutige Entladung führen muss. Wichtig sind vielmehr Stabilitätszustände, die in den Wahrnehmungen der jeweiligen Gegner zu dem Ergebnis führen, ein bewaffneter Konflikt sei eher aussichtslos, ja geradezu selbstmörderisch denn perspektivisch verheißungsvoll. Umgekehrt lässt sich sogar dahin argumentieren, dass so etwas wie Unterrüstung eher den Krieg herbeiprovoziert, und lässt man diesen Gedanken gelten, dann war der prekäre Faktor vor 1914 Österreich-Ungarn. Diese fragilste der fünf klassischen europäischen Großmächte leistete sich gewissermaßen eine viel zu schwache Landmacht, die Friedenspräsenzstärke nur gut halb so hoch wie die französische, bei deutlich mehr Einwohnern, und technologisch deutlich zurückgeblieben. 1914 zogen die Österreicher noch mit bronzenen Geschützen ins Feld. In Krisensituationen, wie eben im Sommer 1914, konnte hier ein Moment der Instabilität, nicht der Stabilität liegen.

19 Oliver Stein: Die deutsche Heeresrüstungspolitik 1890–1914. Das Militär und der Primat der Politik, Paderborn u. a. 2007, S.340.

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Das Jahr 1914 brachte, vor den Schüssen von Sarajevo, nicht nur Momente des Spannungsabbaues, sondern auch des Spannungsaufbaues. Das wichtigste Einzelereignis dabei waren vermutlich die streng geheimen britisch-russischen Verhandlungen über eine Marinekonvention mit Absprachen für den Kriegsfall, das heißt mit gemeinsamen Planungen für amphibische Operationen an der pommerschen Ostseeküste, ganze 200 Kilometer von Berlin entfernt. 20 Die deutsche Führung hatte davon durch den baltendeutschen Diplomaten an der Russischen Botschaft in London Benno von Siebert, erfahren, der ihr als Spion zur Verfügung stand und die einschlägigen Dokumente übermittelte. Es erscheint bezeichnend, dass dieser Vorgang, der die Berliner Wahrnehmungen naturgemäß gravierend beeinflussen musste, in jener Literatur, die ganz oder doch ganz überwiegend auf die deutsche „Schuld“ setzt, keine Rolle spielt, weder bei Fritz Fischer noch in John C. G. Röhls groß angelegter Biographie Wilhelms II.21 Natürlich fügen sich auch die britisch-russischen Marineverhandlungen in einen weiteren Kontext ein. Zunächst einmal war man im Frühjahr 1914 noch dabei, zu sondieren und sich abzustimmen. Zum anderen galt für die russische Seite, dass sie sich wiederum durch die Liman-von-Sanders-Krise des Vorjahres provoziert sah, durch die Entsendung eines deutschen Generals nach Konstantinopel, der ursprünglich die osmanischen Streitkräfte an der Schlüsselstelle zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer kommandieren sollte. Aber gleichwohl: Dass man sich in Berlin damals vor dem Hintergrund dieser Verhandlungen „eingekreist“ sah, wird man heute nicht als Apologie oder Schutzbehauptung abtun dürfen. Fast zeitgleich mit der Paraphierung der deutsch-britischen Vereinbarungen über die Bagdad-Bahn traf Kaiser Wilhelm II. ein letztes Mal seinen Freund, Erzherzog Franz Ferdinand, vom 11. bis 14. Juni 1914 auf dessen böhmischem Landsitz Konopischt bei Prag. Es ist bezeichnend, wie sehr in der Literatur die Auffassungen darüber auseinandergehen, was damals eigentlich besprochen wurde. John C.G. Röhl, der unnachsichtige Kritiker des deutschen Kaisers, beruft sich auf den österreichischen Generalstabschef Conrad von Hötzendorf; danach habe der Kaiser einen sehr harten Ton angeschlagen und auf Krieg gedrängt. Ganz anders Christopher Clark, der Anwalt differenzierter Betrachtungsweisen: Der Kaiser habe Franz Ferdinand gut zugeredet, den 20 Vgl. Stephen Schröder: Die englisch-russische Marinekonvention. Das Deutsche Reich und die Flottenverhandlungen der Triple-Entente am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Göttingen 2006. 21 John C.G. Röhl: Wilhelm II.. Der Weg in den Abgrund 1900–1941, München 2008.

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Serben gegenüber Konzilianz zu zeigen, sie auch kulturell zu akzeptieren, am Ende sei Franz Ferdinand über den Mangel an Kriegswillen auf deutscher Seite eher enttäuscht gewesen.22 Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges dürfte der am intensivsten untersuchte Kriegsbeginn in der gesamten Geschichte der Historiographie überhaupt sein, beginnend mit den Reflexionen des Thukydides über den Ausbruch des Peleponnesischen Krieges 431 v. Chr., in gewisser Weise vergleichbar als Großmachtund Hegemonialkonflikt, über die Duelle zwischen Rom und Karthago, die über Aufstieg und Untergang jeweils einer antiken Großmacht entschieden, und über den Siebenjährigen Krieg von 1756 bis 1763, zu dem sich ganze Generationen von Historikerinnen und Historikern daran abarbeiteten, ob und in welchem Maße er von Seiten Friedrichs II. von Preußen ein Präventivkrieg war. Die jüngsten Forschungen zur Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges machen jedenfalls eines klar: Konsens besteht weiterhin nicht, und das lässt nach so vielen Jahrzehnten des Forschens und Schreibens zugleich darauf schließen, dass es auch künftig keinen Konsens geben wird. Nach wie vor erscheint, auf deutscher Seite, Wilhelm II. in ganz gegensätzlichem Licht: Hatte er etwas zu sagen, oder wurde er von den führenden Politikern und Militärs auf die Seite gestellt und führte nur Alibi-Telegrammwechsel mit den verwandten Herrschern in St. Petersburg und London? Und tatsächlich wird man wohl nicht umhinkommen, mitunter verschiedene, ja gegensätzliche Positionen auch nebeneinander gelten zu lassen. Menschen, und eben auch die führenden Akteure auf den obersten politischen und militärischen Kommandohöhen, handeln eben keineswegs immer stringent, perspektivisch, von einen Bündel von Wahrnehmungen mehr oder weniger fest und dauerhaft geprägt, und ebenso handeln sie vielfach oft unter Bedingungen, auf die sie keinen oder nur geringen Einfluss haben, selbst wenn sie dies möchten. Diese Erfahrung musste zweifellos Reichskanzler Bethmann Hollweg mit seinem eben nur in Ansätzen gelungenen Ausgleichskurs gegenüber Großbritannien erfahren. Folgt man Konrad Canis, dem derzeit wohl besten einschlägigen Kenner, dann lässt sich die Außenpolitik der wilhelminischen Ära tendenziell in zwei Phasen einteilen, deren erste sich zumindest weitestgehend schon in den Anfängen der Amtszeit des Reichskanzlers Bernhard von Bülow zu Ende neigte, auch wenn sie terminologisch und propagandistisch weiter im Signum sogenannter „Weltpolitik“ stand. Teilweise reichten die Ursachen sogar bis in die Ära Bismarck zurück, darunter an erster Stelle die umfassende Verschlechterung des 22 Vgl. John C.G. Röhl, Wilhelm II., S.1073, Christopher Clark, Wilhelm II., S. 262 f.

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deutsch-russischen Verhältnisses. Diese hatte in hohem Maße objektive Gründe, sie ging vermutlich nur zum geringeren Teil auf individuelles Entscheiden und gegebenenfalls individuelles Versagen zurück. Das Deutsche Kaiserreich von 1871 war nicht mehr die schwache preußische Monarchie aus den Anfängen des 19. Jahrhunderts, die sich familiär und politisch an die Romanows angelehnt hatte. Das ganze Selbstverständnis des Kaiserreiches, gerade unter seinen liberalen und „linken“ Eliten, hätte es nie zugelassen, zum russischen Juniorpartner zu werden. Dazu kamen Panslawismus und eskalierender Nationalismus auf russischer Seite, das deutsche Bemühen, es nicht mit Großbritannien zu verderben und schließlich, nach vielerlei Abwägungen, die Bismarcksche Entscheidung von 1879 zum Zweibund mit Österreich, letztere strategisch, aber eben auch kulturell, wenn man so will großdeutsch begründet. In den Anfängen der wilhelminischen Ära galt als Axiom, dass, was auch immer Deutschland tat oder unterließ, die vermeintlichen weltpolitischen Antipoden Großbritannien und Russland nicht zueinander kämen. „Weltpolitik“ könne also auch gegen London betrieben werden, ohne dass der Schaden allzu groß würde. Die Folgen waren der Flottenbau, den die heutige Forschung (s. o.) in seiner Bedeutung teilweise überraschend niedrig ansetzt – hier wird vermutlich das Kind mit dem Bade ausgeschüttet –, die verbale Großmannssucht des Kaisers und seiner Umgebung, die von ansehnlichen Teilen der deutschen Medien mit Verve mitgetragen wurde, ein substantiell weitgehend erfolgloses koloniales Plänemachen und das Projekt der Bagdad-Bahn (s. o.), welches die strategischen Schlüsselzonen des britischen Imperiums tangierte. Und auf der anderen Seite, darauf wurde hier schon hingewiesen, begannen die britischen Eliten, sich trotz vielerlei kultureller Verbindungen immer stärker von Deutschland weg und auf Russland zu zu bewegen, und letzteres stand mittlerweile ohnehin, seit 1892/94, im engen Bündnis mit Frankreich. Wie dann der militärische Verlauf des Ersten Weltkrieges zeigen sollte, musste diese Kombination allein Deutschland und Österreich-Ungarn keineswegs in eine ausweglose Situation manövrieren, insofern waren die Annahmen der militärischen Führung in Berlin in den letzten Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu negativ. Aber zum einen wusste man das nicht, und zum anderen war der politisch-psychologische Druck, der von der Mitteleuropa zernierenden Kombination ausging erheblich, teilweise niederschmetternd. Konrad Canis kommt für das Ende des ersten guten Jahrzehnts wilhelminischer Außenpolitik am Ende seiner einschlägigen Darstellung zu dem Resultat: „Die Weichen waren 1902 gestellt. England war es, das die Richtung bestimmte, die auf Ausgleich zunächst mit Frankreich, später mit Russland ging. Sie traf die

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deutsche Außenpolitik in ihrer Substanz.“ 23 Vielleicht kann man es so sagen: Das ungestüme, das wenig koordinierte und wenig reflektierte Vorpreschen der eher vermeintlichen denn tatsächlichen deutschen Imperialpolitik nach 1890 hatte unbestreitbar zur sich anbahnenden Isolierung beigetragen, aber nicht nur. Es waren eben auch Wahrnehmungen, oder Imaginationen der für die britische Politik Verantwortlichen, welche nicht nur auf das Tun und Lassen in Berlin zurückgingen, sondern mindestens ebenso auf tektonische Verschiebungen – wie deren nicht selten verzerrte Wahrnehmungen – auf der globalen Bühne insgesamt. Die Ein- bzw. Überschätzung Russlands, seiner Vitalität wie seiner Ambitionen, war dabei der zentrale Faktor. Vergeblich war hingegen nach Canis das schon fast verzweifelte deutsche Bemühen, wieder Partner zu finden, durch Druck wie durch Konzessionsbereitschaft, in London wie in St. Petersburg. Dann kam die Juli-Krise, Canis sieht in der deutschen Bereitschaft, den großen europäischen Krieg anzunehmen, ein Präventivkriegsszenario mit – das mag heutige Leser überraschen, ja irritieren – Folgerichtigkeit, ja durchaus innerer Legitimation. Im Gegensatz zu Fritz Fischers Annahmen sei es Berlin keineswegs um eine imperiale Ambition gegangen, mit großen Territorialgewinnen und mit der Domestizierung der anderen europäischen Großmächte, sondern um die Rückkehr zu jener halb-hegemonialen Stellung, die das Bismarck-Reich ursprünglich einmal innegehabt hatte, in jenen Jahren, in denen die anderen Akteure auf die Koordinationsleistungen des Reichsgründers angewiesen waren. „Das ursprüngliche deutsche Kriegsziel lag nicht in einer vollen Hegemonie Deutschlands in Europa, nicht in einem Sieg über England, sondern in dem Ziel einer begrenzt hegemonialen Stellung auf dem Kontinent in Bismarckscher Perspektive und in einem Kompromiss sowohl mit England in der Weltpolitik als auch mit Russland in der Balkanpolitik, der Österreich-Ungarn eine Atempause verschaffte. Deutschland suchte aus der Ausgrenzung auszubrechen in einen zurück gewonnenen und gesicherten europäischen und in einen neuen weltpolitischen Bewegungsspielraum (…)“ 24 Allerdings kann man auch bei diesem Befund nicht stehenbleiben, unabhängig davon, ob sich diese sehr neue und zugleich in mancherlei Hinsicht sehr alte Deutung durchsetzt, oder ob sie als eher apologetisch abgetan wird, vermutlich nicht zuletzt auf der heutigen deutschen Seite. Der entscheidende weitere Schritt liegt in der perspektivischen Öffnung auf die Gesamtheit jener Akteure, 23 Konrad Canis: Von Bismarck zur Weltpolitik. Deutsche Außenpolitik von 1890–1902, Berlin 1997,S.396. 24 Canis, Weg in den Abgrund, S. 688.

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die im Juli 1914 wirklich Gewicht hatten. Christopher Clark bringt das so auf den Punkt: „But the Germans were not the only imperialists and not the only ones to succumb to paranoia. The crisis that brought war in 1914 was the fruit of a shared political culture. But it was also multipolar and genuinely interactive – that is what makes it the most complex event of modern times and that is why the debate over the origins of the First World War continues, one century after Gavrilo Principe fired those two fatal shots …“ 2 5 Clark leistet vor allem zweierlei: Er betont die Rolle einzelner, ganz situativer Faktoren, jenseits allen Kalküls über sich verengende Spielräume oder das Thema, wie man einen tatsächlichen oder imaginierten Belagerungsring politisch oder militärisch sprengen könne. Und hier gibt es in seiner Wahrnehmung ein Schlüsselereignis, das den großen, nicht den lokalen Krieg zwischen Österreich-Ungarn und Serbien, unabwendbar machte und damit ein hohes Maß an Verantwortlichkeit generierte: Die beiden russischen Mobilmachungen, die Teilmobilmachung vom 29. Juli 1914 und die Generalmobilmachung vom Folgetag. Am 28. Juli hatte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärt, von der Annahme geleitet, die serbische Antwort auf das Wiener Ultimatum vom 23. Juli müsse unbedingt als unbefriedigend gewertet werden, um zur Abrechnung und zum Prestigeerfolg der Donaumonarchie schreiten zu können. Für die russischen Militärs, Politiker und Meinungsmacher war eines aber klar: Eine Niederwerfung Serbiens durch Österreich-Ungarn war zugleich eine russische Demütigung. Dazu durfte es unter keinen Umständen kommen. Mit den beiden russischen Mobilmachungen kam aber eben unabwendbar jener Mechanismus in Gang, der die Mobilmachungen wie die Einleitung der Operationspläne aller anderen großen Mächte zur Folge hatte. Dass dies so war, war in Europa aber Allgemeingut. Ein Anhalten aufmarschierter und mobil gemachter Armeen war jenseits der allgemeinen Vorstellungswelt, so dass die Sorge, so existentiell wichtige Trümpfe aus der Hand zu geben, dominierte. In den deutschen Apologien der Kriegs- wie der Zwischenkriegszeit wurden die russischen Mobilmachungen stets als ausschlaggebender Faktor bezeichnet. Die apologetische Verwendung bzw. Instrumentalisierung eines Tatbestandes muss freilich nicht zwingend bedeuten, dass dieser objektiv gewissermaßen gegenstandslos ist. Und so verhielt es sich offenkundig eben auch mit den Unterschriften von Zar Nikolaus II. unter die Mobilmachungsbefehle für das Russische Reich. Für Christopher Clark ist zweitens entscheidend, dass jede Macht die Wahrung, wenn es denn ging Verbesserung ihrer Position zum wesentlichen Kriterium ihres Vorgehens 25 Clark, Sleepwalkers, S. 561.

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erhoben hatte, dass keine Macht bereit war, die Stabilität des Bündnisses, an dem sie Anteil hatte, aufs Spiel zu setzen. Für Deutschland ging die Loyalität mit Österreich-Ungarn ebenso über alles wie die für Frankreich mit Russland, und auch die britische Führung hielt es für schwer zumutbar, einer denkbaren Niederlage ihrer Partner Frankreich und Russland passiv zuzusehen. Gewiss war die belgische Frage, der deutsche Einmarsch im neutralen Belgien, um das französische Festungssystem von Norden kommend auszuhebeln und die französische Armee einzukesseln, in der britischen Wahrnehmung von hohem Gewicht. Dass sie ein massiver Völkerrechtsbruch war, bezweifelte niemand. Aber sie hatte durchaus auch Alibicharakter. Auf britischer Seite war eben auch erwogen worden, eine deutsche Truppenverschiebung nur durch periphere, südliche belgische Landstriche zu tolerieren – und umgekehrt erklärte Außenminister Grey bei seiner Rede am 3. August 1914 im Unterhaus, es gebe eine moralische Verpflichtung Großbritanniens, Frankreich, das seine Flotte in Abstimmung mit Großbritannien im Mittelmeer stationiert habe, zur Seite zu stehen und nicht Kanal und Atlantik unverteidigt zu lassen. Von Belgien war da nicht die Rede, wohl aber von Solidarität mit Paris (und Petersburg). Vermutlich hätte sich der Frieden bewahren bzw. der Krieg lokalisieren lassen, hätte es unter den Akteuren Konzessionsbereitschaft, ja Nachgiebigkeit gegeben. Das aber war in Zeiten, in denen Prestige und Ehre zählten und in denen man ganz überwiegend darwinistisch nur Aufstieg oder Niedergang zu kennen glaubte, wenig, ja gar nicht der Fall. Naturgemäß wurde Österreich-Ungarn am meisten von solchen Phobien bestimmt, aber frei war keine der Mächte von ihnen: Deutschland fürchtete die Erdrückung durch Einkreisung oder wie man später lange meinte Selbstauskreisung, zumal durch ein übermächtig werdendes Russland, Frankreich sah sich, auch wenn es rüstungsmäßig noch einigermaßen mithalten konnte, strukturell Deutschland immer stärker unterlegen, Großbritannien sah die Rolle des Welthegemons schwinden, angesichts des wachsenden Gewichtes Russlands und der USA. Und, wie gesagt, Österreich-Ungarn fürchtete ohnehin ganz unmittelbar um seine Existenz. Und für alle galt, keineswegs nur für Deutschland, dass, wenn es denn schon losging, militärisch schnell und mit durchschlagendem Erfolg gehandelt werden musste: Der politisch so prekäre deutsche „Schlieffen-Plan“, schneller Vorstoß durch Belgien von Norden mit dem Gros der Armee, war insofern nur Bestandteil eines militärischen innereuropäischen Aktions- und Reaktionsspiels: Zwischen Frankreich und Deutschland gab es eine Art Mobilmachungs- und Aufmarschwettlauf, Russland mobilisierte auch deshalb als erste Großmacht, weil es nach seinen geographischen Bedingungen ohnehin am längsten brauchen musste, und selbst

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Großbritannien, das keine Wehrpflichtarmee einzuberufen hatte, musste darum bemüht sein, sein zunächst geringes Kontingent rechtzeitig über den Kanal zu transportieren, bevor die französische Armee der deutschen Offensive unterlag. Und nahezu alle Beteiligten waren zugleich unfähig, die Realität des kommenden Krieges auch nur einigermaßen angemessen in Rechnung zu stellen. Am realistischsten ging noch Großbritannien vor, das ihn von vornherein, langfristig angelegt, als Wirtschaftskrieg gegen Deutschland führte und die Blockade verhängte. Aber gerade in Deutschland und in Frankreich hatte man ihn sich ganz überwiegend, in verblüffender Parallelität, als frisch-fröhlichen Offensivkrieg gedacht, die Wirkung der Maschinengewehre und die Wirkung der neuen Schnellfeuergeschütze verdrängend, den Verzehr an Ressourcen und die Belastungen der Zivilgesellschaft schon gar nicht in Anschlag bringend. Ahnungsvoll hatte der Sieger von 1866 und 1870/71 Helmuth von Moltke, kurz vor seinem Tod, im Mai 1890 gewarnt: „Wenn der Krieg kommt, so ist seine Dauer und ist sein Ende nicht abzusehen. Es sind die größten Mächte Europas, welche, gerüstet wie nie zuvor, gegeneinander in den Kampf treten (…) Es kann ein Siebenjähriger, es kann ein Dreißigjähriger Krieg werden – und wehe dem, der Europa in Brand steckt, der zuerst die Lunte in das Pulverfass schleudert.“ 26 Aber dies war eine einsame Stimme geblieben. Vom freiwillig die Uniform anziehenden Oberschüler und Studenten bis zum hohen Generalstabsoffizier suggerierte man sich 1914, nicht nur in Deutschland, es werde und es dürfe nur einige Monate dauern und es komme auf rasches, offensives Zupacken an. Gewiss – es gab auch Militärs wie Intellektuelle, die sich zumindest punktuell die Möglichkeit eines unerhört blutigen und erschöpfenden Ringens, ja auch die Gefahr der Niederlage eingestanden. Das war selbst beim deutschen Generalstabschef von 1914, Moltke, der Fall. Aber dagegen standen das Setzen auf den schnellen Sieg, aber auch fatalistische Beschwörungen. Kriege verlaufen selten so, wie man sie, ob am Stammtisch oder im Generalstab, zuvor geplant und durchkalkuliert hat: Friedrich der Große wäre entsetzt gewesen, hätte er, als er 1756 Sachsen überfiel, geahnt, dass er sich auf ein siebenjähriges blutiges Ringen einließ und dass ihn am Ende nur der Zufall, der Tod der russischen Zarin Elisabeth, vor Niederlage und Desaster bewahrte. Und schon die beiden großen Konflikte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der deutsch-französische Krieg von 1870/71 und der Amerikanische Bürgerkrieg von 1861 bis 1865, hielten eine Fülle an Lehren bereit, wie im erst anhebenden Industriezeitalter Kriege quantitativ aus dem Ruder liefen und immer mehr entarteten: Der deutsch-französische Krieg von 26 Zit. nach Canis, Von Bismarck zur Weltpolitik, S. 48.

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1870/71 schien nach gut sechs Wochen mit der Einschließung einer Armee des bonapartistischen Kaiserreiches in der Festung Metz und mit der Kapitulation der anderen in Sedan gewonnen und beendet – und doch begann er jetzt erst tatsächlich mit der Volksbewaffnung durch eine neue, republikanische Führung in Paris. Als Nord- und Südstaaten in den USA 1861 die Waffen gegeneinander aufnahmen, nahm jede Seite an, auf der jeweils anderen gebe es eigentlich weder Potential noch Willen zum Kampf. Schließlich wurden Millionen mobilisiert, an die 700.000 Tote waren zu beklagen, und Landstriche wurden verwüstet, die größer als Frankreich und Deutschland zusammen waren. Carl von Clausewitz war in seinem grundlegenden Buch „Vom Kriege“ von der grundsätzlichen Überlegenheit der Defensive über die Offensive ausgegangen. Die deutschen, die französischen, die russischen und die österreichisch-ungarischen Militärs agierten ab Anfang August 1914 so, als ob sie davon nie etwas gehört hätten – und dies im Zeitalter des Maschinen- und des Repetiergewehres und des bald einsetzenden Trommelfeuers der Artillerie, das Clausewitz gar nicht hatte ahnen können. Auch in solchen Fehlwahrnehmungen lag ein kollektives europäisches Versäumnis mit denkbar verheerenden Folgen. Deutschland war – relativ – ökonomisch nie stärker und auch nie jugendlicher als am Ende der 43 Friedensjahre nach der Reichsgründung. Es gab wenige Einsichtige, aber es gab sie, die ahnten, dass es um seine Vitalität geschehen sein müsse, ganz gleich, welchen militärischen Verlauf der Krieg denn nun nehmen werde.

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Deutschland hatte seit Ende des 19. Jahrhunderts zwar seine beeindruckende Flotte aufgebaut, tatsächlich aber nur den Landkrieg geplant; für die Flotte war eigentlich nichts vorgesehen. Tunlichst sollte vermieden werden, dass die schönen großen Linienschiffe, an denen auch das Herz des Kaisers hing, in den Grund gebohrt wurden. Immerhin: Die Flotte trug dazu bei, dass die Ostsee de facto rein deutsches Operationsgebiet war bzw. blieb und doch: Die Flotte war eine gigantische Fehlinvestition gewesen, politisch hatte man das schon vor 1914 sehen können, nun sprach auch militärisch vieles dafür, denn die Ressourcen, die in sie investiert worden waren, fehlten jetzt bei der Landkriegsführung. Die vier großen Landmächte, die von vornherein in den Krieg verwickelt worden waren, Deutschland und Österreich-Ungarn auf der einen Seite, Frankreich und Russland auf der anderen, handelten in den ersten Tagen und Wochen sozusagen fahrplanmäßig: Sie mobilisierten alle schnell und weitestgehend pannenfrei; ihre militärischen Apparate funktionierten also. Am langsamsten waren die Österreicher, und dazu verzettelten sie ihre Kräfte: Sie wollten nicht nur offensiv gegen Russland vorgehen, bevor die zaristische Heeresmacht übermächtig würde, sondern möglichst auch einen schnellen k.o.-Schlag gegen ihren Lieblingsfeind Serbien führen.27 Ihr militärisches Scheitern, Österreich-Ungarn hatte sich im Hinblick auf seine weit zurückgebliebene Rüstung einfach zuviel zugemutet, hatte sehr bald auch politische Konsequenzen. Zunächst einmal verhielt es sich militärisch so, dass Serbien sich kräftig zur Wehr setzte und erst 1915, mit deutscher Unterstützung, niedergerungen, dann aber auch vollständig besetzt werden konnte. An der russischen Front aber steckte die Armee von Kaiser Franz Joseph nach ersten Anfangserfolgen schwere und vor allem verlustreiche Niederlagen ein und befand sich ab etwa Oktober 1914 in einer prekären Defensive: Bis zur Gegenoffensive mit deutscher Hilfe vom Mai 1915, die die Mittelmächte im Sommer in den Besitz Kongresspolens setzte, drohte der russische Durchbruch über die Karpaten in die ungarische Tiefebene und damit ein Zusammenbruch der gesamten Donaumonarchie. Politische Konsequenz war, dass das Überleben Österreich-Ungarns von massiver deutscher Hilfe abhing. Rein militärisch war diese im Ergebnis außerordentlich erfolgreich, was heute 27 Vgl. Manfried Rauchensteiner: Der Tod des Doppeladlers. Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg, Graz, Wien, Köln, 1993 S. 113 f.

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freilich vielfach nicht mehr gesehen wird, weil man nur das Endergebnis des Ersten Weltkrieges registrieren mag. Aber zunächst einmal verhielt es sich so, dass es den Mittelmächten schließlich bis 1917 gelang, Russland, im Grunde den Gegner, den sie am meisten gefürchtet hatten, aus dem Feld zu schlagen und politisch zu paralysieren. Für das deutsch-österreichische Verhältnis bedeutete diese Gesamtentwicklung freilich zugleich, dass die ohnehin schon gegebenen Asymmetrien stetig größer wurden. Österreich-Ungarn war zwar bei den Siegen im Osten und Südosten dabei, aber es verlor parallel zu dieser militärischen Entwicklung den Status einer europäischen Großmacht, den die Habsburger Monarchie bis dahin seit nahezu zweieinhalb Jahrhunderten unwidersprochen gehabt hatte, seit es ihr im Bündnis mit Polen und dem Heiligen Römischen Reich 1683 gelungen war, die osmanische Belagerung Wiens aufzuheben und im Gegenzug große Teile Ungarns und des Balkans zu okkupieren und seit sie, nahezu zeitgleich, im Bündnis mit den Niederlanden und England das Hegemonialstreben des Frankreichs Ludwigs XIV. erfolgreich in die Schranken gewiesen hatte. Die Degradierung der Donaumonarchie hing freilich nicht nur mit ihrer militärischen Schwäche zusammen. Da der Erste Weltkrieg zunehmend, propagandistisch und schließlich auch unmittelbar politisch, als Konflikt um die Selbstbestimmung von Völkern und Ländern geführt wurde, war das multinationale Österreich-Ungarn am meisten gefährdet, sieht man vom Osmanischen Reich ab, welches seit Ende Oktober 1914 selbst Kriegspartei geworden war. Hinzu kam, dass die politische Existenz der Donaumonarchie weitestgehend von der Bereitschaft der aristokratischen und großbürgerlichen deutschen Eliten in Österreich wie der ungarischen Eliten in der ungarischen Reichshälfte abhing, sich mit dieser Gesamtmonarchie zu identifizieren, jenseits engerer nationaler Orientierungen. Und nur wenn dies so war und so blieb, konnten die weiteren, vor allem slawischen Ethnien gewissermaßen auch bei der Stange gehalten werden, den Gesamtrahmen der Doppelmonarchie weiterhin als für sie wenigstens einigermaßen akzeptabel anzusehen; am brisantesten war hier zweifellos die Stellung der Tschechen, sodann aber auch die der Slowenen und Kroaten, besonders dramatisch die der serbisch orientierten Südslawen in Bosnien und der Herzegowina. Die starke (reichs-)deutsche Dominanz in der Gesamtstruktur der Mittelmächte führte nun aber dazu, dass deutschnationale Orientierungen gerade während des Krieges deutlich an Anziehungskraft gewannen. Seit der Zerschlagung des Deutschen Bundes durch die von Otto von Bismarck geleitete preußische Offensivpolitik im Jahre 1866 hatte hier stetig eine für den Bestand der Donaumonarchie gefährliche Schwebelage bestanden – die Bismarck selbst im Übrigen durchaus wahrgenommen und auf seine Weise nicht ohne Erfolg zu

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heilen versucht hatte: Nämlich durch den deutsch-österreichischen Zweibund von 1879 und den mit ihm verbundenen stillschweigenden Konsens, dass die deutsche Grundierung Österreichs im Gesamtrahmen der Donaumonarchie im reichsdeutschen Interesse liege und daher auch mit der gebotenen Zurückhaltung unterstützt werden solle, dass es aber eben nicht im reichsdeutschen Interesse liegen könne, wenn es im Gefolge von Nationalitätenkonflikten zum Zerfall Österreich-Ungarns komme. Ein „Zuwachs“ für das Bismarck-Reich durch Österreich hätte die anderen Großmächte in Europa provoziert, zugleich wäre das Deutsche Reich seines einzigen wirklich festen, ihm auch kulturell verbundenen Bündnispartners verlustig gegangen, und schließlich hätten die evangelischen, der Dynastie Hohenzollern in Berlin verbundenen Führungsschichten in Preußen nicht allzu viel Gefallen an einem katholischen Zuwachs aus dem Süden und Südosten des deutschen Sprachraumes gehabt. Dies alles waren im Übrigen auch Faktoren, die dann auch das Anschlussproblem während der Zwischenkriegszeit sehr komplex gestalten sollten. Darauf wird hier noch gesondert eingegangen. In jedem Falle aber war für die hier knapp skizzierte subtile Tektonik die Entwicklung von 1914 bis 1918 außerordentlich abträglich. Denn sie schwächte unter den deutschen oder deutschsprachigen Eliten in Österreich die Loyalität mit dem herkömmlichen Staat wie mit der herkömmlichen Dynastie, und sie öffnete die Blicke nach Berlin, wo offenkundig Macht und Erfolg beheimatet waren. Der Krieg begann zunächst einmal kontinental und scheinbar herkömmlich – mit einer Ausnahme und die war Großbritannien. Die vier Festlandsgroßmächte bemühten sich, ihre über Jahrzehnte entwickelten und stetig modifizierten Aufmarsch- und Operationspläne zu realisieren – und es scheiterten damit eben nicht nur die Deutschen mit ihrem Schlieffen-Plan Anfang September 1914 im Vorfeld der französischen Hauptstadt Paris. Ein eigentlich noch größeres Desaster war die französische Offensive schon in der zweiten Augusthälfte in Lothringen, sie lief sich unter großen Verlusten im Vorfeld der deutschen Linien fest, ohne dass die französische Armee hier doch auf das Gros der deutschen Kräfte gestoßen wäre. Schon jetzt zeigte sich, dass über die längsten Zeitstrecken dieses Krieges im Westen, wo in einer kompakten Kriegsarena die technisch und taktisch am weitesten entwickelten Armeen aufeinander trafen, auf absehbare Zeit die Defensive die stärkere Kampfform war. Wer dies nicht wahrhaben wollte, musste furchtbar bluten – das französische Heer schon wenige Wochen nach Kriegsbeginn in Lothringen, gegenüber der von Kronprinz Rupprecht kommandierten – bayerischen – 6. Armee, das deutsche Heer mit den neu aufgestellten Reservekorps aus Kriegsfreiwilligen ab der zweiten

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Oktoberhälfte in Flandern. Längere Zeit relativ am erfolgreichsten, bezogen auf ihre ursprünglichen Pläne und Szenarien, agierten eigentlich die Russen: Sie drangen sehr früh mit zwei Armeen in Ostpreußen ein, und sie konnten schon sehr bald den Österreichern gegenüber in die Offensive übergehen. Vor allem machten sie den Franzosen gegenüber ihre Zusage wahr, so schnell es ging und bevor alle Mobilisierungsmaßnahmen ihrer Fünf-Millionen-MannArmee abgeschlossen waren, einen Vorstoß ins Innere Deutschlands zu wagen, um so Frankreich vom Druck der deutschen Offensive zu entlasten. Es war eher einer sehr zufälligen Konstellation zu verdanken, dass dieses Kalkül nicht aufging: Das in einer militärische Krise in Ostpreußen mit der Führung der dortigen deutschen 8. Armee betraute Führungsduo, General Hindenburg als Oberkommandierender und General Ludendorff als Generalstabschef, konnte Ende August 1914 in der Umfassungsschlacht von Tannenberg eine der beiden russischen Armeen aus dem Feld schlagen, wenige Wochen später die zweite in der sogenannten Schlacht an den Masurischen Seen zumindest empfindlich schwächen und nach Osten abdrängen. Damit waren zunächst einige Monate Zeit gewonnen. So zeichnete sich im Herbst 1914 erst einmal ein Patt ab, freilich mit geostrategischem Vorteil für die drei Belagerungsmächte Großbritannien, Frankreich und Russland gegenüber der belagerten Festung aus Deutschland und Österreich-Ungarn. Zugleich aber begann jetzt erst voll die innere Mobilisierung der kriegführenden Mächte. Auf einen langen Krieg waren sie sämtlich finanziell, psychologisch, ökonomisch und ernährungsmäßig nicht eingestellt gewesen. Ihr Pulver hatten sie alle buchstäblich verschossen, im Bewegungskrieg der ersten Wochen waren die Vorräte von je zirka zwei- bis fünftausend Granaten je Geschütz schnell aufgebraucht worden. Besonders unsolide war die Kriegsfinanzierung in Deutschland. Sogenannte Reichsschatzscheine wurden bei der Reichsbank einfach diskontiert, und Anleihen bei der Bevölkerung dienten dann dazu, diese kurzfristige Verschuldung des Reiches gegenüber der Reichsbank zu konsolidieren. Um die Dimension zu konkretisieren: Das Deutsche Reich hatte in seinem Haushalt im letzten Friedensjahr 1913 ganze 2,6 Milliarden Goldmark ausgegeben – in den vier Folgejahren beliefen sich die Kriegskosten dann auf 155 Milliarden Mark. Diese Finanzierung ließ sich ohne Megainflation nur durchhalten, wenn im Ergebnis des Krieges ein eindeutiger deutscher Siegfrieden stand – mit hohen und durchsetzbaren Reparationsforderungen gegenüber den Verlierern. Und selbst dann musste die finanzielle Lage prekär bleiben, denn ausgeplünderte Verlierer würden nicht mehr, wie in der Vorkriegszeit, als potente Kunden deutsche Waren nachfragen können. Solche Zusammenhänge nicht frühzeitig gesehen und schon vor diesem Hintergrund

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auf eine frühzeitige Beendigung des Krieges, etwa im Zusammenhang mit dem militärischen Patt vom Herbst 1914, energisch gedrängt zu haben, markiert einen ganz wesentlichen Vorwurf an die deutsche Politik, schon in den Anfängen des Krieges, mehr und begründeter als die Vorwürfe an ihr Taktieren in der Juli-Krise. Die Finanzierung eines industriellen Massenkrieges, wie es ihn nun erstmals gab, dies muss man vielleicht etwas entlastend hinzu bedenken, war eine gänzlich neue Herausforderung. Und sie fand aber auch denkbar langfristige Parallelen – bis in unsere Gegenwart. Hans-Werner Sinn schreibt in seiner Rundumabrechnung mit dem Euro-System von heute und dessen Schuldenfinanzierung: „Politisch sind die Käufe (auf dem Sekundärmarkt von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank, P.M.) vor allem deshalb umstritten, weil sie an die Monetarisierung der deutschen Staatsschulden in und nach dem Ersten Weltkrieg erinnern, aus der die deutsche Hyperinflation entstand. Die Reichsbank hatte den Staat damals mit der Notenpresse finanziert, indem sie immer mehr Staatspapiere mit neu geschaffenem Geld erwarb. (…) Der kleine Mittelstand war damals um seine Ersparnisse gebracht und radikalisiert worden, was ein Jahrzehnt später bekanntlich schlimme Konsequenzen hatte.“ 28 Es geht hier nicht nur um ein deutsches Trauma, welches im Ersten Weltkrieg seine Ursache hat und bis zur deutschen Sensibilität unserer Gegenwart gegenüber dem Abweichen der Europäischen Zentralbank und der ihr nahestehenden Staatsführungen vom stabilitätspolitischen Pfad der Tugend reicht. Das Beispiel macht auch deutlich, wie kontraproduktiv die macht- und rüstungspolitische Überdehnung der Ambitionen von Groß- und Weltmächten durch finanzielle und ökonomische Überbeanspruchung wirken kann.29 Beispiele, die unserer Gegenwart näher liegen, sind die Schwächung der USA durch den Vietnamkrieg und die noch viel weitergehende Schwächung der Sowjetunion durch ihre überbordenden Rüstungsprogramme in der Ära Breschnew. Deutschland, Frankreich, Russland und Österreich-Ungarn – sie alle gingen jetzt daran, ihre ökonomischen und demographischen Potenzen zu mobilisieren. Teilweise war dies buchstäblich überlebenswichtig, im deutschen Fall vornehmlich bei der synthetischen Gewinnung von Stickstoff. Eines der großen deutschen Industriewerke, das mitteldeutsche Leunawerk, geht auf die Handlungszwänge dieser Monate zurück und ist beschleunigt in der ersten Kriegshälfte aus dem Boden gestampft worden. 28 Hans-Werner Sinn: Die Target-Falle. Gefahren für unser Geld und unsere Kinder, München 2012, S.138 f. 29 Vgl. dazu grundsätzlich Kennedy, Aufstieg und Fall.

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Gewiss, Großbritannien war in anderer Lage, nicht nur als Seemacht. London verfügte über Kapital und über Dominions, es führte den Krieg von vorneherein in jeder Hinsicht weltweit. Mit Beginn der Feindseligkeiten wurde die Blockade gegen Deutschland verhängt. Am Anfang noch verspottet, zeigte sich ab ca. 1916 ihre Wirkung immer gravierender. Das deutsche Ernährungsdefizit resultierte ja nicht nur aus der vor 1914 noch relativ geringen Differenz zwischen dem, was bis zum Kriegsbeginn im Lande verbraucht worden und dem, was zwischen den eigenen Landesgrenzen hergestellt worden war. Grundstoffe für künstlichen Dünger wurden nun auch für Sprengstoff gebraucht, der Pferdebestand an der Front eingesetzt, und auf den Höfen fehlten die Männer. Mit Kriegsbeginn wurden auch die deutschen Überseekabel gekappt, das belagerte Deutschland war kommunikativ nicht mehr präsent. Und die britischen Dominions entlasteten, teilweise mit furchtbaren Opfern, das Mutterland an den Landfronten. Zehntausende Australier verbluteten 1915/16 beim fehlgeschlagenen Landungsunternehmen der Alliierten auf der Halbinsel Gallipoli im Vorfeld Konstantinopels. Und der Krieg weitete sich geographisch immer weiter aus: Seit Ende Oktober 1914 war das Osmanische Reich Kriegspartei, seit Mai 1915 Italien. Für das Osmanische Reich war es eigentlich nur die Fortsetzung eines Kriegskontinuums. Dieses hatte mit einer italienischen Aggression 1911 begonnen, die auf den Erwerb Libyens und des Dodekanes abzielte. 1912/13 schlossen sich der Erste wie der Zweite Balkankrieg an, und nach dem Ersten Weltkrieg führte die kemalistische Türkei die Konfrontation nun mit Griechenland, einem Scheinsieger des Ersten Weltkrieges, fort: Den griechischen Ambitionen, in einer Quasi-Anknüpfung an das alte byzantinische Reich, Konstantinopel und die ägäische Gegenküste zu erobern, wurde die Grundlage entzogen. Am 13. Oktober 1923 zogen türkische Truppen des neuen kemalistischen Nationalstaates nun in Istanbul ein, nach einem Dutzend Jahren fast unablässiger militärischer Auseinandersetzungen. Das noch Osmanische Reich, das an der Seite der Mittelmächte 1914 in den Krieg eintrat, hatte durchaus plausible Argumente für diese Option auf seiner Seite: Denn der Krieg bedrohte in der nun einmal gegebenen Konstellation den territorialen Kernbestand des Osmanischen Imperiums, die Hauptstadt selbst, den Bosporus und die Dardanellen, also die strategische Schlüsselposition der Verbindung zwischen dem Mittelmeer und dem Schwarzen Meer. Großbritannien setzte hier während des Krieges, noch mit dem zaristischen Russland im Bündnis, seine russlandfreundliche Politik aus der Vorkriegszeit fort: Russland sollte, das war schon vor dem osmanischen Kriegseintritt abzusehen, im Siegesfall jenen strategischen wie auch symbolhaften Gewinn erhalten, nach dem die Zaren seit Generationen gestrebt hatten, mit

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Konstantinopel, dem „Dritten Rom“, zugleich den Zugang zum Mittelmeer und damit den britischen Schlüsselstellungen zwischen Gibraltar und dem Suezkanal ganz nahe gerückt. Hier wird klar, welch ungeheuer hohen Preis die britische Politik für das Bündnis mit dem scheinbar übermächtigen Antipoden Russland zu zahlen bereit war. Hier wird aber auch klar, wie sehr man beim Blick auf die Kriegszielpolitik der Mächte des Ersten Weltkrieges alle Beteiligten einbeziehen muss: Es geht eben beileibe nicht nur um Deutschland, um die Blicke vieler deutscher Expansionisten auf Belgien, auf die Erzvorkommen in Ostfrankreich, auf eine Arrondierung Ostpreußens, sodann auf ein großes afrikanisches Kolonialimperium und, in der weiteren, umfassenden strategischen Konsequenz, auf ein deutsches Mitteleuropa, eine Zollunion, die vor allem Frankreich und Österreich-Ungarn umschließen sollte. Man muss nicht nur sehen, dass all diese Überlegungen neben expansiven auch defensive Komponenten enthielten: Denn die deutschen Mitteleuropa-Vorstellungen jener Jahre enthielten immer, zumindest stillschweigend, auch den Rückzug aus den Weltmachtambitionen seit Beginn der wilhelminischen Ära 1888/1890. Vor allem aber zeigt sich im Gesamtbild, dass die Planungen der deutschen Gegner mindestens ebenso weit gespannt und mindestens ebenso riskant waren: Mit der weitgehenden Preisgabe des Osmanischen Reiches an das zaristische Russland waren Großbritannien und Frankreich ja bereit, axiomatische Verteidigungslinien aufzugeben, wegen derer sie noch ein halbes Jahrhundert zuvor, im Krimkrieg, verlustreich gegen Russland zu Felde gezogen waren. Von welch axiomatischer Bedeutung diese Schlüsselstellung über alle Systemwechsel hinweg ist, dokumentiert schließlich die Tatsache, dass der Ausbruch des Kalten Krieges 1946/1947 auch vor dem Hintergrund nun sowjetischer Ambitionen auf die Meerengen zu sehen ist. Die Zusage Präsident Trumans, eine entscheidende Zäsur am Beginn des Kalten Krieges, den sowjetischen Expansionismus nunmehr einzudämmen und allen bedrohten Staaten zur Seite zu stehen, erfolgte gerade im Blick auf die Bedrohung der Türkei, schon kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, durch Forderungen Stalins nach Stützpunkten auf türkischem Boden.30 Während die Westmächte dem zaristischen Russland gegenüber im Ersten Weltkrieg an dieser Stelle von einer historisch singulären Konzessionsbereitschaft waren, hielten sie sich mit ihren imperialen Ambitionen anderen Ortes in der Region schadlos: „Durch das berühmte Sykes-Picot-Abkommen von 1916 30 Vgl. Gregor Schöllgen: Geschichte der Weltpolitik von Hitler bis Gorbatschow, München 1996, S. 41, Klaus Schwabe: Weltmacht und Weltordnung. Amerikanische Außenpolitik von 1898 bis zur Gegenwart, Paderborn u. a. 2006, S. 178.

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bekam Frankreich die direkte Kontrolle über Kilikien und den Libanon sowie eine Einflusssphäre in Syrien, die bis zur persischen Grenze reichte. Die Briten erhielten die direkte Kontrolle über Haifa und Akkon an der Mittelmeerküste sowie über das südliche Mesopotamien, dazu eine Einflusssphäre, die auch das spätere Transjordanien umfasste.“ 31 Im Detail ist es dann hinsichtlich der Territorial- und Machtverteilung zwischen dem britischen und dem französischen Imperialismus anders gekommen. Zugleich kann es keinen Zweifel daran geben, dass die Präsenz beider Mächte im arabischen Raum, insbesondere die britische in Palästina, in engem Zusammenhang mit den späteren Konflikten um die Herstellung arabischer Staatlichkeiten wie mit den Konflikten zwischen Juden und Arabern steht. Wer hier agierte, nahm um imperialer Ambitionen halber zugleich schwere politische und moralische Lasten auf sich. Eine der schwersten Niederlagen der britischen Politik und Strategie in der ersten Hälfte des Krieges war das fehlgeschlagene Landungsunternehmen an den Dardanellen. Wäre es gelungen, und wäre der Versorgungsweg vom warmen mediterranen Süden nach Russland geöffnet worden, dann wären die Mittelmächte in eine außerordentlich prekäre Situation geraten, weniger wegen der damit verbundenen Niederlage des Osmanischen Reiches und des Verlustes seiner Hauptstadt, sondern weil sie dann viel von ihrer qualitativen Überlegenheit durch modernere Waffensysteme gegenüber den russischen Armeen an ihrer Ostfront eingebüßt hätten. Der Belagerungszustand wäre für sie um vieles beengender geworden. Nun kam es ganz anders: Die Briten bzw. ihre australischen Verbündeten mussten sich Anfang 1916 zurückziehen. Nicht nur hatte die britische Strategie eine schwere Niederlage erlitten. Der türkische Abwehrsieg war zwar auch mit hohen Verlusten erkauft, aber er legitimierte zugleich die Führung der späteren nationalstaatlichen kemalistischen Türkei. 1916 konnte das zwar noch niemand ahnen. Er ist bis heute aber Teil ihres idenditätsstiftenden Geschichtsnarrativs. Und er war somit zugleich, trotz der schließlichen Niederlage des Osmanischen Reiches zusammen mit den Mittelmächten 1918, ein symbolhafter Erfolg hinsichtlich der Behauptung der Türkei gegenüber Russland in einer jahrhundertlangen Auseinandersetzung – eben bis hin zum Kalten Krieg und zum NATO-Beitritt der Türkei.

31 A.S.  Kanya-Forstner: Krieg, Imperialismus und Entkolonialisierung, in: Jay Winter, Geoffrey Parker, Mary R. Habeck (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert, Deutsche Ausgabe Hamburg 2002, S. 231–262, hier S. 238.

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Der eigentliche Maschinen- und Vernichtungskrieg im großen Stil begann erst Anfang 1916. Auf deutscher Seite war vor allen Dingen mit zwei Waffensystemen schon zuvor ein neues Niveau, wenn nicht herbeigeführt, so doch als Zeichen an die Wand gemalt worden, mit dem U-Boot, der deutschen Antwort auf die britische Blockade, und mit dem Einsatz des Giftgases. Tödliches Chlorgas wurde erstmals am 22. April 1915 bei Ypern auf die feindlichen Linien abgeblasen. Technisch und strategisch war dies eine Torheit: Nicht nur verfügten auch die Alliierten bald über diese Waffe; wegen der in Europa in aller Regel herrschenden Westwinddrift konnten sie das Gas zumeist erfolgversprechender einsetzen als die Deutschen. Entscheidender aber war der moralische Einschnitt, den das Gas mit sich brachte. Traditionell, nicht technokratisch orientierte Militärs auf deutscher Seite hatten von vornherein prinzipielle Einwände, so der frühere preußische Kriegsminister und nunmehrige Armeeoberbefehlshaber Generaloberst Carl von Einem: „Aber ich bin wütend über das Gas und seine Verwendung, die mir widerlich gewesen ist von Anfang an. Wir verdanken die Einführung dieses so unritterlichen, nur von Schuften und Verbrechern sonst gebrauchten Mittels in die Kriegsführung natürlich Falkenhayn (dem amtierenden Generalstabschefs nach der Absetzung Moltkes im September 1914, P.M.), dessen Abenteuerlichkeit glaubte, mit diesem Mittel im Handumdrehen den Krieg zu gewinnen. Jetzt haben es unsere Feinde auch.“ 32 So wie der Krieg im Herbst 1914 in eine erste Stagnationsphase eingetreten war, so kann man auch für die Bilanz des Jahres 1915 sagen, dass er trotz der geographischen Ausweitung um das Osmanische Reich und um die Alpenfront zwischen Italien und Österreich-Ungarn noch immer in mancherlei Hinsicht wie eine Art alteuropäischer Koalitionskrieg geführt wurde. Und im Osten blieb er Bewegungskrieg. Hier gelangen den Mittelmächten seit Frühjahr 1915, mit einer deutlichen deutschen Schwerpunktverlagerung von der Westfront nach Polen, Durchbrüche, die zunächst einmal russische Eroberungsfeldzüge ins Kernland der Donaumonarchie ein für allemal bannten.33 Vom Frühjahr bis Sommer 1915 eroberten die Mittelmächte Kongresspolen und fügten dem Zarenreich enorme Verluste zu. Auf russischer Seite nahmen Unterversorgung und Desorganisation immer weiter zu und begünstigten damit mittelfristig jene revolutionären Zustände, die in die beiden Systemwechsel des Jahres 1917 münden sollten, 32 Zit. Nach Margit Szöllösi-Janze: Fritz Haber 1886–1934. Eine Biographie, München 1998, S. 325 33 Vgl. für die bis heute in der deutschen Wahrnehmung unzureichende Wahrnehmung dieses Raumes und die dortigen militärischen Abläufe Norman Stone: The Eastern Front 1915–1917, London, New York 1975, hier TB-Ausgabe London u. a.1998.

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zunächst in eine republikanische, sodann in eine kommunistisch-bolschewistische Ordnung. Wie aber oft in der Geschichte brachte die militärische Besserung der Lage nicht eine politische: Russland war geschwächt, aber nicht aus dem Feld geschlagen; die Helden von Tannenberg 1914, Hindenburg und Ludendorff, plädierten gegen die Ambitionen von Generalstabschef Falkenhayn für eine Art Über-Cannae zwischen Baltikum und Karpaten, durch das die zaristischen Armeen endgültig vernichtet werden sollten. Zur Realisierung eines solchen Planes kam es aber nicht, und vermutlich hätte er die Kräfte der Mittelmächte auch überfordert. Eine durchschlagende Hilfe hätte eigentlich nur ein Separatfrieden zwischen Petrograd auf der einen und Berlin wie Wien auf der anderen Seite geboten. Aber Zar Nikolaus II. wusste, dass ein solcher Separatfrieden seinen Thron bedroht hätte. Und auf der Gegenseite war man nicht bereit, Russland wirklich verlockend-günstige Friedensangebote zu offerieren. So erodierte das Zarenreich allmählich immer weiter, ohne dass doch die Mittelmächte eine wirkliche Entlastung erfahren hätten. Mehr noch: Auf der Konferenz von Chantilly vom 6. bis 8. Dezember 1915 stellten die Alliierten die Weichen, um durch koordinierte Angriffe von Westen, Osten und Süden das Jahr 1916 für sie zum positiven Entscheidungsjahr zu gestalten. Bis dahin würden die Briten an der Westfront über ein Millionenheer verfügen, Russland sollte es neu gestärkt noch einmal gegen Österreich-Ungarn versuchen und Italien gleichzeitig die Österreicher an der Front in Fels und Eis unter Druck setzen und dies alles auf der Grundlage eines bis dahin nicht gekannten Materialeinsatzes. Das Jahr 1916 brachte nicht den durchschlagenden Erfolg der Alliierten durch konzentrische Angriffe aus drei Himmelsrichtungen auf die belagerte Festung der Mittelmächte zwischen Maas und Karpaten, Ostsee und Adria. Aber es brachte so etwas wie die Voraussetzung für einen strategischen Umschlag zum eindeutigen Vorteil der Alliierten. Dass es dann damit vorläufig – und vorläufig heißt hier noch ohne einen bzw. vor einem Kriegseintritt der USA – nichts wurde, hing im Wesentlichen mit der inneren Erosion des Zarenreiches zusammen. Zugleich markierte das Jahr 1916 die endgültige Abkehr von einem alteuropäischen Muster des Friedenschließens und sei es auch nur zwischen relativen Siegern und relativ Besiegten, wie es bis dahin bei umfassenden Konflikten auf dem Kontinent in aller Regel gegolten hatte, sei es im Spanischen Erbfolgekrieg von 1701 bis 1714, sei es im Siebenjährigen Krieg von 1756 bis 1763. Nie war der Konflikt bis zum blutigen Exzess durchgekämpft worden, damit der jeweilige Gegner um jeden Preis niedergeworfen und wehrlos gemacht werden konnte. Gewiss: Die strategischen Erwartungen der Alliierten für das Jahr 1916 gingen

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rein militärisch gesehen nicht auf; zum einen, weil die Koordination auf einem so großen Kriegsschauplatz mit hinreichender Effektivität gar nicht möglich war, zum anderen weil die Gegenzüge der Mittelmächte vieles durchkreuzten: Schon am 21. Februar 1916 begann der deutsche Angriff bei Verdun. Er sollte die französische Armee bei der Verteidigung einer strategischen wie moralischen Schlüsselstellung zum „Weißbluten“ bringen und damit Frankreich für den laufenden Krieg irreversibel schwächen. Damit war der alliierten Großoffensive an der Somme, die nach der Artillerievorbereitung am 1.Juli 1916 losbrach, manches von ihrem Schwung genommen. Im Osten mobilisierte das Zarenreich nahezu gleichzeitig und mit teilweisem Erfolg in der Brussilow-Offensive seine letzten Kräfte, im Südosten trat Rumänien am 27. August 1916 auf der Seite der Alliierten in den Krieg ein. Das deutsche Potential genügte noch, um Rumänien in einem Herbstfeldzug binnen weniger Monate aus dem Feld zu schlagen und um nach einer irreparablen Schwächung der österreichischungarischen Armeen, die an die 300.000 Gefangene verloren, diese letzte große zaristische Offensive zu stoppen. Die Menschenschlächtereien des Jahres 1916 an der Westfront, allein zu Beginn der „Somme-Schlacht“ am 1. Juli 1916 verlor die britische Armee an die 20.000 Tote und 60.000 Verwundete, die zumeist im deutschen Maschinengewehrfeuer verbluteten – diese Menschenschlächtereien bestimmen bis heute wesentlich das europäische Erinnern an den Krieg. Sie überdecken damit aber zugleich die politisch bedeutungsvollen Konsequenzen der militärischen Ereignisse im Osten: Strukturell geschwächt, trieb das Zarenreich der inneren Auflösung und der Revolution entgegen, gleichzeitig sah sich Österreich-Ungarn zum Bittsteller bei den in Deutschland Verantwortlichen degradiert. Von den drei herkömmlichen Ostmächten der europäischen Großmachtszenerie, Russland, Österreich-Ungarn und Preußen bzw. Deutschland, schien nur noch letzteres einigermaßen stabil und vital. Aber auch Deutschland veränderte sich: Mit den Kämpfen an der Westfront, mit den jeweils Hunderttausenden von Toten und Verwundeten, wurden erstmals 1916 die demographischen Grenzen seiner militärischen Leistungsfähigkeit wirklich erkennbar. Gleiches galt für seine ökonomischen Möglichkeiten. Der mit dem Jahr 1916 erkennbar werdende Quantensprung in den Rüstungsanforderungen, durch die Blockade gleichzeitig unter immer ungünstigeren Versorgungsbedingungen, markiert einen entscheidenden Bruch in der modernen deutschen Wirtschaftsgeschichte. Die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung des Deutschen Reiches erhielt durch die mit dem industrialisierten Massenkrieg verbundene Überforderung seiner Kräfte einen Schlag, von dem sie sich im Kern für viele Jahrzehnte nicht mehr erholen konnte. Das weitere Moment waren die

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innenpolitischen Wandlungen: Der seit Herbst 1914 amtierende Generalstabschef Erich von Falkenhayn wurde am 29. August 1916 durch Kaiser Wilhelm II. entlassen. An seine Stelle traten als nomineller Generalstabschef – in Wirklichkeit so etwas wie protokollarischer Oberbefehlshaber – die charismatische Überfigur Feldmarschall von Hindenburg und als Erster Generalquartiermeister, als tatsächlicher Generalstabschef, sein technokratischer Macher in Uniform, General Erich Ludendorff. Der Wechsel in der militärischen Führungsposition war im Kern politisch-psychologisch begründet: Die Führungskräfte des Kaiserreiches mussten nach Stagnation, Materialschlachten und ungeheuren Verlusten die Zuflucht zu Akteuren nehmen, mit denen das breite Publikum im Lande Siegeszuversicht verband – und dies in allen politischen Lagern, von den preußischen Konservativen bis zu den Sozialdemokraten. Der Wechsel in der Obersten Heeresleitung signalisierte damit keineswegs die Errichtung einer Militärdiktatur in Deutschland, sondern zunächst einmal die eher gegenteilige Tatsache, dass der herkömmliche dynastische Obrigkeitsstaat gerade im Krieg auf einen immer stärker werdenden politischen Massenmarkt Rücksicht nehmen musste. Der Kaiser hatte Hindenburg und Ludendorff keineswegs als seine obersten militärischen Berater gewünscht, sie waren ihm vielmehr durch eine Stimmung geradezu aufgedrängt worden, durch Vertrauenskrise und mangelnde Akzeptanz der Kriegsführung. Verdun und die Schlacht an der Somme bedeuteten eine psychologische Zäsur. Von der heutigen Forschung wird für die Folgezeit Hindenburg gerne als die dominierende charismatischer Figur in Deutschland gezeichnet, Ludendorff als Militärdiktator, der alle instrumentalisiert hätte: Reichskanzler und Staatssekretäre, Parteien und Abgeordnete, Medien und Wirtschaftsführer.34 Diese Dritte Oberste Heeresleitung, die auf der militärischen Kommandobrücke bis zum Eingeständnis der Niederlage im Herbst 1918 amtieren sollte, leistete zunächst einmal und unbestreitbar zweierlei: Sie stellte das Reich – und so gut es ging auch seine Verbündeten – auf einen langen Krieg ein, dessen zeitliches Ende gar nicht erkennbar sei. Das hatte strategische und ökonomische Konsequenzen: Im Westen wurde einstweilen zur Defensive übergegangen, und die demographischen wie ökonomischen Ressourcen des Reiches sollten nun uneingeschränkt, ja radikal in den Dienst der Kriegsführung gestellt werden. Dabei ging es eben nicht nur um das Vermeiden einer Niederlage, sondern um das Erstreiten eines Siegfriedens. Denn für 34 Zu Hindenburg, Wolfram Pyta: Hindenburg: Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2009, S.  205  ff., zu Ludendorff Manfred Nebelin: Ludendorff. Diktator im Ersten Weltkrieg, München 2010, S. 217 ff.

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einen Remisfrieden wäre es prioritär gewesen, unentwegt alle kommunikativen wie vertraulich-diplomatischen Möglichkeiten auszuschöpfen. Eine weitere, für das Kaiserreich konstitutive Konsequenz der Installierung von Hindenburg und Ludendorff war ganz unbestreitbar, dass der Kaiser nun definitiv zur, dazu noch überflüssigen Galionsfigur mutierte.35 Tatsächlich war es nun so, dass Hindenburg weitgehend als nomineller, protokollarischer Oberbefehlshaber wie Medienliebling amtierte, Ludendorff mit seinen technokratischen Mitarbeitern die Gesamtkriegsführung an sich zog, operativ an den Fronten wie hinsichtlich der inneren Mobilisierung. Und der Kaiser, vor dem Krieg Medienstar, stand nun linkisch und an die Seite gedrängt am Kartentisch für die Fotografen irgendwie noch dabei. Das war zugleich, mitten im Krieg, ein Stück psychologischen, materiellen, naturgemäß noch nicht formalen Verfassungswandels. Aber man sollte bei diesem Verfassungswandel nicht einfach von der weiteren Verstärkung der Hegemonie des Militärs im Kaiserreich sprechen. Denn dieses Militär war vor allem auch innerlich differenziert, zugleich zunehmend so etwas wie politische Partei auf einer sehr komplexen politischen Bühne. Hindenburg war nunmehr die zentrale charismatische und psychologische Integrationsfigur, fast wie in Vorwegnahme seiner späteren Rolle als Reichspräsident seit 1925. Auf der einen Seite muss man die für die zweite Hälfte des Krieges wesentlichen zwei militärischen Entscheidungen sehen, die die Oberste Heeresleitung durchsetzte, mit jeweils fatalen politischen Konsequenzen: In beiden Fällen wurden letzte und sei es auch nur potentielle politische Brücken abgebrochen. Das eine war die Proklamierung des unbeschränkten U-Boot-Krieges am 1. Februar 1917. Sie brachte wenn auch noch nicht den Krieg mit den USA, so doch eine fundamentale und irreparable Entfremdung von ihnen – und dies zu einem Zeitpunkt, an dem die an sich zweifellos deutlich stärker den Alliierten zuneigende amerikanische Führung unter Präsident Wilson zunehmend auch Signale für eine eher ausgewogene, symmetrische Kommunikation gegenüber beiden Kriegsparteien gezeigt hatte. Das zweite war, nach dem militärischen und schließlich auch politischen Ausstieg Russlands aus dem Krieg, der Entschluss, mit der „Operation Michael“, die am 21. März 1918 begann, das Risiko einer militärischen Offensive einzugehen, die ganz auf den Sieg setzte und bei der die letzten psychologischen und materiellen Trümpfe des deutschen Kriegsapparates ausgespielt wurden. In dem Moment, in dem dieses militärische Unternehmen fehlschlug, stand Deutschland weitestgehend entwaffnet da – das sollte dann die seit Juli/August 1918 zunehmend auch nach außen erkennbare Lage sein. 35 Vgl. Röhl, Wilhelm II, S. 1209 ff.

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Und trotzdem sollte man nicht leichtfertig für die zweite Kriegshälfte von einer Diktatur Ludendorff sprechen. Weshalb? Zunächst einmal, darauf wurde schon hingewiesen, bedurften auch und gerade Ludendorff und die Militärs in seiner Umgebung der ständigen Kommunikation, ja der ständigen Werbung für ihre Zielsetzung bei den anderen politischen, aber auch medialen Faktoren von Gewicht in Deutschland. Wenn sie politisch, zumal innenpolitisch, etwas durchsetzen wollten, dann mussten sie Preise zahlen und stärkten damit, wenn auch ungewollt, die zivilen politischen Kräfte im Land. Eine monolithische Diktatur ist gewiss etwas anderes. Klassisches Beispiel dafür ist die Geschichte des sogenannten Hilfsdienstgesetzes. Ausgangspunkt war das Beharren der Dritten Obersten Heeresleitung auf der vollständigen Ausschöpfung der personellen und ökonomischen deutschen Ressourcen. Das dann am 5. Dezember 1916 in Kraft getretene einschlägige Gesetz verfügte aber, nach vielerlei Einsprüchen von Parteien, Fraktionen und Gewerkschaften, ein ganz neues System deutscher Sozialpartnerschaft. Es begründete eine sehr spezifische deutsche Kontinuität, spürbar gerade in der zweiten Nachkriegszeit ab 1949, also in der alten Bundesrepublik. In dieser Kontinuität sehen wir Betriebsräte und Mitbestimmung in den Unternehmen, dann die „konzertierte Aktion“ des damaligen Wirtschaftsministers Karl Schiller, eine institutionalisierte Kooperation von Regierung, Gewerkschaften und Unternehmensverbänden, in der ersten großen Koalition auf Bundesebene von 1966 bis 1969, sodann in der zweiten großen Koalition von 2005 bis 2009, als es darum ging, dass Bankenkrise und Einbruch des Bruttosozialprodukts nicht zu plötzlicher Massenarbeitslosigkeit führten, eine enge Zusammenarbeit von Staat und Sozialpartnern. Wenn man so will, ein Jahrhundert organisierter Kapitalismus in Deutschland. Zurück zu dessen Anfängen im Ersten Weltkrieg: Das Hilfsdienstgesetz wertete die Gewerkschaften als konstitutiven Partner in Wirtschafts- und Sozialleben auf. Damit wurde die Linie des Burgfriedens vom 4. August 1914 – und das hieß an erster Stelle Akzeptanz wie Legitimierung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften im gesamtgesellschaftlichen Spektrum des Kaiserreiches – erstmals in eine substantiell wirklich gestaltende Innen- und Sozialpolitik übersetzt. Auch der zweite Schritt innenpolitischer Integration und konstitutiver Öffnung erfolgte gegen die eigentlichen Intentionen der dritten Obersten Heeresleitung, aber zugleich in der Konsequenz ihres Vorgehens. Die Rede ist vom Kanzlerwechsel im Sommer 1917. Am 13. Juli 1917 erfolgte der Rücktritt von Reichskanzler Bethmann Hollweg. Auf seinen Sturz hatten Hindenburg, Ludendorff und der unbesonnene, chauvinistisch-großmäulige Kronprinz Wilhelm

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intensiv gedrängt. Bethmann Hollwegs Sturz bedeutete deswegen aber nicht einfach einen Triumph der Militärkaste und eine politische Verschiebung nach rechts. Auch hier lagen die Dinge viel komplizierter – und wiesen in ihren Konsequenzen bereits auf die Nachkriegszeit hin: Denn ebenso gab es in gewisser Weise eine politische Linksverschiebung, und man muss noch hinzufügen, dass die jeweiligen Exponenten dieser sehr gegensätzlichen Entwicklungen miteinander kommunizierten, ja konspirierten. Zunächst einmal wird man sagen müssen, dass Bethmann Hollweg, bei seinem ganzen Werdegang sehr viel eher Verwaltungsbeamter als Politiker, schon längst hätte abgelöst werden müssen. Für eine innenpolitische Sammlung, und dies unter den Bedingungen einer existenziellen Kriegsherausforderung, fehlten ihm Ausstrahlung und Charisma. Und wenn es darum ging, die wechselseitige Blockade der Kriegsbündnisse zu überwinden und einer Friedenslösung näher zu kommen, dann war er als der für die deutsche Politik 1914 Verantwortliche nun einmal eine schwer belastete Figur. Hinzu kam, dass Bethmann Hollweg wesentliche Entscheidungen bzw. Entwicklungen wie die Entscheidung für den unbeschränkten U-Boot Krieg und das Formulieren aller möglichen Siegfriedenspläne mit territorialen Erweiterungsvorstellungen, wenn auch nur widerstrebend mitgemacht hatte. Am 6. Juli 1917 kam es zur vielleicht spektakulärsten parlamentarischen Ausschusssitzung, die es in der gesamten modernen deutschen Parlamentsgeschichte je gegeben hat: Im Hauptausschuss des Reichstags hielt der Zentrums-Abgeordnete Matthias Erzberger Abrechnung mit den Resultaten des U-Boot-Krieges und damit – im weiteren Sinne – mit der gesamten Kriegsführung der Reichsleitung. Erzberger, Volksschullehrer aus dem Badischen, rundlich und bebrillt, politischer Aufsteiger, aber eben im eigentlichen gesellschaftlichen Sinne des Kaiserreiches nicht satisfaktionsfähig, war einerseits eine wichtige Figur, andererseits war er ein Ärgernis: Zeitweise hatte er die Annexionspolitik mitgetragen, mit dem früheren Reichskanzler Fürst Bülow vertrug er sich gut; er hatte ihm zur Seite gestanden, als dieser als deutscher Vertreter in Rom Anfang 1915 versucht hatte, die Italiener vom Kriegseintritt auf der Seite der Alliierten fernzuhalten. Gleichzeitig war er wohl auch so etwas wie eine Nervensäge: Fleißig, eine Art Faktenhuber, war er bestens vorbereitet und widerlegte in der Ausschusssitzung glänzend die illusionären Erwartungen der kaiserlichen Staatssekretäre. Rechts wie links wurde nun das Eisen geschmiedet und Bethmann Hollweg zum Rücktritt gezwungen. Bei der Regelung der Nachfolgefrage mischten nun alle nur denkbaren Kräfte mit, es ging zu wie auf einem politisch-militärischen Basar. Der eigentliche Kandidat für die Nachfolge Bethmann Hollwegs war sein Vorgänger Fürst Bülow. Vielleicht ist, kontrafaktisch gedacht, im Frühjahr

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und Sommer 1917 in Deutschland tatsächlich eine Chance versäumt worden, indem nicht mehr auf diese Option zurückgegriffen wurde. Gewiss, Bülow war großmäulig und eitel, seine in den zwanziger Jahren erschienenen, vierbändigen Memoiren wurden nicht ganz ohne Grund als skandalös empfunden. Bülow bezog alles auf sich, und er stritt Verantwortung für alles ab, was fehl gelaufen war, zum Beispiel die Konferenz von Algeciras, zur Klärung der ersten Marokkokrise 1904/05. Aber trotzdem hätte nun viel für Bülow gesprochen: Er war Berufsdiplomat, über seine Frau von hochadeliger italienischer Abkunft mit besten Verbindungen nach Italien, aber, über die Jahrzehnte gepflegt, auch mit vielerlei Verbindungen nach Frankreich, Russland und Großbritannien. Dazu schien er für die verschiedenen, ja gegensätzlichen politischen Richtungen vermittelbar: Als klassische Figur des alten Regimes akzeptierten ihn viele Militärs und Konservative, auf der anderen Seite war Bülow versierter Innenpolitiker; bei den Kartellwahlen zum Reichstag 1907 war es ihm gelungen, ein gesellschaftspolitisch ungewöhnlich breites Bündnis von den Deutschkonservativen bis zu den Linksliberalen zu schmieden. Mittlerweile stand er auch im engen Gespräch mit Sozialdemokraten wie Philipp Scheidemann und Wolfgang Heine. Und in gewisser Weise war Bülow gereift. Vermutlich nicht nur aus habitueller Abneigung gegenüber seinem Nachfolger Bethmann Hollweg hielt er die ganze deutsche Politik in der Juli-Krise 1914 für ein Fiasko. Konferenzdiplomatie um jeden Preis wäre für ihn eine Option gewesen. Auch wenn er damit im Nachhinein klüger erschien, war ihm doch zumindest in Teilen abzunehmen, dass er eine Präventivkriegslinie für eine nicht verantwortbare Torheit hielt und dass er insbesondere die deutschen Kriegserklärungen an Russland und Frankreich in den ersten Augusttagen des Jahres 1914 als psychologisch ganz unverzeihlich ansah. Vielleicht hätte also Bülow eine weitreichende Frontbegradigung der deutschen Politik vornehmen können, wie nicht selten bei Exponenten bisheriger Regime, die ihr Lager, ihr Milieu, ihre Partei gewissermaßen mitnehmen, um einen schwer hinnehmbaren Schnitt zu vollziehen. Insofern vielleicht vergleichbar dem 1958 wieder ins Amt gekommenen französischen Präsidenten Charles de Gaulle, von dem sich die Rechte in Frankreich den Erhalt der imperialen Position in Algerien versprach, und der eben deshalb, anders als ein Exponent der Linken, in der Lage war, vier Jahre später auf dieses Algerien zu verzichten. Allerdings: eine Kanzlerschaft Bülows, vorausgesetzt, sie wäre innenpolitisch einigermaßen glatt gegangen, wäre außenpolitisch zumindest mit der Hypothek befrachtet gewesen, dass zwischenzeitlich ja auch die USA im Krieg gegen Deutschland standen. Vielleicht war es ein letztes und politisch besonders

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unheilvolles Aufbäumen des Kaisers, dass mutmaßlich er an erster Stelle die Installierung Bülows verhinderte. Mutmaßlich zu tief saßen bei Wilhelm II. insbesondere die Verwundungen aus der Schlusszeit von Bülows Kanzlerschaft, als dieser sich nach der sogenannten Daily-Telegraph-Affäre von 1908, in der sich der Monarch im Interview mit der britischen Tageszeitung lächerlich gemacht hatte, nicht solidarisch vor ihn gestellt hatte.36 Anstelle Bülows oder irgendeiner anderen politisch halbwegs kompetenten Figur wurde zunächst nur für wenige Monate der Staatskommissar für Volksernährung Georg Michaelis Reichskanzler. Michaelis war unbestreitbar in der gesamten Zeit von 1871 bis 1918 die absurdeste Figur auf dem Stuhl Otto von Bismarcks. Er war politisch ebenso unerfahren wie uninspiriert und galt als Aushilfsorgan der Obersten Heeresleitung. Aber so hatten es sich auch die Militärs nicht vorgestellt: Denn jemand wie Michaelis war gänzlich unfähig, Parteien, Medien und Volk hinter ihrer Fahne zu sammeln. So kam es ausgerechnet am Reformationstag, am 31. Oktober 1917, zur Ernennung eines Katholiken wie Nichtpreußen zum Reichskanzler und – wie es nach der Verfassungsordnung des Bismarck-Reiches üblich war – in Personalunion preußischen Ministerpräsidenten, des bisherigen bayerischen Ministerpräsidenten Georg Graf von Hertling. Hertling war eine politisch durchaus interessante und vor allem erfahrene Figur. Seine politische Biographie war schon bis dahin zweigleisig gewesen, auf Reichsebene wie auf bayerischer Ebene: Er galt mit gutem Grund, etwa im Gegensatz zu Matthias Erzberger, als Exponent des eher konservativ-aristokratischen Flügels des Katholischen Zentrums. 1909 war er Vorsitzender der Reichstagsfraktion geworden, 1912 bayerischer Ministerpräsident, nicht zuletzt als Ausdruck eines Parlamentarisierungsprozesses im zweitgrößten deutschen Land. Aber trotz dieser politischen Biographie war Hertling in der zweiten Kriegshälfte keine glückliche Lösung: Mittlerweile 74 Jahre alt, war er müde und verbraucht und damit habituell das ganze Gegenteil zu den politischen Führungsfiguren in Paris und London, zu den Regierungschefs Clemenceau und Lloyd George, plebiszitär-autoritäre 36 Zur Option einer Kanzlerschaft Bülows: Gerd Fesser: Reichskanzler Fürst von Bülow. Architekt der deutschen Weltpolitik, Leipzig 2003, S. 179 f. Sehr kritisch zur „Kanzlerkandidatur“ Bülows 1917, auch im Hinblick auf seine Akzeptanz bei SPD und Zentrum, hingegen jetzt Peter Winzen: Reichskanzler Bernhard von Bülow. Mit Weltmachtphantasien in den Ersten Weltkrieg.Eine politische Biographie, Regensburg 2013, S. 530 ff. Im Gegensatz zu Winzen wird hier allerdings eher die Position vertreten, dass Bülow gar nicht umhin kam, im Vorfeld einer etwaigen Bestallung nach allen Richtungen zu werben und dass diese naturgemäß auch taktisch geführte „Kampagne“ die Ernsthaftigkeit der einschlägigen Bemühungen nicht zwingend konterkarierte.

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Figuren, die einen unnachsichtigen Kriegskurs verfolgten. Dazu war Hertling ein Mann der Innenpolitik, ganz im Gegensatz etwa zu Bülow. Wenn man aber die innenpolitische Konstellation im Deutschland der zweiten Kriegshälfte beurteilen will, dann erscheinen andere Faktoren als die Wahl Hertlings von wesentlich größerer Bedeutung: Im Reich war ein schleichender Verfassungswandel in Gang gekommen, weg von jener Form der konstitutionellen Monarchie, bei der die Parlamentarier Kanzler und Staatssekretäre einfach akzeptieren mussten, die ihnen der Kaiser vorsetzte. Seit Matthias Erzbergers großem Tag im Hauptausschuss des Reichstages, seit dem 6. Juli 1917, gab es einen „Interfraktionellen Ausschuss“ der drei großen parlamentarischen Kräfte der linken Mitte in Deutschland, Sozialdemokratie, Katholisches Zentrum und linksliberale Fortschrittliche Volkspartei. Gelegentlich machten auch die Nationalliberalen mit, innerlich zerrissen zwischen Parlamentarisierung auf der einen Seite, obrigkeitsstaatlicher Siegfriedenspolitik auf der anderen. Der Interfraktionelle Ausschuss bemühte sich um Lösungen für eine Parlamentarisierung bzw. Demokratisierung der Reichsverfassung, teils mutig, teils zögernd, und nicht wenige fürchteten auch die Verantwortung, die mit exekutiven Führungsämtern nun einmal verbunden ist. Gewiss: Diese Kräftekonstellation war noch sehr vage und zwischen ihr verliefen mancherlei tiefe, weltanschauliche Gräben: Die noch marxistisch geprägten Sozialdemokraten, liberale Gesinnungsethiker und Milieukatholiken, das war nicht eben eine weltanschauliche Plattform. Aber auf der anderen Seite formierte sich ja eben doch ein Bündnis, das durch so etwas wie demokratische Verantwortungsethik geprägt und zusammengehalten wurde. Zugleich war dies jenes Bündnis, das die Friedensresolution des Reichstages vom 19. Juli 1917 verabschiedete – gegen, wie es hieß, „erzwungene Gebietsabtretungen“ – und damit gegen die Intentionen der Siegfriedens-Anhänger in Militär, Politik und Publizistik. Und damit stehen wir zugleich am Anfang einer der großen politischen Kontinuitäten in der deutschen Zeitgeschichte: Links von diesem Bündnis stand die neue Abspaltung von der SPD, die Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD), später dann auch, noch radikaler, die Kommunisten, die KPD. Rechts von ihm stand das herkömmlich nationalkonservative, in Teilen nationalliberale Lager, das für sich in Anspruch nahm, eigentlicher Träger des Bismarck-Reiches zu sein. Die Parteien oder besser Fraktionen des Interfraktionellen Ausschusses waren – in der Summe – die Sieger der letzten Reichstagswahl vor dem Ersten Weltkrieg, der Reichstagswahl von 1912 gewesen. Nun, spätestens ab Sommer 1917, machten sie sich zunehmend mit dem Gedanken vertraut, in einer immer schwieriger werdenden Lage auf die politischen Kommandohöhen zu gelangen. Diese Entwicklung symbolisierte

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ein weiterer Schritt: Der Reichskanzler erhielt jetzt auch einen Stellvertreter, und dieser wurde de facto von der Reichstagsmehrheit bestimmt. Es war der linksliberale Abgeordnete Friedrich von Payer. Gewiss, Payer musste sein Mandat aufgeben, als Mann der Exekutive durfte er – noch nicht – zugleich Mann der Legislative sein. Das ging erst ein Jahr später, im Zeichen der offen eingestandenen Kriegsniederlage im Herbst 1918. In der seit dem 3. Oktober 1918 amtierenden Regierung von Max von Baden amtierten mit einem Mal Parlamentarier zugleich als Staatssekretäre, das heißt tatsächlich als Minister. Plötzlich ging das, man hatte gewissermaßen einen Dreh gefunden, um an dieser entscheidenden Stelle die Reichsverfassung auszuhebeln: Sie amtierten nun als „kommissarische“ Staatssekretäre. Die innenpolitische Konstellation im Deutschland des Sommers und des Herbstes 1917 ist aber, blickt man auf die ganze weitere deutsche Geschichte, von noch sehr viel weiterreichender Bedeutung: Die Partner im Interfraktionellen Ausschuss mutierten zugleich im Frühjahr 1919 zu jenen Partnern, die die sogenannte „Weimarer Koalition“ bildeten, nun als SPD bzw. MSPD (sogenannte Mehrheitssozialdemokraten), Zentrum und DDP (Deutsche Demokratische Partei). Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 hatten sie eine Dreiviertelmehrheit der Stimmen erhalten, die Sozialdemokraten 37,9 Prozent, das Zentrum 19,7 Prozent und die DDP 18,5 Prozent, eines der breitesten Regierungsbündnisse, die es in Deutschland unter demokratischen Vorzeichen je gegeben hat. Zugleich zeigt sich hier aber auch eine bemerkenswerte Kontinuität über die tiefe Zäsur der Kriegszeit hinweg: Bei den Reichstagswahlen am 12. Januar 1912 hatten die genannten Kräfte in der Summe fast auch schon eine Zweidrittelmehrheit erreicht, die Sozialdemokraten 34,8 Prozent, das Zentrum 16,4 Prozent und die Fortschrittliche Volkspartei 12,2 Prozent. Gewiss: Zwischenzeitlich war das Wahlrecht geändert worden, es gab jetzt ein Frauenwahlrecht, nun wurde nach Listen gewählt. Gleichwohl sind diese Daten, die Kontinuität über den Systemwechsel ausdrücken, bemerkenswert: Allerdings war diese Weimarer Koalition zugleich nur so etwas wie eine elektorale Momentaufnahme: Eineinhalb Jahre später, bei der ersten Reichstagswahl nach dem Krieg am 6. Juni 1920, änderte sich das Bild gravierend: Am auffälligsten war der deutliche Rückgang der Linksliberalen um mehr als die Hälfte auf nur noch 8,3 Prozent. Die Extremen gewannen, die Mitte verlor. Eine wesentliche Ursache, darauf wird noch zurückzukommen sein, war zweifellos der Versailler Vertrag. Die Weimarer Koalition von 1919 war im weiteren Verlauf der Republik bis zu ihrem Ende nie mehr mehrheitsfähig. Und doch ist sie als

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vernunftrepublikanisches Lager in Deutschland nicht gänzlich untergegangen. Nach der NS-Diktatur, als die deutschnationale Rechte kontaminiert war und als im Zeichen des anhebenden Kalten Krieges das kommunistische Lager in Westdeutschland zunehmend delegitimiert erschien, in dieser Konstellation war das Bündnis von 1917 und von 1919 mit einem Mal wieder die tragende Konfiguration: Die CDU/CSU als interkonfessionelle christliche Neuschöpfung, die SPD und die FDP als Fortsetzung des alten parteipolitischen Liberalismus waren, in unterschiedlichen Regierungs- und Oppositionsrollen, die tragenden Kräfte hinter der staatlichen Neuschöpfung von 1948/49 und blieben dies bis in die frühen achtziger Jahre. Neben diesen dreien gab es bis zum Einzug der Grünen 1983 in den Deutschen Bundestag weitere parlamentarische Kräfte nur zeitweise und nur marginal: in der KPD, die 1953 aus dem Parlament verschwand, kurzfristig und mit einem letzten Aufflackern im Blick auf früher sehr viel stärkere Kräfte bis 1953 das Zentrum und die Bayernpartei, sodann ab 1953 für den Vertriebenenbereich der BHE, als enger Partner der CDU die niedersächsisch-konservative Deutsche Partei (DP) und sodann bis zu ihrem Verbot 1952 die Sozialistische Reichspartei (SRP) in einigen Landtagen, kulturell unbestreitbar in nationalsozialistischen Kontinuitäten. Aber all diese Parteien fielen substantiell nicht ins Gewicht, selbst wenn einige von ihnen in den bürgerlichen Koalitionen in der Ära Adenauer instrumentelle Verwendung fanden. Am übergreifenden Befund ändern sich somit nichts: Die alte Bundesrepublik wurde parteipolitisch, in Bund und Ländern, von Parteien geformt, die sich als Lager bereits im Umfeld des Ersten Weltkrieges gefunden hatten.

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Der Kriegsausgang war, auch wenn das heute für viele Historiker – gewissermaßen aus dem Rathaus gekommen und im Nachhinein klüger – anders erscheint, lange nicht sicher. Klar war zunächst nur, dass sich die Konfrontation stetig verhärtete, die Bereitschaft zum Kompromissfrieden, zur Akzeptanz eines echten Unentschiedens, eines relativen Sieges oder einer moderaten Niederlage, stetig geringer wurde. Aber auch das galt nicht durchgängig so, selbst nicht bei Staatsmännern, die nach außen tough blieben und der jeweiligen nationalen Räson des Siegfriedens verpflichtet. Ein Beispiel ist die „Affäre Lancken“, die im weiteren Verlauf des Jahres 1917 zwischen der deutschen und der französischen Seite gespielt wurde, konkret zwischen dem beim deutschen Generalgouverneur in Brüssel tätigen Gesandten von der Lancken und dem am 17. März 1917 zurückgetretenen französischen Ministerpräsidenten Aristide Briand – Letzterer war jahrzehntelanger Akteur der französischen Politik über die Kriegszeit hinweg, in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre dann fast mythenumwobener Partner von Reichsaußenminister Gustav Stresemann. In der Sache ging es um die Anbahnung eines Kompromissfriedens, de facto ein Unentschieden, bei dem aber beide Seiten durch geringe, symbolhafte Gewinne das Gesicht wahren sollten: Die französische Seite hätte sich mit dem Rückgewinn Elsass-Lothringens beschieden, ihrem deutschen Gegner gegebenenfalls Kompensationsgewinne im Osten zugestanden. Auf deutscher Seite, darunter nicht nur der Reichskanzler Bethmann Hollweg, sondern auch die führenden Militärs, verständigte man sich bei einer Konferenz in Bad Kreuznach am 23. April 1917 immerhin auf die Bereitschaft, gewisse symbolische Abtretungen in Elsass-Lothringen zuzulassen, im südwestlichen Elsass wie im französischsprachigen Raum Metz, sofern die Gegenseite ebenso vergleichbare und geringfügige Konzessionen machte, gewissermaßen einige Dörfer gegen einige Dörfer. Am Ende blieb es bei indirekten Kontakten, kam es nicht zu direkten. Und der Grund lag, wie oft beim Misslingen großer diplomatischer Geschäfte, vermutlich weniger im Fehlen hinreichender materieller Schnittmengen. Es war vor allem auf beiden Seiten die Scheu, ja Angst, über einen Rubikon zu gehen, der die jeweiligen Akteure, wenn es kritisch wurde, im jeweils eigenen Lager kompromittierte.37 37 Zur „Affäre Lancken“ Ferdinand Siebert: Aristide Briand 1862–1932. Ein Staatsmann zwischen Frankreich und Europa, Zürich, Stuttgart 1973, S. 194 ff.

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Die „Affäre Lancken“ spielte im Frühjahr und Sommer – bis zum Frühherbst – 1917. Sie lief somit zeitlich weitgehend mit der Regierungskrise in Deutschland vom Sommer des Jahres parallel wie mit gravierenden Änderungen in den Mächtestrukturen. In Deutschland stand beginnende Kriegserschöpfung neben anhaltenden, ja forcierten Siegfriedenserwartungen. Symbolhaft stehen für diesen Gegensatz die Friedensresolution des Reichstages von 19. Juli 1917, wenige Tage nach der Entlassung Bethmann Hollwegs, und zwei Wochen später, am sogenannten Sedanstag, dem 2. September 1917, die Gründung der Deutschen Vaterlandspartei. Sie war radikal annektionistisch, auf ein Programm fixiert, das den – illusionären – vollständigen Siegfrieden voraussetzte, und sie verstand sich als politische Lobby der Obersten Heeresleitung. Aber sie war eben keineswegs die politisch einfach bestimmende Kraft. Um dieses vorletzte Jahr des Krieges in seiner politischen und militärischen Bedeutung, die auf die Zeitgenossen komplex, ja verwirrend wirken musste, zu würdigen, muss man die gegenläufig erscheinenden politischen und militärischen Entwicklungen auf einer Makroebene in den Blick nehmen: Die erste Gewichtsverlagerung ergab sich durch den schon genannten Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg am 6. April 1917, unmittelbar veranlasst nicht durch die Verhängung des unbeschränkten U-Boot-Krieges, sondern durch die sogenannte „Zimmermann-Depesche“. Dies war eine von britischer Seite dekodierte und propagandistisch entsprechend vermarktete Anweisung der Berliner Zentrale an die deutsche Botschaft in Washington, die an die Vertretung in Mexiko-City weitergereicht werden sollte. Darin enthalten war ein deutsches Bündnisangebot an Mexiko für den Fall des amerikanischen Kriegseintrittes, mit Zusicherungen, dem Land dabei behilflich zu sein, seine in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an die USA verlorenen Territorien zurückzugewinnen. Zunächst aber war wenig klar, was der amerikanische Kriegseintritt militärisch wirklich bedeuten würde. Die USA besaßen eine starke Flotte, die immer mehr zum Rivalen der britischen wurde; ihr Landheer aber war marginal. Gleichzeitig begannen die revolutionären Veränderungen in Russland. Am 15. März 1917 dankte Zar Nikolaus II. ab. In London und Paris mochte man die Kombination beider Ereignisse durchaus wie einen politischen Wink des Schicksals deuten: Denn der „Kreuzzug“ gegen die, tatsächlich oder vermeintlich, autoritären monarchischen Systeme der Mittelmächte mitsamt ihrem osmanischen Verbündeten gewann entscheidend an Legitimation, wenn im eigenen Bündnis nicht mehr die autokratische Selbstherrschaft des Zarentums stand. Wenn es optimal lief, dann waren die Alliierten nun militärisch gestärkt und politisch, im Sinne eines „Kreuzzuges“ für die Demokratie, auf viel günstigere Weise positioniert. Aber es lief nicht optimal:

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Die neue republikanische Führung in Russland unter Ministerpräsident Kerenski, eine Koalition aus Sozialisten und Liberalen, beging den Fehler, den Krieg nach einer Schwächephase unvermindert und offensiv fortzusetzen. In die sogenannte Kerenski-Offensive von Anfang Juli 1917 investierte dieses Übergangsregime, von französischer und britischer Seite angetrieben, die letzten Potenziale an Waffen, Munition und Soldaten, vor allem an mentaler Kampfbereitschaft. Die stärkste Triebkraft beim Ende des Zarismus war aber die Kriegsmüdigkeit der in Uniform gekleideten russischen Bauernmassen gewesen. Ihre Frustration über die Fortsetzung des Krieges entzog dem Kerenski-Regime die Akzeptanz und schuf damit zugleich die entscheidende psychologische Voraussetzung für die Errichtung des bolschewistischen Staatsstreich-Regimes ein gutes Vierteljahr später. Damit aber war der Krieg als umfassende militärische Auseinandersetzung an einer seinen Zentralfronten zu Ende gegangen. Lenin und die Seinen waren klug genug, ohne langes Federlesen die Forderungen der russischen Massen zu erfüllen: Das Land der Gutsbesitzer für die Bauern, Frieden für alle. Seit dem 15. Dezember 1917 herrschte an der Ostfront Waffenstillstand. Was die USA als kriegführende Macht in Frankreich auf die Waage bringen würden, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht recht absehbar. Aber der Belagerungsring um die Mittelmächte, die entscheidende strukturelle Determinante der ganzen Auseinandersetzung seit Sommer 1914, war gesprengt. Die Intensität der insgesamt, vor allem auf Deutschland und Frankreich bezogen, nahezu viereinhalbjährigen Kriegführung, hatte auch zum Ergebnis – und auch dafür wurde schon 1917 zum Schlüsseljahr –, dass die großen Wehrpflichtarmeen sämtlich physisch und psychologisch an einen Punkt gerieten, an dem die Bereitschaft zur Kriegführung, zumal zur offensiven Kriegführung, einen wesentlichen Einbruch erlitt. Und eben diese Vorzeichen des Jahres 1917 beschrieben zugleich ein Bedingungsgefüge, unter dem es dann ein Jahr später, ab Sommer 1918, zum deutschen Zusammenbruch und damit zur zentralen Voraussetzung für das definitive Ende des Krieges kommen sollte. Im April 1917 kam dreierlei zusammen: Neben dem Kriegseintritt der USA und dem Ende des Zarismus stand die schwere Krise der französischen Armee nach dem Fehlschlag ihrer Offensive am sogenannten Damenweg, die am 17. April 1917 begonnen hatte. Psychologisch ausschlaggebend waren weniger die französischen Verluste an sich, 147.000 Mann in den ersten zwei Wochen, sondern die Tatsache, dass man den Soldaten suggeriert hatte, an dieser Schlüsselstellung der Front in Nordfrankreich werde es – endlich – gelingen, die Deutschen aus ihren Stellungen zu vertreiben und dem Krieg die entscheidende Wende zu geben. Als dies nicht gelang, kam es zur Krise, zum Erlahmen des Offensivgeistes,

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zu Militärstreiks. Frankreich hat diese nach außen gar nicht so recht erkennbar gewordene Krise auf zweierlei Weise überwunden: Zum einen durch eine Zuckerbrot-und-Peitsche-Taktik der militärischen Führung – zunächst keine eigenen Offensiven mehr, bessere Urlaubsregelungen, aber harte Repressionen gegen die Anführer der Streiks. Auf der anderen Seite aber besaß Frankreich in Großbritannien, das zusammen mit den Soldaten aus seinen Dominions beim „burden sharing“ an der Westfront immer mehr in den Vordergrund rückte, einen starken Partner, an den es sich anlehnen konnte. Dasselbe galt für die Italiener. Sie gingen ein halbes Jahr später an der Alpenfront in die Knie: Am 24. Oktober begann im heutigen Slowenien die zwölfte Isonzo-Schlacht. Bei den elf vorausgegangenen hatten stets die Italiener versucht, die österreichischen Linien zu durchbrechen. Um zu verhindern, dass die Österreicher irgendwann, in diesem alpinen Stellungskrieg aufgerieben, kollabieren würden, war für einen entlastenden Gegenschlag der Mittelmächte eine deutsche Armee in die Ostalpen verlegt worden. Mit der Kompetenz und dem ganzen Waffenarsenal, das von der Westfront kam, darunter das teuflische Phosgengas, gegen das die Gasmasken der italienischen Soldaten nicht dichthielten, errangen die Mittelmächte einen Durchbruch, den sie so selbst nicht erwartet hatten. An die 300.000 italienische Soldaten wurden gefangengenommen, andere irrten im Hinterland umher. Italien schien kurz vor dem Ausscheiden aus dem Krieg zu stehen. Politisch wäre dies für die Alliierten, zeitgleich mit dem Ende der russischen Kriegführung, zum Fiasko geworden. Französische Divisionen, die nach Oberitalien verlegt wurden, halfen die Front kurz nördlich von Venedig zu stabilisieren. Ähnlich wie bei der französischen Frühjahrskrise war es am Ende nicht zum politischen Dammbruch gekommen. Militärisch-politisch erlitten also drei der am Krieg beteiligten Großmächte 1917 so etwas wie gravierende Schwächeanfälle, in einem Falle, im russischen, mit der Konsequenz des Ausscheidens aus dem Krieg, sodass sich von nun an dessen ganze Tektonik grundlegend verändert präsentierte. Frankreich und Italien konnten trotzt horrender Verluste und psychischer Überbeanspruchung im Krieg gehalten werden. Das hatte verschiedene Gründe. An der italienischen Front erwiesen sich die Österreicher schließlich nicht in der Lage, durch konzentrischen Druck dann auch aus Tirol den italienischen Einbruch in einen gänzlichen Zusammenbruch umzuwandeln, und die deutsche Seite konzentrierte sich ab Ende 1917 auf die Geschehnisse im Westen. Wesentlich war aber eben auch, dass Frankreich wie Italien über verlässliche und nach wie vor starke Bündnispartner verfügten, die sie gewissermaßen militärisch, aber auch psychologisch auffingen. Das aber traf weder auf Russland noch am

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Ende des Krieges auf Deutschland zu. Die beiden, jedenfalls vor dem Kriegseintritt der USA, größten Mächte mussten am Ende vor allem deshalb das Feld räumen, weil Millionen in ihren mittlerweile frustrierten Wehrpflichtarmeen in eine Art Militärstreik traten, die Kampflinien verließen, sich ins Hinterland durchschlugen und den Bazillus der Kriegsfrustration immer weiter verbreiteten. Was die westlichen Alliierten für das viel kleinere und nahegelegene Italien geleistet hatten, konnten sie unmöglich für Russland auf die Waagschale werfen. Freilich unterschieden sich die Fälle Russland und Deutschland gravierend: In Russland lag es vor allem an der Unfähigkeit des zaristischen Systems, für ein Minimum an Versorgung für Front und Hinterland zu sorgen; Militär- und Staatsapparat waren in viel höherem Maße als in Deutschland erodiert, der industrielle Output für die Kriegsproduktion war um ein Vielfaches geringer. So war es eher eine schleichende Erschöpfung, zumal nach dem am Ende eben doch nicht durchschlagenden Erfolg der Brussilow-Offensive vom Sommer 1916, die schließlich in den revolutionären Umbruch vom Februar 1917 mündete. Auf deutscher Seite schien 1917 alles noch relativ festgefügt. Freilich gelang es auch hier schon den Briten bei den Flandern-Offensiven ab Mai des Jahres, den blutigsten Schlächtereien des Krieges überhaupt, relativ hohe Gefangenenzahlen zu erzielen – so etwas wie Vorboten kommender Erschöpfung. Die Rede ist dabei nicht nur von der katastrophalen Mangelernährung nach dem Steckrübenwinter 1916/17, sondern vor allem von der Ausfransung des politischen Spektrums nach links: Die Burgfriedenspolitik der SPD, gegründet auf die Billigung von Kriegskrediten zur Führung eines Verteidigungskrieges, erschien zunehmend delegitimiert. Sowohl die Gründung der USPD im Frühjahr 1917 als auch die ersten Unruhen in der Hochseeflotte im Sommer nahmen die Konstellation des Herbstes 1918 vorweg. Psychologisch entscheidend aber war am Ende der Fehlschlag der großen deutschen Westoffensiven vom Frühjahr und Frühsommer 1918. Der Tag schlechthin war der 21. März 1918. An seinem frühen Morgen begann die „Operation Michael“, der Versuch, durch mehrstündiges, nicht wie bei den Alliierten mehrtägiges, punktzielgenaues Artilleriefeuer von mehr als 6000 Geschützen eine Bresche in die Front zu schlagen und diese mit rund 70 Divisionen aufzurollen. Die „Operation Michael“ war im Kern das Gegenteil der alten Clausewitzschen Formel, der Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln – weil die Politik keine anderen Mitteln hatte oder zu haben glaubte, wurde alles auf eine militärische Karte gesetzt, hinter der es dann weder politisch oder militärisch Auffangpositionen gab. Zunächst einmal ging es darum, ein kurzzeitiges „window“ auszunutzen, zwischen der nun möglich

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gewordenen Verlegung starker deutscher Kräfte von der Ost- an die Westfront und dem Auftreten der Amerikaner in nennenswerter Zahl auf französischem Boden. Zweieinhalb Wochen vor Beginn der Offensive, am 3. März 1918, war der Friedensvertrag vom Brest-Litowsk zwischen den Mittelmächten und dem bolschewistischen Russland unterzeichnet worden. Die militärische Konstellation war so, dass für kurze Zeit an der Westfront ein, wenn auch sehr knappes numerisches deutsches Übergewicht herrschte. Aber das betraf eben nur die Zahl der Soldaten, nicht Infrastruktur und Waffensysteme. Die Alliierten verfügten inzwischen über eine leistungsfähige Panzerwaffe, auf deutscher Seite verfügte man nicht mehr über die Kapazitäten, um in nennenswerter Zahl Panzer zu bauen. Vor allem aber gingen die deutschen Transportkapazitäten zurück: Das Pferdematerial war erschöpft, die wenigen Lastkraftwagen waren aus Mangel an Kautschuk eisenbereift, so dass sie die Straßen zerstörten. Umgekehrt waren die kurzfristig in die Defensive gedrängten Alliierten an sich zu einer sehr viel dynamischeren Kriegsführung befähigt. Aber hätte es eine Alternative gegeben? Die Frage muss man stellen, aber sie lässt sich eben nur kontrafaktisch und sehr spekulativ beantworten. Eine Alternative hätte, um wenigstens einen Remis-Frieden zu erreichen, in einer geschickten Kombination politischer und militärischer Faktoren bestehen müssen, also im Ausbau der Stellungen an der Westfront, in prestigeträchtigen Offensiven in Italien, vielleicht auch auf dem orientalischen Kriegsschauplatz, vor allem aber in einer politisch-propagandistischen Offensive, die den Remis-Frieden anbot und die Völker der Alliierten gewissermaßen gegen ihre Führungen mobilisierte. An der Jahreswende 1917/1918 gab es insbesondere auf britischer Seite divergente Stimmen. Wie häufig in schwierigen Entscheidungssituationen gab es Verhärtung auf der Seite der verantwortlichen Politik, tastende Versuche für eine Kompromisslösung auf der Seite von Akteuren, die nicht den Zwängen einer amtlichen Stellung unterworfen sind: Der konservative britische Politiker Lord Lansdowne plädierte am 29. November 1917 in der Zeitung „Daily Telegraph“ für einen Verständigungsfrieden, um einen gänzlichen Ruin Europas zu verhindern. Ganz anders und gegenteilig äußerte sich der britische Premier Lloyd George am 5. Januar 1918. Hier stand unbedingter Siegfriedenswille gegen einen unbedingten Siegfriedenswillen in großen Teilen der deutschen Führung. Aus dieser britischen Perspektive ergab sich schließlich dreierlei: Zum einen galt es, offensiv mit dem noch neuen amerikanischen Partner die demokratische Kreuzzugsideologie gegen Deutschland zu vertreten. Daneben aber stand auch die Erkenntnis, dass selbst ein Remis-Frieden so etwas wie die Verbriefung eines deutschen politischen Gesamterfolges sei. Wenn es dem Ring der Großmächte

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nicht gelungen sei, Deutschland über die Jahre niederzuringen und nun auch noch Russland als Antipode weggefallen sei, dann werde ein militärisch nicht besiegtes Deutschland im Ergebnis ein politisch siegreiches Deutschland sein, ähnlich dem Preußen Friedrichs II. am Ende des Siebenjährigen Krieges 1763. Hatte doch schon Thomas Mann im Sinne solcher Selbstbehauptung als Sieg im September 1914 geschrieben: „Deutschland ist heute Friedrich der Große. Es ist sein Kampf, den wir zuende führen, den wir noch einmal zu führen haben.“ 38 Man wird die Frage, ob auf der Gegenseite, der deutschen Führung am Ende tatsächlich nichts anderes übrig blieb, als alles auf eine letzte militärische Karte zu setzen, definitiv nicht beantworten können. Bemerkenswert ist aber, dass es im Vorfeld der „Operation Michael“ eine umfassende Diskussion auf deutscher Seite gab, unter Einbeziehung der verschiedensten Politiker und Publizisten, wie es denn nun weitergehen solle und ob noch einmal das Risiko eines militärischen Vabanque-Spiels eingegangen werden dürfe. Am Ende war es eine Kombination politischer Siegfriedens-, aber auch militärischer Überlebenserwartungen: Verharre man auf Dauer in der Defensive, dann würden die eigenen Soldaten die damit verbundene Perspektivlosigkeit nicht auf unablässige Zeit ertragen können. Das war teils Vorwand, teils ernst gemeintes Argument. Naturgemäß ist es aus heutiger Sicht klar, dass der Versuch, mit einer politisch-militärischen Defensivstrategie über die Runden zu kommen, im besten Falle ein Remis, im ungünstigeren Fall eine Niederlage, allerdings eine sehr viel mildere Niederlage als die des Novembers 1918, zum Ergebnis gehabt hätte. Aber dies ist eine Betrachtungsweise im Nachhinein. Für die verantwortlichen Entscheidungsträger auf deutsche Seite mischten sich hingegen oft defensive und offensive Überlegungen: Sie glaubten, vor dem Erstarken der Amerikaner auf französischem Boden handeln zu müssen und dabei unter massivem Zeitdruck zu stehen, und sie versprachen sich zugleich einen durchschlagenden militärischen Erfolg, der die Bahn zum Siegfrieden öffnen werde. Am Ende kam es zur denkbar ungünstigsten Entwicklung, und der militärische Fehlschlag mündete in den psychologischen und schließlich politischen: Die Offensive war ein taktischer Erfolg und ein strategischer Fehlschlag. Sie durchbrach die alliierten Linien, aber weil der Gegner über gut koordinierte, leistungsfähige Verkehrssysteme verfügte, konnte er die Einbrüche beschränken und immer dort Reserven konzentrieren, wo es kritisch wurde. Die deutsche Seite opferte Material und Menschen, und ihre Front verlängerte sich durch 38 Zit. nach Johannes Kunisch: Thomas Mann und Friedrich der Große, in Ders.: Friedrich der Große in seiner Zeit. Essays, München 2008, S. 11–47, hier S. 37.

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immer weitere Ausbuchtungen. Auf den 21. März 1918 folgten bis zum Juli weitere Angriffe an vermeintlich jeweils erfolgversprechenden Stellen, wobei die Relation zwischen Angreifer und Verteidiger von Mal zu Mal ungünstiger wurde. Der Umschwung trat im Juli und August 1918 ein, die Offensive wechselte auf die Seite der Alliierten – nun unter Einschluss von immer mehr amerikanischen Divisionen, unerfahren, aber hoch motiviert, gut ernährt und vorzüglich ausgerüstet. Einen Wechsel zwischen Defensive und Offensive hatte es seit 1914 viele Male gegeben, aber diesmal war er entscheidend und final. Bei den erfolgreichen Angriffsoperationen des Frühjahrs waren die deutschen Soldaten teilweise schockiert, als sie beim Eindringen in alliierte Stellungen feststellen mussten, wie reichhaltig die hier gelagerten Vorräte waren. Schon jetzt wirkte die Diskrepanz zwischen dem, worüber die eigene Seite verfügte, und der Ausstattung auf der anderen Seite für viele bedrückend. Solange aber die über Monate geweckten Hoffnungen und Erwartungen noch trugen, diesmal gelinge der Durchbruch, die alliierte Front werde zertrümmert und die kaiserliche Prophezeiung vom August 1914, zu Weihnachten sei man wieder zu Hause, könne mit einem Zeitverzug von vier Jahren eben doch noch Realität werden – solange diese Erwartungen noch trugen, funktionierte auch die Militärmaschinerie. Damit war es spätestens ab Hochsommer 1918 vorbei. Eine definitive Aussichtslosigkeit hielt Einhalt. Und warum sollte man jetzt noch weiterkämpfen? Der deutsche Militärapparat kollabierte nicht, aber er erodierte. Auf der einen Seite stiegen die Gefangenenzahlen eklatant, auf der anderen setzte der vielberufene „Militärstreik“ ein. Immer mehr Soldaten trieben sich im Hinterland herum, agitierten und ließen sich agitieren – für Frieden und ein Ende des militärischen Kastenwesens. Begriffe wie „Kriegsverlängerer“ erlebten eine Inflation. Dies alles waren Erscheinungen, die an den russischen Zusammenbruch des Jahres 1917 erinnerten. Zugleich aber gab es entscheidende Unterschiede: Der hoch entwickelte Verwaltungsstaat in Deutschland überstand die Krise ebenso wie wesentliche Teile des Militärapparates. Die russische Entwicklung hin zu bolschewistischer Diktatur und Bürgerkrieg erwies sich eher als eine Art Schreckgespenst, das es in Deutschland um jeden Preis zu vermeiden gelte – und sei es auch um den eines Friedensschlusses aus der Situation des eindeutigen Kriegsverlierers. Und sehr viel weiterentwickelt als in Russland war in Deutschland auch das politische Spektrum, das sich sehr bald, nach dem Einschnitt der Revolution vom November 1918, regenerieren sollte.

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Zunächst einmal ging es um Waffenstillstand und Friedensschluss bzw. Friedensschlüsse. In der historischen Tradition des europäischen Kontinents gab es auch so etwas wie eine Tradition des großen Friedensschlusses nach umfassenden, mehr oder weniger alle Mächte von Rang einbeziehenden Konflikten und zugleich Konflikten solcher Natur, bei denen nicht nur machtpolitische Interessen auf machtpolitische Interessen gestoßen waren, sondern auch unterschiedliche, ja gegensätzliche religiöse, konfessionelle oder politisch-philosophische Grundpositionen. Zu solchen Friedensschlüssen war Europa in der Lage gewesen am Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648, am Ende des Spanischen Erbfolgekrieges 1714, als das System des Gleichgewichts der Kräfte gewissermaßen konstitutiv verankert wurde, und am Ende des Zeitalters von Französischer Revolution und Napoleonischem Imperialismus in den beiden Pariser Friedensschlüssen von 1814 und 1815 und, übergeordnet, im Wiener Kongress in denselben beiden Jahren. Kein Zweifel: Die Herausforderung, vor der der Kontinent diesmal stand, war von mindestens ähnlicher Dimensionierung. Zunächst einmal lautete eine Fragestellung, wer überhaupt an den verschiedenen Friedensschlüssen beteiligt wäre. Nimmt man allerdings die Beendigung des Ersten Weltkrieges umfassend in den Blick, dann wird man zweierlei tun müssen: Zum einen gilt es, die gesamte Phase vom vorletzten Kriegsjahr 1917 über die Jahre 1919/20 der Pariser Vorortverträge, die Zeit der weiteren Regelungen zwischen Deutschland und den Siegern im Reparationsbereich wie im östlichen Europa bis hin zu den Pazifizierungsanstrengungen nach dem französischen und belgischen Einmarsch im Jahre 1923 im Ruhrgebiet als ein Ganzes zu sehen. Zum zweiten aber empfiehlt es sich, diese Kriegsbeendigungsphase mit der Beendigung zumindest annähernd dimensionierter Konflikte in Europa zu vergleichen. Die entsprechenden Beispiele können nie ganz tauglich sein, denn jeder Konflikt solch großer Dimension zeichnet sich unabdingbar durch Singularitäten aus. Gleichwohl, lässt man sich auf das Experiment ein, dann bieten sich vermutlich die Beendigung des Dreißigjährigen Krieges von 1618 bis 1648, die des Spanischen Erbfolgekrieges von 1701 bis 1714, die des Napoleonischen Zeitalters von 1799 bis 1815 und die des Zweiten Weltkrieges in Europa von 1939 bis 1945 als solche Vergleichsmuster an. Dabei haben wir es, um mit Letzterem zu

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beginnen, insofern mit einem Sonderfall zu tun, als es nach dem Ende der Feindseligkeiten im Frühjahr 1945 in den Folgejahren zwar gelang, Friedensverträge mit den zweitrangigen Gegnern der siegreichen Allianz zu schließen, insbesondere mit Italien.39 Für die jetzt aufgeteilte Zentralmacht Deutschland musste aber wegen der einander ausschließenden Interessenlagen von West und Ost eine Friedenslösung um rund vier Jahrzehnte verschoben werden. Deutschland erhielt in Gestalt des sogenannten Zwei-Plus-Vier-Vertrages – „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ vom 12. September 1990 – keinen ausdrücklichen Friedensvertrag, sondern eine völkerrechtlich gleichwertige quasi Ersatzlösung. Der Grund lag beileibe nicht nur in der langen Zeitstrecke, die mittlerweile seit all den Ereignissen verstrichen war, die den Zweiten Weltkrieg für Deutschland bzw. für seine beiden Nachfolgestaaten faktisch beendet hatten, so der Beitritt beider deutscher Staaten in die zwei antagonistischen Bündnissysteme von Nato und Warschauer Pakt Mitte der fünfziger Jahre und knapp zwei Jahrzehnte später ihr Beitritt zu den Vereinten Nationen. Bei den Auseinandersetzungen während der sogenannten zweiten Berlinkrise 1958 bis 1962 hatte die sowjetische Seite stets die Grundforderung nach zwei Friedensverträgen mit den beiden deutschen Nachfolgestaaten erhoben.40 Es war aber dann vor allem im deutschen – und mit ihm im amerikanischen – Interesse, nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 und den sich immer mehr beschleunigenden Trends zu einer Wiedervereinigung Deutschlands nicht durch die Einberufung einer Friedenskonferenz eine Gemengelage an kaum zu steuernden Agenden heraufzubeschwören. Insofern ist auch nicht nur der chronologische Abstand entscheidend und unterscheidet damit die Situation von 1989/1990 von der des Jahres 1919 – Friedensvertrag gut ein halbes Jahr nach dem Waffenstillstand. Entscheidend war vielmehr, dass 1989/90 schnell eine stabile Lösung gefunden werden sollte, die Deutschland, und das hieß naturgemäß im wesentlichen Westdeutschland, nicht wirtschaftlich schwächte, denn dies lag weder im amerikanischen noch im sowjetischen Interesse: Die amerikanische Seite benötigte ein ökonomisch potentes Deutschland, um den sich anbahnenden Transformationsprozess in Osteuropa wirtschaftlich und finanziell mit initiieren und wirksam unterstützen zu können. Und die sowjetische Führung unter Michail Gorbatschow 39 Zum Friedensvertrag von 1947 mit Italien Hans Woller: Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 222 ff. 40 Zur gesamten Friedensvertragsproblematik mit Deutschland in der zweiten Nachkriegszeit: Hanns Jürgen Küsters: Der Integrationsfriede. Viermächte-Verhandlungen über die Friedensregelung mit Deutschland 1945 bis 1990, München 2000.

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versprach sich gerade in dieser Phase, als im eigenen Land mitunter sogar die Basisversorgung mit Nahrungsmitteln zusammenzubrechen schien, von Deutschland die Rolle einer existenziellen Korsettstange. Das alles war 1919 ganz anders gewesen: Damals war vor allem der britischen Politik daran gelegen gewesen, Deutschland aus seinen weltwirtschaftlichen Positionen zu verdrängen. Nun, 70 Jahre später, war für die amerikanische Politik jene Formel bestimmend, die Präsident George Bush Ende Mai 1989 in Mainz geprägt hatte: „partner in leadership“, Deutschland somit als Partner, wenn man so will, europabezogen als eine Art amerikanische Assistenzgroßmacht bei der Überwindung des Kalten Krieges:41 Für den gesamten sogenannten Zwei-Plus-VierProzess von Frühjahr bis Spätsommer 1990 bedeutete dies zugleich: Frankreich und Großbritannien mit den Vorbehalten ihrer politischen Eliten bzw. von Teilen davon konnten sich gegen diese übergreifende, weltpolitische Räson der Wiedervereinigung Deutschlands als auch symbolhaftes Kernelement der Beendigung des Kalten Krieges nicht durchsetzen.42 Als Surrogat stand daneben allerdings die Beschleunigung der zunächst noch westeuropäischen Integration zur „Einbindung“ Deutschlands. Dieser Prozess wurde vom deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl nicht nur mit akzeptiert oder mitgetragen, sondern förmlich überschießend, ja obsessiv mit verfolgt.43 Das Zweite ist, dass sich der Vertrag von 1990 über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland gar nicht bei irgendwelchen Schuldvorwürfen gegenüber dem ursprünglichen nationalsozialistischen Deutschland als Kriegsgegner aufhält, wie es der Versailler Vertrag 1919 in seinem Artikel 231 mit dem konstitutiv untergegangenen kaiserlichen Deutschland getan hatte. Das erscheint auffällig wie logisch – trotz der deutschen Verbrechensbilanz 1939–1945. Es galt 1990 weder, durch eine Schuldzuweisung materielle Ansprüche in Gestalt von Reparationsansprüchen zu begründen noch wollte man sich offenkundig überhaupt mit derlei Festlegungen belasten. Der Vertrag sprach in seiner Präambel sogar davon, „dass ihre Völker seit 1945 miteinander in Frieden leben“ – bezogen auf 41 Vgl. den Klassiker: Philip Zelikow, Condoleezza Rice: Sternstunde der Diplomatie. Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas, Berlin 1997, ferner Pia Molitor: Partner in der Führung. Die Deutschlandpolitik der Regierung Bush/Baker als Faktor amerikanischen Machterhalts, Paderborn u. a. 2012 42 Neben den bekannten, schrill-polemisch geäußerten Vorbehalten der britischen Premierministerin Margret Thatcher nun auch die Vorbehalte des französischen Staatspräsidenten François Mitterand sehr deutlich enthüllend Ulrich Lappenküper: Mitterand und Deutschland. Die enträtselte Sphinx, München 2011. 43 Vgl. dazu buchstäblich entlarvend Hans-Peter Schwarz: Helmut Kohl. Eine politische Biographie, München 2012, S. 489 ff.

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die beiden deutschen Staaten und die vier klassischen Siegermächte. Liest man heute diese Formulierung im Rückblick nach über zwei Jahrzehnten, dann erscheint sie in mehrfacher Hinsicht als ebenso falsch wie sozusagen schief angelegt: Weder hatte es ein Volk der Bundesrepublik noch eines der DDR gegeben, für die nun Frieden zu schließen war – gerade die westdeutsche Seite hätte entsprechend dem konstitutiven Beharren der alten Bundesrepublik auf einem gemeinsamen deutschen Staatsvolk eigentlich nie einer derartigen Formulierung zustimmen dürfen – noch konnte man den Gesamtkonflikt des Kalten Krieges billigerweise als so etwas wie eine Friedensepoche kennzeichnen. Es ging also offenkundig darum, trotz der Dimension der deutschen Verbrechen, insbesondere gegenüber dem Vertragspartner Sowjetunion und dem Nichtvertragspartner Polen, einen Schlussstrich zu ziehen und zu einer pragmatischen Lösung für die Fragen zu gelangen, auf die es in der Situation des Jahres 1990 tatsächlich ankam. Insofern erinnert der sogenannte Zwei-PlusVier-Vertrag von 1990 in gewisser Weise an die großen Friedenslösungen von 1648 und 1814/15: Auch damals hatte man sich nicht lange mit moralischen Vorwürfen der Konfessionsparteien gegeneinander wie auch rund 170 Jahre später gegenüber dem imperialen Frankreich, aufgehalten. Das Dritte ist, dass man sich 1990 auch nicht lange bei Territorialfragen aufhielt. Die Frage kleindeutsch oder großdeutsch, mit oder ohne Österreich, war seit Ende des Zweiten Weltkrieges kein Thema mehr, und die weitere, über die gesamte Nachkriegszeit ventilierte Frage der deutschen Ost- wie der polnischen Westgrenze spielte in der Sache auch keine Rolle mehr. In der Rückschau wird klar, dass den westdeutschen Eliten im Verlauf der fünfziger und sechziger Jahre immer deutlicher bewusst geworden war, dass bei einer friedensvertraglichen Lösung für Deutschland, so es sie überhaupt irgendwann einmal gebe, Territorialfragen an sich nicht mehr auf der Tagesordnung stünden. Es ging somit 1990 nur mehr um die rechtlichen Kontexte der sogenannten Oder-Neiße-Grenze: Wann sollte der völkerrechtlich definitive deutsche Verzicht erfolgen? Das relative Zögern Helmut Kohls stand eben auch nicht mit irgendwelchen faktischen Revisionserwartungen im Zusammenhang, sondern es war nur Ausdruck des Kalküls, diese Anerkennung so zu vollziehen, dass sie innenpolitisch bei den Vertriebenen am wenigsten schadete, dass sie außenpolitisch am ehesten als Schlussakt eines souveränen und selbstbewussten Deutschlands vermittelt werden konnte. Bei der tatsächlichen Aushandlung der Wiedervereinigungs- und Kriegsbeendigungslösung von 1990 ging es also, im vollständigen Gegensatz zum Versailler Vertrag von 1919, somit nahezu nicht um territoriale Fragen – während sogenannter polnischer Korridor, Danzig, Oberschlesien,

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das Saarland und auch das Anschlussverbot für Österreich 1919 wie in den Folgejahren ganz im Zentrum der deutschen nationalen Aufgeregtheiten gestanden hatten (s.u.). Jetzt war etwas anderes entscheidend: Es ging nicht mehr um Gebiete, es ging um die sicherheitspolitische Zuordnung. Der entscheidende westliche „Sieg“ im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung Deutschlands, gewissermaßen das Symbol des westlichen „Sieges“ im Kalten Krieg überhaupt, war das Verbleiben des wiedervereinigten Deutschlands in der NATO, also unter dem Schutzschirm wie im Hegemonialverband einer der beiden großen Parteien im Kalten Krieg. Anders formuliert: Die NATO rückte, wenn auch mit einigen kleinen Kautelen – keine alliierten Streitkräfte auf dem Boden der früheren DDR – von der Elbe an die Oder vor und, da insbesondere Polen und die Tschechoslowakei dies unter nunmehr nicht mehr kommunistischen Führungen auch ausdrücklich wünschten, de facto bereits damals bis an die seinerzeitigen Grenzen der Sowjetunion. Eine derartige Veränderung machtpolitischer Tektonik, ohne dass die Waffen gesprochen hatten, war welthistorisch nicht nur ungewöhnlich, sie war singulär. Das Ende des Kalten Krieges ist mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges insofern zumindest vergleichbar, wenn auch gewiss nicht gleichzusetzen, weil in beiden Fällen eine Auseinandersetzung beigelegt werden musste, die machtpolitisch wie normativ begründet gewesen war, 1618–1648 zwar nicht ideologisch, aber doch geradezu fundamental religiös. Gewiss, der Vergleich mag sehr kühn anmuten, gleichwohl sei die These gewagt: Zum Ende des Dreißigjährigen Krieges war die Aufgabe, zu einem Frieden zu gelangen, vermutlich noch um einiges schwieriger als nach dem Ersten Weltkrieg. Dies nicht nur, weil die Frage nach Siegern und Verlierern allenfalls mit einer leichten Tendenz – zugunsten der auswärtigen Interventen Frankreich und Schweden – zu beantworten war, keineswegs mit der Eindeutigkeit der Konstellation am Ende des Ersten Weltkrieges. Insgesamt mussten drei Problembereiche einer Regelung zugeführt werden; einmal galt es, den konfessionellen Konflikt im Heiligen Römischen Reich zu pazifizieren, gewissermaßen in Fortführung des Augsburger Religionsfriedens von 1555. Damit musste immerhin ein Fundamentalkonflikt, wenn nicht beigelegt, so doch eingehegt werden. Und dies gelang für Deutschland auf eine erstaunliche und beispielhafte Weise – es wurde – über den ganzen Prozess von moderner Nations- und Nationalstaatswerdung hinweg – das einzige große Land in Europa mit konfessioneller Pluralität, und dies nun für alle drei Bekenntnisse, die es auf seinem Boden gab, das katholische, das evangelische bzw. lutherische und das reformierte. „Die schmerzlichen Erfahrungen eines

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Jahrhunderts konfessioneller Konflikte gingen in wohlüberlegter und ausgewogener Form in den Vertrag ein.“ 44 Der zweite Problemkreis betraf die Weiterentwicklung der Verfassungsordnung des Alten Reiches. Nicht nur wurde der konfessionellen Parität Rechnung getragen, durch sie sollte künftig nicht eine Konfession politisch die andere marginalisieren können. Symbolhaft für den Ausgleich zwischen den Konfessionen war, dass es nun statt sieben Kurfürsten im Reich acht gab, zwei wittelsbachische, einer für die katholischen Wittelsbacher in München, einer für die reformierten Wittelsbacher in Heidelberg, die zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges als Könige von Böhmen so vollkommen gescheitert waren. Die großen Territorien im Reich erhielten das Recht, sich, auch mit Bündnissen, an der europäischen Politik zu beteiligen, aber sie wurden nicht souverän, und sie durften nicht gegen Kaiser und Reich agieren. Die dritte Dimension war eine gewissermaßen internationale, der Friedensschluss mit den Interventen von außerhalb, Frankreich und Schweden: Frankreich rückte mit dem Gewinn des Elsass an den Rhein vor, Schweden erhielt, aber innerhalb des Reichsverbandes, entscheidende strategische Positionen an Nord- und Ostsee. Elf Jahre später, 1659, wurde mit dem Pyrenäenfrieden auch der Großmächtekonflikt zwischen Frankreich und Spanien beigelegt und damit das gesamte Friedenswerk erst vervollständigt. Im Gesamtergebnis waren Frankreich – und in seinem Gefolge Schweden – so etwas wie tendenzielle Sieger. Vor allem aber hatte es nach langjährigen intensiven Verhandlungen einen Gesamtausgleich gegeben. Zwischen dem europäischen Friedensschluss am Ende des Dreißigjährigen Krieges und jenem am Ende des Spanischen Erbfolgekrieges, zwei Generationen später, gibt es durchaus eine Beziehung: Die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts hatte in Europa im Zeichen des französischen Hegemonialbestrebens gestanden. Das hatte zunächst zur Folge, dass sich die durchaus Habsburg kritischen Reichsstände zunehmend mit dem Kaiserhaus solidarisierten. Zunächst schien von den Habsburgern eine Marginalisierungs-, ja geradezu Gleichschaltungsgefahr auszugehen, wie sie seit den Zeiten Kaiser Karls V. in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts immer wieder drohend am Horizont gestanden hatte. Noch zehn Jahre nach Ende des Dreißigjährigen Krieges, am 14. August 1658, 44 Heinrich Lutz: Das Ringen um deutsche Einheit und christliche Erneuerung. Von Maximilian I. bis zum Westfälischen Frieden 1590–1648, Propyläen Geschichte Deutschlands, Bd. 4, Berlin 1983, S. 459., siehe auch zum Gesamtkomplex des Westfälischen Friedens Heinz Schilling, Klaus Bußmann (Hrsg.): 1648 Krieg und Frieden in Europa. Politik, Religion, Recht und Gesellschaft, Textband zur Ausstellung in Münster und Osnabrück 1998/1999, München 1998.

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war es zur Bildung des sogenannten Ersten Rheinbundes aus westdeutschen Territorien gekommen. Er richtete sich gegen ein angenommenes Dominanzstreben des habsburgischen Kaiserhauses – schon zehn Jahre später kam er an sein Ende, weil die primäre Bedrohung nunmehr nicht mehr von Wien, sondern im Zeichen der immer aggressiveren Politik Ludwigs XIV. von Paris bzw. von Versailles auszugehen schien. In den folgenden Jahrzehnten bildete sich in Deutschland konfessionsübergreifend ein erster „Reichspatriotismus“. Gewiss hatte er kaum etwas mit der sehr viel späteren Nationalbewegung zu tun, die dann vor allem die deutsche Geschichte des 19.Jahrhunderts prägte. Aber schon im 17. Jahrhundert ging es um so klassische Muster für kollektive Identitäten wie Abwehr von Bedrohungen – im Westen das bourbonische Frankreich, im Südosten das Osmanische Reich – und Orientierung an kulturellen und symbolhaften Wurzeln. Arminius, der mythenumflorte Sieger in der Varusschlacht des Jahres 9 n. Chr., avancierte schon im 17. Jahrhundert zu so etwas wie einem Ahnherrn der deutschen Nation. Aus dem römischen war nun das französische Feindbild geworden.45 Insbesondere die Verheerungen des pfälzischen Erbfolgekrieges in Südwestdeutschland von 1688–1697, mit dem symbolhaften Höhepunkt der Zerstörung des Heidelberger Schlosses, stehen am Beginn einer imaginierten deutsch-französischen „Erbfeindschaft“. Das Beispiel zeigt auch, dass man Vormoderne und Moderne nicht einfach als voneinander mehr oder weniger gänzlich geschiedene historische Aggregatszustände sehen darf. Und das gilt insbesondere für den Transport von Geschichtsbildern und Geschichtsdeutungen. Die Ruine des Heidelberger Schlosses avancierte zu so etwas wie der Ikone des deutsch-französischen Antagonismus, aus der Zeit von Vormoderne und Reichspatriotismus in die Zeit von moderner Nationalbewegung quasi hinübertransportiert.46 Die symbolhafte französische Demütigung, den Konstituierungsakt für die Reichsgründung am 18. Januar 1871 im Zentrum des französischen Königtums vorzunehmen, im Spiegelsaal von Versailles, steht insofern zumindest in einem mittelbaren Zusammenhang mit den Geschehnissen 45 Vgl. Hans-Martin Blitz: Aus Liebe zum Vaterland. Die deutsche Nation im 18. Jahrhundert, Hamburg 2000. 46 Vgl. Heinz Schilling: Höfe und Allianzen Deutschland 1648 bis 1763, Berlin 1989, S.  254.: „Auf sein (Ludwigs XIV. von Frankreich, P.M.) Geheiß wurden im Rhein-Mosel-Gebiet ganze Landstriche verwüstet; häufig blieben nur die schwer zu zerstörenden Grundmauern von Kirchen und Klöstern übrig. Zahllose Dörfer und Flecken wurden dem Erdboden gleichgemacht, ebenso die Städte Oppenheim, Mannheim, Speyer, Worms und vor allem Heidelberg – das ‚Schloss in Flammen’, Touristenattraktion drei Jahrhunderte danach, war 1689 grausame Realität.“

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und Erfahrungen des ausgehenden 17. Jahrhunderts im Alten Reich: Denn diese Reichsgründung sollte, ja musste, wenn sie integrierend gelingen sollte, zum Ausdruck bringen, dass in Deutschland Ost und West, Nord und Süd nunmehr miteinander „versöhnt“ waren – und die materielle Grundlage dieser Versöhnung war unbestreitbar vor allem ein antifranzösischer Konsens. Mit ihm sollte nicht nur die historische Erinnerung an die Kooperation der süddeutschen Länder in Gestalt des Zweiten „Rheinbundes“ mit dem napoleonischen Frankreich möglichst vergessen gemacht werden. Das antifranzösische Preußen aus der Zeit der sogenannten Befreiungskriege 1813–1815 und der pro-französische deutsche Süden und Westen, jedenfalls bis zum Herbst 1813, fanden so symbolhaft im Zeichen einer imaginierten deutsch-französischen Erbfeindschaft zusammen. Dass der Frieden des Jahres 1919 dann wiederum im Spiegelsaal von Versailles unterzeichnet wurde – nunmehr auf Geheiß eines republikanischen Frankreichs! – rundet das Bild dieser hoch belastenden Ortsbezüge ab. Der finale Hegemonialkonflikt im Zeitalter Ludwigs XIV. aber war der Spanische Erbfolgekrieg von 1701 bis 1714. Es ist der exemplarische Konflikt in der europäischen Geschichte über die Klärung des Gegensatzes von „Hegemonie und Gleichgewicht“. Mit dem Enkel Ludwigs des XIV., Herzog Philipp von Anjou, als König Philipp V. von Spanien, drohte, nach dem Ableben der habsburgischen Linie in Madrid, eine bourbonische Vorherrschaft in Europa. Dagegen schlossen sich, neben den Habsburgern in Wien, die gleichfalls Erbansprüche erhoben, vor allem die Vereinigten Niederlande und England als der zentrale und koordinierende Faktor zu einer Allianz zusammen. Beim Friedensschluss ging es, ganz anders als 1648, nicht um die Lösung oder doch zumindest Entzerrung konfessioneller Fundamentalkonflikte. Es ging vielmehr – nur – um zentrale Klärungen der machtpolitischen Tektonik in Europa. Entscheidend, zumal im Blick auf das Europa des Jahres 1919, ist nun aber zum einen, dass es einen intensiven kommunikativen Austauschprozess schon lange vor der Aufnahme offizieller Friedensverhandlungen gegeben hatte. Die Parteien verglichen, naturgemäß auch im Blick auf die jeweilige militärische Lage, ihre Positionen, darunter die österreichischen Maximalpositionen, schon etwa seit der Kriegsmitte. Die entscheidende politische Zäsur war, nach einem Sieg der Tories bei den Unterhauswahlen 1710 in England, der Machtwechsel in London. Die Tories wollten dem Krieg ein Ende setzen. Zugleich galt es zu verhindern, dass an die Stelle einer bourbonischen Vorherrschaft in Europa eine habsburgische träte, wie in der Zeit Kaiser Karls V. eineinhalb Jahrhunderte zuvor. Eine derartige Perspektive verhinderte England durch den gewissermaßen vorzeitigen Friedensschluss vom 11. April 1713 in Utrecht mit Frankreich. Im Folgejahr musste

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sich Kaiser Karl VI., der mit England und den Niederlanden seine wichtigsten Verbündeten verloren hatte, im Frieden von Rastatt für die habsburgischen Länder und im Frieden von Baden als Reichsoberhaupt mit Ludwig XIV. verständigen. Die komplexen territorialen Details dieser drei Friedensschlüsse können hier außer Betracht bleiben. Die Bourbonen behielten den spanischen Thron in Madrid, eine Personalunion mit Frankreich, die zu einer hegemonial dominanten Masse in Europa geführt hätte, war aber dauerhaft ausgeschlossen. Die Habsburger in Wien hielten sich im Wesentlichen an den bisherigen spanischen Besitzungen in Italien und in den so genannten Spanischen Niederlanden schadlos. England vor allem hatte das europäische Gleichgewicht gewahrt. Und man muss noch hinzufügen, dass den offiziellen Friedensverhandlungen, die etwa über die beiden letzten Jahre des Krieges liefen, vielfache vertrauliche Kommunikations- und Abtastversuche zwischen den Kriegsparteien vorausgegangen waren – all dies unterscheidet die Herbeiführung des Friedens von 1714 gravierend von der des Jahres 1919.47 Schließlich der Friedensprozess von 1814/15. Nach der Vorgeschichte glaubt man gewisse Parallelen zum Ersten Weltkrieg sehen zu können: Die napoleonische Feldzugsgeschichte über knapp zwei Jahrzehnte hatte ganz Europa in Beschlag genommen, die Opferzahl betrug Millionen. Von Kabinettskriegen, wie im 18. Jahrhundert, die fernab der Zivilbevölkerungen geführt wurden, konnte keine Rede mehr sein: Allein die äußere Peripetie des napoleonischen Empire, die Katastrophe des Jahres 1812 in Russland, hatte, auf beiden Seiten zusammen, an die 800.000 Tote gefordert.48 Ähnlich wie beim Dreißigjährigen Krieg fällt es schwer, gewissermaßen im apologetischen Vergleich mit dem Ersten Weltkrieg davon auszugehen, der Erste Weltkrieg sei doch um sehr vieles größer dimensioniert gewesen. Napoleon hatte den Krieg von der iberischen Halbinsel bis zum Moskauer Kreml geführt, er hatte Monarchen abgesetzt, Staatsordnungen willkürlich beseitigt und ebenso willkürlich neue Grenzen gezogen. Gegen seinen Imperialismus hatte sich, sehr modern, das Phänomen des Volkskrieges entwickelt, in Spanien, in Tirol, ansatzweise 1812 in Russland und 1813/14 auch in Ost- und Mitteldeutschland. Mit dem Kaisertitel hatte er die höchste abendländische Würde absorbiert und zugleich dem Heiligen Römischen Reich 47 Zum Spanischen Erbfolgekrieg und seiner komplexen Beendigung Klaus Malettke: Hegemonie – multipolares System – Gleichgewicht. Internationale Beziehungen 1648/1659 bis 1713/1714, Paderborn u. a. 2012 (Handbuch der Geschichte der Internationale Beziehungen, Bd.3), S.  461 ff. 48 Zahlen bei Adam Zamoyski 1812. Napoleons Feldzug in Russland, München 2012, S. 599. Zum Wiener Kongress 1814/15 mit seiner Kommunikationsstruktur jetzt Heinz Duchhardt: Der Wiener Kongress. Die Neugestaltung Europas 1814/15, München 2013.

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Deutscher Nation die Legitimationsgrundlage entzogen. Er verkörperte gewiss nicht das idealtypisch Böse, ganz auf Vernichtung Abzielende, wie Adolf Hitler rund vier Generationen später, aber er war uferlos hybrid und selbstsüchtig, dazu skrupellos, was seine Verantwortung für den Tod ungezählter Menschen anbelangte. Und er hatte die durch die französische Revolution ohnehin schon schwer beeinträchtige Struktur der europäischen Staatenwelt ganz nach seinen Willen grundlegend verändert, in Teilen zerstört. Diese auf ihre Weise höchst beeindruckende Bilanz muss man vorausschicken, wenn man das europäische Friedenswerk von 1814/15 würdigen – und mit dem von 1919 vergleichen will. Auch hier war es, wie beim Spanischen Erbfolgekrieg, ein langer, verdeckter Friedensanbahnungsprozess, der schon Jahre vor dem Ende der Feindseligkeiten eingesetzt hatte. Die wesentlichen Staatsmänner in Europa, Talleyrand in Frankreich, Metternich in Wien waren bereits Jahre vor dem Russland-Abenteuer des Kaisers 1812 um Pazifizierung bemüht – Talleyrand trat als französischer Außenminister bereits im August 1807 zurück, weil er die Kriegspolitik seines Kaisers für tendenziell unlimitiert und selbstzerstörerisch hielt –, aber dies hieß eben nicht, dass er der europäischen Bühne den Rücken kehrte. Beim Erfurter Fürstentag 1808 soufflierte er Zar Alexander I., Letzterer für einige Jahre Verbündeter Napoleons, er möge diesem doch entschlossen Widerstand leisten. Und Metternich versuchte, vergebens, 1813 Napoleon goldene Brücken zu bauen. Naturgemäß tat er das nicht uneigennützig: Es galt in seiner Wahrnehmung, und ebenso in der des britischen Außenministers Castlereagh, zu verhindern, dass die französische Hegemonie durch eine russische abgelöst wurde. Aber die neunstündige Unterredung zwischen ihm und Napoleon am 26. Juni 1813 in Dresden schlug fehl – Napoleon und Kompromiss, das ging prinzipiell nicht. Die Friedensmacher von 1814/15 hatten ähnlich denen am Ende des Dreißigjährigen Krieges Lösungen für verschiedene, teilweise nur mittelbar verbundene Problemkreise zu finden: Es ging einmal um das Thema von Hegemonie und Gleichgewicht; sodann ging es darum, das europäische Festland territorial nach den oft willkürlichen Flurbereinigungen der vorausgegangenen Epoche neu zu ordnen. Ganz natürlich standen hier Maximalforderungen gegeneinander, und die Kompromisse, die gefunden wurden, konnten ebenso selbstverständlich nicht befriedigen, aber sie erwiesen sich zumindest über eine sehr lange Zeit als haltbar, in den Grundstrukturen, was Mitteleuropa anbelangt, bis zum Ersten Weltkrieg. Der wichtigste Kompromiss war, dass Preußen nicht das ganze, sondern das halbe Sachsen erhielt und dafür als Kompensation aus der polnischen Verfügungsmasse, die wieder vollständig auf die drei östlichen Großmächte aufgeteilt wurde, das sogenannte Großherzogtum Posen, ferner

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das Rheinland. Polen war, zumal in der heutigen Rückschau, das schmerzhafteste Opfer der ganzen Friedensordnung, aber es war eben ein Opfer, das sich nicht wehren konnte. Auf der anderen Seite wurde Frankreich unbestreitbar geschont: Erst nach dem Zweiten Pariser Frieden von 1815, nach dem fehlgeschlagenen Abenteuer von Napoleons Rückkehr aus Elba und seinem Fiasko in der Schlacht bei Waterloo, wurde Frankreich im Osten auf die Grenzen bei Ausbruch der Revolution 1789 zurückgedrängt. Aber Frankreich war eben von vornherein nicht einfach Störenfried und Aggressor, sondern auch Partner. Sollte es zum Konflikt zwischen West- und Ostmächten in Europa kommen, konkret zwischen Österreich und England auf der einen, Preußen und Russland auf der anderen Seite, dann war Frankreich als Bündnispartner wieder akzeptiert, ja satisfaktionsfähig. Und Talleyrand war eine der politisch wie gesellschaftlich zentralen Figuren auf dem Wiener Kongress von 1814/15. Nun kann man natürlich einwenden, dass, als Napoleon verschwunden war, sich nun ein ganz anderes Frankreich präsentierte. Aber wer so argumentiert, muss sich dann auch die Frage gefallen lassen, wie es um das Deutschland des Jahres 1919 stand, das nicht mehr Monarchie war, sondern von dem Sozialdemokraten Friedrich Ebert repräsentiert wurde. Der Wiener Kongress – die Regelungen im unmittelbaren Sinn mit Frankreich waren in den Pariser Friedensverträgen 1814 und 1815 getroffen worden – hatte aber eben nicht nur territoriale und Sicherheitsfragen zu lösen, es ging mindestens ebenso dringend um das Problem, welche Antwort auf die gravierenden konstitutiven Wandlungsprozesse der letzten Jahrzehnte zu geben war. Dazu kamen die nationalen Fragen, an erster Stelle für Deutschland, aber auch für Polen und Italien. Den späteren Anwälten des preußisch-kleindeutschen Nationalstaates schien die konföderative Lösung des Deutschen Bundes unbefriedigend und reaktionär. Napoleon hatte, vor allem im Nordosten Deutschlands, durch seine repressive, teilweise brutale Politik die moderne deutsche Nationalbewegung geradezu wach geküsst. Aber niemand konnte sich vorstellen, dass das Heilige Römische Reich Deutscher Nation einfach wieder erstand. Die süddeutschen Staaten waren neu geformt, Österreich und Preußen verstanden sich als deutsche, aber auch als europäische Akteure und Großmächte. Und nach den Turbulenzen des Revolutionszeitalters sehnte sich Europa vor allem nach Ruhe, nicht nach den Gärungen einer großdimensionierten Nationalstaatschöpfung in seinem Zentrum. So entstand als Surrogat der Deutsche Bund. In seinem Gehäuse waren Altes und Neues verbunden, der Frankfurter Bundestag setzte in gewisser Weise die Traditionen des Regensburger Immerwährenden Reichstages fort, für das intellektuelle wie für das ökonomische Zusammenleben der

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Nation bot der Deutsche Bund immerhin eine erneuerte Grundlage, und wenn seine beiden Führungsmächte sich einig waren, dann formierte er auch ein starkes Sicherheitsbollwerk in Mitteleuropa. Nach einem Vierteljahrhundert unentwegter grundstürzender Veränderungen und blutiger Konflikte gelang den aristokratischen Diplomaten auf dem Wiener Kongress eine erstaunliche Befriedung Europas. Keine seiner fünf Großmächte wurde diskriminiert, keine musste sich ausgegrenzt fühlen – wenn die Staatsmänner von Paris 1919 und in den Folgejahren den Standard der zentralen Akteure auf dem Wiener Kongress erreichen wollten, dann mussten sie über viele Schatten springen und vielerlei Staatskunst leisten.

Versailles entgegen: Die USA als neuer Player und die Vorgeschichte mit Brest-Litowsk

Ein einziges Mal während des Ersten Weltkrieges, in den Nachmittags- und Abendstunden des 31. Mai 1916, wurden die großen maritimen Investments der Vorkriegszeit auch wirklich eingesetzt, die Schlachtflotten Großbritanniens und Deutschlands. Die Skagerrak-Schlacht, wie sie in der deutschen Erinnerung heißt, die Schlacht bei Jütland, als die sie auf britischer Seite firmiert, hatte ein multiples Ergebnis:49 Zunächst einmal war die britische Seite frustriert, die deutsche euphorisiert: Der Große hat den Kleinen nicht bezwingen, geschweige denn ein nahezu vollständiges Schiffeversenken durchführen können, wie die Japaner mit der um die halbe Welt gefahrenen russischen Ostseeflotte gut ein Jahrzehnt zuvor bei Tsushima. Die britischen Verluste an Menschen wie an Schiffen bemaßen sich knapp doppelt so hoch wie die deutschen. Propagandistisch blieb es ein deutscher Erfolg, denn der Nimbus der britischen Seeherrschaft, seit den Napoleonischen Kriegen, seit Nelsons vollständigem Sieg über die französisch-spanische Flotte 1805 bei Trafalgar, dieser Nimbus ging in den Nachmittagsstunden des 31. Mai 1916 definitiv unter. An einen vollständigen deutschen Sieg war aber tatsächlich nie zu denken gewesen – zu deutlich war die quantitative deutsche Unterlegenheit, etwa 5:8, und zu gleichwertig waren die technischen Potentiale der Linienschiffe, mögen auch die Deutschen, was die Güte ihrer Schiffspanzer, ihrer Geschütze und ihrer nautisch-optischen Ausrüstungen anbelangt, einen gewissen Vorteil besessen haben. So hatte die Schlacht, im Blick auf den weiteren militärischen Verlauf des Ersten Weltkrieges einen Status-quo-Ausgang: Jede Seite konnte die Strategie weiter verfolgen, die sie bis dahin ohnehin praktizierte: Die Briten schnürten Deutschland durch die Blockade von überseeischen Zufuhren ab, die Deutschen bewahrten die Seeherrschaft in der Ostsee und sicherten damit vor allem die lebenswichtigen Erzzufuhren aus Schweden. Dieses Patt hatte allerdings eine weitere strategische Konsequenz, die das Kriegsgeschehen maßgeblich – und am Ende für Deutschland negativ – beeinflussen sollte. Im Abschlussbericht von Admiral Scheer, der die Flotte in der Schlacht geführt hatte, an den Kaiser hieß es, „(…) dass selbst der glücklichste Ausgang einer Hochseeschlacht England in diesem 49 Vgl. Michael Epkenhans, Jörg Hillmann, Frank Nägler (Hrsg.): Skagerrak-Schlacht. Vorgeschichte – Ereignis – Verarbeitung, München 2009.

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Krieg nicht zum Frieden zwingen wird (…). Ein sieghaftes Ende des Krieges in absehbarer Zeit kann nur durch Niederringen des englischen Wirtschaftslebens erreicht werden, also durch Ansetzen des Unterseebootes gegen den englischen Handel.“ 50 Kein Zweifel: Das Patt am Skagerrak forcierte die deutsche Entscheidung ca. ein halbes Jahr später, zum unbeschränkten U-Bootkrieg überzugehen – und machte damit zugleich den Kriegseintritt der USA und die Herbeiführung eines tatsächlich vollständigen Weltkrieges wahrscheinlich, wenn nicht unvermeidlich. Aber schon knapp zwei Monate nach dem Bericht des deutschen Flottenchefs an den Kaiser beschloss die amerikanische Seite einen Schritt zu unternehmen, mit dem sie sich anschickte, das bis dahin geltende weltpolitische Gefüge aus den Angeln zu heben – und dies, ohne überhaupt bereits selbst kriegführende Partei zu sein. Präsident Wilson, sein Image als friedliebend-universalistisch ist im Kern bis heute ungebrochen, setzte die Verabschiedung einer Marinevorlage am 29. August 1916 durch, in deren Ergebnis die Vereinigten Staaten über die stärkste Flotte überhaupt verfügen sollten – in den Worten der amerikanischen Führung „a Navy second to none“.51 Seit dem Spanischen Erbfolgekrieg, bekräftigt durch den Ausgang der Napoleonischen Kriege, war die britische Navy die Dominante auf den Weltmeeren gewesen, über die längste Zeit mit dem Anspruch, stärker sein zu müssen, als die beiden nächstfolgenden Flotten zusammen, um zur See gegen jede Konstellation gewappnet zu sein. Deutschland hatte seit der vorletzten Jahrhundertwende diesen Anspruch in Frage gestellt, aber nun zeigte sich, dass dies eine sehr moderate Herausforderung gewesen war, verglichen mit der neuen Herausforderung von jenseits des Atlantiks, hinter der das mit Abstand stärkste Wirtschaftspotential stand. So wurde, mitten im Ersten Weltkrieg, die Voraussetzung für eine globalstrategische Gewichtsverlagerung weit über die Konstellation des Konfliktes auf den Schlachtfeldern in Europa hinaus geschaffen. In längerfristiger Perspektive hieß dies: Am Skagerrak hatten sich die nominell noch stärksten Flotten beschossen, tatsächlich aber waren sie beide schon, sofern sie den Krieg überlebten – die deutsche sollte sich drei Jahre später vor der schottischen Küste dann ja selbst versenken –, zur Zweitrangigkeit verurteilt. Nun trat Großbritannien die Rolle der Flügel- und Weltmacht an die USA ab. Freilich vollzog sich dieser Prozess deutlich anders als etwa die Hegemonialkon50 Immediatbericht des Kommandos der Hochseestreitkräfte über die Seeschlacht vor dem Skagerrak vom 5. Juli 1916, Dok. Nr. 2 in: Ebd., S. 205–214, hier S. 213f. 51 Zit. nach Elmar B. Potter, Chester W. Nimitz: Seemacht: Eine Seekriegsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, erweiterte deutsche Fassung, Herrsching 1982, S.435.

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flikte mit dem napoleonischen Frankreich und ein Jahrhundert später mit dem kaiserlichen Deutschland, nämlich friedlich und allmählich, er war sozusagen pazifiziert, sublimiert und durch die kulturelle Nähe zwischen Briten und USAmerikanern vor der Eskalation in eine blutige Konfrontation geschützt. Seinen symbolhaften Abschluss fand er 40 Jahre nach der Schlacht am Skagerrak wie nach der amerikanischen Entscheidung, eine dominante Flotte zu bauen, mit dem fehlgeschlagenen britischen und französischen Abenteuer im Herbst 1956 am Suezkanal gegen dessen Verstaatlichung durch das Ägypten von Gamal Abdel Nasser. Unter dem Druck der wirklichen Weltmächte, der gegnerischen Sowjetunion wie der befreundeten USA, mussten London und Paris diese Intervention abbrechen – und damit enthüllte sich schonungslos, dass es keine eigenständige binneneuropäische Großmacht mehr gab. Für Großbritannien waren die USA zunächst beides, auf Dauer überlegener Gegenspieler und zugleich doch dringend nachgefragter Partner in einem Konflikt, der ohne amerikanische Hilfe vermutlich gar nicht zu gewinnen war. Das amerikanische Flottenbauprogramm vom August 1916 war während des Krieges nicht recht in Gang gekommen, nicht weil die USA technisch oder finanziell nicht in der Lage dazu gewesen wären, sondern weil sich nach ihrem Kriegseintritt gegen Deutschland ein dreiviertel Jahr später zunächst die Prioritäten verschoben: Jetzt mussten mit Vorrang Zerstörer und Handelsschiffe gebaut werden, um den Verkehr über den Atlantik zu sichern. Und zunächst einmal musste, zeitgleich parallel, das amerikanische Publikum für den Krieg in Europa gegen das deutsche Kaiserreich erst einmal scharf gemacht werden. Zwischen PreußenDeutschland und den USA hatte es in der Vergangenheit einige koloniale Zwistigkeiten im pazifischen Raum und mancherlei ganz natürliche Handelskonkurrenz gegeben. Aber die strukturellen Gegensätze waren doch bei weitem nicht mit denen zwischen Deutschland und Großbritannien vergleichbar. Nie hatte es bis dahin in den Vereinigten Staaten eine spürbare Tendenz gegeben, auf dem alten Kontinent zu intervenieren – schließlich waren die Angehörigen dieser konstitutiven Einwanderernation in ihrer großen Mehrheit ja überaus froh, die Probleme und gesellschaftlichen Schranken des alten Kontinents hinter sich gelassen zu haben. Um das amerikanische Staatsvolk mit seinem dazu noch stattlichen Anteil sehr bewusster deutscher Einwanderer für den Krieg auf französischem Boden gewinnen zu können, mussten daher gegen die an­geblich brutale Autokratie des deutschen Kaiserreiches alle Ressourcen der demokratischen amerikanischen Zivilreligion mobil gemacht werden. Das hieß aber eben auch, dass der amerikanische Kriegseintritt der eigenen Nation nicht als der Anschluss an eine Bündnisallianz nach dem herkömmlichen Muster

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europäischer Kabinettsdiplomatie „verkauft“ werden durfte. Die USA nannten sich ausdrücklich assoziierte, nicht alliierte Macht, und Präsident Wilsons 14 Punkte vom 8. Januar 1918 umschlossen sehr ausdrücklich auch Festlegungen, die sich gegen die imperialen Interessen Frankreichs und Großbritanniens richteten. Man kann es auch so sagen: Der ideologisch überschießende Kriegseintritt der USA konfrontierte die Verantwortlichen in Washington mit großen Legitimationserfordernissen für ihre Politik. Er zwang sie geradezu dazu, mit hartnäckiger Prinzipienfestigkeit ihre Politik des „to make the world safe for democracy“ und eines „open-door“ -Außenhandels gegen die Grundsätze von Pragmatik und hergebrachter Vernunftdiplomatie aufrecht zu erhalten. Das richtete sich nach dem Ende der Kampfhandlungen und trotz des Regimewechsels in Deutschland weiterhin gegen die in Berlin Verantwortlichen: „Teils aus Rücksicht auf seine europäischen Verbündeten, teils aus eigener Überzeugung zeigte Wilson auch keinerlei Bereitschaft, den Deutschen entgegenzukommen, weil diese sich zu demokratischen Werten bekehrt hatten. Das Junktim, das er während des Krieges zwischen einer Demokratisierung Deutschlands und dessen Gleichbehandlung beim Friedensschluss hergestellt hatte, ignorierte er und verzichtete damit auf eine weitere amerikanische Mitwirkung bei der Schaffung einer ‚neuen‘ deutschen ‚Nation‘ im Herzen Europas.“ 52 Kein Zweifel: Diese Haltung einer prinzipiellen Aversion belastete in erheblichem Maße die Akzeptanz des gesamten Friedensprozesses in Deutschland und trug zur Verhärtung und Rechtswendung großer Teile des deutschen Bürgertums ab 1920 erheblich bei. Wie aber oft bei komplexen Prozessen kamen in der deutschen Wahrnehmung tatsächliche Abläufe und Wendungen auf der einen Seite mit Imaginationen auf der anderen zusammen: Denn die Reichsleitung hatte im Herbst 1918, um den Grad der Niederlage zu verschleiern und die Möglichkeit von so etwas wie einem Kompromissfrieden bzw. einer doch nur sehr sanften Niederlage zu suggerieren, den Eindruck vermittelt, Wilsons 14 Punkte seien geradezu eine rechtsverbindliche Grundlage für den künftigen Friedensschluss – dazu noch in der jeweils günstigen deutschen Interpretation –, Wilson sei daher kaum mehr der Vertreter einer kriegführenden Macht und eher so etwas wie ein kosmopolitischer Schiedsrichter, der die Dinge in Europa nun schon zum Guten wenden werde. Die Strategie der deutschen Friedensdelegation in Versailles unter Außenminister Graf Brockdorff-Rantzau war ganz auf diese Rückhalteposition der 14 Punkte Wilsons gebaut – und damit, wie sich zeigen sollte, auf eine gefährlich trügerische Grundlage. 52 Schwabe, Weltmacht und Weltordnung, S. 67.

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Die demokratische amerikanische Zivilreligion mit ihrem auf einmal universalen Anspruch wie die ökonomische open-door-Politik richteten sich aber prinzipiell weit radikaler gegen die europäischen Siegermächte Großbritannien und Frankreich als gegen das Deutsche Reich. Letzteres war ohnehin darauf zurückverwiesen, möglichst ohne Einbußen auf dem europäischen Kontinent davon zukommen, von einer durch Seemacht gestützten Weltpolitik konnte soweit absehbar keine Rede mehr sein. Anders aber Großbritannien und Frankreich: Sie waren bestrebt, ihre kolonialen Imperien mit deutscher wie mit osmanisch-türkischer Beute weiter zu arrondieren und hatten längst entsprechende Absprachen getroffen. Und gerade ökonomisch und finanziell geschwächt, wie sie durch die Kriegsanstrengungen waren, war ihnen tatsächlich an einer weltweiten Handelspolitik ohne Präferenzen und Restriktionen nicht sehr gelegen. Insofern richteten sich die 14 Punkte Wilsons und parallel dazu die maritime amerikanische Rüstungspolitik insbesondere gegen Großbritannien, das über das bei weitem größte überseeische Imperium verfügte. Im zweiten von Wilsons 14 Punkten hieß es: „Absolute Freiheit der Schifffahrt auf den Meeren außerhalb der Hoheitsgewässer in Frieden und Krieg, ausgenommen, wenn die Meere ganz oder teilweise gesperrt werden durch eine internationale Aktion zur Durchsetzung internationaler Verträge.“ Und nach dem Abschluss der Feindseligkeiten gingen die USA daran, ihr ursprüngliches Flottenprogramm vom August 1916, nochmals erweitert, zu verwirklichen. Damit wurde die Lage für Großbritannien aus mehreren Gründen misslich, ja bedrohlich: Einmal war das Land durch den Krieg finanziell enorm geschwächt, und wenn, wie nach aufwändigen Kriegen üblich, jetzt ein politisches Investitionserfordernis bestand, dann nicht in militärische Rüstungen, sondern in Sozialpolitik. Immerhin waren die jetzt beginnenden zwanziger Jahre auch die Epoche in Großbritannien, in der die sozialistische Labour-Partei die Liberalen als zweite große politische Formation, neben den Konservativen, verdrängte – mit der Priorisierung einer klassischen, teuren Wohlfahrtspolitik. Zum zweiten musste, selbst wenn die USA quantitativ nur den Gleichstand mit der britischen Flotte erreichten – tatsächlich schienen sie zunächst darüber hinweg gehen zu wollen –, dies tatsächlich ein Minus für die britische Flotte bedeuten: Denn die Zahl der strategischen Zonen, in denen sie präsent zu sein hatte, in der Nordsee, im Kanal, im Mittelmeer, zur Deckung Indiens und in Ostasien, war viel größer als die der amerikanischen Schlüsselzonen. Anders formuliert: Strategisch war die Insellage der USA um vieles gesicherter als die der britischen Inseln. Am Ende lief es auf einen Kompromiss hinaus, das Washingtoner Flottenabkommen von 1922 unter den Seemächten, die noch zählten, Deutschland

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und Russland bzw. Sowjetrussland waren als maritime Mächte einstweilen ja nicht mehr vorhanden. Zwischen den drei Großen, Großbritannien, den USA und Japan, legte es bei den großen Einheiten, Schlachtschiffen und Schlachtkreuzern, ein Verhältnis von 5:5:3 und unter Einbezug Frankreichs und Italiens zu jeweils 1,75 fest. Die Gewinner waren die USA: Erstmals seit Jahrhunderten hatte Großbritannien den maritimen Gleichstand einer anderen Macht konzedieren müssen. Japan, der Newcomer unter den Großmächten, fühlte sich diskriminiert und die darauf gründende, nun einsetzende Entfremdung gehört in gewisser Weise schon in die Vorgeschichte des pazifischen Teils des Zweiten Weltkrieges, von 1941–1945. Für und in Deutschland spielte das Washingtoner Abkommen naturgemäß keine Rolle. Seine Flotte lag seit ihrer heroisch inszenierten Selbstversenkung am 21. Juni 1919 vor der schottischen Küste auf dem Grund der Nordsee, für die Reichsmarine dampften einstweilen nur noch einige alte Panzerschiffe, gebaut in den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts und schon bei der Schlacht am Skagerrak zum alten Eisen zählend. Deutschland war, wenn man so will, zunächst nur mittelbar vom Washingtoner Abkommen betroffen, nämlich insofern als dieses Abkommen auch so etwas wie ein Frühindikator für eine spätere Marginalisierung Europas insgesamt war. Der erste Friedensschluss zur Beendigung des Ersten Weltkrieges war der Vertrag von Brest-Litowsk zwischen den Mittelmächten und dem bolschewistischen Russland vom 3. März 1918, also knapp drei Wochen, bevor Deutschland an der Westfront das Risiko einging, mit militärischen Mitteln eine politisch aussichtslos anmutende Lage doch noch zum Günstigen zu wenden. Brest-Litowsk hat bis heute bei den Historikern keine gute Presse, es gibt so etwas wie einen common sense, dass es sich hier um den Höhepunkt des deutschen Imperialismus vor dem Anbruch der NS-Diktatur gehandelt habe. Wer so argumentiert, der hat auch gute Gründe: Denn der Friedensvertrag von Brest-Litowsk hatte zum Ergebnis, dass Russland in Europa seine Gebietserwerbungen aus der Ära Peters des Großen wie Katharinas der Großen weitgehend einbüßte, also aus den Anfängen des 18. Jahrhunderts wie aus dessen zweiter Hälfte, darunter vor allem, wenn sie diesen Weg bestreiten konnte, eine Verselbstständigung der Ukraine. Was die tatsächliche oder vermeintliche imperiale Vergewaltigung Russlands anbelangt, muss man noch hinzufügen, dass Deutschland zwar der dominante, aber keineswegs der einzige Vertragspartner war. Zum deutschen Imperialismus kam der des selbst schon dem Untergang entgegen taumelnden osmanisch-türkischen Reiches, in der Kaukasusregion wie in Mittelasien. Hier überschnitten sich am Ende sogar die deutschen und

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die türkischen Interessenssphären. Hätte Deutschland, so lässt sich kontrafaktisch mit einiger Plausibilität argumentieren, im Westen zumindest ein Remis gehalten, dann hätte sich ihm über den Vertrag von Brest-Litowsk die Chance auf ein großes „informal Empire“ in Mittel- und Osteuropa geboten. Insbesondere auf der Seite der deutschen Militärs, die mit am Vertragstisch saßen oder von der Obersten Heeresleitung delegiert wurden, gab es sehr weit gespannte Pläne, die auf deutsche Besiedlungsräume wie Rohstoffquellen zielten – und die damit ganz unbestreitbar in manchen Zügen den Ostimperialismus des späteren NS-Regimes vorwegnahmen. Die deutsche Verhandlungsstrategie segelte unter der Fahne der Selbstbestimmung für die aus dem russischen Imperium zu lösenden Völker und Regionen. Das war unbestreitbar Propaganda, einmal um im Inneren die Reichstagsmehrheit einzubinden, zum anderen aber auch nicht zuletzt gegenüber der amerikanischen Politik. Aber diese Argumentationslinie entbehrte zugleich nicht der Plausibilität, ja der sachlichen Berechtigung: Der gesamte Staatenbogen von der Ostsee, beginnend mit Finnland, bis zum Schwarzen Meer drängte unbestreitbar auf Emanzipation und Verselbstständigung von russischer Vorherrschaft, sei sie nun zaristischer oder bolschewistischer Provenienz. Am entschiedensten galt das für Finnland, das gut ein Jahrhundert zuvor von Zar Alexander I annektiert worden war und nun ganz auf deutsche militärische Unterstützung setzte, aber auch für die baltischen Ländern und nicht zuletzt für den großen Sonderfall Polen. Peter Graf Kielmannsegg bringt in seinem Standardwerk über Deutschland und den Ersten Weltkrieg die Ambivalenzen des Vertrags von Brest-Litowsk sehr zutreffend auf den Punkt: „Der Gedanke des Selbstbestimmungsrechtes war kein bloßes Feigenblatt (…). Natürlich handelte Deutschland, wenn es die Rückkehr Russlands in die westlichen Randzonen des alten Zarenreiches von Finnland bis zum Schwarzen Meer verhinderte, nicht altruistisch, sondern mit dem doppelten Ziel, die eigene Sicherheit dadurch zu erhöhen, dass der mächtige Nachbar nach Osten abgedrängt wurde, und darüber hinaus den ostmitteleuropäischen Raum dem eigenen Einfluss zu öffnen. (…) Aber da Deutschland die Rolle des Zarenreiches in diesem Raum weder übernehmen konnte noch übernehmen wollte, lässt sich doch nicht leugnen, dass die Interessen Deutschlands und die der ostmitteleuropäischen Nationalitäten bis zu einem gewissen Punkt miteinander verbunden waren; dass das Selbstbestimmungsprinzip objektiv zu Gunsten Deutschlands wirkte und dass es deshalb im Munde der deutschen Regierung niemals ein bloßes Scheinargument gewesen ist.“ 53 Polen, über das 53 Peter Graf Kielmannsegg: Deutschland und der Erste Weltkrieg, Stuttgart², S. 605.

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im Zusammenhang mit der Versailler Ordnung und ihren Konsequenzen noch ausführlicher zu sprechen sein wird, Polen war insofern der große Sonderfall, als seine Nichtstaatlichkeit, zwischen den drei östlichen Großmächten zuletzt auf dem Wiener Kongress vereinbart, so etwas wie eine gemeinsame preußisch-deutsche und russische Räson darstellte. Wäre es irgendwann zu einem Sonderfrieden zwischen Russland und den Mittelmächten oder auch zu einem allgemeinen Kompromissfrieden gekommen, dann hätte sich an diesem Zustand zweifellos nichts geändert. Allenfalls wäre es zu geringfügigen territorialen Verschiebungen gekommen. Mit der Proklamation eines künftigen polnischen Staates am 5. November 1916 hatten Deutschland und Österreich-Ungarn zugleich, und das war die eigentliche politische Botschaft, zum Ausdruck gebracht, dass sie an ein solches Arrangement nicht mehr glaubten. Was diese polnische Unabhängigkeit unter Vormundschaft der Mittelmächte tatsächlich bedeuten konnte und sollte, blieb bis zum Kriegsende weitgehend ungeklärt – sollte der Gebietsstand des zaristischen Kongresspolens noch weiter beschnitten werden, sollte in Warschau, mit welchem Thronprätendenten auch immer, der Wiener oder Berliner Einfluss überwiegen, das alles blieb nicht nur ungeklärt. Vielmehr musste eine derartige Vormundschaftslösung für das polnische Nationalinteresse auch zunehmend unattraktiv erscheinen – zudem hatte Präsident Wilson in den 14 Punkten vom 8. Januar 1918 ja auch anklingen lassen, dass es ihm um ein wirklich selbstständiges und territorial lebensfähiges Polen mit eigenem Ostseezugang ging. Aber wie auch immer, klar war schon knapp ein Jahr vor Kriegsende, dass es das alte russische Imperium in Ostmitteleuropa nicht mehr geben werde. Wer die heutige europäische Landkarte, gut zwei Jahrzehnte nach dem Ende der Sowjetunion, studiert, wird zugleich zu dem verblüffenden Ergebnis gelangen, dass die Grenzziehungen unserer Gegenwart im östlichen Europa denen, die der Vertrag von Brest-Litowsk gezeichnet hatte, erstaunlich nahekommen. Mit wenigen Ausnahmen – die Ukraine ragt heute einschließlich der ihr in der Chruschtschow-Zeit zugeschanzten Krim geradezu ins russische Kernland hinein – gilt dieser Befund von der Ostsee zum Schwarzen Meer. Das heißt nicht nur, dass das heutige Russland die zwischenzeitliche imperialistische Beute aus der Stalin-Zeit weitestgehend wieder verloren hat, darunter an erster Stelle die baltischen Staaten und das östliche Polen. Ein wenig ironisch ließe sich somit hinzufügen: Die von den Mittelmächten vertretene Selbstbestimmungsformel bei den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk wurde neu verbrieft, als sich mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion unversehens die Möglichkeit ergab, entweder das bisherige sowjetische Territorium zu verlassen wie die baltischen Staaten und die Ukraine oder das sowjetische Bündnis- und Machtsystem wie

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Polen. Eine solche Form der Bekräftigung hätten sich die deutschen Diplomaten und Militärs, die Ende 1917 und Anfang 1918 mit dem Bolschewiki unterhandelten, gewiss nicht träumen lassen. Ein weiteres kommt hinzu: In Brest-Litowsk wurde verhandelt, wenn es auch gar keinen Zweifel geben kann, dass dies kein symmetrisches Verhandeln war. Beide Seiten hatten, jede mit propagandistisch-taktischen Hintergedanken, diese Verhandlungen für einige Wochen ausgesetzt, um den Westmächten Gelegenheit zu geben, sich zu einem umfassenden Friedenskongress dazu zu gesellen. Als diese Frist, naturgemäß ergebnislos, am 5. Januar 1918 verstrichen war, wurde die russisch-bolschewistische Delegation von einer ihrer zentralen Führungsfiguren, von Leo Trotzki, geführt. Trotzki, der, im Gegensatz zu Lenin, den vorliegenden Vertragsentwurf nicht akzeptieren mochte, griff am 10. Februar 1918 zu einem Trick, der die professionellen deutschen Diplomaten und Militärs überraschte und verblüffte: Er erklärte für die russische Seite einseitig den Kriegszustand für beendet, weitere Verhandlungen würden nicht geführt werden. Zwei Wochen später, am 19. Februar 1918, nahm das deutsche Ostheer seinen Vormarsch wieder auf, Trotzki hatte ihm das nicht mehr zugetraut. Unter dem Druck dieses ziemlich gewaltfreien Eisenbahnfeldzuges gab die Mehrheit im bolschewistischen Zentralkomitee dann schließlich doch nach – und es kam zur Vertragsunterzeichnung am 3. März 1918. Natürlich lässt sich argumentieren, dass diese Vertragsunterzeichnung militärisch erpresst wurde. Ganz ähnlich gedachten die Alliierten eineinhalb Jahre später für den Fall vorzugehen, dass Deutschland sich weigerte, den Versailler Vertrag zu ratifizieren – und ebenso ganz ähnlich gab es dann auf deutscher Seite, wie zeitweilig unter der bolschewistischen Führung, Erwartungen, ja Hoffnungen, die Alliierten brächten nach Eintritt des Waffenstillstandes nicht mehr die militärische Entschlossenheit auf, Deutschland zwischen Süd und Nord entlang der Mainlinie militärisch zu trennen oder bis zur Weser und gegebenenfalls bis Berlin vorzudringen. Gleichwohl: Was die Herbeiführung des Friedens von Brest-Litowsk von der des Friedens von Versailles unterschied, war die Tatsache, dass zwischen den Kriegsparteien immerhin intensiv verhandelt worden war. Das aber war gewissermaßen der Minimalstandard in der europäischen Geschichte, ohne den man sich Friedensanbahnungen gar nicht vorzustellen vermochte. Versailles sollte hier zur großen Abweichung von der Regel werden. Schon mit dem Waffenstillstandsvertrag vom 11. November 1918 musste Deutschland auf den Vertrag von Brest-Litowsk Verzicht leisten. Die Ironie des Ganzen lag freilich darin, dass er de facto sehr weitgehend doch maßgebend blieb. Und dass dieser gesamte Vertragsprozess bezüglich der Ukraine

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(und analog der Kaukasusregion) schließlich doch revidiert wurde, lag gewiss nicht an den betroffenen Völkern selbst, sondern am immer stärker werdenden bolschewistisch-sowjetischen Imperialismus, der diese Gebiete schließlich wieder in das russische Imperium zwang, von Tiflis bis Kiew.

Die Pariser Vorortverträge

Die Siegerkoalition schloss mit Deutschland und seinen ehemaligen Verbündeten insgesamt fünf Verträge, für das nicht mehr bestehende Österreich-Ungarn mussten die verbliebenen kleinen Kernstaaten Österreich und Ungarn getrennt voneinander Haftung und Stigma übernehmen. Am 28. Juni 1919 wurde der Friedensvertrag mit dem Deutschen Reich in Versailles unterzeichnet, am 10. September der mit Österreich in Saint-Germain, am 27. November in Neuilly der mit Bulgarien, am 4. Juni 1920 in Trianon der mit Ungarn und am 10. Juni 1920 in Sevres der mit der Türkei. Alle fünf Staaten empfanden die Verträge als übermäßig hart, und alle fünf haben Revisionspolitik betrieben, einer von ihnen, Ungarn, zumindest im kulturellen und identitären Sinne bis heute – im Blick auf die ungarischen Volksgruppen in Rumänien und in der Slowakei. Insofern war das Deutschland der Weimarer Republik mit seiner durchgängigen Revisionspolitik keine Ausnahme, aber es war, und das machte das überlebende Deutsche Reich zum Unikat in diesem Friedensprozess, der zentrale strategische Kontrahent oder Partner, auf den es ankam. Der zweitwichtigste Faktor auf der Seite der Verlierer war die Türkei, denn sie erstreckte sich von den Meerengen zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer bis zu den geostrategisch sensiblen Zonen mit arabischer Bevölkerung im Zweistromland. Und die Türkei, bzw. das Osmanische Reich war, bei allen Kriegsgräueln anderer Mächte, zugleich der wohl einzig kriegführende Staat gewesen, der sich eines veritablen Völkermordes schuldig gemacht hatte, des Armenier-Genozides in den Jahren 1915 und 1916, dem bis zu eineinhalb Millionen Menschen zum Opfer gefallen waren. Die Türkei war aber auch in anderer Hinsicht Unikat: Sie war der einzige Akteur auf der Seite der Kriegsverlierer, dem ein zeitnaher, umfassender und auf Dauer erfolgreicher Revisionsprozess gelang. Zum einen war das bolschewistische Russland eben nicht mehr jener Vertragspartner der Alliierten wie das untergegangene zaristische Imperium – im Gegenteil wurde es als eine potentielle Bedrohung gesehen, die man möglichst vom Mittelmeer fernhalten musste. Zum anderen fehlte mit dem Zarismus nun auch der klassische Schutzherr für die orthodoxen wie die armenischen Christen im Osmanischen Reich. Zu diesen exogenen Veränderungen kamen endogene: Unter Kemal Pascha, dann Kemal Atatürk, war schon seit 1919 der fundamentale Umbau des Staatswesens in einen türkischen Nationalstaat in Gang gekommen. Damit gingen aber auch alle muslimisch-imperialen Ansprüche aus der alten

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imperialen osmanischen Tradition verloren. Und weil die Alliierten das strategische Interesse daran verloren hatten, den klassischen türkischen Widerpart, Griechenland, im Ägäisraum und auf anatolischem Boden expandieren zu lassen, versagten sie nun auch Griechenland immer mehr die Unterstützung bei dessen Versuch, in der Tradition großgriechischer Vorstellungen die Gegenküste und Teile des anatolischen Hinterlandes zu gewinnen. In diesem Nachfolgekrieg zum großen Ersten Weltkrieg obsiegten am Ende die Türken, und entrissen schließlich am 9. September 1922 den Griechen Izmir bzw. Smyrna und dies unter höchst blutig-symbolhaften Umständen: An die 150.000 Griechen wurden über das Meer evakuiert, ca. 10.000 kamen in Izmir ums Leben oder wurden ins Innere der Türkei verschleppt. Im Anschluss daran kam es zu jenem Bevölkerungsaustausch zwischen beiden Ländern, der gerne als Beispiel und Vorbild für die so viel größer dimensionierten Prozesse von Flucht und Vertreibung ab der Spätphase des Zweiten Weltkrieges angesehen wird. Im Folgejahr, 1923, wurde in Lausanne zwischen der Türkei und den Siegern ein neues Friedensabkommen auf der Grundlage des status quo unterzeichnet, der mittlerweile in diesem Raum erreicht war. Und die am Ende moderate Friedensregelung für den neuen türkischen Nationalstaat hat sich für die Westmächte durchaus „gerechnet“: Trotz vielfachen deutschen Werbens trat die Türkei nicht auf der Seite Deutschlands und Italiens in den Zweiten Weltkrieg ein, und nach dem Zweiten Weltkrieg bewährte sie sich im Kalten Krieg als strategisch wichtiger Partner der amerikanischen Führungsmacht in der NATO. Schon beim Ausbruch des Kalten Krieges 1946/47, darauf wurde schon hingewiesen, hatte diese Konstellation eine wichtige Rolle gespielt: Stalin bedrängte die Türkei, nun ganz in der imperialen Tradition des Zarenreiches, der Sowjetunion Stützpunkte an den Meerengen zu überlassen. Dies ließ naturgemäß in London die Alarmglocken schrillen: Denn mit Ausnahme der kurzfristigen Annäherung Großbritanniens an das Zarenreich im letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg hatte man es in London stets als erstrangige Notwendigkeit gesehen, Russland vom Mittelmeer fernzuhalten. Da aber Großbritannien, durch beide Weltkriege erschöpft, nicht mehr als gleichgewichtiger Kontrahent der Sowjetunion auftreten konnte, übernahmen die USA die Funktion des Garanten der Stabilität im östlichen Mittelmeer. Sie verlegten ihre 6. Flotte dorthin. Das sowjetische Verlangen nach Stützpunkten an den Meerengen und nach territorialen Gewinnen im Vorland des Kaukasus motivierte Präsident Truman zur „containment“-Politik, eine Politik der Eindämmung oder, um es einfach zu sagen: bis hierher und nicht weiter.

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Die größten Einbußen unter den Verlierern des Ersten Weltkrieges erlitt Ungarn: Vom beherrschenden Faktor in der östlichen Hälfte der Donaumonarchie, damit so etwas wie eine europäische Halbgroßmacht, wurde es auf einen Staat in der geographischen Größe Bayerns reduziert. Anders formuliert: Die Ungarn umgebende Länderkonfiguration konnte nun ihre sämtlichen revisionistischen Bedürfnisse befriedigen, Rumänien erhielt Siebenbürgen, die Slowakei, das frühere so genannte Oberungarn, ging in einem der neuen Lieblingspartner Frankreichs auf, der Tschechoslowakei, ähnlich verhielt es sich mit Kroatien, das Bestandteil des neuen südslawischen Gesamtstaates, des SHS-Staates wurde, des ab 1929 sogenannten Jugoslawiens. Auch Ungarn war am Ende territorialrevisionistisch erfolgreich, aber auf eine fatale Weise, die es schließlich in einen katastrophalen zweiten Untergang hinein riss: Als autoritärer Staat an der Seite NS-Deutschlands machte Ungarn von 1938–1941 eine ganze Reihe von „windfall-profits“ – es war zunächst Nutznießer der Zerschlagung der Tschechoslowakei: Im Zusammenhang mit dem Münchener Abkommen, das die sudetendeutschen Randzonen Böhmens und Mährens dem Deutschen Reich übereignete, erhielt es kurz darauf nach dem ersten Wiener Schiedsspruch den südlichen Teil der Slowakei und besetzte im Folgejahr 1939, als Hitler die so genannte „Rest-Tschechei“ zerschlagen ließ, die Karpato-Ukraine. Im zweiten Wiener Schiedsspruch von 1940 gewann es auf Kosten Rumäniens Siebenbürgen weitgehend zurück – beide waren inzwischen Partner Deutschlands und des faschistischen Italiens, und zuletzt profitierte es von der Niederwerfung Jugoslawiens (und Griechenlands) durch den deutschen Frühjahrsfeldzug vom April 1941, indem es jetzt die Wojwodina und einen kleinen Teil Kroatiens annektierte. Aber für diese flüchtigen Gewinne musste Ungarn einen brutalen Preis bezahlen: zunächst einmal durch die hohen Verluste als Partner NS-Deutschlands bei dessen Russlandfeldzug, sodann hineingezogen in den Untergang des kurzzeitigen deutschen Imperiums; im Frühjahr 1944 besetzt, um angesichts der Kriegswende seine Loyalität zu sichern, erfolgte nun die Ingangsetzung des Holocausts auch an den ungarischen Juden54, und schließlich schloss sich im Herbst 1944 die Entmachtung des bisherigen Horthy-Regimes durch den Staatsstreich der faschistisch-mörderischen Pfeilkreuzler-Bewegung an. Von den territorialen Gewinnen als Partner Deutschlands blieb 1945 kein Quadratmeter übrig, aber die Zeit der ungarischen Traumata ging über das Kriegsende unvermindert weiter, mit dem Übergang zu einer stalinistischen Diktatur und der 54 Vgl. Christian Gerlach, Götz Aly: Das letzte Kapitel. Der Mord an den ungarischen Juden 1944–1945, Stuttgart, München 2002.

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Niederwerfung des Volksaufstandes von 1956 durch die Panzer der Roten Armee auf den Straßen Budapests. Vielleicht kann man es auch so sagen: Ungarn hat, wie vermutlich kein anderer europäischer Staat neben Deutschland, die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts mit ihren Verführungen, Verirrungen und Traumatisierungen am intensivsten erfahren. Ein weiterer Sonderfall war schließlich Österreich: Denn Österreich war jener Staat, der durch seinen Friedensvertrag gezwungen wurde, fortzubestehen, obwohl er dies eigentlich gar nicht wollte. Österreich, sich bei Kriegsende Deutsch-Österreich nennend, sah mit dem Untergang der Donaumonarchie Legitimation und Zweck wie Sinnhaftigkeit einer Parallelexistenz neben Deutschland nicht mehr gegeben. Aus dieser Perspektive erschien die Ausgrenzung Österreichs, allerdings auch der böhmischen Länder, aus dem deutschen Kontext durch die Niederlage im Krieg gegen Preußen 1866 als eine Episode der deutschen beziehungsweise der mitteleuropäischen Geschichte. Die Dynastien waren verschwunden, nun galt das Selbstbestimmungsrecht als die bestimmende Formel, die ökonomischen Grundlagen für eine Eigenexistenz fehlten oder schienen doch zu fehlen. Folgerichtig hieß es schon im Art. 2 des vom Österreichischen Staatsrat unter dem ersten österreichischen Bundeskanzler Karl Renner, einem Sozialisten, vorgelegten Gesetzentwurfes zur Ausrufung der Republik Deutsch-Österreich: „Deutsch-Österreich ist ein Bestandteil der deutschen Republik…“ und wenige Monate später, am 2. März 1919, unterzeichneten der deutsche Außenminister Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau und der österreichischer Außenminister Otto Bauer, letzterer gleichfalls Sozialist und das eigentliche ideologische Oberhaupt des sogenannten Austromarxismus, ein geheimes Protokoll. In seinem Paragraphen 1 hieß es: „Die deutsche Reichsregierung und die deutsch-österreichische Regierung sind übereingekommen, mit tunlichster Beschleunigung über den Zusammenschluss des Deutschen Reiches und Deutsch-Österreichs einen Staatsvertrag abzuschließen…“ Österreich sollte im Verband der Weimarer Republik so etwas wie ein Land mit einem Sonderstatus werden, in gewisser Weise vergleichbar mit dem Königreich Bayern im Bismarck-Reich seit 1871, mit eigenen Gesandtschaften im Ausland und mit Sonderregelungen für Armee, Eisenbahn, Post- und Telegrafiewesen wie Zollverwaltung und schließlich mit dem Status Wiens als einer zweiten deutschen Hauptstadt, in der Reichspräsident und Reichstag jeweils befristet residieren bzw. amtieren sollten. Kein Zweifel: Der Impuls zur Realisierung des großdeutschen Programms, das hieß territorial zur Fortsetzung des alten Deutschen Bundes, der 1866 untergegangen war, ging 1918/19 überwiegend nicht von Deutschland, sondern

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von Österreich aus – wenn es auch in Deutschland damals für die Gründung einer demokratischen großdeutschen Republik prominente Fürsprecher gab, mit dem Reichspräsidenten Friedrich Ebert an erster Stelle. Im Kern ging es um die Rückkehr zur Verwirklichung des liberal-demokratischen großdeutschen Programms aus der Revolution von 1848 und um so etwas wie ein heilendes Surrogat für die Niederlage, die Deutschland und Österreich im Ersten Weltkrieg erlitten hatten. Zunächst einmal scheiterte die Verwirklichung des Zusammenschlusses Deutschlands und Österreichs nach dem Ende des Ersten Weltkrieges an den Siegern, in erster Linie an Frankreich: Es wollte seine neuen Verbündeten, insbesondere die Tschechoslowakei und den neuen südslawischen Gesamtstaat, nicht dem Druck eines großen, in den europäischen Südosten hineinragenden Deutschlands aussetzen. Ähnlich war naturgemäß die italienische Interessenlage – und blieb es bis in die dreißiger Jahre: Denn die neuen imperialen Positionen Italiens, insbesondere der Erwerb Tirols bis an die Brennergrenze, schienen gefährdet, wenn dagegen nicht das revisionistische Aufbegehren des kleinen Österreichs, sondern des großen Deutschlands stand. Mussolini-Italien hat diese Position schließlich erst dann aufgegeben, als es sich mit seinem Eroberungskrieg in Abessinien seit 1935 in Konfrontation mit den Westmächten begeben hatte und damit abhängig von Deutschland geworden war. Die Frage schließlich, was das großdeutsche Wetterleuchten von 1919 für die sensible deutsch-österreichische Beziehungsgeschichte insgesamt bedeutete, wird hier in einem eigenen Kapitel weiter vertieft. Entscheidend war aber auch, wie die deutschen Eliten selbst den ganzen Friedensprozess sahen und wo sie die Schwerpunkte legten.

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Während der Zwischenkriegszeit war es in Deutschland nahezu vollständiger Konsens, dass der Versailler Vertrag, am 28. Juni 1919 unterschrieben, so etwas wie die Mutter aller Übel darstellte. Wichtig ist: Dies war eben beileibe nicht allein die Auffassung der alten Konservativen und Deutschnationalen, die jetzt ihre parteipolitische Heimat weitgehend in der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) gefunden hatten, sich teilweise aber auch rechts davon in den diversen völkischen Gruppierungen, Freikorps und Geheimbünden sammelten. Auch die Sozialdemokratie lehnte den Vertrag an sich ab, am bildkräftigsten der von ihr gestellte Reichsministerpräsident Philipp Scheidemann, der bei einer Protestversammlung in der Berliner Universität zu den geradezu klassischen Worten fand, „Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in solche Fesseln legt?“ Und der sozialdemokratische Abgeordnete Carl Giebel erklärte auf dem ersten Nachkriegskongress der Freien Gewerkschaften, der Vorfahren des heutigen DGB, am 1. Juli 1919, England trage die Hauptschuld am Krieg und „feierte die soldatische Leistung der deutschen Arbeiter als sozialistische Tat.“ 55 Am Ende akzeptierte die Sozialdemokratie den Vertrag, weil sie als Alternative den alliierten Einmarsch in Deutschland und die Zerstückelung des Reiches befürchtete, mehr nicht. Der spätere erste Bundespräsident, Theodor Heuss, 1919 aktiv in der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei, der Nachfolgerin der alten Fortschrittspartei aus den Zeiten des Kaiserreiches, war 1919 ebenso wie Friedrich Naumann und Deutschlands damals führender Sozialwissenschaftler Max Weber gegen die Akzeptanz des Vertrages – selbst auf die Gefahr eines alliierten Einmarsches ins Reichsgebiet und eines zeitweiligen Zerfalls der Reichseinheit hin.56 Auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte in Deutschland, präziser in der Bundesrepublik bis in die Mitte der sechziger Jahre, eine Deutung, die den Vertrag für in seinem Wesen inakzeptabel erklärte; er habe, auch wenn die weitestgespannten französischen Friedensziele nicht erreicht wurden, nämlich die Rheingrenze und gegebenenfalls sogar die Auflösung des Deutschen Reiches, Deutschland gänzlich unerträgliche Bedingungen auferlegt – und damit sei er selbst zum erstrangigen Belastungsfaktor 55 Zit. nach Heinrich August Winkler: Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918–1925, Berlin, Bonn² 1985,S. 215. 56 Vgl. Peter Merseburger. Theodor Heuss. Der Bürger als Präsident, München 2012, S.220.

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für die Zwischenkriegszeit und für die schließliche Verschärfung der europäischen Antagonismen geworden.57 Wie bei vielen Fragen, die die Bewertung der deutschen Geschichte betrafen, wurden auch mit Blick auf den Versailler Vertrag ab Mitte der sechziger Jahre die Zeiger in eine andere Richtung gestellt. Fast ein halbes Jahrhundert nach seinem Inkrafttreten gewann der Vertrag in der Bewertung der deutschen nun nicht mehr Politiker und Publizisten, sondern Historiker, mit einem Mal an Akzeptanz, ja manchen galt er sogar als über die Maßen entgegenkommend. Zentraler Bezugspunkt für diese umso vieles günstigere Einschätzung war im wesentlichen die Frage nach der deutschen „Schuld“ bzw. besser nach dem deutschen Anteil am Ausbruch des Ersten Weltkrieges – er wurde hier insbesondere im Blick auf Fritz Fischer und seine Schüler als weithin dominant angesehen. Der Vergleich mit dem Vertrag von Brest-Litowsk – um es etwas platt zu sagen – führte zum Ergebnis, dass der französische Ministerpräsident Clemenceau offenbar mit der deutschen Seite doch um vieles glimpflicher verfahren sei als Ludendorff mit den unterlegenen Russen und als Ludendorff, kontrafaktisch angenommen, es vor allem mit Frankreich im Falle eines deutschen Siegfriedens getan hätte. Und dass sich die Reparationsfrage irgendwann, zerrieben durch die üblichen internationalen Sachzwänge bei Finanz- und Handelskreisläufen, erledigen werde, habe man sich ohnehin denken können. Vor allem aber sei der alliierten Seite positiv anzurechnen, dass sie den deutschen Nationalstaat überhaupt habe fortbestehen lassen, das sei doch nach den Umständen von dessen antifranzösischer Proklamation am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles, nach dessen Dominanzstreben in der Vorkriegszeit und schließlich im Blick auf sein erst kurzes, noch gar nicht gefestigtes Bestehen alles andere als selbstverständlich gewesen. Mehr noch: Im Ergebnis des Vertrages sei es eben nicht zur französischen Annexion des linken Rheinufers gekommen. Und schließlich habe das fortbestehende Deutsche Reich durch den gewissermaßen asymmetrischen Kriegsausgang eine gravierende Verbesserung seiner geostrategischen Lage in Europa erreicht: Der Wegfall einer aktiv an den europäischen Entwicklungen Anteil nehmenden russischen Großmacht habe Deutschland vom Druck der Zweifrontensituation befreit, Russland sei mit der bolschewistischen Revolution wie mit den territorialen Regelungen der frühen Nachkriegszeit gewissermaßen hinter dem Horizont verschwunden, und Deutschland habe im Raum zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, sofern es 57 Beispielhaft Ludwig Zimmermann: Deutsche Außenpolitik in der Ära der Weimarer Republik, Göttingen, Berlin, Frankfurt 1958, S. 41ff.

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sich für eine friedliche und die neuen Grenzziehungen akzeptierende Außenpolitik entscheiden konnte, vielfachen neuen Spielraum gewonnen. „Die national integrierte Linke ebenso wie die Rechte in Deutschland übersah die Entwicklungsmöglichkeiten des Vertrages, die in Frankreich alsbald Kritik bei der Rechten auslösten und die deutschen Interessen begünstigten.“ 58 Auch die liberal-konservative Historiographie hat sich in jüngerer Zeit der These vom zumindest perspektivisch akzeptablen, wenn nicht sogar milden Vertrag von Versailles in bemerkenswerter Weise angeschlossen. Beispielhaft sei dafür auf das Standardwerk von Klaus Hildebrand zur Gesamtgeschichte der Außenpolitik des deutschen Nationalstaates verwiesen.59 Hildebrand zitiert zunächst eine geradezu klassische Deutung, der Vertrag habe im Ergebnis die schlechteste von drei theoretisch gegebenen Optionen verkörpert, er sei weder hart noch weich genug gewesen – denn entweder hätten die Sieger Deutschland als Nationalstaat von Gewicht und damit als potentielle Großmacht eliminieren sollen, um einem künftigen Revisionismus von vornherein jede substantielle Grundlage zu entziehen; oder sie hätten den Weg beschreiten sollen, mit dem Reich sehr viel fairer und von vornherein sehr viel eindeutiger auf Gleichberechtigung abzielend zu verfahren.60 Schon hier stellt sich die Frage, ob eine derartige Alternative nicht die Optik jener vermittelt, die im Nachhinein aus dem Rathaus kommen und alles klüger wissen, das heißt die sich der weiteren noch um vieles katastrophaleren Bilanz der deutschen und europäischen Geschichte in den Folgejahrzehnten nur zu bewusst sind. In Wirklichkeit hat sich eine solche klare Alternative den in Versailles verantwortlichen westlichen Staatsmännern vermutlich nicht gestellt, ja gar nicht stellen können: Hätten sie Deutschland mit einem sehr milden Friedensertragsentwurf konfrontiert, etwa im territorialen Bereich, im Reparationsbereich oder was den Fortbestand des deutschen Militärpotenzials anbelangte, dann hätten sie sich sehr schnell, in Frankreich wie in Großbritannien, um jeden innenpolitischen Kredit gebracht. Insbesondere 58 Artikel Versailler Vertrag von Klaus Schwabe, in: Enzyklopädie Erster Weltkrieg, hrsg. von Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz in Verbindung mit Markus Pöhlmann, Paderborn u. a. 2003, S.947, in diese Richtung auch Peter Grupp: Vom Waffenstillstand zum Versailler Vertrag. Die Außenminister und die friedenspolitischen Zielvorstellungen der deutschen Reichsführung, in: Weimarer Republik von 1918–1933. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, hrsg. von Karl Dietrich Bracher, Manfred Funke, Hans-Adolf Jacobsen, Bonn³ 1998, S. 285–302,vgl. auch den Sammelband von Gerd Krumeich (Hrsg.) in Zusammenarbeit mit Silke Fehlemann: Versailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmungen, Essen 2001. 59 Klaus Hildebrand: Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871–1945, Stuttgart 1995. 60 Ebd.,S.402.

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der britische Premier Lloyd George, der bei Kriegsende den Mund sehr voll genommen hatte, wusste, dass er sehr bald vor seinen Wählern würde bestehen müssen – und ohnehin ging in Großbritannien die Zeit seiner, der liberalen Partei als gestaltende Kraft in den Folgejahren sehr schnell zu Ende. Aber auch das schiere Gegenteil, der radikale Niederhaltungsfrieden gegenüber Deutschland bzw. dann gegenüber seinen Nachfolgestaaten, schied vor allem für die angelsächsischen Staatsmänner aus. Ein Deutschland als Nationalstaat schlicht eliminierender Friedensvertrag oder Friedensvertragsentwurf, auch noch im Nachhinein für die Interpreten gerne als Schreckgespenst ins Spiel gebracht, erscheint bei Würdigung der Umstände, die 1919 nun einmal galten, doch als sehr unrealistische Annahme, von moralischen Fragestellungen ganz abgesehen: Zum einen hätten die angelsächsischen Mächte nach ihren eigenen Interessen einen derartigen Weg nicht mit eingeschlagen: Sie brauchten Deutschland als Faktor gegen das Schreckgespenst des bolschewistischen Russlands mit seinem revolutionären Expansionsimpetus. Das neu geschaffene Polen als eine Art Limes des Abendlandes erschien ihnen viel zu wenig als eine berechenbare wie ausreichende Größe. Zum anderen konnte ein Deutschland, das es nicht mehr gab, auch keine Reparationen zahlen – und diese wurden tatsächlich ja weniger zur Wiedergutmachung der vor allem in Nordfrankreich und Belgien ent­ standenen Schäden gebraucht – teilweise waren dort ganze Landstriche verwüstet –, sondern zur Begleichung der Kriegsschulden, die die europäischen Alliierten während des Krieges bei den amerikanischen Banken aufgenommen hatten. Umgekehrt aber muss man mit Blick auf Deutschland und die hier nun Verantwortlichen feststellen, dass sie 1919 schwerlich zu einer Betrachtungsweise finden konnten, man habe doch in doppelter Weise Glück gehabt, als Nationalstaat überlebt zu haben und dazu auch noch befreit von der russisch-zaristischen Großmacht. Mit dem eigenen Staat, unter wie erschwerten Bedingungen auch immer, überhaupt davongekommen zu sein, schien weithin selbstverständlich – und das Gegenteil mutet als typisch bundesdeutsche Klugheit a posteriori an. Schließlich wird man auch, kontrafaktisch, mit gutem Grund feststellen dürfen, dass umgekehrt in den expansionistischsten Programmen der Siegfriedensanhänger in Deutschland eine Beseitigung der französischen Staatlichkeit niemals vorgesehen gewesen war, so weit reichte nicht einmal deren Phantasie. Vor dem Hintergrund der Gefühls- und Erfahrungswelten, die 1919 das politische Spektrum in Deutschland bestimmten, bis weit in die Sozialdemokratie hinein, scheint es somit denkbar abstrakt und weit hergeholt, wenn es bei Klaus Hildebrand etwa heißt: „Die Existenz derjenigen Kräfte, die Bismarck bei seinem zähen Kampf gegen den Strom der Zeit solange wie eben

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möglich von der Macht ferngehalten hatte und die inzwischen durch die klassische Parlamentarisierung der inneren Verfasstheit zur Entfaltung gelangt waren, bildete die ideale Voraussetzung für ein spezifisches außenpolitisches Handeln der jungen Republik: Anziehungskraft und Entfaltungschance nicht zuletzt in bezug auf die gärende Staatenwelt ‚Zwischeneuropas‘ konnten bevorzugt in einer republikanischen Außenpolitik Gestalt annehmen, die innere Freiheit verkörperte und äußere Macht demonstrierte, die anderen zur wirtschaftlichen Wohlfahrt gereichte und für sich selbst politischen Vorteil nahm.“ 61 Um nur einen Faktor zu nennen, auf den ohnehin noch zurückzukommen sein wird: Es war in der Konstellation des Jahres 1919 in Deutschland common sense, dass der Faktor Polen für die deutsche Außenpolitik keine positive Ge­staltungsperspektive darstellte. Vielmehr war Polen, um nur dieses, aber hier eben auch das wesentliche osteuropäische Beispiel zu benennen, in der damaligen Wahrnehmung aller Seiten in Deutschland, so wie es sich zu entwickeln anschickte, ein bedrohlicher Problemfall. Man wird das aus heutiger Sicht unverantwortlich und unreflektiert finden, man muss aber jedenfalls diese deutsche Wahrnehmungswelt des Jahres 1919 in Rechnung stellen. Den Vertrag selbst heute zu bilanzieren und zu bewerten, erscheint leicht und schwer zugleich. Leicht, weil die Fakten auf dem Tisch liegen, die Vielfalt der Regelungen, die fast alle Lebensbereiche betraf. Schwer, weil nach einem zweiten Weltkrieg mit ganz anderen Dimensionen und einem jahrzehntelangen Friedensprozess danach im Zeichen des sogenannten Kalten Krieges gar nicht so leicht zu erkennen ist, nach welchen Maßstäben dabei eigentlich vorgegangen werden sollte. Im Zeitalter heute volatiler Gesellschaften mit vielfachen Migrationen und der Fixierung auf finanzielle Macht, nicht auf territoriale Abrundungen, erscheinen die Kriterien, die 1919 zählten, oft sehr fremd. Und Rüstungsbeschränkungen entsprechen ohnehin der zivilgesellschaftlichen bundesdeutschen Ausrichtung. Anders formuliert: Die jungen Europäer von heute werden sich vielfach schwertun, zu verstehen, worüber damals, vor einem knappen Jahrhundert, eigentlich gestritten worden ist. Umgekehrt aber sollten sie der Welt ihrer Urgroßeltern zugute halten, dass es damals um Fragen ging, die sie, ihre Urgroßeltern, als wesentlich, ja als existenziell empfanden und zumeist auch empfinden mussten. Gerade wegen solch gravierender mentaler Verschiebungen sei hier ein Thema an den Anfang gestellt, bei dem es gar nicht um die materielle Bilanz des Friedensvertrages ging, sondern um die Kultur seiner Herbeiführung, nämlich das Thema „Kommunikation“. Das eigentliche 61 Ebd., S.409.

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Unikat des Versailler Friedensvertrages war ja, neben der Zuschreibung der Verantwortlichkeit für den Kriegsausbruch in Art. 231 an das Deutsche Reich, die Verweigerung von Verhandlungen zwischen Siegern und Besiegten. Als eine Begründung wird gerne genannt, die Alliierten hätten das so praktizieren müssen, damit die Deutschen nicht die Chance gewonnen hätten, von Meinungsverschiedenheiten im alliierten Lager zu profitieren. Politisch-taktisch mag es sich durchaus auch so verhalten haben; aber naturgemäß kann in diesem Argument keine formelle Begründung für die Verweigerung von Verhandlungen liegen. Und ein weiterer Widerspruch muss doch darin liegen, dass die anhaltende kommunikative Isolierung Deutschlands naturgemäß dazu geeignet war, den von den Alliierten immer wieder geforderten Demokratisierungsprozess im Land zu schwächen und zu delegitimieren. Gerade in diesem Punkt waren die vordemokratischen Staatsmänner auf dem Wiener Kongress 1814/1815 um vieles weiser gewesen und wenn man so will, waren sie auch viel mehr Risiken eingegangen: Denn der französische Vertreter Talleyrand mischte buchstäblich in jeder Hinsicht mit, er war selbstverständlicher, führender Akteur der gesamten Kongressgesellschaft, bis hinein ins Anekdotische: So ließ Talleyrand aus Paris besten französischen Brie nach Wien bringen, um die dortigen Staatsmänner von der Überlegenheit französischen Käses zu überzeugen. Und man wird noch hinzufügen müssen, dass es beim Friedensprozess von 1814 und 1815 ja nicht um die Beendigung irgendwelcher absolutistischer Kabinettskriege ging, die um wertneutrale und dynastische Interessen geführt worden wären. Auch in Wien waren kollektive Emotionen mit beteiligt, drängten militärische Heißsporne auf die Zerschlagung des unterlegenen Gegners – was 1919 der französische Marschall Foch war, war 105 Jahre früher der preußische Marschall Blücher mit seinen Generalstäblern – und schließlich waren die nationalen Identitäten im Spiel, in Italien wie vor allem in Deutschland. Natürlich hinkt ein Vergleich; obwohl auch das Revolutionszeitalter Europa verheert hatte, erschienen die vier Kriegsjahre von 1914–1918 doch als eine Zeit umfassenderer Verwüstungen und in mancherlei Hinsicht grundstürzenderer Veränderungen. Trotzdem spricht vieles dafür, dass, im Vergleich, die Kultur des Friedenschließens durch vordemokratische Staatsmänner 1814/1815 sehr viel weiter entwickelt war als jene durch demokratische Staatsmänner etwas mehr als ein Jahrhundert darauf. Der Vertrag von Versailles „Zwischen Deutschland und den Alliierten und Assoziierten Mächten“ schockiert buchstäblich auch heute noch, wenn man ihn einmal in der Buchausgabe in die Hand nimmt, durch seinen enzyklopädischen

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Charakter.62 Er wirkt so, als hätten die Verantwortlichen auf der alliierten Seite eine Art Stoffsammlung zu dem Thema betrieben, welche Gebiete des öffentlichen, aber auch des privatrechtlichen Lebens es überhaupt gebe, auf denen man dann für Deutschland nachteilige Regelungen schaffen könne. Der Vertrag brachte für Deutschland zweierlei große territoriale Einbußen, in seinem Westen wie in seinem Osten, das heißt in den Zonen, die naturgemäß ohnehin als besonders gefährdet gegolten hatten: Dass Elsass-Lothringen, die Kriegsbeute von 1871, bei einer Niederlage verloren gehen würde, lag auf der Hand, es war sogar essentieller Bestandteil der 14 Punkte Präsident Wilsons gewesen. Was es darüber hinaus im Westen gab, drückte eine Art Kompromiss unter den Siegern aus: Statt einer Abtretung des Rheinlandes dessen Besetzung auf bis zu 15 Jahre, mit der Option einer Rückkehr alliierter Besatzungstruppen auch danach, sofern Deutschland den Vertrag, nach der Interpretation der Sieger, nicht erfüllte. Hinzu kamen die Abtretung des Saargebietes und die Übertragung der Eigentumsrechte an seinen Kohlegruben an Frankreich. Das Saargebiet wurde unter Völkerbundmandat gestellt, nach 15 Jahren sollten seine Bewohner über ihre politische Zukunft entscheiden dürfen. Mit diesen Bestimmungen war Frankreich der industriellen Herzregion des Reiches, dem Ruhrgebiet, jedenfalls gefährlich nahe gerückt. Die eigentlichen territorialen Verwundungen für die weitere Zwischenkriegszeit entstanden im Osten des Reiches, zwischen Deutschland und Polen. Aus Sicht der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist es nur mehr schwer verständlich, dass die sogenannte Korridorfrage zum zentralen territorialen Streitgegenstand dieser gesamten Zeit avancierte. Denn wenn man den Gedanken des Selbstbestimmungsrechtes zu Grunde legte, dann gab es eigentlich für das Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg weit gravierendere Fragestellungen, an erster Stelle die Anschlussfrage mit Österreich, gegebenenfalls auch das Hineindrängen von über drei Millionen sogenannter Sudetendeutscher in die ungeliebte neue Staatsgründung der Tschechoslowakei. Und die Alliierten wie die polnische Seite konnten durchaus stichhaltige Argumente für sich geltend machen: Die neue polnische Westgrenze folgte weitgehend jener historischen Grenzziehung, die bis zur ersten polnischen Teilung 1772 gegolten hatte. Der Korridor war für Polen wichtig, um einen eigenen Zugang zum Meer, zur Ostsee, zu erhalten. Und in diesem, nach preußisch-deutscher Bezeichnung westpreußischen Raum lebte eine polnisch-deutsche Mischbevölkerung, wenn auch nach 62 Der Friedensvertrag zwischen Deutschland und den Alliierten und Assoziierten Mächten, im Auftrage des Auswärtigen Amtes, Charlottenburg 1919, S. 475.

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den letzten Bevölkerungserhebungen von vor dem Ersten Weltkrieg mit leichter deutscher Majorität. Aber mental ging es hier um noch ganz andere Faktoren, und das machte die Korridorfrage so überaus belastend: Zum einen ging mit der Abtretung des so genannten Korridors auch die Preisgabe der nahezu rein deutschsprachigen Ostseemetropole Danzig einher, die als sogenannte Freie Stadt mit einer ungewissen Zukunft konfrontiert wurde. Vor allem aber berührte die Korridorfrage auf enorme Weise das Thema preußisch-deutsche Identität: Die Integrität der preußischen Staatsschöpfung schien in Frage gestellt, die Existenz Ostpreußens, nun in einer Insellage, auf Dauer bedroht. Ostpreußen aber war Kernland der alten preußischen Monarchie gewesen, ohne Ostpreußen, das sich aus dem alten Ordensstaat entwickelt hatte und außerhalb der Grenzen des alten Heiligen Römischen Reiches gelegen war, hätte sich der brandenburgische Staat 1701 gar nicht den Königstitel verschaffen können. Ostpreußen war auch Ausgangspunkt der sogenannten Erhebung von 1813 auf preußischem Gebiet gegen die napoleonische Herrschaft gewesen, und Hindenburgs Siege gegen die Russen im August 1914 hatten diesen spezifischen Status der Provinz als einer preußisch-deutschen Ikone nochmals symbolhaft befestigt. Und hinter diesem Mythos standen die alten tragenden ostelbischen Schichten der preußischen Staatsschöpfung: Gutsbesitzer, Offiziere und Beamte, das Rückgrat der Monarchie. Wenn es keinen Anschluss Österreichs gab, dann sahen sie das als lutherische Preußen eher positiv, aber die Teilung des preußischen Staates durch den Korridor traf sie an denkbar empfindlicher Stelle. Ein weiterer, höchst sensibler Faktor war Oberschlesien, neben dem Ruhrgebiet das zweite große Montanrevier des Reiches. Dass es dort noch zu einer Volksabstimmung kam, war eigentlich die einzige gravierende Verbesserung, die die nur schriftlich vorgelegten deutschen Änderungsvorschläge zum Vertrag im Mai und Juni 1919 erreichten. Am Ende stimmten 59 Prozent der Befragten für den Verbleib dieser Region bei Deutschland, gut 40 Prozent für Polen. Die Folge war ein quälender Teilungsprozess, bei dem sich Frankreich auf die polnische, England und Italien auf die deutsche Seite schlugen, Dazu kam es zu schweren militärischen Auseinandersetzungen zwischen Polen und Deutschen, für die der Annaberg zum Symbol wurde. Eine „gerechte“ Teilung dieser Region war aus zwei Gründen nicht möglich: Zum einen hatte die Bevölkerung primär in den Städten für Deutschland votiert, primär auf dem Land für Polen, eine Ost-West-Abgrenzung war dabei schwerlich erkennbar. Zum anderen ging es den Parteien am Ende auch gar nicht um Menschen, sondern um Rohstoffvorkommen – und die schließlich vorgenommene, vor allem für Deutschland ungünstige Teilung ließ, wie in solchen Fällen üblich, im Kern nur Unzufriedene zurück.

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Der sogenannte Kriegsschuldartikel 231 steht im Kontext der an Deutschland zu richtenden Wiedergutmachungsansprüche – womit konkret vor allem die Zerstörungen in Belgien und Nordfrankreich gemeint waren. Diese sind in der Tat in Deutschland vielfach nicht wahrgenommen worden; hier wirkte sich eben jene Ambivalenz aus, dass Deutschland am Ende den Krieg verloren hatte, ohne dass sich die Niederlage eigentlich auf seinem Gebiet bemerkbar machte: Seit Anfang 1915 war der gravierendste feindliche Einbruch auf deutschem Territorium, in Ostpreußen, durch die sogenannte Winterschlacht an den Masurischen Seen endgültig bereinigt. Was noch blieb, waren bis zum Ende des Krieges einige französisch besetzte Dörfer im südwestlichen Elsass. Aber erst bei Fortführung des Krieges, möglicherweise erst im Jahr 1919, hätten alliierte Truppen in nennenswertem Maß deutsches Gebiet im Westen betreten. Bei Vertragsabschluss sahen sich die Alliierten noch außerstande, die Höhe der Reparationssumme zu bestimmen. Zunächst einmal wurde nur festgelegt, dass Deutschland 30 Jahre lang zahlen und vorab 20 Milliarden Goldmark überweisen sollte. Die endgültige Höhe der Reparationen wurde dann im Jahr 1921 ermittelt und bekannt gegeben. Auch mit diesen Rahmendaten war schon hinreichend klar, dass es an den Nerv der deutschen Leistungsfähigkeit gehen musste. Denn der Vertrag wie auch die schon zuvor, beim Waffenstillstandsvertrag und bei dessen Verlängerungen, getroffenen Regelungen sahen alles nur Denkbare vor, um die Stellung Deutschlands im Welthandel möglichst zu untergraben: Deutschland, das war vor allem das ursprüngliche britische Ziel, sollte möglichst als Exportfaktor aus dem internationalen Wettbewerb eliminiert werden, und gleichzeitig sollte es aus einer gar nicht mehr vorhandenen Substanz Reparationen entrichten, 132 Milliarden Goldmark, wie schließlich das Londoner Ultimatum vom 5. Mai 1921 verfügte. Zugleich bestimmte Artikel 297 des Vertrages: „Soweit der gegenwärtige Vertrag nicht ein Anderes bestimmt, behalten sich die Alliierten oder Assoziierten Mächte das Recht vor, alle den deutschen Reichsangehörigen oder den von ihnen abhängigen Gesellschaften im Zeitpunkt des Inkrafttretens des gegenwärtigen Vertrages gehörenden Güter, Rechte und Interessen innerhalb ihrer Gebiete (…) zurückzubehalten und zu liquidieren.“ Damit gingen Patente, Unternehmen und Werte verloren, auf die sich die weltwirtschaftliche Position Deutschlands vor 1914 gerade in den Sektoren gegründet hatte, die damals besonders fortschrittlich und zukunftsträchtig waren, also etwa Chemie und Pharmazie, Elektroindustrie und Optik. Ein völkerrechtlicher Vertrag griff hier also tief in privatrechtlich begründete Eigentumstitel ein, auch das unbestreitbar grenzüberschreitend.

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Es war in jedem Fall ungewöhnlich, dass Sieger Verlierern Limitierungen im Rüstungsbereich auferlegten; die Beschränkung der preußischen Armee nach der Niederlage gegen Napoleon 1807 auf 42.000 Mann war insofern eine große Ausnahme gewesen. Nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 waren Frankreich keine militärischen Beschränkungen auferlegt worden, nach wenigen Jahren ging Frankreich damals nach deutschem Vorbild zur allgemeinen Wehrpflicht über und unterhielt über Jahrzehnte Streitkräfte, die quantitativ den deutschen etwas voraus waren. Nun wurden die deutschen Streitkräfte auf ein, in der Begrifflichkeit der Zeit, „Söldnerheer“ von 115.000 Mann limitiert, 100.000 im Heer, 15.000 in der Marine, die Wehrpflicht abgeschafft und die Qualität der Bewaffnung etwa auf die eines europäischen Landheeres gegen Ende des 19. Jahrhunderts zurückgeführt, ohne Flugzeuge und Panzer, ohne schwere Geschütze, selbst ohne Maschinenpistolen, mit exakt festgelegten niedrigen Munitionsbeständen und mit weiteren Bestimmungen hinsichtlich des Umfangs der Länderpolizeien, damit hier nicht eine Zweitarmee entstehen konnte. Diese militärischen Bestimmungen erscheinen besonders geeignet, die schließlich geschaffene Ambivalenz des Vertragswerkes zu konkretisieren: Deutschland sah sich, nicht ohne Grund, de facto entwaffnet, unfähig, sich nicht nur gegen Frankreich zu verteidigen, sondern auch gegen Staaten wie die Tschechoslowakei und Polen. Aber auch in Frankreich herrschte, umgekehrt, in der Folge kein Gefühl der Sicherheit: In Frankreich wurden andere Faktoren gewogen: Deutschland war, obwohl auch hier jetzt die Geburtenzahlen deutlich fielen, demographisch weiterhin Frankreich überlegen, dazu um vieles in der Industrie stärker. Mit den 100.000 Mann der Reichswehr geschah das, was nach den Gesetzen der Logik und der Plausibilität hatte erwartet werden müssen: Hier wurde ein hoch professionelles Kaderheer geschaffen, aus den physisch und psychisch bestgeeigneten Bewerbern, geführt von Offizieren, die im Krieg weniger als Troupiers an der Front, denn in Stabsstellen gedient hatten und die somit in der Lage waren, nach kurzer Vorbereitungszeit in großen Dimensionen militärisch zu agieren. Und dazu gab es, durch den Versailler Vertrag untersagt oder nicht, de facto, vor allem an den deutschen Ostgrenzen ein milizartiges System von Einwohnerwehren, hinter dem lange Zeit nicht nur Adelige und Rechtsparteien, sondern weitgehend das gesamte Spektrum der Weimarer Republik stand.63 Und gänzlich wirkungslos blieb, dass der Versailler Vertrag in Artikel 177 sogar „Vereinigungen jeder Art“, einschließlich 63 Vgl. Rüdiger Bergien: Die bellizistische Republik. Wehrkonsens und „Wehrhaftmachung« in Deutschland 1918–1933, München 2012.

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des Bildungswesens, untersagte, sich mit „militärischen Dingen“ zu befassen. Danach hätte es „Stahlhelm“ wie demokratisches „Reichsbanner“ nie geben dürfen. Aber gerade weil diese Bestimmung so breit angelegt war, musste sie verpuffen. Die Republik war isoliert abgerüstet, aber eben aus der Frustration darüber „bellizistisch“. In der hoch emotionalisierten Atmosphäre der Weimarer Republik des Jahres 1919 war es nicht die Vielfalt an materiellen Bestimmungen des Vertrages, welche als besonders inakzeptabel empfunden wurde, sondern es waren vor allem zwei Bestimmungen, weil man sich nach den Maßstäben von damals hier fundamental in der eigenen Ehre herausgefordert, kontaminiert, verletzt sah: Neben dem Artikel 231, der „den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten“ festhielt, der Teil VII (Art. 227 bis 230) mit den Auslieferungs- und Strafbestimmungen für tatsächliche oder vermeintliche deutsche Kriegsverbrecher, darunter, wie sich bald zeigen sollte, nicht zuletzt deutsche U-Boot-Kommandanten, die während des Krieges, neben den Jagdfliegern, sozusagen die Medienstars der deutschen Kriegführung gewesen waren. Nach heutigen Maßstäben würde man naturgemäß dazu neigen, die materiellen Bestimmungen, sozusagen die Enzyklopädie der ökonomischen Schwächung und Auszehrung Deutschlands, in den Vordergrund zu stellen. Aus Sicht der unmittelbaren Nachkriegszeit aber war das anders und trugen vor allem die Kriegsschuld- und Strafbestimmungen zur Verstörung der deutschen Gesellschaft und zu ihrer Abwendung vom gesamten Friedensprozess bei. Das eigene Land am Pranger – das war prinzipiell nicht akzeptabel. Daran änderte auch wenig, dass es tatsächlich zu einer Ahndung von Kriegsverbrechen kaum kam. Die deutschen Erwartungen, insbesondere auf britischer und amerikanischer Seite müsse sehr bald ein Umdenken dahin einsetzen, dass der Vertrag unbedingt der Lockerung und Besserstellung für Deutschland bedürfe, weil sonst auch die Sieger geschädigt würden, diese Erwartungen waren durchaus nicht unbegründet. Gerade in Großbritannien machte sich bald die Erkenntnis breit, ohne Deutschland werde die Weltwirtschaft nicht wieder auf die Beine kommen – nur ein halbwegs leistungsfähiges Deutschland könne Reparationen zahlen und damit zugleich die europäischen Alliierten in die Lage versetzen, ihre Schulden bei amerikanischen Bankhäusern zu begleichen. Aber dieser Prozess führte im Umkehrschluss eben auch dazu, dass in Frankreich die Sorge wuchs, ohne wirklich starke und verlässliche Partner einem strukturell überlegenen Deutschland ausgeliefert zu sein. Diese Dialektik provozierte zunächst einmal eine Entwicklung dahin, dass sich in den ersten Nachkriegsjahren eher

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eine Eskalation als eine Deeskalation des Konfrontationsgeschehens an der deutschen Westgrenze einstellte. Je mehr Deutschland sich, logischerweise, bemühte, irgendwie und irgendwo Entlastung zu finden, desto mehr glaubte Frankreich sich auf sich selbst und seine eigenen militärischen Möglichkeiten zurückgeworfen. Zurück zu Versailles: Was war das also, im Gesamtblick, für ein Vertrag? Es besteht heute so etwas wie ein Konsens dahin, dass es kein Karthago-Frieden gewesen sei. Das stimmt aber nicht. Nimmt man den Zweiten Punischen Krieg und dessen Friedensschluss 202 v. Chr., dann war es eine Art Karthago-Frieden – ein Frieden, der den Unterlegenen fortexistieren ließ, aber in einer Form, die der Strangulation jedenfalls fürs erste sehr nahekam. So sehr viel anders war es Karthago 2200 Jahre zuvor auch nicht ergangen.

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Das Deutsche Reich der letzten Jahre vor dem Ersten Weltkrieg war, wie schon gezeigt, weltwirtschaftlich eindeutig die Nummer Zwei gewesen, nach den USA und vor Großbritannien. Eine britische Überlegenheit gab es freilich weiterhin, was die herausragende Rolle Londons für die Kapitalmärkte anbelangt. Die deutschen Stärken lagen auf anderen Gebieten, in der industriellen Produktion, bei großen Unternehmen wie den, wie man heute sagt, „hidden champions“, den kleineren, höchst innovativen Familienbetrieben, die die Präsenz auf den Weltmärkten nicht scheuen. Der eigentlich bemerkenswerte Vorabbefund, blickt man auf die Entwicklung der ökonomischen Gewichte von der ersten Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis in unsere Gegenwart, liegt nun darin, dass Deutschland, obwohl zweimal verkleinert, diesen Platz zwei jedenfalls innerhalb der westlichen bzw. nichtkommunistischen Weltwirtschaft auf längere Zeit zu behalten bzw., Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, unerwartet schnell wieder zu gewinnen verstand. Und das Ende dieser Position kam schließlich nicht mit einem neuen, Ressourcen verschlingenden und Landstriche verwüstenden Krieg, wie es der Zweite Weltkrieg auf deutschem Boden gewesen war, sondern mit jener säkularen Verschiebung der Gewichte in Weltwirtschaft und Weltpolitik überhaupt, die wir heute gemeinhin „Globalisierung“ nennen. Freilich: Von der spezifischen Stärke der deutschen Volkswirtschaft war mit Erstem Weltkrieg und Kriegsende, auch ungeachtet der Belastungen durch die Reparationen, viel verloren gegangen. Geht man vom Index 100 für das letzte Friedensjahr 1913 aus, und nimmt man als Vergleichsjahr aus der Zwischenkriegszeit das Jahr 1927, nach den Turbulenzen der frühen zwanziger Jahre, in Deutschland vor allem mit der Megainflation von 1923, und vor dem Einbruch der Weltwirtschaftskrise ab 1929, dann erreichte der weltweite, industrielle Output 134,5 Punkte, darunter jeweils der US-amerikanische 154,5, der deutsche hingegen nur 122,1 – und der japanische, auch wenn Japan, anders als seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, noch kein wirklicher Wettbewerber für die europäischen Volkswirtschaften war, erstaunliche 270,0. Nimmt man nun das Jahr 1938, nach dem vollen Anlaufen der durch überbordende Verschuldung finanzierten deutschen Investitions- und Aufrüstungspolitik, dann ergibt sich zwar, bezogen auf 1913, für Deutschland nunmehr ein Stand von 143,0 Punkten – auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise 1932 waren es nur 93,7 Punkte gewesen – das heißt damals produzierte die deutsche Industrie weniger als 1913! Bemerkenswerte

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Verschiebungen ergaben sich aber jetzt im Blick auf andere Länder: Großbritannien und Frankreich stagnierten eher, Großbritannien mit 117,6 Punkten, Frankreich mit 114,6, aber Japan hatte noch einmal deutlich zugelegt, auf 552,5, verglichen mit 1913, und in der Sowjetunion machten sich jetzt, zumindest im quantitativen Output, die drakonischen Fünfjahres-Industrialisierungspläne der Stalin-Ära bemerkbar: Gegenüber dem zaristischen Russland hatte sich die Industrieproduktion der Sowjetunion, auf reduzierter territorialer Basis(!), mittlerweile mehr als verachtfacht, auf 857,3 Punkte. Insgesamt muss man für diese zweite Phase der Zwischenkriegszeit, die dreißiger Jahre nach der Weltwirtschaftskrise, konstatieren: Die totalitär gewordenen revisionistischen Staaten, auch das Italien Mussolinis, legten mit ihren kostspieligen Wachstumsvorgaben und Aufrüstungsvorhaben relativ sehr viel deutlicher zu als die Demokratien. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang allein Westdeutschland, reduziert nicht nur um die Agrargebiete östlich der Oder-Neiße-Linie und die der Weimarer Republik verbliebenen Anteile am Montanrevier Oberschlesiens, sondern reduziert auch um die Industrieregionen Mitteldeutschlands, letztere stark vor allem in den Bereichen Maschinen- und Fahrzeugbau sowie Chemische Industrie – beispielhaft sei auf das Leunawerk verwiesen –, ein erstaunliches Comeback: 1950, die Bundesrepublik war gerade erst ein Jahr alt und stand, wirtschaftshistorisch gesehen, noch vor dem Korea-Boom, erreichte hier das Bruttosozialprodukt 48 Milliarden Dollar, das Frankreichs 50 Milliarden Dollar und das Großbritanniens 71 Milliarden Dollar. 1980 stellte sich dieses Bild hingegen so dar: Westdeutschland 828 Milliarden Dollar, Frankreich 633 und Großbritannien 443, also gut die Hälfte des westdeutschen Sozialprodukts. Allerdings: schon 1980 stand die Bundesrepublik nicht mehr auf Platz zwei: Jetzt betrug das japanische Bruttosozialprodukt 1157 Milliarden Dollar; es war zwar beileibe noch nicht das chinesisch geprägte Zeitalter in der Weltwirtschaft – das chinesische Bruttoinlandsprodukt erreichte damals, je nach Berechnungsform, gerade erst die Hälfte des westdeutschen! Es war zunächst die Zeit der sogenannten „Triade“, der Profilierung dreier großer Wirtschaftsräume, Westeuropa, Nordamerika und Ostasien in Gestalt Japans und der sogenannten „Kleinen Tiger“ wie Südkorea, Taiwan und Singapur. Es war sozusagen der erste, markante Beginn jenes Prozesses, der dann, mit der Lösung Chinas von marxistisch-leninistischen Dogmata in den neunziger Jahren, eine enorme neue Schubkraft erfahren sollte. Im Resultat sieht sich heute Europa mit einer drohenden Marginalisierung seiner Ökonomien konfrontiert. Aber selbst für diese jüngste Phase gilt, dass Deutschland zwar quantitativ, schon aus demographischen Gründen, relativ an Bedeutung verliert, doch qualitativ

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auf den Weltmärkten mit seinen spezifischen, schon vor dem Ersten Weltkrieg markanten Stärken präsent bleibt, jedenfalls weit überdurchschnittlich präsent für heutige europäische Verhältnisse. Es geht hier um die Verknüpfung jeweils modernster und ausgereifter Technologien und insgesamt um einen Anteil der industriellen Produktion an der Volkswirtschaft, der mehr als doppelt so hoch wie im französischen und britischen Falle liegt, gestützt auf eine hochkompetente Arbeitnehmerschaft im Bereich der industriellen Wertschöpfung. Und es geht um Strategien des Agierens auch auf außereuropäischen Märkten, mit dem paradox anmutenden Befund, dass gegenwärtig der Anteil der anderen EU-Mitglieder am deutschen Außenhandel sinkt und nicht steigt. Insofern sind, bei allen Verschiebungen der Quantitäten, ökonomische und technische qualitative deutsche Besonderheiten über die gesamte Phase seit Ausbruch des Ersten Weltkrieges erhalten geblieben – und Deutschland erscheint gerade heute ökonomisch weniger europäisch eingepasst denn als global player. Gehen wir zurück zur Ausgangslage, zu den Perspektiven der deutschen Ökonomie nach dem Ende des viereinhalbjährigen und am Ende verlorenen Krieges. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte der Anteil der öffentlichen Ausgaben am deutschen Sozialprodukt auf einem heute kaum mehr vorstellbar niedrigen Niveau gelegen, bei ca. 15,5 Prozent, rund ein Drittel des heutigen deutschen und rund ein Viertel des gegenwärtigen französischen Niveaus – und dies trotz der sozialpolitischen Reformen mit Einführung der großen Versicherungssysteme für die Arbeitnehmer seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts und trotz des hohen Rüstungsstandes in den letzten Vorkriegsjahren. Im Blick auf den Kriegsausgang war klar, dass drei Faktoren zu einem enormen Anziehen der öffentlichen Finanzierungsansprüche führen würden, ja mussten: Reparationen, Kapitaldienste für die auf Pump finanzierte Kriegführung und Kriegsfolgelasten, darunter an erster Stelle die Kriegsopferversorgung. Schließlich mussten die Hinterbliebenen von zwei Millionen Kriegstoten versorgt werden wie weitere Millionen, die als Kriegsversehrte nach Hause gekommen waren. Während des Krieges hatte sich der öffentliche Anteil am deutschen Sozialprodukt schließlich sogar verfünffacht, von 14,5 Prozent auf 77 Prozent 1917 – ein schlagender Beweis dafür, in welchem Maße Kriegführung den Wohlstand einer Gesellschaft stranguliert.64 Intern ging man auf deutscher Seite von folgenden künftigen Belastungen des Sozialprodukts durch öffentliche 64 Daten nach Peter-Christian Witt: Finanzpolitik und sozialer Wandel in Krieg und Inflation 1918–1924, in: Hans Mommsen, Dietmar Petzina, Bernd Weisbrod (Hrsg.): Industrielles

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Inanspruchnahmen für die Kriegsfolgen aus: 10 Prozent für Reparationen, 5 Prozent für die Kriegsopferversorgung, 8 bis 10 Prozent für die Bedienung der Kriegsschulden – was unter Berücksichtigung des Niveaus für die „normalen“ öffentlichen Leistungen insgesamt eine Steuerquote für die Nachkriegszeit von ca. 35 Prozent bedeutet hätte, also das Zweieinhalbfache der Vorkriegszeit. Tatsächlich lagen das dann in den „Normaljahren“ nach dem Katastrophenjahr 1923 mit überbordender Inflation erreichte Niveau und der damit erreichte Anteil der öffentlichen Ausgaben am deutschen Sozialprodukt zwar etwas niedriger; dies hing vor allem damit zusammen, dass die Reparationen nach dem Dawes-Plan von 1924 zunächst einmal mit ersten, ziemlich niedrigen sogenannten Annuitäten – Jahresleistungen – beginnen sollten, für 1924/25 eine Milliarde Goldmark, um dann allmählich bis 1928/29 auf eine sogenannte normale Annuität von zweieinhalb Milliarden Goldmark zu steigen. Auf deutscher Seite bestand dabei die gewissermaßen natürliche Hoffnung, nach vier bis fünf Jahren zu neuen und günstigeren Regelungen kommen zu können – wenn sich erweisen würde, dass die Vollbelastung Deutschlands einfach untragbar war. Das Zweite war, dass nur die Hälfte dieser Reparationsleistungen unmittelbar aus dem öffentlichen Haushalt aufzubringen war, die andere hingegen mittels einer eigenen, aus dem allgemeinen Haushalt ausgesonderten Beförderungssteuer und durch Schuldverschreibungen der Reichsbahn und der deutschen Industrie, die in sogenannten Normaljahren zusammen knapp eine Milliarde Goldmark einbringen sollten. Umgekehrt formuliert: Die deutschen Reichshaushalte der sogenannten Goldenen Jahre, nach dem Katastrophenjahr 1923 und vor dem Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929/30, wiesen keineswegs die Gesamtbelastung der deutschen Volkswirtschaft und mit ihr der deutschen Gesellschaft durch die Reparationen aus.65 Vorausgegangen waren zum einen die schweren Turbulenzen mit Ultimaten der Siegermächte zur Erzwingung von Reparationsleistungen am Beginn der zwanziger Jahre, jene ultimative Konferenzpolitik: Konferenz von Spa, 5. bis 16. Juli 1920, Pariser Konferenz, 24. Januar bis 29. Januar 1921, und einen Monat später die Konferenz von London. Hintergrund war dabei aber nicht nur der Wunsch, Deutschland durch extreme System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik, Bd. 1, Düsseldorf 1977, S. 395– 426, hier S. 425. 65 Vgl. Gottfried Haberler: Die Weltwirtschaft und das internationale Währungssystem in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Rudolf Stucken: Schaffung der Reichsmark, Reparationsregelungen und Auslandsanleihen, Konjunkturen (1924–1930), in Deutsche Bundesbank (Hrsg.): Währung und Wirtschaft in Deutschland 1876–1975, Frankfurt/Main 1976, S. 205– 248 und 249–282.

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Belastungen, zunächst sollten es jährlich zweieinhalb Milliarden Goldmark und 26 Prozent des jeweiligen Wertes seiner Exporte sein, gewissermaßen dauerhaft zu bestrafen wie dauerhaft zu erniedrigen. Die Westalliierten selbst hatten nicht nur ihrerseits hohe Kriegsopferlasten; sie mussten vor allem ihre während des Krieges in den USA aufgenommenen Kredite bedienen. Hier lag ihre eigentliche finanzielle Fesselung, aus der sie so lange nicht entkommen konnten, so lange auf amerikanischer Seite kein Kreditverzicht geleistet wurde. Umgekehrt aber stand in den USA Kapital zur Verfügung, das Anlagemöglichkeiten in Europa suchte. So kam es nach den Turbulenzen des Jahres 1923 zu jenem, für einige Jahre heilsamen, aber doch labilen Kreislauf, der die ganze weltwirtschaftliche Architektur der zweiten Hälfte der weiteren zwanziger Jahre bestimmte: Amerikanische Kredite flossen bevorzugt nach Deutschland, in industrielle, vielfach aber auch in öffentliche Anlagen und darunter nicht wenige Kommunen, die damals mit amerikanischen Krediten teure Modernisierungsprogramme realisierten. Musterbeispiel dafür ist die rheinische Metropole Köln unter ihrem Oberbürgermeister Konrad Adenauer, die in diesen Jahren auf solcher Kreditgrundlage zahlreiche Prestigeobjekte finanzierte. Die Kredite versetzten Deutschland zunächst einmal in die Lage, auch die Reparationsforderungen zu bedienen, und mit diesen Einkünften wiederum waren die europäischen Siegermächte in der Lage, ihre Kriegsschulden zu begleichen. Der ganze Kreislauf funktionierte freilich nur solange, solange die US-amerikanische Konjunktur gut lief. Als dies schließlich nicht mehr der Fall war und zugleich an der Wall Street die Besorgnis hinsichtlich der Solidität ihrer europäischen Schuldner wuchs, brach dieses ganze System 1930–1932 wie ein Kartenhaus in sich zusammen: Vielfach nur kurzfristig gegebene amerikanische Kredite wurden abgezogen; in Deutschland, aber auch in Österreich und in anderen Ländern gerieten Kommunen wie Banken in Zahlungsschwierigkeiten, das sogenannte „Hoover-Moratorium“ setzte daraufhin zunächst einmal alle Reparationsleistungen für ein Jahr aus, und schließlich kam es im Sommer 1932 zum de facto-Ende der Reparationen auf der Konferenz von Lausanne. Am Ende hatten die Reparationen den Siegern wenig gebracht, aber viel zur Instabilität Europas beigetragen. Trotz oder vielleicht auch wegen der aus dem Krieg herrührenden Belastungen war die Weimarer Republik zugleich – kostenintensiver – Sozialstaat. Damit soll das Moment des Sozialen nicht abgetan, aber eben doch in seinen ökonomischen und finanziellen Auswirkungen mit bedacht werden. Der Krieg hatte eben auch zweierlei Auswirkungen für das soziale Gefüge der deutschen

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Gesellschaft gehabt: Zum einen war die Macht der Gewerkschaften, verglichen mit der Vorkriegszeit, deutlich gewachsen. Schon vor dem Krieg hatten die Gewerkschaften eine relativ höhere Akzeptanz auf den politischen wie ökonomischen Kommandohöhen gehabt als die weithin noch verfemte Sozialdemokratie. Nun kam, insbesondere durch das sogenannte Hilfsdienstgesetz von Ende 1916, ihre institutionelle Einbindung in das Arbeits- und Wirtschaftsgeschehen hinzu. Und unmittelbar nach dem Krieg konnten sie, insbesondere im Hinblick auf ausbleibende Sozialisierungen, ihre Position im Wirtschaftsleben weiter stärken. Im sogenannten „Stinnes-Legien-Abkommen“ vereinbarten Arbeitgeber und Gewerkschaften Betriebsräte und erhöhte Mitsprache der Arbeitnehmervertretungen. Hinzu kamen so etwas wie Kompensationsbedürfnisse für das Bürgertum, das unter der 1923 kulminierenden Inflation besonders gelitten hatte. Die Einkommen der Beamten waren relativ gesunken, wer Geldvermögen besaß, hatte dies verloren. Und ein drittes Moment waren die nachholenden Innovations- und Gestaltungsbedürfnisse besonders auf der Ebene der Kommunen. Dies hatte auch etwas mit dem sich in den zwanziger Jahren dynamisch neu entfaltenden kulturellen und sportlichen Wünschen und Ansprüchen breiter Bevölkerungsschichten zu tun. So kam es gewissermaßen am Vorabend der Weltwirtschaftskrise auf verschiedenen Ebenen zur deutlichen Ausweitung der öffentlichen Finanzierungsansprüche. Dabei war es auch bezeichnend, dass die sozialpolitischen Komponenten von einer bürgerlichen Koalition initiiert und getragen wurden. Am 9. Juni 1927 nahm der Reichstag das Gesetz über die Arbeitslosenversicherung an. Bis dahin hatte es nur eine Erwerbslosenfürsorge gegeben. Nun wurde für die Arbeitslosen das klassische deutsche Versicherungsschema installiert: Beiträge in Höhe von je drei Prozent des Lohnes durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Selbstverwaltung in Gestalt einer eigenen Reichsanstalt für Arbeit und staatliche Unterstützung, zunächst in Form von Darlehen für die Reichsanstalt, sofern in Krisen die Eigenmittel nicht genügen sollten. Ähnlich wie bei der großen Rentenversicherung von 1957, die das bis heute geltende Umlageverfahren bei der Alterversorgung einführte, gab eine bürgerliche Regierung den Takt vor und die Sozialdemokraten stimmten im Parlament zu. Und im selben Jahr 1927 wurden die Gehälter der Beamten um 16 bis 17 Prozent erhöht. Heinrich August Winkler schreibt in seiner Geschichte der Weimarer Republik zu diesen in sich jeweils plausiblen und doch in der Summe die Finanzpolitik der Republik schwer belastenden Maßnahmen, „ … da es im Jahr 1928 Reichstagwahlen geben musste, wollte keine Partei beim Wettlauf um die Stimmen der Beamten hinter der anderen

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zurückstehen. Wer in dieser Situation auf finanzpolitische Solidität pochte, schwamm gegen den Strom.“ 66 Noch auf einem anderen Gebiet erweist sich die Weimarer Republik gesellschaftspolitisch als eine Übergangszeit in unsere Gegenwart, auf dem der Demographie. Zunächst einmal werden den zwei Millionen Kriegstoten des Ersten Weltkrieges rund drei Millionen „ausgefallene“ Geburten statistisch gegenübergestellt, also in der Summe ein beträchtlicher Aderlass. In der Weimarer Republik zeichnete sich ab, dass die deutsche Gesellschaft ihre Jugendlichkeit, die für das Kaiserreich so kennzeichnend gewesen war, allmählich verlöre. Umgekehrt gilt freilich auch, dass in den durch Turbulenzen, Existenzkrisen und Aufkommen von Radikalismen gekennzeichneten Jahren ab 1930 besonders junge Menschen, die für sich keine wirtschaftliche Zukunft sahen, buchstäblich auf die Barrikaden gingen und die Ordnung der Republik in Frage stellten. Kommunisten und vor allem Nationalsozialisten waren buchstäblich junge Parteien. Wer sich aber als 20-jähriger Arbeitsloser 1932 vom Rot-Front-Kämpfer-Bund oder von der SA vereinnahmen ließ, gehörte einem der besonders großen letzten Vorkriegsjahrgänge an. Das unterschied die Situation in Deutschland auch grundlegend von der in Frankreich mit seinen schon im 19. Jahrhundert deutlich niedrigeren Geburtenziffern. 1933 gab es in Deutschland in der Altersgruppe von 20–25 Jahren nahezu 6,2 Millionen Menschen, in Frankreich, wenn auch nicht exakt zum selben Zeitpunkt, drei Jahre später, knapp 3 Millionen, also weniger als die Hälfte.67 „In der Weimarer Republik strömten die geburtenstarken Jahrgänge der Jahre 1900–1913 ausgerechnet zu einem Zeitpunkt auf den Arbeitsmarkt, der durch Rationalisierungsdruck und Krisenerscheinungen geprägt war.“ 68 Und das galt in besonderem Maße nicht nur für junge Arbeiter, sondern auch für junge Akademiker, aus denen sich dann die jugendlichen Funktionseliten des NS-Regimes in besonderem Maße rekrutieren sollten. Eklatant hoch lagen die Geburtenzahlen im Deutschland des ausgehenden Kaiserreiches zwar noch in absoluten Zahlen, relativ sanken sie bereits damals, dieser sogenannte Modernisierungstrend setzte tatsächlich schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein. Betrug die Geburtenquote im Deutschland des Jahres 1900 noch 35,6 auf 1000 der Bevölkerung, so im letzten vollständigen Friedensjahr 1913 66 Heinrich August Winkler: Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993, S. 325. 67 Zahlen nach Andreas Wirsching: Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918–1933/39. Berlin und Paris im Vergleich, München 1999, S. 376. 68 Ebd. S. 373.

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nur mehr 27,5 – hingegen war der jährliche Geburtenüberschuss nahezu konstant geblieben, nur leicht gesunken von 13,6 auf 12,4 Promille. Der Hauptgrund dafür lag in der förmlichen medizinisch-hygienischen Revolution, an der die deutsche Gesellschaft als eine der weltweit modernsten führenden Anteil hatte. Ein breiteres medizinisches Angebot für alle Bevölkerungsschichten, Entdeckung und wirksame Bekämpfung von Erregern, Kanalisation und Trinkwasseraufbereitung sowie bessere Arbeitsbedingungen im Produktionsprozess – diese Faktoren führten zu einer buchstäblichen Revolution in der Lebenserwartung und zum Sinken der Sterbeziffer pro 1000 der Bevölkerung im selben Zeitraum, 1900–1913, von 22,1 auf 15,0. Die Kriegsjahre brachten dann in Deutschland erstmals seit vielen Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten, einen Überschuss der Todesfälle. Die Weimarer Republik mit ihren gesellschaftlichen Modernisierungstendenzen – verstärkte Frauenarbeitsquote, erhöhte Verbreitung von Verhütungsmitteln, erhöhte kulturelle Teilhabe breiter Schichten – brachte nach den frühen zwanziger Jahren einen Rückgang der Geburtenzahlen auf knapp 20 Promille, also etwa auf das Niveau der Bundesrepublik in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren. Noch immer gab es in Deutschland einen deutlichen Geburtenüberschuss – im „Normaljahr“ 1927 etwa sieben pro 1000 der Bevölkerung; aber das war nunmehr nur noch rund die Hälfte der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Die zurückgehenden Geburtenzahlen wurden damals schon vielfach beklagt, von einem sterbenden Volk war die Rede bzw., um den Titel von Hans Grimms einschlägigem Roman zu benennen, von einem „Volk ohne Raum“, das sich gewissermaßen selbst beschränke und mit seiner Marginalisierung abfinde. Die Nationalsozialisten haben dann diese Denkmuster aufgegriffen und mit einer expansiven Bevölkerungs- wie sogenannten „Raumpolitik“ ihre eigene Antwort gegeben. Tatsächlich aber handelte es sich beim relativen Rückgang der Geburtenzahlen über viele Jahrzehnte um einen säkularen gesellschaftlichen Modernisierungsprozess, an dem am Ende selbst die NS-Bevölkerungspolitik nicht allzu viel ändern konnte: Ihr gelang es zwar, statistisch gesehen, die zusätzlichen Einbrüche der Geburtenzahlen im Gefolge der Weltwirtschaftskrise am Beginn der dreißiger Jahre auf schließlich unter 15 Geborene pro 1000 der Bevölkerung 1933 zu überwinden; aber über das Niveau der Weimarer Republik in der Mitte der zwanziger Jahre gelangte dann auch diese, ideologisch begründete, entschieden pronatalistische Politik nicht hinaus.

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Die Großmachtkulisse der beginnenden Zwischenkriegszeit war zunächst durch den zumindest anscheinenden Rückzug der großen Flügelmächte von der Bühne der internationalen Beziehungen und Auseinandersetzungen gekennzeichnet: Auf der einen Seite stand die große Disparität in der Präsenz der USA. Im Washingtoner Senat kam zweimal, im November 1919 und im März 1920, die für die Ratifikation des Versailler Vertrages notwendige Zweidrittelmehrheit nicht zu Stande. Da das Statut für den Völkerbund unmittelbarer Bestandteil des Versailler Vertrages war, blieben die USA damit außerhalb jener ersten institutionellen Weltorganisation, die ihr Präsident Wilson, teilweise gegen den Widerstand seiner europäischen Verbündeten, selbst inspiriert und durchgesetzt hatte. Auf der anderen Seite stand ihre unerhört gestärkte ökonomische Position: 1928 betrug der US-amerikanische Anteil an der Weltindustrieproduktion 39,3 Prozent, im letzten Vorkriegsjahr 1913 lag er erst bei 32 Prozent und im letzten Vorkriegsjahr vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, 1938, sollte er wieder auf 31,4 Prozent gesunken sein: Zum einen waren die USA, wie kein anderes großes Land neben dem Deutschen Reich, von der Weltwirtschaftskrise erfasst worden, zum anderen begannen die relativen Gewichte Japans und der Sowjetunion zu steigen. Auch die andere große klassische „Flügelmacht“ Russland, für einige Übergangsjahre jetzt die „Russische Sozialistische Sowjetrepublik“ (RSFSR), sodann bis 1991 die Sowjetunion, war machtpolitisch zunächst nicht oder besser gesagt sehr ambivalent präsent: In den Anfängen unter Lenin und Trotzki beschränkte sie sich weitgehend auf den Versuch des Revolutionsexports nach Westen, nach Deutschland sowie nach Ungarn, und auf den Versuch, das Entstehen eines unabhängigen, antikommunistischen, mit Frankreich verbündeten Polen möglichst zu verhindern. So entstand auch jene merkwürdige, ja prekär-ambivalente Haltung, einerseits Deutschland revolutionär zu unterhöhlen, möglichst ein Sowjetdeutschland herstellen zu wollen, und andererseits mit den herkömmlichen konservativen Eliten in Deutschland, namentlich im Militär, einen militant-revisionistischen Kurs gegen Polen und mit ihm Frankreich steuern zu wollen. Diese Ambivalenz und mit ihr die deutsch-polnisch-russische Dreiecksgeschichte soll hier eigens dargestellt werden. Im weltpolitischen Maßstab verhielt es sich jedenfalls so, dass es Russland als Partner Frankreichs und schließlich auch Großbritanniens einstweilen nicht

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mehr gab, vielmehr als deren Gegenspieler: Frankreich unternahm alles, um Polen, das 1920/21 im Krieg mit Sowjetrussland stand, zu unterstützen, und Großbritannien glaubte in Sowjetrussland einen Gegenpart zu haben, der das Empire intern und extern bedrohte. Extern ging es vor allem um China, in dem sich die dann Stalinsche Sowjetunion ab Mitte der zwanziger Jahre stark engagierte, an der Seite des linken Flügels der republikanischen Kuomintang wie an der Seite der noch schwachen und jungen kommunistischen Partei. 1927 war das Jahr, in dem einerseits die kommunistischen Positionen in Shanghai und sodann in Kanton liquidiert wurden, und in dem andererseits die diplomatischen Beziehungen zwischen Großbritannien und der Sowjetunion abgebrochen wurden. Unter einem Vorwand wurde am 12. Mai 1927 die sowjetische Handelsniederlassung in London polizeilich durchsucht und prompt Material gefunden, das sowjetische Wühlarbeit beweisen sollte. Im Hintergrund stand die traumatische Erfahrung der britischen Konservativen mit dem Generalstreik im Lande von 1926. In ihren Vorstellungen gab es einen Zusammenhang zwischen dem gewerkschaftlichen Kurs im Land und den revolutionären Ambitionen der sowjetischen Führung. „Wie 1926 der Generalstreik das englisch-russische Verhältnis überschattet hatte, so wirkte sich 1927 die traumatische Entwicklung in China aus und trug dazu bei, die Kontakte zwischen Moskau und London auf einen Tiefpunkt sinken zu lassen. Dies konnte umso weniger überraschen, als (…) Großbritannien nicht allein um seine wirtschaftliche Position in China selbst, sondern um die Abschirmung des Empires kämpfte.“ 69 Gewiss mag hier in den Wahrnehmungen der britischen Oberschicht manches überschießend gewesen sein; die Sowjetunion bzw. Sowjetrussland hatte zu diesem Zeitpunkt das Stadium ihrer forciert-offenen, revolutionären Exportpolitik schon weitgehend hinter sich gelassen, aber nach wie vor war sie alles andere als ein Normalfaktor in den internationalen Beziehungen. Das britisch-sowjetische Verhältnis war jedenfalls in den späteren zwanziger Jahren das potentiell am meisten von Konflikteskalation bedrohte in der gesamten Großmachtkulisse – sieht man vom ideologischen Antagonismus ab, in gewisser Weise auch eine Rückkehr zum traditionellen Gegeneinander von „Walfisch und Bär“, das das 19. Jahrhundert weltpolitisch geprägt hatte – bis Deutschland als neuer Störfaktor mit einem Mal auf der Bühne stand. Für die Welt der zwanziger Jahre gilt grundsätzlich, dass die etablierten drei Weltmächte der Vorkriegszeit ihre 69 Wolfgang Eichwede: III. Der Eintritt Sowjetrusslands in die internationale Politik 1921–1927, in: Osteuropa-Handbuch, Bd. Sowjetunion, Teil: Außenpolitik I, hrsg. von Dietrich Geyer, Köln, Wien 1972, S. 150–212, hier S. 209.

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etablierten Rollen nicht wirklich wahrnahmen oder wahrnehmen konnten: Die USA nahmen sich politisch zurück, Großbritannien, das den territorial größten Umfang seines Empires erreicht hatte, war nur mit äußerster Anstrengung in der Lage, diesen Reichsverband auch wirklich zusammenzuhalten, und die Sowjetunion blieb in hohem Maße stigmatisierter Außenseiter. Daneben standen zunächst jene Mächte, die am Ende des Krieges ein Siegerticket erhalten hatten und sich doch nicht als Sieger sahen, Italien und Japan. Italien war im Grunde das Opfer des imperialen Übereifers der Alliierten geworden, die es 1915 an ihre Seite in den Krieg gelockt hatten. „Im Londoner Vertrag vom 26. April 1915 hatten Großbritannien, Frankreich und Russland Italien für seine Kriegsteilnahme reiche Gewinne auf österreichische Kosten zugesagt: nämlich die Brennergrenze, Triest, Istrien und große Teile der dalmatinischen Küste (…). Außerdem wurde vereinbart, dass Italien einen Teil des deutschen Kolonialbesitzes (…) oder zumindest eine koloniale Kompensation erhalten sollte sowie außerdem noch Gebiete in Albanien und Kleinasien sowie die Inselgruppe des Dodekanes“.70 Eine aufgeregt-instrumentalisierte veröffentlichte Meinung hatte Italien 1915 in den Krieg geführt, vermutlich gegen die tatsächliche Mehrheitsmeinung im Land und ohne realistische Vorstellungen von Kriegsbedingungen und Kriegshärten, obwohl der Konflikt zwischenzeitlich ja schon mehr als ein halbes Jahr tobte. Das Land hatte am Ende 500.000 Gefallene zu beklagen, industriearm wie es war, war es den Belastungen einer solchen Auseinandersetzung eigentlich nicht gewachsen gewesen und im Herbst 1917 militärisch kollabiert. Umgekehrt waren jetzt die Erwartungen naturgemäß besonders hoch gespannt. Es galt, durch spektakuläre Gewinne die Kriegsbeteiligung gewissermaßen im Nachhinein zu legitimieren. Und damit kollidierten die italienischen Ansprüche mit denen der etablierten Sieger- und Großmächte Großbritannien und Frankreich wie denen ihres südslawischen Kernverbündeten Serbien, der nun aus der Konkursmasse der österreichisch-ungarischen Donaumonarchie seinen eigenen südslawischen Großstaat nach Norden bis an die Karawanken schuf, das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (sog. SHS-Staat, seit 1929 „Jugoslawien“). Diese Staatsschöpfung stand in engster historisch-kultureller Verbindung mit Russland, das nutzte ihr nun aber nicht mehr viel, und mit Frankreich. Die französischen wie die britischen Versprechungen gegenüber den Partnern beiderseits der Adria gerieten nunmehr folgerichtig in Widerspruch 70 Holger Afflerbach: „… it’s nearly a case of Italy contra mundum?“ Italien als Siegermacht in Versailles 1919, in: Versailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmungen, hrsg. von Gerd Krum­ eich in Zusammenarbeit mit Silke Fehlemann, Köln 2001, S. 159–173, hier S 160 f.

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zueinander. Am heftigsten wurde um Istrien und um Fiume beziehungsweise Rijeka gestritten – im Gegensatz zu Südtirol, dessen Mutterland Österreich sich nicht wehren konnte, auch wenn in diesem Fall das Selbstbestimmungsrecht denkbar grob verletzt worden war. Schließlich mischte sich der amerikanische Präsident Wilson mit einem in der Presse veröffentlichten Manifest am 23. April 1919 ein: Darin führte er, den innereuropäischen Geheimabsprachen der etablierten Diplomatien gegenüber ohnehin voller Misstrauen, aus, Italien möge doch auf die Zusagen des Londoner Vertrages verzichten, denn es habe seine Opfer für „den Sieg des Rechts“ erbracht und solle sich nun als Mitgarant einer neuen Weltordnung verstehen. Die Folge dieser Suada war, wie eigentlich nicht anders zu erwarten, eine emotionale Aufwallung des italienischen Imperialismus und das Verlassen der Friedenskonferenz von Versailles durch die italienische Delegation für mehrere Wochen. Am Ende setzten sich die Italiener an der oberen Adria durch: Istrien kam zu Italien, Fiume okkupierte im September 1919 der exzentrische Dichter D’Annunzio mit einem Freikorps, damit stand die Stadt unter italienischer Präsenz und wurde 1924 durch Italien auch förmlich annektiert. Grundsätzlich wird man sagen müssen, dass Italien, die noch junge Staatsschöpfung des 19. Jahrhunderts, seinen Platz noch nicht gefunden hatte. Nach der Machteroberung Mussolinis durch den Marsch auf Rom 1922 und der Errichtung der faschistischen Diktatur in den Folgejahren schwenkte es schließlich auf einen revisionistischen Kurs, der es zunehmend in Gegensatz zu Frankreich brachte – mit imperialen Ambitionen in Nordafrika, in Ostafrika, an der adriatischen Gegenküste durch die Annexion Albaniens 1939 und von hier ausgehend gegenüber Griechenland und Jugoslawien. Dieses Programm und die Überschätzung der Stärke NS-Deutschlands nach dessen durchschlagenden Erfolgen im Mai 1940 gegen Frankreich führten das faschistische Italien schließlich als deutschen Verbündeten auf die Verliererseite und in den Untergang. Ähnlich Italien sah sich Japan durch die Neujustierung der Internationalen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg benachteiligt. Es hatte in Ostasien nicht die Beute erhalten, die es sich versprochen hatte, sozialdarwinistische Muster in seiner Staatsideologie und Rohstoffmangel bildeten ein gefährliches Gemisch: Die japanische Bevölkerungszunahme galt als eklatant und gefährlich, in den zwanziger Jahren durchschnittlich 34 Geburten auf 1000 Einwohner. Die Bevölkerungszahl hatte sich von 1873–1930 nahezu verdoppelt, von 33 auf 64 Millionen Menschen – und auf Großbritannien, den seit 1902 traditionellen Bündnispartner, konnte Japan nicht mehr rechnen. In seinen Wahrnehmungen sah es sich vielmehr mit einer kulturell-elitären Front der beiden angelsächsischen Mächte

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in Asien konfrontiert. Schließlich schritt Japan zu eindeutigen und großflächigen Aggressionsakten gegen den zugleich Schwächeren und Größeren, gegen China: 1931 richtete es die Mandschurei als japanischen Vasallenstaat ein, in Gestalt des Kaiserreiches Mandschukuo, 1937 brach der offene Krieg mit China aus, in der Rückschau so etwas wie die Ouvertüre zum Zweiten Weltkrieg. Damit, wie mit dem italienischen Abenteuer in Abessinien seit 1935, schürzte sich der Knoten für die Verbindung jener drei revisionistischen Mächte, die am Ende schließlich im Zweiten Weltkrieg gegen die Koalition aus Amerikanern, Briten mit ihren Dominions und Sowjetunion standen. Diese drei, die eigentlich wenig verband, bildeten nun, mit je ganz verschiedenen ideologischen Grundsätzen, seit dem japanischen Überfall vom 7. Dezember 1941 auf die amerikanische Schlachtflotte in Pearl Harbor eine der beiden kriegführenden Parteien des Zweiten Weltkrieges. Und diese Koalition unterlag am Ende nicht nur, weil sie deutlich schwächer war als die Gegenpartei. Mitentscheidend waren auch der Mangel an Koordination und nicht zuletzt das Fehlen von so etwas wie einer gemeinsamen Mission, wie sie die sogenannte Anti-Hitler-Koalition, trotz ihrer eminenten ideologischen Diskrepanzen, doch zu haben schien. Das eigentliche Paradoxon lag aber in der Folge darin, dass die drei revisionistischen Mächte der dreißiger Jahre, Deutschland – im Ergebnis Westdeutschland –, Italien und Japan, zu Nutznießern des Zerfalls der Anti-Hitler-Koalition und des Ausbruches des Kalten Krieges wurden: Die westlichen Siegermächte, namentlich die USA, waren sich der Tatsache nur zu bewusst, dass eine neutrale Position oder gar ein Umschwenken der drei großen Verlierer des Zweiten Weltkrieges ins sowjetische Lager die Niederlage des Westens hätte zur Folge haben können. So erhielten Westdeutschland, Italien und Japan gleichermaßen die Chance, sich ökonomisch dynamisch zu entwickeln und stabile Demokratien aufzubauen. Anders als nach 1919 sollten sie sich nun unter amerikanischer Hegemonie friedlich entfalten und buchstäblich wohl fühlen. Italien gehörte schon 1949 zu den Gründungsmitgliedern der NATO und wurde in der europäischen Integration zu einer wenigstens Quasi-Macht ersten Ranges. Westdeutschland avancierte zur ökonomischen Nummer zwei in der westlichen Weltwirtschaft und baute seit Mitte der fünfziger Jahre innerhalb der NATO das, nach den USA, stärkste militärisch-konventionelle Potential auf. Und Japan, das alle seine Eroberungen seit Ende des 19. Jahrhunderts verloren hatte, dessen militärisches Potential auf schwache „Selbstverteidigungsstreitkräfte“ reduziert worden war, erhielt die Chance, sich in einer liberalen Weltwirtschaftsordnung zur Wirtschaftsweltmacht zu entwickeln. Was eben die USA im Zeichen harter machtpolitischer Auseinandersetzungen in den dreißiger Jahren Japan weithin

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verweigert hatten, nämlich eine verlässliche Versorgung mit Rohstoffen und eine integrale Beteiligung an der Weltwirtschaft, konzedierten sie ihm nun im Zeichen des Kalten Krieges, im Zeichen der Errichtung einer kommunistischen Volksrepublik in China 1949 und des Ausbruchs des Korea-Krieges 1950, wie unter der Voraussetzung, dass Japan nun nicht mehr als imperiale Macht im herkömmlichen Sinne auftrat. Das 1918 geschlagene und 1919 durch den Versailler Friedensvertrag zurückgeworfene und gedemütigte Deutschland der Weimarer Republik befand sich in keiner vergleichbar günstigen Ausgangslage wie das Westdeutschland von 1948/49: Die ihm gegenüber stehenden Siegermächte mussten keinen großen neuen, existenzgefährdenden Konflikt befürchten, der sie veranlassen sollte, Deutschland politisch und ökonomisch zu stärken. Gewiss: Frankreich fühlte sich 1919 in gewisser Weise und auch nicht ganz zu Unrecht allein gelassen. Seine großen Verbündeten aus den Kriegsjahren waren fast wie vom Erdboden verschwunden: Sowjetrussland war, wenn überhaupt präsent, eine ideologischexpansive Gefahr; in den USA hatte man politisch einstweilen genug von europäischen Händeln, Italien sah sich benachteiligt und am Mittelmeer potentiell sogar als Rivalen Frankreichs und Großbritanniens. Großbritannien war vollauf mit der Erhaltung des eigenen Empire beschäftigt und scheute bindende Bündniszusagen gegenüber Frankreich. So war das französische Dilemma, dass das Land zwar militärisch Deutschland eindeutig überlegen war, aber eben auch nur militärisch, und dass es nur über zweitrangige Partner bzw. Verbündete verfügte. Auf der einen Seite war dies die sogenannte „Kleine Entente“, bestehend aus jenen drei Staaten, die auf Kosten Österreich-Ungarns gebildet bzw. doch vergrößert worden waren und sich nun gegen die drei stigmatisierten Verlierer, Deutschland, Österreich und Ungarn, behaupten mussten: Die Tschechoslowakei, strukturell in ihren tschechischen (und damit in den Randzonen auch deutschen) Teilen am weitesten entwickelt, hier ein echter Industriestaat, der SHS-Staat, heterogen, nahezu ein internes Pulverfass, insbesondere was die künftigen Konflikte zwischen Serben und Kroaten anbelangte, und Rumänien. Auf der anderen Seite stand das neu-konstituierte Polen, nach der Logik von Allianzbildungen gewissermaßen der natürliche neue Partner Frankreichs. „Das wirkliche Fundament der polnischen Außenpolitik war die polnisch-französische Allianz, die nach zweijährigen Bemühungen der polnischen Diplomatie am 19. Februar 1921 in Paris geschlossen wurde. Die Allianz bestand aus einem politischen Vertrag und einem Militärabkommen, das gegenseitige Garantien im Falle eines von Deutschland begonnenen Krieges bzw. einer militärischen

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Aktion vorsah, die ihren Ursprung auf einem durch die deutsche Regierung kontrollierten Gebiet haben würde.“ 71 Deutschland war und blieb während der gesamten Zwischenkriegszeit nicht nur eine gegenüber Polen unabdingbar revisionistische Macht, wobei auf der einen Seite die Korridor-Frage im Vordergrund stand, auf der anderen Seite aber auch Integrität wie Legitimität eines polnischen Staates grundsätzlich in Frage gestellt wurden. Zugleich aber bahnte sich, gewissermaßen nach den schematischen Gesetzmäßigkeiten von Allianzbildungen, eine deutsch-sowjetische gegen die französisch-polnische Verbindung an. Auf diesen Komplex und auf seine Fernwirkungen bis in die Gegenwart soll hier gesondert eingegangen werden. Zunächst einmal gilt, dass eine Kombination aus Frankreich und Polen unter den Bedingungen des Versailler Vertrages Deutschland militärisch gewissermaßen nach Belieben überlegen war, aber eben aber auch nur militärisch, nicht strukturell. In dem Augenblick, in dem die deutsche Politik sich, mangels militärischer Möglichkeiten, primär auf das Gewicht der Wirtschaftsgroßmacht Deutschlands bezog, wurde es für die französisch-polnische Kombination schwierig. Die hier liegenden Asymmetrien, zwischen vordergründigen militärischen und substantiellen ökonomischen Potentialen, haben die Lage im Kontinentaleuropa der zwanziger Jahre maßgeblich bestimmt. Zunächst einmal gab es, von 1919 bis 1923, jene Phase härtester französischer Repressionspolitik gegen die Weimarer Republik. Diese Repressionspolitik war doppelt motiviert, einmal durch die Absicht, über Versailles hinaus zu gehen und das Weimarer Deutschland weiter zu marginalisieren, wenn nicht zu zertrümmern. Daneben stand das Motiv, wegen der genannten strukturellen Unterlegenheit kompensatorisch besonders militant vorgehen zu müssen, mit Besetzung von sogenannten „Pfändern rechts des Rheins“, vor allem im Jahr 1923 durch die Besetzung des Ruhrgebietes und die gleichzeitige Unterstützung separatistischer Bestrebungen im Rheinland wie in der bayerischen Pfalz. Dazwischen lag, im April 1922, das Intermezzo des Vertrages von Rapallo. Rapallo, das zum Mythos geworden ist, bestimmte dem Wortlaut nach eigentlich nur Routine zwischen Staaten, die zum normalen Geschäftsverkehr miteinander übergehen: Rapallo, ein Dorf in der Nähe Genuas, wo zeitgleich eine große Weltwirtschaftskonferenz veranstaltet wurde, ist der Ort, an dem sich am 14. April 1922 die deutsche wie die sowjetrussische Delegation bei dieser Weltwirtschaftskonferenz trafen, um einen bilateralen Vertrag zu unterzeichnen. 71 Marek Kornat: Polen zwischen Hitler und Stalin. Studien zur polnischen Außenpolitik in der Zwischenkriegszeit, Berlin 2012, S. 30.

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Er enthielt nichts anderes als die Aufnahme diplomatischer Beziehungen, den wechselseitigen Verzicht auf alle mit dem Ersten Weltkrieg zu begründenden Wiedergutmachungsansprüche und die sogenannte Meistbegünstigungsklausel im zwischenstaatlichen Handel. Eigentlich ist so etwas alltäglich in den internationalen Beziehungen. Aber dahinter standen grundlegende Interessenlagen auf beiden Seiten: Die Weltwirtschaftskonferenz von Genua war im Wesentlichen eine britische Veranstaltung, auf Initiative des immer noch amtierenden Kriegspremiers David Lloyd George. Sie sollte, unter fortbestehender britischer bzw. westeuropäischer Hegemonie, so etwas wie das stabile Gesamtgefüge der europäischen Außenhandelswelt aus der Vorkriegszeit wiederherstellen: Es war klar, dass das durch Krieg und Bürgerkrieg ruinierte Sowjetrussland einen ungeheuren Investitionsbedarf hatte und dass Deutschland, so etwas wie die europäische Werkzeugkiste, am ehesten in der Lage war, die dazu notwendigen technischen Leistungen zu erbringen. „Die Reaktivierung des bitter entbehrten russischen Marktes (…) sollte in erster Linie Deutschland zufallen, das über die notwendige Produktion verfügte, den Vorzug der geographischen Nähe genoss und dessen Wirtschaft als besonders kenntnisreich und erfahren auf dem russischen Markt galt. Die anderen Mächte sollten sich mehr um das Startkapital und die Finanzierung der Geschäfte kümmern, wozu weder Russland noch Deutschland in der Lage waren. Von den Exportüberschüssen sollte Deutschland dann einen beträchtlichen Teil als Reparation an die Alliierten weitergeben. Es ging also um eine Art europäisches Syndikat zur Aushandlung, Verteilung und Finanzierung von Warengeschäften, den bekannten Plan eines internationalen Finanzkonsortiums.“ 72 Der sowjetrussischen Seite behagte das Ganze überhaupt nicht. In den ideologischen Imaginationen der bolschewistischen Führung gab es, seit Lenins frühen Imperialismustheorien, kein größeres Schreckgespenst als eine Einheitsfront der kapitalistischen Mächte. Immer wieder sollte sich in der sowjetischen Politik das Muster zeigen, eine solche Einheitsfront unter alle Umständen zu verhindern bzw. durch Lockangebote zu torpedieren. Am makabersten gelang dies zweifellos mit dem Molotow-Ribbentrop-Pakt vom 23. August 1939, jenem alle bisherigen ideologischen Antagonismen auf den Kopf stellenden Teufelspakt in Gestalt eines Nichtangriffsabkommens und einer Teilung Ost- und Mitteleuropas, die die Ouvertüre für die ersten eineinhalb Jahre des Zweiten Weltkrieges in Europa darstellten. Und noch bei den so genannten Stalinnoten des Jahres 1952, die das Angebot eines neutralisierten, wiedervereinigten Deutschlands, wie glaubwürdig auch immer, zum Inhalt 72 Peter Krüger: Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 1985, S. 158.

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hatten, galt als konzeptionelle Prämisse die Annahme Stalins, die Gegensätze innerhalb der kapitalistischen Welt, die den Zweiten Weltkrieg mit bestimmt hätten, würden wieder aufleben, Deutschland und Japan würden sich wieder gegen die angelsächsischen Mächte wenden. Die deutsche Seite war vor Rapallo gespalten. Reichspräsident Ebert und Reichsaußenminister Rathenau, gut zwei Monate später Opfer eines Mordanschlages der republikfeindlichen Organisation Consul, sahen in einem deutschen Alleingang mit dem bolschewistischen Russland ein verwegenes Abenteuer, das die Westmächte nur noch mehr gegen Deutschland aufbringen müsse. Dagegen standen Reichskanzler Wirth und der zuständige Abteilungsleiter im Auswärtigen Amt Ago von Maltzan. Sie bemühten das alte, auch Bismarcksche Leitbild von der Suche nach Partnern gegen eine drohende Einkreisung. Und ihre Argumentation hatte zumindest insofern etwas für sich, als die Pläne des britischen Premiers auf eine europäische Wirtschaftsordnung abzielten, in der Deutschland weitgehend Objekt blieb. Konkret kam vor Ort, in Genua, hinzu, dass die Westmächte immer noch ein Drohmittel besaßen, mit dem gegebenenfalls auch die sowjetrussische Seite taktieren konnte, die Artikel 116 und 117 des Versailler Vertrages. Im Artikel 116 behielten sich die Siegermächte „ausdrücklich die Rechte Russlands vor, von Deutschland alle Wiederherstellungen und Wiedergutmachungen zu erhalten, die den Grundsätzen des gegenwärtigen Vertrages entsprechen.“ Das darin enthaltene Drohpotenzial, dass sich nämlich eventuell die Westmächte und Sowjetrussland auf Kosten Deutschlands über Reparationen verständigen könnten, hing wie ein Damoklesschwert über der deutschen Delegation in Genua – und eben diese prekäre Option beseitigte der Vertrag von Rapallo definitiv. Umgekehrt: Wäre von westlicher Seite der deutschen Führung glaubwürdig versichert worden, das Instrument der Art. 116 und 117 sei obsolet, dann hätten in Deutschland womöglich die Stimmen gegen den bilateralen Rapallo-Vertrag mit Russland obsiegt. Rapallo war nicht das, was es an deutsch-sowjetischen Vorhaben und Wünschen, zugleich Phantasien und Perspektiven in den zwanziger Jahren auch gab, nämlich die große Verständigung auf Kosten Polens und der Aufbau einer europäischen Kontinentalallianz, die das Ergebnis des Ersten Weltkrieges im Großen korrigieren sollte, nebst den Vorarbeiten, die dafür schon geleistet wurden, insbesondere im Bereich der geheimen militärischen Zusammenarbeit auf sowjetischem Boden. Aber Rapallo war eben doch ein Anschlag auf das Vorhaben einer westeuropäischen Kartellbildung; er half die Stellung Lloyd Georges zu unterminieren und war die eigentliche Ursache für den französischen Einmarsch ein dreiviertel Jahr später ins Ruhrgebiet.

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Dieser französische (und belgische) Einmarsch ins Ruhrgebiet stellte den Höhepunkt deutsch-französischer Konfrontation in der Zwischenkriegszeit dar und zugleich so etwas wie die Fortsetzung des Krieges zwischen beiden Mächten mit anderen Mitteln. Die auf französischer Seite entscheidende Figur war der seit Januar 1922 amtierende Ministerpräsident Raymond Poincaré, zuvor 1913 bis 1920 Staatspräsident. Für Poincaré ging es nun darum, die latente Bedrohung Frankreichs durch ein strukturell überlegenes Deutschland ein für allemal zu beseitigen – wenn es ging und opportun erschien selbst durch eine territoriale Zerstückelung Deutschlands, etwa auch durch eine Separation Bayerns. Die Konflikte des Jahres 1923 zwischen Berlin und München, kulminierend im Hitler-Putsch vom 9. November, hat Poincaré dabei gründlich fehlinterpretiert – nämlich als Abwendung vom Reich, wo es doch aus Münchener Perspektive um dessen autoritär-nationalistischen Umbau ging.73 Da Deutschland sich militärisch nicht zur Wehr setzen konnte, konzentrierte sich seine Gegenwehr im „passiven Widerstand“ auf ein Maximum ökonomischer wie mentaler Abwehr. Unter dem neuen Reichskanzler Gustav Stresemann musste schließlich dieser finanziell nicht mehr zu bestreitende passive Widerstand, die Versagung jeglicher Kooperation deutscher Institutionen gegenüber der Besatzungsmacht, am 26. September 1923 abgebrochen werden. Aber auch Frankreich hatte unter der Führung Poincarés den Bogen überspannt. Vor allem von britischer Seite vermittelt und deutscherseits durch den seit dem 23. November 1923 nur noch als Reichsaußenminister amtierenden Gustav Stresemann konzipiert, erfolgte so etwas wie die Herstellung eines neuen Aggregats­ zustandes an der Hauptkonfrontationslinie der Nachkriegszeit, das heißt am Rhein: die Reparationsfrage wurde in Gestalt des amerikanisch konzipierten und vermittelten Dawes-Planes 1924 zumindest mittelfristig so geregelt, dass hier wenigstens für einige Jahre eine Konsolidierung erreicht schien. Mit den Locarnoverträgen, durch Großbritannien und Italien als Garantiemächten abgesichert, wurde 1925 die Grenzregelung des Versailler Vertrages nochmals freiwillig notifiziert. Dies hieß: Deutschland verzichtete dauerhaft auf ElsassLothringen, was im Reich nicht mehr allzu schwer fiel, diese Kriegsbeute von 1871 hatte man in Deutschland bis weit nach rechts innerlich längst abgeschrieben. Frankreich verzichtete auf die Rheingrenze und nahm von jeder Förderung des innerdeutschen Separatismus Abstand, und Deutschland bekräftigte 73 Vgl. Georges-Henri Soutou: Vom Rhein zur Ruhr: Absichten und Planungen der französischen Regierung, in: Der Schatten des Weltkrieges. Die Ruhrbesetzung 1923, hrsg. von Gerd Krum­ eich und Jochen Schröder, Essen 2004, S. 63–83.

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seinerseits nochmals die dauerhafte Entmilitarisierung der Rheinlande. Die deutsche Ost- bzw. polnische Westgrenze, im Kern die Korridorfrage, erfuhr keine gleichrangige Bekräftigung. Das war, obwohl die Grenzen um keinen Meter verschoben wurden, ein subtiler Erfolg der deutschen Revisionspolitik. Für die Ostgrenze und etwaige deutsch-polnische Konflikte sagte Deutschland, mit Zustimmung Frankreichs und Großbritanniens, lediglich die Bereitschaft zu schiedsvertraglichen Lösungen und – vertraulich – zu einem Kriegsverzicht zu. Umgekehrt hieß dies: Mit einer friedlichen Revision im Osten waren Frankreich und Großbritannien im Prinzip einverstanden, Großbritannien ohnehin, dem das Schicksal Westpreußens ziemlich gleichgültig war. Das ganze Ausgleichspaket aus der Mitte der zwanziger Jahre wurde im Folgejahr durch zwei weitere Schritte vervollständigt. Die Weimarer Republik schloss im sogenannten Berliner Vertrag von 1926 ein Neutralitätsabkommen mit der Sowjetunion. Der Berliner Vertrag, obwohl in seinen Festlegungen viel weitergehend als Rapallo, besaß doch nicht mehr die Verführungskraft des Rapallo-Vertrages. Für die sowjetische Außenpolitik war wichtig, dass sich das Deutsche Reich angesichts seines bevorstehenden Beitrittes zum Völkerbund, und dieses war 1926 der zweite große Schritt, nicht in eine westliche Einheitsfront eingliedern ließ; dies war und blieb, gerade angesichts der Stalinschen Politik des „Sozialismus in einem Lande“, die worst-case-Vorstellung im Kreml. Deutschland kam hier der Sowjetunion entgegen – und nolens volens akzeptierten dies die Westmächte. Im Zusammenhang mit seinem Beitritt zum Völkerbund, er erfolgte am 8. September 1926, erklärte Deutschland, dass es im Konfliktfall den Artikel 16 der Völkerbundsatzung eigenständig, nach seinen Möglichkeiten und Bedürfnissen, auslegen und praktizieren werde. Der Artikel 16 besagte, dass, sofern ein Mitglied des Völkerbundes, und im konkreten Fall war vor allem an Polen zu denken, von einer anderen Macht angegriffen werde, es Anspruch auf Unterstützung durch alle anderen Völkerbundmitglieder habe – was im konkreten Fall bedeuten konnte, dass Deutschland sich nicht nur in eine propolnische und antisowjetische Allianz einzufügen gehabt hätte, sondern ebenso sein Territorium für einen Durchmarsch vor allem französischer Truppen zur Verfügung stellen musste. Deutschland argumentierte dagegen 1926 besonders im Hinblick auf seine de facto Entmilitarisierung, die der Versailler Vertrag ja verfügt hatte. Und es gelang noch ein Zweites: Deutschland erhielt von vornherein den Status eines ständigen Mitgliedes des Völkerbundrates, des Vorgängers des heutigen UN-Sicherheitsrates. Damit war sein wiedergewonnener politischer Großmachtstatus gewissermaßen formal beglaubigt worden.

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Es ist eine geradezu klassische Fragestellung, ob die Zeit von 1914 bis 1945 in Europa, also vom Ausbruch des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, als die Phase eines einzigen, zusammenhängenden Konfliktgeschehens zu deuten sei, gewissermaßen, wie man das dann gerne genannt hat, als ein zweiter Dreißigjähriger Krieg. Manches spricht dafür, manches spricht dagegen. An dieser Stelle seien dagegen vor allem zwei Argumente vorgebracht: Zum einen die ideologischen und mörderisch-eliminatorischen Aspekte, die den Zweiten Weltkrieg prägten und die im Ersten Weltkrieg, zumindest auf dem europäischen Kriegsschauplatz und bei all seinen durch die Entwicklung der Waffensysteme bedingten technischen Grausamkeiten, doch fremd blieben. Die Phase der ideologisch bestimmten totalitären Diktatur begann eben in Europa erst mit dem Ende des Ersten Weltkrieges. Das Zweite ist, dass einiges dafür spricht, die hier knapp skizzierten Lösungen und Konsolidierungen in der Mitte der zwanziger Jahre, bei allen Unfertigkeiten, die ihnen anhafteten, doch mit gutem Grund als eine Zäsur anzusehen, die die Kriegszeit nach ihrem rechtlichen Ende 1919 weitgehend auch politisch und mental beendete. Vielleicht aber, so wäre präzise zu formulieren, hätte beenden können, wenn im Sinne einer ausgleichenden Kooperationspolitik konsequent weitergearbeitet worden wäre. Denn hier liegt ein Problem: Die Frage war, ob das Lösungspaket von 1924–26 den Abschluss einer Konsolidierung oder den Auftakt einer substantielleren Revision darstellen sollte. Aus deutscher Sicht galt weitgehend Letzteres, aus französischer Sicht weitgehend das gerade Gegenteil. Gustav Stresemann, der sich, wie die andere ganz große Figur der Weimarer Republik, ihr erster Reichspräsident Friedrich Ebert, auch körperlich förmlich aufgeopfert hatte, starb am 3. Oktober 1929. Es begann eine neue, wieder deutlich verhärtete Phase in den internationalen Beziehungen, auch unabhängig von den besonderen Belastungen, die die Weltwirtschaftskrise mit sich brachte. Zwei gegensätzliche Projekte des Jahres 1930 machen diesen Antagonismus deutlich: Am 17. Mai 1930 ließ der französische Außenminister Briand den Regierungen in den anderen Hauptstädten das Konzept eines neuen europäischen Organismus zukommen. Es ging um gemeinsame Institutionen, ökonomische Zusammenarbeit und vor allem, sozusagen überlagernd, die Festschreibung des territorialen status quo. Sowohl Deutschland als auch Großbritannien ließen das französische Vorhaben buchstäblich auflaufen, so dass es mehr oder weniger vollständig versandete. Für Deutschland war die Festschreibung der europäischen Grenzziehungen im Osten und Südosten inakzeptabel, für Deutschland wie Großbritannien eine von ihnen gleichermaßen gefürchtete ökonomische Abschottung Europas gegenüber

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den USA. Damit aber wies das Vorhaben wie die Auseinandersetzung darüber auch bereits auf eine viel spätere Zeit hin, die Nachkriegszeit nach dem Zweiten Weltkrieg: denn über den Auseinandersetzungen innerhalb der europäischen Integration seit der Begründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957 stand, im Kern bis heute, stets auch die Fragestellung, ob es um ein kontinental abgeschottetes Europa oder um eine weltwirtschaftliche Öffnung auf globalisierten Märkten gehen solle. Gustav Stresemann hatte als Außenminister darauf gesetzt, dass Deutschland, besiegt und abgerüstet, nur mehr ein substantielles Pfund habe, mit dem es wuchern und auch politisch Druck ausüben könne, seine Position als ökonomisch erstrangige Macht, an deren Prosperität insbesondere die USA selbst ein unmittelbares Interesse nehmen müssten. Manches von diesen gegensätzlichen Orientierungen fand sich in den Auseinandersetzungen seit den späten fünfziger Jahren in Bonn zwischen Atlantikern und Gaullisten wieder, zwischen jenen, die auf die Präsenz der ökonomisch erstarkten Bundesrepublik auf den Weltmärkten setzten, mit Ludwig Erhard als ihrer ordoliberalen Galionsfigur, und jenen, die sich hinter dem bis 1963 amtierenden Bundeskanzler Konrad Adenauer und Franz Josef Strauß sammelten und auf eine westdeutsche „special relationship“ mit Frankreich setzten, landläufig als „Gaullisten“ bezeichnet.74 Und der interpretatorische Bogen scheint nicht überdehnt, wenn man auch die aktuellen Auseinandersetzungen innerhalb der europäischen Integration seit der Einführung des Euro als Gemeinschaftswährung unter diesen Antagonismus subsummiert. Auch hier steht die Modellvorstellung eines politisch induzierten Gestaltungsanspruches französischer Prägung gegen die Modellvorstellung eines atlantischen Liberalismus, wobei das wiedervereinigte Deutschland sich, gegen seine eigentliche ökonomische Interessenlage, politisch primär im Lager eines französisch-kontinentaleuropäischen Staatsinterventionismus positioniert. Zurück in die Welt der frühen dreißiger Jahre: Gewissermaßen der Gegenentwurf zu den Briandschen Europaplänen war das Projekt einer deutschösterreichischen Zollunion. Beim Besuch des österreichischen Bundeskanzlers Schober vom 22. bis 24. Februar 1930 in Berlin wurde es zwischen Deutschland und Österreich erstmals intern erwogen und sozusagen aufs Gleis gesetzt. Das 74 Vgl. Tim Geiger: Atlantiker gegen Gaullisten. Außenpolitischer Konflikt und innerparteilicher Machtkampf in der CDU/CSU 1959–1969, München 2008, Daniel Koerfer: Kampf ums Kanzleramt Erhard und Adenauer, Stuttgart 1987, Hans-Peter Schwarz: Adenauer: Der Staatsmann 1952–1967, Stuttgart 1991.

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Vorhaben zielte auf zweierlei: Zunächst einmal sollte es die Vorstufe der ein Jahrzehnt zuvor gescheiterten deutsch-österreichischen staatlichen Fusion sein, und zum anderen sollte es eine Plattform für einen deutschen Handelsexpansionismus nach Südosteuropa darstellen. Wenn Ungarn, Rumänien, politisch widerstrebend, aber ökonomisch gezwungen auch die Tschechoslowakei sich anschlössen, um insbesondere für ihre Agrarprodukte den deutschen Markt zu erschließen, dann bedeutete dies so etwas wie die Vorstufe zu einer exklusiven deutschen Hegemonialzone, in der Kontinuität der alten Mitteleuropapläne aus der Zeit des Ersten Weltkrieges. Im Grunde hatte das Projekt vom ersten Tag keine Chance mehr, an dem es bekannt geworden war. Frankreich und die Tschechoslowakei leisteten den denkbar härtesten Widerstand. Die Perspektive, die sich hier zeigte, war für sie so etwas wie der worst case. Das Aus für die Zollunion kam nach der schweren zuerst österreichischen und dann deutschen Bankenkrise im Frühjahr 1931 Anfang September des Jahres, schon bevor der Haager Gerichtshof mit einer Stimme Mehrheit entschied, dass das Vorhaben nicht mit den geltenden Verträgen vereinbar sei. Aber zugleich war klar geworden, dass der nationalstaatliche Revisionismus, schon Jahre vor der Installierung des NS-Regimes in Deutschland, neue Triebkräfte erhielt. Die Verhärtung der Internationalen Beziehungen in Europa hatte viel mit enttäuschten Erwartungen und zunehmend nationalisierten Betrachtungsweisen zu tun – schon vor Gustav Stresemanns Tod am 3. Oktober 1929 –, und sie erfasste große Teile des politischen Spektrums in Deutschland, bis hinein in die Sozialdemokratie: Als der sozialdemokratische Reichskanzler Hermann Müller seinen erkrankten Außenminister im September 1928 bei der Genfer Herbsttagung des Völkerbundes vertrat – neun Jahre zuvor hatte er selbst als Außenminister den Versailler Vertrag unterschrieben –, schlug er, härter als Stresemann es getan hätte, einen sehr scharfen, gegen die französische Delegation gerichteten Ton an – bezogen auf die Räumung des Rheinlandes und zur zunehmend auf der Agenda der europäischen Politik stehenden Abrüstungsfrage: „Die Entwaffnung Deutschlands darf nicht länger dastehen als der einseitige Akt der den Siegern des Weltkrieges in die Hände gegebenen Gewalt.“ 75 Die Räumung der letzten Zone im Rheinland wie der bayerischen Pfalz erfolgte dann vorfristig zum 30. Juni 1930 – aber sie brachte keine Entlastung in den Internationalen Beziehungen mehr: Auf der französischen Seite war das Unbehagen über diesen Schritt deutlich, auf der deutschen wurde eine sehr nationale Befreiung 75 Zit. nach Paul Schmidt: Statist auf diplomatischer Bühne 1923–1945. Erlebnisse des Chef­ dolmetschers im Auswärtigen Amt mit den Staatsmännern Europas, Bonn 1949, S. 158.

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gefeiert, wiederum gerade in der Pfalz durchaus plausibel nach den vielerlei Bedrückungen durch die Phase der Begünstigung von Separatisten durch die Besatzungsmacht. Der Einmarsch kasernierter bayerischer Landespolizei am 1. Juli 1930 über die Rheinbrücke von Mannheim nach Ludwigshafen wurde von Hunderttausenden gefeiert, in der Erinnerung „wie ein Marsch nach dem Siege.“ 76 Schließlich der zuständige Reichsminister für „die besetzten Gebiete“ Gottfried Treviranus, an sich kein radikaler Scharfmacher: Als Deutschnationaler des linken Flügels hatte er sich, als Alfred Hugenberg in der Partei das Ruder übernahm und das Volksbegehren gegen den Young-Plan mittrug, von der Partei getrennt und die Neugründung der Volkskonservativen mitgeschaffen. Treviranus sprach wenige Wochen nach der Rheinlandbefreiung, ostentativ auf die Ostgrenze bezogen, von den „heute noch verlorenen, einst wiederzugewinnenden Landen“ 77 – und zerschlug damit international einiges Porzellan. Und zuletzt für diese Phase das Drama um die Genfer Abrüstungskonferenz. Sie trat, nach vielen deutschen Vorhaltungen, was die Einseitigkeit und Radikalität der deutschen Abrüstung anbelangt, am 2. Februar 1931 zusammen. Ihr Scheitern spielt schon in die beginnende Zeit des „Dritten Reiches“ hinein: Konzessionen hinsichtlich abstrakter deutscher Gleichberechtigung in Rüstungsfragen verbanden sich mit der weiterhin anhaltenden Verweigerung eines symmetrischen deutschen Rüstungsstandes, begründet nicht nur mit den militanten deutschen Wehrverbänden, sondern auch mit der überlegenen deutschen Ökonomie. Die anhaltenden Divergenzen führten zum deutschen Rückzug von der Konferenz am 21. September 1932 und im Gegenzug zu einer Fünfmächteerklärung vom 11. Dezember 1932, in der der Grundsatz verankert wurde, „Deutschland und den anderen durch die Verträge abgerüsteten Staaten die Gleichberechtigung zu gewähren in einem System, das allen Nationen Sicherheit bietet.“ Zunächst einmal wurde nun wieder verhandelt, voller Vorbehalten auf beiden Seiten, über militärische Dienstzeiten, Kaliber der Geschütze, Fristen und Inspektionen, mit gesteigertem Misstrauen gegenüber Deutschland nach dem 30. Januar 1933. Als das neue „Dritte Reich“ schließlich am 14. Oktober 1933 Völkerbund und Abrüstungskonferenz verließ, konnte Hitler sich dabei eines großen Rückhalts in der Bevölkerung sicher sein – hier wirkten die geschickt instrumentalisierten deutschen Frustrationen aus den zwanziger Jahren vielfach nach. Kein Zweifel: 76 Zit. nach Hans Kirsch: Sicherheit und Ordnung betreffend. Geschichte der Polizei in Kaiserslautern und in der Pfalz (1276–2006), Kaiserslautern 2007, S. 278. 77 Zit. nach Hans Mommsen: Die verspielte Freiheit. Der Weg der Republik von Weimar in den Untergang 1918 bis 1933, Berlin 1989, S.,303.

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Die Hoffnungen aus der Zeit Mitte der zwanziger Jahre waren schon wenig später in Enttäuschungen umgeschlagen. Die Außenpolitik des nationalsozialistischen Deutschlands ist hier nicht im Detail zu schildern. Wichtig ist, dass sie nach einer Phase der Selbstorientierung mit mancherlei Fehlschlägen, wie dem Fiasko des nationalsozialistischen Putsches 1934 in Wien gegen die Regierung des dabei ermordeten Bundeskanzlers Dollfuß, zweierlei Komponenten zusammen zu bringen suchte: Zunächst einmal die Fortführung der herkömmlichen deutschen Revisionspolitik, in freilich sehr viel militanteren und ultimativeren Formen, damit aber zugleich den Aufbau einer Position, die es gestatten sollte, die eigentlichen, ideologisch begründeten Vorhaben des Nationalsozialismus zu realisieren, also im Kern den Aufbau eines großen deutschen kontinentalen Kolonialimperiums, mit Kolonien nicht fernab in Übersee, sondern mittels sogenannten Raumgewinns und Entvölkerung in Osteuropa. Dies alles ist quellenmäßig hinreichend belegt, ebenso wie die Tatsache, dass sich die Vorstellungen der führenden nationalsozialistischen Akteure teilweise gravierend unterschieden: Setzte Hitler vor allem auf die antisowjetische Karte, so sein Propagandaminister Joseph Goebbels und sein Außenminister seit 1938 Joachim von Ribbentrop auf die antibritische. Am Ende aber setzte sich die zentrale Führungsfigur durch. Bis 1939 war mehr als die vollständige Revision des Versailler Vertrages erreicht, mit allgemeiner Wehrpflicht und Aufrüstung, mit der Herstellung Großdeutschlands 1938, mit dem Gewinn des Sudetengebietes, schließlich mit der Zerschlagung der Tschechoslowakei und im Ergebnis mit dem Aufbau einer hegemonialen deutschen Position in Mitteleuropa. Nicht erreicht war lediglich jener Schritt, der den alten, nationalstaatlich orientierten, ostelbischen Eliten am meisten am Herzen gelegen wäre, der Wiedergewinn Danzigs und des sogenannten polnischen Korridors. Dies wurde dann die Frage, die, ganz instrumentell, zum Anlass für die Kriegsentfachung am 1. September 1939 wurde. Es wurde hier schon mehrfach angedeutet: Der Zweite Weltkrieg, mit seinen so weitgehend anderen Dimensionen und Triebkräften, hat die Fragestellungen, die der Erste Weltkrieg in der europäischen Staatenkulisse hinterlassen hatte, nicht gänzlich ausgelöscht bzw. überwunden. Gewiss war die Teilung Europas durch den Kalten Krieg mit jeweils einer Hegemonialsphäre einer der beiden Weltmächte historisch gänzlich neuartig. Aber unter diesem Dach lebten alte Fragestellungen und Prägungen fort. Die Suez-Krise von 1956, das schließlich unter sowjetischem Druck durch die USA unterbundene Vorgehen der alten Großmächte Großbritannien und Frankreich

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gegen die Verstaatlichung des Suez-Kanals, stellte die welthistorisch wohl letzte klassisch europäische Großmachtintervention dar – und bewies mit ihrem Scheitern, dass diese europäischen Großmächte tatsächlich nur noch zweitrangige Größen darstellten. Auf dem Höhepunkt der Krise, als die sowjetische Führung London und Paris bedrohte, fuhr Bundeskanzler Adenauer mit einer stattlichen Begleitung aus Bonn ostentativ mit einem Sonder-Nachtzug in die französische Hauptstadt, am Abend des 5. November 1956. Als der Zug am nächsten Morgen in Paris eintraf, wurde demonstrativ so etwas wie eine deutsch-französische Schicksalsgemeinschaft inszeniert. Adenauers Pressesprecher Felix von Eckhardt schilderte in seinen Erinnerungen eindrucksvoll die symbolhaften Bilder am Morgen des 6. November 1956 in Paris: „Als der Kanzler mit den Mitgliedern der französischen Regierung aus dem Bahnhof trat, war der Platz voller Menschen, die Adenauer stürmisch begrüßten. Eine Kompanie der Garde Civile erwies die Ehrenbezeigungen. Das Deutschlandlied und die Marseillaise klangen auf. Der Kanzler nahm die Ehrungen wie ein Standbild unbeweglich entgegen. (…) An diesem Morgen musste der Abgebrühteste die Bedeutung der Stunde und ihre Symbolkraft empfinden. In der ernstesten Stunde, die Frankreich seit Ende des Krieges (Zweiter Weltkrieg. P.M.) erlebte, standen die beiden Regierungen eng zusammen. Nichts konnte den großen Wandel in den deutsch-französischen Beziehungen deutlicher machen. Nichts würde die beiden Völker mehr trennen können.“ 78 War es aber in der Tat so, dass die Degradierung der alten europäischen Mächte auch die alten innereuropäischen Rivalitäten beseitigte? Zweifel erscheinen angebracht. Das durch den Kalten Krieg, zuvor schon durch die ideologischen Konfrontationen des Zweiten Weltkrieges überlagerte Status- und Rivalitätsdenken verschwand nicht einfach, weil es zurückgetreten war. Die französisch-deutsche Rivalität hatte schon im Zweiten Weltkrieg nur mehr eine zweitrangige Rolle gespielt. Obwohl Adolf Hitler selbst als Angehöriger der Kriegsgeneration des Ersten Weltkrieges an den leitenden Vorstellungen und Feindbildern dieser Zeit durchaus Anteil hatte, kam es ihm im Kern auf die Rivalitäten dieser Epoche gar nicht mehr so sehr an; gewiss, auch das gab es in seiner Vorstellungswelt – den militärischen Erfolg gegen die Dritte Französische Republik im Mai und Juni 1940 ließ er am Ende als Revanche inszenieren; symbolhafter Höhepunkt war die Unterzeichnung des Waffenstillstandes mit Frankreich am 21. Juni 1940 am Ort der ersten Waffenstillstandsunterzeichnung, am 11. November 1918, nun wiederum in Compiègne. Aber im Grunde war das alles nicht mehr bestimmend. Es ging vielmehr im Kern um 78 Felix von Eckhardt: Ein unordentliches Leben, Düsseldorf o.J., S. 466.

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das große deutsche Ostimperium. Der militärische Sieg über Frankreich war dafür eine instrumentelle Voraussetzung, zugleich Triumph für die Propaganda, aber nicht mehr der eigentlicher intentionale Kern. Und auch im deutschen Publikum der dreißiger Jahre war, paradoxerweise auch mit den Erfolgen der Hitlerschen Außenpolitik, das Empfinden einer Erbfeindschaft gegenüber Frankreich bereits merklich zurückgetreten, am vitalsten spürbar beim Einmarsch der französischen Mannschaft zur Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 in Berlin. Umgekehrt aber muss gelten, dass eine Hintanstellung alter Konfliktlinien und Rivalitäten, nach 1945/49 unter dem Druck des überlagernden Kalten Krieges, eben nicht ihr gänzliches Verschwinden bedeutete. Gerade die Präsidentschaft Charles de Gaulles in Frankreich ab 1958, auf westdeutscher Seite so gerne als Höhe- und Ausgangspunkt deutsch-französischer „Versöhnung“ gesehen, kulminierend im deutsch-französischen Vertrag vom 22. Januar 1963, brachte tatsächlich eben auch so etwas wie ein verstärktes Wiederanknüpfen an französisches Dominanzdenken: De Gaulle stoppte sofort die von der Vierten Republik in ihrer Schlussphase in Gang gesetzte Kooperation mit der Bundesrepublik und Italien im Bereich der nuklearen Rüstung. Die Trias von französischem Kernwaffenanspruch, französischer Position als ständiges Mitglied des UNOSicherheitsrates und als förmliche Siegermacht mit Zuständigkeiten in Berlin und Deutschland als Ganzem stellte die Voraussetzung einer spezifischen Vorrangposition dar, die nicht in Frage gestellt werden durfte. Westdeutschland mit seinem starken ökonomischen Potenzial zählte als unverzichtbarer Partner, um gemeinsam substantiell etwas auf die weltpolitische Waage legen zu können; aber Frankreich sollte doch zugleich eine formal singuläre Großmachtposition neben Großbritannien und den USA im westlichen Mächtegefüge bewahren.79 Und nach solchen Betrachtungsweisen konnte es rund drei Jahrzehnte später dahin kommen, dass der französische Staatspräsident François Mitterrand Bundesaußenminister Genscher bei dessen Besuch in Paris am 30. November 1989, also genau drei Wochen nach dem Fall der Mauer in Berlin und zwei Tage nach Helmut Kohls Verkündung eines Zehn-Punkte-Plans zur Herstellung eines föderierten Deutschlands, unverhohlen mit der Konstellation des Jahres 1913 drohte, also mit erneuter deutscher Isolierung, schließlich würde ein wieder­ vereinigtes Deutschland formal souverän sein und eigene Spielräume beanspruchen. Mitterand dagegen: „Es sei sogar nicht ausgeschlossen, dass man in die Vorstellungswelt von 1913 zurückfalle. Das Europa von 1913 sei aber voller Bedro79 Vgl. Ulrich Lappenküper: Die deutsch-französischen Beziehungen 1949–1963. Von der „Erbfeindschaft“ zur Entente élémentaire, zwei Bände, München 2001.

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hungen gewesen. Wenn die künftige deutsche Wiedervereinigung sich in einem Europa vollziehen würde, das sich strukturell nicht entscheidend weiter entwickelt habe, dann riskierten wir, in alte Wege zu geraten. Er sei der Meinung, dass die Wiedervereinigung, wenn sie eines Tages komme, von einer noch stärker gefestigten europäischen Gemeinschaft aufgefangen werden müsse. Sonst würden die europäischen Partner, die sich ‚diesem neuen Körper von 80 Millionen Menschen gegenüber sehen, nach neuen Gegengewichten suchen.‘“ 80 1913, das hieß eben die Konstellation vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, und so war die Mahnung des französischen Staatspräsidenten gewiss auch gedacht. Er und seine zeitweilige Verbündete, die den konzeptionellen Weg in eine stärkere Verfestigung der europäischen Integration nicht mitgehen wollte, die britische Premierministerin Margaret Thatcher, haben am Ende die deutsche Wiedervereinigung nicht verhindert bzw. nicht verhindern können. Die Ursachen liegen auf der Hand, und sie waren überwölbender weltpolitischer Natur – darauf wurde hier im Zusammenhang mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag schon hingewiesen: Die geschwächte Sowjetunion Michail Gorbatschows wollte von einem eher freundschaftlich verbundenen Deutschland, selbst wenn es am Ende NATOMitglied blieb, jenes Maß an ökonomischer Stärkung erfahren, zu dem die kleine und technisch rückständige DDR nicht in der Lage war. Und für die USA war die Bundesrepublik und in der Folge das wiedervereinigte Deutschland der gegebene Partner, um den großen Transformationsprozess, der mit dem Ende des Kalten Krieges einsetzte und Chance wie Belastung zugleich war, erfolgreich zu gestalten. Eine solche Rolle konnten nach ihrem ökonomischen Potenzial wie nach ihrer geostrategischen Positionierung und nach den gegebenen kulturellen Voraussetzungen weder Frankreich noch Großbritannien spielen. Ein halbes Jahr vor dem Fall der Mauer erklärte der amerikanische Präsident George Bush bei seiner programmatischen Rede in Mainz am 31. Mai 1989: „Heute übernehmen wir noch darüber hinaus eine gemeinsame Aufgabe – als Partner in einer Führungsrolle. Und natürlich ist diese Führungsrolle fest mit einem weiteren Element verbunden – Verantwortung und unsere Verantwortung besteht darin, dass wir vorausschauen und die Verheißungen der Zukunft verwirklichen 80 Dokument Nummer 11. Niederschrift des bundesdeutschen Botschafters in Paris, Pfeffer, vom 30. November 1989 über das Gespräch vom Bundesaußenminister Genscher mit dem französischen Staatspräsidenten François Mitterrand am 30. November 1989 in Paris, in: Andreas Hilger (Hrsg.): Diplomatie für die deutsche Einheit. Dokumente des Auswärtigen Amtes zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen 1989/90, München 2011, S. 56–61, hier S. 58, vgl. Ulrich Lappenküper: Mitterrand und Deutschland. Die enträtselte Sphinx, München 2011, S. 264 f.

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können.“ 81 Freilich: Die deutsche Wiedervereinigung bedeutete im Ergebnis alles andere als die Wiederherstellung einer gestaltenden deutschen Großmachtrolle in der Mitte Europas, wie sie damals von Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher auch gar nicht angestrebt wurde – ganz im Gegenteil: Forcierte Europäisierung sollte derartigen Ambitionen und Perspektiven von vorneherein die Grundlage entziehen. Dabei ist heute zugleich klar, dass entscheidende Weichenstellungen gar nichts mit der sich seit Spätherbst 1989 anbahnenden Wiedervereinigung Deutschlands zu tun hatten, sondern schon viel früher gestellt wurden, darunter insbesondere die Entscheidung zur Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung. Hans-Peter Schwarz hat das in verdienstvoller Weise in seiner 2012 erschienenen Biographie Helmut Kohls mit aller Klarheit herausgearbeitet. So sehr das Frankreich François Mitterands an seinem privilegierten Status im nuklearen Rüstungsbereich festhielt, so sehr drängte es mit aller Vehemenz auf die Preisgabe der deutschen Währung als Instrument von globaler Bedeutung, also des deutschen Alleinstellungsmerkmals. Mitterand selbst führte das immer wieder aus, 1987 gegenüber dem spanischen Premier Felipe González: „Sicher, die Deutschen mauern. Da ihre diplomatische Macht und ihre Militärmacht aber nicht auf der Höhe der Wirtschaftsmacht sind, habe ich mich davon überzeugt, dass sie ihre Dominanz auf die monetäre Macht Deutschlands stützen. Es ist eine tief verankerte Ressource.“ Im Folgejahr 1988 im französischen Ministerrat: „Die Macht Deutschlands beruht auf der Wirtschaft, und die D-Mark ist Deutschlands Atombombe.“ 82 Ähnlich wie in den Zeiten der Konflikte zwischen Gaullisten und Atlantikern in Bonn wurden nun wieder die Weichen im Sinne politischer Intentionen gegen ökonomische Zweckmäßigkeit gestellt. Wie Konrad Adenauer sich gegen die weltwirtschaftlichen Überzeugungen Ludwig Erhards positioniert hatte, ähnlich wie auch Helmut Schmidt mit Präsident Giscard d’Estaing bei der Schaffung des Europäischen Wirtschafts- und Währungssystems (EWS), folgten jetzt Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher den politischen Imperativen einer dominanten kontinentaleuropäischen Integrationspolitik gegen die ökonomische Funktionslogik. Dabei war, gerade dies macht die genannte Biographie Helmut Kohls deutlich, ja überdeutlich, die Absicht bestimmend, allen innereuropäischen Rivalitäten, welche im Ersten Weltkrieg kulminiert hatten, buchstäblich um jeden Preis den Boden zu entziehen. Aber es gibt eben auch überschießende Wahrnehmungen, 81 Zit. nach Molitor, Partner in der Führung, S. 149. 82 Zit. nach Hans-Peter Schwarz: Helmut Kohl. Eine politische Biographie, München 2012, S. 430 f.

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überschießende Therapien und ein Agieren, das tatsächliche Gefahrenpotentiale verdrängt und tabuisiert, weil es Bedrohungsmuster aus der Vergangenheit unvermindert fortschreibt und perhorresziert.

Die deutsch-polnisch-russische Dreieckstragödie

Polen entstand am Ende des Ersten Weltkrieges wieder, weder als russisches, noch als österreichisches, noch als deutsches Protektorat, weil der Krieg, jedenfalls zunächst einmal, einen gewissermaßen asymmetrischen Ausgang genommen hatte. Deutschland und Österreich-Ungarn hatten Russland militärisch besiegt und in der politischen Konsequenz seines ostmitteleuropäischen Glacis’ beraubt, sie waren dann aber selbst unterlegen und konnten diese Zone, in der sie ein „informal empire“ hatten errichten wollen, nicht mehr nach ihrem Gutdünken gestalten. So war ein buchstäblicher Freiraum entstanden, in dem sich Polen erstmals seit Jahrhunderten wieder als wirklich unabhängiger und potenter Staat einrichten konnte. Seit Jahrhunderten, das heißt im Grunde seit dem 17. Jahrhundert, in dem es letztmals als Akteur von Gewicht auf der europäischen Bühne hatte agieren können.83 Die sich immer mehr verfestigende Schwäche seines Wahlkönigtums und seine zunehmende Abhängigkeit von Russland hatten es schon lange zu einer abhängigen Größe reduziert, bevor mit der ersten Teilung im Jahr 1772 auch der gewissermaßen formale Zerstörungsprozess seines Staates einsetzte. Die östlichen Großmächte, Russland, Österreich und Preußen, ab 1867 Österreich-Ungarn, ab 1871 das Deutsche Reich, hatten Polen letztmals, nach dem napoleonischen Zwischenspiel des Herzogtums Warschau, auf dem Wiener Kongress 1814/15 geteilt. Und bei allen Gegensätzen unter ihnen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts an Brisanz gewannen, waren sie sich doch bis zuletzt darin einig gewesen, dass jedenfalls ein unabhängiges Polen ihren Machtinteressen keinesfalls entsprach. Und klar war auch, dass ein wieder entstandenes Polen, wie geschlagen, geschwächt und stigmatisiert seine beiden großen Nachbarn, Deutschland und Russland, auch immer wären, sich prinzipiell in einer geostrategisch denkbar ungünstigen Zweifrontensituation zwischen diesen beiden befinden musste. Wollte es auf Dauer bestehen können, dann benötigte es also Partner im Westen und darüber hinausgehend möglicherweise politische Strategien, die es aus dieser Zweifrontensituation so weit es ging befreiten, entweder durch eine immer weiter gehende Schwächung und territoriale Zurückdrängung wenigstens eines der beiden Nachbarn oder durch das Eingeständnis eines machtpolitisch minderen Status und die Anlehnung an 83 Vgl. Klaus Malettke: Hegemonie – multipolares System – Gleichgewicht 1648/1659–1713/14 (Handbuch der Internationalen Beziehungen, Bd. 3) Paderborn u. a. 2012, S. 207 ff.

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einen von ihnen. Letzteres aber kam für die polnische Republik während der gesamten zwei Jahrzehnte ihres Bestehens in der Zwischenkriegszeit zu keinem Zeitpunkt wirklich in Frage: Das bolschewistische Russland war machtpolitisch wie ideologisch für das katholisch-mitteleuropäische Polen stets eine latente Bedrohung, Deutschland gegenüber gab es zunächst die Auseinandersetzung um Territorien und sogar das Infragestellen der Legitimität eines polnischen Staatswesens durch große Teile der deutschen Eliten. Zudem wurde Polen umgekehrt, geradezu naturgemäß, von deutscher Seite als der gegebene Partner und Verbündete Frankreichs gesehen. Als in Deutschland zu Beginn des Jahres 1919 allmählich erkennbar wurde, dass es eben doch keinen asymmetrischen Ausgang des Krieges gegeben hatte, der auf Dauer von Bestand war, dass Deutschland somit auch im Osten seine Positionen räumen musste, nahmen die antipolnischen Phobien schlagartig zu: „Die ungeheure Erbitterung, die sich der deutschen Öffentlichkeit im Frühjahr 1919 bemächtigte, als die tatsächlichen Friedensbedingungen durchsickerten, speiste sich nicht zuletzt aus diesen noch über den militärischen Zusammenbruch hinaus gehegten Illusionen. Der Punkt, an dem die Stimmung umschlug, war die dritte Waffenstillstandsverlängerung vom Februar, die die deutsche Armee ultimativ zwang, ganz Polen einschließlich der Provinz Posen zu räumen. Kurz darauf wurde bekannt, dass auch Danzig und Oberschlesien an Polen fallen sollten. Nachdem die im Baltikum verbliebenen deutschen Truppen ebenfalls zurückbeordert wurden, war klar, dass es für die Verluste im Westen keine Kompensation im Osten geben würde, im Gegenteil. Die neuen mitteleuropäischen Staatsbildungen waren nicht zuletzt auch darauf angelegt, das Deutsche Reich durch einen ‚cordon sanitaire‘ vom Osten und besonders vom bolschewistischen Russland zu separieren.“ 84 In der Logik der europäischen Mächtebeziehungen hatte vielfach der Grundsatz gegolten: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Noch Henry Kissinger, als Historiker geschult an den Konfliktregelungen des Wiener Kongresses von 1814/1815, hatte zu Beginn der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts ganz nach dieser Maxime eine Liaison zwischen den kapitalistischen USA und dem maoistischen China eingefädelt, um die immer stärker aufrüstende und expansive Sowjetunion der Ära Breschnew einzudämmen. Aber konnte das bolschewistische Russland mit seinem weltrevolutionären Anspruch für das geschlagene Deutschland ein akzeptabler Partner sein, nur um das ungeliebte Polen möglichst wieder von der Landkarte zu tilgen? Oder war das ein völlig 84 Gerd Koenen: Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900–1945, München 2005, S. 277 f.

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unverantwortliches Hazard-Spiel? Die Paradoxie lag eben darin, dass die Kräfte der linken Mitte in Deutschland in einem solchen Vorgehen keine verantwortbare Strategie sahen, Konservative und Militärs hingegen schon. General von Seeckt, schließlich Chef der Heeresleitung der Reichswehr, nahm dazu kein Blatt vor den Mund: „Polens Existenz ist unerträglich, unvereinbar mit den Lebensbedingungen Deutschlands. Es muss verschwinden und wird verschwinden durch eigene Schwäche und durch Russland, mit deutscher Hilfe.“ 85 Die Schizophrenie in der Bereitschaft von Teilen der etablierten deutschen Rechten, mit dem bolschewistischen System gegen die Sieger von Versailles und gegen Polen an erster Stelle zu paktieren, war vor allem darin begründet, dass der Kommunismus in Deutschland in den Anfangsjahren der Republik, von 1919–1923, alles unternahm, um diese zu stürzen. Ziel war, ein linksextremes Räte- und wenn möglich, ein Sowjetdeutschland zu errichten, zwar gewiss ebenfalls gegen die Sieger des Ersten Weltkrieges, vornehmlich aber gegen die alten Eliten im eigenen Land. Der Bogen dieser Entwicklung spannt sich vom Januaraufstand der eben gegründeten KPD 1919 über die zweite, die kommunistische Räterepublik vom April des Jahres in München gegen eine sozialdemokratisch geführte Regierung in Bayern, über den Aufstand der Roten Ruhrarmee nach der Niederschlagung des Kapp-Putsches im Frühjahr 1920 bis zu den einstweilen letzten kommunistischen Unternehmungen, die Republik mit bewaffneter Militanz zu stürzen, dem Hamburger Aufstand und den proletarischen Hundertschaften der KPD in Sachsen vom Herbst 1923. Dazwischen lag, auf dem außerordentlichen Parteitag der USPD in Halle vom 12. Oktober 1920, die Spaltung dieser eigentlich linksintellektuellen Partei. Sie hatte sich im Frühjahr 1917 gebildet, aus Protest gegen die sozialdemokratische Mehrheitspolitik des Burgfriedens und der Billigung der Kriegskredite während des Krieges. Sowjetische Agitatoren, an erster Stelle der Generalsekretär des Exekutivkomitees der Komintern, Grigorij Sinowjew, 1936 ein Opfer der stalinschen Säuberungen, gewannen die Mehrheit der Parteidelegierten für den Anschluss an die „Dritte Internationale“ und damit für den Eintritt in das kommunistische Lager.86 Der folgende Zusammenschluss von KPD und linkem Flügel der alten USPD machte, erstmals in der deutschen Geschichte, den Kommunismus zu einer Massenbewegung. Rund ein Vierteljahr vor dem Parteitag der USPD in Halle aber, und zugleich wenige Monate nach dem Aufstand der kommunistischen Roten Ruhrarmee, tauchten Kavallerieeinheiten der eigentlichen Roten Armee an der ostpreu85 Zit. nach ebd., S. 297. 86 Winkler, Von der Revolution, S. 474.

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ßischen Grenze auf: Der im Jahr 1919 begonnene Krieg zwischen dem neu geschaffenen Polen und dem bolschewistischen Russland hatte seinen Höhepunkt erreicht. Es ging um sehr viel: Siegte Trotzkis Rote Armee, dann war es mit einem selbstständigen Polen vorbei, und es drohte der Revolutionsexport nach Mittel- und Westeuropa, Behauptete sich aber Polen, dann wurde die Versailler Ordnung in Ostmitteleuropa einstweilen stabilisiert. In Ostpreußen lagen die Erfahrungen mit der Invasion zweier zaristischer Armeen im August 1914 gerade erst einmal fünf Jahre zurück. Dazu kam, naturgemäß, in der aristokratischen Gütergesellschaft die Angst vor den Bolschewiki, die in Russland Adel und Bürgertum blutig liquidiert hatten. Und doch gab es bemerkenswerte Sympathien für die Kavallerieregimenter der Roten Armee. Die kleine Stadt Soldau im Süden der Provinz war durch den Versailler Vertrag von Deutschland abgetrennt worden, weil durch sie die für Polen strategisch wichtige Bahnlinie von Warschau über Thorn nach Danzig verlief. Dort wurden die einigermaßen wild aussehenden Reiter von Trotzkis Roter Armee mit den schwarzweißroten Fahnen des Kaiserreiches willkommen geheißen. Ansonsten hielt sich die Rote Armee an ihre Zusage, die noch geltende Grenze nicht zu verletzen, im Übrigen aber ihren Beitrag zu leisten, damit Deutschland im Osten wieder die Grenzlinie des Jahres 1914 erhalte, sofern die Bolschewiki nur militärisch über die Polen triumphierten. Und in der Reichswehr gab es durchaus Sympathien, ja Hilfsbereitschaft für diese wilden Gesellen. Militärisch kam es dann ganz anders: Mit französischer Unterstützung schlug Marschall Piłsudski, die höchste politische und militärische Autorität auf polnischer Seite, die Rote Armee in der Schlacht bei Warschau zurück, und im Frieden von Riga verständigten sich Polen und Sowjetrussland auf eine Grenzziehung, die einen Kompromiss darstellte zwischen den historischen Grenzen Polens, die noch viel weiter im Osten gelegen hatten, und der durch die Bevölkerungsmajoritäten vorgegebenen „Curzon-Linie“. Die Turbulenzen in den frühen zwanziger Jahren wichen nach dem Katastrophenjahr 1923 mit den politischen und ökonomischen Konsolidierungen von 1924/25 auch im Verhältnis zwischen Deutschland und Polen so etwas wie einer kalten Stabilisierung. Man musste miteinander leben, aber es mangelte weiterhin an wirklicher Akzeptanz: neben den deutsch-sowjetischen Vereinbarungen von Rapallo 1922 und im Berliner Vertrag von 1926 etablierte sich eine intensive Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee: Die Reichswehr testete auf sowjetischem Boden jene Waffensysteme, die ihr der Versailler Vertrag verboten hatte, Panzer, Giftgas und Flugzeuge, die Rote Armee versprach sich so etwas wie Entwicklungshilfe in professioneller Generalstabsarbeit.

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Auch und gerade nach den Regelungen von Locarno 1925 rangierte die Änderung der deutsch-polnischen Grenze weit oben auf der Tagesordnung der deutschen Revisionspolitik. Grundsätzlich gab es auf deutscher Seite zweierlei Strategien bzw. zweierlei deutlich verschiedene Betrachtungsweisen des Problems: Auf der einen Seite weiterhin das fundamentale Infragestellen Polens bzw. zumindest den Anspruch, zu den Grenzen des Jahres 1914 zurückzukehren, was bedeuten musste, dass mit der ehemaligen preußischen Provinz Posen ein unbestrittener Teil historischen polnischen Kernlandes beansprucht wurde. Die Stresemannsche Revisionspolitik gegenüber Polen war subtiler und auch nicht auf die Destruktion des gesamten polnischen Staates gerichtet; Stresemann selbst war durchaus kein Anhänger eines riskanten deutschen Paktierens mit der Sowjetunion. Der Neutralitätsvertrag von 1926 war in dieser Hinsicht das Äußerste, was man ihm abverlangen konnte. Stresemann war eher ein Mann deutscher Westbindungen. Aber zumindest in der Korridorfrage und im Blick auf die Rückgewinnung Danzigs war er unbestreitbar revisionistisch. Er setzte darauf, Polen bei der Minderheitenfrage vor dem Völkerbund unter Druck zu setzen, und er setzte, ganz der Ratio seiner Außenpolitik überhaupt folgend, auf ökonomischen Druck: Die Erwartung war, dass ein Polen, gegen das Deutschland einen Handelskrieg führte, das galt insbesondere für die Fernhaltung polnischer Agrarexporte vom deutschen Markt, irgendwann wirtschaftlich und finanziell kollabierte und sich in territoriale Zugeständnisse fügen werde, vielleicht gegen die Alternative eines Zugangs zur Ostsee über litauisches Territorium. Eine derartige Bereitschaft hat aber bis 1939 auf polnischer Seite zu keinem Zeitpunkt bestanden, und so blieb es einstweilen bei dem, was man eine deutschpolnische Hängepartie nennen könnte. Mehr noch: Gerade in den letzten Jahren der Weimarer Republik mehrten sich Anzeichen, dass die polnische Seite ihrerseits offensiv werden könne, um einer nationaleren deutschen Außenpolitik nach dem Tode Stresemanns sozusagen militärisch vorsorgend zu begegnen. Der eigentliche Kurswechsel aber fand, in Berlin und in Warschau, mit der Machtübertragung an Adolf Hitler am 30. Januar 1933 statt. Hitler und jedenfalls Teile der NS-Führung mochten keine Freunde Polens sein, aber die habituellen Vorbehalte, ja Phobien der ostelbisch-deutschnationalen Schichten gegen Polen teilten sie nicht, bzw. hatte diese Sichtweise für die neue Führung in der Reichskanzlei zumindest keine Priorität. Für Hitler war der ideologisch wie geostrategisch primäre Feind die Sowjetunion – von ihr gehe die sogenannte jüdisch-bolschewistische Bedrohung aus, ein Feindbild, das er in den frühen zwanziger Jahren wie viele andere entwickelt hatte, und umgekehrt und primär bot die Sowjetunion Raum und Rohstoffe für das große kontinentale deutsche

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Kolonialimperium. Polen, als Gegenstand deutscher Politik, ob gemocht oder nicht, wurde in dieser Perspektive jedenfalls nachrangig. Nach der Machtübertragung an Adolf Hitler am 30. Januar 1933 schien sich zunächst die deutsch-polnische Konfliktkonstellation massiv zu verstärken. „Tatsächlich gab es nur zwei Politiker von Rang, die der von Hitler ausgehenden Gefahr sofort gewahr wurden und ein entsprechendes Handeln einforderten. Der eine freilich lebte zu diesem Zeitpunkt längst im Exil (…), der andere tat das, was in seiner Macht stand, fand aber in seinem Vorgehen keine Bundesgenossen, so dass er sich bald bereit fand, selber seinen Frieden mit Hitler zu machen: Leo Trotzki und Jósef Piłsudski.“ 87 Piłsudski, seit seinem Staatsstreich von 1926 die zentrale Figur der polnischen Politik, dachte zunächst an eine vorbeugende militärische Intervention gegen Deutschland, wie sie auf polnischer Seite schon in den Jahren der Präsidialkabinette zuvor erwogen worden war, schickte polnische Marineinfanterie auf die Westerplatte im Danziger Hafen, ließ Truppen im westpreußischen Korridor aufmarschieren und fühlte in Paris vor, ob man nicht gemeinsam „Faustpfänder“ besetzen solle, die Franzosen im Rheinland, die Polen in Schlesien und Ostpreußen. Frankreich aber zeigte wenig Engagement, Großbritannien war strikt dagegen: Schließlich sei diese deutsche Regierung legal ins Amt gekommen und, im Gegensatz zu den Vorgängerkabinetten, sogar an den Wahlurnen, bei der Reichstagswahl vom 5. März 1933, plebiszitär bestärkt worden. In der Folge begann jene Phase, in der sich zum einen die revisionistischen Mächte zunehmend aus der internationalen konzertierten Außenpolitik zurückzogen: Deutschland verließ im Herbst 1933 die Genfer Abrüstungskonferenz und den Völkerbund, nahezu zeitgleich verließ auch Japan die Weltorganisation. Die Außenpolitik der Stresemann-Ära war damit definitiv und demonstrativ zu Ende. Wer nun noch mit den revisionistischen Mächten ins Geschäft kommen wollte, musste dies bilateral tun, durch Absprachen von Großmacht zu Großmacht. Vor diesem Hintergrund entschlossen sich Polen und Deutschland zu einer radikalen Kehrtwende ihrer bisherigen Politik: Am 26. Januar 1934 schlossen sie einen auf 10 Jahre befristeten Nichtangriffspakt, bei dem die zentralen historischen Streitpunkte ausgeklammert blieben, für Hitler waren sie ohnehin nachrangig: Der Wirtschaftskrieg zwischen beiden Ländern war nun vorbei, das trug Hitler auch Sympathien bei der deutschen Wirtschaft ein. Und eine drohende Blockbildung der etablierten Großmächte gegen Deutschland, an der sich die französische Außenpolitik versuchte, war 87 Rainer F. Schmidt: Die Außenpolitik des Dritten Reiches 1933–39, Stuttgart 2002, S. 29.

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damit gescheitert. Für Hitler war die Sowjetunion der eigentliche ideologische Hauptfeind, das Bündnis der alten deutschnationalen Eliten mit dem Kreml war damit zunächst einmal obsolet. Und in Warschau suggerierte man sich, diese eher katholisch-süddeutsch-österreichische NS-Führung sei eigentlich viel verträglicher als jene preußisch-deutschen Diplomaten und Offiziere, die teilweise noch in den Traditionen der engen Verbindung zwischen Hohenzollern und Romanows groß geworden waren. Diese, der bisherigen deutschen Polenpolitik zuwiderlaufende Linie hielt ziemlich genau fünf Jahre, etwa bis zur Jahreswende 1938/39, solange sie für die NS-Außenpolitik im Saldo lohnend erschien. Zunächst einmal dominierte ganz die antisowjetische Linie, im sogenannten Anti-Kominternpakt vom 23. November 1936 mit Japan vertraglich fixiert. Diesem Pakt trat das faschistische Italien knapp ein Jahr später bei, am 6. November 1937. Im Spanischen Bürgerkrieg trugen die Kontrahenten bereits seit Sommer 1936 einen blutigen Stellvertreterkonflikt aus, das nationalsozialistische Deutschland und das faschistische Italien gegen die stalinsche Sowjetunion. Und letztere trieb, seit 1933 selbst Mitglied des Völkerbundes, eine Politik der kollektiven Sicherheit, mittlerweile sogar im Bündnis mit Frankreich und der Tschechoslowakei, aus Berliner Sicht der potentielle sowjetische Flugzeugträger in Mitteleuropa. Polen, eher konservativ und der stalinschen Sowjetunion gegenüber voller Misstrauen, setzte nicht mehr allzu viel Hoffnungen in Verlässlichkeit und Stärke der französischen Politik, war aber ebenso wenig bereit, sich zum Satelliten des nationalsozialistischen Deutschlands degradieren zu lassen. In dieser Dreiecksgeschichte bahnte sich die Wende an, als die Westmächte im Herbst 1938 die Tschechoslowakei fallen ließen. Wenige Tage nach Deutschland mit dem Münchener Abkommen bediente sich Polen: Durch ein polnisches Ultimatum vom 1. Oktober 1938 wurde die Tschechoslowakei gezwungen, nach den sudetendeutschen Gebieten an Deutschland nun das sogenannte Teschener Gebiet an Polen abzutreten. Zumindest mittelbar hatten Berlin und Warschau als imperiale Komplizen agiert. Dreieinhalb Jahre zuvor war Marschall Piłsudski verstorben und Hitler ordnete für ihn ein Requiem in der katholischen Berliner Hedwigskirche an, zu dem er persönlich erschien – geradezu ein ostentativer Beweis für den kulturellen Wandel, der sich vermeintlich zwischen beiden Staaten vollzogen hatte. Zugleich gab es in Deutschland durchaus militärischen Respekt vor Piłsudski, der 1920 die Rote Armee geschlagen hatte – die Bilder changierten: als Pole eigentlich nicht so recht respektabel, als antikommunistischer Troupier hingegen geschätzt. Etwa an der Jahreswende 1938/39 konkretisierten sich dann die deutschen Vorstellungen gegenüber Polen weiter vor allem

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in Gesprächen Hitlers wie seines Außenministers Ribbentrop mit dem polnischen Außenminister Beck am 5. und 6. Januar 1939: Polen sei ein wertvoller Partner Deutschlands, es solle dem Anti-Kominternpakt beitreten – und sich damit bereithalten, sich an der großen Auseinandersetzung zwischen Deutschland und der Sowjetunion zu beteiligen. Für die Akzeptanz der deutschen Revisionswünsche, die Rückkehr Danzigs ins Reich und eine exterritoriale Straßen- und Bahnverbindung zwischen Pommern und Ostpreußen, werde es dann reichlich entschädigt werden. Der entscheidende Punkt ist: Die unmittelbaren deutschen Forderungen an Polen in der Konfliktzone um Danzig waren sogar deutlich geringer dimensioniert, als dies in der Weimarer Republik der Fall gewesen war. Sie waren aber subsummiert unter die Forderung, dass Polen sich zum Vasallen Deutschlands degradieren ließ, damit auch endgültig auf Distanz zu den Westmächten ging, also Fundamente seiner politischen und kulturellen Orientierung preisgab; hinzu kam die Frage nach der Glaubwürdigkeit von Positionen NS-Deutschlands überhaupt, zumal nach der Zerschlagung der sogenannten „Resttschechei“ im März 1939, wider alle Zusagen vom Herbst des Vorjahres. Nach dem deutschen Einmarsch in Prag erhielt Polen am 31. März 1939 eine britische Garantieerklärung für die Erhaltung seiner Integrität. Frankreich schloss sich ihr mit eher gemischten Gefühlen an. Die Garantieerklärung der Westmächte für Polen war aber zum einen keine Garantieerklärung für die absolute Irreversibilität der gegebenen territorialen Lage. Der andere, wichtige Gesichtspunkt war, dass es sich zunächst einmal, angesichts der geostrategischen Bedingungen in Europa, nur um einen politischen Willensakt handelte. Sollte er militärisch unterfüttert werden, musste die Sowjetunion ins Boot genommen werden, denn sie allein war tatsächlich in der Lage, einen deutschen Angriff auf Polen schnell und wirkungsmächtig abzuwehren. Das aber ging nur, wenn Polen sich einverstanden erklärte, dass die Rote Armee von Osten kommend sein Territorium betrat. Die polnische Führung aber hat es während der gesamten Sondierungs- und Verhandlungsphasen im Frühjahr und Sommer 1939 prinzipiell abgelehnt, gegen Deutschland oder die Sowjetunion in der Weise Front zu machen, dass sie sich jeweils in die Abhängigkeit von der anderen Seite begab. An dieser Stelle schürzte sich der Knoten zum Abschluss des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes vom 23. August 1939 mit seinem geheimen Zusatzprotokoll: Stalin hatte, und hier muss man in das vorausgegangene Jahr 1938 zurückgehen und die sowjetischen Erfahrungen mit dem Münchner Abkommen bedenken, kein Zutrauen in die Standfestigkeit der Westmächte. Er selbst aber wollte nicht, wie er im Mai 1939 in einer Rede ausgeführt hatte, für andere „die

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Kastanien aus dem Feuer holen“. Für Hitler aber war ein Arrangement mit Stalin, wenn Polen sich ihm definitiv versagte, der einzige Weg, um vermeintlich ohne das deutsche Trauma einer Zweifrontensituation den Weg einer territorialen Offensivpolitik weiter bestreiten zu können. Und dies war für ihn eben unabdingbar. Zunächst einmal glaubte man in Berlin, durch den Nichtangriffspakt mit dem Kreml samt dem geheimen Zusatzprotokoll, das die Teilung des östlichen Europas von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer regelte, die Westmächte gewissermaßen ausgetrickst, Polen isoliert und zur leicht zu gewinnenden Beute gemacht zu haben. Dabei hatten beide, das nationalsozialistische Deutschland wie die kommunistische Sowjetunion, ihre ideologischen Positionen durch dieses machiavellistische Bubenstück schwer kompromittiert. Für das Selbstverständnis der kommunistischen Weltbewegung wurde der Pakt zu einem Trauma, zur Erfahrung des Verrats an sich selbst, eine Erfahrung, die sie im Grunde nie überwand, wohl noch gravierender als die künftigen traumatischen Erfahrungen mit der Niederwerfung des ungarischen Volksaufstandes 1956 und dem Einmarsch der Warschauer-PaktStreitkräfte 1968 in der Tschechoslowakei. Das andere war, dass, im Saldo betrachtet, zweifellos Stalin den größeren Nutzen als Hitler zog. Für ihn war entscheidungsrelevant gewesen, dass mit der Unterschrift am frühen Morgen des 24. August 1939 im Moskauer Kreml die Voraussetzungen für den Kampf der kapitalistischen Staaten gegeneinander geschaffen wurden – und 10 Tage später war es tatsächlich so weit, als Großbritannien und Frankreich am 3. September 1939 Deutschland den Krieg erklärten, zwei Tage nach dem Beginn der deutschen Zangenoperation aus Ostpreußen, Schlesien und der Slowakei gegen Polen. Vier Tage nach dem Ausbruch des europäischen Großmächtekrieges, am 7. September 1939, diktierte Stalin dem Komintern-Vorsitzenden Georgi Dimitroff ins Notizbuch, konsequent nach leninistischer Tradition: „Der Krieg wird zwischen zwei Gruppen von kapitalistischen Staaten geführt – (Arme und Reiche) im Hinblick auf Kolonien, Rohstoffe usw. (…), nicht schlecht, wenn Deutschland die Lage der reichsten kapitalistischen Länder (vor allem Englands) ins Wanken brächte. – Hitler selber zerrüttet und untergräbt, ohne es zu verstehen und zu wollen, das kapitalistische System (…). Wir können manövrieren, die eine Seite gegen die andere aufbringen, damit sie sich noch stärker in die Haare kriegen.“ 88 Stalins Kalkül, er tue gut daran, Deutschland in der Auseinandersetzung mit Großbritannien und Frankreich zu unterstützen, denn es sei die letztlich strukturell unterlegene Macht, war 88 Zit. nach Koenen, Russland-Komplex. S. 422.

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durchaus zutreffend, trotz der deutschen so genannten Blitzsiege in den Jahren 1939 und 1940. Der militärische Zusammenbruch Frankreichs im Mai und Juni 1940 war keineswegs zwangsläufig, er war das Ergebnis einer Kombination glücklicher Zufälle mit unerhörten taktischen und strategischen Missgriffen auf Seiten der Westmächte. Und trotz dieses Erfolges sollte sich schon nach wenigen Monaten zeigen, dass das nationalsozialistische Deutschland nicht in der Lage war, das britische Empire niederzuringen, dass der Krieg auf lange Sicht auch im Westen fortgeführt werden würde und sich, komme es zu einem Abnutzungskrieg, das deutsche Potenzial grundsätzlich eher erschöpfen werde. Im Kern hatte der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt die Kriegführung des nationalsozialistischen Deutschlands zu keinem Zeitpunkt von der so sehr gefürchteten Zwei-Fronten-Situation befreit, allenfalls nur vordergründig, taktisch und militärisch-operativ. Aber solange die Sowjetunion mit ihrem Potenzial und mit ihrer einzigartigen strategischen Tiefe fortbestand, blieb die mit ihrer schieren Existenz verbundene Drohung erhalten, und durch die Moskauer Vereinbarungen dazu noch über viele hundert Kilometer weiter nach Westen an die deutschen Grenzen herangeführt. Stalin sammelte die Beute ein, ohne große Opfer bringen zu müssen: Am 17. September 1939 überfiel die Rote Armee Ostpolen, im Folgejahr ließ das sowjetische Politbüro weit über 20.000 Angehörige der polnischen Intelligenz, derer sie habhaft geworden war, in Katyn und an anderen Orten durch Kopfschuss liquidieren, Berufsoffiziere und Reserveoffiziere mit akademischen Bildungsgängen – in auffälliger Parallelität hatten SS-Einsatzgruppen unter der Verantwortung Reinhard Heydrichs schon 1939 an die 40.000 Morde im westlichen Polen verübt, vor allem an Juden und auch hier gezielt an der polnischen Intelligenz. Das Baltikum wurde annektiert, Finnland, von Deutschland preisgegeben, wehrte sich im Winterkrieg von 1939/40 und konnte einstweilen mit Einbußen überleben; Rumänien musste Bessarabien abtreten und damit rückte die Sowjetunion den für Deutschland lebenswichtigen rumänischen Ölfeldern gefährlich nahe. Zugleich hing die gesamte deutsche Kriegführung von sowjetischen Rohstoff- und Lebensmittellieferungen ab. Als der sowjetische Außenminister Molotow am 12. und 13. November 1940 Berlin besuchte, nahm er gegenüber Hitler und Ribbentrop kein Blatt vor den Mund: Die Beute vom September 1939 war inzwischen gewissermaßen konsumiert, nun richteten sich die sowjetischen Anfragen „auf Südost- und Nordeuropa, reichten bis nach Ungarn, Jugoslawien und Griechenland, zielten auf den westlichen Teil Polens und auf Schweden, erstreckten sich sogar auf die

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Ostsee­ausgänge des Großen und Kleinen Belt, des Skagerrak und des Kattegat.“ 89 Die deutsche Grundsatzentscheidung zum Angriff auf die Sowjetunion war schon zuvor gefallen, die militärischen Planungen dafür hatten bereits im Sommer 1940 eingesetzt. Molotows Auftrumpfen, sein Programm, das fast so etwas wie eine Strangulierung des nationalsozialistischen Deutschlands enthielt, verstand Hitler als eine Bekräftigung seines Entschlusses, nunmehr den zentralen Teil seines ursprünglichen Programmes aus den frühen zwanziger Jahren zu verwirklichen, die Erkämpfung eines deutschen Imperiums in einem Feldzug, der den ideologischen Hauptgegner, den sogenannten jüdischen Bolschewismus, vernichtete und der Deutschland Millionen Quadratkilometer und reiche Bodenschätze einbrachte. Neben diesem zentralen Imperativ aber stand die Feinarbeit der militärischen Planung. Und diese krankte von Anfang an daran, dass die deutschen Generalstäbler den Gegner sträflich unterschätzten, sein Potenzial an Menschen und Produktionsmöglichkeiten wie vor allem die Tiefe seines Raumes. Und hier spielten die Erfahrungen mit dem Gegner des Ersten Weltkrieges, dem zaristischen Russland, eine verheerende Rolle, mit einem Zeitverzug von über zwei Jahrzehnten. Weil Deutschland sich damals in der Lage gezeigt hatte, die Armeen des zaristischen Russland, obwohl aus seiner Sicht an einer Nebenfront, in Schach zu halten und diesen Gegner schließlich sogar niederzuwerfen, glaubte man umso eher, leichtes Spiel zu haben. Vor 1914 war die russische Dampfwalze das Schreckgespenst der deutschen Militärs, jetzt war an die Stelle von Furcht, zumal mit dem frischen Lorbeer des Frankreichfeldzuges von 1940, sträflicher Leichtsinn getreten. Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion vom 22. Juni 1941 hatte einen gewissermaßen dreifachen Hintergrund: Zum einen ging es um ein, wenn nicht um das Kernelement der Weltanschauung Adolf Hitlers, das nunmehr realisiert werden sollte: „Die Eroberung des europäischen Russlands zur Errichtung eines deutschen Kontinentalimperiums als Basis für eine deutsche ‚Weltmacht‘-Stellung war das große Ziel Hitlers, seitdem er in der Mitte der zwanziger Jahre sein ‚Programm‘ konzipiert hatte, in dem sich ‚Machtwille und Ideologie‘ in einer ganz eigentümlichen Weise wechselseitig bedingten (…).“ 90 Die Umstände der nunmehr buchstäblich in Angriff genommenen Realisierung waren aber zugleich ganz andere, als sie Hitler wie großen Teilen der nationalsozialistischen Führung stets vorgeschwebt hatten: Denn eine Lehre, die geradezu zwangsläufig nicht nur er aus dem Ersten Weltkrieg gezo89 Hildebrand, Deutsche Außenpolitik, S. 737. 90 Andreas Hillgruber: Hitlers Strategie. Politik und Kriegführung 1940–1941, München² S. 564.

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gen hatte, sondern die in Deutschland fast so etwas wie „common sense“ war, resultierte aus den traumatischen Erfahrungen mit der Zweifrontensituation des Ersten Weltkrieges. Daher erschien Hitler als gewissermaßen ideale Konstellation für eine Niederwerfung der Sowjetunion ein Beiseitestehen der Westmächte, die dann im Nachhinein in den Schatten eines großen deutschen Ostimperiums gerieten, und die Verbindung mit einem zum Satelliten degradierten Polen, die sich 1938/39 eben nicht hatte durchsetzen lassen. Die sozusagen strategisch umgekehrte Kriegseröffnung vom 1. bzw. 3. September 1939 hatte Deutschland in Abhängigkeit von der Sowjetunion gebracht und zugleich eben doch in eine latente Zweifrontensituation: Einerseits war die Sowjetunion der Papierform nach neutral, aber zugleich war sie eine Größe, die jederzeit vom potentiellen zum faktischen Gegner werden konnte, wie Hitler selbst, zum Beispiel am 9. Januar 1941, vor den deutschen militärischen Spitzen offen eingestand: „Stalin, der Herr Russlands, sei ein kluger Kopf; er werde nicht offen gegen Deutschland auftreten, man müsse aber damit rechnen, dass er in für Deutschland schwierigen Situationen im wachsenden Maße Schwierigkeiten machen werde. Er wolle das Erbe des verarmten Europa antreten, habe auch Erfolge nötig und sei vom Drang nach dem Westen beseelt.“ 91 Die Erwartung, sich durch einen militärischen Erfolg gegen die Sowjetunion aus dem Dilemma einer, wenn auch zunächst nur latenten und selbst herbeigeführten Zweifrontensituation zu befreien, verband sich mit der Einschätzung, durch die Eliminierung der Sowjetunion als Figur auf dem weltpolitischen Schachbrett Großbritannien und mit ihm im Hintergrund auch die USA jeglicher Hoffnung zu berauben, das nationalsozialistische Deutschland durch eine umfassende Koalition in die Defensive drängen und besiegen zu können. Diese Argumentation hat Hitler gegenüber Großadmiral Raeder, dem Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, bereits am 31. Juli 1940 zum Ausdruck gebracht, also in jener kurzen Übergangsphase nach dem militärischen Zusammenbruch Frankreichs, als eine Invasion Großbritanniens zwar angedacht und vorbereitet wurde, aber keineswegs mit dem vollen politischen und militärischen Im­petus, zu dem das Dritte Reich eigentlich fähig war.92 Die Variante einer Niederwerfung Großbritanniens wäre für Hitler und das Gros der nationalsozialistischen Führung stets eine gewissermaßen nur aus der strategischen Not geborene Aushilfslösung gewesen – im anderen Lager standen etwa sein 91 Zit. nach ebd. , S. 364. 92 Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4: Der Angriff auf die Sowjetunion, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt Stuttgart 1983, S. 14.

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Außenminister von Ribbentrop und sein Propagandaminister Goebbels, beide aber naturgemäß weit davon entfernt, gegen den „Führer“ echte Opposition zu leisten. In Hitlers Weltsicht bot sich vielmehr, seit der Errichtung des NSdeutschen Imperiums auf dem europäischen Festland, mit einem Angriff auf die Sowjetunion die Chance, programmatische Zielsetzungen mit ad hocbegründeten zu verbinden. Das heißt: Die angelsächsischen Mächte sollten jeglicher Perspektive einer Niederwerfung Deutschlands beraubt werden, da es nunmehr über strategische Tiefe und Rohstoffvorkommen mindestens bis zum Ural verfüge. Die dritte Komponente ist schließlich die mehr als leichtfertige Unterschätzung der Sowjetunion, ihres Potenzials wie ihrer inneren Kohäsion, durch die nationalsozialistische Staatsführung wie auch durch die professionellen Generalstäbler im traditionellen preußisch-deutschen Militärapparat. Auch hier kamen Situatives und Grundsätzliches zusammen: Die Rote Armee hatte bei ihrem Auftreten bei der Invasion Ostpolens am 17. September 1939 wie insbesondere beim finnisch-sowjetischen Winterkrieg von 1939/40 auf die militärische Fachwelt überhaupt nicht den Eindruck ansehnlicher Leistungsfähigkeit gemacht. Darauf stützte sich im Übrigen nicht zuletzt auch die ursprüngliche britische Erwartung im Sommer 1941, dieser London mit einem Mal zugewachsene Bundesgenosse werde sehr schnell wieder von der Bildfläche verschwinden. Die Erwartungen der deutschen Generalstäbler gründeten, in gewisser Parallele zum „Führer“, auf den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, auf der Überwindung der zaristischen Armeen auch bei deutlicher quantitativer Unterlegenheit auf der eigenen Seite, durch einen geschickten Bewegungskrieg, wie bereits im August 1914 in Ostpreußen praktiziert. Ferner spielte eine ambi­valente Weltsicht der „bolschewistischen“ Roten Armee eine Rolle: Diese verkörpere einerseits hinsichtlich professioneller Generalstabskompetenz vermutlich einen deutlichen Rückschritt gegenüber den Zeiten vor der Oktoberrevolution, andererseits aber sei sie ein gewissermaßen ideologisch hoch aufgeladener, besonders grausamer Gegner. Hier lag auch eine Einfallspforte für die antisemitisch-antibolschewistischen Weltbilder des NS-Systems in die Breite des Offizierskorps der Wehrmacht. Und schließlich kam der frische Lorbeer des schnellen und relativ verlustarmen Feldzuges vom Frühjahr und Frühsommer 1940 gegen Frankreich hinzu. Hätte man in den dreißiger Jahren in der internationalen militärischen Fachwelt so etwas wie eine Tabelle hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der verschiedenen Armeen erstellen lassen, dann hätte die französische Armee vermutlich um viele Plätze vor der Roten Armee rangiert; auch hier zeigt sich das Dilemma unkritisch transportierter Erfahrungen: Die französische Armee galt nun ein-

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mal als der wesentliche Sieger des Ersten Weltkrieges, ihre Stagnation während der Zwischenkriegszeit in einem ökonomisch, demographisch und psychologisch stark angeschlagenen Frankreich wurde zweifellos ganz unzureichend wahrgenommen.93 Relativ außer Betracht können hier die in den letzten Jahren und Jahrzehnten teilweise sehr aufgeregt geführten Diskussionen bleiben, ob nicht die Sowjetunion ihrerseits gegenüber Deutschland 1941 nicht nur prinzipiell konfliktbereit war, sondern sozusagen bereits auf dem Sprung zum militärischen Angriff. Dass die sowjetische Führung, an erster Stelle Stalin ganz unmittelbar, am Ende vom Gesamtkonflikt profitieren wollte, ist ganz unbestreitbar. Unbestreitbar ist auch das enorme Maß der eigenen Aufrüstung, die bei Waffensystemen wie Panzern und Flugzeugen, wenn auch teilweise qualitativ minderwertig, weit über die deutschen Größenordnungen hinausging. Und unbestritten sind schließlich auch die offensiven Elemente in verschiedenen Reden Stalins, so am 13. Januar 1941 vor höheren Gruppenkommandeuren, am 8. Februar 1941 vor höheren Luftwaffenoffizieren und forciert am 5. Mai 1941 anlässlich der Entlassung von Offizieren aus der Militärakademie. Man muss freilich auch für alle hier genannten drei Fälle den spezifisch militärischen Rezipientenkreis mit bedenken. Die Erziehung zu unbedingtem Offensivgeist wie zum ausdrücklichen „Hass“ wurde in den kommunistischen Diktaturen den Militärs stets auch dann aufoktroyiert, wenn die Politik durchaus keine unmittelbare Kriegsauslösung beabsichtigte. Grundsätzlich sollte heute gelten, dass sich die Sowjetunion des Jahres 1941 jedenfalls alle Optionen offen halten wollte, um zum bestmöglichen Zeitpunkt vom Konflikt der kapitalistischen Mächte untereinander profitieren zu können.94 Für den hier skizzierten Gesamtzusammenhang ist vielmehr entscheidend, dass der deutsche Angriff auf die Sowjetunion von politischer wie von militärischer Seite nicht als Präventivkrieg in dem Sinne konzipiert war, einem konkret bevorstehenden Angriff der Gegenseite zuvorkommen zu wollen, wie es die Goebbelssche Propaganda einer psychologisch darauf gar nicht eingestellten deutschen Bevölkerung ab Juni 1941 mit einem Mal suggerierte. Vielmehr ging es darum, sich aus einer politisch-strategisch kritischen Lage zu 93 Vgl. Für die Einschätzungen der deutschen Militärs gegenüber der Sowjetunion 1940/41 ebd., S. 201. 94 Für die in der ernsthaften wissenschaftlichen Diskussion eher Randauffassung gebliebene Position konkreter sowjetischer Angriffsabsichten Joachim Hoffmann: Die Angriffsvorbereitungen der Sowjetunion 1941, in: Zwei Wege nach Moskau. Vom Hitler-Stalin-Pakt bis zum Unternehmen „Barbarossa“, hrsg. von Bernd Wegner, München, Zürich 1991, S. 367–388.

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befreien, die man schuldhaft selbst mit herbeigeführt hatte, und dabei zugleich ideologische Wunschziele zu realisieren. In der britischen Garantieerklärung für Polen, die Premierminister Chamberlain am 31. März 1939 im Unterhaus vortrug, hieß es: „Im Falle eines jeden Vorgehens, das die Unabhängigkeit Polens klar bedroht und wogegen die polnische Regierung sich verpflichtet fühlt, mit ihren nationalen Streitkräften Widerstand zu leisten, wird die Regierung Seiner Majestät der polnischen Regierung sofort jede in ihrer Macht stehende Unterstützung gewähren.“ 95 Mit der britischen und französischen Kriegserklärung an Deutschland vom 3. September 1939 hatte diese Erklärung ihre substantielle politische Beglaubigung erfahren, aber keine militärisch-operative. Die polnische Exilregierung amtierte nach dem militärischen Zusammenbruch in London, polnische Streitkräfte, die nach Westeuropa gelangt waren, schlugen sich auf britischer Seite, polnische Piloten verstärkten wirkungsvoll die Royal Airforce in der Luftschlacht um England 1940/41, als Görings Luftwaffe unterlag, wodurch einer deutschen Invasion auch rein militärisch die Voraussetzungen entzogen wurden. Jetzt aber, nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion, als Großbritannien und das „Vaterland aller Werktätigen“ mit einem Mal in einer „Anti-Hitler-Koalition“ vereint waren, hätte die britische Führung unversehens die Möglichkeit gehabt, tatsächlich etwas für die Polen zu unternehmen – und die amerikanische Führung, knapp ein halbes Jahr später selbst Kriegspartei, hätte sich dem anschließen können. Auch heute gehen die Auffassungen darüber auseinander, in welchem Maße die so gravierenden territorialen Veränderungen zwischen der Sowjetunion, Polen und Deutschland bei und nach Kriegsende von der sowjetischen Führung mehr oder weniger im Alleingang durchgesetzt wurden, und in welchem Maße sie die Akzeptanz der polnischen Exilregierung in London fanden bzw. von dieser selbst gefordert und forciert wurden. Der polnische Historiker Bogdan Musial sieht den Ursprung der sogenannten Westverlagerung Polens im Ausmaß bis an die Lausitzer Neiße ganz wesentlich in der Person Stalins selbst: Stalin sei bei der Festlegung der künftigen deutsch-polnischen Westgrenze weit über die Forderungen der polnischen Exilregierung unter Ministerpräsident Mikolajczyk hinausgegangen. Nach deren Vorstellungen wären Niederschlesien mit seiner Metropole Breslau wie große Teile Hinterpommerns mit seiner Metropole Stettin deutsch geblieben. Stalin habe durch diesen radikalen territorialen Eingriff so etwas wie die Institutionalisierung 95 Zit. nach Schmidt, Außenpolitik, S. 323.

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der deutsch-polnischen Konfliktlage angestrebt, und damit in der Konsequenz die Institutionalisierung der polnischen Abhängigkeit von der Sowjetunion, um sich gegen Deutschland schützen zu können. Und auf Polen bezogen hätte dies zugleich innenpolitisch die Desavouierung der bürgerlichen Londoner Exilregierung und die Installierung seiner kommunistischen polnischen Satellitenregierung, des sogenannten Lubliner Komitees, befördert. Man muss allerdings hinzufügen, dass Stalin, gleichfalls gegen die Absichten der Londoner Exilregierung, konsequent auf der weitgehenden Beibehaltung jener Trennungslinie, künftig nun als polnische Ostgrenze, bestand, die Ribbentrop und Molotow bei einem zweiten Treffen am 27. September 1939 im Kreml verabredet hatten. Zu den geschichtspolitischen Konsequenzen bis in unsere Gegenwart heißt es aus polnisch-konservativer Sicht bei Musial: „Auch heute tun sich Politiker, Historiker und Publizisten auf beiden Seiten der Oder, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, schwer, einzugestehen, dass Stalin den Verlauf der deutsch-polnischen Grenze bestimmt hat. Postkommunistische Intellektuelle und Historiker in Polen, die auch 20 Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus den deutsch-polnischen Dialog dominieren, bemühen sich, ihre regimetreuen Biografien und Karrieren zu kaschieren (…). Auf der deutschen Seite neigt man hingegen dazu, den polnischen Nationalismus für Flucht und Vertreibung sowie für den Verlust der deutschen Ostgebiete verantwortlich zu machen.“ 96 Entgegen Musial zeigt die heutige Forschung allerdings auch Positionen im Umfeld der polnischen Londoner Exilregierung, die territorial ähnlich weit nach Westen reichten, das heißt in etwa bis zur heutigen deutsch-polnischen Grenze nicht nur an der Oder, sondern auch an der sogenannten Lausitzer Neiße.97 Aber auch aus dieser Perspektive bleibt es bei dem Kernbefund, dass der sowjetische Führer relativ frühzeitig und sehr vertraulich eine Grenzziehung zwischen Deutschland und Polen fixierte, die er zunächst einmal allein seinen kommunistischen polnischen Verbündeten mitteilte – und die am Ende auch tatsächliche Realität wurde.98 Reflektiert man heute die britische wie die amerikanische Haltung zur polnischen Frage während des Zweiten Weltkrieges, dann muss man sich zwar einerseits naturgemäß hüten, im Nachhinein klüger und idealistischer zu argumentieren, als es die realpolitischen Bedingungen eines derart ungewöhnlichen, in den 96 Bogdan Musial: Stalins Beutezug. Die Plünderung Deutschlands und der Aufstieg der Sowjetunion zur Weltmacht, Berlin 2010, S. 229. 97 Jochen Laufer: Pax Sovietica. Stalin, die Westmächte und die deutsche Frage 1941–1945, Köln, Weimar, Wien 2009, S. 178 ff. 98 Ebd., S. 186.

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Ausgangslagen ideologisch antagonistischen Bündnisses vertretbar erscheinen lassen. Aber selbst wenn man diesen Gesichtspunkt in Rechnung stellt, darunter auch die Furcht der Westmächte vor einem deutsch-sowjetischen Sonderfrieden, die Stalin geschickt am Leben hielt, um seine Partner gefügig zu machen, bleibt doch der Eindruck einer bemerkenswert weitgehenden Nachgiebigkeit der beiden angelsächsischen Mächte zu Ungunsten ihres eigentlich ja ersten Bündnispartners, des 1939 geteilten und okkupierten Polens. Bemerkenswert ist zunächst, wie sehr sich die westlichen Staatsmänner bei Begegnungen mit der sowjetischen Führung immer wieder von dem sowjetischen Argument beeindrucken, ja geradezu gefangen nehmen ließen, sie, die Sowjetunion, trage die wesentlichen blutigen Lasten des Krieges, sie habe daher jeden auch moralischen Anspruch auf politische und militärische Unterstützung, auf Konzessionsbereitschaft, was ihre territorialen Wünsche anbelange, auf die frühzeitige Errichtung einer zweiten Front auf französischem Boden, fernab von den deutsch-sowjetischen Schlachtfeldern, und auf ein hohes Maß an Versorgungslieferungen. Gewiss waren die Verluste zwischen Sowjetunion einerseits und Westmächten andererseits während des Zweiten Weltkrieges eklatant asymmetrisch. Dies lag an den Gegensätzen zwischen Landkrieg hier und See- und Luftkrieg auf der anderen Seite, aber auch an der rücksichtslosen Form der Kriegführung in Osteuropa, die auf beiden Seiten alle herkömmlichen Gepflogenheiten missachtete, nicht zuletzt aber an der Brutalität, mit der die sowjetische Führung ihre eigenen Streitkräfte ins Feuer schickte. Frappierend erscheint aber in jedem Fall, dass die westlichen Staatsmänner bei ihrer Kommunikation mit Stalin und Molotow augenscheinlich nie den Mut aufbrachten, darauf hinzuweisen, dass dieses ganze blutige Dilemma wesentlich ein Resultat des Moskauer Paktes der Diktatoren vom 23. August 1939 war, mit dem sich die Sowjetunion gegen die westlichen Demokratien und auf die Seite ihres angeblichen ideologischen faschistischen Hauptfeindes gestellt hatte. Signifikant sind zwei Stichworte: Katyn und Warschauer Aufstand. Nach den von deutscher Seite am 13. April 1943 gegebenen Informationen über die Entdeckung der Leichen von mehreren tausend polnischen Offizieren in einem Wald bei Katyn bat General Sikorski, polnischer Regierungschef in London, das Internationale Rote Kreuz, eine Kommission dorthin zu entsenden. Daraufhin brach die Sowjetunion die diplomatischen Beziehungen zur polnischen Exilregierung ab, und die britische Führung stellte sich ganz auf die Seite des Kreml. Premierminister Churchill schrieb am 28. April 1943 an seinen Außenminister Anthony Eden: „Man muss aufhören, krankhaft immer wieder um die

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drei Jahre alten Gräber bei Smolensk zu kreisen.“ 99 Und Präsident Roosevelt maßregelte noch am 22. März 1945, als die militärischen Entscheidungen längst gefallen waren, den amerikanischen Diplomaten George Earle. Earle hatte das Weiße Haus mit Material konfrontiert, das die sowjetische Verantwortlichkeit belegte. Sein Präsident verfügte: „Ihr Vorhaben, ihre abträgliche Meinung über einen unserer Verbündeten zu veröffentlichen, erfüllt mich mit Besorgnis (…). Ich wünsche es nicht nur nicht, ich verbiete Ihnen ausdrücklich, über einen Verbündeten irgendeine Information oder irgendeine Ansicht zu veröffentlichen, die während Ihrer Dienstzeit als Gesandter oder als Offizier der US-Marine zu Ihrer Kenntnis gelangt sein mag.“ 100 Eineinhalb Jahre, nachdem Katyn weltweites Aufsehen gefunden hatte, am 1. August 1944, begann der nationalpolnische Aufstand gegen die deutsche Besatzung in Warschau. Militärisch richtete er sich gegen Wehrmacht und SS an der Weichsel, politisch aber gegen den bereits drohend auf polnischem Territorium stehenden künftigen Zwingherren, die Sowjetunion. Die Rote Armee war bis in die östlichen Vorstädte Warschaus vorgedrungen. Nun aber hielt sie inne. In gewisser Weise setzte Stalin das Werk der Mörder von Katyn vom Frühjahr 1940 fort. Wieder ging es ihm darum, das nichtkommunistische Polen zu entkräften, um danach freie Bahn für seine imperialen Ambitionen in Mitteleuropa zu haben. Und dazu musste der polnische Widerstand verbluten, anders als etwa die jugoslawischen Partisanen kommunistischer Observanz unter Tito, die sich bei der deutschen Niederlage gleichberechtigt und gleich präsent neben der Roten Armee zeigen konnten. Als der polnische Premier Mikolajczyk Anfang August 1944 nach Moskau flog, um sowjetische Hilfe für die in Bedrängnis geratenen Aufständischen zu erbitten, wurde er mit Forderungen konfrontiert, deren Erfüllung ihm moralisch das Rückgrat gebrochen hätte: „Die sowjetischen Streitkräfte würden erst dann ins Kampfgeschehen eingreifen, wenn die polnische Regierung in London zurückgetreten sei; wenn die polnische Führung die Annexion Ostpolens durch die UdSSR entsprechend dem Ribbentrop-Molotow-Pakt akzeptiert und öffentlich erklärt habe, dass das Massaker an den polnischen Offizieren in Katyn nicht von den Sowjets, sondern von den Nazis begangen worden sei.“ 101 Stalin sah nicht nur mit verschränkten Armen zu, wie die aus seiner Sicht polnischen Reaktionäre primär von SS-Einheiten zusammengeschossen wurden; er hinderte auch Briten und Amerikaner an einer effektiven Unterstützung 99 Zit. nach Victor Zaslavsky: Klassensäuberung. Das Massaker von Katyn, Berlin² 2007, S. 64. 100 Zit. nach ebd., S. 71. 101 Ebd., S. 68.

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aus der Luft. Alliierte Flugzeuge, die über Warschau an Fallschirmen Versorgungsgüter abwarfen, durften, mit einer einzigen Ausnahme, nicht auf sowjetischem Gebiet landen und auftanken, was die Effektivität ihres Einsatzes enorm erhöht hätte. Lediglich am 18. September 1944, als in Warschau die militärische Entscheidung längst gefallen war, flogen 107 B17 Bomber der amerikanischen Achten Luftflotte von Großbritannien aus nach Polen, warfen über Warschau 1284 Versorgungscontainer ab, von denen 80 Prozent in Stadtviertel fielen, die inzwischen von deutscher Seite kontrolliert wurden, und flogen von dort aus weiter nach Poltawa in die Ukraine.102 Auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 sagte Stalin den Westmächten gönnerhaft freie Wahlen in Polen zu, an denen sich auch die Exponenten der Londoner Exilregierung beteiligen könnten, schließlich sei Mikolajczyk Führer einer „Bauernpartei und seine Partei nicht faschistisch“.103 Das Übrige verlief weitgehend nach dem Drehbuch aller kommunistischen Machteroberungen in den Staaten des neuen sowjetischen Imperiums. Mikolajczyk trat als stellvertretender Ministerpräsident und Landwirtschaftsminister in die strukturell vom kommunistischen Lubliner Komitee vorgegebene Regierung ein, aber der Unterbau dieser bürgerlichen Opposition innerhalb der Regierung wurde systematisch zerschlagen: Allein 50.000 Angehörige der polnischen Heimatarmee wurden in die Sowjetunion deportiert. Vermutlich haben Churchill und Roosevelt in Jalta bereits geahnt, welche Art Wahlen es schließlich in Polen gebe. „Gewählt“ wurde erst geraume Zeit nach Kriegsende, am 19. Januar 1947. Hatte doch Churchill selbst auch keine Bedenken gehabt, bei seinem Besuch im Herbst 1944 in Moskau der Sowjetunion von sich aus den dominierenden Einfluss in einigen Staaten auf dem Balkan, in Rumänien und in Bulgarien, zu konzedieren. Polen war sozusagen stillschweigend-immanent dabei. „Nach Einschüchterung, Ausschluss von Wählergruppen und Wahlfälschungen erhielt der demokratische Block 80 Prozent der Mandate zugesprochen …“ 104 Die Frage sei abschließend nochmals gestellt, wie sich dies alles im Licht jener feierlichen britischen Erklärung bewerten lässt, „jede in ihrer Macht stehende Unterstützung zu leisten, wenn die Unabhängigkeit Polens klar bedroht“ sei. Am Ende beklagte die Sowjetunion, wie wir erst seit sieben bis acht Jahren wissen, 27 Millionen Kriegstote, Polen fünf, Deutschland sieben bis acht Millionen; 102 Vgl Norman Davies: Aufstand der Verlorenen. Der Kampf um Warschau 1944, München 2003, S. 430. 103 Winston S. Churchill: Der Zweite Weltkrieg, Einbändige Neuausgabe, Bern, Wien, München 1985, S. 1032. 104 Manfred Alexander: Kleine Geschichte Polens, Stuttgart 2008, S. 330.

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West- und Mitteldeutschland mussten weit über 10 Millionen Vertriebene und Flüchtlinge aufnehmen, Polens eklatanter Gebietsgewinn im Westen ging mit seiner Degradierung zum Satelliten im sowjetischen Imperium und mit dem Verlust großer Gebiete im Osten einher. Großbritannien war eine Siegermacht, die ihre Weltmachtrolle einbüßte. Zunächst war das Stalinsche Konzept aufgegangen, durch die Westverlagerung Polens einen dauerhaften Antagonismus zwischen Polen und Deutschland herzustellen, der in Polen die Legitimation des kommunistischen Regimes an der Seite der Sowjetunion begünstigte. Noch 1947/48 hatte die SED-Führung von der Möglichkeit einer Revision der Oder-Neiße-Grenze gesprochen – im Zeichen von mancherlei politischen Übergängen und möglicherweise noch zu bestehenden freien Wahlen. Klar war, dass diese Grenze zunächst in Deutschland, weder in den Westzonen, noch in der sowjetischen Besatzungszone, irgendeine Akzeptanz fand. Zu tief griff sie in die territorialen Verhältnisse Deutschlands ein, zu offenkundig schienen die Menschen im Westen auf die Agrarprodukte aus den alten preußischen Ostprovinzen angewiesen zu sein, und zu wenig konnte man sich anfänglich vorstellen, dass die vielen Millionen Vertriebenen, die Wohnungen und Infrastrukturen in Anspruch nahmen, auf Dauer in Bayern oder in Schleswig-Holstein bleiben würden. Im sowjetischen Machtbereich fielen 1949/50 die Würfel: die DDR wurde 1949 konstituiert, ohne dass es je zu freien Wahlen kam, ihre Führung wurde gezwungen, im Folgejahr im Görlitzer Vertrag eine sogenannte „Friedensgrenze“ an Oder und Neiße als definitive deutsche Ostgrenze anzuerkennen. Was im Westen folgte, war reflexhaft und absehbar, eine sogenannte feierliche Verwahrung aller Parteien und Fraktionen im Bundestag, naturgemäß mit Ausnahme der KPD, gegen diese sogenannte Friedensgrenze. Und die westlichen Siegermächte, denen eigentlich nichts an einer erneuten territorialen Revision lag, ließen die Westdeutschen doch den Friedensvertragsvorbehalt mit dem völkerrechtlich weiterbestehenden Deutschen Reich in den Grenzen von 1937 vertreten; das gehörte gewissermaßen zu den Geschäftsbedingungen der Integrationspolitik. An sich aber hatte sich gesellschaftspolitisch auf deutscher Seite eine gravierende Veränderung ergeben, die die Konfliktlinien zwischen beiden Seiten abmildern, ja beseitigen konnte: Das alte Milieu der preußischen, zumal ostelbischen Adeligen, Gutsbesitzer, Offiziere, Diplomaten und Verwaltungsbeamten, konfessionell in aller Regel evangelisch, hatte seine gesellschaftliche wie seine parteipolitische Machtbasis verloren. In der alten Bundesrepublik gab es keine Deutschkonservativen bzw. Deutschnationalen mehr. Dagegen dominierten jene

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Kräfte, die historisch den Polen gegenüber das relativ größte Maß an Akzeptanz und Entgegenkommen gezeigt hatten: Große Teile der Unionsparteien, die in der Tradition des katholischen Zentrums standen, und die Sozialdemokratie. Freilich: Die Grenzfrage und das Gewicht der Vertriebenen ließen eine westdeutsche Akzeptanz der Oder-Neiße-Grenze einstweilen ausgeschlossen erscheinen. Es ging aber nicht nur darum: Dagegen standen auch der völkerrechtlich begründete Friedensvertragsvorbehalt auf deutscher Seite, er sollte noch 1990 eine Rolle spielen, und, zumal unter den Bedingungen des Kalten Krieges, das Regiment einer kommunistischen Diktatur in Warschau. Warum sollte man einem solchen Regime gegenüber, das im Bündnis mit Ulbrichts SED-Führung stand und im Paket auch eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR verlangte, sonderlich Konzessionen machen? Die Milderung des Kalten Krieges nach dem Abflauen der zweiten Berlinkrise und der Kubakrise von 1962 ließ dann das westdeutsch-polnische Verhältnis auf Dauer nicht unberührt. Die Auflockerung kam freilich nur sehr allmählich in Gang. Diese Entwicklung hing zugleich entscheidend mit der gravierenden Verschiebung der innenpolitischen Tektonik in der alten Bundesrepublik nach dem Ende der Ära Adenauer zusammen: Entspannungs- und Reformpolitik unter kultureller sozialdemokratischer Hegemonie wurden seit Mitte der sechziger Jahre greifbare Perspektive. Der Einfluss der Vertriebenen ging zurück, quantitativ und qualitativ. Ihre Integration in die westdeutsche Wohlstandswelt hatte große Fortschritte gemacht, nach zwei Jahrzehnten waren die alten Heimatregionen östlich der Oder den meisten von ihnen schon sehr fern gerückt, eine Rückkehr erschien zunehmend unrealistisch, vielfach auch gar nicht mehr gewollt. Die ersten, vorbereitenden, teilweise noch auf vielfachen Widerspruch stoßenden Pflöcke rammten die Kirchen ein, die Evangelische Kirche 1965 mit der ebenso berühmten wie noch umstrittenen Denkschrift über „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“, drei Jahre später, für das eher linkskatholische Spektrum gedacht, die katholische Seite mit dem Memorandum des „Bensberger Kreises“ von 1968. Dazwischen stand der gewissermaßen Fragment gebliebene Briefwechsel zwischen dem deutschen und dem polnischen Episkopat am Rande des Zweiten Vatikanischen Konzils von 1965.105 Wie auch im Verhältnis der Bundesrepublik zur Sowjetunion und zur DDR folgte auf die gewissermaßen intellektuellen und atmosphärischen Auflockerungen der sechziger Jahre die Verbriefung im 105 Vgl. Katarzyna Stoklosa: Polen und die deutsche Ostpolitik 1945–1990, Göttingen 2011, S. 122 ff.

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Rahmen der neuen Ostpolitik der sozialliberalen Koalition. Liest man aber heute den Wortlaut des deutsch-polnischen Vertrages vom 7. Dezember 1970 nach, ein gutes Vierteljahr nach dem deutsch-sowjetischen vom 12. August 1970 unterzeichnet, dann ist man über seine Inhaltsleere verblüfft: Es geht, über ein Minimum an Floskeln hinaus, um keinerlei zukunftsgerichtete Vorhaben oder Perspektiven. Es geht nur um die Bestätigung des gegebenen Grenzverlaufes, insofern eine bloße Bekräftigung des deutsch-sowjetischen Vertrages, was auf polnischer Seite eigentlich als – wiederholte – Fremdbestimmung erscheinen konnte. So sei hier auch die These gewagt: Den eigentlichen Durchbruch in den deutsch-polnischen Beziehungen brachte nicht der Vertrag vom Dezember 1970, sondern ihn brachten, knapp ein Jahrzehnt später, die Streiks auf der Danziger Leninwerft. Sie und in ihrem Gefolge das Entstehen der Gewerkschaft Solidarność führten erstmals in der jüngeren deutsch-polnischen Geschichte dazu, dass sich ein wirkliches Aufeinander-Zu der Gesellschaften entwickeln konnte. Und erst im Ergebnis dieser Öffnung erscheint die seit dem Ersten Weltkrieg gegebene deutsch-polnische Konfliktstruktur tatsächlich aufgehoben. Bestandteil dieses geradezu revolutionären Prozesses war aber auch, dass die bis dahin entspannungspolitisch tonangebenden Kräfte in der Bundesrepublik von der Entwicklung überholt wurden und in die Rolle von Status-quo-Verteidigern gerieten: Aber wechseln wir zunächst die Perspektive. Zum Show-down kam es am 5. Dezember 1980 in Moskau: Erich Honecker drängte, nachdem vielerlei Vorbereitungen getroffenen worden waren, darauf, der polnischen Emanzipationsbewegung mittels einer „Ausbildungsmaßnahme auf dem Territorium der VR Polen“ militärisch den Garaus zu machen. Dazu sollte ein förmlicher Beschluss der ersten Männer im Kreis der sowjetischen Verbündeten gefasst werden. Aber ganz anders als bei der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 legte sich diesmal der Kreml selbst quer. Ein Jahr zuvor war die Rote Armee in Afghanistan einmarschiert, ein zweites Afghanistan wäre zu viel geworden; die polnischer Seite versprach, sie werde mit der Solidarność selbst fertig werden, und die Amerikaner hatten, auch ganz anders als 1968, mit harten Reaktionen gedroht. Freilich blieb man insbesondere in der DDR bis 1982 Gewehr bei Fuß Richtung Ost, interne militärische Vorbereitungen liefen weiter. Erst als General Jaruzelski am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht verhängte, schien die Geschäftsgrundlage für brüderliche Hilfe von außen entfallen. Während die Scharfmacher in Ostberlin auf eine militärische Intervention des Warschauer Paktes drängten und sich auf Lagekarten der NVA-Planer Pfeile abzeichneten, die nach Schlesien wiesen, taktierte die

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bis Herbst 1982 in Bonn regierende SPD mit den alten Machthabern in Warschau. Das hatte zwei Gründe: Zum einen erschien der sich aufgeklärt dünkenden Linken in Westdeutschland eine katholisch-alteuropäisch-proletarische Protestbewegung denkbar widersinnig und reaktionär. Ähnlich wie im zeitgleichen Blick auf die DDR setzte man auf SPD-Seite eher auf tatsächliche oder vermeintliche Reformflügel innerhalb der regierenden kommunistischen Partei. Das Andere war die Fixierung auf einen förmlich gottgegebenen machtpolitischen Status quo in Europa, fast nach Lesart einer Metternichschen Arkanpolitik. Am 16. Juli 1981, knapp ein halbes Jahr vor Verhängung des Kriegsrechtes in Polen, besuchten die führenden Exponenten der evangelischen Kirche in der DDR, Bischof Schönherr und Konsistorialpräsident Stolpe, Bundeskanzler Helmut Schmidt in Bonn. Schmidt ließ erkennen, „er könne verstehen‚ ‚wenn sich die Sowjetunion engagiert, denn sie muss als Führungsmacht ihren Laden rein halten’.“ Und dann lobte er SED-Politbüromitglied Werner Felfe, der kurz zuvor auf dem Parteitag der polnischen Kommunisten (PVAP) völlig zu Recht darauf hingewiesen habe, „wie man bei uns arbeitet. Das müssten die Polen mal zur Kenntnis nehmen.“ Gemeint mit „uns“ waren augenscheinlich die Deutschen in ihren damals beiden Staaten. Das Klischee von der polnischen Wirtschaft, das auf das Umfeld Friedrichs des Großen zurückging, wurde bei dieser Gelegenheit somit gleich mit bedient.106 Ähnlich Willy Brandt, Vorsitzender der SPD wie der Sozialistischen Internationale. Zwei Tage nach der Verhängung des Kriegsrechtes in Polen äußerte er sich gegenüber dem Vorsitzenden der italienischen Kommunisten im Straßburger Europaparlament, Enrico Berlinguer, so: „Hinsichtlich der besorgniserregenden Situation in Polen klang Übereinstimmung an dahingehend, dass das polnische Militär präventiv aus nationalem Verantwortungsbewusstsein die Macht übernommen habe, wenngleich die Form der Machtübernahme zu kritisieren sei.“ 107 Vier Jahre später, 1985, fuhr Brandt aus Anlass des 15jährigen Jubiläums der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrages nach Warschau. Einer Einladung Lech Wałęsas nach Danzig glaubte Brandt nicht folgen zu können, als Kompromiss kam es in den Räumen der deutschen Botschaft zu einer Begegnung mit Vertretern des Klubs der katholischen Intelligenz, unter ihnen der spätere erste, nicht-kommunistische Ministerpräsident Tadeusz 106 Zit. nach Gerhard Besier: Der SED-Staat und die Kirchen 1989–1990. Die Vision vom „Dritten Weg«, Frankfurt/ Main 1995, S. 446. 107 Zit. nach Bernd Rother: Zwischen Solidarität und Friedenssicherung. Willy Brandt und Polen in den 1980er Jahren in: Friedhelm Boll, Krzysztof Ruchniewicz (Hrsg.): Nie mehr eine Politik über Polen hinweg. Willy Brandt und Polen, Bonn 2010, S. 220–264, hier S. 227.

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Mazo­wiecki. Mehrfach aber konferierte Brandt mit Staats- und Parteichef Jaruzelski, dem gegenüber er sich schließlich so einließ: „Man habe überall humanitäre Fragen im Gepäck. Das gelte auch für die Bundesrepublik, wenn man jetzt an das Türken-Problem denke, oder früher an die Frage der Legalität der KP vor der Zeit der Verträge. Auf diesem Gebiet müsse man sich auf beiden Seiten anstrengen, um etwas auf den Weg zu bringen. Unsere wichtigsten Themen seien jedoch Frieden und bilaterale Beziehungen.“ 108 Wieder vier Jahre später brach das sowjetische Imperium in Europa zusammen: In Polen kam es zu einer Art Waffenstillstand zwischen Staatsführung und aus dem Untergrund befreiter Solidarność, zu ersten, halbfreien Wahlen, zur Bildung der ersten, überwiegend nicht-kommunistischen Regierung und schließlich zur Wahl Lech Wałęsas zum ersten, nicht-kommunistischen Staatsoberhaupt seit Ende des Zweiten Weltkrieges. In Deutschland fiel die Berliner Mauer und begann, ostentativ mit Helmut Kohls Zehn-Punkte-Programm vom 28. November 1989, der Prozess der nationalstaatlichen Wiedervereinigung. Für die polnische Reformbewegung war diese Wiedervereinigung im Saldo ein positiver, kein negativ-bedrohlicher Prozess. Denn durch sie eröffnete sich zum einen der von den nicht-kommunistischen polnischen Eliten immer angestrebte Weg nach Westeuropa. Zum anderen aber verschwand das SED-Regime. Letzteres schien aus polnischer Sicht kulturell in vielem an deutschnationale Arroganz anzuknüpfen, unter den Bedingungen der Nachkriegszeit mit ideologischer Bevormundung, die den Rekurs auf nationale Sensibilitäten gänzlich vermissen ließ. Weil das SED-Regime für sich beanspruchte, mit allen negativen Kontinuitäten und Erbschaften der deutschen Geschichte gebrochen zu haben, beanspruchte es in der logisch anmutenden Konsequenz, auch von polnischer Seite bezüglich dieser Erbmasse für nichts mehr haftbar gemacht werden zu können, zumal nach der Grenzanerkennung von 1950. In Polen, selbst im kommunistischen Spektrum, irritierte massiv die Preußen-Renaissance in der DDR seit Ende der siebziger Jahre, optisch kulminierend in der Aufstellung des Reiterstandbildes Friedrichs des Großen 1980 an seinem prominenten ursprünglichen Platz Unter den Linden, scheinbar auf dem Pferd nach Osten reitend, nachdem das Standbild viele Jahre nach Potsdam verbannt worden war. Auch das kommunistische Polen sah sich zunehmend in einer Kontinuität mit dem nicht-kommunistischen Polen der Zwischenkriegszeit, so dass dogmatisch-apologetische Bekundungen von DDR-Seite in Warschau für Irritationen, ja für Zorn sorgten. Das galt etwa für einen Beitrag des DDR108 Zit. nach ebd. S.242 f.

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Wissenschaftlers Klaus Bollinger aus dem Jahr 1981 über „historische Lehren für die internationalen Beziehungen der Gegenwart – zum 22. Juni 1941“: „Wenngleich der Zweite Weltkrieg als militärische Auseinandersetzung zwischen zwei imperialistischen Gruppen begann, beweist seine Entwicklungsgeschichte, dass er vom Weltimperialismus hauptsächlich als Zusammenstoß zwischen den beiden entgegengesetzten sozialökonomischen Systemen – zwischen Kapitalismus und Sozialismus – vorbereitet wurde.“ 109 Aus polnischer Sicht erschienen diese Sätze so, als hätten das nationalsozialistische Deutschland und die polnische Republik 1939 auf derselben, imperialistisch-kapitalistischen, negativen Legitimationsgrundlage agiert, auch für polnische Kommunisten miese Geschichtsapologie und Zumutung in einem. So wurde die alte Bundesrepublik und mit ihr die Perspektive eines wiedervereinigten Deutschlands für große Teile der polnischen Gesellschaft im Vergleich mit dem roten Preußen der DDR zur wesentlich attraktiveren, europäisierten und positiv verwestlichten Alternative. Ein Konflikt blieb, und das war die Frage der völkerrechtlichen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Es ging dabei 1990 keineswegs mehr um das Ob, sondern lediglich um das Wie. Bundeskanzler Helmut Kohl wollte die abschließende Verbriefung der Grenze erst durch das wiedervereinigte Deutschland vornehmen lassen, einmal aus begründeten rechtlichen Erwägungen, denn erst ein wiedervereinigtes Deutschland hatte die Legitimation zu diesem Schritt, und zum Zweiten aber auch aus später durchaus eingestandenen, taktischen innenpolitischen Erwägungen: Es ging bis zuletzt um auch ein Höchstmaß an erreichbarer Akzeptanz bei den Heimatvertriebenen und Flüchtlingen. Kohl hatte mit dieser Position viele Gegner: Die sozialdemokratische Opposition wie den Außenminister Genscher im eigenen Koalitionslager, der sich damit in der für ihn typischen Manier profilieren konnte, die neue polnische Regierung mit nicht-kommunistischem Regierungschef und Außenminister, in diesem Punkt sogar auch seinen engsten Verbündeten, die amerikanische Führung. Am Ende setzte sich der Bundeskanzler mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit durch; der „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze“ vom 14. November 1990 wurde erst sechs Wochen nach dem Vollzug der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober des Jahres unterzeichnet. Der Vertrag enthält nichts Aufregendes mehr, die politische, die kulturelle und die psychologische Akzeptanz der nun 109 Zit. nach Burkhard Olschowsky: Einvernehmen und Konflikt. Das Verhältnis zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen 1980–1989, Osnabrück 2005, S. 315 f.

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eben gegebenen territorialen Verhältnisse war auf deutscher Seite innerlich längst weitgehend vollzogen. Der Vertrag enthält aber einen ganz anderen Schönheitsfehler, der zumal dann auffällt, wenn man ihn mehr als zwei Jahrzehnte nach seinem Abschluss liest: Er beruft sich in seinem Artikel 1 auch auf den Vertrag vom 6. Juni 1950 zwischen der DDR und Polen. War es wirklich nötig, sich auf dieses Oktroy unter sowjetischer Vormundschaft zu berufen? Die heutige deutsch-polnische Landschaft wie die heutige deutsch-polnischrussische Dreieckskonstellation erscheint gegenüber der vor zwei Jahrzehnten wiederum gravierend verändert: Polen ist Mitglied von NATO und Europäischer Union, es befindet sich in einem rapiden Modernisierungsprozess, es ist eine europäische Wachstumslokomotive, wie dies kaum ein Beobachter prognostiziert hat. In seinem innenpolitischen Spektrum deutlich bürgerlich-konservativer als Frankreich oder die Bundesrepublik, zeigt es sich ordnungspolitisch entschieden liberal auf deutscher Seite. Insofern ist auch unter den abgemilderten Bedingungen der europäischen Integration eine Zweierverbindung Frankreichs und Polens gegen Deutschland gewissermaßen materiell überholt. Obwohl der große Antipode der bis 1989 in Polen regierenden Kommunisten, die katholische Kirche, nach dem Ende des kommunistischen Regimes deutlich an Bedeutung eingebüßt hat, zeigt sich die polnische Gesellschaft doch bürgerlich-konservativer als die französische oder die deutsche. Die zu Sozialdemokraten mutierten polnischen Kommunisten sind, ganz im Gegensatz zur deutschen Partei „Die Linke“, auf strammem NATO-Kurs; gegenwärtig dominierend ist eine liberal-konservative „Bürgerplattform“, die eigentliche Opposition ist die rechts von ihr positionierte Partei „Recht und Gerechtigkeit“. Mit diesem Profil wäre heute Polen auch eher der gegebene Partner der beiden deutschen Unionsparteien. Auf der anderen Seite besteht in, wenn auch gleichfalls abgemilderter Form, das prekäre deutsch-polnisch-russische Dreiecksverhältnis als eine der großen Konstanten der europäischen Geschichte seit dem 18. Jahrhundert fort. Ein Jahr nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges, 1764, schloss Friedrich der Große jenes Bündnis������������������� Preußens mit Russland, das der kleinsten europäischen Großmacht Sicherheit, auch auf Kosten Polens, verschaffen sollte. Acht Jahre später kam es zur ersten polnischen Teilung. Die polnischen Ängste vor russischer Hegemonie erscheinen vermindert, ausgeräumt sind sie nicht. Das Russland von heute ist eine Macht mit einer prekären Verbindung von Stärken und Schwächen. Ähnlich dem Zarenreich mangelt es ihm an industrieller Wettbewerbsfähigkeit, bis heute hat die russische Gesellschaft dieses Defizit nicht zu beseitigen vermocht. Aber im Gegensatz zum Zarenreich befindet sich Russland in einer demographischen Krise,

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es droht zum Raum ohne Volk zu werden. Dagegen werden, kompensierend, ja überschießend, große Worte und traditionelle Machtinstrumente, darunter die Energiewaffe, ins Spiel gebracht. Von Deutschland ist heute, in seinem Verhältnis zu Polen und zu Russland, tatsächliche Staatskunst gefordert, das heißt mehr und Anderes als diplomatische Floskeln. Es gilt, Russland als einen traditionellen Partner der preußisch-deutschen Politik zu erhalten, gleichzeitig aber die Chancen einer deutsch-polnischen Öffnung zu nutzen, deren Voraussetzungen besser sind als je seit den Zeiten der Frühen Neuzeit, als polnische Truppen den entschei­denden Beitrag zur Befreiung Wiens von der osmanischen Belagerung leisteten. Polen und Deutschland sind durch sehr ähnliche Züge alteuropäischer Geschichte geprägt: beide keine unitarischen Nationalstaaten, Polen lange eine partikulare Adelsrepublik, Deutschland in den Zeiten des Heiligen Römischen Reiches eine fragmentierte, konföderale Ordnung – und beide damit durch Pluralität geprägt und nicht durch die zentralstaatlichen Züge eines fest gefügten Nationalstaates, wie er sich vor allem in Frankreich herausprägte. Wenn es gut geht, sind Polen und Deutschland erst am Anfang einer gemeinsamen Entdeckungsreise als enge Partner in der Mitte Europas.

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Das Ende der großdeutschen Perspektive

Österreich ist zunächst ein Stück Bayern. Wie es im Mittelalter oft ging, trennte Kaiser Friedrich I. Barbarossa 1156 aus dem bayerischen Stammesherzogtum die Markgrafschaft Österreich ab, erhob sie in den Rang eines eigenen Herzogtums, um so den Konflikt zwischen zwei mittelalterlichen Dynastien, den Welfen und den Babenbergern, um die bayerische Herzogswürde zu lösen. Schon zuvor hatten sich Kärnten und die Steiermark aus dem bayerischen Stammesherzogtum abgetrennt, sie wurden freilich erst sehr viel später Bestandteile Österreichs. Aber Österreich war von Anfang an anders, es war nicht irgendein deutsches Territorium. Zunächst einmal lag es am Rande des deutschen Sprach- und Kulturraumes, mit Wien als früher Residenz und kultureller Metropole. Das „privilegium minus“ von 1156 fixierte bereits so etwas wie einen Sonderstatus für das Herzogtum Österreichs innerhalb des Verbandes des Heiligen Römischen Reiches; das hatte, in der mittelalterlichen Welt mit ihrem Ehr- und Standesdenken, dynastisch-protokollarische Gründe; es ging darum, die hochadelige Familie der Babenberger in ihrem Status zu bestätigen. Es hatte aber auch geostrategische Gründe: Österreich, am Rande des deutschen Sprachraumes und Territorialverbandes, ganz in seinem Südosten, war nun einmal, zumal unter den mittelalterlichen Verkehrs- und Kommunikationsbedingungen, peripher gelegen. Österreich bzw. seine neuen Herzöge erhielten herausgehobene Kompetenzen. Das Herzogtum war nur dann zur Vertretung auf Hoftagen, später auf Reichstagen wie zur Heeresfolge verpflichtet, wenn der Hoftag auf bayerischem Boden stattfand oder wenn es um Gefahren in seiner eigenen, unmittelbaren Nachbarschaft ging.110 Sehr verkürzt gesagt, kann man es vielleicht so resümieren, dass die ganze folgende deutsch-österreichische Beziehungsgeschichte durch eine Ambivalenz gekennzeichnet ist: Einerseits gehörte das Land, damit in gewisser Weise mit anderen Regionen des Heiligen Römischen Reiches wie dem sogenannten Reichsitalien oder den sogenannten Ländern der Wenzels-Krone, im Wesentlichen dem Königreich Böhmen, zu jenen Gebieten, die nicht den konstitutiven Kernraum des Heiligen Römischen Reiches ausmachten, seit dem 15. Jahrhundert vielfach mit dem Zusatz Deutscher Nation, das heißt, Franken, Schwaben, die 110 Heinz Dopsch, Karl Brunner, Maximilian Weltin: Die Länder und das Reich. Österreichische Geschichte 1122–1278, hrsg. von Herwig Wolfram, Wien 1999, S. 139.

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sogenannte Rheinschiene, Sachsen, Thüringen und das heutige Niedersachsen sowie Bayern im Sinne von Altbayern, also jene Territorien, deren dynastische Herrscher bzw. Reichsstädte, da zumeist nicht allzu stark, in besonderer Weise von der Reichspolitik abhingen und in das Institutionengefüge des Reiches eingeordnet waren. Österreich war daran, obwohl es auch einen österreichischen Reichskreis gab, eben eher nur mittelbar beteiligt. Und dieser Trend verstärkte sich, als sich nach der Wende zur Neuzeit Österreich, wie auch BrandenburgPreußen, zu Herrschaftskomplexen entwickelten, die auch über Gebiete außerhalb der Reichsgrenzen verfügten und sich in hohem Maße eher als europäische denn als deutsche Player verstanden. Für Österreich galt das insbesondere, als die Habsburger nach der Schlacht bei Mohacs 1526 gegen die Osmanen, bei der der ungarische König Ludwig II. fiel, dauerhaft auch den böhmischen und den ungarischen Raum in ihren Herrschaftskomplex eingliedern konnten, den ungarischen freilich, solange der osmanisch-türkische Druck auf Mitteleuropa anhielt, bis zum Ende des 17. Jahrhunderts nur an dessen nordwestlicher Peripherie. Auf der anderen Seite war Wien aus kulturellen, aus geostrategischen, vor allem aber aus dynastischen Gründen für Jahrhunderte eine, wenn nicht die wesentliche Kapitale des römisch-deutschen Reiches. Seit der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert hatten die Habsburger die Kaiserwürde bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches 1806 mit nur einer Ausnahme inne, mit Ausnahme des schwachen bayerischen Kaisertums des 1742 zu Kaiser Karl VII. gewählten bayerischen Kurfürsten Karl Theodor, eines Kaisers von preußischen und französischen Gnaden, der lediglich drei Jahre amtierte. Wien war somit beides: Regierungs- und Amtssitz der wesentlichen Dynastie für den südostmitteleuropäischen Raum und zugleich Regierungs- und Amtssitz der Herrscher im Heiligen Römischen Reich, auf die hin sich naturgemäß Eliten und Strukturen aus zahllosen Territorien ausrichteten. Das Heilige Römische Reich war polyzentral, auch Wien war keine Hauptstadt. Die Herrscher wurden seit Anbeginn der Neuzeit in Frankfurt am Main gewählt und gekrönt, und von 1815–1866 war Frankfurt dann Sitz der Einrichtungen des Deutschen Bundes – wenn überhaupt, war es somit in gewisser Weise die erste deutsche Hauptstadt vor Berlin 1871. In Mainz hatte mit dem dortigen Erzbischof, dem protokollarisch ersten der ursprünglich sieben Kurfürsten, die Reichskanzlei ihren Sitz, in Wetzlar das Reichskammergericht, in Regensburg seit dem späteren 17. Jahrhundert der sogenannte Immerwährende Reichstag, der Gesandtenkongress der insgesamt über 400 reichsunmittelbaren Herrschaften in Deutschland. Aber Wien war an erster Stelle die Kapitale der Macht und der Repräsentation, Sitz der Kaiser, zugleich Erzherzöge von Österreich, Könige von Böhmen und Ungarn, um nur die drei

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wichtigsten Territorialtitel zu nennen; im formalen Sinne war Wien Sitz der Reichsvizekanzlei und des Reichshofrates, des zweiten obersten Gerichts auf Reichsebene. Und in Wien wurde für den mitteleuropäischen Raum die große Politik gemacht, in der Auseinandersetzung mit dem Frankreich Ludwigs XIV. wie zur Abwehr der Osmanen und über 100 Jahre später in der Konfrontation mit französischer Revolution und napoleonischem Kaisertum. Der großdeutsche Impetus bei der Revolution von 1848 kam nicht aus dem konservativen Lager, aus einem alteuropäisch-katholischen. Er kam aus einem linken, demokratischen, in ansehnlichen Teilen republikanischen, dem es um ein ideales Ziel ging, nämlich um die Schaffung eines den gesamten deutschen Sprachraum in der Mitte Europas umfassenden Staatswesens. Dieser idealistische Ansatz kollidierte mit den Bedingungen von Realpolitik in Europa, mit dem Legitimationsanspruch der alten Mächte und mit der prinzipiellen Ablehnung eines deutschen Blockes im Zentrum des Kontinents, dessen Hegemonialanspruch sich quasi aus sich heraus, aus dem eigenen Gewicht, ergebe. Der Kompromissversuch, ein kleindeutscher monarchischer Bundesstaat unter preußischer Führung, in enger konföderativer Verbindung, im Sinne eines weiteren Bundes, mit der österreichischen Monarchie, war weder mit den Zielvorstellungen der in Berlin noch mit denen der in Wien und auch nicht mit denen der in St. Petersburg Regierenden vereinbar. Die Entscheidung, definitiv oder auch nur scheinbar, fiel am 3. Juli 1866, auf dem Schlachtfeld von Königgrätz, als die preußische Armee mit dem technisch überlegenen Instrument ihres Hinterladers, des Zündnadelgewehrs, die tapfer kämpfende österreichische entscheidend besiegte. Im Friedensvertrag musste der „Österreichische Kaiserstaat“, wie er hier hieß, im Grunde nur eine einzige Bedingung akzeptieren, nämlich seine Nichtmehrbeteiligung an den innerdeutschen Angelegenheiten. Aber war die großdeutsche Frage damit schon erledigt? Schon vier Jahre später, bei Ausbruch des deutsch-französischen Krieges, musste sich die Wiener Politik entscheiden, wie sie sich positionieren wollte: Teile der Wiener Hofburg wurden schwankend, dachten an einen Kriegseintritt an der Seite Frankreichs, um an Preußen Revanche zu nehmen und die eigene Stellung als Führungsmacht in Deutschland zurückzugewinnen. Daraus wurde nichts, weil schon wenige Wochen nach Kriegsausbruch klar war, dass Frankreich auf die Verliererstraße gedrängt war. Das Zweite aber war, dass das deutsch empfindende Bürgertum in Österreich einen solchen Schritt prinzipiell ablehnte. So schrieb bereits zwei Tage vor Kriegsausbruch, am 16. Juli 1870, die in Wien erscheinende Neue Freie Presse: „Am Allerwenigsten lassen wir uns drängen, dem

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um die Erhaltung seiner Grenzen ringenden deutschen Volke in den Rücken zu fallen. Vom Deutschen Reich hat man uns ausgeschlossen, vom deutschen Volke soll man uns niemals ausschließen.“ 111 Und so war es umgekehrt auch dem Reichsgründer und Reichskanzler Otto von Bismarck nach 1871 darum zu tun, die Wunde von 1866 in einer Weise zu schließen, dass zum einen der Bewegungsraum des neu geschaffenen Deutschen Reiches mit seiner preußischen Dominanz erhalten blieb, dass zum anderen aber, dem Gedanken eines weiteren Bundes von 1848/49 folgend, ein Nahverhältnis zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn erreicht wurde. Es sollte sich nicht nur um ein reines Bündnis nach der Logik von Großmächtebeziehungen handeln, sondern um eine sehr enge kulturelle und ökonomische Verbindung. In vielen Planspielen wurde dann Jahrzehnte später während des Ersten Weltkrieges wieder an diese Idee eines mitteleuropäischen Blockes unter deutscher Hegemonie angeknüpft. Um den widerstrebenden Kaiser Wilhelm I., der ganz in den Traditionen der Verbindung zwischen Hohenzollern und Romanows in Petersburg stand, zu überzeugen, argumentierte der geborene preußische Landjunker Otto von Bismarck dabei durchaus kulturell-großdeutsch: „Schließlich gestatte ich mir, mit Bezugnahme auf die nationalen Empfindungen im gesamten Deutschen Reiche, noch auf die geschichtliche Tatsache ehrfurchtsvoll hinzuweisen, dass das deutsche Vaterland sich nach tausendjähriger Tradition auch an der Donau, in Steiermark und in Tirol noch wiederfindet, in Moskau und Petersburg aber nicht. Diese Tatsache bleibt für die Haltbarkeit und für die Popularität unserer auswärtigen Beziehungen im Parlament und im Volke von wesentlicher Bedeutung.“ 112 Der sogenannte Zweibund, das Bündnis zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn von 1879, blieb, weil die Wiener Politik nicht durch institutionelle Bindungen in eine Zweitrangigkeit degradiert werden wollte, allerdings ein reines Verteidigungsbündnis. Aber dass dahinter weitere Bindungen standen, war tatsächlich unübersehbar, am bild- und symbolkräftigsten dokumentiert durch den „Huldigungsakt der deutschen Bundesfürsten anlässlich des sechzigjährigen Regierungsjubiläums Kaiser Franz Josephs am 7. Mai 1908“ in Wien. Mit Kaiser Wilhelm II., in Erscheinen und Diktion so etwas wie das gerade Gegenteil Kaiser Franz Josephs, waren die monarchischen deutschen Herrscher nach Wien gekommen, um, jenseits aller staatsrechtlichen 111 Zit. nach Heinrich Lutz: Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches. Europäische Entscheidungen 1867 bis 1871, Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1979, S. 203. 112 Dokument Nr. 79 b in Michael Stürmer (Hrsg.): Bismarck und die preußisch-deutsche Politik 1871–1890,² München 1973, S. 148.

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Wandlungen seit 1866, ihrem gewissermaßen alteuropäisch-legitimen Oberhaupt zu huldigen. Damit dokumentierten sie auch, sechs Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, die Kohärenz des deutschsprachigen Blockes in der Mitte Europas. Für Österreich-Ungarn und nicht zuletzt die Habsburger selbst, war diese Verbindung, bei allen Unzuträglichkeiten und Reibereien, schon deshalb wichtig, weil sie nur mit dem Rückhalt am Deutschen Reich in der Lage sein konnten, das deutschsprachige Element bei den immer schärfer werdenden Nationalitätenkämpfen der Donaumonarchie in seinen weitgehenden Führungspositionen zu erhalten. An zwei Rändern des damaligen deutschen Sprachraumes, nicht nur geographisch, sondern auch kulturell denkbar weit voneinander entfernt, zeigte die Phase des Ersten Weltkrieges eine spezifische deutsch-österreichische Annäherung. Dabei wurden herkömmliche Geschichtsbilder in geradezu klassischer Weise nicht nur verfremdet, sondern umgepolt. Das eine Beispiel betrifft Andreas Hofer, den Führer und Heros das Tiroler Freiheitskampfes von 1809 gegen Franzosen und Bayern im napoleonischen Zeitalter. Schon bei der Hundertjahrfeier zur Erinnerung an diese Geschehnisse 1909, in Anwesenheit von Kaiser Franz Joseph und nur ein Jahr nach der Aufwartung der deutschen Bundesfürsten bei ihm in der Wiener Hofburg, wurden deutschnationale Töne hör- und spürbar. 1809 hatten die Italiener im damals südlichsten Teil Tirols, im sogenannten Trentino, auf der Seite Andreas Hofers mitgekämpft. 100 Jahre später, im Zeichen des eskalierenden österreichisch-italienischen Gegensatzes, waren sie bestenfalls noch geduldete, ja schon verspottete Außenseiter. Nach Kriegsausbruch zwischen Österreich und Italien im Mai 1915 avancierte Andreas Hofer zu einer Integrationsfigur, die die verbündeten Deutschen und mit ihnen die bayerischen Nachbarn geradezu mit subsummierte. Und als einzelne österreichische Bundesländer, darunter auch Tirol, 1921 über einen eigenständigen Beitritt zum Deutschen Reich votierten, gegen die Verträge von Versailles und Saint Germain, in der politischen Konsequenz dann auch ganz wirkungslos, da wurde in Tirol Andreas Hofer als Anwalt des Anschlusses an Deutschland und damit auch an Bayern in Anspruch genommen: „Der Einsatz des Sandwirts muss eigentlich verblüffen, bedeutete ein Anschluss Tirols an Deutschland zunächst auch die Beseitigung des Grenzbalkens zu Bayern, zu dem Land, das den Tirolern so viel angetan und das Hofer bekämpft hatte!“ 113 Freilich war die umgepolte Instrumentalisierung Andreas Hofers alles andere 113 Meinrad Pizzinini: Andreas Hofer. Seine Zeit – sein Leben – sein Mythos, Wien, Bozen, 2008, S. 326.

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als ein historisches Unikat. Ein ganz ähnliches Schicksal erfuhr die französische Nationalikone Johanna von Orleans zur etwa selben Zeit, bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges: Zu Beginn des 15. Jahrhunderts hatte Johanna von Orleans das französische Königtum dazu inspirieren können, Frankreich gegen Ende des Hundertjährigen Krieges von englischer Fremdherrschaft zu befreien. Im Sommer 1914 hingegen waren die Briten die Verbündeten der Franzosen, und Johanna erschien in vielerlei Darstellungen als Schirmherrin gegen die bevorstehende teutonisch-preußische Invasion. Die andere Geschichte deutsch-österreichischer Verbrüderung während des Ersten Weltkrieges spielt in Ostpreußen: Die preußische Provinz hatte in der Anfangsphase des Krieges, von August 1914 bis Frühjahr 1915, mehrfach unter russischer Besetzung zu leiden gehabt, von der Schlacht bei Tannenberg bis zur Winterschlacht in Masuren vom Februar 1915. Nach dem definitiven Ende dieser zeitweiligen Besetzungen – 1915 war ja das Jahr großer militärischer Erfolge Deutschlands und Österreich-Ungarns im Osten – ging man demonstrativ daran, die vielfach arg in Mitleidenschaft gezogenen Kleinstädte im Osten und Süden der Provinz wieder aufzubauen, mit Unterstützung durch Patenschaften vieler großer Kommunen im Deutschen Reich. Ostentativ beteiligte sich daran auch die österreichische Metropole Wien und übernahm die Patenschaft für das ostpreußische Ortelsburg. Der sehr im deutsch-orientierten Lager stehende Wiener Bürgermeister Richard Weiskirchner erklärte dazu am 14. März 1916: „Das Bewusstsein unserer gemeinsamen hehren Sache und der Drang unseres Herzens, das den Bruder auf deutscher Erde zum Bruder ruft, schlingen ein heiliges Band um unsere beiden Städte. Ortelsburg soll auferstehen zu hellerem Glanze wie vordem und ein Wahrzeichen sein deutscher Kunst und Kraft und des herrlichen, in Not und Tod bewährten Gemeinsinnes und ehernen Bundes unserer Länder von der Ostsee bis zur Adria.“ 114 Drei Jahre später, 1919, nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, war in Deutschland und Österreich viel von Großdeutschland die Rede. In einer wieder revolutionären Übergangszeit schien, 70 Jahre nach den revolutionären Ereignissen von 1848/49 und jetzt frei von dynastischen Bindungen, die Vereinigung beider Staaten möglich. Und auf dem Papier wurde sie auch vorbereitet. Davon ist hier bereits die Rede gewesen. Sie scheiterte zunächst am Anschlussverbot in den Friedensverträgen. Aber darüber hinaus ist die Frage zu stellen, ob die Nichtrealisierung der großdeutschen Perspektive in der Zwischenkriegszeit, jedenfalls 114 Zit. nach Andreas Kossert: Masuren. Ostpreußens vergessener Süden, TB-Ausgabe, München 2008, S. 240.

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vor der Diktaturphase, die 1933 begann, allein am sogenannten Diktat der Sieger scheiterte. Gewiss: Frankreich, Italien und die Tschechoslowakei hatten die besten Gründe, um am Anschlussverbot festzuhalten: Frankreich, damit die demographische und strukturelle Überlegenheit Deutschlands nicht noch weiter wuchs und damit seine Partner in der Kleinen Entente nicht mit einem vergrößerten Deutschland in ihrer Nachbarschaft konfrontiert waren. Italien schon deshalb, weil es für diesen Fall die Infragestellung der Brennergrenze durch ein mächtiges Deutschland fürchtete, das zum unmittelbaren Nachbarn geworden war, und weil es, spätestens seit Mussolini imperiale Politik zu treiben begann, im Donauraum selbst als Großmacht präsent sein wollte. Und für die Tschechoslowakei ging es um die schiere Existenz: Ein Großdeutschland drohte ihre Staatlichkeit von innen und außen zu sprengen, von innen, weil sich die mehr als drei Millionen Sudetendeutschen als Altösterreicher empfanden und ursprünglich in das neue Deutsch-Österreich hatten eintreten wollen. Von außen, weil die Tschechoslowakei dann geostrategisch zur Insel in einem deutschen Meer wurde. Aber man muss zugleich fragen, ob und in welchem Maße der Zusammenschluss beider Staaten tatsächlich ein Herzensanliegen der tonangebenden und Politik machenden Eliten in Wien und Berlin und der ihnen jeweils verbundenen kulturellen Lager war. Der alte Impetus von 1848/49 bestimmte die Liberalen und Großdeutschen in Österreich, aber das war eine relativ kleine akademische Minderheit gewesen, von ihren antisemitischen Prägungen, was den rechten Flügel anbelangt, ganz abgesehen. Im großdeutschen Lager standen nunmehr in Österreich auch die Sozialdemokraten bzw. Sozialisten, weil sie in Deutschland, nach dem Ende der Monarchien, das Land der ökonomischen Modernität und des sozialen Fortschritts sahen. Relativ anders verhielt es sich mit den Christlich-Sozialen, dem ländlich-katholischen Milieu, und jenen, die innerlich dem alten Kaiserstaat und den Habsburgern verbunden blieben. Für sie war das Deutschland der Weimarer Republik in beachtlichem Maße evangelisch-preußisch bzw. sozialistisch-laizistisch. Italien und Ungarn mit ihren katholisch-autoritären bzw., im faschistischen Falle, sogar totalitären Mustern, schienen in gewisser Weise politisch-kulturell bzw. ideologisch näherstehend. Schließlich musste Österreich, als es nicht mehr unter sozialistischer, sondern unter christlich-sozialer Führung unter Prälat Ignaz Seipel als Bundeskanzler stand, 1922 eine Anleihe des Völkerbundes akzeptieren, in der das Anschlussverbot

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nochmals bekräftigt wurde. Dagegen sprach die Arbeiterzeitung, das Zentralorgan der österreichischen Sozialisten, von „Seipels Sklavenvertrag“ 115 Auf der anderen, auf der deutschen Seite, verhielt es sich im Ergebnis weitgehend so, dass abstrakt-idealistisch ein Zusammengehen Deutschlands und Österreichs weiterhin Wunschperspektive war, aber nicht auf der Agenda der Prioritäten tatsächlicher Real- und Revisionspolitik stand und weitgehend auch nicht, was die Prioritäten der tonangebenden Eliten anbelangte. Die Vereinigung war weiterhin an erster Stelle eine Herzenssache derer, die sich in den großdeutsch-demokratischen Traditionen von 1848/49 sahen, parteipolitisch vor allem die Sozialdemokraten und die Linksliberalen. Für Reichspräsident Ebert war der sogenannte Anschluss ein „Lieblingsplan“ 116, den er möglichst, gegen den Rat der Diplomaten im Auswärtigen Amt, sogar realisiert haben wollte, bevor 1919 der Friedensvertrag Gestalt annahm. Ähnlich emotional sah das Theodor Heuss, 1949 als erster Bundespräsident so etwas wie ein Nachfolger Eberts. Heuss, linksliberaler Politiker und Publizist, zeigte sich zumal in der Übergangszeit 1918/19, prinzipiell großdeutsch: „Man könnte meinen, der Heuss des ‚Zusammenbruchs‘ nehme das schwarz-rot-goldene, das großdeutsch-demokratische Banner seines Uronkels wieder auf, dem sich noch der Vater verpflichtet fühlte. Denn so bitter – und wohl auch unverdient – er die Niederlage empfindet, sieht er dennoch dieses ‚geschlagene und revolutionierte Deutschland einen Schritt weiter auf dem Weg zum ‚wirklichen Nationalstaat‘ gehen, den er erst mit der Einbeziehung Österreichs abgeschlossen glaubt.“ 117 Die weiteren zwanziger Jahre brachten eine Fülle an deutsch-österreichischen Annäherungen, als Partner mit dem österreichisch-deutschen Volksbund Berlin, sowie dem österreichischdeutschen Volksbund Wien und mit der „Delegation für den österreichischdeutschen Wirtschaftszusammenschluss“ mit 140 aggregierten Verbänden; 1926 wurden die Uniformen des österreichischen Bundesheeres an die feldgrauen der Reichswehr angepasst – diese symbolhafte Annäherung wurde dann nach dem fehlgeschlagenen nationalsozialistischen Putsch vom Juli 1934 in Wien mit der Ermordung von Bundeskanzler Dollfuß wieder demonstrativ rückgängig gemacht. 1930 wurde das Versicherungswesen zwischen beiden Ländern vereinheitlicht.118 Ein Beispiel für die deutsch-österreichische Verzahnung im admi115 Faksimile in Hugo Portisch: Österreich I. Die unterschätzte Republik, Wien 1989, S. 218. 116 Walter Mühlhausen: Friedrich Ebert 1871–1925 Reichspräsident der Weimarer Republik, Bonn 2006, S. 253. 117 Merseburger, Theodor Heuss, S. 202. 118 Vgl. Rolf Steininger: 12. November 1918 bis 13. März 1938: Stationen auf den Weg zum „Anschluss“, in: Rolf Steininger, Michael Gehler (Hrsg.): Österreich im 20. Jahrhundert, Bd. 1 Von

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nistrativen Alltag schildert in seinen Memoiren Ferdinand Friedensburg, nach dem Zweiten Weltkrieg führender CDU-Politiker in Berlin, in den Weimarer Jahren bei der Deutschen Demokratischen Partei. Friedensburg verkörperte den Typus des republiktreuen demokratischen Beamten in der Ära Braun in Preußen. Er war Landrat in einem deutschnationalen Umfeld in Ostpreußen, dann Regierungspräsident in Kassel. Für letztere Zeit schildert er sein Mitwirken im „österreichisch-deutschen Volksbund“ und die Präsenz österreichischer Austauschbeamter – mit dem sehr hohem Rang „Sektionsräte“ – im Kasseler Verwaltungsapparat nach einem bilateralen Austauschverfahren. Und es wird auch klar, dass dahinter gemeinsame Identität, aber kein Vereinigungswille auf Biegen und Brechen stand.119 Es drängt sich also der Eindruck auf, dass alle diese Maßnahmen eher routiniert-administrativ durchgeführt wurden, dass aber die Prioritäten wesentlicher Entscheidungsträger in andere Richtungen zielten: In Deutschland wurde der Anschluss sozusagen immer mitgedacht, aber in der tatsächlichen Revisionspolitik der Weimarer Republik rangierte er nicht allzu weit oben, in gewisser Weise erschien er eher kontraproduktiv. Letzteres galt namentlich für die preußisch-evangelischen Eliten, denen das katholisch-barocke Österreich eher als Problem im Sinne einer ungewünschten politisch-kulturellen Gewichtsverlagerung galt. Ein Zweites kam hinzu: Die innenpolitische Konstellation in Österreich unterschied sich gravierend von der in Deutschland. Während in Deutschland trotz weltanschaulicher Differenzen die Parteien von der linken bis zur rechten Mitte, von der Sozialdemokratie bis zur Deutschen Volkspartei, prinzipiell koalitionsfähig waren, am verlässlichsten in Preußen, das unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Otto Braun fast so etwas wie der demokratische Musterstaat in der Weimarer Republik wurde, verlief in Österreich ein tiefer, unüberbrückbarer Graben zwischen Sozialdemokratie und Christlich-Sozialen. Die Weimarer Republik wurde von den Extremen bedroht, mit ihrer programmatischen Absage an die Demokratie und mit ihren jeweils eigenen Bürgerkriegsverbänden. Darauf ist hier noch einzugehen. In Österreich hingegen bedurfte es dazu gar nicht der extremistischen Parteien. Kommunisten, Nationalisten und am Ende auch Nationalsozialisten waren in Österreich entschieden schwächer als in Deutschland. Die Konfrontation war in Österreich ganz anders als in Deutschland: Sozialdemokraten bzw. Sozialisten und Christlich-Soziale stellten einander in ihrer Legitimation, schließlich in ihrer Existenzberechtigung in Frage. Sie machten keinen Hehl daraus, dass der Monarchie bis zum Zweiten Weltkrieg, Wien, Köln, Weimar 1997, S. 99–151, hier S. 114. 119 Ferdinand Friedensburg: Lebenserinnerungen, Frankfurt/Main, Bonn 1969, S. 198.

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sie sich gegebenenfalls mit aller Vehemenz, auch mit der ihnen zur Verfügung stehenden bewaffneten Macht, gegen den jeweils anderen wenden würden. Von 1927, vom Brand des Wiener Justizpalastes, nachdem ein Gericht im österreichischen Burgenland Attentäter auf einen Sozialdemokraten freigesprochen hatte, bis zur finalen Auseinandersetzung des Bürgerkrieges vom Februar 1934 im Land, befand sich Österreich in einer latenten Bürgerkriegsatmosphäre. Beim Brand des Wiener Justizpalastes, den erregte Demonstranten angezündet hatten, kamen 85 Menschen zu Tode, zumeist durch anschließenden Schusswaffengebrauch der Polizei. Der sozialdemokratische „Schutzbund“ und die den Christlich-Sozialen in Österreich relativ nahestehenden Heimwehren, die immer mehr faschistische, dem Italien Mussolinis ähnliche Züge annahmen, belauerten einander mit größtem Misstrauen. Gustav Stresemann, die so eindrucksvoll bestimmende Figur für die Außenpolitik der Weimarer Republik, war naturgemäß nach seiner ganzen, sehr nationalen Sozialisation jedenfalls auch Großdeutscher. Es ist aber eigentlich kein Punkt erkennbar, an dem er konkret die Österreichfrage aufgeworfen hätte: Es ist dabei bezeichnend, dass selbst beim berühmten, intensiven wie informellen Gespräch zwischen Stresemann und dem französischen Außenminister Briand, unmittelbar nach dem deutschen Völkerbundsbeitritt am 17. September 1926, bei jenem „Frühstück“ von Thoiry, das zehn Stunden dauerte, die Österreichfrage offensichtlich gar nicht berührt wurde. Dabei hatten beide das Gespräch als, nach den großen Flurbereinigungen von Dawes-Plan, Locarnovertrag und eben deutschem Völkerbunds-Beitritt, singuläre Gelegenheit gesucht und gesehen, so etwas wie eine deutsch-französische Generalklärung ins Auge zu fassen. Die Themen, um die es dann aber ging, waren ganz andere: Es ging um die Finanzkreisläufe zwischen beiden Ländern, um Reparationen, Anleihen und Obligationen, und um die Fortführung der Locarno-Politik, also die vorzeitige Räumung des Rheinlandes, die vorzeitige Freigabe des Saargebietes und die Rückführung Eupen-Malmedys von Belgien an Deutschland. Skizziert wurde somit eine Politik der zwar kühnen – schließlich war die Luft noch voll wechselseitigen Misstrauens –, aber nicht revolutionären Schritte; und es ging dabei weder um Österreich noch ging es auch um die Korridorfrage.120 Die Etablierung der NS-Diktatur in Deutschland ab dem 30. Januar 1933 veränderte auch im deutsch-österreichischen Verhältnis die Geschäftsbedingungen. 120 Vgl. Jonathan Wright: Gustav Stresemann 1878–1929. Weimars größter Staatsmann, München 2006, S. 175 ff.

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Und in der längerfristigen Rückschau zeigt sich, dass das ideologisch bedingte Insistieren der Nationalsozialisten, namentlich Adolf Hitlers selbst, auf einem unbedingt herzustellenden Großdeutschland, wie es schon ihrer ursprünglichen Programmatik entsprach, am Ende wesentlich zur Entfremdung zwischen Deutschland und Österreich beitrug, auch wenn dies in den dreißiger Jahren noch keineswegs erkennbar sein konnte, eine vermeintliche Paradoxie, die sich freilich plausibel erklären lässt. Zunächst einmal muss man sehen, dass parallel zur Entwicklung der NS-Diktatur auch in Österreich ein Prozess stattfand, bei dem, wenn auch unter anderen Vorzeichen, die Demokratie zerschlagen und ein autoritär-militantes Regime errichtet wurde: Das andere ist, dass Hitler selbst von einer Art Hassliebe gegenüber seiner Heimat erfüllt war; in Österreich war er biografisch stets erfolgloser Außenseiter geblieben, sein Aufstieg hatte sich, von Bayern kommend, in Deutschland vollzogen. Österreich sah er sich einerseits, zumal kulturell, durchaus verbunden; andererseits deutete er sein persönliches Scheitern in Wien um in eine Art Verrat des alten Habsburgerstaates an Deutschland und seiner Geschichte. Mutet doch schon merkwürdig an, dass der geborene Österreicher Adolf Hitler seine historischen Idole in Otto von Bismarck und namentlich im Preußenkönig Friedrich dem Großen sah. Letzterer habe gezeigt, was, auch in aussichtsloser militärischer Lage, mit purer Entschlossenheit und extremer Risikobereitschaft, erreicht werden könne; an diesem Bild, besser Zerrbild, sollte er bis in seine letzten Tage im April 1945 im Bunker der Berliner Reichskanzlei festhalten. Friedrich der Große aber ist schließlich unzweideutig jener Akteur in der deutschen Geschichte gewesen, der Österreich herausgefordert und den deutschen Dualismus begründet hatte. Und nicht wenige in den Traditionen preußisch-deutscher Geschichtsbetrachtung sahen Friedrich schon deshalb kritisch, weil er als typische Figur der europäischen Aufklärung nationalen Identitäten und den mit ihnen oft verbundenen emotionalen Aufgeregtheiten verständnislos, ja distanziert gegenüber gestanden hatte. Hinzu kam seine Nähe zur französischen Sprache und Kultur, personifiziert in der Figur Voltaires. Aus solchen Blickrichtungen, aus der Sympathie mit dem preußischen Befreiungskampf gegen die napoleonische Vorherrschaft, mit Leitfiguren wie der preußischen Königin Luise oder Feldmarschall Blücher, erschien dieser König eher als eine Negativfigur. Hitler aber sah in ihm vor allem den erfolgreichen Feldherrn und Errichter einer europäischen Großmacht. Hingegen schienen ihm die Habsburger, erschien ihm die Politik einer nationale Grenzen überschreitenden katholischen Großmachtbildung geradezu als „Verrat an der deutschen Nation“. Nähe, Kritik und Verachtung war somit die Trias, die sein inneres Verhältnis zu seiner Heimat Österreich bestimmte und

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damit auch seine Politik gegenüber dem Land. Hitlers feindschaftliches Nahverhältnis zu Österreich führte, etwas über fünf Jahre nach der so genannten Machtergreifung, zum Anschluss und zur Proklamation eines „Großdeutschen Reiches“, sie schuf aber zugleich die Voraussetzungen für eine so weitgehende Entfremdung, dass am Ende das (jedenfalls durchgängige bzw. nahezu vollständige) Heraustreten Österreichs aus dem deutschen Nationskontext stand. Nach einer schweren Parlamentskrise hatte die Regierung Dollfuß am 7. März 1933 den Nationalrat für gewissermaßen obsolet erklärt, verhinderte seinen Wiederzusammentritt und führte die Pressezensur ein. Das Folgejahr brachte in Österreich die definitive Errichtung des sogenannten Austrofaschismus: Im Bürgerkrieg vom Februar 1934 wurde die sozialistische Opposition zerschlagen und in die Illegalität gedrängt, ihre führenden Exponenten, soweit man ihrer habhaft werden konnte, wurden inhaftiert, einige verfielen dem Standrecht, andere wurden zu Haftstrafen verurteilt wie etwa der spätere Bundeskanzler Bruno Kreisky, oder wanderten ins „Anhaltelager“, die abgemilderte österreichische Variante von Konzentrations- bzw. Internierungslagern, um Opponenten verschwinden zu lassen. Wenige Monate später, am 24. Juli 1934, putschten in Wien die Nationalsozialisten, mit offenkundiger Zustimmung ihrer deutschen Führung, und mit einem denkbar katastrophalen Ergebnis: Der Putsch schlug machtpolitisch fehl, aber weil in seinem Verlauf, bei der Besetzung des Bundeskanzleramtes, Bundeskanzler Engelbert Dollfuß zu Tode gekommen war – angeschossen hatte man ihm ärztliche Hilfe verweigert, und er war verblutet – entstand eine für das „Dritte Reich“ denkbar ungünstige, kompromittierende Situation, so sehr man sich auch in Berlin und München den Anschein gab, mit den Wiener Vorgängen nichts zu tun gehabt zu haben. Dollfuß’ Nachfolger Kurt von Schuschnigg führte, im Bündnis mit Mussolinis Italien, nun einen harten, ja militanten Abwehrkampf an zwei innenpolitischen Fronten, gegen Sozialisten wie Nationalsozialisten. Österreich rüstete buchstäblich auf, wappnete sich aber auch an der ideologischen Front: Der katholische Ständestaat, die neue offizielle Gesellschaftsordnung im Land, wies dieses zugleich als das gewissermaßen bessere Deutschland aus. Noch sprach man in Wien nicht von einer eigenen österreichischen Nation, tatsächlich aber wurde auch bereits die geistige Distanzierung zu Deutschland erkennbar: Das österreichische Deutschtum wurde in einer spezifisch abendländischen Grundierung profiliert, grenzüberschreitend europäisch nach den Traditionen der alten Donaumonarchie, katholisch-barock mit einem sehr eigenen Kunst- und Literaturverständnis, gewissermaßen Grillparzer gegen Kleist. Auf der anderen Seite gab es im Untergrund auch mancherlei Verständigungen zwischen Nationalsozialisten

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und Sozialisten, die sich beide als antihabsburgisch, antikatholisch, antifeudal und genuin deutsch verstanden. Die Österreich-Ideologie des Ständestaates blieb, jedenfalls zunächst, schon deshalb auf halbem Wege stehen, weil sich die machtpolitischen Voraussetzungen zu Ungunsten Österreichs veränderten: Die Isolierung Italiens nach dessen Überfall auf Abessinien 1935 und das Erstarken des nationalsozialistischen Deutschlands, die tatsächliche oder vermeintliche Schwäche der Westmächte, die britische Appeasementpolitik, all diese Faktoren ließen Österreich in Isolation geraten121 und zwangen das Schuschniggregime dazu, am 11. Juli 1936 ein Abkommen mit Deutschland zu unterzeichnen, das auf so etwas wie eine teilweise Gleichschaltung hinauslief. Zwar wurde Österreich zunächst seine Unabhängigkeit bestätigt, im Gegenzug hieß es aber in Artikel 3: „Die österreichische Bundesregierung wird ihre Politik im allgemeinen, wie insbesondere gegenüber dem Deutschen Reiche, stets auf jener grundsätzlichen Linie halten, die der Tatsache, dass Österreich sich als deutscher Staat bekennt, entspricht.“ Vertraulich hatte die österreichische Führung auch weitgehende Zugeständnisse machen müssen, was die Zulassung von Nationalsozialisten zu Spitzenpositionen im Lande betraf. Zwei Jahre später, im März 1938, erfolgte mittels einer militärischen Invasion im Land der sogenannte Anschluss, durch ein Plebiszit im Folgemonat besiegelt. War das nun die Realisierung der großdeutschen Vision von 1848, auch noch der von 1919? Das Zerbrechen dieses Großdeutschlands 1945 hatte am Ende zwei Gründe: Der eine, ganz banal, war der militärische Zusammenbruch des nationalsozialistischen Deutschlands. Es gehörte zu den essentials der Siegermächte, den Anschluss rückgängig zu machen. Am 13. April 1945 hatte die Rote Armee Wien erobert, genau zwei Wochen später, am 27. April, präsentierte sich die Regierung eines neuen, unabhängigen Österreichs, politisch gegründet auf drei Parteien, Sozialisten, Volkspartei, die Nachfolger der alten Christlich-Sozialen, und Kommunisten; Letztere hatten in der Zwischenkriegszeit, anders als in Deutschland, keine Rolle gespielt, aber unter sowjetischer Vormundschaft waren sie nun, wie in allen von der Roten Armee eroberten Ländern, mit einem Mal präsent. Der neue sozialdemokratische bzw. sozialistische Bundeskanzler Renner war ein alter Fahrensmann der österreichischen Politik. Als erster Staatskanzler nach dem Ersten Weltkrieg war er selbstverständlicher Anwalt 121 Vgl. zu dieser Entwicklung Gerald Stourzh, Birgitta Zaar (Hrsg.): Österreich, Deutschland und die Mächte. Internationale und österreichische Aspekte des ‚Anschlusses‘ vom März 1938, Wien 1990.

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eines möglichst bald herzustellenden Großdeutschlands gewesen. Vor dem Plebiszit über den Anschluss vom April 1938 hatte er in einem Interview erklärt, politisch seit 1934 naturgemäß kaltgestellt, aber jetzt punktuell von gewissem propagandistischem Wert: „Obschon nicht mit jenen Methoden, zu denen ich mich bekenne, errungen, ist der Anschluss nunmehr doch vollzogen, ist geschichtliche Tatsache, und diese betrachte ich als wahrhafte Genugtuung für die Demütigungen von 1918 und 1919, für St. Germain und Versailles. Ich müsste meine ganze Vergangenheit (…) verleugnen, wenn ich die große geschichtliche Tat des Wiederzusammenschlusses der deutschen Nation nicht freudigen Herzen begrüßte.“ 122 Nun, fast genau sieben Jahre später, agierte er als die zentrale Bezugsperson eines unabhängigen, 1938 überfallenen und okkupierten, jetzt von den Alliierten, an erster Stelle der Roten Armee, befreiten Österreichs. Die Entwicklung dahin war naturgemäß zunächst machtpolitisch zu erklären: Das Ergebnis des Krieges determinierte die Schaffung eines wieder verselbstständigten Österreichs – unabhängig davon, dass auf alliierter Seite mitunter auch andere Varianten erwogen worden waren, im Rahmen der Teilungsvorstellungen für Deutschland auch ein Südbund mit Bayern oder mit Ungarn. Aber dies war gewiss zuletzt in Österreich selbst gewollt, denn eine österreichisch-bayerische Identität hatte es, gerade wegen der geographischen und kulturellen Nähe der Länder, nie gegeben. Aber die Ursache für das Ende des nationalsozialistischen Großdeutschlands lag eben nicht nur in Verlauf und Ergebnis des Krieges. Er schuf die Voraussetzungen. Daneben standen Entfremdungserscheinungen, die sehr schnell wirksam wurden. Das gewissermaßen Tragische am Anschluss war ja, dass er nicht zwei Gesellschaften aus freiem Willen und zu frei vereinbarten Bedingungen zusammengeführt hatte. Auf österreichischer Seite wurde ab März 1938 sehr bald erkennbar, dass die neuen starken Männer im Lande sein gewachsenes Profil nicht nur missachteten, sondern vielfach geradezu zu zerstören versuchten. Josef Bürckel, der pfälzische Gauleiter, von Hitler als Spezialist für Volksabstimmungen – 1935 „Saargebiet“ – und innenpolitische Gleichschaltungen nach Wien entsandt, führte einen gnadenlosen Kampf gegen die katholische Kirche123 und damit gegen eines der stärksten Milieus im Lande. Traditionsreiche österreichische Länder, mit ihrem Herkommen seit dem Mittelalter, verloren ihren Namen, es wurden „Gaue“ mit Bezeichnungen 122 Zit. nach Hugo Portisch, Sepp Riff: Ein Volk, ein Reich – kein Österreich. Österreich II, Bd.3, TB- Ausgabe, München, Wien 1993, S. 260f. 123 Vgl. Gerhard Botz: Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/39, Wien 2008.

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wie Nieder- und Oberdonau eingerichtet. Reichsdeutsche, „Piefkes“, besetzten zahlreich die Schlüsselstellen, selbst die österreichischen Nationalsozialisten, die sich vom Anschluss Ämter und Pfründe versprochen hatten, sahen sich vielfach hintangesetzt. Und in die Illegalität verdammt, fanden Christlichsoziale und Sozialdemokraten auf einer neuen, konsensualen Österreich-Plattform zusammen – im einschlägigen Mythos soll das Nachkriegsösterreich auf der Lagerstraße des Konzentrationslagers Dachau entstanden sein. Die Lösung Österreichs von Deutschland war Konsens unter den – künftigen – Siegermächten, aber eben nicht als Selbstzweck: „In der Österreichpolitik der Alliierten in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs wurde deutlich, dass sie das Schicksal Österreichs durchaus nicht isoliert, sondern als Funktion ihrer Deutschlandpolitik einerseits, ihrer Ost- wie Südosteuropapolitik andererseits betrachteten. Das Postulat der Wiederherstellung der österreichischen Unabhängigkeit war die Konsequenz eines umfassenderen Zieles, nämlich der Schwächung Deutschlands. Der britische und insbesondere Churchills Wunsch nach Integration Österreichs in eine mittel- oder südosteuropäische Konföderation war die Konsequenz des Bestrebens, Gegengewichte zu dem zu Recht erwarteten Machtzuwachs Russlands in Europa zu schaffen – darin durchaus vergleichbar mit Churchills Bemühungen um eine Aufwertung Frankreichs im Kreis der Mächte.“ 124 Bei der Österreich-Politik der Alliierten ging es also nicht um abstrakte Ziele, sondern um die jeweiligen Wunschpositionen für die machtpolitischen Gewichtsverteilungen nach Kriegsende. Die Sowjetunion lehnte eine Konföderation in einer Art Nachfolge der Donaumonarchie ab, weil sie ihren imperialen Zielen im Wege stand, Präsident Roosevelt war hier sehr entgegenkommend, er hielt in einem Gespräch mit dem Erzbischof von New York und späteren Kardinal Francis Spellman am 3. September 1943 sogar für absehbar, dass „Österreich, Ungarn und Kroatien unter irgendeine Art russisches Protektorat fallen würden.“ 125 Für Roosevelts universalistische Politik kam es schließlich primär auf die Einbindung von Stalins Sowjetunion in die künftigen Vereinten Nationen an. Der große Unterschied zwischen der Situation Österreichs am Ende des Ersten und der am Ende des Zweiten Weltkrieges war, dass diesmal beide Seiten, Siegermächte und die binnen weniger Wochen im April 1945 neu konstituierte politische Führung im Land, eine Bindung an Deutschland ablehnten und zwar 124 Gerald Stourzh: Um Einheit und Freiheit: Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der OstWest-Besetzung Österreichs 1945–1955, Wien, Köln, Graz 1998, S. 50. 125 Ebd. S. 16.

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diesmal mit denkbar größter Vehemenz. Gewiss hatte es Entfremdungserscheinungen zwischen Österreichern und „Reichsdeutschen“ gegeben, überall da, wo festgefügte Milieus in Frage gestellt wurden: Das galt für den Kirchenkampf der Nationalsozialisten, das galt, durchaus nicht ohne Belang, für die Rivalitäten im Fußball; hier war, einem rigiden deutschen Amateurdenken folgend, die Kultur des österreichischen bzw. eigentlich Wiener Berufsfußballertums eliminiert worden. Vor diesem Hintergrund erschien der Sieg von Rapid Wien gegen Schalke 04 beim Endspiel um die deutsche Fußballmeisterschaft am Tag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, am 22. Juni 1941, durch ein 4:3 im Berliner Olympiastadion, in Wien vor allem als Bestätigung eigener Bedeutung, ja Identität – was freilich noch nicht die Aufkündigung des großdeutschen Konsenses überhaupt bedeuten musste. Die Nationalsozialisten hatten ja nicht nur Österreich dem Deutschen Reich einverleibt, sondern sich zugleich daran gemacht, seine regionalen Besonderheiten möglichst zu zerstören. Das hatte in Österreich ein hohes Maß an innerer Distanzierung von Großdeutschland zur Folge, aber wie weitgehend und mit welchem Ergebnis, darüber konnte allein der Kriegsausgang entscheiden. Die Alliierten hatten sich in der Moskauer Deklaration vom 1. November 1943 über Österreich ambivalent geäußert: Es sei das erste freie Land gewesen, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer gefallen sei, sie wünschten „ein freies, unabhängiges Österreichs wiederhergestellt zu sehen“, Österreich trage aber „für die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands eine Verantwortung“ und daher werde seine Behandlung nach Kriegsende in hohem Maße davon abhängen, „wie viel es selbst zu seiner Befreiung beigetragen haben wird.“ Gewiss gab es, vielfach erst ganz gegen Ende des Krieges auftretend, einen spezifisch österreichischen Widerstand, dem es nicht nur einfach um einen Beitrag zur Beseitigung der massenmörderischen NS-Diktatur ging. Die Dimension dessen, was die Alliierten in der Moskauer Erklärung als Erwartung formuliert hatten, erreichte dieser Widerstand freilich allenfalls zu einem Zeitpunkt, als militärisch im Frühjahr 1945 die Würfel gefallen waren und es darum ging, schon vor Eintreffen der Alliierten die NS-Führungen vor Ort abzusetzen. Noch über das Scheitern des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 hatte es in Österreich auch auffällig viel Befriedigung gegeben. Entscheidend wurde vielmehr jetzt etwas anderes: Die Moskauer Deklaration schien der neuen österreichischen Führung den wesentlichen Hebel in die Hand zu geben, um das Land mittels eines dicken Trennungsstriches in sichere Distanz zum gesamten NS-Schuld-Komplex zu bringen. Im Vordergrund stand die Formulierung vom ersten freien Land, das vergewaltigt worden sei. Die

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weitere Formulierung von der Verantwortung für die Kriegführung an der Seite Hitler-Deutschlands wurde möglichst nicht zur Kenntnis genommen – obwohl die Alliierten, als sie diesen Passus in der Moskauer Deklaration unterbrachten, vermutlich gar nicht wissen konnten, wie überproportional hoch der Anteil von Österreichern an der Durchführung des Holocausts war, und das kam ja nicht von ungefähr: Gerade die Militanz des innerösterreichischen, zumal inner-Wiener Antisemitismus hatte sich auf den Straßen und Plätzen zumal der Hauptstadt schon in den Anschlusstagen des März 1938 in einer Weise ausgetobt, die selbst deutschen Beobachtern erstaunlich erschien. Das neue österreichische Regierungsbündnis aus Österreichischer Volkspartei, Sozialisten und Kommunisten hatte die Staatsräson des Landes neu auszurichten, und das erschien nur möglich, wenn historischer Ballast über Bord geworfen wurde: Der historische Graben zwischen Bürgerlichen und Sozialisten, die Bürgerkriegskonstellation des Februar 1934, musste mittels eines festgefügten Regierungsbündnisses mit genauer Verteilung von Macht und Pfründen überbrückt werden. Daraus resultierte eine große Koalition im Land für über zwei Jahrzehnte, bis 1966. Zweitens galt es, die Einheit des Landes zu wahren. Hier wirkte in Wien das Beispiel aus der Nachbarschaft mit einem VierzonenDeutschland, das nicht mehr zusammenfand, abschreckend. Drittens galt es, namentlich mittels der „Okkupationstheorie“, Österreich von den Fährnissen und Belastungen der deutschen Kriegsverantwortlichkeit freizuhalten. Die Okkupationstheorie übernahm die erste Botschaft der Moskauer Deklaration: Das Land sei 1938 nicht unter- bzw. im Deutschen Reich aufgegangen, vielmehr nur von Letzterem gegen seinen Willen überwältigt worden, für die Zeit seiner Besatzung zu verantwortlichem eigenen Handeln nicht fähig gewesen und erst seit Frühjahr 1945 wieder in der Lage, als Staat zu agieren. Mit anderen Worten: Die Republik Österreich sei für das, was von 1938–1945 auf ihrem Territorium geschah bzw. was eigentliche Österreicher jetzt in deutschen Ämtern und Funktionen unternahmen, nicht haftbar zu machen. Mit großer Disziplin gegen alle Anfechtungen durchgehalten, wurde diese Okkupationstheorie Teil jenes Österreich-Mythos, mit dem sich die Republik um die Abgrenzung von Deutschland bemühte. Am prekärsten wurde sie in ihren Schlussfolgerungen immer dann, wenn es um Entschädigungen ging, zumal um Entschädigungen für jüdische Opfer. Dabei kam noch ein weiteres Moment zum Tragen: Gerade weil sich insbesondere die politische und kulturelle Führungsschicht Österreichs seit Kriegsende vehement von Deutschland distanzierte, kultivierte man auf eigenem Boden durchaus auch noch Versatzstücke des antisemitischen Erbes der alten Donaumonarchie. So erklärte Staatskanzler Renner (SPÖ) in einer

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Kabinettssitzung am 10. Mai 1945, also zwei Tage nach Kriegsende: „Es wäre doch ganz unverständlich, dass man jeden kleinen jüdischen Kaufmann oder Hausierer für seinen Verlust entschädigt, dass man aber einer ganze Klasse und ganzen Bewegung, der 47 Prozent der Bevölkerung angehört haben (Sozialisten einschließlich Gewerkschaftsbewegung, P.M.), straflos und ohne Ersatz das Ergebnis ihrer emsigen Sammeltätigkeit und ihrer Organisationsarbeit glatt wegnehmen kann, ohne dass das Gesetz eine Remedur dagegen schafft.“ 126 So ergab sich für Österreich, das unbestreitbar Heimat sehr vieler Täter gewesen war – der buchstäblich mächtigste unter ihnen Ernst Kaltenbrunner, mit Zeitverzug von mehreren Monaten Nachfolger des im Juni 1942 einem Attentat zum Opfer gefallenen Reinhard Heydrich als Chef des Reichssicherheitshauptamtes – und das einen sehr besonderen Anteil zum Antisemitismus in Mitteleuropa beigesteuert hatte, der merkwürdige Befund, dass seine politische Führung einhellig und über viele Jahrzehnte jegliche Verantwortlichkeit für die NS-Verbrechen ablehnte. Sie positionierte sich vielmehr sozusagen neben den überlebenden Juden auf der Opferseite. In einem Memorandum der Wiener Staatskanzlei vom August 1945 hieß es: „Die Judenverfolgungen erfolgten während der Dauer der Besetzung Österreichs durch deutsche Truppen. Die Verfolgungen wurden durch reichsdeutsche Behörden angeordnet und mit ihrer Hilfe durchgeführt. Österreich, das damals infolge der Besetzung durch fremde Truppen keine eigene Regierung hatte, hat diese Maßnahmen weder verfügt, noch konnte es sie verhindern. Nach Völkerrecht hätte sich daher der Entschädigungsanspruch der österreichischen Juden gegen das Deutsche Reich und nicht gegen Österreich zu richten.“ 127 Eine kathartisch und historisch wirklich angemessene Auflösung dieser Position ist auf österreichischer Seite bis heute nicht gelungen. Zwar hat die sogenannte „Waldheim-Affäre“ seit Mitte der achtziger Jahre ein Fragen wie Bekennen jenseits rechtspositivistischer Kasuistik forciert, aber in aller Regel doch verbunden mit einem um Absicherung bemühten EinerseitsAnderseits. So erklärte der österreichische Bundeskanzler Franz Vranitzky bei einer Rede vor der hebräischen Universität Jerusalem am 10. Juni 1993: „Wir müssen mit dieser Seite unserer Geschichte leben, mit unserem Anteil an der Verantwortung für das Leid, das nicht von Österreich – der Staat existierte 126 Zit. nach Matthias Pape: Ungleiche Brüder. Österreich und Deutschland 1945–1965, Köln, Weimar, Wien, 2000, S. 29. 127 Dokument 1 im Anhang zu Thomas Albrich: Holocaust und Schuldabwehr. Vom Judenmord zum kollektiven Opferstatus, in: Rolf Steininger, Michael Gehler (Hrsg.): Österreich im 20. Jahrhundert, Bd. 2 vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart, Wien, Köln, Weimar, 1997, S. 39–106, hier S. 98.

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nicht mehr – sondern von einigen (sic!) seiner Bürger anderen Menschen und der Menschheit zugefügt wurde.“ 128 Der apodiktischen Distanzierung von jeglichem Anschluss-Denken auf österreichischer Seite entsprach die Aufkündigung einer identitären Gemeinschaft mit Deutschland und dies weit über den engeren Bereich der Staatsnation hinaus. Ansätze, die vor allem in den dreißiger Jahren entwickelt worden waren, um den Ständestaat gegen das „Dritte Reich“ legitimieren zu können, wurde nun verselbstständigt und auf eine gewissermaßen höhere Ebene gebracht: War in dieser Übergangsphase der dreißiger Jahre Österreich als das gewissermaßen ursprünglichere, europäischere und authentischere Deutschland gezeichnet worden, das schon deshalb seine Selbstständigkeit behalten müsse, damit die besonderen Vorzüge solchen österreichischen Deutschtums nicht untergingen, so wurde nun das ursprüngliche Konstrukt zum eigentlichen Inhalt selbst. Das katholische, Alteuropäisches, Germanisches, Slawisches und Romanisches in sich vereinigende Abendland erschien jetzt als axiomatischer Bezug eines österreichischen Seins. Österreich mutierte dabei vom besonderen Teil des Deutschtums zum Land fernab alles Deutschen, mit bemerkenswerten Konsequenzen: Die Schüler wurden in Unterrichtssprache, nicht mehr in Deutsch unterrichtet, bei der Wiedereröffnung des Burgtheaters 1955 entschied man sich nach langen Auseinandersetzungen gegen Goethes Egmont und für Grillparzers „König Ottokars Glück und Ende“, obwohl Goethes Thematisierung des (niederländischen) Befreiungskampfes für die Konstellation der Nachkriegszeit unbestreitbar um vieles aussagekräftiger gewesen wäre. Ein knappes Vierteljahrhundert zuvor, aus Anlass von Goethes 100. Geburtstag am 22. März 1932, war Egmont hingegen erste Wahl für das Burgtheater gewesen: Aus diesem Anlass gastierten die beiden prestigeträchtigsten deutschsprachigen bzw. deutschen Bühnen am Weimarer Nationaltheater; das Berliner Staatliche Schauspielhaus mit allen seinen Stars, an der Spitze Heinrich George als der Ritter mit der eisernen Hand, gab den Urgötz – in gewisser Weise auch ein Befreiungsstück. Am folgenden Abend dann der Egmont aus Wien – im Zusammenhang bewusst inszenierte großdeutsche Kulturgemeinschaft, vermutlich auch gedacht als gemeinsamer dramaturgischer Protest gegen die Ordnung von Versailles und St. Germain. Zurück in die so ganz anders kodierte Welt der fünfziger Jahre, in der der österreichische „National“dichter Grillparzer am Weimarer Klassiker vorbeigezogen war. 128 Ebd., Dokument 3, S.99.

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Knapp drei Wochen nach der Eröffnung des Burgtheaters erfolgte die Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper, am 5. November 1955. Hier hatte es keine Auseinandersetzungen über das zu wählende Stück gegeben, aber der Subtext war kaum weniger bemerkenswert: An Beethovens „Fidelio“ als optimalem Auftakt für die Staatsoper gab es keinen Zweifel. Das setzte aber voraus, dass Beethoven mittlerweile von der Wiener Kulturszene als durchaus authentischer Österreicher gesehen wurde – ganz im Gegensatz zu den Feierlichkeiten anlässlich seines 100. Todestages 1927. Damals, im Zeichen der Anschlussbemühungen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, hatte der österreichische Bundespräsident Michael Hainisch in Beethoven das gemeinsame Band gesehen, das Bonn – den Geburtsort – und Wien umschlinge, „wie sein Leben und Schaffen überhaupt die innige kulturelle Zusammengehörigkeit Deutschlands und Österreichs in wundervoller Weise“ 129 demonstriere. Die spätere Distanzierung Österreichs auch von einem kulturnational deutschen Kontext war freilich offizielle Staatsund Medienpolitik, auf inoffizieller Ebene wurde die Härte und Abstraktheit dieser Position dann auch wieder vielfach weich gespült, mit fast deutschnationaler Eindeutigkeit wie beim österreichischen Bundeskanzler Gorbach 1961 im Gespräch mit dem deutschen Botschafter Mueller-Graaf, verklausulierter, aber doch noch spürbar bei der beherrschenden Figur der österreichischen Politik in den siebziger Jahren, Bruno Kreisky. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass auch auf deutscher Seite 1945 der Anschluss tot war. Es bedurfte dazu gar nicht irgendwelcher Ermahnungen der Siegermächte. Auch hier galt gegenüber 1918/19 eine gänzlich veränderte Lageeinschätzung: in der Situation der Ost-West-Konfrontation galt der politische Primat eindeutig der Selbstbehauptung der Westzonen, später der frühen Bundesrepublik im Kalten Krieg und, darüber hinausgehend, einem Wiedervereinigungsanspruch, der ganz auf die Herauslösung der DDR aus dem sowjetischen Machtbereich gerichtet war. Dazu war die operative Politik der frühen Bundesrepublik in die Raison der westlichen Politik im Systemwettkampf eingebunden, für großdeutsche bzw. mitteleuropäische Nostalgien blieb kein Raum. Das galt auch und gerade für Konrad Adenauer, der in den Traditionen des katholischen rheinischen Zentrums sozialisiert war. Für Adenauer waren Österreicher durchaus Deutsche, aber unter den machtpolitischen Imperativen der frühen Nachkriegszeit spielte das keine Rolle, zumal er auch kein sehr günstiges Urteil über die Österreicher hegte. Sie erschienen ihm wenig zuverlässig, und er ließ seine abschätzige Auffassung bei den Begegnungen in Bonn und 129 Zit. nach Pape, Ungleiche Brüder, S 430.

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Wien 1958 die österreichische Führung durchaus spüren. Neben Werturteilen wie Vorurteilen stand dahinter aber auch ein sehr elementarer machtpolitischer Zusammenhang: Der österreichische „Sonderweg“ der Nachkriegszeit, 1955 endgültig festgelegt, war nur möglich geworden, weil ihm auf deutscher bzw. westdeutscher Seite der NATO-Beitritt gegenüberstand. Dieser Sonderweg bestand in Befreiung von alliierter Besatzung, Anschlussverbot und Immerwährender Neutralität. Insofern blieben die deutschen und die österreichischen Dinge auch in der zweiten Nachkriegszeit eng aufeinander bezogen: Der für die Sowjetunion entscheidende Punkt der gesamten Österreich-Lösung, die in einem Begleitgesetz zum Staatsvertrag festgelegte Immerwährende Neutralität des Landes nach Schweizer Muster, war für den Westen im Grunde ein harter Brocken. Denn sie bedeutete, dass an einer strategisch besonders sensiblen Stelle im gesamten Frontverlauf des Kalten Krieges von der Ostsee bis zur Adria de facto ein Loch klaffte. Das österreichische Bundesheer, dies war allen Beobachtern stets klar, war bei einer West-Ost-Auseinandersetzung kein Faktor, der zählte. Allein der in den Pariser Verträgen von 1954 bereits festgelegte NATO-Beitritt der Bundesrepublik ließ es den Amerikanern, Briten und Franzosen auch nur halbwegs akzeptabel erscheinen, sich auf diese Lösung einzulassen. Und in Wien war man sich durchaus der Tatsache bewusst, dass man insofern von deutscher Teilung und Westbindung der Bundesrepublik profitierte. Umgekehrt galt auch stets eine Sorge Adenauers und der Vorkämpfer seiner Westintegrationspolitik dem Umstand, dass deutsche Nationalneutralisten fortan immer wieder auf den Faktor Österreich als das Beispiel einer doch erreichbaren Kompromisslösung in der Deutschen Frage, erreichbar gegenüber dem Kreml, hinweisen würden. Die weitere deutsch-österreichische Entwicklung der Nachkriegszeit erscheint durch das Paradox gekennzeichnet, dass die Abgrenzung über den Stand der fünfziger und frühen sechziger Jahre weiter hinausging, obwohl die kulturellen und ökonomischen Verflechtungen zwischen Österreich und der alten Bundesrepublik wie dem später wiedervereinigten Deutschland stetig zunahmen: Naturgemäß waren und sind dies, angesichts der nun einmal gegebenen Größenordnungen, asymmetrische Verflechtungen. Die identitäre Abgrenzung Österreichs von Deutschland erfolgte und erfolgt bei gleichzeitig stetig voranschreitender europäischer Integration. Der deutsche Einfluss auf die österreichische Wirtschaft ist heute viel umfassender als in der Zwischenkriegszeit, und im medialen Bereich ist Österreich ohnehin als deutschsprachiges Land Teil des deutschen Marktes im unmittelbaren Sinne, beginnend mit den öffentlich-rechtlichen

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Rundfunkanstalten. Dass der Abgrenzungsprozess gleichwohl an Stringenz offenkundig nichts verloren hat, zeigt zum einen, dass sich ein konsequenter politischer Impetus auch gegen mächtige sozioökonomische und kommunikative Tendenzen behaupten kann – und eben dieser Impetus war in der österreichischen politischen Führung seit 1945 unbedingt handlungsbestimmend und hat zum Erfolg einer möglichst umfassenden Selbstdefinition wie Abgrenzung von Deutschland geführt. Dabei wurde vieles, was zunächst eher aus der Not geboren instrumentell erschien, zum Selbstzweck: Die Immerwährende österreichische Neutralität, seit dem Ende des Kalten Krieges politisch obsolet, wandelte sich von einer strategischen Festlegung in ein innenpolitisches Mantra um. Österreich nunmehr, mit Ausnahme der Schweiz, von NATO-Mitgliedern vollständig und freundschaftlich umzingelt, hat diese strategisch wertlos gewordene Neutralität in ein Symbol einer ganz spezifischen Eigenart umgewandelt, ein Symbol dafür, irgendwie eben doch etwas Besonderes sein zu wollen und zu können, mag dieses Besondere selbst in der Welt des 21. Jahrhunderts auch gänzlich substanzfrei sein.

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Gut 50 km nördlich von Berlin liegt die Schorfheide, ein altes, hocharistokratisches Jagdrevier sogar schon in den Zeiten unter den Askaniern, bevor die Hohenzollern zu den Markgrafen von Brandenburg avancierten. Aber zu dem brandenburgischen Vorzeigerevier wurde die Schorfheide erst im 16. Jahrhundert unter Kurfürst Joachim II. Die folgenden Hohenzollern-Herrscher fanden unterschiedliches Gefallen am Waidwerk. Besonders zugetan waren ihm Friedrich Wilhelm I., der Vater Friedrichs des Großen – die Jagd entsprach wohl in besonderer Weise seiner Neigung zu intellektuell harmlosen, traditionell männlichen Vergnügungen. Unter dem König, ab 1871 Kaiser Wilhelm I., erfolgte offenkundig der Sprung zur monarchischen Fließbandjagd. Ihren Höhepunkt erreichte sie unter dem „Rekordschießer“ Wilhelm II., der die Hirsche zu Zehntausenden ins Jenseits beförderte, in Brandenburg wie in Ostpreußen. Ab 1933 regierte in der Schorfheide der nationalsozialistische Multispitzenfunktionär und Reichsjägermeister Hermann Göring und implantierte dem Revier mit seinem hybriden Landsitz „Karinhall“ einen Ort spätpubertären Prunks. Schließlich fand in der Schorfheide noch ein ganz besonderes Bubenstück deutscher Geschichte statt, im Wochenendrefugium des DDR-Partei- und Staatschefs Walter Ulbricht am Döllnsee, heute ein Vier-Sterne-Hotel mit Seezugang unter Kiefern, teilweise idyllisch, teilweise mit verblichenem DDRCharme. Hier erfolgte nach vielerlei Vorklärungen mit der sowjetischen Führung die endgültige Entmachtung Ulbrichts durch seinen langjährigen Kronprinzen und schließlichen Nachfolger Erich Honecker. Honecker machte sich, bevor Ulbricht dann folgsam am 27. April 1971 vor dem SED-Politbüro seinen Rücktritt erklärte, persönlich mit bewaffnetem Begleitschutz auf den Weg, und dann wurde nach einem Drehbuch wie für die Ablösung eines älteren Mafia-Paten durch einen jüngeren und mächtigeren vorgegangen: „Unter welchem Druck Honecker dabei stand, zeigt die Tatsache, dass er sich auf dieses abschließende Gespräch vorbereitete, als handele es sich um einen Staatsstreich. Bevor er zu Ulbricht zu dessen Landsitz an den Döllnsee fuhr, ließ Honecker die Telefonverbindungen dorthin unterbrechen und wies außerdem seine Begleiter vom MfS an, statt der üblichen Bewaffnung mit Pistolen Maschinenpistolen mitzunehmen.“ 130 130 Mario Frank: Walter Ulbricht. Eine deutsche Biographie, Berlin 2001, S. 426, vgl. auch Monika Kaiser: Machtwechsel. Von Ulbricht zu Honecker. Funktionsmechanismen der SED-Diktatur

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Auch die weitere Geschichte ist in Deutschland bekannt: Nach den DDRAnfängen gingen hier ab 1971 der neue erste Mann Erich Honecker und seine obersten Führungskräfte wie Erich Mielke mit erlesenen Jagdgästen aus Ost und West auf die Pirsch, wie auch schon zuvor mit den führenden Männern des großen Bruders, Nikita Chruschtschow und Leonid Breschnew – hier zahlte sich für Honecker aus, dass sein Vorgänger Walter Ulbricht nicht gleiches Vergnügen am waidmännischem Handwerk aufgebracht hatte und Honecker vertrauensselig mit Breschnew im Gelände konspirieren ließ. Und schließlich stellten sich auch führende Exponenten des Klassenfeindes in der Schorfheide ein, wenn auch zumeist nur zu Kommunikation in feudaler Umgebung, eine Ausnahme als echter Pirschgänger war die Krupp-Führungsfigur Berthold Beitz: Bundeskanzler Helmut Schmidt kam im Dezember 1981 zu Konsultationen mit der DDR-Spitze, zeitgleich mit der Verhängung des Kriegsrechtes in Polen, schon acht Jahre zuvor Herbert Wehner mit dem FDPFraktionsvorsitzenden Wolfgang Mischnick, damit war das Eis zwischen der SED und dem einstigen kommunistischen Renegaten gebrochen. Und schließlich der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß. Er durfte mit seinen Milliardenkrediten zu Beginn der 1982 ins Leben getretenen neuen Koalition von CDU/CSU und FDP im großen Spiel der Deutschlandpolitik mitspielen. Was aber war mit der Schorfheide dazwischen, in der Zeit der ersten Republik, die sich, was das Repräsentative anbelangt, in mancherlei Hinsicht sehr zurückhaltend präsentierte, die zum Beispiel – ganz im Gegensatz zur Bundesrepublik – keine Orden verlieh? Zwar gab es 1919 bis 1933 weder den authentischen Feudalismus der Monarchie noch den epigonalen der kommunistischen Diktatur, aber das bedeutete überraschenderweise eben nicht, dass die Schorfheide von den hohen politischen Rängen missachtet wurde und ins Abseits geriet. Ab 1925 gab es hier eine Art friedliche Koexistenz: Da seit dem Ende der Monarchie zwischen dem Reich und Preußen keine Personalunion mehr bestand, in Gestalt von deutschem Kaiser und preußischem König, nun vielmehr Reichspräsident und preußischer Ministerpräsident amtierten, gingen hier nun beide zur Jagd, der zum Reichspräsidenten aufgestiegene Generalfeldmarschall von Hindenburg und der sozialdemokratische Ministerpräsident Braun. Braun war, was ihm in der eigenen Partei mancherlei Kritik eintrug, begeisterter Jäger; er fand auf der Pirsch tatsächliche Erholung vom aufreibenden politischen Getriebe in Berlin. Und für Hindenburg war die Jagd eine lebenslange Passion und aristokratische Selbstverständlichkeit. Über einige Jahre vertrugen sich Hindenburg und Braun in Konfliktsituationen 1963 bis 1972, Berlin 1997, S. 436 f.

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überraschend gut, und die Jagd war dabei bezeichnenderweise jenes Element, das die kommunikative Grundlage abgab. „In der Schorfheide, einem preußischen Fiskalbesitz, in der Braun am liebsten jagte, war dem Reichspräsidenten ein Jagdrevier reserviert; (…) die Nachbarschaft, fern aller Pflichten, verband doch. So ergab sich ein ganzes Bündel von persönlichen Anknüpfungspunkten, die zwischen den Spitzen Preußens und des Reiches gewisse Sympathien begründeten.“ 131 Die Schorfheide war preußisches Eigentum, wenn nach dem Übergang zur Republik auch das Reich und seine ersten Männer – an Frauen dachte man trotz des 1919 erstmals praktizierten Frauenwahlrechtes insofern selbstverständlich nicht – an diesem alten feudalen Besitz partizipieren wollten, dann mussten sie dafür zahlen: Schon vor Hindenburg ging der erste Reichspräsident, Friedrich Ebert, in der Schorfheide auf die Pirsch, und Hindenburg hat die für dieses sozialdemokratische Staatsoberhaupt getroffenen Arrangements einfach weiter in Anspruch genommen, auch eine bemerkenswerte Kontinuität: Ebert, der für sich einen Erholungsort außerhalb Berlins suchte, scheute dabei aber sehr bewusst das alte hohenzollernsche Jagdschloss Hubertusstock, schließlich waren die zivilrechtlichen Auseinandersetzungen zwischen dem Staat Preußen und den Hohenzollern um Grundstücke und Schlösser noch voll im Gange. Jahrzehnte später sollte sich Erich Honecker in dieser Hinsicht sehr viel einfacher tun. So wurde für den ersten Reichspräsidenten ein Jagdhaus, das in Mecklenburg stand und das Zar Nikolaus II. Kaiser Wilhelm II. um 1900 zum Geschenk gemacht hatte, abgetragen und in der Schorfheide am Werbellinsee wieder aufgebaut. Es stand von 1923 ab zunächst Ebert bis zu seinem frühen Tod am 28. Februar 1925 und in der Folge Hindenburg zur Verfügung. Und weil in Deutschland zwischen den öffentlichen Ebenen unbedingt korrekt abgerechnet werden muss, wurde vereinbart, dass das Reich jährlich „eine Anerkennungsgebühr von 100 Goldmark an die Forstkasse in Grimnitz“ 132 zu entrichten hatte. Friedrich Ebert war kein passionierter Jäger. Aber mit bloßer Wochenenderholung, mit Wandern und Schwimmen allein, glaubte er sich als deutsches Staatsoberhaupt nicht bescheiden zu dürfen. Auf Bildern, auf denen er mit dem Gewehr über einem erlegten Rothirsch abgebildet ist, sieht man kein Leuchten in seinen Augen, eher etwas Verschämtes und Gequältes. Gleichwohl: Er war auch ein Kind der Kaiserzeit, und er hielt die Jagd offen131 Hagen Schulze: Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1977, S. 490. 132 Burkhard Ciesla, Helmuth Suter: Jagd und Macht. Die Geschichte des Jagdreviers Schorfheide, Berlin 2011, S. 108

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kundig für die Pflicht des Staatsoberhauptes: „Der Sozialdemokrat Ebert sah die wenigen Jagdausflüge eher als Pflichtübungen an, die er nur deshalb absolvierte, weil er die Jagd zu den ungeliebten Repräsentationsaufgaben seines Amtes als Reichspräsident zählte.“ 133 Vermutlich eignet sich diese ganze Jagdgeschichte von den brandenburgischen Markgrafen über die Hohenzollern-Kaiser, Ebert, Braun und Hindenburg, schließlich Göring bis zu Honecker und Beitz als ein Thema, das über Kontinuität und Diskontinuität in Deutschland auf eine sehr besondere Weise Auskunft gibt: Und soweit ersichtlich, ist nach 1949 keines der westdeutschen Staatsoberhäupter zur Jagd gegangen, die ersten haben sich allenfalls noch auf sogenannten Diplomatenjagden sehen lassen. Und kein Bundespräsident wäre auch nur auf die Idee gekommen, dass die Gesellschaft, die er zu repräsentieren hatte, so etwas von ihm verlangte. Theodor Heuss ließ sich bei solchen Anlässen spöttisch-distanziert im Straßenanzug und Zigarre rauchend sehen und nannte die Jagd im übrigen „eine Nebenform von menschlicher Geisteskrankheit.“ 134 Hier war Weimar näher beim Kaiserreich als bei der 1949 gegründeten alten Bundesrepublik. Die Zeit der Weimarer Republik kennt Szenen, die auf Wochenschauauf­ nahmen und Fotos anmuten, als habe es den ganzen Ersten Weltkrieg, den Niederbruch, das Ende der monarchischen Ordnungen in Deutschland nie gegeben: Man sehe sich nur die Bilder an vom Trauerkondukt für König Ludwig III. von Bayern 1921 in München und von der Einweihung des TannenbergDenkmals 1927 in Ostpreußen – also an Orten, die geographisch und kulturell denkbar weit voneinander entfernt sind. Man glaubt gar keinen Unterschied gegenüber dem Gepränge bei Staatsereignissen, sagen wir 1910 oder 1912, erkennen zu können. Freilich: Die zwanziger Jahre zeigen auch die ganz gegensätzlichen Bilder einer spezifischen Modernität des 20. Jahrhunderts: Die Frau im knielangen Rock, nicht mehr im langen Kleid mit Korsett, man vergleiche nur die Konfektion Käthe Stresemanns vor dem Ersten Weltkrieg als junge Gattin und Mutter und neben dem Reichsaußenminister bei der Silberhochzeit des Paares am 20. Oktober 1928 nun im kurzen Rock und mit Kurzhaarfrisur. All das, was sich in den zwanziger Jahren förmlich explosionsartig entwickelte, gab es allerdings in Ansätzen schon vor dem Ersten Weltkrieg, aber nun hatte es ganz neue Grundlagen, um wirklich massenwirksam zu werden: Badeanstalten, deren Besucherinnen und Besucher immer knappere „Badekostüme“ tragen durften, Freikörperkultur, Wochenendvergnügen in der freien Natur 133 Ebd., S. 109. 134 Zit. nach Merseburger, Heuss, S.504.

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für proletarische und kleinbürgerliche Schichten, Elektrifizierung, fließendes Wasser und Kanalisation in immer kleineren Orten, nachdem diese Errungenschaften schon vor dem Ersten Weltkrieg in den Metropolen zum Standard geworden waren. In Deutschland fand der Jazz zunehmend Anhänger, blieb freilich auch Gegenstand eines erbitterten Kulturkampfes, den am Ende die Nationalsozialisten mit dem Verdikt als „Negermusik“ gewinnen sollten. Zwischenzeitlich sah es unbestreitbar so aus, als sei es durchaus eine Republik mit Republikanern: Die beiden deutschen Dichterfürsten Thomas Mann und Gerhart Hauptmann schienen fest im Lager der Republik zu stehen, Gerhart Hauptmann sogar zeitweise als Kandidat für das Amt des Reichspräsidenten gehandelt.135 In den zwanziger Jahren konnte noch niemand ahnen, dass der eine von beiden, Thomas Mann, großbürgerlich, von rechts kommend, während des Ersten Weltkrieges deutlich im national-antiwestlichen Lager, am Ende keine Kompromisse mit dem Nationalsozialismus machen würde und emigrieren müsste, während der andere, Hauptmann, von links kommend, als Naturalist und Dichter der „Weber“ Wilhelm II. lange ein Ärgernis, sich nach 1933 gerne von der NS-Kulturpolitik vereinnahmen ließ. Fragt man, was im Deutschland der zwanziger Jahre von den zentralen Legitimationsmustern der Vorkriegszeit übrig blieb, dann stößt man unweigerlich, als ein Kriterium, auf den monarchischen Gedanken – und macht eine überraschende Feststellung: Die Monarchie war in Deutschland nach 1919 sehr bald kein ernsthaftes Thema mehr, sieht man von mancherlei pflichtschuldigen Bekenntnissen alter Nomenklaturkader des Kaiserreiches ab. Und hier verblüfft der Kontrast zu Frankreich mit seinen vermeintlich viel ausgeprägteren republikanischen Traditionen im ersten Jahrzehnt nach seiner Niederlage von 1870/71 gegen Preußen-Deutschland: Es war nur die Uneinigkeit unter den Monarchisten, sie bildeten in der französischen Nationalversammlung die Mehrheit, welche es am Ende verhinderte, dass in Paris wieder ein König oder gar ein – bonapartistischer – Kaiser installiert wurde: „Die Legitimisten mit dem Grafen von Chambord (herkömmliche bourbonische Linie, P.M.) und die Orleanisten mit dem Grafen Louis Philippe von Paris als jeweilige Thronkandidaten waren sich in der Ablehnung der Republik als Staatsform einig,

135 Vgl. Peter Sprengel: Gerhard Hauptmann. Bürgerlichkeit und großer Traum, München 2012, S. 590 ff.

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aber gespalten in der Bestimmung des Herrschers.“ 136 In Deutschland hatte es zu keinem Zeitpunkt wie in Frankreich seit 1789 oder selbst in England, in der Mitte des 17. Jahrhunderts mit dem „Lordprotektor“ Oliver Cromwell, der König Karl I. am 30. Januar 1649 hinrichten ließ, blutige Infragestellungen der Monarchie gegeben. Noch die Bismarcksche Reichsverfassung war vor allem auch Ausdruck des Bemühens gewesen, die monarchischen Legitimationen auf der Ebene der Staaten bzw. Länder unterhalb der Reichsebene pfleglich zu behandeln. Bismarck hielt das hier aggregierte Legitimationspotenzial nicht nur für unverzichtbar, sondern für quasi naturgegeben. Nun ergab sich mit einem Mal ein ganz verblüffendes Resultat: Der Adel blieb, rechtlich nur mehr als Namensbestandteil, faktisch weiterhin doch als Kaste bestehen. Er ging weiterhin seinen klassischen Diensten nach, auf den Gütern, als hohe Beamte und Diplomaten, als Offiziere, nach dem eigenen Selbstverständnis nun vielfach nicht für die Republik, aber für den Staat, der als Abstraktum über allem stand – und damit eben auch über dem Monarchen, den es nicht mehr gab. Man mag darüber streiten, ob und inwiefern Abdankung und Flucht Wilhelms II. in die Niederlande am 9. November 1918 für die Führungsschichten des Kaiserreiches wirklich noch einen Schock bedeuteten. Der Kaiser hatte bereits während des Krieges keine nennenswerte Rolle mehr gespielt, als militärische Vaterfigur war seit August 1916 Hindenburg förmlich installiert. Am Ende wurde dem Kaiser zum Vorwurf gemacht, nicht heroisch auf dem Schlachtfeld den Tod gesucht und damit der Dynastie neue Legitimität erschlossen zu haben: „Zum Kernbestand der adlig-militärischen Ideale gehört eine sehr direkte Vorstellung vom ‚vorbildhaften‘ Leben und Sterben. Nach dieser Vorstellung verlangt weder der Adlige noch der Offizier von ‚seinen Leuten‘ Dinge, die er im Ernstfall nicht selbst zu tun in der Lage und bereit wäre. Schließlich behauptet die berühmte Formel noblesse oblige die Übernahme von Pflichten, Aufgaben und Gefahren, die man exklusiv übernimmt – nicht zuletzt auf dieser Leistung basiert der eigene Herrschafts- beziehungsweise Befehlsanspruch (…). Der Stoßtruppführer Ernst Jünger fand für die Legitimität der Forderung nach dem Königstod eine einfache Formel: ‚Das können die Unzähligen verlangen, die vor ihm in den Tod gingen.‘ “ 137 Hier sei eher die Gegenthese vertreten, nämlich, dass das Bild von einem nicht mehr ganz 136 Charlotte Tacke: Von der Zweiten Republik bis zum Ersten Weltkrieg (1848 bis 1914), in: Ernst Hinrichs (Hrsg.): Kleine Geschichte Frankreichs, Stuttgart 2003, S. 311–360, hier S. 335. 137 Stephan Malinowski: Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Zeit, Berlin 2003, S. 241.

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jungen und ganz schlanken, dazu sich mit verkrüppeltem Arm vielleicht mühsam auf dem Pferd haltenden, auf feindliche MG-Nester zu reitenden Kaiser eher eine absurde Vorstellung bildete, die Teile der herkömmlichen deutschen Oberschichten kolportierten, um sich mit gutem Gewissen von Wilhelm II. bzw. von den Hohenzollern insgesamt verabschieden zu können. In der neueren europäischen Geschichte hatten sich Monarchen selten da auf dem Schlachtfeld getummelt, wo es wirklich brenzlig wurde. Das war schon im 17. Jahrhundert, nach den Schlachtentod König Gustav Adolfs II. von Schweden im Herbst 1632 bei Lützen, die Regel: Ludwig XIV., prunksüchtiger Eroberer und verantwortlich für unzählige Schlachten, roch keinen Pulverdampf, Kaiser Leopold war sehr schnell von Wien nach Passau entkommen, als sich die Osmanen 1683 seiner Hauptstadt näherten. Selbst Napoleon dirigierte zwar persönlich die Schlachten, hielt sich aber nicht eben in der ersten Linie auf, und die Offiziersumgebung Wilhelms I. achtete 1866 im Krieg gegen Österreich wie vier Jahre später im Krieg gegen Frankreich stets darauf, dass der König in hinreichendem Sicherheitsabstand zu feindlichen Granateinschlägen platziert wurde. Die große Ausnahme in der preußischen Geschichte war allerdings ganz unbestreitbar Friedrich II. Dass er „seine“ Kriege persönlich überlebte, war tatsächlich nachgerade ein Wunder, und an diesem Beispiel mag Wilhelm II. eher stillschweigend gemessen worden sein. Gerade aber weil dieser Maßstab, Friedrichs II. Auftauchen in den Kampflinien bei Leuthen 1757 oder auch bei der katastrophalen Niederlage von Kunersdorf 1759, für den industrialisierten Massenkrieg im frühen 20. Jahrhundert nicht wirklich gelten konnte, ergibt sich umso stärker der Befund, dass ein bemerkenswert großer Teil der herkömmlichen deutschen Führungsschicht die innere Bindung an die Dynastie überraschend schnell aufkündigen konnte. Der hier vor allem angesprochene landsässige preußische Adel, wenn es gut ging durch Güter ökonomisch einigermaßen gesichert, bildete freilich keineswegs den gesamten deutschen Adel. Bezogen auf die Lehensordnung des Alten Reiches war die Stellung des preußischen Offiziers- und Dienstadels subaltern, er bezog sein Rollenbild wesentlich aus dem Umstand, dass er für seinen König und „Herrn“, wie auch Bismarck gerne sagte, die Offiziers- und die führenden Beamtenstellen versah. Aber es mangelte ihm nach Stellung und Herkommen an einem souveränen eigenen Profil, welches ihm gegenüber den Dynastien zu mehr innerer Selbstständigkeit verholfen hätte; anders die vielfach katholischen sogenannten „Standesherren“, zumal in Süddeutschland: Hier handelte es sich um jene adeligen Häuser, die bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts, weitgehend bis zum Reichsdeputationshauptschluss von 1803, reichsunmittelbar gewesen

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waren und die nur die politische Ungunst der napoleonischen territorialen Flurbereinigung um ihre Eigenständigkeit gebracht hatte. Im Kreis des katholischen süddeutschen Adels, der Standesherren, aber auch vieler Freiherren und Reichsritter, herrschte traditionell eine viel deutlichere innere Souveränität gegenüber der Inanspruchnahme durch die regierenden Häuser. Als Offizier auf der Karriereleiter voranzukommen, war für diesen Adel nicht von ähnlicher, oft in Preußen identitätsbestimmender Bedeutung. Dieser süddeutsche Adel war, da gewissermaßen mehr auf eigenen Beinen stehend, materiell wie mental, durch den Regime- und Systemwechsel 1918/19 weniger schockiert, blieb seiner Dynastie, wie insbesondere den Wittelsbachern in Bayern, eher in Kontinuität verbunden, ergriff weniger die Flucht in kompensatorische, immer weiter nach rechts führende Bindungen und Vorstellungen: Mitgliedschaft im Stahlhelm, schließlich in der SA, dazu Antisemitismus und Verklärung des Führergedankens. Hingegen pflegte man im katholischen süddeutschen Adel eher einen bodenständig-evolutionären Konservativismus, hatte wenig Sinn für den rassistischen Antisemitismus, war allenfalls sozialisiert noch in der Tradition des christlichen Antijudaismus und lehnte in aller Regel Hitler, sein Neuheidentum, seinen uferlosen Chauvinismus und Rassismus ab – Letzterer vertrug sich schließlich nicht mit dem eigenen christlich-katholischen Selbstverständnis. Hinzu kam, dass dieser alte Reichsadel sehr viel mehr in europäischen Traditionen wurzelte. Eine gewissermaßen ähnliche Parallele zeigt sich, vergegenwärtigt man sich die Situation der beiden großen Konfessionen in Deutschland nach 1919: Die katholische Kirche und ihr politischer Arm, die Zentrumspartei, davon abgetrennt seit Beginn der zwanziger Jahre die Bayerische Volkspartei, hatten deutlich weniger eingebüßt als die evangelischen Kirchen mit ihrer Anbindung an die monarchischen Landesherren: Die katholische Kirche behielt das ihr eng verbundene, seit dem Kulturkampf des ersten Jahrzehnts nach der Reichsgründung zusammengeschweißte politische Zentrumslager ebenso wie ihren wesentlichen Bezugspunkt, den Heiligen Stuhl, von allen revolutionären Wandlungen in Deutschland gänzlich unberührt. Die Quellen ihrer Legitimation wie ihres Handelns blieben somit ungeschmälert. Mehr noch: mit dem Nuntius, zuerst seit 1917 in München, sodann in Berlin Eugenio Pacelli besaßen die deutschen Katholiken und mit ihnen Deutschland insgesamt einen besonders engagierten Fürsprecher bei der Leitung der Weltkirche in Rom. Der Heilige Stuhl hatte während des Ersten Weltkrieges, bei aller Neutralität, tendenziell wohl eine Haltung eingenommen, die eher den Mittelmächten nahestand: Schließlich war Österreich-Ungarn die letzte, in Europa verbliebene kulturell katholische

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Großmacht, das laizistische Frankreich war ebenso wenig ein ursprünglicher Freund des Vatikans, bei allen taktischen Annäherungsversuchen während des Ersten Weltkrieges, wie das Königreich Italien, welches 1870 umstandslos den Kirchenstaat annektiert hatte. Und nun, in der Nachkriegszeit, galt es noch, Deutschland vor der Bedrohung durch den russischen Bolschewismus zu schützen – für Jahrzehnte die ärgste Bedrohung, mit der der Heilige Stuhl Europa konfrontiert sah. Ganz anders die protestantischen Kirchen in Deutschland. Ihnen fehlte der Rückhalt der Weltkirche, was immer auch auf der eigenen nationalen Bühne geschah, hinzukam oder verschwand. Zunächst einmal verloren die protestantischen Kirchen ihre angestammten monarchischen Oberhäupter, zentraler Bezugspunkt des gesamten evangelischen Landeskirchensystems in Deutschland seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Vielleicht ist es etwas übertrieben formuliert, aber tendenziell waren sie nun so etwas wie Kinder ohne Vater. Dabei gab es sogar bemerkenswerte Sekundäreffekte: In den evangelischen Teilen Bayerns, namentlich im sogenannten Westmittelfranken, war vielfach die Einbindung in das katholisch-wittelsbachische Königreich deshalb für akzeptabel gehalten worden, weil kompensatorisch spätestens seit der Reichsgründung von 1871 eben auch die weitere nationale Bezugsebene hinzukam, mit der Hohenzollerndynastie. Dieser Bezugspunkt fiel nun weg, die Folge war, dass sich große Teile des evangelischen Frankens zunächst auf den rechten Flügel der Deutschnationalen hin und sodann hin zum Nationalsozialismus orientierten. Hier kam, über Franken hinaus, noch eine weitere Linie der Entwicklung des deutschen Protestantismus zum Tragen: Er hatte sich in seiner Geschichtsteleologie sehr stark mit dem modernen preußisch-deutschen Nationalismus identifiziert: Kleindeutsch, antifranzösisch, in einer Traditionslinie, die von Wittenberg über den Befreiungskampf gegen Napoleon bis zum Tag von Sedan 1870 führte: „Der Sieg über Frankreich, so die weit verbreitete zeitgenössische Deutung, sei ‚ein Sieg Wittenbergs über das Babel Paris, über Atheismus, Ultramontanismus und Revolution, die Reichsgründung wird dann zur Vollendung der Reformation.‘“ 138 Diese, mit den Hohenzollern und Preußen eng verbundene Geschichtsteleologie lag nun in Trümmern; die Folge war aber ganz überwiegend nicht, dass ihre Sinnhaftigkeit wirklich bezweifelt wurde, sondern dass vielfach eine weitere Radikalisierung eintrat: An die Stelle des protestantischen Reiches, das so deutlich Schaden genommen hatte, traten vielfach das „Volk“, der „völkische Gedanke“ und mit ihm der Rassismus. 138 Manfred Gailus: Protestantismus und Nationalsozialismus. Studien zur nationalsozialistischen Durchdringung des protestantischen Sozialmilieus in Berlin, Köln, Weimar, Wien 2001, S.41.

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Am Abend des 2. Mai 1930 kam es zu einer umfassenden Aussprache, besser Auseinandersetzung zwischen Reichskanzler Heinrich Brüning und General von Schleicher, der in der Reichswehr die politischen Fäden zog und Zentralfigur im Übergangsdeutschland zwischen parlamentarischer Republik und NSDiktatur war. Schleicher besaß lange vor allem das Ohr des Reichspräsidenten von Hindenburg. Insbesondere auf sein Betreiben wurde Brüning vier Wochen später gestürzt. Brüning, Westfale, war Katholik mit stark nationaler Ausrichtung, Reserve- und Eliteoffizier des Ersten Weltkrieges: Er hatte immer wieder an Brennpunkten, vor allem bei drohenden feindlichen Durchbrüchen 1917/18, als Kompanieführer erfolgreich eine „Maschinengewehr-Scharfschützen-Abteilung“ (MGSS) geführt, sich dazu, obgleich lebenslang persönlich Junggeselle, wie ein Familienoberhaupt um seine Soldaten gekümmert und dabei insbesondere großen Respekt vor den Berliner Metallarbeitern in seiner Kompanie entwickelt, die gewerkschaftlich sozialisiert waren, diszipliniert, loyal und verlässlich. Mehr als Leutnant der Reserve konnte Brüning während des Krieges freilich nicht werden, schließlich hatte er vorher gar nicht gedient – und zudem war er ja bürgerlich und katholisch. Schleicher hingegen, der Berufsmilitär, hatte sein Berufsleben in Uniform stets in Stäben verbracht, nur punktuell Pulverdampf gerochen. Das Gespräch am 2. Mai ging, wenn man der Schilderung in Brünings Memoiren glauben darf, sehr weit, es berührte Zonen, in denen es um die Identität der jeweiligen Beteiligten geht. Brüning hielt Schleicher vor, nicht den Mut aufzubringen, aus den Kulissen herauszutreten und selbst die politische Verantwortung zu übernehmen – es war zu diesem Zeitpunkt schon Allgemeingut, dass es mit seiner eigenen Kanzlerschaft zu Ende ging, Hindenburg hatte weitgehend die Hand von ihm zurückgezogen, Brüning sollte die nennenswerten außenpolitischen Erfolge, die sich abzeichneten, vor allem die Streichung der Reparationen, nicht mehr ernten können, und man warf ihm einen „Agrarbolschewismus“ vor. Schon die nicht mehr vorhandene Bereitschaft, überschuldete Güter im Osten mit staatlichen Subventionen immer weiter über Wasser zu halten, genügte für dieses Verdikt. Schleicher hatte gut drei Jahre zuvor das Modell einer Präsidialregierung entwickelt, getragen in erster Linie vom Vertrauen des Reichspräsidenten und seiner Bereitschaft, ihr mit dem durch Gesetz nicht eingeengten Notverordnungsartikel 48 der Reichsverfassung beliebigen Gestaltungsspielraum zu konzedieren. Brüning, zuvor Fraktionsvorsitzender des Zentrums, war somit die Figur, die ein solches Regieren frei vom Parlament exekutieren sollte, als Person national, aber keine nationalistische Provokation für die Reichstagsmehrheit, mit guten Verbindungen auch in die SPD, so dass nicht befürchtet werden musste, dass alle Verordnungen des

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Reichspräsidenten unentwegt wieder in Frage gestellt wurden. Nun aber hatte der Mohr seine Schuldigkeit getan, es wurde ein Kanzler gesucht, der für die immer mächtiger werdenden Nationalsozialisten eher akzeptabel schien und der auch bereit war, gegen das letzte mächtige Bollwerk der Demokratie vorzugehen, die sozialdemokratisch geführte Regierung Braun in Preußen. Dieser Kanzler war schließlich in dem politisch ganz unbeschriebenen Blatt Franz von Papen gefunden. Beim Gespräch zwischen Brüning und Schleicher am 2. Mai waren, obwohl Brüning noch fast einen Monat im Amt blieb, die Vorahnungen von Trennung und mit ihr Abrechnungen ganz deutlich spürbar. Im Grunde hielt der bürgerlich-katholische Reserveoffizier Brüning dem adeligen Berufsmilitär Schleicher Feigheit vor, das schlimmste Urteil, das gegenüber einem preußischen Militär ausgesprochen werden konnte: „Herr von Schleicher, wir sind beide alte Soldaten, bitte, gestatten Sie mir ein offenes und ehrliches Wort. Niemandem mehr als mir ist bekannt, dass Sie seit zwei Jahren versucht haben, die Politik hinter den Kulissen zu machen. Sie sind die Macht hinter dem Thron. Das ist das Schädlichste, was es in einem Staate geben kann, gleich wie die Staatsform ist. Der, der sich etwas zutraut und der etwas kann, muss auch offen die Verantwortung übernehmen.“ 139 Als das Gespräch weiterging, zeichnete sich ab, dass Schleicher, im Gegensatz zu Brüning, der Wiedereinführung der Monarchie eher ablehnend gegenüberstand (ob Brüning wirklich die Restituierung der Hohenzollern wünschte, wie er in seinen Memoiren immer wieder zum Ausdruck brachte, ist allerdings auch durchaus zweifelhaft), und schließlich hielt Brüning Schleicher als Exponenten der Generalstabskaste Zögern und Zaudern auch dann vor, als es in den letzten Märztagen des Jahres 1918, nach Beginn der deutschen Schlussoffensive an der Westfront des Ersten Weltkrieges, um die Möglichkeit eines deutschen Durchbruches ging. Vermutlich täuschte sich hier Brüning, dem naturgemäß nur die beengten Wahrnehmungsmöglichkeiten des Frontoffiziers zugänglich waren. Aber das änderte nichts an der förmlich fundamentalen Qualität seines Vorwurfes: Wesentlich sei, vorne zu stehen, der Gefahr ausgesetzt wie aber eben auch mit der Chance ausgestattet, den entscheidenden Erfolg zu erzielen, Schreibtischoffizieren wie Schleicher bleibe diese Perspektive versperrt: „Was Sie in ihrer Stellung nicht wahrnehmen konnten, habe ich durch den Zwang der Dinge gelernt.“ 140 Die Aussprache zwischen 139 Heinrich Brüning: Memoiren 1918–1934, Bd. 2, TB-Ausgabe München 1972, S. 610f. 140 Ebd., S.613, Vgl. auch Herbert Hömig, Brüning. Kanzler in der Krise der Republik. Eine Weimarer Biographie, Paderborn, München, Wien, Zürich 2000, S. 538: Schleichers militärisches und mit ihm menschliches Problem lag danach nicht in einem Mangel an Tapferkeit, er hatte im Ersten Weltkrieg vorübergehend fast halsbrecherisch die Gefahr gesucht, so dass ihm dieser

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Brüning und Schleicher wurde hier nicht wegen ihrer unmittelbar politischen Bedeutung, wegen anstehender politischer Entscheidungen, geschildert. So nicht wegen der Frage, wann Brüning gehen werde, wer ihm als Kanzler nachfolgen solle, ob Brüning, was viele bis weit nach rechts wünschten, erst einmal Außenminister bleiben und wie die ganze Umgebung um Hindenburg mit der Regierung Braun in Preußen verfahren solle. Das alles waren in der beginnenden Untergangsphase der Weimarer Republik politisch-operativ wichtige Fragen; hier geht es aber um die Frage des Bildes von Staat, Politik und Militär, nicht der professionellen militärischen Kaste, die Schleicher repräsentierte, sondern breiter bürgerlicher und sogar sozialdemokratischer Schichten. Die Ambivalenzen der Zeit lassen sich an einer weiteren Figur zeigen, der des parteipolitisch auf dem linken Zentrumsflügel positionierten Reichskanzlers, vom 10. Mai 1921 bis 14. November 1922, Joseph Wirth – zumal im Bezug zu Walther Rathenau. Wirth sprach nach der Ermordung von Reichsaußenminister Walther Rathenau am 24. Juni 1922 durch Mitglieder der rechtsterroristischen „Organisation Consul“ die in den deutschen Sprachhaushalt eingegangenen Worte: „Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt – da steht der Feind –, und darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts!“ Dabei war klar, wen Wirth im Reichstagsplenum meinte, nämlich an erster Stelle die Deutschnationalen. Zunächst einmal ist auf die Paradoxie hinzuweisen, dass Rathenau selbst sich an mehreren Schlüsselstellen seiner Biographie als besonders „nationale“ Figur gezeigt hatte – wohl gerade dies machte ihn für die terroristischen Antisemiten der frühen zwanziger Jahre so völlig inakzeptabel: Er hatte von August 1914 bis März 1915 die Kriegsrohstoff-Abteilung im preußischen Kriegsministerium aufgebaut und damit zugleich den Militärs nachgewiesen, wie sträflich sie bei ihren Vorkriegsplanungen die Frage der Rohstoffversorgung eines blockierten Deutschlands vernachlässigt hatten – und dass es nun der Hilfe eines „jüdischen“ Zivilisten bedurfte, um ihnen aus diesem Dilemma zu verhelfen. Er hatte am 7. Oktober 1918 in der Vossischen Zeitung dazu aufgerufen, nicht leichtfertig auf Präsident Wilson zu vertrauen, sondern den Krieg mit einem Massenaufgebot als Verteidigungskrieg fortzusetzen, also nicht den Weg zu gehen, den Hindenburg, Ludendorff und Groener Ende September 1918 der Reichsleitung nahegelegt hatten. Vielleicht fürchtete Rathenau damals schon eine Art Dolchstoßlegende, der sich das demokratische Deutschland dann aussetzte, wenn es jetzt die Verantwortung übernahm Vorwurf nicht gemacht werden konnte, sondern in der fehlenden Wahrnehmung von Verantwortung; zu Brünings militärischer Rolle als Reserveoffizier ebd., S. 53ff.

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und eine Suppe auslöffelte, die andere eingebrockt hatten. Und zudem verhielt es sich in der Tat ja auch so, dass der Notenwechsel vom Oktober 1918 immer neue amerikanische Forderungen enthielt. Rathenau hatte in jenem Artikel auf das gewissermaßen „Kleingedruckte“ in Wilsons 14 Punkten hingewiesen und geschrieben: „Wir dürfen uns nicht wundern, wenn man die sofortige Räumung des Westens, wo nicht gar einschließlich der Reichslande verlangt. Punkt acht wird auf Herausgabe zumindest Lothringens, vermutlich auch das Elsass gedeutet. Als polnischer Hafen kann Danzig gemeint sein. Die Wiederherstellung Belgiens und Nordfrankreichs kann auf eine verhüllte Kriegsentschädigung in der Größenordnung von 50 Milliarden hinauslaufen. Hat man das übersehen? Wer die Nerven verloren hat, muss ersetzt werden.“ 141 Wenn man so will, hatte hier ein linker, dazu noch jüdischer Demokrat den Militärs und Diplomaten des Kaiserreichs vorgeworfen, vorzeitig die Segel gestrichen zu haben, sie also auf dem falschen Fuß erwischt. Und dann war Rathenau, seit dem 31. Januar 1922 Reichsaußenminister, auch noch am 16. April 1922 der Unterzeichner des Rapallovertrages, jenes Abkommens, das so viele im nationalen Lager der Weimarer Republik als Wiederbeginn eigenständiger, gegen Frankreich und Polen gerichteter deutscher Großmachtpolitik sahen. Joseph Wirth, der Kanzler, war nicht Rathenaus Freund. Schon gesellschaftlich passten sie nicht zusammen, Wirth stammte eher aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, Rathenaus Vater hatte die AEG gegründet, Rathenau verkörperte, intellektuell und kulturell, Berliner Großbürgertum par excellence. Es gab aber noch einen ganz anderen Punkt: Der eigentliche Mann von Rapallo war nicht Rathenau gewesen, sondern Wirth. In der deutschen Delegation bei der Weltwirtschaftskonferenz in Genua hatten der Kanzler und der zuständiger Staatssekretär im Außenministerium, Ago von Maltzan, Rathenau, der sehr viel mehr einen prowestlichen Kurs bevorzugte, geradezu nötigen müssen, den Vertrag zu unterzeichnen. Wirth war einerseits eine Figur der linken Mitte und andererseits, außenpolitisch, agierte er zusammen mit General von Seeckt, dem späteren Chef der Heeresleitung, als antipolnischer Hardliner: „Wirth, ein ‚überzeugter Republikaner und Demokrat mit großer rednerischer Begabung’, kann als Prototyp eines republikanischen Bellizisten gelten – um so mehr, als seine wehrpolitischen Vorstellungen ‚jakobinisch‘ waren und er dem ‚Ideal (…) eine(r) Armee im Geist einer levée en masse, republiktreu, begeisterungsfähig, schlagkräftig und modern anhing. Sein Bellizismus, seine Tendenz, ‚Sicherheit‘ und ‚Wehrhaftigkeit‘ einen Primat vor 141 Zit. nach Ernst-Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band V, Weltkrieg, Revolution und Reichserneuerung 1914–1919, Stuttgart u. a. 1978, S. 362 f.

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Recht und Gesetz einzuräumen, manifestierte sich erstmals ‚kurze Zeit‘ nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch, als er den Chef des Truppenamtes, Generalmajor Hans von Seeckt, zu einer Besprechung bat (…). In ihrem Gespräch (…) offerierte er Seeckt ‚außergewöhnliche Mittel des Reiches‘, um ‚all das ins Werk zu setzen, was offen nicht geschehen kann‘ (…). Im Zusammenspiel mit Seeckt – mit dem ihn ein gutes, von Wirth selbst als ‚freundschaftlich‘ bezeichnetes Verhältnis verband – stützte er den Aufbau einer Grenzschutzorganisation im Osten (…). Er spielte eine Schlüsselrolle bei der Anbahnung der geheimen militärischen Kooperation mit der Sowjetunion (zunächst offenbar sogar, ohne den Reichspräsidenten und den Reichswehrminister darüber zu informieren).“ 142 Es war makaber, aber in gewisser Weise vielleicht auch konsequent, dass Wirth rund drei Jahrzehnte später noch ein politisches Nachspiel feiern durfte, im bundesdeutschen Nationalneutralismus der fünfziger Jahre an der Seite der SED und gegen die Adenauersche Integrationspolitik. Anfang 1952 veröffentlichte Wirth unter dem Titel „Die Reise hinter den Eisernen Vorhang“ ein Memorandum, dessen Substanz von der SED-Führung, von Otto Grotewohl und Walter Ulbricht, stammte und in dem der Exreichskanzler nochmals auf seine politische Sternstunde, auf Rapallo zu sprechen kam: „Der Name Rapallo hat nach fast einem Menschenalter wieder seinen hellen Klang“. Rapallo habe „gezeigt, dass zwischen zwei so unterschiedlichen Systemen wie der Weimarer Republik und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken die besten politischen und wirtschaftlichen Beziehungen möglich und fruchtbar sein können, wenn auf beiden Seiten der gute Wille und volle Aufrichtigkeit in den Zielen bestehen.“ 143 Aber, und auch das macht den Unterschied zwischen 1918/19 und 1945/49 aus – die Zeit unabhängiger, wertfreier Großmächtepolitik war für die Deutschen nunmehr ausgeträumt, Wirth schien nun eher, in Abhängigkeit von SED-Schmeicheleien, wie ein bemitleidenswertes Fossil. Ließe sich die Militarisierung einer Gesellschaft am Umfang ihrer Kombattantenzahl in Friedenszeiten bemessen, dann hätte es in Deutschland nie ein militaristischeres System gegeben als in der Zeit der alten Bundesrepublik, nachdem ca. in der Mitte der sechziger Jahre die Bundeswehr ihren angestrebten Umfang von rund einer halben Million Mann erreicht hatte, auf einem Territorium, das etwas weniger als halb so groß war wie das des kaiserlichen Deutschlands und etwas mehr als halb so groß wie das der Weimarer Republik. 142 Bergien, Bellizistische Republik, S. 114 f. 143 Zit. nach Alexander Gallus: Die Neutralisten. Verfechter eines Vereinten Deutschland zwischen Ost und West 1945–1990, Düsseldorf 2001, S. 257.

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In diesem Westdeutschland drängten sich in Friedenszeiten an die 900.000 Soldaten, eben rund eine halbe Million Angehörige der Bundeswehr, knapp 300.000 amerikanische GIs, dazu die britische „Rheinarmee“, einige zehntausend französische Soldaten in Südwestdeutschland, dazu noch Kanadier, Niederländer und Belgier. Das kaiserliche Deutschland hatte es hingegen erst 1913 auf einen Friedensumfang seiner Streitkräfte von rund 800.000 Mann gebracht, auf einem Territorium, das von Straßburg bis Memel reichte. Aber von Militarismus war in der alten Bundesrepublik weit und breit nichts zu sehen, quantitativ nicht und qualitativ nicht: Man propagierte keinen Wehrgedanken von Staat, Nation oder Republik, man unterhielt „lediglich“ im Kalten Krieg ansehnliche Streitkräfte zur Kriegsverhinderung. Und diese waren, bemerkenswerter Weise unter Führung ehemaliger Wehrmachtsgenerale und Offiziere, in einen deutlich zivilen Habitus gekleidet und erzogen worden: Mit Krawatte und unpraktischem amerikanischem Helm, im Privatleben Zivilkleidung bevorzugend, ohne Säbel und Bajonett, ohne den Exerzierschritt, möglichst wie die Belegschaft einer Firma, die eine bestimmte Berufskleidung braucht, ihr aber deswegen noch lange nicht als „Ehrenkleid“ huldigt. Nostalgikern, die den alten Symbolen der preußisch-deutschen Armee anhingen, blieb in jenen Jahren und Jahrzehnten nur der verklärende Blick auf die DDR und deren Nationale Volksarmee, die dies alles noch bot, eine Uniformierung im Schnitt der Reichswehr/Wehrmacht, um den nationalen Kontrast gegen die amerikanisierte Bundeswehr zu betonen, wobei bewusst praktische Nachteile durch geschlossenen Kragen und „Knobelbecher“ (Stiefel) in Kauf genommen wurden.144 Die Gesellschaft der Weimarer Republik hingegen zeigt das förmlich andere Extrem: Im unmittelbar professionellen Sinne durch die Bestimmungen des Versailler Vertrages weithin abgerüstet, auf ein Berufsheer von 100.000 Mann, dazu 15.000 Angehörige der Reichsmarine, vermittelte die Weimarer Republik doch alles andere als das Bild einer zivilen Gesellschaft nach heutigem Muster. Brüning mit seinem Bekenntnis zum unbedingten Durchhalten des bürgerlichen Reserveoffiziers ist da nur ein prominentes Beispiel. Von der Weimarer Republik wird gerne das Bild kolportiert, sie sei eine, wie Michael Stürmer sie genannt hat, „belagerte civitas“ gewesen, sozusagen eine kleine Insel von Patentdemokraten in einem Meer von bösen Nationalisten und Militaristen. In Wirklichkeit ist das Bild deutlich differenzierter. Die Weimarer Demokraten selbst waren vielfach national und militant. Und dies ist hier nicht abschätzig 144 Vgl. Rüdiger Wenzke: Ulbrichts Soldaten. Die Nationale Volksarmee 1956 bis 1971, Berlin 2013, S. 84 ff.

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gemeint. Zunächst einmal muss man sagen, dass in der Weimarer Republik nicht nur die extremen Lager über uniformierte Verbände, in einigen Fällen stattliche Bürgerkriegsarmeen verfügten, Rotfrontkämpferbund der KPD, SA der NSDAP, dazu der Stahlhelm für das deutschnational-chauvinistische Lager. Aber auch die Mitte zeigte sich in einer Weise formiert, gerüstet und kampfbereit, die für die zivile Bundesrepublik von heute gänzlich fremdartig anmutet: Am mächtigsten war das vor allem von SPD und Gewerkschaften getragene Reichsbanner, aber auch Verbände wie die „Bayernwacht“ der Bayerischen Volkspartei zeigten Präsenz, und selbst da, wo es überhaupt nicht um vordergründige Militanz ging, wie im katholischen Kirchenleben mit seinen Prozessionen und Kirchentagen, wurde doch sehr viel geschlossener, selbstbewusster und symbolhafter aufmarschiert als heute vorstellbar. Man vergleiche nur einmal Aufnahmen von einem deutschen Katholikentag der zwanziger Jahre mit dem friedensbewegten katholischen Erscheinungsbild seit den sechziger und forciert den achtziger Jahren. Hinzu kamen, um das Bild zunächst zu komplettieren, die paramilitärischen Verbände der Landespolizeien, Preußens und Bayerns an erster Stelle. Die Siegermächte hatten zwar verhindert, dass in ihnen eine förmliche zweite Reichswehr entstand, das änderte aber nichts an Bewusstsein und innerer Struktur dieser Verbände, geführt von Offizieren aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, die es nicht in die Reichswehr geschafft hatten, das heißt im Regelfall Troupiers statt Stabsoffiziere, ausgerüstet für und innerlich eingestellt auf den Bürgerkrieg, namentlich mit den Kommunisten, mental eben doch eine Zweitarmee. Die Bemühungen der sozialdemokratischen preußischen Innenminister Severing und Grzesinski, ihre Polizei republiktreu umzuerziehen, waren durchaus nicht vergeblich gewesen. Sie waren eher, bevor es zur Schlusskrise der Republik und zum Staatsstreich der Regierung Papen gegen Preußen am 20. Juli 1932 kam, auf halbem Wege steckengeblieben. Und man muss noch hinzufügen, dass republiktreu durchaus nicht in einem heutigen Sinne etwas zivilgesellschaftlich Indifferentes bedeutete. Heinrich Brünings Regierung war im Frühjahr 1930 als ein „Kabinett der Frontsoldaten“ ins Amt getreten. Damit war eine Generationsregierung gemeint, diese Frontsoldaten waren jetzt zwischen 40 und 50 Jahren alt. Es ging aber selbstverständlich auch um eine bestimmte Haltung, ja Kultur. Die Frontsoldaten prägten zunehmend die Parlamente der Republik. Sie waren, mit welcher parteipolitischen Färbung auch immer, national orientiert, das hieß gegebenenfalls auch antifranzösisch, ferner nicht pazifistisch, sondern Anhänger der Landesverteidigung, dabei eher praktisch, umstandslos und auf Effizienz hin getrimmt, nicht ideologisch, sondern pragmatisch, dazu eben in einem spezifischen Sinne

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demokratisch-autoritär. Dieser Typus verschaffte sich gegen Ende der zwanziger Jahre nicht zuletzt in der Sozialdemokratie zunehmend Geltung, zum Beispiel mit den ehemaligen Reserveoffizieren und nun Reichstagsabgeordneten Kurt Schumacher, dem ersten SPD-Vorsitzenden in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, Theodor Haubach, Carlo Mierendorff und Julius Leber: Letzterer führte die Lübecker Sozialdemokratie, er war zunächst nach dem Ersten Weltkrieg im Grenzschutz im Osten tätig, verließ die Reichswehr nach dem Kapp-Putsch und wurde als militanter Sozialist im Widerstand gegen das NS-Regime zum Vertrauten wie Freund des Grafen Fritz-Dietlof von der Schulenburg wie des schließlichen Hitler-Attentäters Graf von Stauffenberg – die Putschisten des 20. Juli 1944 hatten ihn als Reichsinnenminister vorgesehen, der „linke“ Flügel unter ihnen, nicht zuletzt Stauffenberg selbst, dachte an Leber sogar als Reichskanzler. Schumacher scheiterte nach 1949 vielleicht gerade insofern und deshalb, weil er nach wie vor einen militant-kämpferischen Stil repräsentierte, der in der zweiten deutschen Demokratie nicht mehr so vermittelbar war, wie er es in der ersten deutlich gewesen war. Für die von ihm repräsentierte Alterskohorte in der SPD hat sich sogar der Begriff „Generation Schumacher“ eingebürgert, geboren zwischen 1880 und 1900, Fronterlebnis im Ersten Weltkrieg, Aufstieg durch Bildung, militanter Einsatz für die Republik, vor 1930 in der zweiten Linie hinter der „Generation Ebert“, dann durch Präsidialkabinette und NSDAP-Aufstieg an obersten Führungspositionen gehindert, sofern Widerstand und Verfolgung überlebend nach 1945 Avancement, wie Kurt Schumacher, der die SPD von 1945 bis 1952 führte.145 Schließlich Ernst Lemmer, auch er im Ersten Weltkrieg Leutnant der Reserve, ganz vorne eingesetzt, nach dem Krieg auf dem linken Flügel der Deutschen Demokratischen Partei, aktiv im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, führender Funktionär der liberalen Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften, dann 1946/47 mit Jakob Kaiser Vorsitzender der Ost-CDU, von den Sowjets gestürzt, 1957 als Nachfolger Jakob Kaisers Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen. Auch Lemmer war im Bereich jener „Einwohnerwehren“ aktiv, die als Verteidigungsinstrument der Republik nach innen und außen gedacht waren.146 Was für einzelne politische Akteure der Nachwuchsgeneration vor allem seit den späten zwanziger Jahren gilt, trifft auch auf große Teile des organisierten 145 Teresa Nentwig: Hinrich Wilhelm Kopf (1893–1961). Ein konservativer Sozialdemokrat, Hannover 2013, S. 159 f. 146 Zu diesem Spektrum und zur „Wehrbereitschaft“ des demokratischen Spektrums in Weimar Bergien, bellizistische Republik.

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republikanischen Milieus zu, insbesondere im „Reichsbanner“ selbst und in dessen Jugendorganisation, dem „Jungbanner“. Hier gab es vielfach eine komplexe Gegensätzlichkeit zwischen einer „Nie wieder Krieg“-Stimmung, insbesondere in der Erinnerung an das Vegetieren in den Grabenkämpfen an der Westfront des Ersten Weltkrieges, und dem Stolz auf Fronterlebnis und Durchhalten: „Die pazifistische Grundierung der Kriegserinnerung, das heißt die einhellige Verdammung des Krieges, schloss eine latente Heroisierung der Kriegsgefallenen und -teilnehmer allerdings keineswegs aus.“ 147 Daraus folgte für diesen Teil des politisch-kulturellen Spektrums der Weimarer Republik die Kalamität, die „Rhetorik der nationalen Mobilisierung mit (der, P.M.)… dezidierten Verurteilung des Krieges in Einklang zu bringen.“ 148 Exemplarisch deutlich wurde dies an der Figur des jüdischen sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten und Kriegsfreiwilligen Ludwig Frank, der sich bei Beginn des Krieges freiwillig gemeldet hatte und am 3. September 1914 gefallen war. Seine Heroisierung setzte im sozialdemokratischen Lager mit voller Vehemenz erst gegen Ende der zwanziger Jahre ein: „Ludwig Frank bekannte sich bei Ausbruch des Krieges ohne Zögern zur Landesverteidigung, weil er die Existenz Deutschlands gefährdet sah und sein Vaterland liebte. (…) Frank war nicht der Mann, deutschen Arbeitern Blutopfer zuzumuten, selbst aber in sicherem Hort zu bleiben. Führertum hieß ihm: Vorangehen in jeder Lage!“ 149 Auch dieser zeitliche Ablauf war durchaus typisch für die Entwicklung des historischen Gedächtnisses in der Weimarer Republik: „Es mag paradox erscheinen (…), aber erst das langsame Verblassen der Erinnerung an die Kriegsjahre ermöglichte die Verortung des Weltkrieges im kollektiven Gedächtnis. Erst das ‚Vergessen‘ der Schrecken des Krieges gestattete die vielgestaltige Idealisierung der Gefallenen weit über den Kreis der ‚üblichen Verdächtigen‘, des bürgerlichen Lagers hinaus.“ 150 Gewiss sollte man die Parallele nicht überstrapazieren, und doch bleibt sie bemerkenswert: Die gegen Ende der zwanziger Jahre zunehmend positive Bewertung des Fronterlebnisses korrespondierte mit der verstärkten Präsenz der Frontgeneration an politisch verantwortlicher Stelle, bis eben hin zur Formierung von Brünings „Kabinett der Frontsoldaten“ im Frühjahr 1930. Dass am Ende die Nationalsozialisten, unter denen der Typus des tatsächlichen Frontsoldaten eher unter- als überrepräsentiert war, die psychologischen und schließlich politischen 147 Arndt Weinrich: Der Weltkrieg als Erzieher. Jugend zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus, Essen 2012. 148 Ebd., S. 105. 149 Zit. nach ebd. S. 114 f. 150 Ebd., S. 123 f.

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Nutznießer werden sollten, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich auch das republikanische Lager sehr viel militanter und stolz auf das eigene Kriegserlebnis zeigte als, zieht man den Vergleich, zwei bis drei Jahrzehnte später in der alten Bundesrepublik. Es war daher auch konsequent, das die ab Mitte der fünfziger Jahre aufgebaute Bundeswehr nicht als Einrichtung in Erscheinung trat, auf die sich nationaler Stolz konzentrierte, sondern als eine Art Feuerwehr, deren bloßes Vorhandensein schon den Ausbruch von Bränden verhindern sollte, nach der Kriegsverhinderungslogik im nuklearen Zeitalter und im Kalten Krieg. Dass die Bundeswehr von Stabsoffizieren der Wehrmacht aufgebaut wurde, verwiesen sei auf Namen wie Speidel und Heusinger, Kielmannsegg und de Maiziére, ändert an diesem sozialpsychologischen Grundbefund nichts. Auch die ehemaligen Wehrmachtsoffiziere zeigten sich, zumal jetzt im westlichen NATO-Verbund, um sehr vieles ziviler als im Feldgrau, das sie bis 1945 getragen hatten. Dramatisch kulminierte ein Vierteljahrhundert zuvor der Konflikt zwischen den demokratischen Frontsoldaten und Reserveoffizieren auf der einen Seite und den antisemitisch-rechtsextremistischen Maulhelden auf der anderen Seite, personifiziert zwischen Kurt Schumacher, der im Ersten Weltkrieg einen Arm eingebüßt hatte, und dem NSDAP-Chefpropagandisten und Gauleiter von Berlin Joseph Goebbels im Vorfeld der Reichspräsidentenwahl 1932. Die NSDAP schickte ihren, eilends mit der deutschen Staatsangehörigkeit ausgestatteten „Führer“ Adolf Hitler ins Rennen, dazu kandidierte für das etablierte deutschnationale Rechtsaußenlager der Stahlhelmführer Theodor Duesterberg, so dass sich der Feldmarschall des Ersten Weltkrieges Paul von Hindenburg mit einem Mal, ihm innerlich stark widerstrebend, von der rechten wie linken Mitte auf den Schild gehoben sah, die glaubten, nur mit ihm einen Reichspräsidenten Hitler verhindern zu können: Parteipolitische Kontinuität, was seine Unterstützer anbelangt, erfuhr Hindenburg, verglichen mit seiner ersten Wahl 1925, somit nur in Gestalt der Bayerischen Volkspartei und der Deutschen Volkspartei. Die großen Blöcke, die nun hinter ihm standen, mit ihren jeweiligen kulturellen Milieus, waren somit katholisches Zentrum und Sozialdemokratie, für Hindenburg auf Dauer fatal und inakzeptabel. Vor diesem Hintergrund muss man die Reichstagsdebatte des 23. Februar 1932 sehen, knapp drei Wochen vor dem ersten Durchgang zur Reichspräsidentenwahl am 13. März. Joseph Goebbels hatte das traditionelle, konservativ-aristokratische Hindenburglager durch den Hinweis auf den kompromittierenden neuen Verbündeten SPD demagogisch zu erschüttern versucht: „Er (Hindenburg, P.M.) hat sich eindeutig auf die Seite der Mitte, er hat sich eindeutig auf die Seite der Sozialdemokratie gestellt. Es gibt unter uns Nationalsozialisten ein Wort, das

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bisher immer noch seine Richtigkeit erwies: Sage mir, wer dich lobt, und ich sage dir, wer du bist! Gelobt von der Berliner Asphaltpresse, gelobt von der Partei der Deserteure …“ 151 Dagegen schickte die SPD-Fraktion nun den jungen, die militante Linie gegen die Feinde der Republik vertretenden kriegsversehrten Abgeordneten Kurt Schumacher auf die Rednertribüne des Parlaments. Schon optisch war der Kontrast zum gehbehinderten Nichtkriegsteilnehmer Joseph Goebbels unübersehbar. Schumacher wies darauf hin, dass von der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion im Ersten Weltkrieg 73 Prozent aktiv gedient hätten, und schloss mit der Feststellung, die ihm einen Ordnungsruf eintrug: „Die ganze nationalsozialistische Agitation ist ein dauernder Appell an den inneren Schweinehund im Menschen.“ 152 Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat ihm gerade dieses Duell die langjährige Haft im Konzentrationslager Dachau eingebracht. Dem sozialdemokratischen Lager wurde sein kämpferischer Einsatz für Hindenburg aber schon sehr bald schlecht gedankt. Drei Tage vor dem ersten Wahlgang der Reichspräsidentenwahl, am 10. März 1932, schrieb der preußische Ministerpräsident Otto Braun, der ja zu Hindenburg zeitweise ein gutes Verhältnis gefunden hatte, im sozialdemokratischen Zentralorgan „Vorwärts“: „… Ich habe den Reichspräsidenten kennengelernt als einen Mann, auf dessen Wort man bauen kann, als einen Menschen reinen Wollens und abgeklärten Urteils, erfüllt von kantischem Pflichtgefühl, das ihn veranlasst hat, trotz seines hohen Alters und seiner begreiflichen Sehnsucht nach Ruhe erneut sich dem deutschen Volke zur Verfügung zu stellen und die schwere Bürde seines verantwortlichen Amtes auf sich zu nehmen (…). Ich wähle Hindenburg und appelliere an die Millionen Wähler, die vor sieben Jahren (im ersten Wahlgang der Reichspräsidentenwahl von 1925, P.M.) für mich gestimmt (haben, P.M.) und an alle, die darüber hinaus mir und meiner Politik Vertrauen entgegenbringen: Tut desgleichen, schlagt Hitler, wählt Hindenburg!“ 153 Ziemlich genau ein halbes Jahr später, am 20. Juli 1932, erfolgte der von Hindenburg durch Notverordnung verfügte Staatsstreich gegen die Regierung Braun in Preußen, durch den die Sozialdemokratie der Weimarer Republik ihre stärkste Bastion einbüßte. Was

151 Zit. nach Heinrich August Winkler: Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930 bis 1933, Berlin, Bonn 1987, S. 488, zur Konstellation ferner Karl-Dietrich Bracher: Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Villingen/Schwarzwald 1971, S. 418 ff. 152 Zit. nach Peter Merseburger. Der schwierige Deutsche. Kurt Schumacher. Eine Biographie, Stuttgart 1995, S. 119. 153 Zit. nach Winkler, Weg in die Katastrophe, S. 513.

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war das eigentlich anderes als der Verrat eines preußischen Generalfeldmarschalls an den tragenden Strukturen der Republik, auf die er seit 1925 vereidigt war? Kurt Schumacher hatte wohl nicht nur mit dem Hinweis auf die hohe Zahl der Kriegsgedienten in der SPD-Reichstagsfraktion den Nagel auf den Kopf getroffen. Scharfmacher, die das Kriegserlebnis politisch auszuschlachten trachteten, befanden sich tatsächlich eher unter den Jahrgängen, die für die Kriegsteilnahme zu alt oder zu jung gewesen waren. Zu alt – ein typischer Fall Alfred Hugenberg, Jahrgang 1865, Alldeutscher und Nationalist, seit 1928 Vorsitzender der Deutschnationalen Volkspartei und verantwortlich für ihre Rechtswendung, weg von der teilweise gouvernementalen Politik, die sie in diversen bürgerlichen Kabinetten in der Mitte der zwanziger Jahre praktiziert hatte. Nun war Hugenberg der Mann der Harzburger Front des Jahres 1931, schließlich Oberhaupt der sogenannten „Kampffront Schwarz-Weiß-Rot“ und 1933 Bündnispartner Hitlers, bevor es mit seiner politischen Karriere im Frühsommer des Jahres zu Ende ging. Auf der anderen Seite die Jungen, Geburtsjahrgänge nach 1900, die gewissermaßen dem ausgebliebenen Fronteinsatz nachtrauerten, vielfach ohne konkrete Vorstellung davon, was sie eigentlich „versäumt“ hatten. Thomas Weber beschreibt in seinem 2010 erschienenen Buch „Hitlers erster Krieg“, das mehr eine Gruppenbiographie eines bayerischen Ersatzregiments darstellt, in dem der Gefreite Hitler diente, dass die Kriegsteilnehmer in diesem Regiment, bürgerlich, kleinbürgerlich und bäuerlich, zumeist katholisch und aus Südbayern, im Kriegseinsatz ihre Pflicht sahen, aber zuallermeist nicht von einer Art nationalem Furor erfüllt waren, der dazu noch über 1918/19 angehalten hätte. Umgekehrt suchten sie vielfach nach Wegen, um zumindest kurzfristig den eigentlich nicht zu ertragenden Strapazen des Grabenkrieges und der unentwegten Todesdrohung zu entrinnen. Anders die Jüngeren, die sich dann auch eher von aggressivnationalistischen Integrationsparolen gefangen nehmen ließen – was eben etwas ganz anderes war als die Genugtuung der Kriegsteilnehmer über ihre vier Jahre an der Front erbrachte Leistung: „Tatsächlich war die Bereitschaft zum Beitritt in die NSDAP in der Generation, die zu jung gewesen war, um in den Krieg zu ziehen, sehr viel größer als bei den Weltkriegsveteranen. Nicht die Erfahrungen an der Front und die angebliche Verrohung und Brutalisierung durch den Krieg, sondern eher die fehlende Kriegserfahrung und das Gefühl, um die Gelegenheit zur Beteiligung am Kampf betrogen worden zu sein, erhöhten also die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Mann der Partei Adolf Hitlers anschloss.“ 154 154 Thomas Weber: Hitlers erster Krieg. Der Gefreite Hitler im Weltkrieg – Mythos und Wahrheit, TB-Ausgabe Berlin 2012, S. 349.

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Was ergibt sich daraus nun an Kontinuitäten – und Diskontinuitäten – für die Soldaten der Wehrmacht wie auch der Waffen-SS, die von 1939 bis 1945 in ganz Europa wie in Nordafrika und in U-Booten auf den Weltmeeren den größtdimensionierten Krieg der bisherigen Weltgeschichte mit ausfochten, dazu in erheblichen Maße auch am Verbrechensgeschehen beteiligt waren, im deutlichen Gegensatz zum Ersten Weltkrieg? Damals war es „nur“ in den ersten Wochen an der Westfront zu Ausschreitungen, Exzessen und Erschießungen in Belgien und Nordfrankreich gekommen, unter vielfachem psychischem Druck bei einer überhasteten Offensive; nach einigen Wochen erfolgte aber die Rückkehr zu dem, was man eine regelgerechte Kriegführung nennen könnte. Im Gegensatz dazu aber wurde der Zweite Weltkrieg durchgängig an der Ostfront155, vielfach aber auch auf dem Balkan, mit deutschen Grausamkeiten in Griechenland und ab 1943 in Italien und seit der Landung der Alliierten im Juni 1944 oft auch in Frankreich nicht regelgerecht ausgetragen; zentrale Stichworte für den Kampf im Osten 1941/42 sind der „Kommissarbefehl“, das massenmörderische Wüten der SS-Einsatzgruppen und der milionenfache Hungertod sowjetischer Kriegsgefangener. Auch im Westen kam es 1944/45 nicht selten zur Tötung von Kriegsgefangenen, die sich ergeben hatten. Eines der spektakulären Verbrechen dieser Art von deutscher Seite fand während der sogenannten Ardennenoffensive im Dezember 1944 statt. Darüber hinaus sei die Frage gestellt, welches Wertesystem, welcher Habitus und welche Einstellungsmuster die deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges, im ganzen 17 Millionen Männer, im Ersten Weltkrieg 13 Millionen Männer, jedenfalls in großen Zügen prägten und beeinflussten. Über neue Erkenntnisse zu dieser ungemein komplexen Fragestellung verfügen wir, seit die Protokolle und vertraulich aufgenommenen Aufzeichnungen der Gespräche deutscher Kriegsgefangener untereinander und von ihren Verhören vorliegen und ausgewertet werden.156 Hier zeigt sich nun, dass ältere Soldaten, das heißt etwa zum Stichjahr 1944 über dreißig bis fünfunddreißig Jahre alt, die die Weimarer Republik, gegebenenfalls auch noch das Kaiserreich bewusst erlebt hatten, sich relativ wenig oder kaum nationalsozialistisch infiziert zeigten. Sie sahen im Militärdienst zwar oft eine Art nationaler Verpflichtung gegenüber 155 Zum Rassen- und Vernichtungskrieg im Osten von deutscher Seite vgl. Niklaus Meier: Warum Krieg? Die Sinndeutung des Krieges in der deutschen Militärelite, Paderborn u. a. 2012, S.  250  ff.,ferner, nur für den Bereich Heer, also ohne Einsatzgruppen und Polizeibataillone, Christian Hartmann: Wehrmacht im Ostkrieg. Front und militärisches Hinterland 1941/42, München 2009. 156 Sönke Neitzel, Harald Welzer: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt/Main 2011, Felix Römer: Kameraden. Die Wehrmacht von innen, München, Zürich 2012.

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einem als legitim angesehenen Staat, aber sie zeigten sich zugleich eben nicht oder doch zumindest kaum von der NS-Indoktrination im Sinne eines imperialen Vernichtungsdenkens geprägt. Umgekehrt machte sich bei ihnen auch noch die tendenziell kulturell offene und differenzierte Atmosphäre der Weimarer Republik bemerkbar: „Das demokratische System der Weimarer Republik ermöglichte noch Pluralismus und liberales Denken. Außerdem blieben die diversen Sozialmilieus in dieser Zeit noch soweit intakt, dass ihre weltanschaulichen Orientierungen in eigenen Wohnquartieren, Milieuvereinen, Parteiorganisationen ungestört weiter vermittelt werden konnten. Das NS-Regime hingegen duldete keinen Pluralismus, unterminierte die Sozialmilieus und richtete die Erziehung der Jugend wie alle übrigen Lebensbereiche kompromisslos auf das ‚Dritte Reich‘ aus.“ 157 Für die jüngeren Jahrgänge hingegen schreibt der Historiker Felix Römer nach Auswertung US-amerikanischen Abhör- und Verhörmaterials: „Die jüngeren Alterskohorten der Wehrmacht, die im ‚Dritten Reich‘ aufgewachsen waren und das nationalsozialistische Erziehungssystem durchlaufen hatten, erwiesen sich als besonders loyale Soldaten. Dies konnte anhand der US-Meinungsumfragen unter den gefangenen Wehrmachtsangehörigen auch zählbar nachgewiesen werden: Die Soldaten der HJ-Generation hielten Hitler und dem NS-Regime fester die Treue und glaubten länger an einen deutschen Sieg als ihre älteren Kameraden, die noch im Kaiserreich und der Weimarer Republik groß geworden waren. Diese Befunde belegen: Erziehung und Indoktrination im nationalsozialistischen Deutschland zeigten Wirkung. Zeitpunkt, Bedingungen und Umfeld der Sozialisation machten einen spürbaren Unterschied.“ 158 Was daraus folgt, ist ambivalent: Zum einen nämlich eine Art Ehrenrettung der Weimarer Republik, die heute für die einen so vielfach in Vergessenheit geraten ist und für die anderen als eine Art loser Vorstufe des NS-Regimes erscheint. Ihr positiver Eigenwert tritt auch hier deutlich hervor. Gewissermaßen die Kehrseite der Medaille aber ist, dass die Nationalsozialisten durch die ihnen in doch beachtlichem Maße gelungene Erosion und Zerschlagung der herkömmlichen Sozialmilieus, darunter die festgefügten in Deutschland das proletarische und das katholische, im Zeichen ihrer Volksgemeinschafts-Ideologie, auch Voraussetzungen für die spätere offene Gesellschaft der Bundesrepublik schufen. Deren eigene Armee, die Bundeswehr, mit ihrem schon genannten vielfach zivil-westlichen Habitus, erscheint insofern paradoxerweise auch als eine Art Konsequenz der Aufbrechung 157 Römer, Kameraden, S. 82. 158 Ebd., S. 476.

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alter, teilweise militanter Verhärtungen und Antagonismen in der deutschen Gesellschaft in der Zeit von 1933 bis 1945. Freilich muss man hier immer auch die Kontinuität neben der Diskontinuität sehen: Die deutsche Gesellschaft zeigte eben auch bereits im Kaiserreich und verstärkt in der Weimarer Republik offene, liberale, transparente Züge – und umgekehrt waren die ersten zwei Jahrzehnte in der zweiten Nachkriegszeit, in der alten Bundesrepublik, in hohem Maße auch durch den Fortbestand der, wenn auch geschwächten, so doch immer noch fortbestehenden alten Sozialmilieus gekennzeichnet. Gesellschafts- und Kulturgeschichte sind nun einmal eher durch langfristige Verläufe und sehr allmähliche Verwandlungen als durch abrupte Zäsuren und Kehrtwendungen gekennzeichnet. Die Ambivalenz kultureller Entwicklungen zeigt ebenso ein anderes Beispiel, das des Sports: Sport war in der Weimarer Republik Ausdruck ziviler Modernisierung, gesellschaftlicher Egalisierung – und zugleich war er Medium, um auch ohne Wehrpflicht körperliche Wehrhaftmachung und die Kultur kollektiver Militanz wahren und pflegen zu können. Und das galt auch für Mitte und Linke des gesellschaftlichen Spektrums. Auch die Arbeiterbewegung pflegte die physische Gleichförmigkeit in der großen Zahl, sogenannte Arbeiter-Olympiaden waren eine Art Heerschau.159 Vor etlichen Jahren hat der Historiker Eckart Conze eine Überblicksgeschichte der Bundesrepublik unter die zentrale Fragestellung nach Sicherheit gestellt.160 Mit Sicherheit könnte in der Tat ein, wenn nicht der Schlüsselbegriff aufscheinen, der Bonn, vermutlich auch Berlin seit 1990, von Weimar, unterscheidet. Sicherheit heißt hier nicht Sicherheit vor auswärtiger, militärischer Bedrohung. Sicherheit meint Sicherheit vor Verlust der sozialen und bürgerlichen Existenz, positiv gewendet Kontinuität und Verlässlichkeit für den eigenen Lebensentwurf. Dies konnte Weimar am Ende nicht gewährleisten, die Bundesrepublik hingegen schien dazu über viele Jahrzehnte in der Lage zu sein. Insofern knüpfte die Bundesrepublik, ungeachtet aller konstitutiven Unterschiede, an die Erfolgsjahrzehnte des Kaiserreiches an, die das alles gekannt und vermittelt hatten. Weimar kannte hingegen nicht nur den Zusammenprall ideologischer Extreme, sondern auch die ökonomische und soziale Unterhöhlung ursprünglich tragender Gesellschaftsschichten, die 1923 ihre Ersparnisse einbüßten und damit 159 Vgl. Frank Reichherzer: „Alles ist Front!“ Wehrwissenschaften in Deutschland und die Bellifizierung der Gesellschaft vom Ersten Weltkrieg bis in den Kalten Krieg, Paderborn u. a. 2012, S. 123 ff. 160 Eckart Conze: Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, Hamburg 2009.

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ein Kernelement bürgerlicher Autonomie. Dazu kommt, illustrierend, die noch ganz bescheidene Ausstattung dieser Gesellschaft mit den – schon verfügbaren – für Lebensstil und Prosperität kennzeichnenden technischen Konsumgütern. Die Weimarer Gesellschaft war nicht reich, auch nicht im internationalen Vergleich: 1931 gab es in Deutschland 489.000 PKWs, dagegen in Großbritannien und Frankreich mit je ungefähr zwei Dritteln der deutschen Bevölkerung je ca. 1,1 Millionen – in den USA hingegen 23 Millionen. In Deutschland war noch fernes Luxusgut, was in den USA bereits familiäre Normalität war. Weniger gravierend, aber doch deutlich spürbar, waren die Abstände am Vorabend von Hitlers und Goebbels’ Werben mit dem Volksempfänger im preisgünstigeren Bereich des Rundfunks. Ende 1932 gab es in den Vereinigten Staaten 17 Millionen Rundfunkgeräte, 138 auf 1000 Einwohner, in Großbritannien 5,26 Millionen, 117 auf 1000 Einwohner, und in Deutschland 4,3 Millionen, 66,5 auf 1000 Einwohner. Kein Zweifel: Das Deutschland der Weimarer Republik stand mit an der Spitze des technisch-naturwissenschaftlichen Fortschrittes, aber die ökonomischen Verhältnisse ließen eine Verbreitung seiner Errungenschaften wie in den USA und ansatzweise selbst in Westeuropa nicht zu. Zum wirklichen „Autoland“ sollte (West)Deutschland erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts werden. Autoland aber – das erscheint wie das materielle Synonym jener Wohlstandsgesellschaft, die das existentielle Gut „Sicherheit“ vermittelte, zu dem es die Weimarer Republik eigentlich nie brachte.

Parteien in Deutschland

Das deutsche Parteiensystem stellte sich 1918/19 in verblüffender Kontinuität zur Kaiserzeit und zu den vorausgehenden Jahrzehnten seit der Revolution von 1848/49 auf; Letztere war der Urknall für die Entwicklung des deutschen Parteiensystems gewesen. Weg fielen zunächst einmal nur jene Abgeordneten und Vertretungen, die sich auf nationale Minderheiten bezogen, Polen, ElsassLothringer und auch jene „Welfen“, die die Annexion des Königsreichs Hannover 1866 durch Preußen nicht verwunden hatten. Die deutschen „Sozialmilieus“ behielten ihre parteipolitischen Formationen, insbesondere Arbeiterbewegung und Katholizismus. Obwohl sich die Reichstagswahlen von 1912 und die Wahlen zur Nationalversammlung 1919 nicht einfach vergleichen lassen – an die Stelle des absoluten Mehrheitswahlrechts war das Verhältniswahlrecht getreten, erstmals durften in Deutschland die Frauen an die Urne, und das Wahlalter war von 25 auf 20 Jahre herabgesetzt worden, insbesondere, damit die zurückgekehrten Frontsoldaten ihr staatsbürgerliches Recht ausüben durften –, zeigt sich doch, in welchem Maße sich langfristige Trends im deutschen Wählervolk über den Ersten Weltkrieg hinweg fortsetzten : Das betrifft einmal den Abschmelzungsprozess der Liberalen. Sie, darunter vor allem die nach dem preußischen Sieg über Österreich 1866 geformten Nationalliberalen, hatten sich als die eigentlichen Sieger der Reichsgründung 1870/71 gesehen. Bei den ersten Reichstagswahlen 1871 hatten sie zusammen über 46 Prozent der Stimmen erreicht, waren also in einen Bereich vorgestoßen, den erst nach dem Zweiten Weltkrieg wieder die großen „Volksparteien“ erreichen konnten. Ihre Achillesferse war das Fehlen eines kompakten sozialen und kulturellen Unterbaus, hinzu kam, dass sie in aller Regel Prinzipien vertraten und nicht klar umrissene Interessen, hinter denen sich Lobbyisten und Interessengruppen sammeln ließen. Ihre offene Flanke war ihre Erpressbarkeit: Um beweisen zu können, das sie nicht „Reichsfeinde“ waren, sollten sie sich im Kulturkampf gegen die katholische Kirche in Stellung bringen lassen, das Bismarcksche Sozialistengesetz akzeptieren, und die Bismarcksche Zollpolitik seit Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Diese Lackmustests, denen die Liberalen von der Reichsleitung unterworfen wurden, führten zur inneren Polarisierung des liberalen Lagers: Die Nationalliberalen machten im Regelfall, an der Seite der Konservativen, mit, die Linksliberalen blieben auf Distanz. Schon bei den Reichstagswahlen von 1898 hatten die liberalen Parteien nicht einmal mehr die Hälfte ihres Stimmenanteils von

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1871 erreicht, 22,7 Prozent – hier wirkten sich auch die über die Jahrzehnte steigenden Wahlbeteiligungen mit ihrer Begünstigung geschlossener Milieus aus. Auf diesem Niveau hielten sich die Liberalen etwa bis zum Ersten Weltkrieg und auch bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919: 18,5 Prozent für die linksliberale Deutsche Demokratische Partei, 4,4 Prozent für die Deutsche Volkspartei, die sich in der Tradition der Nationalliberalen sah. Diese 4,4 Prozent waren aus den Umständen zu erklären und nicht so verheerend, wie der reine Zahlenwert anmutet: bei der alten Nationalliberalen Partei des kollabierenden Kaiserreiches, namentlich bei Gustav Stresemann selbst, hatte es starke Bestrebungen gegeben, in die Nachkriegszeit mit einer einzigen starken liberalen Formation zu gehen, also die Brüche der Bismarck-Zeit zu überwinden. Die Linksliberalen akzeptierten das nicht, sie hielten Stresemann und seinen Anhang durch ihren Annexions-Kurs während des Ersten Weltkrieges für kompromittiert. Und die alten Nationalliberalen hatten wenig Zeit gehabt, sich organisatorisch und programmatisch neu zu fassen. Schon die ersten Reichstagswahlen vom 6. Juni 1920 zeigten für das liberale Lager in Deutschland ein gänzlich korrigiertes Bild: Die Deutsche Demokratische Partei verlor mehr als die Hälfte ihres Zuspruchs, sank von 5,6 Millionen Wählern auf 2,3 Millionen, von 18,5 Prozent auf 8,3 Prozent; obwohl die DDP-Fraktion in der Nationalversammlung den Versailler Vertrag abgelehnt hatte, wurde die Partei nun mit an erster Stelle für die Frustrationen des Jahres 1919 abgestraft. Die alten Nationalliberalen triumphierten, sie legten von 1,34 Millionen Wählern 1919 auf 3,9 Millionen Wähler 1920 zu, das heißt von 4,4 auf 13,9 Prozent. Vielleicht kam Stresemann dabei sogar zu Gute, dass er sich beim vorausgehenden Kapp-Putsch gegen die Republik ziemlich bedeckt gezeigt hatte, zum sattelfesten Republikaner wurde er dann aber sehr schnell. Stresemanns Volkspartei hatte ein ambivalentes Gesicht: Der Vorsitzende und langjährige Reichsaußenminister selbst entwickelte sich zur republikanischen Ikone, in Partei und Fraktion tummelten sich freilich nicht wenige, die deutlich weiter nach rechts neigten. Sogar militärische Idole wie der Held der Schlacht vom Skagerrak am 31. Mai 1916, Admiral Scheer, und der 1926 als Chef der Heeresleitung ausgeschiedene Generaloberst von Seeckt erhielten für die DVP Mandate im Parlament. Das Ende der DVP als parlamentarischer Machtfaktor kam mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise und nach dem Tode Stresemanns am 3. Oktober 1929: Bei der Reichstagswahl vom 14. September 1930, die die NSDAP mit einem Mal zu einem nationalen Faktor katapultierte – 18,3 Prozent und 107 Mandate – sank die Deutsche Volkspartei von 8,7 Prozent auf 4,5 Prozent und ging von da an in die parlamentarische Bedeutungslosigkeit. Die DDP erlitt dieses Schicksal

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noch forcierter: seit den Wahlen in der Mitte der zwanziger Jahre rangierte sie im Bereich von fünf bzw. sechs Prozent, um 1930 auf 3,8 Prozent abzurutschen.161 Die Entstehung der Bundesrepublik zeigt für die weitere Entwicklung des parteipolitischen Liberalismus in Deutschland eine tiefer gehende Zäsur als die Vorgänge von 1918/19: Denn jetzt gelang es, die beiden Fraktionierungen des Liberalismus, nationalliberal und linksliberal, erstmals seit mehreren Generationen wieder in einer parteipolitischen Formation zusammenzuführen. Bis weit in die fünfziger Jahre hinein bildete die neu gegründete FDP freilich eher so etwas wie das Dach einer Holding, unter dem die alten Gegensätze weiter bestanden. Freilich muss man hier Differenzierungen sehen: Der erste Bundespräsident Theodor Heuss, der sich in den zwanziger Jahren als DDP-Akteur in der Rolle des demokratischen Nationalisten gesehen hatte, taugte nur eingeschränkt zum gemütlichen Klischee des südwestdeutschen Honoratiorenliberalen. Und da, wo sich die FDP der frühen Nachkriegszeit am „nationalsten“ zeigte, in NordrheinWestfalen, standen weniger als in der Zwischenkriegszeit die Strukturen und Verbände der Schwerindustrie an Rhein und Ruhr prägend und mitbestimmend im Hintergrund. Jetzt waren es eher entweder frühere Berufsoffiziere wie Erich Mende, Parteivorsitzender dann von 1960–1968, die dem Adenauerschen Integrationskurs, gar einem karolingisch-katholischen Europa distanziert gegenüberstanden und weiter an der unbedingten Leitvorstellung eines wiedervereinigten Deutschlands festhielten. In Nordrhein-Westfalen kam schließlich sogar die versuchte Einflussnahme einer nationalsozialistischen Clique um den früheren Staatssekretär in Goebbels’ Reichspropagandaministerium Werner Naumann hinzu.162 Diesen Naumann-Kreis hob die britische Besatzungsmacht 1953 mit stillschweigendem Einverständnis des Bundeskanzlers aus, damit war hier ein etwaiger Marsch der FDP ins ganz rechte Lager gestoppt. Eine ähnlich offene Flanke weit nach rechts hatte die FDP lange in Niedersachsen, wo das Parteiensystem ohnehin am stärksten dem fragmentierten der Weimarer Republik glich: Mit 1952 verbotener Sozialistischer Reichspartei, ferner einer Deutschen Reichspartei, aus der 1957 sechs Abgeordnete zur FDP-Fraktion übertraten, der Niedersächsischen Landespartei, die zur Deutschen Partei mutierte, und, ähnlich wie noch in Nordrhein-Westfalen, einem sehr geschrumpften Zentrum, das es 161 Zur Geschichte der Deutschen Volkspartei Ludwig Richter: Die Deutsche Volkspartei 1918– 1933, Bonn 2002. 162 Kristian Buchna: Nationale Sammlung an Rhein und Ruhr. Friedrich Middelhauve und die nordrhein-westfälische FDP 1945–1953, München 2010.

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für einige Zeit noch neben der CDU gab. Höhepunkt der FDP-internen Verwicklungen im Land war der Rücktritt von Kultusminister Leonard Schlüter nach nur 14 Tagen Amtszeit am 9. Juni 1955. Schlüters Bestallung hatte, da im rechtsradikalen Lager verwurzelt, massive Proteste provoziert.163 Was dominant blieb, war in der FDP zunächst die Hegemonie gemäßigt nationalliberaler Kräfte, die nicht zuletzt auch auf Kommunikation mit DDR und Sowjetunion drängten, um in der nationalen Frage weiterzukommen. Eine der Voraussetzungen zur Gründung der sozialliberalen Koalition 1969 war die Erringung der Hegemonie in der Partei durch eine linksliberale Richtung unter Generalsekretär Karl Hermann Flach, die in ihren Zielvorstellungen weit über den herkömmlichen deutschen Linksliberalismus hinausging: Es ging dabei nicht nur um eine proklamierte historische Versöhnung von Arbeitern und Bürgern, sondern vor allem um materielle Voraussetzungen für die angestrebte gesamtgesellschaftliche Emanzipation, also auch um so etwas wie eine liberale „Sozialpolitik“ und vor allem um eine Bildungspolitik, die tatsächliche oder vermeintliche Benachteiligungen überwinden sollte. Vom ideologischen Markenkern dieses bundesdeutschen Linksliberalismus ist sehr bald nicht mehr allzu viel übrig geblieben; denn sein Problem war, dass andere, Sozialdemokraten und Gewerkschaften an erster Stelle, bald aber auch der linke Flügel von CDU/CSU, solche Ambitionen selbst wesentlich raumgreifender verfolgten. Die alten Gegensätze von National- und Linksliberalen, von Bismarck orientiert oder prinzipientreu, von nationalrevisionistisch in den zwanziger Jahren oder ausgleichsbezogen, sind heute insofern vollständig Geschichte, als sie in der FDP unserer Tage kaum mehr einen Reflex finden. Daneben steht, sieht man von den jeweiligen situativen Aufschwüngen ab, die bemerkenswerte Erkenntnis, dass eine der parteipolitischen Formationen in Deutschland, die sich wesentlich auf das nationale Schlüsselereignis der Revolution von 1848/49 zurückführen lässt, gesellschaftlich und im Anteil am Wählermarkt über gut 100 Jahre zwar kontinuierliche Einbußen erlitt, ohne doch aber völlig vom parteipolitischen Markt genommen zu werden. Situative Aufschwünge waren in der zweiten Nachkriegszeit die Bundestagswahlen 1961, als es galt, bürgerlich weiter zu regieren, aber ohne den Patriarchen Adenauer, und 2009, als es galt, eine in der zweiten Großen Koalition mit der SPD sozialdemokratisierte CDU auf den rechten Weg einer bürgerlichen Regierung zurückzuführen und ihr dazu feste Korsettstangen einzuziehen. Ob das Ausscheiden der FDP aus 163 Zu diesen Vorgängen Nentwig: Kopf S. 405ff.

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dem Bundestag 2013 das Ende von eineinhalb Jahrhunderten parteipolitischem Liberalismus in Deutschland bedeutet, bleibt abzuwarten. Es gibt hingegen eine große, milieubezogene parteipolitische Formation in Deutschland, die mit den tiefen Zäsuren von 1933 und 1945 vollständig vom parteipolitischen Markt des Landes verschwunden ist, das sind die Konservativen bzw. Deutschnationalen. Sie waren als preußische Konservative nicht zuletzt in Abwehr des Liberalismus von 1848/49 entstanden – selbst für die preußischen und dann deutschen Konservativen war insofern die Revolution von 1848/49 die Mutter aller parteipolitischen Schlachten. Der klassische preußische Konservativismus tat sich mit Bismarck und seinem erfolgsorientierten, bonapartistischen Stil schwer, mit der Revolution von oben, um die Revolution von unten abzufangen, mit der Reichsgründung und der Ventilierung der nationalen Frage, mit dem Kulturkampf gegen die katholische Kirche, schließlich mit so etwas Absurdem wie Kolonialpolitik. Bismarck hatte die vielfach protestantisch-pietistischen preußischen Konservativen verschreckt und sich mit nicht wenigen von ihnen persönlich überworfen; die „Deutschkonservativen“ seit Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts gingen dann die notwendigen machtpolitischen Kompromisse mit ihm ein. Die Konservativen der späteren Kaiserreichzeit waren nicht nur herkömmlich nationalistisch, monarchistisch und den Interessen der Agrarier verbunden. So hielten sie im Reichstag 1913 unverbrüchlich der Armee die Stange, als es galt, wider Recht und Gesetz die Übergriffe gegen Zivilisten im Elsass zu verteidigen, im „Zabern-Konflikt“. Darüber hinaus aber hatten die Konservativen, zumindest in Teilen, seit den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine populistische Ausweitung erlebt. Auf dem Tivoli-Parteitag 1892 hatten sie sich ein in Teilen antisemitisches Programm gegeben, auf jener Welle mit surfend, die die Stichwortgeber jener Jahre wie der Historiker Treitschke und der Hofprediger Stoecker geliefert hatten. Immer noch waren und blieben sie freilich eine Partei, deren soziale Grundlage vor allem die ostelbische Landwirtschaft war. Das änderte allerdings nichts daran, dass die Konservativen mit ihren verschiedenen Ausprägungen auf parlamentarischer Ebene, Deutschkonservative und die Bismarckpartei der „Freikonservativen“, parlamentarisch immer schwächer wurden, ihre wesentlichen Bastionen waren ja auch der nach dem Dreiklassenwahlrecht gewählte preußische Landtag und das preußische Herrenhaus, nicht der egalitär gewählte Reichstag: Bei den Reichstagswahlen 1912 mit ihrer deutlichen Verschiebung nach links erhielten sie nurmehr 12,3 Prozent, das war weniger als die Hälfte des besten Wertes, den sie hier je erreicht hatten, 25 Prozent bei den Reichstagswahlen von 1887. Damals

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hatte das Bismarckkartell aus Deutschkonservativen, Freikonservativen und Nationalliberalen, vom Kanzler zusammengeschweißt und mit allen propagandistischen Mitteln gefördert, über der Frage einer Militärvorlage („Septennat“) eine allerdings fragile Mehrheit erreicht: Drei Jahre später, bei den Reichstagswahlen von 1890, sollte dieses Kartell untergehen, die Sozialdemokratie mit 19,8 Prozent erstmals zur wählerstärksten Partei werden und Bismarck kurz darauf den Abschied nehmen müssen. Den 12 Prozent für die Konservativen bei der Reichstagswahl 1912 stehen 10,3 Prozent für die Deutschnationalen des Jahres 1919 gegenüber. Die neu formierte Partei schien im Abseits, aber das sollte sich bald ändern – die DNVP erreichte in den mittleren Jahren der Weimarer Republik Stimmenanteile, die über denen der Konservativen in den letzten Jahrzehnten des Kaiserreiches lagen: Bei der Protest-Reichstagswahl von 1920 war noch die Deutsche Volkspartei der Hauptnutznießer gewesen, die DNVP legte aber bereits von 10 auf 15,1 Prozent zu, und sie erreichte sodann bei den beiden Reichstagswahlen des Jahres 1924 mit 19,5 beziehungsweise 20,5 Prozent der Stimmen, einmal knapp unter sechs, einmal knapp über 6 Millionen Wähler, bemerkenswert hohe Stimmanteile. Sie war zum zentralen Profiteur der Frustration über die Versailler Friedensordnung geworden. Danach ging es mit ihr bergab, zunächst bei der Reichstagswahl 1928, die insgesamt eine parteipolitische Linksverschiebung in Deutschland brachte, und sodann verstärkt bei den Folgewahlen, als die NSDAP auch in ihre angestammten ostdeutschen Domänen einbrach. Gleichzeitig aber erfolgte eine weitergehende Radikalisierung der DNVP: Was in Preußen unter sozialdemokratischer Hegemonie vollkommen ausgeschlossen war, nämlich eine Regierungsbeteiligung der Deutschnationalen, wurde auf Reichsebene mehrfach in bürgerlichen Kabinetten Mitte der zwanziger Jahre praktiziert. Dann erfolgte 1928 der Kurswechsel von einer in Teilen gemäßigten, konservativ-administrativen Linie unter dem Parteivorsitzenden Graf Westarp zu Alfred Hugenberg auf dem ganz rechten Flügel, Alldeutscher, dazu Inhaber eines Medien-Imperiums. Man mag darüber spekulieren, ob eine deutschnationale oder konservative Partei in Westdeutschland nach 1945 bzw. 1949 ohne die Erfahrungen des Rechtsrucks unter Hugenberg noch ein gewisses Maß an Akzeptanz gefunden hätte. Vermutlich aber ist die Frage gänzlich hypothetisch, denn ob in dieser oder jener Form, für die Deutschnationalen gab es im territorial reduzierten Nachkriegsdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg keine hinreichende soziale Basis mehr: Einige wenige fanden ihre Heimat im evangelischen Flügel der CDU; ansonsten galt die Formation als einfach kompromittiert, und manche ihrer alten Anliegen wie der Agrarprotektionismus wurden von den Unionsparteien übernommen.

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Eine der ganz wenigen Ausnahmen war der gleichnamige Enkel des Reichsgründers, Fürst Otto von Bismarck, Berufsdiplomat, in der Weimarer Zeit auf dem linken Flügel der Deutschnationalen, dann von 1953 bis 1965 Bundestagsabgeordneter für die CDU im relativ nationalen Landesverband SchleswigHolstein, geschätzt vor allem als weltgewandter Aristokrat, der Glanz auf seine parteipolitische Umgebung ausstrahlte. Aber als CDU-Exponent war er Ausnahme, nicht typisch. Die Unionsparteien selbst als bürgerliche Integrationsbzw. Gesamtformation haben zwar stets für sich den Anspruch vertreten, den gesamten Bereich zwischen Sozialdemokratie und auf der Rechten tabuisierten Kräften abzudecken, ein deutschnationales oder auch konservatives Erbe im Sinne des ursprünglichen altpreußischen Konservativismus, fokussiert auf die Legitimation von Thron und Altar, aber nie dazu gerechnet. So war auch hier erst 1949 die viel gravierendere Zäsur als 1919. Die Unionsparteien haben zugleich stets darauf gesehen, nicht einfach als Fortsetzung der katholischen Zentrumspartei bzw. der Bayerischen Volkspartei zu erscheinen. Sie wollten etwas Neues, christlich-interkonfessionelles, weitgehend das gesamte gesellschaftliche Spektrum Abdeckendes sein und damit auch eine echte Innovation gegenüber den parteipolitischen Verhältnissen des Kaiserreiches und der Weimarer Republik darstellen. Parteien verstehen sich besonders gut auf Legendenbildungen. Kein Zweifel: Das alte Zentrumserbe, bzw. das der Bayerischen Volkspartei, war eben doch der bestimmende Markenkern der beiden Unionsparteien. Das katholische Zentrum war durch den Zusammenbruch der Monarchie 1918 bei weitem nicht so schwer getroffen worden wie Konservative oder auch Nationalliberale. Schließlich war das Zentrum mit seinen süddeutschen Verwandten, ursprünglich in Bayern seit 1868 der „Patriotenpartei“, eine Art Gegengründung gegen den kleindeutschpreußischen Nationalstaat gewesen, mit dessen Ausrichtung auf die Hohenzollern und mit dem Glauben an eine evangelisch-preußische Geschichtsteleologie. Der Kulturkampf hatte im ersten Jahrzehnt nach der Reichsgründung das Zentrum vor allem in Preußen als politische Formation gegen staatliche Hybris mit liberalem Allmachtsdenken zusammengeschweißt. Die Patriotenpartei in Bayern orientierte sich am Leitbild einer föderalen bzw. konföderalen Ordnung in Mitteleuropa, gegen borussische Homogenisierung, in gewisser Weise alteuropäisch-vordemokratisch und in einem katholisch-populistischen Sinne demokratisch zugleich. Im Kaiserreich zeigte sich das Zentrum sehr bald bemüht, den Vorwürfen einer Reichsfeindschaft, einer ultramontanen Hörigkeit gegenüber dem Heiligen Stuhl, wenig Angriffsfläche zu bieten. Im Regelfall war es national, stimmte für Militärforderungen, wies im Übrigen eine

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ungewöhnliche soziale Bandbreite auf, vom Großindustriellen und Magnaten in Oberschlesien bis zum gewerkschaftlich gebundenen katholischen Arbeiter im Ruhrgebiet. Insofern war das Zentrum lange vor den Unionsparteien bereits echte Volkspartei. Nach dem Abflauen des Kulturkampfes zeigte sich bald, dass die eigentliche Bedrohung nicht bzw. nicht mehr vom sich aufgeklärt dünkenden preußischen Staat in Verbindung mit liberalen Prinzipienreitern drohte, sondern vom Voranschreiten der allgemeinen gesellschaftspolitischen Prozesse, Laizierung und Entkirchlichung an erster Stelle. Gewiss verfügte das Zentrum über eine breite Struktur katholischer Verbände für alle möglichen Bereiche des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Das sicherte dem vielberufenen „Zentrums-Turm“ Stabilität und Kohärenz. Die Kirchentage waren Heerscharen des politischen Katholizismus in Deutschland, Gewerkschaften, Kultur- und Bildungsvereine sicherten eine katholisch grundierte Rundumversorgung der Gläubigen. Aber die weiteren Wahlergebnisse zeigten doch, dass die moderne Welt Breschen in den katholischen Kosmos schlug: Bei den letzten Reichstagswahlen des Kaiserreiches erreichte das Zentrum zusammen mit den nationalen Minderheiten, die nun ab 1919 wegfielen, noch an die 25 Prozent der Wählerstimmen. Bei der Wahl zur Nationalversammlung 1919 waren es 19,7 Prozent bzw. knapp 6 Millionen Stimmen – das Zentrum hatte dabei aber auch noch überdurchschnittlich von der Einführung des Frauenwahlrechts profitiert. Danach griff die Trennung vom bayerischen Ast des politischen Katholizismus in Deutschland: Schon bei der Reichstagswahl 1920 traten Zentrum und Bayerische Volkspartei getrennt voneinander an und erreichten zusammen genau 18 Prozent bzw. nunmehr gut 5 Millionen Wählerstimmen. Schon während des Kaiserreiches hatte das „Bayerische Zentrum“ immer ein Eigenleben geführt. In Bayern war das Zentrum, obwohl nicht Regierungspartei, hier amtierten im Regelfall nationalliberale Beamtenministerien, doch die strukturell prägende Mehrheitspartei, und 1912 wurde es sogar so etwas wie Regierungspartei – sein Fraktionsvorsitzender, Graf Hertling, war zum bayerischen Ministerpräsidenten ernannt worden. Auf preußischer Ebene war so etwas vorderhand völlig undenkbar. Nun trennten sich 1920 die Wege: Die neu formierte Bayerische Volkspartei, Nachfolgerin des bayerischen Zentrums, gab die Arbeitsgemeinschaft mit der Zentrumsfraktion im Reichstag auf und positionierte sich auf Reichsebene autonom. Der wesentliche Grund war der unitarische Kurs des linken Flügels des Zentrums auf Reichsebene, den Matthias Erzberger verkörperte: Erzberger hatte nicht nur eine zentralstaatliche Reichsfinanzreform durchgeführt, mit einer Einkommenssteuer in Zuständigkeit des Gesamtstaates, sondern zwischenzeitlich auch den Einheitsstaat als Vision für das künftige

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Deutschland ausgegeben. Für die Folge muss man zunächst sehen, dass die Stimmenanteile des Zentrums wie der Bayerischen Volkspartei auf Reichs­ ebene bis zum Ende der Weimarer Republik kontinuierlich abschmolzen, zwar bei keiner Wahl ein jäher Absturz, aber doch so, dass sich langfristig ein deutlicher Bedeutungsrückgang abzeichnete: das Zentrum von 13,6 Prozent 1920 auf 12,1 Prozent 1928, bei der letzten Reichstagswahl vor dem Aufstieg der Nationalsozialisten, die Bayerische Volkspartei im selben Zeitraum von 4,4 Prozent auf 3,1 Prozent. Zunächst entwickelten sich auch beide Parteien programmatisch und kulturell in durchaus unterschiedliche Richtungen: Das Reichs-Zentrum eher republikanisch-demokratisch, die Bayerische Volkspartei eher katholisch-konservativ, dazu herkömmlich föderalistisch, das heißt mit Nostalgien für die Rechte der Länder mindestens auf dem Niveau der Verfassung des Bismarck-Reiches, dazu auch mit stärker antijudaistischen Anklängen. Ferner muss man sehen, dass die Bayerische Volkspartei, ohne dezidiert monarchistisch zu sein, doch in stattlichen Teilen eine deutliche Nähe zur angestammten wittelsbachischen Dynastie zeigte, namentlich zu ihrem Oberhaupt, Kronprinz Rupprecht, der in München eine viel angesehenere Rolle spielte, als der Kaiser in den Niederlanden und der preußische Kronprinz Wilhelm in Deutschland. Die Gegensätze zwischen den beiden katholischen Parteien der Zwischenkriegszeit hat noch Helmut Kohl bei seiner Argumentation gegen den Kreuther Beschluss der CSU-Landesgruppe von 1976 instrumentalisiert, die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU aufzugeben und sich gegebenenfalls bundesweit auszudehnen. Kohl verwies damals auf die Rivalitäten, die es zwischen Zentrum und Bayerischer Volkspartei in seiner Heimatregion, der bayerischen Pfalz, gegeben hatte. Hier hatten beide zeitweise gegeneinander konkurriert und einander tiefe Wunden geschlagen – wie das bei Bruderkämpfen in shakespearehafter Manier der Fall ist.164 Während das Reichs-Zentrum wenig Probleme damit hatte, als zentraler Faktor von Regierungsbündnissen auch mit der SPD zu koalieren, war genau dies für die Bayerische Volkspartei gänzlich inakzeptabel – sie sah darin ein unsittliches Paktieren mit Marxisten. Diese Gegensätze kulminierten beim zweiten Wahlgang für die Reichspräsidentenwahl 1925: Nach dem Tode des ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert, er hatte wegen einer rechtsradikalen Kampagne gegen ihn einen Beleidigungsprozess angestrengt, war Opfer einer offensichtlichen Rechtsbeugung geworden und hatte über all den Aufregungen die rechtzeitige Wahrnehmung und Behandlung eines Blindarmdurchbruches 164 Vgl. Helmut Kohl: Erinnerungen 1930–1982, München 2004, S. 429

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versäumt, kam es zur ersten plebiszitären Auseinandersetzung um die Besetzung des Amtes des Staatsoberhauptes in der deutschen Geschichte: Im ersten Durchgang für die Reichspräsidentenwahl hatte der für die Rechtsparteien DNVP und DVP antretende Duisburger Oberbürgermeister Karl Jarres die meisten Stimmen erzielt, danach folgten für die SPD der preußische Ministerpräsident Otto Braun und für das Zentrum der mehrfache Reichskanzler Wilhelm Marx. Nun positionierten sich gegeneinander ein „Reichsblock“ und ein „Volksblock“. Für letzteren zog die SPD Otto Braun zurück. Mit einem Reichspräsidenten Wilhelm Marx sah sie eine Politik der linken Mitte in Deutschland, vor allem die Fortführung der sozialdemokratischen Regierungspolitik in Preußen gewährleistet. Zählte man Parteien und Milieus zusammen, dann hatte Marx, hinter dem die beiden klassischen Milieu-Parteien in Deutschland, SPD und Zentrum, standen, nunmehr die besten Aussichten; aber die Rechtsparteien zogen ein neues Trumpfass aus dem Ärmel, von dem sie sich Werbewirksamkeit weit über die herkömmlichen Fronten hinweg versprachen: Den Heros des Ersten Weltkrieges, das imaginierte Staatsoberhaupt jener Jahre, den Generalfeldmarschall von Hindenburg. Die Bayerische Volkspartei optierte für den Heros des Ersten Weltkrieges und damit gegen den bürgerlich-katholischen Zentrumsmann Wilhelm Marx – wesentlich aus dem Grund, dass Marx von der SPD gestützt wurde. Ihre Wähler waren einigermaßen gefolgschaftstreu, wenn auch nur zu rund 80 Prozent. Immerhin: Die BVP verhalf Hindenburg zu einem Stimmenvorsprung von rund einer Million vor Marx und damit zur Wahl zum zweiten deutschen Reichspräsidenten. Am Ende der Weimarer Republik kamen Zentrum und Bayerische Volkspartei einander wieder näher, aber es war zu spät: In Bayern war es zwar nach dem turbulenten Jahr 1923 mit dem Hitler-Putsch in München wie nach der Farce des Hitler-Ludendorff-Prozesses zu einer durchaus bemerkenswerten Konsolidierung gekommen: Die Bayerische Volkspartei regierte in Kabinetten mit den Deutschnationalen auf bayerischer Ebene, der sogenannten „Mittelpartei“, einige ihrer Exponenten leisteten bemerkenswerten Widerstand gegen das Wiederaufkommen der NSDAP im Land, namentlich Innenminister Karl Stützel. 1932 fanden Zentrum und Bayerische Volkspartei ostentativ nach dem Staatsstreich der Regierung Papen gegen die preußische Regierung zusammen. Der Marxismus-Vorwurf zählte in dieser Phase nicht mehr allzu viel, auch aus bayerischer Sicht. Viel gravierender erschien, wie die Reichsregierung nunmehr Regierungen deutscher Länder nach Belieben absetzte; den Bemühungen der Regierung Braun, dagegen vor dem Reichsgerichtshof Terrain zu gewinnen, schlossen sich die süddeutschen Länder an. Heinrich Brüning selbst, der schnöde

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gestürzte Zentrums-Reichskanzler, wurde im Münchner Zirkus Krone von den Anhängern der Bayerischen Volkspartei am Abend des Papenschen Staatsstreiches gegen die Regierung Braun in Preußen, am 20. Juli 1932, stürmisch gefeiert.165 Am Ende wurde die BVP-getragene bayerische Staatsregierung auf eine Weise aus dem Amt gedrängt, die durchaus Parallelen zum Drehbuch zeigte, das sich Papen im Sommer 1932 von Staatsrechtlern wie Carl Schmitt hatte schreiben lassen: Es war weniger die Generalmobilmachung der NSDAP in München, die am 9. März 1933 zum durchschlagenden Erfolg führte, als ein aus Berlin orchestrierter Staatsstreich, hinter dem formal der nationalsozialistische Reichsinnenminister Frick stand. Die Unionsparteien nach dem Zweiten Weltkrieg als große interkonfessionelle Volkspartei? Das trifft durchaus zu, aber man muss hinzufügen, dass der Kern, um den sich das Weitere aggregierte, eben doch der herkömmliche politische Katholizismus in Deutschland war. Hinzu kamen Teile der diversen evangelischen Lager, Liberale und Nationale, ein breites Spektrum, dem es aber an einem vergleichbaren Gravitationszentrum fehlte. Das evangelische Milieu war nach 1945 zunächst deutlich parteienskeptischer, dazu in beachtlichen Teilen kritisch gegenüber der Adenauerschen Integrationspolitik, die es immer weiter weg von den mitteldeutschen Stammlanden der Reformation östlich des Eisernen Vorhangs zu treiben schien. Große Ausnahmen wie Hermann Ehlers und Eugen Gerstenmaier, später Gerhard Schröder und Karl Carstens relativieren diesen Gesamtbefund, stellen ihn aber nicht grundsätzlich in Frage. Das evangelische Milieu166 war somit von Anfang an in der zweiten Nachkriegszeit diversifiziert, in Teilen in der nationalneutralistischen Gesamtdeutschen Volkspartei von 1952, mit ihr dann 1957 in die SPD übergeleitet, später im Zeichen von Friedens- und Anti-Kernkraft-Bewegung zu beachtlichen Teilen bei den Grünen. Mindestens ebenso wichtig für CDU und CSU wie die Frage, in welchem Maße sie auch evangelische Parteien wurden, ist die Frage, in welchem Maße es ihnen gelang, während der fünfziger und sechziger Jahre die noch vorhandenen bürgerlichen Kleinparteien zu absorbieren. Das Gelingen dieses Prozesses markiert ein wesentliches Element der Diskontinuität in der deutschen Parteiengeschichte: So ging das alte nationale bzw. nationalliberale Lager in Westmittelfranken, das in der 165 Karl Schwend: Bayern zwischen Monarchie und Diktatur. Beiträge zur Bayerischen Frage in der Zeit von 1918 bis 1933, München 1954, S.454 f. 166 Martin Greschat: Protestantismus im Kalten Krieg. Kirche, Politik und Gesellschaft im geteilten Deutschland 1945–1963, Paderborn u. a. 2010.

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Vergangenheit in der Regel evangelisch-konservativ, deutschnational, vielfach auch nationalsozialistisch und sodann zumeist FDP gewählt hatte, erst dann in das Lager der CSU über, als diese sich unter Franz Josef Strauß modernisiert und laiziert hatte: Entklerikalisiert, dazu gestrafft als auch nationale Protestpartei gegen die neue Ostpolitik der sozialliberalen Koalition, die von einer nach links verschobenen FDP mitgetragen wurde. Die deutsche Sozialdemokratie schien bei den Reichstagswahlen des Jahres 1912 mit stolzen 34,8 Prozent zugleich erstmals an Sättigungsgrenzen gelangt zu sein. Und doch: Vergleicht man dieses Ergebnis mit den Werten für 1919, dann ergab die Summe von SPD und USPD – SPD 37,9 Prozent, USPD 7,6 Prozent – einen weiteren Aufstieg zu jetzt 45,5 Prozent, eine Dimension, in die die Sozialdemokraten in ihrer gesamten nationalen Geschichte nur noch einmal wieder vordringen sollten, bei der Bundestagswahl 1972, auf dem Höhepunkt der Begeisterung für Willy Brandt und die Neue Ostpolitik, als es ihnen gelang, die Unionsparteien als stärkste Formation im Nachkriegsdeutschland abzulösen. Es gab zwei Parteien in Deutschland, bei denen sich der negative Bruch zwischen 1919 und 1920 besonders bemerkbar machte, neben der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei die SPD: Sie wurde bei der Reichstagswahl 1920 fast halbiert, sank von 37,9 auf 21,7 Prozent, von 11,5 Millionen Wählern auf 6,1 Millionen. Ebenso wie es eine Rechtswendung gegeben hatte, gab es jetzt auch eine Linkswendung: Die USPD schnellte von 7,6 auf 17,9 Prozent empor, von 2,3 Millionen Wählern auf 5 Millionen, daneben blieb die dritte Linkspartei, die KPD, noch ganz marginal, mit knapp 600.000 Wählern und 2,1 Prozent. Das „Sündenregister“ der SPD im linken politischen Spektrum war ganz offenkundig: Keine Räte-Republik, keine Verstaatlichungen, dafür komplizierte Absprachen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Regierungspolitik gestützt auf den alten kaiserzeitlichen Apparat in Verwaltung, Justiz und Militär und verschärfend im Frühjahr 1920: Der Kapp-Putsch von rechts, der vermeintlich anzudeuten schien, dass die alten Kräfte in Deutschland mit der SPD sozusagen Schlitten fuhren. Die Teilung der Arbeiterbewegung in Sozialdemokraten, demokratisch, eher der Papierform nach noch marxistisch, und Kommunisten, der bolschewistischen Führung in Moskau und ihrer Dritten Internationale hörig, griff im Europa der Zwischenkriegszeit überall um sich, in Frankreich wie in Deutschland, so unterschiedlich die Situation beider Länder auch war und so verschieden ansonsten ihre parteipolitischen Systeme: Die französischen Radikalen, in der linken Mitte die bestimmende Partei, waren keine sozialistischen Radikalen, sondern laiizistisch-linksbürgerlich, in der

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französischen Revolutionstradition, eine starke Kraft, für die es auf deutscher Seite eigentlich kein Pendant gab. Drei Linksparteien, das war aber auf Dauer auch in Deutschland zu viel; es wurde hier schon gezeigt, dass der linke Flügel der USPD in der KPD aufging, dass er ihr durch seine Blutspendedienste vom Status der Sektierer- zum Status der Massenpartei verhalf. Fortan begann jene Zeit, in der die KPD auf sowjetisches Geheiß die SPD als „Sozialfaschisten“ denunzierte. Der rechte Flügel der USPD, dem die eigentlich führenden sozialdemokratischen deutschen Intellektuellen der Zeit überhaupt angehörten, vereinigte sich auf dem Nürnberger Parteitag 1922 wieder mit der alten Sozialdemokratie. In der Familie schien damit gewissermaßen alles wieder in Ordnung. Die führenden sozialdemokratischen Intellektuellen in Deutschland, das waren unter anderem Karl Kautsky, der Marx-Interpret schlechthin, ferner der aus Österreich stammende Arzt und Kapitalismustheoretiker Rudolf Hilferding, mehrfach Reichsfinanzminister und, obwohl von weit links kommend, Heinrich Brüning freundschaftlich nahestehend, sowie Rudolf Breitscheid, eine elegante Erscheinung, nach der Vereinigung Mitvorsitzender der Reichstagsfraktion und zugleich eine Art außenpolitischer Weggefährte Gustav Stresemanns. Zugleich aber kam es ideologisch in der SPD durch die Wiederverbindung mit den verloren gegangenen Unabhängigen zu einer programmatischen Linkswendung, manifestiert 1925 im Heidelberger Programm der Partei, dem letzten vor dem Godesberger Programm von 1959. Die SPD der Weimarer Zeit stand vor einem Grunddilemma. War Demokratie Inhalt, Zielvorstellung ihrer Politik, im sozialdemokratischen Sinne sozialpolitisch ausgekleidet und zugleich wirtschaftsdemokratisch fortentwickelt, etwa im Sinne späterer Mitbestimmungsforderungen? Oder war Demokratie „nur“ eine Art Transitorium auf dem Weg einer eigentlichen Teleologie der Partei, hin zu einem sozialistischen Endzustand mit Vergesellschaftungen, nach Klassenkämpfen durchgesetzt, mehr oder weniger den ursprünglichen Marxschen Fahrplänen gehorchend? In der Diktion doktrinärer Sozialisten innerhalb der Sozialdemokratie hieß dies: „Demokratie allein, das ist nicht viel, Sozialismus, das ist das Ziel.“ Die Zeit der Weimarer Republik war viel zu kurz, als dass sie der SPD hinreichend Gelegenheit geboten hätte, von marxistisch-revolutionären Drehbüchern abzurücken, die in den regierungsfernen Zeiten des Kaiserreiches liebevoll hatten gepflegt werden können. Zudem war die Partei auf Reichsebene während der eigentlich pragmatisch gestaltenden Jahre in der Opposition, vom Herbst 1923 bis zu ihrem letzten großen Erfolg, der Reichstagswahl vom 20. Mai 1928, die sie, mit 29,8 Prozent, wieder zu einer nahezu 30%-Partei im Reich machte. Die sich anschließende Regierung der Großen Koalition unter

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Hermann Müller war eigentlich gar keine echte Koalition: Die Parteien bzw. Fraktionen entsandten ihre Minister als sogenannte Fachleute in das Kabinett; verantwortliches parlamentarisches Regieren war immer noch nicht wirklich selbstverständlich in Deutschland. Auf der anderen Seite stand die über Jahre wirklich toughe Regierungspolitik der Partei in Preußen, das zum republikanischen Musterland werden sollte. Gegenüber dem Vorkriegsdeutschland hatten sich dabei die Verhältnisse umgekehrt: Vor 1914 hatte konstitutive Modernisierung in den süddeutschen Ländern stattgefunden, Preußen mit seinem Dreiklassenwahlrecht galt als Hort der Reaktion. In den süddeutschen Ländern hingegen war schon vor 1914 die Parlamentarisierung weit fortgeschritten, galten die Sozialdemokraten zunehmend nicht mehr als Reichsfeinde, sondern als parteipolitischer Wettbewerber, der, wenn die Lage danach war, sogar wie in Baden für den Haushalt stimmen konnte. Nun, in den zwanziger Jahren, hatte sich das zumindest im Bezug zwischen Preußen und Bayern umgedreht: Auch in seiner Konsolidierungsphase nach dem Hitler-Putsch-Jahr 1923 mit seinen die etablierten Kräfte in Bayern schwer kompromittierenden Umständen – war man nun bereit zum Marsch nach Berlin im Zeichen von „Antimarxismus“ und „Antisemitismus“? –, wurde in Bayern ein deutliches Stück rechts von den Verhältnissen in Preußen regiert, durch einen Bürgerpakt aus Bayerischer Volkspartei und bayerischen Deutschnationalen, dokumentiert wurde das durch eine viel konservativere Bildungs- und Kulturpolitik als nördlich des Mains. Das sozialdemokratisch geführte Preußen entwickelte Züge eines nicht sozialistischen, sondern verlässlich demokratisch-republikanischen Gemeinwesens. Bei den Landräten wurden die Monarchisten ausgesiebt, an die Ämter der Regierungspräsidenten und der Oberpräsidenten an der Spitze der Provinzen gelangte ein Kartell der in der Regel drei Regierungsparteien SPD, Zentrum und DDP. Nicht ohne Grund sprachen manche Kritiker hier schon von einer republikanischen Feudalversorgung. Die Polizei wurde republikanisiert, so gut es ging, das heißt: Noch gegen Ende der Republik handelte es sich bei rund der Hälfte der preußischen Polizeioffiziere um Reserve- oder Berufsoffiziere der alten Armee. Der langjährige Kultusminister Carl Heinrich Becker war parteiloser Orientalist, ein angesehener Wissenschaftler, der auf Leistung und Modernisierung, auch im Schulbereich, sah, nicht auf irgendeine parteipolitisch-dogmatische Politik. Ministerpräsident Otto Braun, der wenig Zugang zu seinem intellektuellen Vorzeigekultusminister hatte, war zugleich stolz darauf, dass ein sozialdemokratisch geführtes Land eine solche Kapazität im Kabinett aufwies. Und das Verhältnis zu den evangelischen Kirchen in Preußen mit ihrer

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national-monarchischen Vergangenheit war gespannt, ganz anders als in Bayern zwischen Regierung und katholischer Kirche. „Der überwiegend republikfeindlichen Orientierung des Protestantismus entsprach eine scharfe Frontstellung der SPD gegen die Landeskirchen und ihre ‚vielen wilden Pastören’, in denen man sozialdemokratischerseits, wie Kultusminister Becker einmal schrieb, die ‚Prätorianergarde der Monarchie‘ sah.“ 167 Am Ende war es zu wenig, und es war doch viel, was unter den schwierigen Bedingungen der Zeit in Preußen geleistet worden war: Die Leidensgeschichte der Weimarer SPD vom Ende der Großen Koalition Hermann Müllers im Frühjahr 1930 bis zum Sommer 1932 erinnert in manchem an die Leidensgeschichte der österreichischen Sozialisten von 1927 bis 1934: Verbal stark, faktisch schwach, immer mehr in die Defensive gedrängt, bis es am Ende zum verzweifelten Aufbegehren oder zu gar nichts mehr kommt. Auf österreichischer Seite war dieses Ende der Bürgerkrieg vom Februar 1934 mit dem schließlichen Triumph des Austrofaschismus. Auf deutscher Seite stehen zwei Ereignisse, die wenige Monate trennen: Die SPD sicherte die Wiederwahl des Reichspräsidenten Hindenburg, im zweiten Wahlgang am 10. April 1932 gegen den Kandidaten Adolf Hitler. Ihre Anhänger taten dies mit zusammengebissenen Zähnen aus proletarisch-preußischer Disziplin, die die Parteiführung ihnen in diesmal ganz ungewöhnlicher Form abverlangte. Und Hindenburg selbst sah sich durch diese Unterstützung kompromittiert, hatten seine Verhandler, General von Schleicher an erster Stelle, doch schon seit 1929 alles unternommen, um die Sozialdemokraten auf Reichsebene in die Isolierung zu treiben. Die sozialdemokratische Verzweiflungsunterstützung Hindenburgs Anfang 1932, eine Verzweiflungsunterstützung, um die Bedrohung Hitler zu besiegen, beförderte in einer leicht nachvollziehbaren Dialektik ihre eigene weitere Marginalisierung: Brüning, der Kanzler, der die Koalition hinter Hindenburg zusammengefügt hatte, wurde Ende Mai 1932 entlassen; sein Nachfolger Papen inszenierte mit Hilfe des Notverordnungsartikels 48 der Reichsverfassung den Staatsstreich gegen die preußische Regierung Braun am 20. Juli 1932, und Letztere sah sich weder gewillt noch in der Lage, Widerstand zu leisten, der über den Rechtsweg hinausging: Das Machtdreieck aus preußischer Polizei, gegebenenfalls in Berlin gegen die Reichswehr einzusetzen, Gewerkschaften und Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold rückte nicht zur Machtprobe aus. Man hat in den folgenden Jahrzehnten oft drehbuchartig durchgespielt, was wäre gewesen wenn, und vermutlich wäre faktisch wenig erreicht worden, aber Blut geflossen. Hinter der machtpolitischen Passivität standen auch stets Argumente 167 Schulze, Otto Braun S. 557.

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wie ein drohender polnischer Einfall in Ostpreußen und Schlesien, falls sich in Deutschland ein Bürgerkrieg anbahnte. Selbst wenn man dies alles in Rechnung stellt – die Sozialdemokratie der Weimarer Republik hatte mit Preußen 1932 ihre Machtposition schlechthin verloren, und um noch einmal die Parallele zu bemühen: Wie die Sozialdemokratie zwei Jahre später in Österreich, die die Hauptstadt Wien, kulturell, ökonomisch und machtpolitisch, zur sozialistischen Zitadelle ausgebaut hatte. Und doch wird man sagen können, dass damit noch nicht alles vorbei war: Papens böses Bubenstück mit dem Staatsstreich in Preußen brachte noch nicht das Dritte Reich; vielmehr brachte das zweite Halbjahr 1932 neue, überraschende Entwicklungen: Die NSDAP überschritt den Höhepunkt ihrer parteipolitischen Aufwärtsentwicklung, sie zeigte Zerfallserscheinungen, große Teile der SA meuterten, der sogenannte „Gewerkschaftsflügel“ um Gregor Strasser drängte in eine gestaltende Politik, im Hintergrund begannen sich die ökonomischen Vorzeichen wieder umzukehren, die Weltwirtschaftskrise hatte ihren Höhepunkt überschritten. In einer Art Verzweiflungsradikalisierung gegen die eigenen potentiellen bürgerlichen Bündnispartner hatte die NSDAP im Berliner Verkehrsstreik vom Herbst 1932 mit den Kommunisten gemeinsame Sache gemacht. Daraufhin verlor sie bei der zweiten Reichstagswahl des Jahres, am 6. November, über zwei Millionen Stimmen, gegenüber dem 31. Juli 1932 ein Rückgang von 13,8 Millionen auf 11,7 Millionen bzw. von 37,4 auf 33,1 Prozent, und die folgenden Kommunalwahlen in Thüringen zeigten, dass es mit der Partei weiter abwärts ging. Und umgekehrt glaubten nicht wenige Republikaner neue Hoffnung schöpfen zu können. Im Jahresrückblick der Neujahrsausgabe 1933 der Frankfurter Zeitung hieß es. „Der gewaltige nationalsozialistische Angriff auf den demokratischen Staat ist abgeschlagen …“ 168 Die Intrigengeschichte, mit der eine im Abstieg begriffene NSDAP doch noch an die Macht transportiert wurde, ist hier nicht zu berichten. Nach 1949 brauchte die SPD in Westdeutschland noch mehr als eineinhalb Jahrzehnte, um wieder auf Gesamtstaatsebene in die Regierungsverantwortung zu gelangen. Dort, wo sie schon zuvor zur Dominante wurde, in den Hansestädten, in Niedersachsen und Hessen, schließlich auch in Nordrhein-Westfalen, dankte sie dies einem Volkspartei-Ansatz der linken Mitte, der nichts mehr mit alten marxistischen Fahrplänen zu tun hatte. An erster Stelle aber stand Westberlin, wo sie im Zeichen des Kalten Krieges zur Partei des Westens schlechthin 168 Zit. nach Günther Gillessen: Auf verlorenem Posten. Die Frankfurter Zeitung im Dritten Reich, Berlin 1986, S. 86.

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avancierte, auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen in der zweiten Berlin-Krise von 1958–1962 mit Willy Brandt als verbürgerlicht-westlichem Aushängeschild, wohlgelitten im Weißen Haus, wenn es der Anlass erforderte in Smoking und Fliege, wider alle proletarischen Gepflogenheiten. Die historische Zäsur für die SPD kam somit, bei allen Kontinuitäten und evolutionären Entwicklungen nicht 1932/33 oder 1945/49, sondern gegen Ende der fünfziger Jahre in der alten Bundesrepublik, nach ihrer verheerenden Wahlniederlage bei der dritten Bundestagswahl 1957. Nun wurde programmatisch, strukturell und kulturell Ballast abgeworfen: der alte, aus Weimarer Zeiten stammende Parteiapparat wurde auf dem Stuttgarter Parteitag 1958 entmachtet, im Folgejahr das Godesberger Programm verabschiedet, welches sich als Inbegriff volksparteilicher Modernisierung werbewirksam präsentieren ließ, 1960 unternahm dann Herbert Wehner seinen großen Canossa-Gang im Bundestag und bekundete die Identifikation der Partei mit Westbindung und Landesverteidigung, und sodann wurde Willy Brandt zum Kanzlerkandidaten ausgerufen, der der Ära Adenauer ein Ende setzen sollte. Das gelang nicht in einem Schritt, aber über Zwischenschritte – die Umpolung der Zweiten Republik nahm insofern rund ein Jahrzehnt in Anspruch, vom Ende der fünfziger Jahre bis zur Bundestagswahl 1969.

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Der Begriff „Zivilisationsbruch“ hat sich in den letzten Jahrzehnten vor allem für jenes als singulär angesehene Verbrechen eingebürgert, das der Holocaust bzw. die Shoah darstellte, also für die Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland, so weit es ihrer habhaft werden konnte, vornehmlich in den Jahren 1941–1944 in einer Gesamtzahl von rund sechs Millionen Menschen. Auf einer weiteren Folie und damit zum Ersten Weltkrieg wie in seine Vorgeschichte zurückgehend, meint Zivilisationsbruch bzw. Zivilisationsbrüche aber noch etwas Weiteres, nämlich die Erscheinung von unerhörten Zäsuren im Umgang der Staaten, Gesellschaften und Individuen miteinander, mehr oder weniger vollständig losgelöst von bisherigen Verhaltensweisen, wie auch immer Letztere begründet sein mochten, moralisch, nach Gepflogenheiten, nach technischen Umständen und Möglichkeiten. Gibt es weltgeschichtlich eine auf Erfahrungen, auf konkrete Prozessabläufe und Ereignisketten, gestützte Skala für so etwas wie Zivilisationsbrüche, damit auch so etwas wie Analogiefälle für die europäischen Geschehnisse seit 1917? Einige Merkmale könnten auf das Zeitalter der Religionskonflikte im 16. und 17. Jahrhundert hindeuten, auf die wechselseitige, fundamentale Infragestellung als Christ und Antichrist, wie etwa Luther und das römisch-päpstliche Lager, so wenn Luther 1545 im biografischen Rückblick bilanzierte, er habe zu Beginn seiner Auseinandersetzung mit der angestammten Kirche noch nicht gesehen, „dass der Papst notwendigerweise aus dem Teufel ist. Denn was nicht aus Gott ist, muss vom Teufel sein.“ 169 Und da, anders bei den modernen Ideologien, die im 20 Jahrhundert wirkmächtig waren, im 16. und 17. Jahrhundert mit allem Ernst für das Seelenheil und die Transzendenz des Menschen gestritten wurde, könnte man sogar zu der Schlussfolgerung gelangen, die religiösen Fundamentalkonflikte am Beginn der Frühen Neuzeit seien noch sehr viel radikaler, tiefergehend gewesen als die ideologischen Auseinandersetzungen 500 Jahre später. Auf der anderen Seite steht hingegen die Erkenntnis, dass es im 16. und 17. Jahrhundert eben um eine sehr ernsthafte Auseinandersetzung um das Seelenheil der Menschen ging, das es aus Sicht der Zeitgenossen zu retten galt, nicht etwa um Kämpfe zur Vernichtung kollektiver Gruppen, Klassen, 169 Zit. nach Heinz Schilling: Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Eine Biografie, München 2012, S. 174.

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Nationen, oder auch „Rassen“. Die Religionskriege selbst wurden daher auch nicht a priori als Vernichtungskriege geführt, sie erfuhren allerdings in Dimension und Grausamkeit eine für die herkömmlichen historischen Erfahrungen unerhörte Eskalation. Aber diese war einmal in der ökonomischen und technischen Mühsal der Kriegführung am Beginn der Frühen Neuzeit begründet – der Krieg musste sich selbst ernähren und finanzieren, die Söldner mussten verköstigt und besoldet werden, das ging am leichtesten, wenn man großflächig Landstriche ausplünderte. Zum anderen gab es naturgemäß durch den konfessionellen Antagonismus ein normatives Gegeneinander der Kriegsparteien, anders als etwa im Hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich 200 Jahre zuvor, als es allein um Lehen, Erbansprüche und feudale Legitimationsfragen ging. Aber von einem systematischen Vernichtungsgedanken wird man schwerlich sprechen können, und insofern bleibt das 20. Jahrhundert ein bisheriges historisches Unikat. Zuvor aber stand der Erste Weltkrieg – und er kreierte die Formel vom „totalen Krieg“. Ausgangspunkt war die Erfahrung einer gesamtgesellschaftlichen Kriegsanstrengung zu Zwecken, die weit über herkömmliche Kriegszwecke, etwa in den Zeiten der Kabinettsdiplomatie, hinausgingen: Also den Gewinn oder Verlust zumeist peripherer Provinzen, die Modifikation von Bündnissystemen und ein gewandeltes Ranking in der Tabelle der Mächte. Am berühmtesten wurde schließlich die Formel Ludendorffs: „Das Wesen des Krieges hat sich geändert, das Wesen der Politik hat sich geändert, so muss sich auch das Verhältnis der Politik zur Kriegführung ändern. Alle Theorien von Clausewitz sind über den Haufen zu werfen. Krieg und Politik dienen der Lebenserhaltung des Volkes, der Krieg aber ist die höchste Äußerung des völkischen Lebenswillens. Darum hat die Politik der Kriegführung zu dienen.“ 170 Der „totale Krieg“ erscheint hier somit nicht in erster Linie als quantitative und qualitative Steigerung des Kriegsgeschehens, unter Einbezug des Hinterlandes, der ökonomischen Reserven eines Landes, seines psychologischen Durchhaltevermögens und der Notwendigkeit einer Gesamtplanung, die über das operative Geschehen hinausgeht, also über die herkömmlichen Sandkastenspiele von Generalstäblern. Ludendorff postulierte vielmehr etwas anderes: Er ging von einem Geschichtsbild aus, in dem der Frieden die Ausnahme und der Krieg der Normalfall ist, etwa wie bei einem Boxkampf, bei dem die Kontrahenten nach jeweils drei Minuten Schlagabtausch 170 Zit. nach Wilhelm von Schramm: Clausewitz. Leben und Werk, Eßlingen 1976, S. 565 f., vgl. auch Erich Ludendorff: Der totale Krieg, München 1935.Tendenziell schon bei Erich Ludendorff: Meine Kriegserinnerungen 1914–1918, Berlin 1919, S.5f.

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während einer Runde sich für exakt eine Minute regenerieren können, zugleich aber auch wissen, dass diese Minute keinen Ruhezustand bedeutet, sondern eine kurze Erholungsphase, um für das weitere Faustgefecht wieder einigermaßen erholt zu sein. Diese Anschauung lag quer zu den historischen Erfahrungen Europas seit der Frühen Neuzeit: Dabei war es immer darum gegangen, gegen Ende großer und umfassender Konflikte Friedensordnungen zu stiften, die bei allen Parteien soviel Akzeptanz fanden, dass, soweit voraussehbar, ein neuer Konflikt nicht förmlich determiniert war, nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, nach dem Ende des Spanischen Erbfolgekrieges wie nach dem Ende der Napoleonischen Kriege durch den Wiener Kongress. Mehr noch: Die Staatsmänner, die nach den Schlachten verhandelten, etwa in Wien 1814/15, waren in ihrer Lebenskultur eher zivil. Metternich und Talleyrand, Lebemännern, die Gewalt verabscheuten, hat man geradezu etwas Pazifistisches attestiert.171 Anders freilich auf der Seite der Siegermächte nach dem Ersten Weltkrieg: Auch hier war der Gedanke der Optimierung für den nächsten Waffengang bzw. der militärischen Sicherung im ganz unmittelbaren technischen Sinne – Besatzungszonen, Reichweiten von Waffensystemen, Vergleich der militärischen Potenziale – gegenüber Gedanken der Friedensaushandlung auf prekäre Weise bestimmend. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass dies auf französischer Seite auch als ganz unvermeidbar erschien, angesichts der im Ersten Weltkrieg zu Tage getretenen jeweiligen Potenziale, ergibt sich so doch, gewissermaßen über die Front hinweg, ein Anknüpfungspunkt zu Ludendorffschen Bildern und Denkweisen: Denn Ludendorffs operatives Handeln während der zweiten Hälfte des Ersten Weltkrieges diente nicht nur unmittelbar militärischen Zwecken; der Sieg sollte vielmehr am Ende militärisch erzwungen werden, nicht um politisch zu überleben, sondern um politisch in die hegemoniale Vormacht und in eine Situation zu kommen, in der ein künftiger, unweigerlich bevorstehender weiterer Krieg aus günstigeren Lagen heraus begonnen werden könne als es 1914 der Fall gewesen war. Entsprechend positionierten sich die deutschen Spitzenmilitärs dem Kaiser gegenüber am 7. Januar 1918, als es galt, nach dem Zusammenbruch Russlands durch eine Schlussoffensive im Westen zum Siegfrieden zu kommen: „Um uns die politische und wirtschaftliche Weltstellung zu

171 Vgl. Wolfram Siemannn: Metternich. Staatsmann zwischen Restauration und Moderne, München 2010, S.52ff.

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sichern, derer wir bedürfen, müssen wir die Westmächte schlagen. Dazu haben Eure Majestät die Angriffsschlacht im Westen befohlen.“ 172 Ludendorff hatte mit der Formel vom „totalen Krieg“ Carl von Clausewitz und dessen Denkfigur vom Primat der Politik unbedingt in Frage stellen wollen: „Wir sagen dagegen: der Krieg ist nichts als eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel.“ 173 Für Ludendorff, der sich zugute hielt, sich im Krieg an Politikern und hohen Verwaltungsbeamten wie den kaiserlichen Staatssekretären sozusagen aufgerieben zu haben, war der Primat der Politik unerträglich, denn Politik hieß Ausgleich, Kompromiss, Nichtakzeptanz militärischer Forderungen, wenn diese mit der Vielfalt der innen- und außenpolitischen Bedingungen nicht in Übereinklang zu bringen waren, was die Militärs schon beim Hilfsdienstgesetz 1916 schmerzlich hatten erfahren müssen. Von solchen Erfahrungen geprägt, sah sich Ludendorff in seiner Betrachtung nach dem Ersten Weltkrieg veranlasst, das System der Politik, ihren Primat – warum überhaupt ein Konflikt mit wem und mit welchen Mitteln – radikal in Frage zu stellen, ohne dabei zu bedenken, dass Politik sich nicht einfach verbannen lässt: Selbst der triumphierende Militär, der nur von Krieg zu Krieg eilt, macht, ob er sich das selbst eingestehen mag oder nicht, Politik, nämlich eine friedlos-bellizistische. Weiter hatte Ludendorff Clausewitz, da angeblich politikhörig, sozusagen ins Abseits stellen wollen. In einem war Clausewitz schon seit längerem für die preußischen Generalstäbler eher eine Ikone, ohne dass sie sich dessen Denkkategorien und Prämissen wirklich zu eigen machten: Die empirischen Erfahrungen Clausewitz’ gründeten in den Konflikten des napoleonischen Zeitalters, an erster Stelle dem zum Fiasko gewordenen Feldzug gegen Russland 1812, bei dem er als Berater auf der russischen Seite beteiligt war.174 Clausewitz’ Denken war nicht zuletzt, obwohl er nicht dessen unmittelbarer Schüler gewesen war, durch die Kategorien Kants geprägt, und vor diesem Hintergrund muss man auch seine Denkfigur des absoluten Krieges sehen. Clausewitz’ absoluter Krieg ist vom totalen Krieg à la Ludendorff streng getrennt zu sehen: Ludendorff strebte im Grunde, ganz autokratisch, eine Art Gesamtkompetenz für Staat und Gesellschaft an, um sie einem bellizistischen Leitbild zu unterwerfen. Clausewitz ging davon aus, dass auch der härteste Krieg 172 Schreiben des Chefs des Generalstabes des Feldheeres an den Kaiser am 7.1.1918, abgedruckt in: Das Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages 1918–1928. Die Ursachen des deutschen Zusammenbruches im Jahr 1918, Bd. II, Berlin 1928, Dokument Nr. 1, S. 123–125, hier S 124f. 173 Carl von Clausewitz: Vom Kriege, Ausgabe Frankfurt/Main, Leipzig 2005, S. 425. 174 Vgl. Carl von Clausewitz: Der russische Feldzug von 1812, Nachdruck, Stuttgart o. J.

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nicht einfach ein militärischer Selbstläufer ist, sondern Instrument in einer a priori politischen Auseinandersetzung, das heißt einer Auseinandersetzung zwischen Monarchen, Staaten und Gesellschaften um bestimmte Interessen und Absichten. Vor diesem Hintergrund ist der „absolute Krieg“ als Denkfigur, Denkfigur nach den Erfahrungen des napoleonischen Zeitalters mit ihren bis dahin unbekannten militärischen Kraftanstrengungen, eine förmlich idealtypische Steigerung des militärischen Geschehens innerhalb eines nach wie vor geltenden politischen Bedingungsgefüges. Im absoluten Krieg treten insofern pragmatische, einschränkende Momente zurück, etwa Kostengesichtspunkte, und die militärische Anstrengung gewinnt eine außerordentliche Dimension, aber eben nicht als Selbstzweck. Dabei wird der „absolute Krieg“ dann auch zu einer abstrakten Denkfigur im durchaus kantianischem Sinne, ein analytisches Hilfsmittel, dem die Realitäten des politisch-militärischen Geschehens kaum entsprechen können: „… es ist ihre Pflicht (der Theorie, P. M.), die absolute Gestalt des Krieges obenan zu stellen und sie als einen allgemeinen Richtpunkt zu brauchen; damit Derjenige, der aus der Theorie Etwas lernen will, sich gewöhne, sie nie aus den Augen zu verlieren….“ 175 Vermutlich hat Ludendorff die Prämissen Clausewitzschen Denkens, militärischer Technokrat und Pragmatiker, der er war, nie wirklich durchdacht, sonst hätten sich ihm unweigerlich die Widersprüchlichkeiten des eigenen Denkens erschließen müssen. Mit seinem intellektuell eher vulgären Bild vom totalen Krieg arbeitete er jedenfalls unbestreitbar auch den Nationalsozialisten in die Hände: Denn auch diese gingen ja, nochmals ins Extrem gesteigert, von einem prinzipiellen Unfrieden der Staaten, Gesellschaften (und Rassen) aus, wollten diesem Grundsatz im Prinzip jegliche Politik unterwerfen und brachen dabei zugleich mit einem Essential bisheriger preußisch-deutscher Entwicklung: Nämlich mit der Autonomie des Militärs gegenüber dem Zivil und dem exklusiven Oberbefehl des Staatsoberhauptes. Für die Nationalsozialisten war das Militär zwar rhetorisch gehätschelter Partner, zugleich von den Aufrüstungsmaßnahmen ab 1933/34 profitierend. Aber intern sollte es vom Subjekt zum Objekt degradiert werden, zum bloßen Gehilfen einer ideologisch bestimmten expansionistischen Politik, ohne seine eigene Raison geltend machen zu können. Dieser Prozess einer Gleichschaltung des Militärs vollzog sich freilich nur in Schüben; zunächst schien es der übermächtige Partner des neuen Regimes zu sein. Durch die Willfährigkeit, mit der sich die Reichswehr beim sogenannten „Röhm-Putsch“ vom 30.Juni 1934 in den Dienst Hitlers und Himmlers stellte und wenige Wochen später 175 Clausewitz, Vom Kriege, S. 382.

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Hitler als neues Reichsoberhaupt und damit als neuen Oberkommandierenden selbst mit in den Sattel hob, schlug sie selbst erste wichtige Breschen in die Zitatelle ihres traditionellen Sonderstatus. Der Weg ging dann weiter über die Fritsch-Krise von Anfang 1938, die Abhalfterung des konservativen Oberkommandierenden des Heeres Werner von Fritsch, mittels des unzutreffenden Vorwurfs der Homosexualität. Im Ergebnis dieser Krise schuf sich Hitler das ihm willfährige Oberkommando der Wehrmacht. Schließlich die Maßnahmen des Regimes nach dem 20. Juli 1944, darunter die Betrauung des, im dienstlichen Sinne Zivilisten Himmler mit dem Befehl über das Ersatzheer. Jenseits dieses Weges, bei dem Ludendorff somit eine bestimmte Rolle gespielt hatte, ist der totale Krieg zunächst als die Erfahrung eines Kriegsgeschehens zu sehen, das quantitativ und qualitativ völlig neue Dimensionen erreichte, auf die sich fortan Staaten, Gesellschaften und Militärapparate einzustellen hatten. Ohne dass in aller Regel ausdrücklich vom totalen Krieg gesprochen wurde, konzentrierten sich doch in der Reichswehrführung der Weimarer Republik die Überlegungen immer wieder auf die Frage, wie für einen künftigen Krieg eine gesamtgesellschaftliche Mobilisierung organisiert und durchgehalten werden könne. Der Erste Weltkrieg als großer Lehrmeister schien hinreichend die Einsicht vermittelt zu haben, dass operative Pläne für eine Landkriegsführung im Sinne des Schlieffen-Planes kein ausreichendes Instrument des Erfolges mehr sein könnten. Nötig seien vielmehr die Einbeziehung der zivilen Verwaltungsapparate, die wirtschaftliche Mobilmachung, das heißt die frühzeitige Indienstnahme von Rohstoffvorräten, Rohstoffzufuhren und Rüstungsproduktionen, und schließlich eine psychologische Mobilmachung, die nicht zuletzt die Arbeiterklasse umfassen müsse. Gerade vor letzterem Hintergrund gab es nach dem Ausscheiden Seeckts als Chef der Heeresleitung 1926 und bis zum Beginn der Präsidialkabinette 1930 auch ein, wenn auch zögerliches Aufeinanderzugehen von Reichswehr und SPD. Seinen politischen Niederschlag fand es in der Großen Koalition Hermann Müllers 1928–1930; die SPD ihrerseits hatte auf ihrem Magdeburger Parteitag 1929 ein „Wehrprogramm“ verabschiedet. In ihm wurde zwar auch, gewissermaßen als ideologische Flankensicherung, die reine Lehre des Pazifismus beschworen, sodann aber eindeutig die Bereitschaft zur Landesverteidigung, im Sinne eines sozusagen militanten Republikanismus, festgehalten. Gewiss blieben all diese Überlegungen und Sondierungen vielfach reine Theorie, nicht nur weil immer wieder konkrete Vorfälle das Verhältnis zwischen Reichswehr und republikanischen Kräften belasteten: Der spektakulärste war die Rede von Philipp Scheidemann 1926 im Reichstag, in der er, nach der Enttarnung einer Lieferung von 300.000 Artilleriegranaten aus der

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Sowjetunion über den Hafen Stettin an die Reichswehr, deren geheime Zusammenarbeit mit der Roten Armee publik machte. Das Zweite waren natürlich die durch den Versailler Vertrag auferlegten Rüstungsbeschränkungen. Mittels milizartiger Landesverteidigungsorganisationen in Ostdeutschland, mittels der Einplanung des rechtsradikalen Veteranenverbandes „Der Stahlhelm“ in die heimlichen Mobilisierungsvorbereitungen der Reichswehr, gegebenenfalls auch des sehr viel kopfstärkeren demokratischen Reichsbanners, schließlich mittels geheimer Waffenvorräte konnten diese Bestimmungen zwar partiell umgangen werden. Gleichwohl blieb es bei dem im Ergebnis erstaunlichen Bild, dass es mit Deutschland mitten in Europa eine Großmacht gab, die militärisch weitestgehend abgerüstet war. Alle Planspiele von Reichswehr-Generalstäblern für eine Gesamtkriegsführung als Lehre des Ersten Weltkrieges blieben somit jedenfalls zunächst abstrakte Konstrukte. Für die Militärs kam aber ein Weiteres hinzu: Wenn man für die Zukunft von einer Gesamtkriegführung ausging, bei der es auf die Leistungsfähigkeit der Fabriken und die Zuverlässigkeit der Arbeiter genauso ankam wie auf die Leistungsfähigkeit der Infanteristen, dann war durchaus nicht zwingend ausgemacht, dass die „Kompetenzkompetenz“ für eine derartige Gesamtkriegführung bei den professionellen Militärs liegen musste, denn sie repräsentierten dann ja auch nur einen Teil der gesamten Aufgabenstellung. Es ging damit um „den Kern der militärischen Tradition, nach der es die besondere und ausschließlich dem Soldaten übertragene Aufgabe war, den Staat gegen Gefahren von außen zu schützen. Zwang aber der moderne Krieg dazu, die gesamten materiellen, personellen und moralischen Ressourcen der Nation zu mobilisieren und der Kriegführung dienstbar zu machen, (…) so musste sich mit dem Prestigeverlust die bittere Erkenntnis verbinden, dass das Militär nur noch eine unter mehreren, für die Kriegführung unentbehrlichen Organisationen des Staates war.“ 176 Der Weg in den totalen Krieg war dabei durchaus nicht zwingend. Das Weitere hing dann von den Zielen der Staatsführung ab, von den Instrumenten, die sie für politisch, ökonomisch und moralisch zulässig hielt, und von den Bewertungen, zu denen sie gelangte; unter demokratisch-moderaten Bedingungen war auch möglich, dass eine Staatsführung vor allem die Belastungen und Risiken einer derart umfassenden Kriegführung sah und eine derartige Praxis allenfalls für den Fall akzeptierte, dass eine defensiv-existenzielle Lage gegeben war, wie sie etwa Großbritannien 176 Wilhelm Deist: Die Aufrüstung der Wehrmacht in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. I: Ursachen und Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik, hrsg. vom Miltärgeschichtlichen Forschungsamt, Stuttgart 1979, S. 371–532, hier S. 376.

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unter Führung Winston Churchills 1940 als gegeben betrachtete und sich in jeder Weise gegen NS-Deutschland zur Wehr setzte. Auf der militärisch fachlichen Seite war die Zwischenkriegszeit in Europa eine Phase, in der die militärischen Apparate die Ausweitung des Kriegsgeschehens in einem künftigen Konflikt planten: die Dimension des Luftkrieges und verschärft des strategischen Bombenkrieges, nach dessen Anfängen während des Ersten Weltkrieges, die eher psychologisch als materiell von Bedeutung gewesen waren. Die Mobilisierung des gesamten Bevölkerungspotenzials bis an die Grenzen, die die Demographie zog – auch hier hatte der Erste Weltkrieg die entscheidenden Vorgaben gemacht: In ihm dienten 12 Millionen Deutsche in Uniform, nachdem man 1914 „nur“ einen Gesamtmobilmachungsstand von 3,5 Millionen erreicht hatte, bei einem Feldheer von 2,1 Millionen Mann. Schon diese Zahlen zeigen, wie die personelle Eskalation erst während des Krieges voranschritt. Im Zweiten Weltkrieg wurden dann 17 Millionen Deutsche, allerdings in „Großdeutschland“, eingezogen, obwohl die einzelnen Jahrgangsstärken entsprechend dem demographischen Trend bereits sehr viel schwächer waren als in den Jahren des Ersten Weltkrieges. Man muss es auch so formulieren: Dieser exzessive Mobilisierungsgrad war nur erreichbar, weil für die landwirtschaftliche und zumal für die industrielle Produktion auf ein Millionenheer an Kriegsgefangenen und an die 10 Millionen Zwangsarbeitern177 zurückgegriffen wurde, gegen Ende des Krieges mit einer buchstäblichen mörderischen Steigerung – „Vernichtung durch Arbeit“ insbesondere zur Schaffung der sogenannten Wunderwaffen. Diese totalitäre Dimension war allerdings zu Zeiten des Ersten Weltkrieges noch keineswegs absehbar gewesen.178 Es gibt freilich noch eine weitere Dimension des totalen Krieges, die bereits lange vor dem Ersten Weltkrieg auftrat und die ihren Ausgang vom Konflikt eigentlich demokratischer Staatswesen gegeneinander nahm. Einige der Generale der am Ende siegreichen Nordstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg hielten sich ein Jahrfünft später als buchstäbliche Schlachtenbummler im preußisch-deutschen Hauptquartier während des deutsch-französischen Krieges auf, machten ihre Beobachtungen, gaben ihre Kommentare bzw. ihre 177 Im Vergleich wird doch erkennbar, dass quantitativ und qualitativ das Phänomen Zwangsarbeiter im Ersten Weltkrieg gegenüber dem Zweiten Weltkrieg obwohl gegeben, marginal erscheint, vgl. Christian Westerhoff: Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg. Deutsche Arbeitskräftepolitik im besetzten Polen und Litauen, Paderborn u. a. 2012. 178 Zu den militärischen Debatten der Zwischenkriegszeit, über die Radikalisierung des künftigen Krieges Stig Förster (Hrsg.): An der Schwelle zum totalen Krieg. Die militärische Debatte über den Krieg der Zukunft 1919–1939, Paderborn, u. a. 2002.

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mehr oder weniger unerbetenen Ratschläge. Aus allen Kriegen vor dem Ersten Weltkrieg ragt der amerikanische Bürgerkrieg wie ein Unikat hervor. Dies weniger, weil es sich nicht um einen internationalen Konflikt gehandelt hatte, sondern wegen der Modernität und der Dimension dieser Auseinandersetzung. Beide Seiten trieben den Konflikt bis zur Entscheidung, das heißt dauerhafte Teilung der dann ehemaligen Vereinigten Staaten von Amerika oder erzwungene Rückkehr der konföderierten Südstaaten in den Schoß der Gesamtunion. Beide trugen nicht einen beliebigen machtpolitischen Konflikt gegeneinander aus, sondern es ging um wesentliche normative Fragen, um den Staatscharakter der Vereinigten Staaten – ein Staatenbündnis, das man verlassen konnte oder ein auf Dauer gegründeter Nationalstaat –, um das Leben und Überleben unterschiedlicher Gesellschaftssysteme, um den Antagonismus von Industrie und feudaler Agrarwelt, um Freihandels- oder Zollpolitik und naturgemäß wesentlich, aber keineswegs nur, um die Frage der Sklaverei. Der Süden betrachtete den Krieg als Existenzkampf und mobilisierte gewissermaßen über die Grenzen hinaus, insgesamt 900.000 Mann bei einer Bevölkerung von sechs Millionen Weißen in den Südstaaten; die Nordstaaten mobilisierten während des vierjährigen Krieges mehr als zwei Millionen Mann. Vor allem aber ging es weniger um einzelne Feldzugspläne und Schlachten. In der im Nachhinein als entscheidend stilisierten Schlacht bei Gettysburg Anfang Juli 1863 betrug die Zahl der Kämpfenden weniger als ein Drittel als drei Jahre später bei der Schlacht von Königgrätz zwischen Preußen und Österreichern. Das Entscheidende dieses Krieges war vielmehr seine flächenmäßige Ausdehnung, von der amerikanischen Ostküste bis zum Mississippi und teilweise, wie nach Texas, sogar noch weiter darüber hinaus, mit sehr getrennten Kampfregionen, dazu kam die Bedeutung von Dimensionen wie industrielle Kapazität, Telegraf und Eisenbahn, Geostrategie und psychisches Durchhaltevermögen. Insofern war dieser Krieg sehr viel moderner, weil auf das weitere 20. Jahrhundert hinweisend, als der letzte klassische Großmächtekonflikt, der dem Ersten Weltkrieg vorausging, der Russisch-Japanische Krieg von 1904/05. Die Opferzahlen des amerikanischen Bürgerkrieges lagen weit über denen der Bismarckschen Einigungskriege: im deutsch-französischen Krieg auf beiden Seiten zusammen gut 150.000 Tote, im amerikanischen Bürgerkrieg über 700.000, eine Verlustzahl, die selbst noch weit über den Verlustzahlen der USA in beiden Weltkriegen liegt. Nun zurück zum deutsch-französischen Krieg. Er zerfiel in zwei Teile, der erste wies noch Züge des 18. Jahrhunderts auf, der zweite bereits Züge des 20. Jahrhunderts und damit auch des Amerikanischen Bürgerkrieges. Die Zäsur war die Schlacht bei Sedan am 2. September 1870, bei der die letzte, auf freiem

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Feld operierende französische Armee umzingelt, zur Kapitulation gezwungen und in Gefangenschaft abgeführt wurde. Nach allen Regeln europäischer Kriegführung war damit die Sache entschieden; Napoleon III. hatte sich selbst in Sedan aufgehalten und ergeben. Aber jetzt begann der Krieg erst wirklich. In Frankreich kam es zum Staatsstreich, die Republik wurde ausgerufen, die neue republikanische Führung unter Leon Gambetta lehnte jede Gebietsabtretung ab und mobilisierte im Laufe der nächsten Monate mehr als zwei Millionen Milizsoldaten, um das belagerte Paris frei zu kämpfen und Frankreich von der, aus dieser Perspektive, deutschen Invasion zu befreien. Ähnlich wie im amerikanischen Bürgerkrieg gab es jetzt keine großen, vermeintlich entscheidenden Schlachten mehr, sondern vielerlei Bewegungen über große Distanzen, und vor allem kam es jetzt auf die Standfestigkeit des französischen Hinterlandes an. Die preußische Armee war auf einen derartigen Krieg nicht vorbereitet, obwohl das napoleonische Zeitalter, man denke nur an die Kämpfe in Spanien gegen die französischen Truppen, bereits Ähnliches gekannt hatte. Dazu ging es um die Frage, wie mit der Bedrohung der rückwärtigen Linien umzugehen sei und wie mit Zivilbevölkerung, die sich an den Kämpfen beteiligte. All das war im preußischen Militärhandbuch nicht vorgesehen. General Sheridan, Veteran des amerikanischen Bürgerkrieges, wusste freilich um ein Rezept, das er den preußischen Militärs nahezubringen suchte: „Die richtige Strategie (…) besteht erstens darin, dass man dem Feinde tüchtig Schläge beizubringen sucht, soweit er aus Soldaten besteht, dann aber darin, dass man den Bewohnern des Landes so viele Leiden zugefügt, dass sie sich nach dem Frieden sehnen und bei ihrer Regierung darauf dringen. Es muss den Leuten nichts bleiben als die Augen, um den Krieg zu beweinen.“ 179 Sheridan, wie sein Kollege Sherman, sprach dabei durchaus aus militärisch erfolgreicher Erfahrung: Mit solchen Maßnahmen hatten beide 1864 der Konföderation in ihrem Hinterland das Rückgrat gebrochen. Sheridan hatte systematisch das Shenandoahtal, die Kornkammer der Südstaaten, in eine Wüste verwandelt: „Das gesamte, über 90 Meilen lange Tal wurde so gründlich verwüstet, dass es für lange Zeit niemand ernähren konnte. Bei diesen Aktionen wurde nicht mehr zwischen Rebellen und Unterstützern der Union unterschieden, denn die Vorräte sollten unter keinen Umständen dem Süden zugute kommen.“ 180 In der Größenordnung um noch vieles verheerender war General Shermans Zug im Herbst 1864 von der eroberten 179 Zit. nach Otto Pflanze: Bismarck. Der Reichsgründer, München 1997, S. 486. 180 Norbert Finzsch: Konsolidierung und Dissens. Nordamerika von 1800–1865, Münster 2005, S. 720 f.

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Hauptstadt Georgias, Atlanta, zum Atlantik. Ein breiter Streifen Landes wurde vorsätzlich verwüstet, zugleich, da militärisch bereits weitgehend gefahrlos, „ein Jux, ein munteres Fest“ .181 Es dürfte das erste Mal in der neueren westlichen Kriegsgeschichte gewesen sein, dass das Prinzip „Verbrannte Erde“ umfassend praktiziert wurde und dies von einer politischen Führung mitgetragen, die an sich für die europäischen Ideen der Aufklärung und der bürgerlichen Prosperität stand. Die preußische Kriegführung hat jedenfalls, bei allen Härten gegenüber sogenannten Franktireurs 1870/71, von derartigen Praktiken Abstand gehalten, mehr noch: Man hat im preußischen Hauptquartier mehrfach stolz darauf hingewiesen, dass nach der Eroberung einer französischen Stadt durch die deutschen Streitkräfte nach relativ geringem Zeitverzug das normale ökonomische und bürgerliche Leben wieder in Gang kam bzw. weitergeführt wurde. Und die große infrastrukturelle Zerstörungsmaßnahme, die von deutscher Seite an der Westfront während des Ersten Weltkrieges praktiziert wurde, die Zerstörung des Vorlandes für die Siegfriedlinie, die Anfang 1917 nach einem strategischen Rückzug bezogen wurde, ließ sich, bei allen Härten und Brutalitäten, bis hin zu Sprengfallen, im Einzelnen in der Größenordnung keinesfalls mit den Maßnahmen der Nordstaaten 1864 im Süden des eigenen Landes vergleichen. Der vergleichende Blick richtet sich dann schon eher auf das Geschehen unter deutscher Verantwortlichkeit während des Zweiten Weltkrieges in Russland. „Totaler Krieg“ bedeutet, wie hier gezeigt wurde, ein ganzes Bündel an Annahmen und Schlussfolgerungen im Reflex der europäischen Gesellschaften wie insbesondere ihrer professionellen Militärapparate, bezogen auf den Ersten Weltkrieg. Das „Zeitalter der Ideologien“ steht aber noch für einen ganz anderen Komplex sui generis. Der größte Teil der vielen Millionen mobilisierten europäischen Bauern, Arbeiter, Handwerker und Akademiker fand nach 1918 wieder in das etablierte Zivilleben zurück, naturgemäß eher und leichter auf der Sieger- als auf der Verliererseite. Aber es blieb ein stattlicher Rest, der das nicht wollte oder konnte. Auch hier ergibt sich bereits eine erstaunliche Parallele zur Nachgeschichte des amerikanischen Bürgerkrieges: Die cineastisch über Hunderte von Malen auf die Leinwand gebrachten Revolverhelden des Wilden Westens rekrutierten sich in großer Zahl aus ehemaligen Südstaatensoldaten, die eher nicht 181 James M. McPherson: Für die Freiheit sterben. Geschichte des amerikanischen Bürgerkrieges, München 1988, S. 797.

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der pseudoaristokratischen Plantagen-Oberschicht entstammten. Nach vier Jahren Krieg, vier Jahre amerikanischer Bürgerkrieg hier, wie vier Jahre Erster Weltkrieg in Europa für dessen Veteranen, hatten sie die ökonomischen Reste ihrer bürgerlichen Existenz verloren, vielfach waren Felder und Farmen dank der Verbrannte-Erde-Politik der Nordstaaten in der Schlussphase des Krieges ruiniert, dazu hatten sie wie die Brüder Frank und Jesse James innerlich eine gewalttätige Condottieri-Haltung angenommen. Nach dem Ersten Weltkrieg kam freilich noch bei den Unterlegenen, bzw. bei denen, die sich als solche fühlten, wie namentlich in Italien, der Prozess der politischen Radikalisierung hinzu. Die Suche nach der einen tragenden Erklärung für das frustrierende Gesamtgeschehen wie für eine mögliche durchgreifende Besserung amalgamierte mit einem Verschwörungsdenken, das seit der Endphase des Krieges immer mehr Aufschwung erhielt. Und es kam hinzu, dass jene Tausende, die sich in Deutschland, in Italien, in Österreich oder in Ungarn derlei Bildern und Imaginationen hingaben, die disziplinierende Wirkung beruflicher oder wirklich profiliert akademischer Tätigkeit nie kennengelernt hatten und sie nun eher scheuten: Selbst die führenden Intellektuellen des rechts positionierten Lagers in Deutschland hatten selten ein Studium zu Ende gebracht, glaubten sich, teils zu Recht, teils zu Unrecht, auch so in der Lage, am belletristischen wie am publizistischen Markt zu reüssieren, Moeller van den Bruck etwa, der Schöpfer der Formel des „Dritten Reiches“, nicht zuletzt Ernst Jünger. Und auch von einer Figur, die er zutiefst verachtete, vom späteren Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, wird man ziemlich eindeutig sagen können, dass sein von der eigenen Partei immer stets mit großer Genugtuung hervorgehobener Doktorgrad nicht eben mit einer substantiellen wissenschaftlichen Leistung korrelierte. 182 Eine andere Figur, an der sich die Brüche der Zeit fast idealtypisch zeigen lassen, ist die des ursprünglichen sächsischen Marineoffiziers Manfred von Killinger.183 Killinger gehörte zu jenen, für die beim Neuaufbau der Reichswehr kein Platz war, ähnlich wie für seinen späteren Vorgesetzten an der Spitze der SA, Ernst Röhm. Die Reichswehr bevorzugte bei ihrem Neuaufbau nicht den Typus des adrenalingestärkten Landsknechtsführers in Uniform, sondern den des disziplinierten Stabsoffiziers. Killinger ging somit den Weg, der für viele ehemalige Berufsoffiziere der unteren Dienstränge übrigblieb, sofern sie nicht bei den Landespolizeien Unterschlupf fanden: Killinger verdingte sich in den Freikorps 182 Vgl. Peter Longerich: Goebbels. Biographie, München 2010, S. 38. 183 Vgl. Bert Wawrzinek: Manfred von Killinger 1886–1944. Ein politischer Soldat zwischen Freikorps und Auswärtigen Amt, Preußisch Oldendorf 2003.

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und in der Brigade Ehrhardt, kämpfte gegen die Münchener Räterepublik, war beim Kapp-Putsch 1920 dabei wie bei den deutsch-polnischen Kämpfen um Oberschlesien. Es gab eigentlich kein Unternehmen gegen Siegermächte wie vor allem im Inneren, an dem Killinger nicht in nahezu klassischer Weise mitwirkte. In der Organisation Consul (OC) war er eine Art Führungsoffizier für die beiden Mörder von Matthias Erzberger, Schulz und Tillessen; ein besonderes Abenteuer schließlich gelang Killinger, als er 1919 persönlich mit einem Schoner von Emden aus Waffen an die Aufständischen im Irischen Bürgerkrieg gegen die britische Herrschaft überführte – 3500 Gewehre und 800.000 Schuss Munition –, dafür 7000 Britische Pfund erlöste und mit diesen denkbar wertvollen Devisen die Untergrundarbeit der Organisation Consul für ein Jahr finanzieren konnte. Killinger war kein Nationalsozialist der ersten Stunde, der Stallgeruch des engsten Umfeldes ging ihm zeitlebens ab. Er war vielmehr abgebrochener Offizier, Terrorist und Landsknechtsführer, Antisemit und Rechtsextremist. Dazu auf der Suche nach so etwas wie einer Heimat, die ihm Sicherheit hätte bieten können. 1928 schloss er sich wie viele aus diesem Umfeld, die keine realistische Alternative sahen, NSDAP und SA an, stieg rasch auf, wurde SA-Oberführer Mitte für eine Region, die Thüringen, Sachsen und den preußischen Bereich Halle-Merseburg umfasste. Nach der „Machtergreifung“ avancierte er weiter, nun in der staatlichen Hierarchie zum sächsischen Ministerpräsidenten. Der „Röhm-Putsch“ vom 30. Juni 1934 – die Liquidierung des größten Teils der SA-Führung wie aller möglichen konservativen Exponenten auf Betreiben Hitlers, Görings und Himmlers – wurde für ihn um ein Haar zum Verhängnis; er überlebte, im Gegensatz zu den meisten anderen SA-Führern der zweiten Ebene hinter Röhm, aber er verlor seine Ämter, machte schließlich Karriere im Auswärtigen Dienst, über die letzten Jahre als deutscher Botschafter in Rumänien, das an Hitlers Seite auf sowjetischem Boden kämpfte. Typisch für das Milieu der alten Freikorpskämpfer war auch, dass Killinger vielfach an Hitler wie an der „Verbonzung“ seiner NSDAP Kritik übte, freilich gleichzeitig weit davon entfernt war, so etwas wie authentischer Widerstandskämpfer zu werden. Nach dem Übergang Rumäniens von der deutschen auf die sowjetische Seite erschoss er sich am 2. September 1944 in der deutschen Vertretung in Bukarest. Der Landsknechtsroman von Killingers Leben war soziologisch vielleicht nicht eigentlich typisch, dazu war seine Individualität zu stark ausgeprägt, aber eben doch bezeichnend: Ein Typus, der nicht Impulse gab, aber die Rohheit und Gewalttätigkeit der Zeit verkörperte. Dieses Milieu prägte nicht das ideologische Zeitalter in Europa, aber es gab ihm Rückhalt. Und offenkundig gab es

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ähnliche Persönlichkeitsbilder am anderen Extrem: Die Welt der „Tschekisten“ in Lederjacke und mit Nagant-Pistole, und schließlich der Kommissare und Henker Stalins und auch ihrer vielen Helfershelfer in den kommunistischen Parteien und Regimen bis zur Elbe zeigt mancherlei ähnliche Züge. Fragt man nun nach so etwas wie einem ideologischer Archetypus, schon vor dem Ersten Weltkrieg geformt bzw. vorgeformt, dann fällt es nicht allzu schwer, gemeinsame Züge zu beschreiben, die die spätere Welt der ideologisch prä­ formierten Diktaturen der Zwischenkriegszeit und die vor allem ihre Spitzenfiguren kennzeichneten: Dazu gehört die Ablehnung einer aufgeklärten europäischen Moderne, zu deren Reflexionsniveau dann auch das Wissen um die einzelnen Begrenzungen des Menschen gehört. Solches Wissen hatte – eine bemerkenswerte Dialektik – schon den liberalen Dogmatikern im Kulturkampf gegen die katholische Kirche gefehlt, mit der Folge, dass sie selbst apodiktisch Fortschritt und Aufklärung für sich in Anspruch nahmen, ohne doch der Gegenseite das Recht auf eine intellektuelle oder spirituelle Eigenexistenz zuzubilligen. Desweiteren fällt die vielfache Ablehnung der europäischen Moderne und damit zugleich eine Krise des europäischen Liberalismus ins Gewicht, die bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts erkennbar wurde. Parteipolitisch bedeutete das das Abschmelzen der liberalen Parteien in Deutschland wie, bei allen Unterschieden, schließlich selbst in Großbritannien, wo die zwanziger Jahre den Übergang zu einem neuen Zweiparteiensystem, Konservative und Arbeiterpartei, brachten. Signifikant war auch hier Österreich: Gerade hier erwiesen sich die Liberalen als zu wenig geschlossen und zu wenig mit großen sozialen Schichten und deren sozialen Anliegen verbunden. Bezeichnend war in Wien der Fall „Lueger“, die Hegemonie jenes christlich-sozialen Wiener Bürgermeisters, der sich als Anwalt wie Idol der nicht-proletarischen kleinen Leute inszenierte und geschickt auf der Klaviatur eines spezifisch österreichischen, nicht militant eliminatorischen Antisemitismus spielte.184 Des weiteren und forciert sind zu nennen der Glaube an die Realisierbarkeit umfassender gesellschaftspolitischer Gestaltungsentwürfe, auch insofern die Absage an das Erbe der europäischen Aufklärung im Sinne des Gedankens der Gewaltenteilung und einer step-by-step-Politik, der Glaube an die Rolle einer kleinen, führenden wie auch manipulierenden Avant184 Vgl. John W. Boxer: Karl Lueger (1844–1910). Christlichsoziale Politik als Beruf, Wien, Köln, Weimar 2010, insbesondere S. 123ff. „Das Ende der Liberalen und die Eroberung Wiens durch die Antisemiten“.

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garde und an die Legitimation von Gewalttätigkeit im Sinne vorgeblich höherer Ziele. Dazu kommt vielfach ein naturwissenschaftlich-deterministisches Weltbild, das durch so ganz verschiedene Erscheinungen gespeist wurde wie den Naturalismus in der Literatur und den Rassismus in der kulturellen und soziologischen Vorstellung von der Welt, der von kanonisierten biologistischen Annahmen ausging, sachlich abwegig, aber eben in vorgefasste Raster passend. Das alles war vor 1914 in Europa präsent, in Deutschland und Österreich wie in Russland und Frankreich, auch in Italien. Präsenz heißt aber beileibe noch nicht Dominanz. Hier gilt, was insbesondere auch für Antijudaismus und Antisemitismus über das ganze 19. und frühe 20. Jahrhundert vor dem Ersten Weltkrieg gilt: Es gab ihn, bisweilen stärker, bisweilen schwächer, nicht aber eben als eine einzige große Welle, die kurz davor stand, alles mitzureißen. Die jüngste, derzeit am Markt befindliche Bismarck-Biographie zeigt, gestützt auf viele Zeugnisse, in welchem Maße der Reichsgründer über die ganze Zeit seiner politischen Biographie, das heißt rund ein halbes Jahrhundert, auch hier selbst Kind seiner Zeitströmungen war. Schon auf seiner ersten politischen Bühne, dem Vereinigten Preußischen Landtag, erklärte er 1847 als junger Mann: „Ich gestehe ein, dass ich voller Vorurtheile stecke, ich habe sie (…) mit der Muttermilch eingesogen, und es will mir nicht gelingen, sie wegzudisputiren, denn wenn ich mir als Repräsentanten der geheiligten Majestät des Königs gegenüber einen Juden denke, dem ich gehorchen soll, so muß ich bekennen, dass ich mich tief niedergedrückt und gebeugt fühlen würde, daß mich die Freudigkeit und das aufrichtige Ehrgefühl verlassen würden, mit welchen ich jetzt meine Pflichten gegen dem Staat zu erfüllen bemüht bin.“ 185 Mehr als eine Generation später zeigte sich Bismarck äußerlich eher unbeteiligt, als die Kampagnen des Historikers Treitschke und des Hofpredigers Stoecker gegen die Juden losbrachen, er war gewissermaßen hier wie da positioniert, er hatte heimliches Vergnügen daran, wenn diese Kampagnen die häufig jüdischen Führungspersönlichkeiten des deutschen Liberalismus trafen wie Ludwig Bamberger oder Eduard Lasker. Er galt auch zugleich im Kreise der Antisemiten als Judenfreund, in enger Verbindung mit dem Bankhaus Bleichröder, mit großem Respekt vor dem konservativen britischen Premier Disraeli und gleichfalls mit großem Respekt vor Eduard von Simson, zum Christentum konvertierter Jude, der 1879 erster Präsident des Reichsgerichtes in Leipzig wurde. So spricht am Ende für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg viel für ein gemischtes Bild, mit Schwarzund Weißtönen und im Ergebnis eher grau: „Die Erforschung der Ursprünge 185 Zit. nach Jonathan Steinberg: Bismarck. Magier der Macht, Berlin 2012, S.116.

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des Holocaust kann zur Konstruktion eines allzu linearen Verlaufs verführen, wo es sich in der geschichtlichen Wirklichkeit weit eher um eine verschlungene Entwicklung mit plötzlichen und zum Teil unvorhersehbaren Wendungen gehandelt hat. (…) Schwer vorstellbar, dass die Ablehnung des Antisemitismus auf den Ebenen der Reichstags- wie der Kommunalwahlen einzig und allein auf die Unfähigkeit der antisemitischen Wortführer jener Zeit oder auch das Wahlrechtssystem zurückzuführen ist. (…) Das Gefühl des Scheiterns, das unter den Antisemiten in den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg vorherrschte, ist (…) die nüchterne Einschätzung der Niederlage. Sie erkennen, dass das deutsche Volk (…) trotz der jahrzehntelangen Aufklärungs-Arbeit über die jüdische Gefahr diese nicht so ernst nimmt, dass es sich zum Kampf führen lässt.186 Unter Wilhelm II., der eben auch gesellschaftspolitischer Modernisierungskaiser sein wollte, erhöhte sich sogar die Zahl von Nobilitierungen mit jüdischem Hintergrund in bemerkenswertem Maße. Freilich: Es blieben in Deutschland, zumal in Preußen, Schranken, die vor dem Ersten Weltkrieg nicht durchbrochen wurden: Walther Rathenau hatte 1890/91 seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger beim Garde-Kürassierregiment abgeleistet, also die formalen Voraussetzungen zum Aufstieg in den Status eines Reserveoffiziers erfüllt und dies dazu noch in einer denkbar feudalen Einheit. Aber er konnte so wenig wie ein anderer Jude in Preußen den Reserveoffiziersstatus erwerben, gewisse Ausnahmen gab es nur in den süddeutschen Ländern. Seit 1885 wurden in der preußischen Armee keine jüdischen Reserveoffiziere mehr ernannt und allenfalls eine Handvoll Konvertierte. Und an eine Berufsoffizierskarriere mit jüdischem Hintergrund war schon überhaupt nicht zu denken. Die preußischen Kriegsminister haben bei mancherlei kritischen parlamentarischen Befragungen in den letzten Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg vielerlei pseudodialektischen Scharfsinn darauf verwandt, warum es in der Armee keine jüdischen Offiziere gab, obwohl dies doch nirgendwo gesetzlich so verankert war. Die Abwehr, die dagegen hielt, hatte ihren Rückhalt in den Casinos der Regimenter. Wenn die Offiziere eines Regiments einen Kandidaten nicht bei der Offizierswahl passieren ließen, dann war sein Avancement bereits beendet. Diese antijüdische Widerstandslinie hielt in der preußischen Armee bis zum Ersten Weltkrieg. Der Kriegsausbruch 1914 zeigte auf deutsch-jüdischer Seite zunächst einen förmlich überschießenden Patriotismus, wenn nicht Nationalismus, im Zeichen des von oberster Stelle dekretierten Burgfriedens und der nationalen 186 Massimo Ferrari Zumbini: Die Wurzeln des Bösen. Gründerjahre des Antisemitismus. Von der Bismarck-Zeit zu Hitler, Frankfurt/Main 2003, S. 637.

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Solidargemeinschaft. Viele jüdische Deutsche glaubten, jetzt Aufnahme in die nationale Schicksalsgemeinschaft zu finden. Auch die formalen Schranken schienen gefallen: Von 100.000 jüdischen Kriegsteilnehmern in Deutschland stiegen 2000 zum Reserveoffizier auf. Das scheint viel, war es aber eigentlich nicht: Denn angesichts des Offiziersmangels, der sehr bald eintrat, und des weit überdurchschnittlichen Bildungsgrades der jüdischen Kriegsteilnehmer, verglichen mit dem Rekrutendurchschnitt, hätten es proportional mehr sein müssen. Und von amtlicher Seite nahmen ab etwa Kriegsmitte die Bestrebungen wieder deutlich zu, eine militärische Karriere jüdischer Fronteilnehmer möglichst zu verhindern, in etwa zeitgleich mit dem berühmt-berüchtigten Erlass des preußischen Kriegsministeriums vom 11. Oktober 1916 zur sogenannten Judenzählung im Heer. Im Erlass hieß es unter anderem: „Auch soll es (…) eine große Zahl im Heeresdienst stehender Juden verstanden haben, eine Verwendung außerhalb der vordersten Front, also in dem Etappen- und Heimatgebiet und in Beamten- und Schreiberstellen zu finden. Um diese Klagen nachzuprüfen und ihnen gegebenenfalls entgegentreten zu können, ersucht das Kriegsministerium ergebenst um gefällige Aufstellung einer Nachweisung nach dem anliegenden Muster …“ .187 Auf der, wenn man sie so nennen mag, bürokratischempirischen Ebene, kam dabei nichts Außergewöhnliches heraus: Der Anteil der Juden im Militärdienst an der Front entsprach schlicht ihrem Bevölkerungsanteil, die Zahl der am Ende gefallenen Juden betrug 12.000. Viel wichtiger war, dass mit dieser sogenannten Zählung eine gesellschaftspolitische wie moralisch-stigmatisierende Trennung von amtlicher Seite vorgenommen und so die offizielle Emanzipationspolitik des 19. Jahrhunderts desavouiert wurde. Diese sogenannte Judenzählung ist daher auch vor allem als wichtige Etappe bei der Entfaltung eines antisemitischen Verschwörungsdenkens zu sehen, das bei Kriegsende immer deutlicher an Dynamik gewann und seinen fokussierten Ausdruck in der „Dolchstoßlegende“ erfuhr, bezogen auf angeblichen Verrat am deutschen Heer. Davon profitierten am Ende die Nationalsozialisten, auch darauf gründeten sie Hetze und Agitation. An dieser Stelle ist innezuhalten und zu resümieren: Der nationalsozialistische Antisemitismus, der schließlich ja radikal eliminatorisch wurde, gründete ursprünglich nicht in einer Art westbzw. mitteleuropäischer Furcht vor einem sogenannten jüdischen Bolschewismus. Bekanntlich hat diese Schlussfolgerung mit zum Ausbruch des sogenannten Historikerstreites Mitte der achtziger Jahre geführt; die geschichtspolitischen 187 Abdruck als Faksimile bei Peter März: Der Erste Weltkrieg. Deutschland zwischen dem langen 19. Jahrhundert und dem kurzen 20. Jahrhundert, München² 2008, S. 201.

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Aufgeregtheiten von damals seien hier nicht weiter verfolgt. Wichtig ist vielmehr, dass es sich bei der These von einer Art NS-Sekundär-Antisemitismus um einen historisch wie intellektuell gänzlich unfruchtbaren Irrweg handelte. Antisemitismus war, wie schon gezeigt, in Mitteleuropa, in Wien wie in München und Berlin, aber auch in Warschau oder in Paris, das ganze 19. Jahrhundert über in unterschiedlicher Dimensionierung präsent. Seine kataraktartige Beschleunigung seit der Endphase des Ersten Weltkrieges bedurfte nicht der Angst vor den Mörderbanden der Tscheka Lenins oder Stalins: Klar war vielmehr, „dass für den völkischen Flügel des Rechtsextremismus der verschwörungstheoretisch und rassistisch begründete Antisemitismus schon gegen Ende des Ersten Weltkrieges zum irreduziblen ideologischen Kernbestand gehörte. Der durch die kommunistische Herausforderung vorübergehend in den Mittelpunkt tretende Antikommunismus diente dem gegenüber vor allem als Bestätigung, als Verstärker bereits vorgefasster ideologischer Kategorien.“ 188 Was nun, im nationalsozialistischen Falle, noch hinzu kam, war vielmehr der Umstand, dass eine zweite Generation, die während des Ersten Weltkrieges noch die Schulbank gedrückt hatte, an den Universitäten eine Art sekundäres Weltkriegserlebnis inhalierte: Es waren jene Jahrgänge, die in den zwanziger Jahren an deutschen Universitäten studierten, an denen vielfach antisemitische Ausgrenzungen zur akademischen Grundausstattung geworden waren, zumal im Bereich der Burschenschaften, die zugleich aber darunter litten, nicht selbst am Krieg teilgenommen zu haben, und die darüber hinaus, anders als viele Landsknechts-Rabauken der ersten Nachkriegsjahre, zugleich doch ein formales Studium zu Ende absolvierten, in der Absicht, in Verwaltung und Rechtswesen Karriere zu machen. Administratives Technokratentum und ideologische Anpassungsbereitschaft kamen bei dieser zweiten Alterskohorte zusammen. Aus ihr rekrutierten sich schließlich jene Figuren, die den Prozess der jüdischen Ausgrenzung und des Übergangs bis hin zum Holocaust ab 1941 scheinlegalistisch fassten und administrativ anleiteten. „Was diese jungen Männer aus ihrer Studentenzeit als politische Erfahrung mitnahmen, waren Aktivismus und antisemitische Militanz.“ 189 Klassisches Beispiel für diesen Typus ist der Staatssekretär im Reichsinnenministerium Wilhelm Stuckart, geboren 1902, 1926 zweites juristisches Staatsexamen, 1935 Hauptverfasser der „Nürnberger Gesetze“, mit 188 Andreas Wirsching: Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918 bis 1933/39. Berlin und Paris im Vergleich, München 1999, S. 518. 189 Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2001, S. 88 f.

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(dem späteren Chef des Bundeskanzleramtes) Hans Globke Autor des einschlägigen Kommentars, Teilnehmer der „Wannsee-Konferenz“ im Januar 1942, beteiligt an Holocaust und Euthanasie.190 Diese Sozialisation solcher Akteure erfolgte vor dem Hintergrund einer auch in den Weimarer Jahren vielfach gegebenen Tendenz zur kulturellen Ausgrenzung und Boykottierung von Juden.191 Ein plastisches Beispiel ist der sogenannte „Bädertourismus“ an Nord- und Ostsee, wenn auch schon aus wirtschaftlichen Gründen gewiss nicht repräsentativ für die damalige Gesamtbevölkerung. Auf der Insel Borkum wurde wohl schon vor 1900 das sog. Borkum-Lied mit den Schlusszeilen emphatisch gespielt und gesungen: „An Borkums Strand nur Deutschtum gilt, nur deutsch ist das Panier. Wir halten rein den Ehrenschild Germanias für und für. Doch wer dir naht mit platten Füßen, mit Nasen krumm und Haaren kraus, der soll nicht deinen Strand genießen, der muß hinaus! der muß hinaus! Hinaus.“ In den Weimarer Jahren zog dann Zinnowitz auf der Insel Usedom nach: „Und wer da naht vom Stamm Manassse, ist nicht begehrt, dem sei’s verwehrt. Wir mögen keine fremde Rasse. Fern bleibt der Itz von Zinnowitz.“ 192 Die preußische Regierung unternahm gegen dieses lustvolle Hetzklima mancherlei, aber sie drang nicht durch – ähnlich wie die Strandburgen an den Küsten jener Jahre mehrheitlich von schwarz-weiß-roten Fahnen gekrönt waren, während schwarzrot-goldenen mitunter das Verdikt anhaftete, „Judenlappen“ zu sein. Mit einer antisemitisch unterlegten Bolschewismusfurcht hatte das alles schwerlich etwas zu tun. Es war schon Ausdruck eines rein hausgemachten Antisemitismus. Und auch wenn solche Optik und Akustik nicht die zwanziger Jahre einfach überformten – dafür waren letztere zu vielgestaltig, kulturell zu aufgeschlossen und zu experimentierfreudig, vielfach auch republiktreu oder einfach menschlich anständig in einer deutschen Rechtstradition, die es ja auch seit der Monarchie gab – so war doch die antisemitische Militanz präsent und abrufbar. Von den drei großen, ideologisch gestützten totalitären Regimen der Zwischenkriegszeit entstand das deutsche mit großem Abstand am spätesten, 1933. Sein erster Anlauf war im Krisenjahr der Republik 1923 kläglich gescheitert. Das 190 Vgl. Hans-Christian Jasch: Staatssekretär Wilhelm Stuckart und die Judenpolitik. Der Mythos von der sauberen Verwaltung, München 2012. 191 Vgl. Hannah Ahlheim: „Deutsche, kauft nicht bei Juden!“ Antisemitismus und politischer Boykott in Deutschland 1924 bis 1935, Göttingen 2011. 192 Zum Phänomen des Bäder-Tourismus Frank Bajohr: Unser Hotel ist judenfrei. Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 2002.

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chronologisch mittlere, das italienische,193 gelangte, ähnlich wie in Deutschland 1933, durch die Schwäche wie durch die Bündnisgeneigtheit der vorhandenen traditionellen Machtfaktoren auf die politische Kommandobrücke. Erst ab Mitte der zwanziger Jahre trat eine Konsolidierung dieses italienischen Faschismus ein, 1922 bis 1925 war noch vieles offen geblieben. Man hat ihn vielfach gerne, im Vergleich mit dem deutschen Nationalsozialismus, als eine Art milde Variante gesehen, und relativ stimmt das naturgemäß, nimmt man in den vergleichenden Blick den Holocaust, ferner die rassistischen deutschen Imperialvorstellungen gegenüber dem osteuropäischen Raum wie überhaupt das Gesamtprogramm, das auf dem Dogma von der Ungleichwertigkeit menschlichen Lebens gründete. Wählt man aber einen anderen Zugang und sieht man den italienischen Faschismus zunächst nicht am – späteren – deutschen Maßstab gemessen, dann enthüllt sich sein totalitärer und in vielem grausamer Charakter ziemlich mühelos. Die italienische Kriegführung am Beginn der Schaffung des gewünschten eigenen Imperiums im Abessinien-Krieg seit 1935 war unbestreitbar eine der grausamsten der bisherigen Kriegsgeschichte, mit Bombardements gegen eine Bevölkerung, die diesem Instrument wehrlos ausgeliefert war, und noch gesteigert durch den Einsatz von Kampfgasen, die seit knapp einem Jahrzehnt tabuisiert waren. Die Faschisten waren mit der Gewalt der Straße an die Macht gekommen, auch insofern symptomatisch für eine nach dem Ersten Weltkrieg neue „Kultur“ der politischen Auseinandersetzung vielerorts in Europa. Sie schreckten vor Mord nicht zurück, sie internierten ihre Gegner, sie kultivierten Gewalt, sie waren rassistisch, wenn sich auch ihr Rassismus zunächst gegen schwarze und arabische Populationen richtete, im Kielwasser NS-Deutschlands dann ab 1938 forciert gegen Juden. Sie sahen in Angriffskrieg und Überfall ein legitimes Mittel zum Aufbau eines Imperiums rund um das Mittelmeer und auf afrikanischem Boden. Im Ergebnis mag man allerdings darüber streiten, ob der italienische Faschismus eher in die Kategorie der beiden anderen großen totalitären Diktatursysteme fällt, der des bolschewistischen Russlands und der des nationalsozialistischen Deutschlands, oder eher in die Kategorie autoritär-chauvinistischer Ordnungen, die, je weiter die Zwischenkriegszeit voranschritt, in ganz Europa immer mehr Verbreitung fanden. Wägt man ab, dann spricht im Ergebnis doch eher mehr für die These der umfassenden totalitären Diktatur mit, nach außen, imperialem Anspruch. 193 Vgl. Wolfgang Schieder: Der italienische Faschismus, München 2010.

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Das bolschewistische System in Russland war die erste moderne totalitäre Diktatur, die in Europa installiert wurde, noch mitten im Ersten Weltkrieg. Am 16. Juli 1918 wurde die Zarenfamilie in Jekaterinburg durch die Kugeln eines bolschewistischen Mordkommandos ausgelöscht. Gut fünf Jahre zuvor, am 24.Mai 1913, hatte sich die Großfamilie der europäischen Monarchen letztmals repräsentativ getroffen, zur Hochzeit von Kaiser Wilhelms II. Tochter Viktoria Luise mit dem welfischen Prinzen Ernst August von Cumberland, der danach als Herzog von Braunschweig inthronisiert wurde. Auch wenn die dadurch gestiftete „Versöhnung“ zwischen Hohenzollern und Welfen, nach der preußischen Annexion Hannovers 1866, aus heutiger Sicht reichlich komische Züge trug, man spielte gewissermaßen 18. Jahrhundert im 20., so verdient doch ein Aspekt im Blick auf die späteren Entwicklungen in Russland Beachtung: Es ist nicht ersichtlich, dass die Verwandten in London wie in Berlin irgendwelche Bemühungen anstellten, um die Romanows vor Untergang und Ermordung zu schützen. Der Krieg hatte die Dynastien auf eine Weise nationalisiert, die die natürlichen menschlichen Sippenregungen unterdrückte. Bei den Verhandlungen im Vorfeld des Vertrages von Brest-Litowsk ist von deutscher Seite den Vertretern der Bolschewiki offensichtlich nie nahegelegt worden, mit der gesamten Zarenfamilie in irgendeiner Weise schonend zu verfahren. Und auch das Haus „Windsor“, wie es sich nunmehr in Großbritannien seit 1917 nannte, sah offenkundig nach kurzem Überlegen keinen Anlass, für die Petersburger Verwandten einzutreten, durch Asyl auf der britischen Insel oder, etwa im Sinne eines Arrangements, sie auf neutralem Boden in Schweden sicher unterzubringen. Und dabei war man doch nicht nur verwandt, sondern drei Jahre auf Gedeih und Verderb verbündet gewesen. Da waren eineinviertel Jahrhunderte zuvor Preußen und Österreich mit dem revolutionären Frankreich und der von ihm ausgehenden Bedrohung der bourbonischen Königsfamilie noch ganz anders verfahren. Als 1792 der Krieg zwischen Frankreich einerseits, Preußen und Österreich, die sich als Exekutoren der alten europäischen Ordnung verstanden, andererseits ausbrach, erließ der Oberbefehlshaber, Karl Wilhelm Ferdinand, Herzog von Braunschweig-Lüneburg, am 25. Juli 1792 einen Aufruf, der die finstersten Drohungen enthielt, sollten sich die Jakobiner in Paris an der Königsfamilie vergehen. Zunächst einmal hieß es, die Revolutionäre hätten „im Innern die gute Ordnung und die rechtmäßige Regierung (…) umgestürzt und (…) gegen die geheiligte Person des Königs und seiner erlauchten Familie Gewalttätigkeiten begangen …“ Werde der königlichen Familie nur ein Haar gekrümmt, dann werde man „eine beispiellose und für alle Zeiten denkwürdige Rache nehmen und die Stadt Paris einer militärischen Exekution und einem gänzlichen Ruin preisgeben, die

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Verbrecher selbst aber dem verdienten Tode überliefern….“ 194 Bekanntlich blieben das alles leere Worte, die alten absolutistischen Mächte Europas gerieten in die Defensive, Ludwig XVI. von Frankreich wurde ein halbes Jahr später, am 21. Januar 1793, hingerichtet, kurz darauf seine Gemahlin, Königin Marie Antoinette. Freilich dachten die Jakobiner in Frankreich, anders als die Bolschewiki in Russland, nicht an die Auslöschung der gesamten Familie einschließlich der Kinder – der physische Untergang der Romanows erscheint so wie ein moralisches und politisches Menetekel für die kommenden Zivilisationsbrüche des 20. Jahrhunderts, die das französische Revolutionszeitalter nicht hatte ahnen können. Ohne zu moralisieren, sollte man an dieser Stelle vielleicht noch einmal grundsätzlich innehalten und resümieren, was die Romanows an der Spitze der russischen Autokratie für die Alliierten des Ersten Weltkrieges geleistet, auf die Waagschale geworfen und riskiert hatten: Durch die Bündnisabsprache mit dem bis dahin weitgehend isolierten, republikanischen Frankreich von 1892/94 hatte Russland schon unter Zar Alexander III. den Schritt über den Rubikon getan. In der Folge galten die politischen wie militärischen Absprachen der Diplomaten und Generalstäbler beider Seiten wie die Investitionsentscheidungen auf russischer Seite stets in erster Linie der Bekräftigung jener russischen Zusage, beim Ausbruch eines Zweifrontenkrieges in Europa gegen Deutschland schnell und massiv aufzumarschieren, um eine isolierte militärische Niederwerfung Frankreichs zu verhindern. Das zaristische Russland hat diese Zusagen gegenüber seinem französischen Verbündeten wie auch dem seit 1907 latenten Verbündeten Großbritannien bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges mit skrupulöser Gewissenhaftigkeit erfüllt: Durch die erste Mobilmachung einer Großmacht im europäischen Mächtespiel und durch die beschleunigte Invasion zweier Armeen Mitte August 1914 in Ostpreußen, von denen nach wenigen Wochen eineinhalb vernichtet wurden, in der sogenannten Schlacht bei Tannenberg die Armee Samsonow, Anfang September dann zum guten Teil in der Schlacht an den Masurischen Seen die Armee Rennenkampf. Es geht dabei weniger darum, dass dem riesigen russischen Imperium einige 100.000 Soldaten abhanden kamen; viel schwerer wog für die Zukunft, dass es sich hier um forciert aufs Schlachtfeld geschickte Eliteeinheiten handelte, die militärisch und politisch dem Regime in den nächsten Jahren bitter fehlen sollten. Im Ergebnis der ersten, der Februarrevolution, rund zweieinhalb Jahre nach Kriegsausbruch, sah es dann so aus, dass durch die Installierung eines 194 Zit. nach Horst Möller: Fürstenstaat oder Bürgernation. Deutschland 1763 bis 1815, Berlin 1989, S. 544 f.

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liberal-sozialdemokratischen Regimes in Petrograd die so problematischen ideologischen Asymmetrien zwischen Westmächten und russischem Verbündeten mit einem Mal verschwunden waren. Umso besser konnte nun aus Sicht der in Paris und London Verantwortlichen die gesamte propagandistische Kriegführung auf den Gegensatz zwischen emanzipatorischer Demokratie einerseits und autoritären monarchischen Systemen der Mittelmächte andererseits abgestellt werden. Die alten Mächte in Russland, mit der Dynastie an der Spitze, hatten auf klassische Weise als Mohr ihre Schuldigkeit getan und konnten gehen. Dann kam die bolschewistische Revolution, die auf nichts und niemanden mehr Rücksicht nahm, sich fürs erste vom keinem Kalkül der Kriegsparteien einfangen ließ, die Romanows symbolhaft ermordete, sich radikal von den alten Verbündeten im Westen lossagte, ja sie durch die Veröffentlichung der gemeinsamen Kriegszielprogramme desavouierte, zugleich mit dem kaiserlichen Deutschland und seinen Verbündeten in Brest-Litowsk einen Frieden vereinbarte, der tatsächlich nur ein Waffenstillstand mit Hintergedanken war. Das Ganze wie ein Stück von Shakespeare, bei dem Tugend und Menschlichkeit als unbrauchbare Ressourcen erscheinen. In den letzten Jahren hat sich nochmals die Diskussion darüber zugespitzt, ob die schließliche Kulmination des totalitär-gewalttätigen bolschewistischen Regimes in den stalinistischen sogenannten „Säuberungen“ der dreißiger Jahre tendenziell eher in einer individuellen Disposition Stalins und seiner wichtigsten Helfershelfer begründet gewesen sei oder doch bereits im Selbstverständnis der bolschewistischen Anfänge, ob also, auf den Punkt gebracht, schon Lenin organisatorisch, mental und ethisch die Bahn für eine Figur wie Stalin freigemacht habe. Zuletzt hat für den deutschsprachigen Bereich Jörg Baberowski in einer Studie, die manche frühere Forschungen aufnahm und fortführte, so etwas wie ein Gesamtnarrativ der stalinschen Verbrechen vorgelegt:195 Die Schübe des Verbrechensgeschehens seit Mitte/Ende der zwanziger Jahre sind heute geläufig: Die Kollektivierung der Landwirtschaft mit der Vernichtung der „Kulaken“ und Millionen Verhungerten, die brutalen Mehrjahrespläne zur Industrialisierung, sodann die Vernichtungsfeldzüge gegen den eigenen Parteiapparat, gegen alle tatsächlichen oder fiktiven Fraktionen, mit dem Ergebnis, dass die gesamte ursprüngliche Führungsschicht aus den Jahren nach 1917 unter grotesken Vorwänden in Schauprozessen zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, sodann die Zerschlagung und weitgehende Vernichtung des Offizierskorps der Roten 195 Jörg Baberowski: Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, München 2012.

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Armee, im Zweiten Weltkrieg das brutale Vorgehen gegen nationale Minderheiten und danach eine antizionistische bzw. antisemitische Welle. Schließlich erfasste der Terror in den dreißiger Jahren auch die sich im sowjetischen Herrschaftsbereich aufhaltenden kommunistischen Funktionäre aus aller Herren Länder, darunter vor allem die nach Moskau geflüchteten deutschen Spitzenfunktionäre. Und mit ähnlicher Brutalität wurde auch hinter den Fronten des Spanischen Bürgerkrieges vorgegangen, nicht um dort nach ideologischem Drehbuch ein marxistisch-leninistisches System zu installieren, sondern um ein Maximum an Machtpositionen zu erobern und ein Maximum an Herrschaft über alle anderen Richtungen und Gruppen zu gewinnen. Am Ende ließ Stalin 1937/38 „Menschen nach Quoten töten.“ 196 Nach der Lektüre von Baberowskis schonungsloser Darstellung bleibt ein Unbehagen, nicht wegen der Vorgänge selbst, die so erschütternd sind, dass darauf bezogen ein Begriff wie „Unbehagen“ gänzlich unangemessen wäre. Vielmehr geht es um den Zusammenhang mit der sowjetischen beziehungsweise kommunistischen Gesamtgeschichte seit dem Jahr 1917 und über das Jahr 1945 hinaus. Baberowski beschreibt, dass und wie Stalin und seine obersten Schergen, an der Spitze des NKWD, die einander auch ablösten und selbst der Vernichtung anheimfielen, unmittelbare Gewaltmenschen waren, Lust an Gewalt empfanden, gerne drohten, prügelten, folterten und schossen, so dass ihre militant-machohafte Kleidung nicht selten ganz unmittelbar blutverschmiert und blutbespritzt war. Am Ende kommt es hier dann auf so etwas wie einen asiatisch-despotischen Typus heraus, der ganz im Gegensatz zur europäischen Moderne gestanden habe, gewissermaßen aus abendländischer Sicht roh, unerzogen, ohne Maßstäbe und inneren Kompass. „Zwischen der Moderne und jener monströsen Gewalt, die von Nationalsozialisten und Kommunisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entfacht wurde, besteht kein kausaler Zusammenhang. Die Moderne ist nicht Urheber des totalitären Vernichtungsterrors.“ 197 Im Hinblick auf den deutschen Nationalsozialismus und sein Verbrechensgeschehen wie auf den weiteren Kontext seiner Verbündeten, dürfte dies freilich schwerlich zutreffen. Zwar verstanden sich die Nationalsozialisten programmatisch als Antipoden der liberalen europäischen Aufklärung, aber die ganze Welt, in der sie agierten, war doch unweigerlich durch lange Entwicklungslinien von europäischer Modernisierung geprägt. Insofern gab es auch durchaus eine andere Sozialisierung, was etwa den Typus des Verwaltungstechnokraten kennzeichnet, der im Reichssicherheitshauptamt seinen Dienst versah und millionenfachen 196 Ebd., S. 323. 197 Ebd., S. 26.

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Mord organisierte. Freilich ist Baberowski darin zuzustimmen, dass die Kriegsbedingungen das flächendeckende nationalsozialistische Verbrechensgeschehen erleichterten, vielfach auch erst zuließen.198 Entscheidend ist hier aber zunächst ein anderer Gesichtspunkt: Baberowski beschreibt mit Stalin und seinen führenden blutbefleckten Helfern eine Art mörderischen Mafiaclan, ohne zureichend die Frage zu stellen, wie es ein System geben konnte, unter dessen Bedingungen eine sozial und psychisch derart strukturierte Gruppe bzw. Clique Willkür in einem solchem Maße ausüben konnte. Der Erste Weltkrieg und die bolschewistische Revolution vom Herbst 1917 als Voraussetzungen bleiben bei ihm seltsam blass bzw. erscheint es irgendwie ganz selbstverständlich, dass unter den Bedingungen eines vormodernen Landes, wie es das zaristische Russland weitgehend gewesen sei, und der allgemeinen Kriegsturbulenzen am Ende der Triumph der stalinschen Verbrechensherrschaft stand. Dabei sei zunächst einmal auf eine weitere Paradoxie aufmerksam gemacht: Der Höhepunkt der stalinschen Säuberungen beziehungsweise Verbrechen ging, knapp zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, mit dem Höhepunkt einer als friedlich etikettierten Außenpolitik einher. Die zentralen Begriffe lauteten kollektive Sicherheit und „Antifaschismus“, weitgehende Zurückziehung aller ideologischen Positionen in der Außen- und Sicherheitspolitik. Am 18. September 1934 trat die Sowjetunion dem Völkerbund bei, knapp ein Jahr, nachdem das nationalsozialistische Deutschland ihn verlassen hatte. „Wenngleich dieser Schritt (der sowjetische Beitritt zum Völkerbund, P.M.) auch keineswegs eine Identifizierung der Sowjetunion mit der gesamten Zielsetzung der Weltorganisation bedeutete, so doch mit der der kollektiven Sicherheit, das heißt mit einem Prinzip, das in dem gemeinsamen Schutz aller Staaten gegen jeden Angreifer bestehen sollte.“ 199 Völkerbundbeitritt wie Bündnisse mit Frankreich und der Tschechoslowakei beschrieben eine Linie friedlich-defensiv anmutender sowjetischer Außenpolitik, die bis zum Kurswechsel 1938/39 galt, bis zur Abwendung von den Westmächten und zum Pakt mit dem nationalsozialistischen Deutschland vom 23. August 1939, der mehr Beute und bessere strategische Ausgangslagen versprach. Zwei Jahrzehnte zuvor war die Szenerie noch in mehrfacher Hinsicht eine ganz andere gewesen: Es geht dabei einmal um das unentwegte Bemühen um 198 Ebd., S. 27. 199 Hans-Adolf Jacobsen: IV. Primat der Sicherheit, 1928–1938 in: Dietrich Geyer (Hrsg.): Sowjet­ union Außenpolitik 1917–1955, Osteuropa-Handbuch, Köln, Wien 1972, S.  213–269, hier S. 236.

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Revolutionsexport, vor allem nach Deutschland, in den Jahren 1918/19 bis 1923. Die Weimarer Republik dieser Jahre stand, um das an dieser Stelle noch einmal pointiert zu wiederholen, in einem merkwürdig ambivalenten Verhältnis zu Sowjetrussland, einerseits in einem latenten revisionistischen Bündnis gegen Polen und Frankreich, andererseits aber war sie geradezu so etwas wie Kriegsgegner, vom Engagement der KPD in der zweiten, der kommunistischen Räterepublik in Bayern im Frühjahr 1919 über den Aufstand der sogenannten RotenRuhr-Armee 1920, und den mitteldeutschen Aufstand vom März 1921, der im Kampf um das Leuna-Werk Ende März seinen Höhepunkt erreichte, bis zur Volksfrontregierung vom Herbst 1923 in Sachsen und nahezu gleichzeitig dem Hamburger Aufstand. „Die Entscheidung über eine kommunistische Revolution in Deutschland fiel (1923, P.M.) weder in Sachsen und Thüringen noch in Berlin, sondern in Moskau. Am 15. August instruierte (Gregori) Sinowjew von seinem südrussischen Urlaubsort aus das EKKI (Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale, P.M.), dass die KPD sich auf die herannahende revolutionäre Krise vorbereiten solle, da ein neues und entscheidendes Kapitel in der Tätigkeit der Kommunistischen Partei Deutschlands und mit ihr auch der Kommunistischen Internationale seinen Anfang nehme.“ 200 Die Tendenz zum blutigen Revolutionsexport in den Anfängen der sowjetischen Geschichte ging zugleich aber mit der Schaffung jener Systemgrundlagen einher, für die an erster Stelle der Name Lenins steht. Der frühere DDR-Historiker Wolfgang Ruge hat sich vor einigen Jahren mit dankenswerter Offenheit der Frage angenommen, ob und in welchem Maße Lenin und die wesentlichen Akteure um ihn herum organisatorisch, mental und moralisch bzw. amoralisch jene Voraussetzungen schufen, auf deren Grundlage sich erst das Regime Stalins entfalten konnte – oder umgekehrt formuliert: Wie wäre es, nach Ruge, unter anderen personellen Vorzeichen gelaufen: „Oft ist die Frage aufgeworfen worden, ob die Sowjetgesellschaft eine andere Entwicklung genommen hätte, wenn die Macht nicht an Stalin, sondern an einen anderen Spitzenpolitiker, insbesondere an Stalins Hauptrivalen Trotzki gefallen wäre. Obwohl die Geschichtswissenschaft nicht mit ‚wenn‘ und ‚aber‘ operieren kann, muss doch angenommen werden, dass sich auch Trotzki, der einst, als er dies für erforderlich hielt – in den Revolutionstagen und im Bürgerkrieg –, vom geistreichen Publizisten zum brutalen Exekutor der Gewalt verwandelt hatte, der weder vor Gewalt noch vor Terror zurückschreckte,“ 201 ähnlich grausam gezeigt hätte. Lenin und seine Mitstrei200 Winkler: Arbeiter und Arbeiterbewegung, … 1918–1924, S. 622. 201 Wolfgang Ruge: Lenin. Vorgänger Stalins, Berlin 2010, S. 375.

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ter beseitigten gleich bei ihrem Zusammentritt am 5. Januar 1918 die Konstituante, die frei gewählte russische Nationalversammlung, institutionalisierten den Terror in der Tscheka, praktizierten das Mittel der Einschüchterung durch die Drohung mit der physischen Eliminierung, sprachen dem autonomen Individuum den Daseinszweck ab und öffneten die Schleusen für die Legitimation zum Vorgehen gegen ganze soziale (bei Stalin künftig auch ethnische) Gruppen. „Hatte Lenin durch seine politische Praxis entscheidende Voraussetzungen für das stalinistische Herrschaftsmodell geschaffen, so erfand Stalin den Kultbegriff des ‚Leninismus’, um seine Diktatur als Ergebnis der vollkommenen Ausschöpfung der kritisch nicht weiter zu entwickelnden Marxschen Theorie zu legitimieren. Ohne Lenin kein Stalinismus, ohne Stalin kein Leninismus. So wie es den Sowjetherrscher Stalin ohne Lenins ‚Vorarbeit‘ nicht gegeben hätte, so ist – vice versa – auch die Figur Lenins erst durch Stalin geschaffen worden, zumindest jenes Bild von Lenin, welches jahrzehntelang durch die Köpfe von Millionen geisterte (und das ironischerweise sogar Stalin selbst, den Erschaffer dieses Bildes, um Jahrzehnte überlebte).“ 202 In der weiteren kommunistischen Nostalgie avancierte dann hingegen „Stalinismus“ zum Negativsymbol, das alles Böse auf sich – und vom „Kommunismus“ weg – zog. Demgegenüber habe Lenin so etwas wie gute Anfänge verkörpert, in Analogie zum Selbstbild antifaschistisch-volksdemokratischer Jahre in der sowjetischen Besatzungszone und frühen DDR der zweiten Nachkriegszeit, so dass, gewissermaßen teleologisch, die Reinheit eines kommunistischen Idealbildes durch die zwischenzeitlichen Verbrechen der Stalinschen Ära nicht wirklich beschmutzt sei. Denn diese seien eben nicht per se systemisch bedingt gewesen, sondern durch so etwas wie einen subjektiven Unfall der Geschichte. Die Endmoränen dieser Apologie laufen gewissermaßen von der deutschen Vergangenheit an die deutsche Gegenwart heran: Danach erscheint Walter Ulbricht, der Typus des klassischen Apparatschiks seit der Zwischenkriegszeit, als so etwas wie der stalinistische Epigone, über Stalin hinaus bis in die frühen sechziger Jahre, nicht vergleichbar im Sinne einer blutrünstigen asiatischen Despotie, wohl aber eines administrativen autokratischen Herrschaftsanspruches. Und ähnlich wie immer bedauernd auf Lenins Gefolgsleute verwiesen wird, die Stalin in den dreißiger Jahren zum Tode verurteilen und hinrichten ließ, heißt es sodann im Blick auf vermeintliche Reformkommunisten wie Ulbrichts Gegenspieler der fünfziger

202 Ebd., S. 388 f.

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Jahre Karl Schirdewan203, ohne eine böse List der Geschichte hätte es mit ihnen doch die Perspektive einer human-kommunistischen Entwicklung geben können. Bleibt man hingegen beim Bild vom Mafia-Clan, dann ist eine andere Deutung sehr viel plausibler: Dann liquidierte bzw. verbannte eine Figur bzw. eine Clique jeweils die andere. Kommunistische Rivalen, so sie es überhaupt waren, waren weder Demokraten noch Angehörige einer menschenfreundlichen politischen Heilsarmee, sondern Akteure in totalitären Regimen. Offenkundig hat der Zusammenbruch des zaristischen Russlands das Aufkommen einer besonders grausamen, weder durch moralische Skrupel limitierten noch administrativ gebildeten Machtclique begünstigt. Was es in Russland an Rechtsstaat und bürgerlicher Gesellschaft gab, war vergleichsweise schwach und sehr schnell teils beseitigt, teils völlig eingeschüchtert und marginalisiert. In Deutschland hingegen ging der Weg zunächst von der Radikalisierung zur Konsolidierung. Die vorhandene Substanz an demokratischer Arbeiterbewegung, rechtsstaatlichen Traditionen, bürgerlicher Kultur und auch Kohärenz wie Präsenz der Kirchen war hinreichend gekräftigt, um nach einem knappen Jahrfünft des Übergangs wieder einigermaßen konsolidierte Verhältnisse eintreten zu lassen. 1925 und 1926 wäre jemand, der der Republik das Ende des Jahres 1933 prophezeit hätte, vermutlich und mit sicher auch guten Gründen als völliger diagnostischer Außenseiter wahrgenommen worden. Nicht Determinanten und Gesetzmäßigkeiten führten von 1918 zu 1933, sondern ein Bündel von Ursachen und Zufällen, das uns einiges von der Rätselhaftigkeit der Geschichte vermittelt. Die Demokratie blieb schwach, aber im Dritten Reich musste sie gewiss nicht enden.

203 Vgl. Werner Müller: Karl Schirdewan – ein Stalinist mit preußischer Disziplin, in: Jahrbuch für Extremismus und Demokratie, hrsg. von Eckhard Jesse und Uwe Backes, Bd. 20/2008, BadenBaden 2009, S. 64–91.

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Schlussüberlegungen

Ein erster Gedanke sollte Veränderungen der Weltmachtkulisse in Augenschein nehmen: Nach dem Ersten Weltkrieg ist die Weltmachtrolle Deutschlands beseitigt, gleiches gilt für das bolschewistische Russland, das sich in einem antagonistischen Gegensatz zu seiner Umwelt sieht. Die britische Weltmachtrolle ist quantitativ weiter gestärkt, insbesondere durch territoriale Gewinne, wenn auch verbrämt über „Völkerbundmandate“, als Erbe der früheren deutschen Kolonien wie durch Erwerbungen aus der arabischen Erbmasse des untergegangenen Osmanischen Reiches. Der Krieg hat aber Großbritanniens Wirtschaft angeschlagen, die Finanzen unterhöhlt – die Rückkehr zum fixierten Goldstandard des Pfundes Mitte der zwanziger Jahre erweist sich schließlich als Belastung, nicht als Gewinn –, dazu gibt es, ähnlich wie in Frankreich und Deutschland, neue sozialpolitische Erfordernisse und Wünsche. Die amerikanische Weltmachtrolle bleibt zunächst latent, ökonomisch eindeutig, politisch nicht wirklich ausgeübt. In eine problematische Zwischengröße wächst in diesen Jahren Japan hinein: Rohstoffarm, von starkem imperialen Willen erfüllt, zwischen ScheinKonstitutionalismus und faktischer Militärdiktatur hin und her schwankend. Japan wird, wie auch das strukturell schwächere Italien, zur revisionistischen Großmacht, obwohl es im formalen Sinne 1918/19 auf der Siegerseite gestanden hatte. Japans Imperialismus richtet sich zunächst gegen das durch Bürgerkriege ökonomisch wie militärisch geschwächte, als leichte Beute erscheinende China. Am Ende glaubt Japan, durch Chancen wie Zwänge veranlasst zu sein, sich gegen die angelsächsischen Mächte zu wenden, Chancen aufgrund des 1941 bereits in Europa und im atlantischen Raumes tobenden Krieges, der ihre Kräfte in Anspruch nehme, Risiken, weil die materielle Übermacht der USA auch der Führung in Tokio nur allzu bewusst ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelingt Japan, in einem mit Westdeutschland verblüffend parallelen Prozess, der Aufstieg zu einer ökonomischen Weltmacht unter dem nunmehr akzeptierten machtpolitischen Dach der hegemonialen USA. Als sich dann China in seiner Wirtschaftspolitik aus den dogmatischen Zwängen der Mao-Ära befreit, entwickelt es sich in relativ kurzer Zeit zur stärksten Wirtschaftsmacht in Asien, zur „Zentralmacht“ der pazifischen Globalisierung des beginnenden 21. Jahrhunderts und damit zugleich zur ökonomischen und womöglich mittelfristig auch machtpolitischen Herausforderung der USA.

Schlussüberlegungen  |

Russland bzw. die Sowjetunion wächst mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges – und eine Generation nach dem Kollaps der zaristischen Weltmacht – in eine neue Weltmachtrolle hinein. Es erobert in Europa ein Imperium bis an die Elbe; zum zaristischen Imperium steht es in einem Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität: Die auch von der kommunistischen Führung empfundene Kontinuität wird deutlich, als Stalin bei einem Trinkspruch Ende August 1945 nach dem binnen weniger Wochen errungenen Sieg der Roten Armee über die japanischen Streitkräfte in der Mandschurei das Glas darauf erhebt, dass der russischen Nation damit die Revanche für die Schmach der Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg von 1904/1905 gelungen sei.204 Mit Anbeginn des Kalten Krieges steht der Sowjetunion als Weltmacht nicht mehr Großbritannien gegenüber, das unterscheidet die Situation nach 1945 von der vor 1914, sondern nunmehr die USA. Die Historiker haben Deutschland, was sein Gewicht auf dem europäischen Kontinent anbelangt, nach der Reichsgründung von 1871 eine sogenannte „halbhegemoniale“ Rolle zugesprochen. Lässt man diese Einschätzung gelten, dann ergibt sich jedenfalls, dass die Umstände dieser halbhegemonialen Rolle nach dem Ausscheiden Bismarcks 1890 immer prekärer wurden, nicht einfach nur wegen des Wechsels auf der Kommandobrücke der deutschen Politik und einer gefährlich unstet-vorlauten Haltung Kaiser Wilhelms II. Es geht vielmehr einerseits darum, dass Deutschland, ob mit oder ohne eigene Weltpolitik und Weltmachtansprüche, als ökonomischer Faktor immer gewichtiger wurde, dass aber andererseits seine geostrategische Lage durch die Verbindung zwischen Russland und Frankreich seit Beginn der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts mit dem ansatzweisen Hinzutreten Großbritanniens ab etwa 1905 immer gefährdeter erschien bzw. erscheinen musste. Die nach den Konfrontationsjahren von 1919–1923 für die Einbettung Deutschlands in Europa gefundenen Regelungen, Dawes-Plan, Locarno und Aufnahme in den Völkerbund, markierten die Wiederakzeptanz des Landes als europäische Großmacht; dazu gehörte 204 Vgl. dazu den Text von Stalins Siegesrede vom 2. September 1945: „Japan begann mit seiner Aggression gegen unser Land bereits 1904 im russisch-japanischen Krieg (…). Doch hat die Niederlage der russischen Truppen im Jahre 1904, im russisch-japanischen Krieg, im Bewusstsein des Volkes schwere Erinnerungen zurückgelassen. Unser Volk glaubte daran und wartete darauf, dass der Tag komme, da Japan geschlagen und der Flecken getilgt wird. Vierzig Jahre haben wir Menschen der alten Generation auf diesen Tag gewartet. Und nun ist dieser Tag gekommen. Heute hat Japan sich als besiegt bekannt und die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet.“ Zit. nach Andreas Hillgruber: V Der Zweite Weltkrieg, 1939–1945 in: Sowjetunion Teil: Außenpolitik I, Osteuropa-Handbuch, hrsg. von Dietrich Geyer, Köln, Wien 1972, S.  270–342, hier S. 340.

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gewissermaßen die gegenüber Frankreich bestehende wechselseitige Asymmetrie: Frankreich militärisch gerüstet, ökonomisch unterlegen, Deutschland weitestgehend abgerüstet, aber nach wie vor die weltweit zweitstärkste Industriemacht. Auffällig und interessant ist, dass die Zuerkennung einer förmlichen Premiumposition Deutschlands im Völkerbund vom wiedervereinigten Deutschland nach 1990 auf analoger Ebene, in Gestalt eines ständigen Sitzes im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, nicht erreicht wurde. Gegenüber der alten Bundesrepublik Deutschland, die sich in den fünfziger und sechziger Jahren zur weltwirtschaftlichen Nummer Zwei entwickelte, wenn auch in deutlich größerem Abstand zu den USA als das kaiserliche Deutschland von 1914, besaßen die beiden klassischen westeuropäischen Großmächte Großbritannien und Frankreich drei Statusmerkmale eines formal höheren Rankings: Die Verantwortlichkeit als förmliche Siegermächte für Deutschland und Berlin als Ganzes, die Rolle der Position als ständige Mitglieder des UNO-Sicherheitsrates und die Rolle als förmlich akzeptierte Mächte mit der Verfügung über Kernwaffen. Die beiden letzteren Faktoren sind bis heute und wohl auf absehbare Zukunft, wenn nicht auf Dauer, erhalten geblieben. Die Kernwaffenrolle wird heute dadurch relativiert, dass immer mehr dritte Mächte, teils ganz offen wie Indien und Pakistan, teils nichtoffiziell, aber gewissermaßen offiziös wie Israel, gleichfalls über atomare Waffensysteme verfügen. Eine derartige Inflationierung, vor allem bezogen auf Krisenstaaten wie Iran und Nord-Korea, kann völlig neue Gefahrenpotenziale schaffen. Unabhängig davon ist es aber jedenfalls bemerkenswert, dass innereuropäisch der formale Abstand zwischen Großbritannien und Frankreich einerseits, Deutschland aber auch etwa Italien andererseits, gewahrt wurde, offenkundig in gewisser Weise weiterhin als sakrosankt gilt. Dies ist umso auffälliger, als die Bundesrepublik in Gestalt der Überführung ihrer nationalen Währung, der D-Mark, in ein europäisches Währungssystem, für das die Grundsatzentscheidungen schon vor dem Ende des Kalten Krieges gefallen waren, auf das substanzreichste Instrument verzichtet hat, das ihr auch machtpolitisch zur Verfügung gestanden hatte. Damit sind aber die heute gegebenen innereuropäischen Asymmetrien noch bei weitem nicht vollständig beschrieben: Ähnlich wie das kaiserliche Deutschland drängt das wiedervereinigte Deutschland industriestark über die Grenzen eines kontinentaleuropäischen Blocks: Der Anteil der industriellen Wertschöpfung am Bruttoinlandsprodukt liegt heute, 2013, in Deutschland bei 26 Prozent, tendenziell eher leicht steigend denn sinkend; in Frankreich und Großbritannien unter der Hälfte dieser Größenordnung. Der deutsche Export drängt heute vor allem in Länder und Regionen außerhalb der Euro- wie auch außerhalb der gesamten

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EU-Zone. Er ist in viel stärkerem Maße globalisiert als insbesondere der französische. Die ökonomische Logik besagt – politisch unbequem, vielfach tabuisiert, aber eben einfach zutreffend –, dass Deutschland sich, mit leistungsfähigen Partnern vor allem in Nordeuropa, wirtschaftlich immer weiter vom politischen Gravitationsfeld der ursprünglichen europäischen Integration entfernt. Wieder zeigt sich, wie in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und in jenen Zeiten, als der symbolhafte Vater des sogenannten Wirtschaftswunders, Ludwig Erhard, auf die deutsche Orientierung auf die gesamte Weltwirtschaft drängte, dass die Bezugsgrößen für Wettbewerbsfähigkeit und Prosperität Deutschlands wesentlich keine kontinental­europäischen sind – im Gegensatz zu allen einschlägigen verkrampft-politischen Beschwörungen. Damit verbindet sich die Frage, ob die seit den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts immer dichter, vielleicht auch rigider gewordene Struktur der europäischen Integration nicht überschießend gestaltet wurde, nach überhöhten, imaginierten und vereinseitigten historischen Erfahrungen und dabei ökonomisch wenig passgenau. Diese Frage lässt sich aber nur dann beantworten, wenn auch die Gesamtveränderungen der globalen Tektonik mitberücksichtigt werden, insbesondere im Vergleich mit den Zeiten vor dem Ersten Weltkrieg: Dabei geht es beileibe nicht nur um China. Akteure wie Indien, trotz all seiner immer wieder auftretenden Schwächemomente, Indonesien, Brasilien, Mexiko und die Türkei haben zunächst demographisch deutlich zugelegt und auch die größeren europäischen Staaten hinsichtlich der Bevölkerungszahl mittlerweile zumeist weit übertroffen. Dies ist eine vor dem Ersten Weltkrieg noch nicht einmal im Ansatz vorhersehbare Entwicklung – im Gegensatz zum Faktor China, der eigentlich stets als potentielle Groß- und Weltmacht gesehen wurde. Die Frage muss somit gestellt werden, wie Europa mit diesen Gewichtsverlagerungen umgehen soll: Durch die Errichtung eines politisch abwehrenden Blocks oder durch die innovative Außenorientierung seiner jeweiligen Player? Nicht nur die historische Erfahrung spricht für letztere Strategie: Europa war in Gänze immer dann stark, wenn seine Teile, darunter nicht zuletzt kleinere Regionen, selbst städtische Räume mit spezifischer Innovationskraft, nach außen agieren konnten, wie vor Jahrhunderten etwa Venedig, Flandern oder die Hanse. War der Erste Weltkrieg der Auftakt zu einem dreißigjährigen europäischen Bürgerkrieg, der nach dieser Lesart vom 1. August 1914 bis zum 8. Mai 1945 gedauert hätte? Natürlich setzte der Erste Weltkrieg Konflikte, Ideologien, Verhaltensweisen und Techniken frei, die im Zweiten Weltkrieg auf neue und teilweise unerhörte

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Weise manifest wurden. Der Erste Weltkrieg lehrte, dass man mit Gas und Flammenwerfern Menschen bestialisch töten, dass man genozidal ganze Volksgruppen weithin eliminieren konnte wie die Armenier 1915/16, dass der moderne industrialisierte Krieg der totalen Mobilisierung bedurfte, dass diese Lasten Bevölkerungen aber auch nur dann abverlangt werden konnten, wenn ihnen eine bestimmte Sinnstiftung für die Kriegführung vermittelt, besser souffliert wurde, und dass man am Ende nicht nur, wie es stets Kriegsbrauch gewesen war, dem jeweiligen Verlierer Territorien abnahm, sondern dies gewissermaßen „besenrein“ von den ursprünglichen Bevölkerungen, wie es dann die Türkei und Griechenland zu Beginn der zwanziger Jahre praktizierten. Unbestreitbar ist, dass der Erste Weltkrieg mit seinen Ergebnissen revisionistische Potenziale aufgebaut hatte, bei Großen und Kleinen, bei Deutschland, Japan und Italien, aber auch bei Ungarn und in gewisser Weise selbst bei Österreich: Auch ganz unabhängig vom Anschlussproblem wurde die Südtirol-Frage, als Ergebnis einer groben Verletzung des Selbstbestimmungsrechtes, von der ersten in die zweite Nachkriegszeit weiter transportiert. Aber die jeweiligen Revisionismen, selbst wenn sie sich verbanden, mussten keineswegs in einen Konflikt vom Typus des Zweiten Weltkrieges münden. Geschichte verläuft zumeist viel zu komplex, als dass sich einfach determinierte Schneisen schlagen ließen. Der nationalsozialistische Anspruch wollte in seinem Kern nicht die Ergebnisse des Ersten Weltkrieges korrigieren, er wollte allenfalls den herkömmlichen deutschen Revisionismus gewissermaßen ein Stück mitnehmen und von dessen Blutspendediensten profitieren. Und bei seinen erfolgreichen Kampagnen während der Weltwirtschaftskrise 1930–1932 gab er sich ohnehin vor allem den Anschein, durch die radikale Zerschlagung des „Systems“ von Weimar ließen sich Arbeitsplätze und Prosperität wiedergewinnen. Seine programmatischen Kernintentionen – Raumdenken, kontinentales Ostimperium, „Rassereinheit“ mit am Ende umfassend-mörderischem Antisemitismus – waren zwar, wie man heute sagt, vielfach „anschlussfähig“ in bestimmten Milieus und Projektionen, schon des Kaiserreiches und forciert nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Politisch-operativ bestimmend und auch kommunikativ hegemonial waren sie aber sogar schwerlich in den abschließenden Krisenjahren der Weimarer Republik. In Deutschland gab es vielmehr, im Blick auf den Ersten Weltkrieg und Versailles, vor allem zweierlei Typologien von Revisionismus: Der eine setzte gegenüber den westlichen Siegermächten auf eine Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche, aus Kooperation und Ausspielen der ökonomischen deutschen Stärke, um so an erster Stelle Großbritannien und im weiteren

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Verlauf auch Frankreich eher begrenzte Zugeständnisse abzuringen. Der zweite setzte gegebenenfalls, im ideologisch antagonistischen Bündnis mit der Sowjetunion, auf einen harten Konfrontationskurs gegenüber Frankreich und Polen. Man kann darüber streiten, ob diese zweite Linie, hinter der große Teile der Reichswehr und der Deutschnationalen Volkspartei standen, drauf und dran war, sich über die immer weiter nach rechts gehenden Präsidialkabinette in den Schlussjahren der Weimarer Republik durchzusetzen und was innen- und außenpolitisch das schließliche Resultat eines derartigen Konfrontationskurses gewesen wäre. Die Gefahr ist aber groß, dass man sich bei derart kontrafaktischen Szenarien am Ende in bloße Spekulationen begibt. In jedem Fall muss man sehen, dass die sogenannte nationalsozialistische Machtergreifung vom 30. Januar 1933, die ja keine war, sondern eine Machtübertragung, von der die Nationalsozialisten selbst dann den denkbar totalitärsten Gebrauch machten, dass diese „Machtergreifung“ nicht zwangsläufig erfolgte. Es spricht manches dafür, für den Kontext dieser Darstellung eine andere, eine doppelte Periodisierung zu wählen als die von 1914 bis 1945. Einmal bezogen auf den schon genannten Einschnitt der Jahre 1924–1926. Er beendete für Deutschland die harte, gewissermaßen die „Karthago“-Phase der unmittelbaren Nachkriegszeit und sah seine Rückkehr auf die Bühne der herkömmlichen europäischen Mächte. Dass es danach, ab 1941, mit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion und Monate später mit dem japanischen Angriff auf die amerikanische Flotte in Pearl Harbor, zu einem umfassenden Weltkonflikt kommen sollte205, erscheint aus diesem Blickwinkel ebenso wenig vorbestimmt wie die Hochphase der „Zivilisationsbrüche“. Voraussetzungen determinieren nicht das Folgende, insofern wird man sagen können, dass der Erste Weltkrieg zwar auch ein destruierendes Denken freisetzte, wie eben allerdings vieles andere auch, und dass es keineswegs ausgemacht sein konnte, dass gerade dieses destruierende Denken im weiteren Verlauf handlungsbestimmend werden sollte, bis hin zum Holocaust. Antisemitismus und dumpfe Phobien ganz allgemein auf der einen Seite und Modernisierung und Aufklärung auf der anderen Seite hatten seit Generationen in den europäischen Gesellschaften in einem sehr komplexen Widerstreit zueinander gestanden. Insofern ist eher deutliche Zurückhaltung gegenüber Kausalannahmen geboten, die gewissermaßen unmittelbar von der „Judenzählung“ im deutschen Heer 1916 zur Vernichtung

205 Vgl. Ian Kershaw: Wendepunkte. Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg, München 2008.

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des europäischen Judentums führen. Das eine ist schwerlich ohne das andere zu denken, aber das eine ging nicht zwangsläufig aus dem anderen hervor. Versucht man, in einer zweiten und weiteren Periodisierung, den Ersten Weltkrieg in ein größeres Konfliktgeschehen einzufügen, dann spricht mehr für einen Bogen, der bis zum Ende des Kalten Krieges 1989–1991 reicht, also bis zu den Endpunkten Fall der Berliner Mauer und Ende der Sowjetunion als ideologischer Widerpart des Westens wie, im machtpolitischen Ranking, als Weltmacht. War der Erste Weltkrieg, begonnen als klassischer Mächtekonflikt, schließlich die Ouvertüre zum ideologischen Zeitalter in Europa, so brachte der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums das definitive Ende dieser Epoche. Das heißt zugleich, dass jene Phase auf unserem Kontinent zu Ende ging, in der Diesseitsreligionen mit absolutem Geltungsanspruch und daraus abgeleitet mit dem Anspruch, das menschliche Individuum für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, machtvoll gewesen waren. Das heißt zugleich freilich nicht, dass autoritär-chauvinistische Regime, wie sie für die Zwischenkriegszeit in Europa so kennzeichnend gewesen waren, gleichfalls künftig obsolet sind. Im Blick auf das Deutschland der Weimarer Republik sollte nicht nur von dessen Ende her gedacht werden. Das bedeutet einmal, dass man seine Modernisierungsanstrengungen, auch seinen zähen und erfolgreichen Behauptungswillen, zumal im Krisenjahr 1923, fair, ja mit einer eingestandenen Grundsympathie, mit saldieren sollte. Herausforderungen und Bedrohungen wie 1923 sind dem Nachkriegsdeutschland seit 1949 bis heute erspart geblieben. Weimar jedenfalls hat sie damals bestanden. Zum nationalen Erinnern gehört daher zum einen, wie sich die tragenden Staatsmänner der linken und rechten Mitte im Deutschland dieser Jahre, Friedrich Ebert und Gustav Stresemann, für die Republik und für das Land, dem sie innerlich so tief verbunden waren, buchstäblich aufgeopfert haben, Ebert 1925 als Opfer einer Rufmordkampagne, die ihn davon abhielt, sich rechtzeitig um seine Gesundheit zu sorgen, Stresemann 1929, nachdem er den innen- und außenpolitischen Einsatz bis zum Schluss über vielfachen medizinischen Rat gestellt hatte, sich zurückzunehmen, zuletzt als Stifter der Großen Koalition des Jahres 1928, der letzten parlamentarischen Regierung im Deutschland der Zwischenkriegszeit. Die positiven Züge von Weimar sehen heißt zugleich, ihren Einfluss auf das Nachkriegsdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg mit in den Blick nehmen. Die demokratische Staatsschöpfung der alten Bundesrepublik von 1949 war eher nur zum Teil, vielleicht sogar zum geringeren Teil ein importiertes Geschenk der Alliierten. Letztere gewährleisteten im Kalten Krieg die sicherheitspolitische Abschirmung und eröffneten der neuen Bundesrepublik die Möglichkeit,

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sich ökonomisch zu entfalten, Prosperität zu gewinnen und mit ihr Stabilität und Sicherheit für die 50 Millionen Westdeutschen. Hinzu kam ihr Input zur politisch-kulturellen Weiterentwicklung auf deutschem Boden. Gleichwohl: Ideen, Prinzipien, Verfahrensweisen und Praktiken der neuen Staatsschöpfung waren aber in sehr hohem Maße die Sache von Männern und wenigen Frauen, die Weimar miterlebt, mit gestaltet und auch gegen die Extreme mit vertreten hatten – Adenauer, Heuss und Schumacher als die drei prominentesten, aber beileibe nicht nur diese. Man denke für Berlin an Ernst Reuter, den geläuterten Kommunisten schon der zwanziger Jahre, für Bremen an Wilhelm Kaisen, für Bayern an Wilhelm Hoegner für die SPD, Fritz Schäffer, den ersten Bundesfinanzminister, für die CSU, und man könnte diese Aufzählung mühelos auf die Ebene der städtischen und dörflichen Gemeinschaften mit ihren christlichen, liberalen und sozialdemokratischen Milieus „herunterbrechen“. Die „Urkatastrophe“ und zumal ihre Folgen verdienen ein sehr differenziertes, ein sehr vielschichtiges und in vielem ein sehr um Verständnis für Zeit und Menschen bestimmtes Erinnern.

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|  Literatur

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Literatur  |

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Personenregister D’Abernon Viscount, Edgar 9 D’Annunzio, Gabriele de 123 Adenauer, Konrad 116, 132, 136, 139,

161, 187f. 203, 217f., 225, 231 Alexander I., Zar von Russland 82, 91 Alexander III ., Zar von Russland 253 Arminius 79 Atatürk, Kemal (ursprünglich Kemal Pascha) 50, 95 Baden, Prinz Max von 63 Bamberger, Ludwig 246 Baberowski, Jörg 254–256 Bauer, Otto 98 Bebel, August 26 Beck, Jozef 148 Becker; Carl Heinrich 228f. Beethoven, Ludwig van 187 Beitz, Berthold 191, 193 Berlinguer, Enrico 163 Bethmann Hollweg, Theobald von 34, 38, 58–60, 65f. Bismarck, Fürst Otto von 27f., 38f., 46, 61f., 98, 128, 171, 178, 195f., 215f., 218–220, 223, 246, 261 Bismarck, Fürst Otto von, Enkel des Reichsgründers 221 Bleichröder, Gerson 246 Blücher, Gerhard Leberecht, Fürst von Wahlstatt 105, 178 Bollinger, Klaus 165 Brandt, Willy 163f., 226, 231 Braun, Otto 176, 191–193, 200f., 209, 224f., 228f. Breitscheid, Rudolf 227 Breschnew, Leonid 142, 191

Briand, Aristide 34, 65, 131f., 177 Brockdorff-Rantzau, Ulrich Graf von 88, 98

Brüning, Heinrich 199–201, 201, 204f., 224, 227, 229 Brussilow, Alexej Alexejewitsch 55, 69 Bülow, Bernhard Fürst von 34, 38, 59–62, 61 Bürckel, Josef 181 Bush, George 75, 138 Canis, Konrad 33, 38– 40 Carstens, Karl 225 Castlereagh, Lord 82 Chamberlain, Arthur Neville 155 Chruschtschow, Nikita 191 Churchill, Winston 157, 159, 182, 239 Clark, Christopher 22, 26, 30, 37, 41 Clausewitz, Carl von 44, 69, 233, 235f. Clemenceau, Georges 61, 101 Conze, Eckart 213 Cromwell, Oliver 195 Cumberland, Ernst August von, Herzog von Braunschweig 252 Dehio, Ludwig 27 Disraeli, Benjamin (Earl of Beaconfield) 246 Dimitroff, Georgi 149 Dollfuß, Engelbert 135, 175, 179 Duesterberg, Theodor 208 Earle, George 158 Ebert, Friedrich 83, 99, 128, 131, 175, 192f., 206, 223, 266 Eckhardt, Felix von 136

Personenregister  |

Eden, Anthony 157 Ehlers, Hermann 225 Ehrhardt, Hermann 244 Einem, Carl von 53 Elisabeth, Zarin von Russland

Erdmann, Karl-Dietrich 24 Erhard, Ludwig 132, 139, 263 Erzberger, Matthias 59, 61f., 222, 244 Falkenhayn, Erich von 53f., 56 Felfe, Werner 163 Fischer, Fritz 24, 37, 40, 101 Flach, Karl Hermann 218 Foch, Ferdinand 105 Frank, Ludwig 207 Franz Ferdinand, Erzherzog von Österreich 22f., 37, 38 Franz Joseph I., Kaiser von Österreich, König von Ungarn 22f., 45, 171f. Frick, Wilhelm 225 Friedensburg, Ferdinand 176 Friedrich I. Barbarossa, römischdeutscher Kaiser 168 Friedrich II . auch Friedrich der Große; König von Preußen 38, 43, 71, 163f., 166, 178, 190, 196 Friedrich Wilhelm I., König in Preußen 190 Fritsch, Werner Freiherr von 237 Gambetta, Leon 241 De Gaulle, Charles 60, 137 Genscher, Hans-Dietrich 137– 139, 165 Georg II ., Herzog von SachsenMeiningen 15 George, Heinrich 186 Georges-Picot, FranÇois 51 Gerstenmaier, Eugen 225

Giebel, Carl 100 Giscard d’Estaing, Valery 139 Globke, Hans 250 Goebbels, Joseph 11, 135, 153f., 208f., 214, 217, 243

Göring, Hermann 155, 190, 244 Goethe, Johann Wolfgang von 186 González, Felipe 139 Gorbach, Alfons 187 Gorbatschow, Michail 74, 138 Grey, Sir Edward 15, 33, 42 Grillparzer, Franz 179, 186 Grimm, Hans 119 Groener, Wilhelm 201 Grotewohl, Otto 203 Grzesinski, Albert 205 Gustav Adolf II ., König von Schweden 196 Hainisch, Michael 187 Haubach, Theodor 206 Hauptmann, Gerhart 194 Heine, Wolfgang 60 Herberger, Sepp 27 Hertling, Georg Graf von 61f., 222 Heusinger, Adolf 208 Heuss, Theodor 100, 175, 193, 217, 267 Heydrich, Reinhard 150, 185 Hildebrand, Klaus 102f. Hilferding, Rudolf 227, Himmler, Heinrich 236f., 244 Hindenburg, Paul von und zu u. v. Beneckendorff 48, 54, 56–58, 107, 191– 195, 199, 201, 208f., 224, 229, Hitler, Adolf 9, 25, 82, 97, 134– 137, 145– 155, 178f., 181, 183f., 197, 208– 214, 224, 228f., 236f., 244 Hoegner, Wilhelm 267

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282

|  Personenregister

Hötzendorf, Conrad von 37 Hofer, Andreas 172 Hohenberg, Sophie Herzogin von 22 Honecker, Erich 162, 190– 193 Hoover, Herbert C. 116 Horthy, Miklós 97 Hugenberg, Alfred 134, 210, 220

Jagow, Gottlieb von 26 James, Frank 243 James, Jesse 243 Jarres, Karl 224 Jaruzelski, Wojciech 162, 164 Joachim II ., Kurfürst, Markgraf von Brandenburg 190 Johanna von Orleans (Jeanne d’Arc) 173 Jünger, Ernst 195, 243 Kaisen, Wilhelm 267 Kaiser, Jakob 206 Kaltenbrunner, Ernst 185 Kant, Immanuel 235 Kapp, Wolfgang 203, 216, 244 Katharina die Große, Zarin von Russland 90 Karl I., König von England 195 Karl V., römisch-deutscher Kaiser 78, 80f. Karl VI ., römisch-deutscher Kaiser 81 Karl VII . (Kurfürst Karl Theodor), römisch-deutscher Kaiser 169 Karl Wilhelm Ferdinand, Herzog von Braunschweig-Lüneburg 252 Kautsky, Karl 227 Kleist, Heinrich von 179 Kerenski, Alexander 67 Kielmannsegg, Johann Adolf Graf von 208

Kielmannsegg, Peter Graf von 91 Killinger, Manfred von 243f. Kissinger, Henry 142 Kohl, Helmuth 76, 137, 139, 164f., 223 Kreisky, Bruno 179, 187 Lancken-Wakeritz, Oskar Freiherr von der 65 Lansdowne, Henry Charles Marquess of 70 Lasker, Eduard 246 Leber, Julius 206 Legien, Carl 117 Lemmer, Ernst 206 Lenin, Wladimir Iljitsch 67, 93, 120, 127, 249, 254, 257f. Leopold I., römisch-deutscher Kaiser 196 Lichnowsky, Karl Max Fürst von 33 Lloyd George of Dwyfor, David 61, 70, 103, 127, 128 Louis Philippe, Graf von Paris 194 Ludendorff, Erich 11, 35, 48, 54, 56– 58, 101, 201, 224, 233– 237 Ludwig II ., König von Ungarn und Böhmen 169 Ludwig III ., König von Bayern 193 Ludwig XIV., König von Frankreich 46, 79– 81, 170, 196 Ludwig XVI ., König von Frankreich 253 Lueger, Karl 245 Lüttwitz, Walther von 203 Luise, Königin von Preußen 178, 252 Luther, Martin 232 De Maiziére, Ulrich 208 Maltzan, Ago von 128, 202 Mann, Thomas 71, 194 Mao Zedong 260

Personenregister  |

Marie Antoinette, Königin von Frankreich 253 Marx, Wilhelm 224, 258 Mažowiecki, Tadeusz 163f. Mende, Erich 217

Metternich, Klemens Wenzel Fürst von 82, 163, 234 Michaelis, Georg 61 Middelhauve, Friedrich 217 Mielke, Erich 191 Mierendorff, Carlo 206 Mikolajczyk, Stasnislaw 155, 158f. Mischnick, Wolfgang 191 Mitterand, François 75, 137– 139 Moeller van den Bruck, Arthur 243 Molotow, Wjatscheslaw Michailowitsch 127, 150f., 156– 158 Moltke, Helmuth von (der Ältere) 43 Moltke, Helmuth von (der Jüngere) 26, 35, 43 Müller, Hermann 133, 228f., 237 Mueller-Graaf, Carl Hermann 187 Musial, Bogdan 155f. Mussolini, Benito 99, 113, 123, 174, 177, 179 Napoleon I. Bonaparte, französischer Kaiser 18, 73, 81–83, 85f., 196, 198 Napoleon III ., französischer Kaiser 241 Nasser, Gamal Abdel 87 Naumann, Friedrich 100 Naumann, Werner 217 Nelson, Horatio Lord 85 Nikolaus II . Zar von Russland 41, 54, 66, 192 Pacelli, Eugenio (Pius XII .) 197 Papen, Franz von 200, 205, 224f., 230 Payer, Friedrich von 63

Peter der Große, russischer Zar 90 Pfeffer, Franz 138 Philipp V., König von Spanien (Herzog Philipp von Anjou) 80 Piłsudski, Józef 144, 146, 147 Poincaré, Raymond 20, 22f., 129

Raeder, Erich 152 Rathenau, Walther 128, 201f., 247 Rennenkampf, Paul Edler von 253 Renner, Karl 180, 184 Reuter, Ernst 267 Ribbentrop, Joachim von 127, 135, 148, 150, 153, 156, 158 Ritter, Gerhard 24 Röhl, John C.G. 37 Röhm, Ernst 236, 243f. Römer, Felix 212 Roosevelt, Franklin Delano 158f., 182 Rose, Andreas 30 Ruge, Wolfgang 257 Rupprecht, Kronprinz von Bayern 47, 223 Sanders, Liman von 37 Samsonow, Sergej Dimitrijewitsch 253 Schäffer, Fritz 13, 267 Scheer, Reinhard 85, 216 Scheidemann, Philipp 60, 100, 237 Schiller, Karl 58 Schirdewan, Karl 259 Schleicher, Kurt von 199, 200f., 229 Schlieffen, Alfred von 42, 237 Schlüter, Leonhard 218 Schmidt, Helmut 139, 163, 191 Schmitt, Carl 225 Schober, Johann 132 Schönherr, Albrecht 163 Schröder, Gerhard 225

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284

|  Personenregister

Schulenburg, Fritz-Dietlof Graf von der 206 Schulz, Heinrich 244 Schumacher, Kurt 206, 208–210, 267 Schuschnigg, Kurt von 179, 180

Schwarz, Hans-Peter 139 Seeckt, Hans von 143, 202f., 216, 237 Seipel, Ignaz 174f. Severing, Carl 205 Shakespeare, William 254 Sheridan, Philipp H. 241 Sherman, William Tecumseh 241 Siebert, Benno von 37 Sikorski, Wladyslaw 157 Simson, Eduard von 246 Sinn, Hans-Werner 49 Sinowjew, Grigorij J. 143, 257 Speidel, Hans 208, Spellman, Francis 182 Stalin, Josef 92, 96, 113, 121, 128f., 147– 160, 182, 249, 254–258, 261 Stinnes, Hugo 117 Stauffenberg, Claus Schenk Graf von 206 Stoecker, Adolf 219, 246 Stolpe, Manfred 163 Stolypin, Petr A. 29 Strasser, Gregor 230 Stuckart, Wilhelm 249 Strauß, Franz Josef 132, 191, 226 Stresemann, Gustav 65, 129, 131– 133, 145f., 177, 216, 227, 266 Stresemann, Käthe 193 Stürmer, Michael 204 Stützel, Karl 224 Südekum, Alfred 26 Sykes, Sir Mark 51 Szápáry, Friedrich Graf 23

Talleyrand-Périgord, Graf Charles Maurice de 82f., 105, 234 Tito, Josip Broz 158 Thatcher, Margret 75, 138 Thukydides 38 Tillessen, Heinrich 244 Tirpitz, Alfred von 30 Treitschke, Heinrich von 146, 219 Treviranus, Gottfried 134 Trotzki, Lew Davidowitsch 93, 120, 144, 146, 257 Truman, Harry S. 51, 96

Ulbricht, Walter 161, 190f., 203, 258 Velde, Henry van de 15 Viktoria Luise, Prinzessin von Preußen, Herzogin von Braunschweig 252 Viviani, René 22 Voltaire (François Marie Arouet) 178 Vranitzky, Franz 185 Waldheim, Kurt 185 Walęsa, Lech 163f. Weber, Max 100 Weber, Thomas 210 Wehner, Herbert 191, 231 Weiskirchner, Richard 173 Westarp, Kuno Graf von 220 Wilhelm, deutscher und preußischer Kronprinz 58, 223 Wilhelm I., deutscher Kaiser, König von Preußen 171, 190, 196 Wilhelm II ., deutscher Kaiser, König von Preußen 22f., 34, 37f., 56, 61, 171, 190– 196, 247, 252, 261 Wilson, Woodrow 57, 86, 88f., 92, 106, 120, 123, 201f.

Personenregister  |

Winkler, Heinrich August 117 Wirth, Joseph 128, 201– 203 Witte, Sergej jr. 29

Zechlin, Egmont 24 Zimmermann, Ludwig 66

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WOLFRAM DORNIK, JULIA WALLECZEK-FRITZ, STEFAN WEDRAC (HG.)

FRONTWECHSEL ÖSTERREICH-UNGARNS „GROSSER KRIEG“ IM VERGLEICH

Mit seiner breit angelegten Perspektive auf die Geschichte des Ersten Weltkrieges folgt der vorliegende Sammelband den aktuellen Trends der internationalen Weltkriegsforschung. Die Autoren untersuchen nicht nur die sogenannte „Heimatfront“ des Ersten Weltkrieges, sondern werfen gleichermaßen einen Blick auf andere Kriegsschauplätze. Die zwanzig Beiträge versuchen die Ereignisse zwischen 1914 und 1918 sowohl in die langen Linien des 19. und 20. Jahrhunderts einzubetten, wie auch die oft an die nationalstaatlichen Perspektiven gebundenen Grenzen aufzubrechen. Als Ergebnis liegen nun neue Einblicke vor, die diesen ersten weltumspannenden Krieg, der das gesamte folgende Jahrhundert prägte, in einem neuen Licht erscheinen lassen. 2014. 466 S. 6 GRAFIKEN. GB. 155 X 235 MM | ISBN 978-3-205-79477-6

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MANFRIED RAUCHENSTEINER

DER ERSTE WELTKRIEG UND DAS ENDE DER HABSBURGERMONARCHIE 1914–1918

Die Geschichte von der Entfesselung des Ersten Weltkriegs, von der Rolle Kaiser Franz Josephs, vom Verhalten der Nationalitäten der Habsburgermonarchie bis zum Zerfall eines 630-jährigen Reiches liest sich wie ein spannender Roman. Es geht um Politik und Krieg, das Bündnis mit Deutschland, Krieg als Ausnahmezustand und als Normalität. Das Buch, von einem der führenden Historiker Österreichs, ist eine mitteleuropäische Enzyklopädie des Ersten Weltkriegs. 2013. 1222 S. 32 S/W-ABB. UND 2 KARTEN. GB. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-78283-4

„Ein epochales Werk.“ Der Spiegel Geschichte

„Das Buch ist ein dicker Wälzer, aber für jeden historisch-politisch Interessierten spannend zu lesen.“ Der Standard

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