Musik in der religiösen: Erfahrung Historisch-theologische Zugänge 9783631648834, 9783653039153

Die Musik und das religiöse Leben gehören in der westeuropäischen Kultur untrennbar zusammen. In der Musik ereignet sich

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German Pages 241 [244] Year 2014

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Inhalt
Vorwort
Thomas Staubli. JHWH im Kreis musikalischer Gottheiten
Rainer Kampling. „Ermutigt einander mit Psalmen, Lobgesängen …“(Eph 5,19). Musik in den Anfängen der Kirche
Therese Fuhrer. Augustinus über Musik in Raum und Zeit
Nizar Romdhane. Wer hat die schönen Dinge Gottes verboten, die Er für seine Diener hervorgebracht hat? Ein Beitrag zur Musik im Islam
Stefan Klöckner. Laeti bibamus …Über die nüchterne Trunkenheit des Gregorianischen Chorals
Silke Leopold. Wie klingt die Schöpfung? Die Entstehung der Welt als musikalische Erzählung
Meinrad Walter. „Erschallet, ihr Lieder, erklinget, ihr Saiten!“Eine Bachkantate in der lutherischen Musiktradition
Klaus Herrmann. Aufklärung, Emanzipation, Akkulturation und Zionismus. Chanukka im Wandel der Zeiten oder wie aus Händels Judas Maccabaeus ein israelisches Kinderlied wurde
Daniel Jütte. Musik als Kunstreligion im deutschen Judentum (1750–1900)
Roland Willmann. Kreuzwege. Neue Musik und Religion
Autorinnen- und Autorenverzeichnis
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Musik in der religiösen: Erfahrung Historisch-theologische Zugänge
 9783631648834, 9783653039153

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Musik in der religiösen Erfahrung Die Musik und das religiöse Leben gehören in der westeuropäischen Kultur untrennbar zusammen. In der Musik ereignet sich Bekenntnis und Erfahrung des Religiösen gleichzeitig. Dieser Sammelband zeigt die historische, kulturgeschichtliche und die theologische Dimension dieser Verbindung. Die Beiträge ermöglichen auch ein besseres Verstehen des Phänomens, weshalb die Musik, die für die Liturgie komponiert wurde, auch außerhalb ihres ursprünglichen Rahmens, eine besondere Anziehung darstellt.

Die Herausgeber Rainer Kampling ist Professor für Biblische Theologie am Seminar für Katholische Theologie der Freien Universität Berlin. Andreas Hölscher ist Leiter der Katholischen Erwachsenen- und Familienbildung im Erzbistum Paderborn.

R. Kampling / A. Hölscher (Hrsg.)

Rainer Kampling / Andreas Hölscher (Hrsg.)

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Apel iotes – St udien zur Kulturgesch ic hte und Th eolog ie 13

Rainer Kampling / Andreas Hölscher (Hrsg.)

Musik in der religiösen Erfahrung Historisch-theologische Zugänge

Musik in der religiösen Erfahrung

Ape liote s – Stu di e n z ur Kulturge sch i cht e un d Th e ol ogi e 13

www.peterlang.com

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07.03.14 00:03

Musik in der religiösen Erfahrung

APELIOTES STUDIEN ZUR KULTURGESCHICHTE UND THEOLOGIE Herausgegeben von Rainer Kampling

BAND 13

Rainer Kampling / Andreas Hölscher (Hrsg.)

Musik in der religiösen Erfahrung Historisch-theologische Zugänge

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: ROBBIA, Luca della Cantaria: left side relief 1431-38 Marble, 96 x 61 cm Museo dell`Opera del Duomo, Florence

Gedruckt auf alterungsbeständigem, säurefreiem Papier.

ISSN XXX ISBN XXX (Print) E-ISBN XXX (E-Book) DOI 10.3726/XXX © Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2014 Alle Rechte vorbehalten. Peter Lang Edition ist ein Imprint der Peter Lang GmbH. Peter Lang – Frankfurt am Main · Bern · Bruxelles · New York · Oxford · Warszawa · Wien Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Dieses Buch erscheint in der Peter Lang Edition und wurde vor Erscheinen peer reviewed. www.peterlang.com

Inhalt Vorwort

7

Thomas Staubli JHWH im Kreis musikalischer Gottheiten

9

Rainer Kampling „Ermutigt einander mit Psalmen, Lobgesängen …“ (Eph 5,19) Musik in der frühen Kirche

35

Therese Fuhrer Augustinus über Musik in Raum und Zeit

47

Nizar Romdhane Wer hat die schönen Dinge Gottes verboten, die Er für seine Diener hervorgebracht hat? Ein Beitrag zur Musik im Islam

75

Stefan Klöckner Laeti bibamus … Über die nüchterne Trunkenheit des Gregorianischen Chorals

97

Silke Leopold Wie klingt die Schöpfung? Die Entstehung der Welt als musikalische Erzählung

129

Meinrad Walter „Erschallet, ihr Lieder, erklinget, ihr Saiten!“ Eine Bachkantate in der lutherischen Musiktradition

143

Klaus Herrmann Aufklärung, Emanzipation, Akkulturation und Zionismus Chanukka im Wandel der Zeiten oder wie aus Händels Judas Maccabaeus ein israelisches Kinderlied wurde

165

6

Inhalt

Daniel Jütte Musik als Kunstreligion im deutschen Judentum (1750–1900)

201

Roland Willmann Kreuzwege Neue Musik und Religion

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Autorinnen- und Autorenverzeichnis

241

Vorwort In meinem Leben will ich IHM singen, wann ich noch da bin harfen meinem Gott. (Ps 104,33)

In seiner Ansprache beim Treffen der PUERI CANTORES am Ende des Jahres 2010 sagte Benedikt XVI.: „Wenn ihr das Lob Gottes singt, verleiht ihr dem natürlichen Wunsch jedes Menschen Ausdruck, Gott mit Liedern der Liebe zu verherrlichen.“ Zugleich sprach er davon, dass der Gesang einen „Vorgeschmack von der himmlischen Liturgie“ vermittelt. Und ganz offensichtlich ist es so, dass die Musik dem religiösen Menschen beigegeben ist und mit der Erfahrung des Glaubenkönnens einhergeht. Die Heilige Schrift in ihrer Gesamtheit berichtet davon, dass Musizieren und Gesang sich mit dem Hinzutreten zu Gott verband. Beide, Musizieren und Gesang, bringen die Seele zum Klingen und lassen sie einstimmen in das kosmische Lob des Einen. Und gewiss ist der Aussage zuzustimmen, welche Benedikt XVI. in seiner Rede zu Paris am 12. September 2008 formulierte: „Aus diesem inneren Anspruch des Redens mit Gott und des Singens von Gott mit den von ihm selbst geschenkten Worten ist die große abendländische Musik entstanden.“ Allerdings kann man mit einem Blick in die Programme der Konzerthäuser sehen, dass die religiöse Musik den sakralen Raum verlassen kann und hat, um Bestandteil gehobener kultureller Unterhaltung zu werden. Sicherlich ist nicht alle religiöse Musik in einem solchem Maß Märtyrerin der Kommerzialisierung geworden wie etwa das Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage aus dem Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach. Aber obwohl es fast zur Hintergrundmusik verkommen ist, bleibt doch die Hoffnung, dass die Schönheit der Musik und Worte manche anrühren und innehalten lassen. Der religiösen Musik eignet eine subversive Kraft, die sich der Benutzbarkeit und Veralltäglichung widersetzt. Dieser Befund einer Diastase von innerreligiöser Bedeutung und Kommerzialisierung war Anlass für das Seminar für Katholische Theologie der Freien Universität Berlin und die Abteilung für Fort- und Weiterbildung im Erzbistum Berlin eine Ringvorlesung im Wintersemester

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Vorwort

2011/2012 und Sommersemester 2012 zu konzipieren, die sich diesem Thema widmet. Die Beiträge dieser Ringvorlesung sind in diesem Buch versammelt. Michael Theobald hat seinen Beitrag über Mendelssohn Bartholdy anderenorts publiziert.1 Michael Theobald war von 1985 bis 1989 Professor für Biblische Theologie/Neues Testament am Seminar für Katholische Theologie der Freien Universität Berlin und ist dem Seminar bis heute freundschaftlich verbunden. Ihm, der seinen 65. Geburtstag im Jahr 2013 begehen durfte, sei dieser Band gewidmet. Dem Erzbischof von Berlin, Herrn Rainer Maria Kardinal Woelki, gilt aufgrund finanzieller Unterstützung zur Fertigstellung dieses Buches unser Dank. Aus gleichem Grund danken wir ebenso herzlich Herrn Christian Hartmann von der Pax-Bank Berlin. Nicht vergessen seien die Mitarbeiter des Seminars, die während der Ringvorlesung hinter den Kulissen tatkräftig mitwirkten: Christian Arlt, Magdalena Baszton, Monika Daumenlang, Sara Han, Johannes Schneider, Markus Thurau.

Berlin-Dahlem, am Fest des Heiligen Josef von Copertino 2013

1 M. Theobald, Das Paulus-Oratorium von Felix Mendelssohn Bartholdy. Bibel und Musik, Stuttgart 2012.

Thomas Staubli

JHWH im Kreis musikalischer Gottheiten Einleitung, Fragestellung Wir stehen einer paradoxen Situation gegenüber: Einerseits befindet sich die Kirche Mitteleuropas in der tiefsten Krise seit es sie gibt, andererseits erfreut sich der geistliche Gesang ungebrochener Popularität. Nicht nur wird die überaus reiche klassisch-europäische Kirchenmusik landauf landab in unzähligen Profi- und Liebhaberensembles in- und außerhalb von Kirchen gepflegt, nein, die geistliche Musik erlebt bis heute immer wieder ungeahnte Innovationsschübe. Diese kommen seit rund 60 Jahren vor allem aus dem afrikanisch-amerikanischen1, mit wachsender Migration auch aus dem kontinentalafrikanischen Bereich.2 Einige NegroSpirituals finden sich bereits als Klassiker in deutschsprachigen Kirchengesangbüchern.3 Gospelkonzerte erfreuen sich seit Jahren größter Beliebtheit. Aber auch die lokale Folklore wird je länger je mehr des geistlichen Gesangs für würdig befunden. So gibt es bei uns im Alpenraum seit einigen Jahren zum Beispiel Jodelmessen. Sogar einige Rapper und Heavy-Metal-Musiker wenden sich in ihrer musikalischen Sprache an Gott.4 1 Vgl. zu den Anfängen im deutschsprachigen Raum L. Zenetti, Peitsche und Psalm. NegroSpirituals + Gospelsongs, München 1963. 2 E. Eichholzer, Sich durch Musik Gehör verschaffen – Beobachtungen in ghanaischen Migrationsgemeinden, in: V. Grüter, B. Schubert (Hg.), Klangwandel. Über Musik in der Mission, Frankfurt a. M. 2010, 331–346, illustriert das am Beispiel ghanaischer Migrationsgemeinden in Deutschland. 3 Dazu gehören „Go, tell it on the mountains“ (Ev. Gesangbuch Bayern Thüringen 1994, Ev. Gesangbuch Württemberg 1996, Ev.-ref. Gesangbuch der deutschsprachigen Schweiz 1998), „When Israel was in Egypt’s Land“ (Ev. Gesangbuch Württemberg 1996, Ev.-ref. Gesangbuch der deutschsprachigen Schweiz 1998), „We shall overcome“ (Ev. Gesangbuch Württemberg 1996, Ev.-ref. Gesangbuch der deutschsprachigen Schweiz 1998), „It’s me, o Lord“ (Ev. Gesangbuch Bayern Thüringen 1994, Ev. Gesangbuch Württemberg 1996), „Singing with a sword in my hands, Lord“ (Ev. Gesangbuch Bayern Thüringen 1994, Ev. Gesangbuch Württemberg 1996, Kath. Gesangbuch Schweiz 1998), „Nobody knows the trouble I’ve seen“ (Ev.-ref. Gesangbuch der deutschsprachigen Schweiz 1998). Im schweizerischen ökumenischen Liederbuch für junge Leute finden sich unter 206 Liedern 21 Spirituals. 4 Vgl. etwa die Anthologie „I bi wär i bi. Mundart-Hip-Hop. prophetisch ketzerisch fromm“, CD des BIBEL+ORIENT Museums, Fribourg 2009.

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Thomas Staubli

Im Bereich der E-Musik zeichnet sich ein Trend zur Globalisierung und zur Vermischung der Genres ab, eine Synkretisierung, die permanent Neues schafft und auch vor dem Überschreiten konfessioneller und religiöser Grenzen nicht zurückschreckt. Ein Trendsetter erster Güte ist in dieser Hinsicht der argentinisch-jüdische Komponist Osvaldo Golijov (*1961), zum Beispiel mit seiner Markus-Passion aus dem Jahre 2000.5 Diese Situation im jüdisch-christlichen Kulturraum steht wiederum in scharfem Kontrast zu jener der religiösen Musik des Islam. Viele Muslime bestreiten kurzerhand das Vorhandensein religiöser Musik, da nicht sein kann, was nicht sein darf. Im englischen Wikipedia-Artikel über Religiöse Musik (Religious Music) findet man keinen einzigen Satz zur Musik im Islam, sondern nur einen Link zu „Anasheed“, dem Fachbegriff für islamische Vokalmusik. Dieser Artikel ist jedoch seit Sommer 2010 blockiert, wegen zu starken Meinungsdifferenzen unter den Verfassern.6 Die Wurzeln dieser eklatanten Kulturdifferenz reichen weit zurück und lassen sich sogar sprachlich nachweisen. Vom Zweistromland bis ans Mittelmeer, also im ost-, nord- und westsemitischen Sprachraum des antiken fruchtbaren Halbmondes ist šjr die wichtigste, äußerst häufig verwendete Wurzel für „singen, besingen, Lied, Liedgut und Gesang“7, aber im südarabischen Raum, aus dem heraus sich der Islam verbreitet hat, fehlt sie. Dort finden wir dafür die Wurzel zmr, die im westsemitischen Sprachraum sehr häufig parallel zu šjr, im Sinne von „musizieren“ verwendet wird. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass im altsüdarabischen Raum nicht gesungen und musiziert worden wäre, aber es zeigt, dass dort die im übrigen semitischen Raum eng mit dem Wort šjr verbundene Kultur des Kultgesanges unbekannt bzw. anders war. Wir wollen im Folgenden speziell der Frage nachgehen, ob der hohe Stellenwert der Kultmusik in den beiden Religionen, die sich auf die Bibel beziehen, mit dem Gottesbild JHWHs zusammenhängt. Die Frage nach der Musikalität JHWHs kann freilich nicht einfach aus biblischen Texten heraus beantwortet werden, sondern muss im Kontext der reli5 Osvaldo Golijov, La passion segun Marcos, 2000. 6 Vgl. dazu auch den Beitrag von Nizar Romdhane in diesem Band. – Inzwischen gibt es englische und deutsche Wikipedia-Artikel zum Stichwort «Islamische Musik» (Stand Mai 2013). 7 Vgl. H.-J. Fabry, G. Bruner, M. Kleer, G. Steins, U. Dahmen, Art. šīr, in: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament (ThWAT) VII (1993), 1262.

JHWH im Kreis musikalischer Gottheiten

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giösen Kulturlandschaft angegangen werden, die uns die Archäologie mit Texten und Bildern heute erschließt. Erst im Vergleich kann das Spezifische an JHWH erfasst werden. Der Suche nach musikalischen Gottheiten im Umfeld JHWHs (Teil III) wird ein kurzer Überblick über die altsemitische Kultur des Kultgesangs (Teil I) und die altisraelitische Kultmusikkultur (Teil II) vorangestellt.

I. Die altsemitische Kultur des Kultgesanges Musik im Kult diente der Unterhaltung der Götter. In den Anweisungen für die babylonische Neujahrsliturgie heißt es zum Beispiel: „Der Opferschauer und der Priester des Adad stellen den Opferbefund fest. Die Hauptmahlzeit wird abgetragen und die Zwischenmahlzeit serviert. Der Priester füllt die Räucherständer, und die Musiker singen. ,Der Tempel wird heil, …‘, sagen sie …“8

Es folgen weitere Anweisungen für das Ab- und Auftragen von Mahlzeiten, zu denen und zwischen denen von den Priestern immer wieder musiziert wird. Sehr viele Hymnen – ja selbst ganze Epen – beginnen mit dem Aufruf, Gott oder die Göttin zu besingen. Zu Beginn des Ischtar-Hymnus des Ammiditana heißt es: „Die Göttin besingt, die ehrfurchtgebietendste unter den Göttinnen,/ gepriesen werde die Herrin der Menschen, die größte der Igigi!“9

Eine Hymne auf den Gott Papullegarra beginnt mit den Worten: „Vornehmster, Erstgeborener Enlils: Deine Stärke lasst uns besingen …“10

Und im Refrain heißt es jeweils: „Den herrlichen Gott will ich besingen, den Jäger des Feindes […]“. 8 Babylon, vor dem 6. Jh. v. Chr., Texte aus der Umwelt des Alten Testaments (TUAT) II, 226. 9 Babylon, 17. Jh. v. Chr., TUAT II, 721. 10 Akkad, um 1800 v. Chr., TUAT II, 728f.

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Thomas Staubli

Ein anderer Erstgeborener Enlils, nämlich Ninurta, wird zu Beginn des Anzu-Epos besungen: „Den Sohn des Königs der Wohnstätten, den strahlenden Liebling der Mami,/den Starken, will ich besingen, den göttlichen Erstgeborenen Enlils [gemeint ist Ninurta]“.11

In einem Hymnus auf die Göttin Nanaja heißt es: „Die Göttin, die Sonne ihrer Menschen, die Nanaja fleht an, besingt ihr Auftreten …“12

Aus den Anfangszeichen des Hymnus Assurbanipals auf Marduk ergibt sich ein akrostichisch gelesener Vers, der da lautet: „Ich bin Assurbanipal, der dich rief! Verleih mir Leben, Marduk, und ich will dein Lobpreis singen.“13

Die Hethiter im Norden und die Ägypter im Süden pflegten ganz ähnliche Sitten und Gebräuche. In einem breit bezeugten Hymnus auf den Nil lesen wir: „Man stimmt dir (Nilgott) ein Lied auf der Harfe an,/ man singt dir mit Handzeichen;/ Generationen deiner Kinder jubeln dir zu,/ man rüstet dir ein Fest aus.“14

Das hethitisch verfasste Lied des Ullikummi beginnt mit den Worten: „[In diesem Mythos] will ich Kumarbi, den Vater aller Götter, besingen.“15

11 Babylon, Fassung des 6. Jh. v. Chr., TUAT III, 746. 12 Babylon, 18. Jh. v. Chr., TUAT II, 724. 13 Babylon, 669–627 v. Chr., TUAT II, 765. 14 Ägypten, 18. Dyn.(?); TUAT II, 927. 15 Hattuscha, 17. Jh. v. Chr., TUAT III, 831.

JHWH im Kreis musikalischer Gottheiten

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Anlass dafür, einer Gottheit Lieder zu singen, ist in der Regel eine Heilserfahrung. Dieses do quia didisti kann unverblümt auch als do ut des oder gar als do si dabis ausgedrückt werden. „Reiß [die Krankheit] aus meinem Körper aus: Dann will ich den Preis deiner Göttlichkeit singen“16,

formuliert fast schon erpresserisch der Schlussvers eines Beschwörungsgebets an Schamasch gegen einen Totengeist, der Krankheiten bringt. Das Singen von Liedern wird so zur Belohnung für rettende Gottheiten. Anders ausgedrückt: Lieder sind lebendige Votivgaben, die da, wo sie gesungen werden, Zeugnis dafür geben, dass da eine Gottheit ist, die hilft. Die Musik wird also zur Reklame für die Gottheit, wie deutlich aus den Schlussversen eines Löserituals hervorgeht: „Schamasch, hiermit wende ich mich an dich: Lass das Übel dieser Missgeburt an mir vorübergehen, [so dass] es nicht über mich kommt! Das Übel davon möge meinem Leibe fernbleiben! Dann will ich dich täglich segnen. Die, die mich sehen, [sollen] auf ewig deinen Lobpreis [singen]!“17

Ähnlich heißt es am Schluss eines Gebetes an die persönlichen Schutzgötter: „Euer erzürntes Herz werde ruhig,/ euer Inneres erbarme sich, gewährt mir Freundlichkeit!/ Dann will ich euer unvergessliches Loblied singen für die weitverbreiteten Menschen!“18

Im Vergleich zu diesen Textbelegen aus Mesopotamien fällt bei solchen aus der kanaanäischen Hafenstadt Ugarit auf, dass die Sänger und Musiker selber als Götter betrachtet werden bzw. dass Götter zu Musikern werden. In der Neujahrsliturgie heißt es: „[Siehe,] der Retter, der ewige König, trinke,/ und es trinke Gaschru-undJaqaru,/ der Gott, der in Aṯtarot thront,/ der Gott, der herrscht in Edrei!/ Der singt und spielt/ mit der Leier und mit der Flöte,/ mit der Handpauke 16 Assur, ca. 8. Jh. v. Chr., TUAT II, 261. 17 Assur, ca. 8. Jh. v. Chr., TUAT II, 268. 18 Akkad, 18. Jh. v. Chr.(?), TUAT II, 777.

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Thomas Staubli und Zimbeln,/ mit den gesalbten Tänzern,/ mit den fröhlichen Gefährten des Koschar!“19

Im Aqhatepos ist es Baal, der zum musizierenden Sänger wird: „Wie Baal wahrlich belebt, bewirtet,/ den Lebenden bewirtet und ihm zu trinken gibt,/ vor ihm spielt und singt,/ ihm Lieblich[es ant]wortet,/ (so) werde auch ich den Aqhat, den Mann, beleben!“20

Und umgekehrt wird im Baals-Zyklus ein Kultdiener namens Radman als Sänger zum Gott: „Er (Radman) stand auf, um anzustimmen und zu singen,/ die Zimbeln in den Händen des Lieblichen./ Es sang der junge Mann mit süßer Stimme/ vor Baal auf den Höhen des Zaphon.“21

Mir scheint diese Besonderheit der ugaritischen Hymnen auf den extrem hohen Stellenwert der Musik in Kanaan hinzuweisen. Die Musik wurde als so starke, bezwingende Macht erfahren, dass sie bzw. der Sänger selber als etwas Göttliches betrachtet wurde – ein Effekt, der uns aus dem Musikstarkult ja sehr vertraut ist. In Ägypten wurde die Musik selber in Gestalt der Göttin Merit personifiziert und in einer Hymne an Amun-Re finden wir den Vers: „Schönes ,Machtbild‘ das Ptah geschaffen hat,/ schöner, liebeerweckender Jüngling,/ dem die Götter Loblieder singen.“22

Fast schon von religiösem Utilitarimus könnte man im Falle der Verbindung von Kultgesang und Gottheit im mesopotamischen Epos „Ischum und Erra“ sprechen, wo wir lesen: „Der Gott, der dieses Lied singt, in dessen Heiligtum soll Überfluss angehäuft werden,/ und wer es für schlecht hält, soll keinen Weihrauch mehr riechen.“23 19 Ugarit, 14. Jh. v. Chr., Keilalphabetische Texte aus Ugarit (KTU) 1.108:1–5. 20 Ugarit, 14. Jh. v. Chr., KTU 1.17 VI, 30–33. 21 Ugarit, 14. Jh. v. Chr., KTU 1.3 I, 18–22. 22 Ägypten, um 1600 v. Chr., TUAT II, 839. 23 Datierung(?), TUAT III, 801.

JHWH im Kreis musikalischer Gottheiten

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Nicht selten ist der religiöse Gesang Ausdruck der überschwänglichen Begeisterung für das andere Geschlecht, das zum Gott, bzw. zur Göttin wird. „Die Jungmänner, mit Reifen versehen, singen für sie,/ treten vor die reine Inanna hin“,24

heißt es in einem Lied für eine Heilige Hochzeit. Im „Traum Dumuzis“ beschwört der göttliche Held seine Schwester mit den Worten: „Bringet sie, bringet sie, bringet meine Schwester, bringet meine Geschtinanna, bringet meine Schwester, bringet meine Schreiberin, die die Tafel kennt, bringet meine Schwester, bringet meine Musikantin, die die Lieder kennt, bringet meine Schwester, bringet meine Kleine, die den Sinn der Worte kennt, bringet meine Schwester, bringet meine weise Frau, die den Sinn der Träume kennt, bringet meine Schwester …“25

Etwas sachlicher klingt die Aufforderung in „Ischtars Höllenfahrt“: „Kurtisanen sollen singen für sein (Dumuzis) Gemüt!“26

II. Altisraelitische Kultmusikkultur Gerade diese letzten Beispiele zeigen, dass sich der biblische Befund ganz in den des Vorderen Orients einfügt, wird doch im Hohenlied der Geliebte von seiner Freundin von Kopf bis Fuß als Götterstatue beschrieben (Hld 5,10–16). Über der Sammlung, in der sich dieses Liebeslied befindet, steht im Hebräischen šīr hašīrīm, „Lied der Lieder“ (1,1), also derselbe Begriff, der auch für die an Gott gerichteten Lieder im Psalter verwendet wird. Das Wort šjr findet sich in der ganzen Bibel nie im profanen Sinne, mit einer einzigen Ausnahme: nämlich in Ps 137,3, wo die babylonischen Unterdrücker von den kriegsgefangenen Sängern in demütigender Weise verlangen, dass sie ihnen zur Unterhaltung Zionslieder

24 Isin, 20. Jh. v. Chr., TUAT II, 664. 25 Nippur, 21. Jh. v. Chr., TUAT II, 28. 26 Fassung aus Ninive, 7. Jh. v. Chr., TUAT III, 766.

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Thomas Staubli

vorsingen sollen.27 Die schon unter den Assyrern als Kriegstrophäen erbeuteten judäischen Sänger sind in einzigartiger Weise bildlich auf den Reliefs aus dem Palast Sanheribs in Ninive dargestellt und werden auch in den Annalen des Königs eigens erwähnt.28 Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Kultliedkultur in Juda auf höchstem Niveau gepflegt wurde und weit über Israel hinaus bekannt war. In den 150 Psalmen des Psalters findet sich die Wurzel šjr siebzig mal. Als Verb meistens im Sinne einer Selbst- oder Fremdaufforderung, doch für JHWH zu singen. „Singt JHWH ein neues Lied, singt JHWH, alle Länder“, heißt es zum Beispiel im Einleitungsvers von Ps 96. Die Aufforderung ein neues Lied zu singen findet sich nicht nur hier (vgl. Ps 33,3; 40,4; 98,1; 144,9; 149,1; Jes 42,10). Sie verweist auf das Selbstbewusstsein der judäischen Musiker, die offenbar wussten, dass sie Neues und qualitativ Hochstehendes schufen. Ps 68,5 macht deutlich, für welche Art Gott hier gesungen werden soll: „Singt Gott, spielt seinem Namen, baut eine Straße dem, der auf den Wolken dahinfährt, Jah ist sein Name, frohlockt vor ihm.“

Es ist das Bild des Sturm- und Wettergottes, das hier evoziert wird. Einige Formulierungen in den Psalmen lassen es in der Schwebe, ob „von JHWH“ oder „für JHWH“ gesungen wird. Beides kann lǝJHWH bedeuten (Ps 7,1; 13,6; 27,6; 33,3; 68,5.33; 96,1.2; 98,1; 104,33; 105,2; 144,9; 149,1). In beiden Fällen, so scheint mir aber, fällt etwas von der Göttlichkeit auf den Sänger oder die Sängerin zurück, der oder die das Lied zum Klingen bringt. Allerdings wird nirgends in der Bibel für die Sängerinnen oder Sänger ausdrücklich Göttlichkeit beansprucht, selbst für König David nicht, den Patron des Kultgesangs. Auch ein außerhalb der Bibel überliefertes aramäisches Gebet unterscheidet klar zwischen Göttern und Menschen, wenn es darin heißt: „Trinke, Yaho, vom Guten bis zum Überfluss,/ werde satt, Adonay, vom Guten der Menschen!/ Sie werden aufstehen und zum Herrn eilen!/ Das

27 Vgl. H.-J. Fabry, G. Bruner, M. Kleer, G. Steins, U. Dahmen, Art. šīr, in: ThWAT VII, 1264. 28 Vgl. T. Staubli, Musikinstrumente und musikalische Ausdrucksformen, in: ders. (Hg.), Musik in biblischer Zeit und orientalisches Musikerbe, Stuttgart 2007, Abb. 39 und S. 56f.

JHWH im Kreis musikalischer Gottheiten

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Lied der Harfe,/ Das Lied der Leier werden wir für Dich singen,/ das Lied der sidonischen Leier …“29

III. Musizierende Gottheiten in der Levante Gab es in der Levante musizierende Gottheiten? Hatten sie eine spezielle Beziehung zu JHWH? Gehört JHWH auch zu den musizierenden Gottheiten?30 Bei der Beantwortung dieser Fragen spielt die Bildkunst eine wichtige Rolle, da Bilder das Image einer Gottheit und die Konstellationen, in der sie sich zeigt, besonders deutlich zum Vorschein treten lassen. 1. Reschef, Apollon, David Im Verlauf der 18. Dynastie Ägyptens, um 1500 v. Chr., kam das wirtschaftliche und politische Gefüge im östlichen Mittelmeerraum in Bewegung. Dies schlug sich auch auf der symbolischen Ebene nieder. Nicht nur adaptierten die Menschen der Levante ägyptische Motive und Ausdrucksformen, umgekehrt zogen auch ins ägyptische Pantheon asiatische Götter ein. Zu ihnen gehörte Reschef, ein Krieger, der fast immer mit Speer und Schild, manchmal auch noch mit anderen Waffen wie Keule oder Streitaxt ausgestattet erscheint. Er gehörte beispielsweise zu den bevorzugten Schutzgöttern Amenophis’ II. (1428–1397 v. Chr.). An der weißen Krone hängen lange Troddel, wie sie auch für Baal typisch sind. Auf der in Athribis gefundenen Stele ist sein Schurz mit Zotteln bestückt, wie sie für die Landbevölkerung der Levante – und damit für die Ahnen der Israeliten, die solchen Kleidschmuck Zizit nannten und als Gedenkfäden für die Gebote JHWHs interpretierten (Num 15,38f.) – so charakteristisch sind. Der Name Reschef bedeutet wahrscheinlich „Verbrenner“. Er kann sich sowohl auf die verheerende kriegerische Energie des Gottes beziehen als auch auf seine Verbindung zu Seuchen und Pla29 Tyrisches Hinterland/Ägypten, 4. Jh. v. Chr., TUAT II,9. 30 Diese Frage wird von G. Baumann, JHWH – ein musikalischer Gott? Ein Potpourri, in: M. Geiger, R. Kessler (Hg.), Musik, Tanz und Gott. Tonspuren durch das Alte Testament, Stuttgart 2007, 129–138, ausgehend von einer rein innerbiblischen Textanalyse positiv beantwortet: JHWH rezipiert gerne Musik und reagiert auf die Musik zur Einweihung seines Tempels mit der Erscheinung als Wolke (2Chr 5). „Er komponiert (Dtn 31f.), singt (Hld) und ist vielleicht sogar als Instrumentalist aktiv (Prov 8,30f.)“ (137).

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Thomas Staubli

gen, die oft mit Kriegen einhergehen.31 Wie alle strafenden Gottheiten, konnte Reschef auch als Schutzherr gegen die Übel angerufen werden, die er brachte. Darauf verweist der in der Reschef-Ikonographie stets prominente Schild, ein Attribut, das zur deuteronomistischen JHWHMetaphorik gehört (Gen 15,1: JHWH als Schild Abrahams; Dtn 33,29: JHWH als Schild Israels; 2Sam 22,3.31.36: Schild Davids und aller Gottesfürchtigen; so dann in vielen Psalmen: 3,4; 7,11; 18,3.31.36; 28,7; 33,20; 35,2; 47,10; 59,12; 84,10.12; 89,19; 115,9–11; 119,114; 144,2). Möglich, dass das in Israel bekannte Ritual des Salbens des Schildes (2Sam 1,21; Jes 21,5) ursprünglich mit dem Reschef-Kult in Verbindung stand. Die Langlebigkeit Reschefs im kultischen Gedächtnis Israels belegen jedenfalls mehrere Stellen, die Reschef als Gehilfen im Gefolge JHWHs bei Strafaktionen darstellen (Dtn 32,24; Ps 78,48). Hab 3,5, ein Text aus dem 7. Jh. v. Chr., zeichnet die Konstellation einer eigentlichen Göttertriade, wenn es dort heißt: „Gott kommt aus Teman und der Heilige vom Berg Paran. Sein Glanz bedeckt den Himmel, und der Lobpreis für ihn erfüllt die Erde. Und da wird ein Glänzen sein wie das Licht, ein doppelter Strahl geht aus von seiner Hand, und dort ist seine Kraft verborgen. Vor ihm her zieht Deber (Pest), und auf dem Fuß folgt ihm Reschef (Seuche).“

JHWH trägt hier die Kennzeichen einer Lichtgottheit. Die Kombination von Lichtglanz und Seuchendebakel als zwei Seiten einer Medaille kennen wir aus der Mythologie des griechischen Gottes Apollon (dessen Name einer allerdings ungesicherten Etymologie zufolge soviel wie „Zerstörer“ bedeuten könnte), gleichzeitig Gott des Lichts und der Seuchen bzw. der Heilung, der – wie wir auf Hinterlassenschaften der zwischen Orient und Okzident gelegenen Insel Zypern nachvollziehen können32 – das Erbe Reschefs im Westen angetreten hat. Ähnlich wie bei JHWH findet in der griechischen Religionsgeschichte eine Abspaltung statt. Der Bereich der Krankheiten und ihrer Heilung wird auf Äskulap 31 Offenbar hat man sich die Verbreitung von Seuchen durch Dämonen vorgestellt, die ähnlich wie Pfeile durch den Himmel schwirren und ihre Opfer heimsuchen: „Ja, der Mensch ist zu Problemen geboren und die Söhne Reschefs fliegen hoch einher“ (Ijob 5,7; P. Xella, Art. Resheph, in: Dictionary of Deities and Demons (DDD) (1999), 700–703, 703). 32 Xella, Art. Resheph, in: Dictionnaire de la civilisation phénicienne et punique (DCPP) (1992), 373f.; ders., Art. Resheph, in: DDD, 700–703.

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ausgelagert, der in der griechischen Mythologie als Sohn Apollons und der Königstochter Koronis galt, seine Lichtsymbolik wurde stark von Helios absorbiert, während Apollon ein dritter Teil verblieb, von dem wir bisher noch nicht gesprochen haben, nämlich die Künste, besonders die Musik und die mit ihr eng verbundene Wahrsagung. Tatsächlich gehört die Musik schon zu Reschef. Auf mindestens fünf der knapp dreißig erhaltenen Reschefstelen aus Ägypten sehen wir eine Laute, die entweder an seinem Arm befestigt ist (Abb. 1a–b) oder an seinem Gürtel (Abb. 1c) oder die prominent senkrecht hinter dem Gott stehend oder hängend ins Bild eingefügt wurde (Abb. 1d–e).33 Auf ein- bis zweihundert Jahre jüngeren Stempelsiegelabdrücken auf Krügen aus Kinneret am See Gennesaret (Abb. 2a–d) finden wir ganz einfache, schematische Darstellungen Reschefs, der in der einen Hand seinen mächtigen Schild trägt und die andere, unter der ein Kreis die Laute anzeigt, erhebt.34 Das Schema ist nur verständlich, wenn man die detaillierteren, älteren Vorbilder kennt. Interessant ist die Beobachtung, dass im kleinen Medium des Siegelamuletts die Waffen der Gottheit weggelassen werden. Damit treten der schützende (Schild) und der therapeutische Aspekt (Laute) der Gottheit in den Vordergrund, was gut zum Amulett als Medium der Selbstvergewisserung göttlichen Beistandes passt. Am äußeren Burgtor von Sam’al finden wir im 8. Jh. v. Chr. einen stark bewaffneten Krieger, der statt eines Schildes wahrscheinlich eine Laute35 in seiner Rechten hält (Abb. 3). Die Laute erscheint hier nicht mehr an dem durch die Tradition vorgegebenen Ort, weshalb die Identifikation der Gestalt mit Reschef in

33 Leider erwähnt I. Cornelius, Art. Resheph, in: J. Eggler, Ch. Uehlinger, eds., Iconography of Deities and Demons in the Ancient Near East, 2008, http://www.religionswissenschaft. unizh.ch/idd/prepublications/e_idd_baal.pdf, die Laute als Attribut Reschefs nicht. 34 Ich danke Stefan Münger für den Hinweis auf diese Funde. 35 Der Ausgräber F. von Luschan, der die ägyptokanaanäische Reschef-Tradition noch nicht kannte, schreibt zu diesem Objekt: „In der wagrecht vorgestreckten Rechten aber hält er einen schwer zu deutenden, auch keulen- oder kolbenförmigen Gegenstand, aber nicht so, wie man etwa Keulen zu halten pflegt, sondern mit der Hand in der Nähe des rundlich aufgetriebenen Kopfes, während das eigentliche Griffende frei emporragt“ (F. von Luschan, Ausgrabungen in Sendschirli II, Mittheilungen aus den orientalischen Sammlungen 12, Berlin 1898, 228). Diese für Keulen unpassende Tragweise passt hervorragend zur Laute, die bis heute so getragen wird.

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diesem Fall nicht mehr völlig sicher, im Kontext des Bildprogrammes36 und angesichts der Bedeutung Reschefs für Samʾal als Dynastiegott37 aber doch wahrscheinlich ist. Leider sind keine Texte erhalten geblieben, die erläutern würden, was Reschef mit seiner Laute gemacht hat, bei welcher Gelegenheit er sie gespielt hat, ob er dazu Lieder gesungen hat und was seine Musik bewirkt hat. Umso wertvoller sind jene Texte, die daran erinnern, dass die großen Kriegshelden der Levante auch begnadete Musiker, ja eigentliche Musiktherapeuten waren. Die älteste, um 1300 v. Chr. niedergeschriebene Erinnerung stammt aus dem ugaritischen Aqhat-Epos. Sie ist kurz und bündig und beschreibt den Tod des Helden: „Der Bogen zerbrach, auch die Leier (ug. knr) zerbrach“ (KTU 1.19 I:4). Mindestens 400 Jahre jünger sind jene biblischen Texte, die uns den bedeutendsten Helden des altisraelitischen Epos, David, als Waffenträger, später als Heerführer Sauls und schließlich als Besitzer des Bogens Jonatans (1Sam 18,4) schildern, zugleich aber auch als Therapeuten am Hofe Sauls, der es mit seinem Leierspiel versteht, einen bösen, von Gott geschickten Geist zu verscheuchen (1Sam 16,14–23). Kommt noch dazu, dass David zum Label des israelitischen Liedgutes, gesammelt im Psalter, wird und damit auch zum Patron des weisheitlichen Orakels, denn viele Psalmen galten als Entfaltungen eines Orakelspruches (vgl. Ps 2; 1Sam 10,5; 1Chr 25,3).38 Über Jahrhunderte hinweg finden wir also eine Verbindung zwischen Bogen und Leier. Dieselbe Konstellation begegnet uns in Griechenland. Im homerischen Apollon-Hymnus (131f.; um 700 v. Chr.) heißt es:

36 Das äußere Burgtor von Samʾal hat zwei Zangen. Die äußeren Zangen zeigen je einen Löwen mit je einem Löwenmenschen, der einen Löwen bezwungen hat. Die inneren Zangen zeigen je einen Stier und einmal einen mit Schild und Köcher bewaffneten Reiter, ihm gegenüber unseren „Reschef“. Löwenmenschen, Reiter und „Reschef“ bilden zusammen mit Löwen und Stieren einen kunstvollen Parallelismus. Biegt man direkt hinter unserem „Reschef“ auf der Stadtinnenseite nach rechts, stößt man hinter einem Mischwesen auf zwei Krieger mit großen Schilden, Speeren und Hüten, offenbar ebenfalls in der Rescheftradition. Vgl. Luschan, Ausgrabungen, 209. 37 Kanaanäische und aramäische Inschriften (KAI), 214. 38 Dieser Psalter endet mit einem Lied (Ps 150), in dem sieben verschiedene Instrumente genannt werden, auf welchen JHWH gespielt werden soll: Widderhorn (šōfar), Standleier (nævæl), Handleier (kinnor), Handpauke (tof), Saiten (minnīm), Flöte (ʿugāv) und Zimbel (ṣilṣǝlīm).

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„Lieb soll mir sein die Leier und der gekrümmte Bogen; künden auch werd’ ich den Menschen des Zeus’ unfehlbaren Ratschluss.“

Musik, Krieg und Wahrsagung gehen hier noch Hand in Hand. Beim Helden Herakles in der Löwenhaut finden wir noch den Bogen und die Leier und bei Orpheus die Leier und die Wahrsagekunst, während der jeweils dritte Aspekt wegfällt.39 Wir können demnach eine Herausbildung von verschiedenen Typen aus den bei Reschef noch kombinierten Aspekten beobachten. Außerdem spielen diese Helden oder Götter nun nicht mehr die Laute, sondern die für den Ostmittelmeerraum so typische Leier. Man hat den Eindruck, dass mit der Ambivalenz der über das Holz gespannten Darmsaite gespielt wird. Sie kann dem Bogenschuss dienen, aber auch der Erzeugung von Tönen und sogar der Wahrnehmung atmosphärischer Schwankungen durch den Mantiker, in der Art eines Hygrometers. Alle drei Aspekte sind in der Südlevante auch ikonographisch belegt, letzterer allerdings nur indirekt, insofern der Leierspieler eine Haltung einnehmen kann, die anderswo, etwa bei den Parthern, den Schamanen charakterisiert.40 Auch Reschef hat mit der Zeit seinen therapeutisch heilenden Aspekt ausgelagert, nämlich an seinen Sohn Eschmun.41 Ein weitherum bekanntes Heiligtum dieses Gottes lag bei Sidon (heute Bustan esch-Schech), wo Eschmun auch als Stadtgott verehrt worden ist. Der Sockel seines Kultbildes, das in einem paradiesisch inszenierten Garten aufgestellt war, ist uns erhalten geblieben (Abb. 4). Darauf sehen wir in der Mitte des oberen Registers den Leier spielenden Apoll (Eschmun) inmitten der olympischen Götter, unter ihm Tänzerinnen und Musikantinnen. Auf den Seiten sind die Quadrigen von Sonne und Mond zu sehen.42 Auch wenn die Szenerie nun ganz im hellenistischen Stil daherkommt, ist es noch immer 39 S. Schroer, T. Staubli, Musik und Gesellschaft in biblischer Zeit, in: T. Staubli (Hg.), Musik, 46–69, 49f. 40 Ikonographische Belege bei Staubli, Musik, Abb. 42–43. 41 In griechischen Quellen ist von Apollon als dem Vater Eschmuns die Rede, dabei handelt es sich jedoch um eine interpretatio graeca Reschefs (vgl. Arsippus in Cicero, Nat. deor. III 22,57). Dasselbe gilt für den „Apollon“ im Vertrag zwischen Hannibal und Philipp von Makedonien (Polybius VII,9,2–3), denn Reschef war ein wichtiger Staatsgott in Karthago. Vgl. Xella, Art. Resheph, in: DDD, 702. 42 R. A. Stucky, Tribune d’Echmoun. Ein griechischer Reliefzyklus des 4. Jahrhunderts v. Chr. in Sidon, Basel 1984, 12–29.

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die altorientalische Konstellation von Licht und Heilung, die hier inszeniert wurde. Zusammenfassend können wir festhalten: Es gibt im Vorderen Orient bei wechselnden Konstellationen und Namen zwischen Göttern und Helden ein über tausendjähriges Kulturkontinuum in der Verbindung von kriegerischen, heilenden und teilweise auch wahrsagenden Aspekten der Gottheit, die wir zuerst bei Reschef fassen können, einer levantinischen Gottheit, die weit nach Ägypten und Hellas ausstrahlt und die nach Hab 3,5 zusammen mit Deber und JHWH eine Triade bildet. Dabei vergegenwärtigt die Musik auf einem Seiteninstrument (Laute, Handleier) den heilenden Aspekt. In Israel tritt uns diese Verbindung in der Gestalt des Helden David entgegen, der zugleich Krieger, Musiktherapeut und Patron des Kultgesanges ist.43 Er steht damit als Held in der Tradition Reschefs und ist zugleich ein idealtypischer Diener JHWHs. Dieser ist von Hause aus ein Gott vom Typ Baal-Seths, ein Sturm- und Kriegsgott.44 Die Konstellation des singenden „David“ (-Reschef) und des besungenen JHWH zieht sich wie ein roter Faden durch die Bibel: JHWH ist ein Krieger (Ex 15,3), Schutzherr seiner Krieger (Ri 6,12; 1Sam 16,18), ja, Herr über alle Kriege, die nur gelingen, wenn er es will (2Kön 5,1; 2Chr 32,21), und zugleich ist er der, der auf den Lobgesängen Israels thront (Ps 22,3), der nicht genug bekommen kann an neuen Liedern (Ps 104,33f.; 144,9), die ihm mit allen zur Verfügung stehenden Instrumenten in immer neuen Formationen vorgetragen werden sollen (Ps 150). 2. Qudschu, Hathor, Chokmah, Zion Es könnte nun der Eindruck entstanden sein, dass nur Männer musizierten. Dem war keineswegs so. Doch der weibliche Gesang war nicht in 43 C. Nauerth, David lyricus, in: E. Stegemann (Hg.), Theologische Brosamen. FS L. Steiger, Heidelberg 1985, 275–285; D. Hoffmann-Axthelm, David als ‚Musiktherapeut‘. Über die musikalischen Heilmittel Klang – Dynamik – Rhythmus – Form, in: W. Dietrich, H. Herkommer (Hg.), König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt, Fribourg/Stuttgart 2003, 565–588; R. Kessler, David musicus. Zur Genealogie eines Bildes, in: M. Geiger, R. Kessler (Hg.), Musik, Tanz und Gott. Tonspuren durch das Alte Testament, Stuttgart 2007, 77–99; W. Dietrich, David. Der Herrscher mit der Harfe, Leipzig 2006, 277–310 (Wirkungsgeschichte). 44 Vgl. O. Keel, Die Geschichte Jerusalems und die Entstehung des Monotheismus, Göttingen 2007, 206–210.

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erster Linie mit dem Kult JHWHs, sondern mit dem der Göttin verbunden, die im Zweiten Jahrtausend v. Chr. das Image der Göttin Hathor hatte.45 Die ägyptische Göttin der Freude, des Festes, des Schmuckes, des Tanzes, der Trunkenheit und Musik hat in Asien bei Serabit El-Chadim im Sinai schon früh ein prominentes Heiligtum erhalten, wo sie in enger Beziehung zur lokalen Qudschu wahrgenommen wurde, die die Ägypter in der Ramessidenzeit ebenfalls als Göttin verehrten. Die Verbindung Hathors mit der Musik ist so eng, dass sie in Gestalt ihres Musikinstruments, des Sistrums, dargestellt werden kann. Eine Stele aus der Zeit Hatschepsuts zeigt sie so zwischen zwei Verehrerinnen (Abb. 5a). Das Hathorsistrum findet sich in der Levante auch als Amulettmotiv auf Skarabäen (Abb. 5b–c). In Bet-El, wo einer der ältesten und bedeutendsten JHWH-Tempel stand, fand man die Reste einen Sistrumgriff aus Knochen (Abb. 5d) und bei Haifa eine Kastagnette aus Nilpferdzahn mit dem Gesicht der Göttin (Abb. 5e). Ein Instrument dieser Art (maʾananʾīm) wird im Orchester erwähnt, das beim Einzug der Bundeslade in Jerusalem spielte, während David nur mit einem Lendenschurz bedeckt tanzte (2Sam 6,5.14). Im Buch der Sprüche ist es Frau Weisheit (ḥokhmāh), die genau in dieser Rolle vorgestellt wird, Rad schlagend und scherzend vor JHWH (Spr 8,30f.).46 Es ist mehr als wahrscheinlich, dass im vorexilischen Kult von Jerusalem Musikerinnen und Sängerinnen diese Rolle übernahmen. Leider erfahren wir darüber nur wenig. Immerhin wissen wir aus Ps 68,26, dass damals noch Trommlerinnen zum Tempelorchester gehörten, die vielleicht auch mit jener „großen Schar von Verkünderinnen“ (mǝvassǝrōt ṣāvʾā rav) identisch sind, die im selben Psalm erwähnt werden (68,12). Die Aufgabe der Frauen mit der Handpauke war es ja unter anderem, wichtige Ereignisse zu verbreiten und zu kommentieren (vgl. Ex 15,21; Ri 16,24; 1Sam 18,7). Ebendiese Trommlerinnen wurden analog zu den 45 Wobei anzumerken ist, dass innerhalb Ägyptens der musikalische Aspekt Hathors durch ursprünglich selbständige Gottheiten wie Mr.t, der Personifikation des Kultgesanges bzw. der Kehle (und damit auch der Maat), spezifiziert werden konnte. Das gilt noch mehr für Isis und Nephthys, was ihre Funktion als Klagefrauen angeht (W. Guglielmi, Die Göttin Mr.t. Entstehung und Verehrung einer Personifikation, Leiden 1991, 226–252). Zu weiteren musizierenden Gottheiten siehe Ch. Leitz et al., Lexikon der ägyptischen Götter und Götterbezeichnungen, Leuven 2003. 46 O. Keel, Die Weisheit spielt vor Gott. Ein ikonographischer Beitrag zur Deutung des mǝsaḥäqät in Sprüche 8,30f, Fribourg/Göttingen 1974.

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weit verbreiteten, hundertfach belegten Terrakottafiguren der Jerusalemer Göttin Aschera ebenfalls in Ton gestaltet47, was auf ihren hohen, göttinnenartigen Status verweist (Abb. 6a–c). Als Gelegenheitstrommlerinnen würde den Frauen aber nicht jener Status erwachsen sein, der sie würdig machte, in Terrakotta gestaltet zu werden. Ihre göttinnengleiche Repräsentationsfunktion erwächst ihnen als Stimmen eines größeren, kollektiven Organismus. Auf einem Elfenbeinbecher aus Nimrud wachsen Trommlerinnen gleichsam aus der Stadtmauer und werden so gewissermaßen als ihre Stimme personifiziert (Abb. 6d).48 Die enge Verbindung der Stadt mit musizierenden, singenden Frauen ist der Kontext, in dem die Rolle Zions als Künderin der Größe JHWHs zu verstehen ist: „Zion hört es und freut sich, und es jauchzen die Töchter Judas, weil du, JHWH, gerecht regierst“ (Ps 97,8). „Jerusalem, rühme JHWH, lobe, Zion, deinen Gott“ (Ps 147,12). „Jauchze und juble, Bewohnerin von Zion! Denn groß ist in deiner Mitte der Heilige Israels!“ (Jes 12,6). „Steig auf einen hohen Berg, du Freudenbotin Zion! Erhebe deine Stimme mit Kraft, du Freudenbotin Jerusalem! Erhebe sie, fürchte dich nicht! Sag den Städten Judas: Seht, euer Gott!“ (Jes 40,9). Was für den Freudengesang gilt, trifft nicht weniger auch für den Klagegesang zu, der, wenn auch nicht ausschließlich so doch in weiten Stücken, Frauensache war. Auch hier geht es nicht nur und nicht immer um die Klage von Einzelnen und über Einzelne. Eine kollektive Repräsentanz erhält die fachkundige Klagefrau insbesondere als Stimme der Stadt (vgl. Jer 9,16–20). Ihre Totenklage (qīnāh) wird zur Stadtklage (nǝhī) und ergeht in der Wir-Form: „Wir sind verwüstet“. Sie hat eine hochpoliti-

47 S. Paz, Drums, Women, and Goddesses. Drumming and Gender in Iron Age II Israel (OBO 232), Fribourg/Göttingen 2007; D. T. Sugimoto, Female Figurines with a Disk from the Southern Levant and the Formation of Monotheism, Mita 2008. 48 Zur Verbindung von Frau und Stadt(mauer) siehe auch T. Staubli, Erinnerung stiftet Leben. Begleiter zu den Sonntagslesungen aus dem Ersten Testament. Lesejahr B, Luzern 2002, 104; Schroer, Staubli, Musik, 58; Ch. Maier, Daughter Zion, Mother Zion. Gender, Space, and the Sacred in Ancient Israel, Minneapolis 2008, 30–59; S. Schroer, Die weise Frau auf der Stadtmauer von Abel-bet-Maacha (2Sam 20,14–22), in: W. Dietrich (Hg.), Seitenblicke. Literarische und historische Studien zu Nebenfiguren im zweiten Samuelbuch (OBO 249), Fribourg 2011, 394–411.

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sche und literarische (vgl. Klgl) Dimension49 und zielt zugleich auf die Erweichung des göttlichen Mutterschoßes (raḥamīm) ab. In Ägypten konnten Frauen, die die Klagegesänge ausführten, durch Aufschriften an den Armen ausdrücklich als Isis und Nephthys bezeichnet werden.50 Im Akt ihrer Klage waren sie Verkörperungen der Göttin. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass musizierende Frauen in Israel jubelnd, triumphierend oder klagend ein Kollektiv, nämlich den lebendigen Organismus des Stadtstaates, repräsentieren konnten. Analog zu Ägypten, wo solche Frauen die Rolle von Göttinnen übernahmen, dürfte bis zur Verdrängung der Göttin aus dem Symbolsystem des Jerusalemer Kultes diese das Matronat über diese Formen der Musik besessen haben. Über die Gestalten der Weisheit und Zions ließen sich diese Musiktraditionen zwar ins JHWH-monotheistische System einbinden, was aber die Verdrängung der Frauen aus der Kultmusik im frühen Judentum offenbar nicht verhindern konnte. 3. Bes Die Frauen hatten allerdings auch einen männlichen Verbündeten. Von der Göttin führt nämlich eine Spur zu Bes, der als Tatoo auf dem Oberschenkel einer Lautenspielerin für Hathor erscheint (Abb. 7a). Bes ist eine sehr komplexe Gottheit, deren Ursprünge ins Alte Reich der Ägypter zurückreicht. Meistens wird er zwergengestaltig, in Grätsche mit angewinkelten Armen, mit Löwenschwanz, Löwenmähne und maskenartigem Gesicht dargestellt, oft wird auch nur sein Kopf abgebildet. Bereits die Zaubermesser des Mittleren Reiches, auf denen er fast immer vorkommt, finden sich auch außerhalb des Niltales, zum Beispiel in Megiddo. Die Menschennähe und Schutzfunktion der Gottheit machte Bes zu einem der beliebtesten Amulettmotive. Nebst dem Udschatauge ist kein ursprünglich ägyptisches Motiv in der Südlevante so häufig belegt wie

49 Wobei sie bei der Verschriftlichung oftmals ihr ursprünglich weibliches Vorzeichen verliert (S. Schroer, Biblische Klagetraditionen zwischen Ritual und Literatur. Eine genderbezogene Skizze, in: M. Jaques (Hg.), Klagetraditionen. Form und Funktion der Klage in den Kulturen der Antike (OBO 251), Fribourg/Göttingen 2011, 83–104, 86ff.). 50 Vgl. pBremner-Rhind (312/11 v. Chr.) und die Klagelieder des 2. Jh., zit. in Guglielmi, Göttin, 234.

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Bes, meistens in frontaler Darstellung. In persischer Zeit ist die Gestalt von Gibraltar im Westen bis Afghanistan im Osten bekannt. Bes ist, allem voran, ein Schutzgott, und zwar besonders der Schwangeren, der Gebärenden, der Wöchnerinnen und aller Menschen während des Schlafes. Feindliches, meist dargestellt als Schlange, wehrt er mit bloßen Händen oder Messern ab, aber auch mit Hilfe der Musik und des Tanzes. Musizierende Bese finden sich nicht nur in Ägypten, sondern auch im östlichen Mittelmeerraum. In Megiddo ist Bes belegt, der die Handpauke schlägt (Abb. 7b). Eine Bronzefigur aus der 1. Hälfte des 8. Jh. v. Chr. von Samos zeigt ihn im Huckepack auf einem Flötenspielender hockend (Abb. 7c). Ein Relief des 4. Jh. v. Chr. auf der Innenseite des Türsturzes des Tors zum Heroon von Gölbaşı-Trysa zeigt Bes selber mit Doppelflöte (Abb. 7d).51 Durch skurrile Belustigung und Erheiterung sollen alle lebensfeindlichen, deprimierenden Dämonen, das, was die Bibel ruaḥ harʿāh, „bösen Geist“, nennt (1Sam 16,23), vertrieben werden. In der Erzählung von David, der den bösen Geist Sauls vertreibt, dient dazu das Leierspiel. Dieses wird auf einer Krugmalerei des 8. Jh. in der Karawanenstation von Kuntillet Adschrud mit einer doppelten Darstellung von Bes und mit einer Inschrift kombiniert, in der JHWH von Samaria und seine Aschera als Segensmächte angerufen werden (Abb. 7e). Darüber, wie sich dieses Nebeneinander von Leierspiel, Bes, JHWH und Aschera genauer zueinander verhält, können wir nur spekulieren. Wir müssen uns wohl mit der Feststellung begnügen, dass allen vier Größen eine Dignität zukam, die sie abbildungs- bzw. zitierwürdig machte, und dass sie offenbar im Kontext der Karawanenstation den Männern abseits ihrer Heimat die Sehnsucht nach Heil, Segen und Schutz bis zu einem gewissen Grade zu stillen vermochten. Denkbar wäre etwa, dass Bes als schutzengelartige Gestalt den göttlichen Aspekt der leierspielenden Gestalt repräsentiert, die durch ihr Spiel den Segen JHWHs und Ascheras beschwört. Die androgyne Darstellungsweise dieser Gestalt einerseits und der Bese anderer-

51 Weitere Belege für den musizierenden Bes: Bes mit Doppelflöte (Lexicon iconographicum mythologiae classicae (LIMC) III/1, 103, Nr. 53), Bes mit Harfe (LIMC III/1, 103, Nr. 54 mit Abb. in LIMC III/2, 81), Bes mit Laute (LIMC III/1, 103, Nr. 55 mit Abb. in LIMC III/2, 81). Ferner J. Eggler, Art. Bes, in: Iconography of Deities and Demons in the Ancient Near East, 2012. (in Vorbereitung; siehe: http://www.religionswissenschaft.unizh.ch/idd/)

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seits deutet darauf hin, dass sich im Bereich der Musik die klassischen Gendergrenzen auflösen bzw. irrelevant werden. Das Grenzgängertum von Bes ist beeindruckend. Von ihm führen nicht nur Beziehungen zur Göttin und zu JHWH, sondern auch zu den bei Reschef behandelten kriegerisch-musikalischen Helden, die in hellenistischer Zeit manchmal die Züge des Bes annehmen können. Auch die Satyrn im Gefolge des Dionysos können manchmal besartige Züge annehmen, was uns zur letzten hier zu besprechenden Gottheit führt. 4. Dionysos Auf der ältesten judäischen Münze, der um 380 v. Chr. geprägten, berühmten, bislang singulären Yehud-Drachme (Abb. 8a), ist eine Gottheit zu sehen, die wegen des Vogels auf der ausgestreckten Hand traditionellerweise als zeusartige JHWH-Darstellung interpretiert worden ist. In seiner „Geschichte Jerusalems“ hat Othmar Keel52 aber plausibel gemacht, dass die auf dem Flügelrad thronende Gestalt vor einer Maske mehr noch als auf Zeus auf Dionysos anspielt, der auf einem Flügelrad fahrend, zusammen mit einem Satyrn dargestellt werden kann (Abb. 8b). Die Maske dürfte auf den Satyr verweisen. Ein geflügeltes Rad im Allerheiligsten des Tempels scheint auch 1Chr 28,18 vorauszusetzen, wenn dort vom tabnit ha-mærkavah hakǝruvim zahav, vom „Plan des Wagens der goldenen Keruben“, die Rede ist. Der griechische Religionsphilosoph Plutarch hat den jüdischen Kult als einen Dionysoskult gedeutet. So sah er etwa den beim Laubhüttenfest getragenen Feststrauß als Parallele zum thyrsos im dionysischen Kult. Auch die wichtige Rolle des mit Wein gefüllten Bechers bei der Sabbatfeier und die Glöckchen am Rock des Hohenpriesters schienen ihm in diese Richtung zu deuten. Wenn die Aufzeichnungen im Zweiten Makkabäerbuch auf Tatsachen beruhen, so hatte diese Identifikation zur Folge, dass die Griechen dionysische Elemente in den Jerusalemer Kult einführten, die diesem fremd waren (2Makk 6,4.7): „Die Heiden erfüllten das Heiligtum mit wüstem Treiben und mit Gelagen. Sie gaben sich mit Dirnen ab und ließen sich in den heiligen Vorhöfen 52 O. Keel, Die Geschichte Jerusalems und die Entstehung des Monotheismus, Göttingen 2007, 977–979.

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Thomas Staubli mit Frauen ein […] Am Fest der Dionysien zwang man sie [die Juden von Jerusalem], zu Ehren des Dionysos mit Efeu bekränzt in der Prozession mitzugehen.“

Ganz in diesem Sinne haben die Römer nach der Unterwerfung Judäas im Jahre 54 v. Chr. Denare geprägt, die einen Mann neben einem Kamel kniend, mit einem Zweig in der Rechten und dazu die Inschrift bacchius iudaeus, „judäischer Bacchus-Verehrer“ zeigen. Die riesige Weintraube, die Aristobul II. Josephus Flavius (Ant 14,34–36) zufolge als Begrüßungsgeschenk zu Pompeius nach Damaskus bringen lässt, dürfte diese Meinung noch unterstützt haben, nicht zuletzt aber auch der Tempelschmuck. Ebenfalls nach Josephus Flavius (Bell 5,210; Ant 15,395) und nach der Mischna (Mid 3,8c) war der Eingang, der von der Vorhalle ins Heiligtum führte, nämlich von einer oder zwei mannshohen, vergoldeten Weintrauben verziert. Aufgrund seines Antijudaismus wandte sich der römische Geschichtsschreiber Tacitus gegen eine Identifikation von jüdischem Kult und Dionysos-Kult. Er schreibt (Hist 5,5): „Weil aber ihre Priester gelegentlich mit Flöten und Pauken Musik machten, sich mit Efeu bekränzten, auch ein goldener Rebstock sich im Tempel fand, so glaubten einige an eine Verehrung des Pater Liber […] Dazu aber wollen die Bräuche nicht passen; denn die von dem Gott Liber eingeführten Zeremonien sind festlich und fröhlich, die Art der Juden aber abgeschmackt und schäbig.“

Das Interessante an dieser gehässigen Äußerung ist, dass Tacitus an erster Stelle als Charakteristikum des jüdischen Kultes die von den Priestern ausgeübte Musik mit Flöten und Pauken nennt. Das passt einerseits zu einer weiteren Passage bei Josephus, der in einem Atemzug mit den Priestern und Leviten auch die Leierspieler (kitharistai) und Sänger (hymnodoi) mit ihren Instrumenten (organon) nennt, die das Volk beschworen, keinen Konflikt mit den Römern anzuzetteln (Bell 2,321), andererseits passt es ausgezeichnet zum Bildprogramm der Münzen Bar Kochbas, auf deren Rückseiten die Musikinstrumente des Tempelpersonals, nämlich Handleier (kinnor), Standleier (nævæl) und Trompeten (ḥazozǝrot) dominieren (Abb. 9a–c), während die Vorderseite sehr häufig eine große

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Weintraube zeigt oder auch den Lulav, den Feststrauß von Sukkot.53 Tacitus nennt jene Instrumente – Handpauke und Doppelflöte –, die für ihn als Römer zu den Bacchanalien gehören. In Jerusalem ließ sich die alte Tradition des Leierspiels aber nicht durch diese poppigeren Instrumente verdrängen. Die Doppelflöte gehörte an besonders freudigen Festen jedoch auch zum Kultorchester (mArakhin 2,3). Außerdem zeigen Hinweise zur Aufführungspraxis der Psalmen wie „nach Art der Pfeifentänze“ (ʿal-māḥalat; Ps 53,1; 88,1) und „zum Pfeifenspiel“ (æl-hannǝḥilōt; Ps 5,1), dass man Blasinstrumente schon früher für den Psalmenvortrag verwendete. Es ist nicht zu übersehen, dass damit, aber auch mit der starken Betonung der Weintraube im Bildprogramm des Tempels, mit ekstatischen Tänzen am Laubhüttenfest und mit dem angelehnt Sitzen, also dem symposiastischen Mahl beim Pessachfest, in römischer Zeit Elemente im jüdischen Kult betont werden, die auch zu den Dionysien gehörten, die ja nicht nur im fernen Griechenland und Italien, sondern auch in paganen Teilen Palästinas gefeiert wurden, wie zum Beispiel der Dionysoszyklus in einer Villa zu Sepphoris belegt.54

IV. Ertrag Versuchen wir abschließend diese Tour d’horizont zusammenzufassen. Das Image des alten levantinischen Gottes Reschef, der mit kriegerischen, aber auch mit musikalischen Mitteln kämpft und heilt, ging im griechischsprachigen Raum auf Apollon und Helden wie Orpheus und Herakles über, im kanaanäischen Raum auf Helden wie Aqhat und David, die nun aber alle nicht mehr die Laute, sondern die Leier spielen. Das Erbe der musizierenden Göttin Qudschu bzw. Hathor wird im Kult des israelitischen Jerusalem durch junge Frauen fortgeführt, die erst in nachexilischer Zeit aus dem Kultmusikbereich verdrängt werden. Assyrische Reliefs weisen darauf hin, dass die trommelnden Frauen, die in der Levante wie die Göttin Aschera gerne als Terrakottafiguren gestaltet wurden, eine Art lebendige Verkörperung der Stadt darstellen. Sie sind demnach für Jerusalem eng mit dem Image Zions zu verbinden, das bei Deuterojesaja noch in nachexilischer Zeit wie eine Göttin geschildert 53 Y. Meshorer, Jewish Coins of the Second Temple Period, Tel Aviv 1967, Pl.22–27. 54 R. Talgam, Z. Weiss, The mosaics of the house of Dionysos at Sepphoris – excavated by E. M. Meyers, E. Netzer and C. L. Meyers, Jerusalem 2004.

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werden kann. Die in nachexilischer Zeit im Stellenwert noch steigende Kultmusik Jerusalems kann demnach als eine Kundtuung der ganzen, quasi göttlichen Stadt zu ihrem Gott begriffen werden. Die Musikinstrumente auf den Münzen Bar Kochbas sind in diesem Kontext geradezu als Beschwörung an JHWH zu verstehen, doch alles zu unternehmen, dass der Gesang zu seinen Ehren in Jerusalem wieder erklingen möge. Die Römer und wohl auch viele hellenisierte Juden haben den jüdischen Kult als eine Variante des Dionysoskultes begriffen, wegen der großen Bedeutung der Musik einerseits und wegen der dominanten Symbolik von Trauben und Wein andererseits. Ein Bindeglied zwischen Reschef, der Göttin und Dionysos ist der Grenzgänger Bes. Er kann Züge jener Gottheiten annehmen, und er ist es, der auf den Malereien von Kuntillet Adschrud zusammen mit einer Leierspielerin in nächster Nähe zum Namen JHWHs auftaucht (Abb. 7e). Dieser JHWH hat das Image eines Sturm-, Wetter- und Sonnengottes.55 Er gehört damit zu jenen höchsten Göttern, die nicht selber musiziert haben, sondern denen Musik zur Ehre und Unterhaltung gebührte. Im Kult JHWHs hat die Musik einen sehr hohen Stellenwert und dementsprechend haben ihn auch die Sängerinnen und Sänger, die diese Musik komponierten und vortrugen. Sie sind die eigentlichen Verkörperungen der musizierenden Gottheiten Reschef, Hathor, Isis, Nephthys, Dionysos oder Bes. Die Namen David und Mirjam, aber auch jene der Vorsteher der Sängergilden am Tempel treten gewissermaßen das Erbe der alten Götter an. Obwohl sie nicht mehr als Gottheiten angesprochen werden, ist ihre emblematische und das Musikerbe kanonisierende und damit in gewisser Weise hypostasierende Funktion offenkundig. Sie repräsentieren den Fundus der Musik, die bis heute zu Ehren JHWHs erklingt. Und damit stehen sie gleichzeitig als Glieder in einer Kette, die die alte, kanaanäische Begeisterung für die Kultmusik mit der modernen Musikkultur verbindet, in die kein geringer Teil des Mehrwertes jüdischchristlich inspirierter Gesellschaften hineinfließt.

55 Keel, Geschichte, 264–286.

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Epilog Unser Gang durch die Religionsgeschichte der Levante auf der Suche nach Beziehungen JHWHs zur Musik hat uns u.a. zu Apollon und Dionysos geführt, zwei griechischen Göttern mit uralten orientalischen Wurzeln, beide mit engen Verbindungen zur Kultmusik: reflektierend, komponierend, sinnend, analysierend und prognostizierend, ein Gott der Weissagung, der eine, der andere begeistert, genießend, betrunken, in Trance, improvisierend, ein Gott der ekstatisch-schöpferischen Vision. Beide Aspekte gehörten zur altorientalischen Wahrsagekunst und damit auch zur biblischen Prophetie. Vielleicht hat Friedrich Wilhelm Joseph Schelling also bei seiner Sichtung der antiken Vorbilder nur eine altorientalische Matrix wiederentdeckt, als er das Apollonisch-Dionysische als zwei komplementäre Charakterzüge des Menschen, besser des Mannes, beschrieb, die Friedrich Nietzsche dann in seinem Werk „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ popularisierte. Was den beiden philosophierenden Männern und vielleicht schon den sie inspirierenden Griechen entging, ist ein dritter Aspekt, den die JHWH-Theologie Jerusalems noch kannte und pflegte: nämlich das scherzhaft-anregende, erotisch-erheiternde und manchmal verblüffende Spiel der Qudschu-Hathor und ihres zwergenhaften Kollegen Bes, der von allen Gottheiten am engsten mit JHWH in Beziehung gebracht wurde.

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Abbildungen

b c d e a Abb. 1a–e Bewaffneter Reschef mit Laute auf ägyptischen Stelen der 19.–20. Dynastie (1292–1070 v. Chr.) a Athribis; Chicago, Oriental Institute OIC 10569; S. Schroer, Die Ikonographie Palästinas/Israels und der Alte Orient. Eine Religionsgeschichte in Bildern, Bd. 3: Die Spätbronzezeit (IPIAO 3), Fribourg 2011 Nr. 921; b Ptahtempel von Memphis; London, University College, UC 14400; IPIAO 3 Nr. 923; c Herkunft und Aufenthaltsort unbekannt; I. Cornelius, The Iconography of the Canaanite Gods Reshef and Baʿal. Late Bronze and Iron Age I Periods (c 1500-1000 BCE), OBO 140, Fribourg CH/Göttingen, 1994: RR20; d Qantir; Hildesheim, Römer- und Pelizäus-Museum 1100; Zeichnung des Autors, Hieroglyphen B. Hufft nach Cornelius 1994: RR2; e Qantir (?); Leipzig, Ägyptisches Museum der Universität 3619; Zeichnung U. Zurkinden-Kolberg und B. Hufft nach Cornelius 1994: RR3.

a b c d Abb. 2a–d Stark stilisierter Reschef auf früheisenzeitlichen Siegelabdrücken von Krughenkeln aus Kinneret; S. Münger, „Handle with Care” – Notes on Stamp-Seal Impressions on Jar Handles and a Bulla from Early Iron Age Tell el-ʿOrēme/Tệl Kinrōt, ZDPV 125, 2009, 116-138: Fig. 1 nos. 4, 5, 8 und 9.

Abb. 3 Bewaffneter Mann (Reschef?) mit Laute auf einem Orthostaten des äußeren Burgtores von Samʾal; 8. Jh. v. Chr.; Zeichnung des Autors nach einer Fotografie des Originals im Vorderasiatischen Museum Berlin.

Abb. 4 Sog. Eschmun-Tribüne von Bustan eš-Šeḫ (Sidon); 5. Jh. v. Chr.; Zeichnung Ulrike ZurkindenKolberg nach Stucky 1984: Tafeln 3,1; 4,1 und 5,1.

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a b c d e Abb. 5a–e Hathor und die Musik. a Kalksteinstele; Hatschepsut (1479–1458 v. Chr.); Gebelein (?); Berlin, Ägyptisches Museum; IPIAO 3, Nr. 734; b Siegelamulett; Lachisch; um 1400 v. Chr.; O. Keel/ Ch. Uehlinger, Göttinnen, Götter und Gottessymbole. Neue Erkenntnisse zur Religionsgeschichte Kanaans und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographischer Quellen, Fribourg 62010 (GGG): Abb. 75; c Amulett, Tell el-Adschul; um 1400 v. Chr.; GGG: Abb. 74; d Sistrumgriff aus Knochen; Bet-El; 15. Jh. v. Chr.; Jerusalem, Rockefeller Museum; IPIAO 3, Nr. 763; e Klapper aus Nilpferdzahn; 14. Jh. v. Chr.; Tel Schiqmona; Haifa, Maritime Museum; IPIAO 3, Nr. 764.

a b c d Abb. 6a–d Handpaukenspielerinnen bzw. Trommlerinnen. a Plakettentyp; Tirza (Tell el-Farʿa Nord); b Rundplastischer, phönizischer Typ; Achziv; c Mischtyp; Samaria; d Elfenbeinbecher; Nimrud (Stadtmauer 53, Haus VI, Raum 43); 8. Jh. v. Chr.; Zeichnung des Autors nach einer Fotografie des Originals im Metropolitan Museum, N.Y.

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e Abb. 7a–e Musizierender Bes. a Fayenceschale; aus dem Handel; um 1400 v. Chr.; Leiden, Rijksmuseum; IPIAO 3, Nr. 762; b Amulett des Handpauke spielenden Bes; Elfenbein; Bet Schean; um 1000 v. Chr.; University Museum Philadelphia 29-104-174; C. Herrmann, Ägyptische Amulette aus Palästina/Israel mit einem Ausblick auf ihre Rezeption durch das Alte Testament (Bd.1) (OBO 138), Göttingen 1994:424; c Bronzefigur; Samos; 750–700 v. Chr.; K. Parlasca, Zwei ägyptische Bronzen aus dem Heraion von Samos: MDAI (A) 1953, 68: Taf. 12; Eggler 2010: Nr. 579; d Relief auf der Innenseite des Türsturzes zum Heroon; Gölbaşı-Trysa; 4. Jh. v. Chr.; Zeichnung U. Zurkinden-Kolberg nach H.D. Szemethy, Die Erwerbsgeschichte des Heroons von Trysa. Ein Kapitel österreichisch–türkischer Kulturpolitik (Wiener Forschungen zur Archäologie 9), Wien 2005: pl. 30:2; Eggler 2010: Nr. 279; e Krugmalerei; Kuntillet Adschrud; 8. Jh. v. Chr.; GGG Abb. 220.

a b Abb. 8a–b Dionysos und JHWH-Dionysos a Silberdrachme; Provinz Jehud; um 380 v. Chr.; Keel 2007: Abb. 603a b Vasenmalerei; Griechenland; 550–500 v. Chr.; Keel 2007: Abb. 604.

a b c Abb. 9a–c Unter Bar Kochba 132–135 n. Chr. geprägte Münzen mit Musikinstrumenten. a Trompeten (hebr. ḥaṣōṣǝrot); Keel 2007: Abb. 647; b Standleier (hebr. nævæl); Keel 2007: Abb. 648; c Handleier (hebr. kinnor); Keel 2007: Abb. 649.

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„Ermutigt einander mit Psalmen, Lobgesängen …“ (Eph 5,19) Musik in den Anfängen der Kirche1 I. Problemanzeige Die Frage, ob Jesus gelacht hat, kann man trotz mittelalterlicher gelehrter Debatten2 und Umberto Ecos Roman Der Name der Rose nicht abschließend beantworten. Dass Jesus gesungen hat, steht dagegen aufgrund des neutestamentlichen Zeugnisses außer Frage. So heißt es im Verbindungsvers zwischen dem letzten gemeinsamen Mahl Jesu mit seinen Jüngern und ihrem Gang zum Ölberg: „Und als sie ein Loblied gesungen hatten, gingen sie hinaus zum Ölberg.“ (Mk 14,26) Allerdings zeigt sich hier bereits eine Schwierigkeit, die sich über das ganze Thema Musik in den Anfängen der Kirche legt. Denn dem Vers aus dem Markus-Evangelium ist zwar zu entnehmen, dass gesungen wurde, aber es wird weder gesagt, welches Lied erklang, noch wie es gesungen wurde. Die Antworten dazu können nicht aus dem Text selbst gegeben, sondern müssen extratextuell gewonnen werden, wobei, was methodisch freilich nicht einfach ist, die Interpretation des Textes gebraucht wird, um historische Angaben zu erheben. Dies sei an Mk 14,26 kurz verdeutlicht. Geht man davon aus, dass das letzte Mahl Jesu in Gesellschaft seiner Jünger3 ein Seder-Mahl war, dann könnte man vermuten, dass es sich bei dem Lied um den Hallel-Psalm handelte. Aus einer sehr umstrittenen historischen Hypothese4 werden dann Angaben hergeleitet. 1 Der Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, der am 7. November 2011 gehalten wurde. Der Vortragsstil wurde weitgehend beibehalten. Dem Kollegen Clemens Leonhard, Münster, danke ich für hilfreiche Hinweise. 2 Vgl. I. M. Resnick, Risus monasticus. Laughter and Medieval Monastic culture, in: Revue Benedictine 97 (1978), 90–100. 3 Vgl. H. Löhr (Hg.), Abendmahl, Tübingen 2012. 4 Vgl. E. Hackstein, Auf der Suche nach den jüdischen Wurzeln. Zur Kritik „christlicher Sederfeiern“ (Apeliotes 11), Frankfurt a. M. 2012.

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Nimmt man jedoch an, Jesus und seine Jünger hätten sich zu einem abendlichen Mahl in zeitlicher Nähe zum Pesachfest versammelt, dann kann man aus kontextuellen Beobachtungen schließen, dass dieses Zusammensein mit höchster Wahrscheinlichkeit durch Gesänge begleitet und beendet wurde. Denn diese gehörten im ganzen Mittelmeer-Kulturraum zu einem solchen Beisammensein dazu.5 Nur gilt dann, dass man sich folgerichtig mit dem biblischen Text begnügen muss; man kann nicht sagen, um welches Lied es sich handelt. Bei dem Thema Musik in den Anfängen der Kirche steht man mithin vor einer methodischen Grundsatzentscheidung, nämlich der, ob man sich mit dem vorliegenden Textmaterial begnügt, oder ob man eine – bisweilen – große Hypothesenfreudigkeit entwickelt. Auch um den Preis des Offenlassens mancher Fragen wird hier der exegetisch-historischen Zurückhaltung das Wort geredet. Das vorhandene Textmaterial und die archäologischen Funde sind derzeit so, dass diese angeraten erscheint. Es bedarf doch wohl mehr Zeugnisse, um zu sicheren Aussagen zu kommen.6 Dieser Grundsatz gilt desgleichen hinsichtlich der Beeinflussung der frühchristlichen Musik und der Art des Musizierens. Die unleugbare Tatsache, dass an den Anfängen dessen, was hernach Christentum genannt wurde, Juden und Jüdinnen aus Galiläa und Jerusalem zur Zeit des Zweiten Tempels standen, hat in der musikhistorischen Erforschung des frühen Christentums zu dem Schluss geführt, dass dessen Musik vom Tempel und der Synagoge geprägt wurde. So einleuchtend diese Aussage ist, so schwierig ist sie beim näheren Hinsehen. Zunächst gilt es, auf den Unterschied aufmerksam zu machen, der zwischen einer institutionalisierten Sakralmusik und einer außerhalb des Heiligtums praktizierten Musik besteht. Da die Tempelmusik mit bestimmten kultischen Handlungen verbunden war, setzt ein möglicher Transfer voraus, dass es Äquivalente zu diesen Ritualen außerhalb des 5 Vgl. D. E. Smith, From Symposium to Eucharist. The Banquet in the Early Christian World, Minneapolis 2003. 6 Es sei an Papyrus Oxyrhynchus XV 1786 (online einsehbar mit Wiedergabe der Melodie unter: http://www.papyrology.ox.ac.uk/POxy/) erinnert; es ist keineswegs ausgeschlossen, dass gerade die neuen Methoden der Papyrologie die Kenntnisse erheblich vermehren könnten.

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Tempels gegeben haben muss. Erst dann waren Übertragungen überhaupt möglich. Ganz außer Acht bleibt dabei die Frage, wie man die strenge Ordnung der Sänger- und Musikantengruppen im Tempel kompensieren konnte.7 Damit operiert man bei der These von der Beeinflussung durch die Tempelmusik mit relativ vielen Unbekannten.8 Ähnlich liegt der Fall bei der Synagogalmusik.9 Auch wenn viele Christinnen und Christen sich noch bis ins 4. Jahrhundert hinein der Synagoge zugehörig fühlten und es wahrscheinlich ist, dass sie deren Musik ebenfalls in den gemeindlichen Versammlungen praktizierten, so ist damit nicht viel mehr gewonnen, als die Wahrscheinlichkeit der Beeinflussung. Denn wie die synagogale Musik sich an den verschiedensten Orten des Römischen Reiches und seinen Grenzgebieten angehört hat, kann man einfach nicht wissen. Auch hier ist es wahrscheinlich, dass es eine je verschiedene Rezeption musikalischer Lokaltraditionen gegeben hat, wobei sich die Texte, aber nicht die Musik von dem unterschieden, was sonst üblich war. Und genau dieses darf man desgleichen für die christ7 Der Beitrag von J. Maier, Liturgische Funktionen der Gebete in den Qumrantexten, in: A. Gerhards u.a. (Hg.), Identität durch Gebet. Zur gemeinschaftsbildenden Funktion institutionalisierten Betens in Judentum und Christentum, Paderborn 2003, 59–112 erinnert daran, dass die Beherrschung der Gesänge bei den Tempelsängern eine immense Kompetenz voraussetzte. 8 Geradezu erstaunlich sicher ist sich bei einer Rekonstruktion F. P. Viljoen, Song and Music in the Early Christian Communities. Paul's Utilisation of Jewish Roman and Greek Musical Traditions to Encourage the Early Christian Communities to Praise God and to Explain his Arguments, in: M Labahn, J. Zangenberg (Hg.), Zwischen den Reichen: Neues Testament und Römische Herrschaft. Vorträge auf der Ersten Konferenz der European Association for Biblical Studies (TANZ 36), Tübingen 2002, 195–213. 9 Vgl. zum Überblick u.a.: J. A. Smith, The Ancient Synagogue, the Early Church and Singing, in: Music & Letters 65 (1984), 1–16; ders., First-Century Christian Singing and Its Relationship to Contemporary Jewish Religious Song, in: Music & Letters 75 (1994), 1–15; ders., Music in Ancient Judaism and Early Christianity, Farnham 2011; J. W. McKinnon, On the Question of Psalmody in the Ancient Synagogue, in: Early Music History 6 (1986), 159–191; allerdings kann man bei einigen Autoren feststellen, dass sie von einem Modell der Entstehung des Christentums und der Trennung vom Judentum ausgehen, das heute in der Theologie nicht nur als antiquiert, sondern auch als Folge des Antijudaismus betrachtet wird; vgl. etwa: D. Hiley, Western Plainchant. A Handbook, Oxford 1993, 485: „In the decades after the destruction of the temple, which removed at a stroke the whole focus of Israel’s religious life, something like an ordered service of worship became established in the synagogue, a partial substitute for what had been lost.“ Hilfreich ist immer noch die Textsammlung von J. W. McKinnon (Hg.), Music in Early Christian Literature, Cambridge 1987.

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lichen Gemeinden annehmen. Was in Alexandrien möglich war, muss nicht für Kafarnaum oder Rom gelten. Und ob die Ablehnung von Musikinstrumenten, wie man sie in rabbinischen Texten der Spätantike findet, überall zu allen Zeiten galt, ist eben auch fraglich. Sie mag für die Rabbinen und ihre Einflussbereiche von Wichtigkeit gewesen sein, jedoch außerhalb ihrer Zirkel keine Beachtung gefunden haben. Aus diesen Texten hat man freilich geschlossen, dass auch frühe Christen keine Instrumente benützten. Verstärkt wurde diese Vermutung durch den Umstand, dass sich bei den kirchlichen Autoren ab dem 4. Jahrhundert die Kritik an bestimmter instrumentaler Musik zur heftigen Polemik wandelt, wobei nachdrücklich darauf hinzuweisen ist, dass nicht die Musik generell verworfen wird, sondern ihre Verwendung in als anrüchig und unanständig wahrgenommenen Kontexten.10 Doch es stellt sich uneingeschränkt die Frage, ob die Rückdatierung solcher Positionen bis in die früheste Zeit der Kirche methodisch angezeigt ist, da die Veränderungen etwa im Bereich der Integration in kulturelle und gesellschaftliche Zusammenhänge ab dem 4. Jahrhundert grundlegend waren. In den ersten zwei Jahrhunderten ist eher eine Pluralität als eine Konformität musikalischer Praxis, die sich aufgrund geographischer und kultureller Gegebenheit unterschied, in christlichen Gemeinden anzunehmen.11 Daher ist festzuhalten: „It would be […] mistaken to interpret the range of the earliest Christian music in terms of what the mainstream church eventually found acceptable.”12

II. Singen im Geist Einen nicht geringen Anteil an der Entstehung von Gesängen dürfte die pneumatische Begabtheit der frühen christlichen Gruppierungen gehabt 10 Vgl. C. A. Stapert, A New Song for an Old World, Grand Rapids 2007, 131–147, der aufzeigt, dass die Kritik sich auf die Instrumentalmusik bei öffentlichen Veranstaltungen, Hochzeiten, häuslichen Mählern und religiösen Festen bezieht, wobei man damit durchaus eine verbreitete Position teilte. 11 Ch. Page, The Christian West and its Singers. The First Thousand Years, New Haven 2010, 29– 116. 12 Ch. Page, West, 32.

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haben.13 Offensichtlich kam es im Zustand geistgewirkter Ekstase nicht nur zu prophetischen oder glossolalischen14 Phänomenen, sondern auch zu solchen des Gesangs, wie die Belege bei Paulus im 1 Kor 14 (V15 ψαλῶ τῶ πνεύματι, ψαλῶ δὲ καὶ τῶ νοί) zeigen. Es ist freilich zu erwägen, ob hier präzise zwischen den lautlichen Äußerungen zu unterscheiden ist. Insofern sie rein individuelle Erscheinungen des Geistes sind, eignet beiden, dass sie nicht verständlich für andere sind und damit kein kommunikatives Geschehen darstellen. Sie verbleiben damit im Bereich des individuellen Besonderen. Paulus ist daran gelegen, diese Geistesgaben zu entindividualisieren und sie als Beitrag des gemeindlichen Zusammenhalts zu etablieren. Dabei geht es ganz konkret um Verständlichkeit und Ausweitung in die gesamte Gemeinde hinein. 15 Allerdings erwähnt Paulus bei dem pneumatischen Singen anders als bei der Glossolalie keine Übersetzung durch Dritte. 1 Kor 14,26 (ἕκαστος ψαλμὸν ἔχει) spricht Paulus von einem Psalm. Damit wird der religiöse Charakter des Gesangs unterstrichen, der ihm schon wegen seines Ursprungs, des Pneumas, zukommt. Eine grundsätzliche Infragestellung nimmt Paulus mithin nicht vor, sondern eine funktional begründete Einschränkung, die darin zu sehen ist, dass wer in der Gemeinde singt, für die Gemeinde verstehbar singen soll.16 Zugleich ist mit dem Gebrauch des Wortes „Psalm“ angezeigt, dass der Begriff nicht allein für Texte aus dem Buch des Psalters benützt, sondern auch für individuell formulierte Lieder verwendet wird. Die Fähigkeit der Psalmennachdichtung ist sowohl im Neuen Testament wie in anderen jüdischen Schriften belegt. Dabei handelt es sich nicht um Imitationen, sondern um Weiterfortschreibungen formaler und 13 F. W. Horn, Das Angeld des Geistes. Studien zur paulinischen Pneumatologie, Göttingen 1992; G. D. Fee, God's Empowering Presence. The Holy Spirit in the Letters of Paul, Peabody 41999; M. Wolter, Der heilige Geist bei Paulus, in: JBTh 24 (2009), 93–119; K. Erlemann, Unfassbar? Der Heilige Geist im Neuen Testament, Neukirchen-Vluyn 2010; H. Scherer, Geistreiche Argumente. Das Pneuma-Konzept des Paulus im Kontext seiner Briefe (NTA.NF 55), Münster 2011. 14 Vgl. S. B. Choi, Geist und christliche Existenz. Das Glossolalieverständnis des Paulus im Ersten Korintherbrief (1 Kor 14), Neukirchen-Vluyn 2007. 15 Vgl. H. J. Klauck, Mit Engelszungen? Vom Charisma der verständlichen Rede in 1 Kor 14, in: ZThK 97 (2000), 276–299. 16 Zum kulturellen Kontext vgl. M. E. Gordley, Teaching through Song in Antiquity. Didactic Hymnody among Greeks, Romans, Jews, and Christians (WUNT 2, 302), Tübingen 2011.

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inhaltlicher Aspekte der Psalmen unter unterschiedlichen theologischen Aspekten. Die Cantica der Kindheitsgeschichte des Lukas-Evangeliums, Benedictus, Magnificat und das Nunc dimittis, bieten hierfür einen eigenen Beleg. Sie greifen nicht nur ganze Textstücke der Überlieferung aus der Gebetssprache auf und fügen sie zu einem neuen Gebet zusammen, sondern situieren diese neu entstandenen Gebete in der Erzählung von Jesus Christus.17 Im zweiten Werk des Lukas, der Apostelgeschichte, findet sich ein Verbindungsglied zu den geistgewirkten Psalmen. In Kapitel 4 wird erzählt, dass es, nachdem Petrus und Johannes freigelassen worden waren, zu einem gemeinsamen Gebet kommt,18 in dessen Verlauf der Psalm 2 auf Christus hin ausgelegt wird. Ungeachtet der Frage der Historizität der Erzählung wird hier ein Vorgang dargestellt, dessen Ergebnis sich auch in anderen neutestamentlichen Texten niederschlägt, nämlich die christologische Interpretation und Rezeption biblischer Psalmen. Aus dieser hermeneutischen Praxis heraus dürfte sich dann auch die urchristliche Psalmendichtung entwickelt haben. Ob und inwieweit in den Gemeinden zwischen Psalmen, Hymnen und Liedern unterschieden wurde, ob sie etwa jeweils signifikante Merkmale in Inhalt oder der Vortragsweise hatten, ist mit Gewissheit nicht zu sagen. Die Trias der literarischen Gesangsformen19 begegnet Eph 5,18–20. Hierbei handelt es sich um einen paränetischen Text, der die Gemeinde zu einem ihrem Glauben angemessenen Lebenswandel anleiten will. Der Abschnitt beginnt mit einer Polemik gegen den Alkoholgenuss. Ob es sich hier um eine Kritik an geschehenen außergemeindlichen oder an in17 Es wird hier selbstredend nicht behauptet, die Cantica seien tatsächlich Lieder, die mit dem Zweck des Gesangs geschrieben wurden; vielmehr sind die Texte, die wohl der Evangelist verfasste, ein Beleg für die Fähigkeit der Nachdichtung: R. Kampling, „Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels“. Zur Theozentrik von Lk 1–2, in: Th. Söding, (Hg.), Der lebendige Gott. Studien zur Theologie des Neuen Testaments (FS Wilhelm Thüsing), Münster 1996, 149–179, 163–165; umfassend: G. Kennel, Frühchristliche Hymnen? Gattungskritische Studien zur Frage nach den Liedern der frühen Christenheit (WMANT 71), NeukirchenVluyn 1995. 18 Vgl. J. A. Fitzmyer, The Acts of the Apostles. New Translation with Introduction and Commentary (AB 31), New York 1998, 306–313. 19 Diese Verbindung wird gewählt, um nochmals zu verdeutlichen, dass man von der Art des Vortrags nichts Genaues sagen kann.

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nergemeindlichen Erscheinungen des Alkoholmissbrauchs handelt oder sich eine Befürchtung vor solchen Zuständen äußert, ist nicht klar auszumachen. Desgleichen ist nicht notwendig anzunehmen, dass es sich um Alkoholgenuss in religiösen Kontexten handelt. Dass Alkohol benützt wurde, um religiöse ekstatische Zustände herbeizuführen, ist für die Antike belegt. Allerdings muss man nicht sogleich einen Hintergrund aus anderen Kulten vermuten. Nicht jedes Ereignis, bei dem Wein getrunken und gesungen wurde, ist dionysisch.20 In einer erneuten (vgl. Eph 5,15.17) antithetischen Ermahnung kontrastiert der Autor den Zustand in der Fülle des Weins dem in der Fülle des Geistes.21 Statt mit Wein soll die Gemeinde sich mit Geist füllen. Nun kann man hier gewiss anmerken: „Von Wein voll werden oder vom Geist voll werden, das ist in der Tat ein seltsamer Gegensatz, aber ein wahrer.“22

Die „Wahrheit“ liegt darin begründet, dass der erste Zustand zum Untergang führt, während der zweite letztlich zum Kyrios öffnet. Der geistgewirkte Zustand geht einher mit „Psalmen, Lobliedern und geistlichen Liedern“. Obwohl im Text keine Differenz zwischen diesen drei Gruppen festzustellen ist, hat sich gleichwohl an ihnen die exegetische Phantasie entzündet. Man meinte, darin die Urgestalt der „Vormesse“ zu finden, die in drei verschiedenen Formen des Gesangs auf die Eucharistie vorbereitet. Trotz dieser geistreichen Beobachtung muss man nüchtern feststellen, dass der Text nicht einmal erkennen lässt, ob es sich um eine gottesdienstliche Versammlung handelt.23 Es sei doch an Jak 5,13 erinnert, der das Singen als adäquates Lebensgefühl der Freude wiedergibt: 20 Die dionysische These vertreten u.a.: C. L. Rogers, The Dionysian Background of Ephesians 5:18, in: BSac 136 (1979) 249–57; C. A. Evans, Ephesians 5:18–19 and Religious Intoxication in the World of Paul, in: St. E. Porter (Hg.), Paul’s World (Pauline Studies 4) Leiden 2008, 181– 200; vgl. aber dazu: H. W. Hoehner, Ephesians. An Exegetical Commentary, Grand Rapids 2002, 701: „Drunkenness occurred both inside and outside of the religious practices of the day.“ 21 Vgl. J. P. Heil, Ephesians 5:18b: „But Be Filled in the Spirit“, in: Catholic Biblical Quarterly 69 (2007), 506–516. 22 F. Mußner, Der Brief an die Epheser (ÖTK 10), Gütersloh 1982, 148. 23 Vgl. F. Mußner, Brief, 149–150.

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Rainer Kampling „Geht es einem unter euch schlecht, soll er beten. Geht es jemandem gut, soll er singen.“

Auch die frühen Christen konnten außerhalb des Gottesdienstes singen. Bemerkenswerter ist dagegen im Eph die Funktion, die hier dem Gesang zugeschrieben wird. Zwischen der Geisterfüllung und dem Singen besteht eine kausale und funktionale Beziehung. Der Gesang lässt den Geist mit den Sinnen erfahrbar und wahrnehmbar werden. Es ist grammatikalisch nicht auszuschließen, den Text so zu verstehen, dass der Gesang eine pneumatische Erregung herbeiführen sollte. Er wäre dann ein Mittel, um Ekstase herbeizuführen. Durch diese Deutung wäre dann auch das inhaltliche Problem, das sich mit dem Imperativ verbindet – wie kann man jemanden auffordern, sich mit dem Geist zu füllen, wenn er Geschenk und Gabe ist? –, gelöst. Allerdings bringt diese Erklärung eine Schwierigkeit mit sich. Dem Epheserbrief ist sehr daran gelegen, christliches Leben als von der Außenwelt unterscheidbares darzustellen. Es wäre erstaunlich, wenn er hier nun auf eine Praxis aus anderen Kontexten zurückgriffe.24 Daher wird man den Text eher so auffassen dürfen, dass die Gesänge als geistgewirkt verstanden werden und dass man durch ihr Singen der Präsenz des Geistes gegenwärtig wird. Da man im Geist singen kann, muss der Geist anwesend sein. Die Lieder sind mithin Orte und Erweis der Wirksamkeit des Geistes und haben für die Gemeinde zentrale Bedeutung, da sich durch sie eine Kommunikation untereinander ergibt25, eine Kommunikation, die auf den Herrn und auf Gott entgrenzt ist.26 Dieser Befund ist daran ablesbar, dass der Epheserbrief ebenfalls im 5. Kapitel die Strophe eines Hymnus27 argumentativ einsetzt: „Ja, alles, was durchleuchtet wird, ist Licht. Darum heisst es: Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten, so wird Christus dein Licht sein.“ (Eph 5,14)

24 Ähnlich: C. A. Stapert, Song, 19–21. 25 ψάλλοντες τῆ καρδία ὑμῶν τῶ κυρίω (Eph 5,19) verweist auf den inneren Grund des Menschen, nicht auf ein innerliches Singen. 26 Vgl. H. W. Hoehner, Ephesians, 707–713. 27 Vgl. F. Mußner, Brief, 146–147; H. W. Hoehner, Ephesians, 684–668.

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Dass es sich bei diesem Text um ein der Gemeinde bekanntes Lied handelt, macht die Einleitungsformel deutlich. Die Interpretationen dieses dreigliedrigen Textes sind Legion. Am wahrscheinlichsten ist noch, dass es sich um ein Tauflied handelt. Dass hier Christus genannt wird, korrespondiert mit Eph 5,19, da mit dem Kyrios Jesus Christus gemeint ist. Ihm gilt der Gesang und an ihn ist er gerichtet. Wie Vers 20 zeigt, wird darin kein Problem in der theozentrischen Ausrichtung auf Gott gesehen. Der Ihm geschuldete Dank wird im Namen Jesu Christi dargebracht, den die Gemeinde als ihren Herren glaubt und weiß.

III. Die Bedeutung von Liedern für die gemeindliche Interaktion Beim Epheserbrief ist anzunehmen, dass der Verfasser als Grund des Dankes an den besonderen Gnadenerweis der Kenntnis Gottes in und durch Jesus Christus denkt. Gleichwohl aber kann er davon sprechen, dass das Ziel und der Empfänger der gemeindlichen Lieder Jesus Christus ist. Wollte man über den unbekannten Inhalt der Lieder spekulieren, wäre zu erwägen, Jesus Christus und das mit ihm erfahrene Heil als naheliegendste Möglichkeit zu nennen. Die Überzahl der im Neuen Testament zu findenden Texte, die man aufgrund ihres rhythmischen Charakters der Gruppe der Lieder zuordnen kann,28 handeln von Jesu Bedeutung für Heil und Rettung oder besingen, wie etwa der Philipper-Hymnus (Phil 2,5–11), die Existenz und das Wesen Jesu. Am Ende des paulinischen Hymnus steht „die Erhöhung des Gekreuzigten zum Herrn des Kosmos, dessen Lob durch die Zeiten klingt. Die literarische und theologische Sorgfalt dieses Abschnitts zeigt sich an der konzentrischen Struktur, die mit Gott anhebt und mit ihm endet. Alles, was von Jesus zu sagen ist, bleibt eingebunden in die Bezogenheit Gottes.“29

28 Sehr kritisch gegenüber dieser Einschätzung ist R. Brucker, „Christushymnen“ oder „epideiktische Passagen“? Studien zum Stilwechsel im Neuen Testament und seiner Umwelt, Göttingen 1997, der offensichtlich bestreitet, dass es gelingen kann, hymnisches Material zu identifizieren. 29 R. Kampling, Das Lied vom Weg Jesu, des Herrn. Eine Annäherung an Phil 2,6–11, in: BiKi 64 (2009), 18–22, 20.

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Für das Verständnis dieser Lieder über und zu Jesus Christus ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass sie nicht vorrangig als Unterweisungstexte entstanden, wiewohl sie diese Funktion übernehmen konnten, sondern als Reflektion der Glaubenserfahrungen. Ihre Entstehung verdankt sich vom Selbstverständnis her einer Wirksamkeit des Geistes und verbindet somit einen Wahrheitsanspruch. Dieser Befund gilt unbeschadet des Umstandes, dass es sich bei einigen der Lieder um Nachdichtungen handelt, bei anderen um durchstrukturierte Texte, die offensichtlich auf eine Art gehobenen Vortrag hin angelegt waren. Die literarische Kompetenz steht dabei nicht im Widerspruch zur behaupteten Geisterfahrung, sondern wird darin integriert. Insofern Jesus Christus und der Glaube an ihn als Wendepunkt des bisherigen Lebens verstanden wird, ist die Konzentration auf ihn in den Liedern konsequent. In der ihnen eigenen Sprache und Metaphorik haben sie für die christologische Entwicklung durchaus antizipatorische Funktion. In ihnen finden sich Motive, die in der späteren Theologie erst systematisch zum Wort kommen. Dies ist insbesondere am Element der Verehrung Jesu im und durch das Lied deutlich. Hier findet ein Schritt in Richtung Theisierung statt.30 Für diesen eminent wichtigen theologischen Prozess gibt es ein außerbiblisches Zeugnis, und zwar das des Plinius des Jüngeren. Eines der Probleme, mit denen er sich auseinandersetzen musste, war das der Christen. Er sah in ihnen einen Störfaktor, wusste aber nicht, wie er mit ihnen umgehen sollte und berichtete daher dem Kaiser Trajan (ep X 96). Von ehemaligen Christen, so heißt es im Schreiben, habe er gehört, dass sie sich vor Sonnenaufgang an einem bestimmten Tag träfen und „carmenque Christo quasi deo dicere secum in uicem“. Nun ist dieser Text nicht ganz einfach zu übersetzen, da das Wort carmen eben nicht nur Lied meint, sondern auch geordnete Rede. Daher vermuten einige Forscher, es habe sich nicht um ein Lied gehandelt.31 Immerhin kann die Bedeutung von carmen als Lied nicht als völlig unmöglich erachtet werden; 30 Vgl. dazu grundlegend: L. W. Hurtado, Lord Jesus Christ. Devotion to Jesus in Earliest Christianity, Grand Rapids 2003. 31 Ablehnend: C. Leonhard, The Jewish Pesach and the Origins of the Christian Easter. Open Questions in current Research, Berlin 2006, 123, FN 5 mit Verweis auf: K. Thraede, Noch einmal: Plinius d. J. und die Christen, in: ZNW 95 (2004) 102–128; R. Brucker, Christushymnen, 108–110.

„Ermutigt einander mit Psalmen, Lobgesängen …“

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denn immerhin wurde das Wort in diesem Sinne von dem christlichen lateinischen Autor Tertullian ca. 90 Jahre später so verstanden, als er auf den Text des Plinius Bezug nahm (Apol 2,6). Auch wenn davon auszugehen ist, dass der Text bei Plinius keine wörtliche Wiedergabe der Verhöre ist, so lässt sich doch sagen, dass er die Mitteilung der früheren Christen nur so verstehen konnte, dass sie Christus rituelle Verehrung wie einem Gott entgegenbrachten.32 Allerdings wird von Plinius nichts über den Inhalt gesagt, und man sollte hier wohl bei einer nachgetragenen Zuschreibung Zurückhaltung üben.33 Aber immerhin findet sich bei Plinius ein Hinweis auf die Gesangspraxis, denn dicere secum in uicem ist als eine Art wechselseitig vorgetragenes Lied zu interpretieren.34 Ob man nun annimmt, dass es einen Vorsingenden gab oder die Gemeinde sich in verschiedene Stimmen aufteilte, so bleibt doch in jedem Fall der Befund, dass ein gewisses Maß an Organisation und Praxis nötig war, um einen solchen Wechselgesang zu gestalten. Damit käme dem Gesang auch eine stabilisierende Funktion im Erleben der gemeindlichen Wirklichkeit zu.35

IV. Ein Schluss Man kann wenig sagen, über die Praxis des Singens in den frühesten christlichen Gruppen und über das, was gesungen wurde. Denn selbst wenn man feststellt, dass Texte hymnische Stilelemente tragen, ist damit keineswegs ausgemacht, dass sie tatsächlich ihren literarischen Kontext verlassend gesungen wurden, eine Einschränkung, die sich gerade durch die Cantica in Lk 1–2 begründet. Daher muss man die Infragestellung hinnehmen, dass selbst die doch wohl begründete Annahme, dass wirk32 Vgl. M. Daly-Denton, Singing Hymns to Christ as to a God (Cf. Pliny Ep. X, 96), in: C. C. Newman u.a. (Hg.), The Jewish Roots of Christological Monotheism. Papers from the St Andrew’s Conference on the Historical Origins of the Worship of Jesus, Leiden 1999, 277– 292. 33 R. Brucker, Christushymnen, 109, FN 88 nennt einige „mutige“ Vorschläge; allerdings weiß er selber, wonach Plinius wahrscheinlich im Verhör tatsächlich gefragt hat (ebd.). 34 Vgl. J. A. Smith, Music, 177, der vor zu weitgehenden Folgerungen für die Gesangspraxis warnt. 35 Vgl. I. H. Henderson, Early Christianity, Textual Representation and Ritual Extension, in: D. Elm von der Osten u.a. (Hg.), Texte als Medium und Reflexion von Religion im römischen Reich, Stuttgart 2006, 81–100, 86.

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lich gesungen wurde, letztlich dem Umstand entspringe, die Vorstellung einer nichtsingenden Kirche nicht hinnehmen zu wollen. Doch sollte man aus dem Umstand, dass das Wie und der Inhalt des Gesangs offen bleiben müssen, nicht die Bestreitung der Praxis des Gesangs ableiten. Nach Abwägung der Zeugnisse wird man sagen können, dass Gesang als Element gemeindlicher Praxis in das erste Jahrhundert zurückreicht. In ihm artikuliert sich nicht nur nach dem Selbstverständnis der Gemeinden die Wirksamkeit des Geistes, sondern auch eine theologische Reflektion, die wiederum ihren Grund in der Geist-Erfahrung hat. Ganz offensichtlich war Gesang eine adäquate Form, dieser Erfahrung Ausdruck zu geben. Als Folge und Zeugnis des Geistes trug er dazu bei, sich der Zugehörigkeit zu dessen Wirksamkeit zu vergewissern.

Therese Fuhrer

Augustinus über Musik in Raum und Zeit In der langen Reihe antiker Musiktheoretiker gehört Augustin zu den wichtigsten Vertretern, nicht zuletzt als Verfasser der Schrift De musica in sechs Büchern. De musica ist ein systematisches Lehrbuch in Dialogform, das jedoch nur Rhythmustheorie und Metrik behandelt; es fehlt der Teil über die Harmonielehre und damit den Kernbereich der Wissenschaftsdisziplin „Musik“.1 In De musica sowie in weiteren – nicht im engeren Sinn musiktheoretischen – Schriften verknüpft Augustin jedoch seine theoretischen Reflexionen zum Gegenstand der ars musica immer wieder mit Überlegungen zum Wesen der Zeit sowie zu Praxis und Wirkung des Gesangs, im Besonderen des Kirchengesangs in der Liturgie und sogar auch in der zeitgenössischen Religions- und Kirchenpolitik. Damit verbindet Augustin die Bereiche Musik und Religion in einer für das Rahmenthema des vorliegenden Bandes geradezu exemplarischen Weise.

I. Musik und Zahl In einer seiner frühesten erhaltenen Schriften, dem philosophischen Dialog De ordine aus dem Jahr 386 n. Chr., legt Augustin das Konzept einer systematischen Ausbildung in den sieben freien Künsten dar, das er als Lern- und Lehrordnung (ordo eruditionis) bezeichnet und damit als Teil

1 Musik wird in den antiken musiktheoretischen Traktaten in erster Linie als theoretische Wissenschaft verstanden, als ars (Technik), disciplina (Wissenschaftsdisziplin) oder scientia (Theorie); vgl. mus. 1,2: „musica est scientia bene modulandi“; auch Epistula 166,13 (an Hieronymus): „scientia sensusve bene modulandi“ („das Wissen um Harmonie und Rhythmus bzw. das Gespür dafür“; Übersetzung Alfons Fürst). Dazu St. Berg, Spielwerk. Orientierungshermeneutische Studien zum Verhältnis von Musik und Religion, Tübingen 2011, 104–113. Zum Begriff modulari vgl. H.-I. Marrou, Augustinus und das Ende der antiken Bildung, übers. von L. Wirth-Poelchau in Zusammenarbeit mit W. Geerlings (Hg.) und für die endgültige Fassung redigiert von J. Götte, 2., erg. Aufl., Paderborn etc. 1995 [Erstauflage Paris 1949], 171–177; M. von Albrecht, Musik und Befreiung. Augustinus De musica, in: International Journal of Musicology 3 (1994), 89–114, bes. 98f.: „Gestaltung von Melodie und Bewegung im rechten Maß“.

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der göttlichen Weltordnung verstanden wissen will.2 Eine solche Ausbildung ist gemäß dieser Darlegung ein Propädeutikum im Hinblick auf die Beschäftigung mit der Philosophie und entspricht dem intellektuell erschließbaren Weg der Ratio zur höchsten Erkenntnis, den allerdings nur wenige Gebildete gehen können.3 Augustin hatte offenbar während seines Aufenthalts in Mailand (384–387 n. Chr.) geplant, diese sieben Wissenschaftsdisziplinen in je einer Schrift systematisch abzuhandeln, konnte jedoch nur ein Buch über die Grammatik sowie den erwähnten ersten Teil von De musica fertig stellen.4 Das Unternehmen sei, so sagt Augustin später, als Plan gedacht gewesen, seine Schüler schritt- oder stufenweise „durch den Bereich der Körperwelt zum Unkörperlichen“ zu führen (per corporalia … ad incorporalia).5 Im Curriculum der sieben Wissenschaftsdisziplinen, das Augustin in De ordine entwirft, folgen auf die drei verbalen Fächer Grammatik, Dialektik und Rhetorik, in denen die sprachlichen Zeichen im Zentrum stehen, die vier numeralen Disziplinen Musik, Geometrie, Astrologie (im Sinn von Astronomie) und Arithmetik, die durch die Einsicht in das Wesen der Zahl zur Schau des Göttlichen führen. Dabei nimmt die Musik eine Scharnierstellung ein, da sie mit den Teildisziplinen Gesang und Metrik Gegenstand der verbalen Disziplinen des Triviums ist, durch die „Zahlhaftigkeit“ von Harmonie und Rhythmus aber auch zu den Zahlenwissenschaften des Quadriviums gehört.6 Gegenstand der Musik sind auf der niederen Ebene die sinnlich wahrnehmbaren Töne in Dichtung und Gesang, auf der höheren Ebene die rhythmische Strukturierung die-

2 Ord. 2,14 und 35–43. Zu Augustins Plänen, die Schrift um den zweiten Teil (De melo) zu ergänzen, s. unten Anm. 67. 3 Ord. 2,44–51. 4 Gemäß Augustins Aussagen in retr. 1,6. 5 Retr. 1,6 und 1,3,1; vgl. mus. 6,1; vera rel. 52. Dazu I. Hadot, Arts libéraux et philosophie dans la pensée antique. Contribution à l’histoire de l’éducation et de la culture dans l’Antiquité. Seconde édition revue et considérablement augmentée, Paris 2005, 101–136, die das augustinische Konzept in der neuplatonischen Erkenntnistheorie begründet sieht; W. Hübner, Die artes liberales im zweiten Buch von De ordine, in: Augustinus 39 (1994), 317–343, stellt dagegen die Tradition der varronischen Disciplinarum libri heraus. 6 Ord. 2,39–41; dazu Hadot, Arts, 116–121; Hübner, artes liberales; M. Fussl, D. Pingree, Disciplinae liberales, in: Augustinus-Lexikon 2 (1996–2002), 472–485, bes. 479f. Der Begriff der „Zahlhaftigkeit“ ist augustinisch (numerositas); er findet sich wiederholt in De musica sowie in an. quant. 64.

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ser Töne durch Versfuß, Kolon, Vers und Rhythmus (numerus).7 Augustin nutzt die Mehrdeutigkeit des Wortes numerus, um die Zahlenstruktur der Musik insgesamt zu begründen (ord. 2,41): „Die Vernunft erkannte weiterhin,8 dass auf dieser vierten Stufe, sei es in den Rhythmen, sei es allein im Melodischen, die Zahlen herrschen und das Ganze vollenden. Sie untersuchte sehr sorgfältig, welcher Art sie seien; sie entdeckte, dass die Zahlen göttlich und ewig sind … Und da einerseits das, was der Geist sieht, immer gegenwärtig ist und als unsterblich gilt – als so etwas erkannte sie auch die Zahlen –, andererseits aber der Ton, weil er eine sinnlich wahrnehmbare Sache ist, der vergehenden Zeit anheimfällt und nur im Gedächtnis weiterlebt, entstand die sinnvolle Trugvorstellung, dass die Musen die Töchter Jupiters und der Memoria seien … Dies ist der Grund, warum die Wissenschaft ‹der vierten Stufe› die Bezeichnung ,musische Kunst‘ erhielt, denn sie hat an der sinnlichen Wahrnehmung so viel Anteil wie an der Vernunft.“ „In hoc igitur quarto gradu sive in rhythmis sive in ipsa modulatione intellegebat regnare numeros totumque perficere; inspexit diligentissime, cuiusmodi essent; reperiebat divinos et sempiternos, praesertim quod ipsis auxiliantibus omnia superiora contexuerat. […] et quoniam illud, quod mens videt, semper est praesens et inmortale adprobatur, cuius generis numeri apparebant, sonus autem, quia sensibilis res est, praeterfluit in praeteritum tempus inprimiturque memoriae, rationabili mendacio iam poetis favente ratione Iovis et Memoriae filias Musas esse confictum est. unde ista disciplina sensus intellectusque particeps musicae nomen invenit.“ (Text: Green 1970; Übersetzung: Mühlenberg 1972)

Aus der Beobachtung, dass Rhythmus und Melodie von den Sinnen wahrgenommen werden (sensibilis res est) und deshalb als vergänglich gelten müssen, leitet Augustin die in der antiken Mythologie hergestellte genealogische Verbindung zwischen der Göttin Memoria und den Musen her und beschreibt damit die memorativen Eigenschaften und Funktionen der Musik als „Musenkunst“. Da Rhythmus und Melodie in den „göttlichen und ewigen Zahlen“ (numeri divini et sempiterni) begründet sind, steht die Musik in enger Verbindung mit der Zahlendisziplin, der 7 Ord. 2,40. 8 Die Stelle gehört in ein Narrativ von den Erfindungen des menschlichen Geistes, das an den Mythos von Thoth oder Theuth bzw. Hermes-Logos, dem Erfinder der Schrift und weiterer Kulturtechniken in Platons Phaidros 274c–275b, und an Ciceros Darstellung der Kulturleistungen in De republica 3,3 erinnert. Dazu J. Trelenberg, Augustins Schrift De ordine. Einführung, Kommentar, Ergebnisse, Tübingen 2009, 309f.

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Arithmetik,9 der Augustin – entgegen der traditionellen Reihung – die Schlussposition zuweist; denn da in den Wissenschaftsdisziplinen „alles zahlhaft“ ist (omnia numerosa),10 sind die Zahlen der Hauptgegenstand aller Disziplinen. Die intelligiblen Zahlen11 vermitteln das Wissen, das Gegenstand der Philosophie ist, und damit die Einsicht in das Prinzip der Einheit in der sinnlich wahrnehmbaren Welt.12 Die ausführlichste zahlenphilosophische Diskussion findet sich im wenig später entstandenen Dialog De musica13 und hier insbesondere im sechsten Buch, wo der Weg von der sinnlichen Wahrnehmung körperlicher Rhythmen zur höchsten Erkenntnis aufgewiesen und damit zugleich eine Erkenntnistheorie formuliert wird.14 Die Musik enthält „Spuren von Zahlen“ (vestigia numerorum), die von der Sinnlichkeit der Töne weg über die intelligiblen Zahlen zur höchsten Einheit führen.15 Die Musik hat also dadurch, dass sie rhythmisch ist, Verweischarakter im Hinblick auf den intelligiblen Bereich, auf die unveränderliche Wahrheit und auf Gott. Im Bereich der körperlichen Wahrnehmung unterscheidet Augustin zwischen fünf Arten von Zahlen, die beim Akt der Wahrnehmung von Musik in der Seele wirken und mit denen der Geist einen Klangeindruck aktiv produziert: Die physikalischen Daten der Musik sind „tönende“ oder „körperliche Zahlen“, die von der Seele aufgenommen 9 Sie wird in De ordine nicht als solche bezeichnet, sondern als Zahlenlehre umschrieben (ord. 2,14 und 43); dazu Hadot, Arts, 122f.; A. Keller, Augustinus und die Musik: Untersuchungen zu „De musica“ im Kontext seines Schrifttums, Würzburg 1993, 193f. 10 Ord. 2,43. 11 Ord. 2,43: numeri simplices et intellegibiles. Diese sind wohl nicht nur die Zahlen 1 bis 10, gegen Hadot, Arts, 127–130. 12 Ord. 2,44; 46–48. Vgl. auch ord. 2,49f.: Dadurch, dass der Mensch fähig ist, die Zahlhaftigkeit der Sinnenwelt zu erkennen, unterscheidet er sich vom Tier und kann nicht nur zu intellektuellem Wissen, sondern auch zur ethischen Vervollkommnung gelangen. 13 Zu den kontrovers diskutierten Fragen zur Datierung von De musica (Abfassung 387/8, Überarbeitung von Buch 6 oder Teilen davon in den Jahren vor 409) vgl. F. Hentschel, Aurelius Augustinus, De musica, Bücher I und VI. Vom ästhetischen Urteil zur metaphysischen Erkenntnis, Hamburg 2002, VIIIf.; Keller, Augustinus, 149–157; Berg, Spielwerk, 91f.; M. Jacobsson, Aurelius Augustinus. De musica liber VI. A Critical Edition with a Translation and an Introduction, Stockholm 2002, X–XXVIII. 14 Die zahlhafte Struktur des Rhythmus wird mit Zahlenverhältnissen und Zahlenfolgen verglichen, die wohl auf neuplatonische und neupythagoreische Quellen zurückgehen. Dazu Keller, Augustinus, 236–256; J.-C. Piguet, Augustin: De musica, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 46 (1999) 579–605; Hadot, Arts, 132–135. 15 Mus. 6,1.

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werden; die von dort her „entgegenlaufenden Zahlen“ aktivieren oder deaktivieren die Hörwahrnehmung; die „Erinnerungszahlen“ halten die sich in der Zeit erstreckende Tonfolge zusammen und ermöglichen die zusammenhängende Wahrnehmung der Musik; mittels der „Zahlen, die nach außen treten“, formt eine innerseelische Bewegung die körperlichen Bewegungen, also auch das Tanzen und Singen, in gleichmäßiger Weise; auf den „urteilenden Zahlen“ beruht die Fähigkeit, Gleichheit und Verschiedenheit von mehreren Tönen zu erfassen und zu beurteilen und die Musik als angenehm oder unangenehm zu empfinden.16 Beim Betrachten dieser auf die Sinne und die Seele wirkenden Zahlen und der dadurch zum Ausdruck kommenden Gleichheit und damit Schönheit im Bereich des Körperlichen richtet sich die menschliche Ratio auf die Einheit und ewige Gleichheit Gottes aus.17

II. Musik und Zeit Damit wird klar, warum Augustin in De ordine in der Reihe der Wissenschaftsdisziplinen der Musik im Aufstieg zur Zahlenlehre eine Scharnierfunktion zuweist. Gemäß De musica ist die Musik die deutlichste und auch ästhetisch ansprechendste Manifestationsform der Zahlhaftigkeit der Weltordnung. Mit den sinnlich erfassbaren Tönen, die sowohl kurz und punktuell als auch lang anhaltend sein können, strukturiert die Musik sowohl körperliche Bewegung – so beim Singen einer rhythmischen Melodie und beim Tanzen – wie auch das Erinnerungsvermögen, da sich die Töne in Raum und Zeit erstrecken.18 Die Dimensionen von Raum und Zeit sind auch für Augustins Zeittheorie in conf. 11 grundlegend, 16 Mus. 6,16–30. Die lat. Begrifflichkeit lautet: numeri sonantes/corporales – numeri occursores – numeri recordabiles – numeri progressores – numeri iudiciales. Dazu Keller, Augustinus, 129– 141; 256–262. A. Schmitt, Zahl und Schönheit in Augustins De musica VI, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 16 (1990), 221–237, nennt die Zahlen selbst Urteilsakte des Geistes; nach Hentschel, Aurelius Augustinus, XXIV entspricht dies einer phänomenologischen Analyse. Über all diesen Zahlen gibt es die urteilende Instanz der Ratio, die als einzige ganz von den Körperfunktionen getrennt ist (mus. 6,23f.). 17 Mus. 6,56. Dazu Ch. Horn, Augustins Philosophie der Zahlen, in: Revue des Études Augustiniennes 40 (1994), 389–415, bes. 401–405; Hentschel, Aurelius Augustinus, XIX–XXVI. 18 Vgl. auch ep. 138 (aus den Jahren 411/2), wo Augustin die Weltzeit mit einem gesungenen Lied vergleicht. Dazu V. Pöschl, Lieder als Modelle für göttliche Ordnung bei Augustin, in: G. W. Most et al. (Hg.), Philanthropia kai Eusebeia (FS Alfred Dihle), Göttingen 1993, 355– 362, bes. 359–362.

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und tatsächlich zieht er zur Illustration der Wahrnehmung von Zeit auf einer diachronen Achse die Tätigkeit des Singens heran (conf. 11,38): „Ich will ein Lied vortragen, das ich kenne. Bevor ich beginne, richtet sich meine Erwartung auf das Ganze. Habe ich damit begonnen, dann richtet sich mein Gedächtnis auf den Teil, den ich zum Vergangenen hinüber gelegt habe. Das Leben dieser meiner Tätigkeit spaltet sich dann auf in die Erinnerung an das bereits von mir Gesungene und in die Erwartung dessen, was ich noch singen werde. Gegenwärtig dabei ist nur meine Aufmerksamkeit, durch die hindurch das, was zukünftig war, in die Vergangenheit hinüberläuft. Je mehr das geschieht, um so mehr verkürzt sich die Erwartung und umso mehr verlängert sich die Erinnerung, bis die ganze Erwartung verbraucht ist, weil die ganze Tätigkeit zu Ende gekommen und in die Erinnerung eingetreten ist. Und was so mit dem ganzen Lied geschieht, […] wiederholt sich in der ganzen Weltzeit der Menschenkinder, deren Teile alle Menschenleben bilden.“ „Dicturus sum canticum, quod novi: antequam incipiam, in totum expectatio mea tenditur, cum autem coepero, quantum ex illa in praeteritum decerpsero, tenditur et memoria mea, atque distenditur vita huius actionis meae in memoriam propter quod dixi et in expectationem propter quod dicturus sum: praesens tamen adest attentio mea, per quam traicitur quod erat futurum, ut fiat praeteritum. quod quanto magis agitur et agitur, tanto breviata expectatione prolongatur memoria, donec tota expectatio consumatur, cum tota illa actio finita transierit in memoriam. et quod in toto cantico […] hoc in tota vita hominis […] hoc in toto saeculo filiorum hominum [Ps 30,20], cuius partes sunt omnes vitae hominum.” (Text: Skutella/Jürgens/Schaub 2009; Übersetzung: Flasch/Mojsisch 2005)

Augustin versucht die Zeit durch die Unterscheidung der drei Zeitstufen Vergangenheit, auf die sich die Erinnerung (memoria) richtet, Zukunft, den Gegenstand der Erwartung (expectatio), und Gegenwart zu fassen. Diese steht im Fokus der gegenwärtigen Aufmerksamkeit (praesens adtentio), die „durch das, was zukünftig war (quod erat futurum), in die Vergangenheit überläuft“.19 Diesen Vorgang der andauernden Wahrnehmung versteht Augustin als Wahrnehmung eines zeitlich fortdauernden Objektes, wie beispielsweise einer Silbe, eines Satzes, eines

19 Vgl. auch conf. 11,17–28. Zu Augustins Auseinandersetzung mit älteren Zeitkonzeptionen vgl. W. Mesch, Reflektierte Gegenwart. Eine Studie über Zeit und Ewigkeit bei Platon, Aristoteles, Plotin und Augustinus, Frankfurt a. M. 2003, 337f.

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Verses oder der Melodie eines Liedes.20 Mit dem Beispiel des Singens versucht Augustin deutlich zu machen, dass Zeit einerseits durch Messen dessen, was im sinnlichen Bereich geschieht, mental fassbar wird, da sich der empirische Wahrnehmungsprozess des Hörens im Raum und auf der Zeitachse erstreckt. Andererseits ist Zeit auch wahrnehmbar durch den mentalen Prozess der Erinnerung an das eingeübte Lied und dabei gleichzeitig durch die „Erwartung des Folgenden“, nämlich durch die Vorwegnahme dessen, was im Lied folgen muss, was man, wenn man auswendig singt, im Gedächtnis präsent haben muss. Damit wird der Prozess des Singens (und Hörens) eines Liedes exemplarisch für jeden Prozess der Wahrnehmung von Zeit. Zeit wird vom wahrnehmenden Subjekt als Phänomen der zeitlichen Erstreckung im Geist wahrgenommen, die durch eine „Ausspannung des Geistes“ (distentio animi) erfahren werden kann.21 Der Geist misst im Gedächtnis eingeprägte Zeiteinheiten (tempora).22 Zur Illustration des Phänomens zitiert Augustin – kurz vor der hier besprochenen Stelle – den Eingangsvers des ambrosianischen Hymnus Deus creator omnium (Ambros. hymn. 4,1,23 conf. 11,35):

20 Vgl. dazu E. P. Meijering, Augustin über Schöpfung, Ewigkeit und Zeit. Das XI. Buch der Bekenntnisse, Leiden 1979, 100: „Indem [Augustin] das Maß der Zeit gerade mit dem Messen eines Liedes vergleicht, behandelt Augustin das Zeitproblem – wie Varro – als eine ‚Ohrwissenschaft‘“. Vergleichbar ist die Funktion der vom Geist hervorgebrachten „entgegenlaufenden Zahlen“ (numeri occursores) und der „Erinnerungszahlen“ (recordabiles) in mus. 6,26 (s. oben S. 50f.). Dazu Ch. Horn, Augustinus, München 1995, 107f.; vgl. auch U. Störmer-Caysa, Augustins philologischer Zeitbegriff. Ein Vorschlag zum Verständnis der distentio animi im Lichte von „De musica“, Berlin 1996, passim. 21 Conf. 11,33. 22 Conf. 11,36. 23 Der Hymnus ist kritisch ediert und kommentiert von Michel Perrin in J. Fontaine et al., Ambroise de Milan, Hymnes. Texte établi, traduit et annoté, Paris 1992/22008, 229–261; vgl. auch G. Banterle et al., Sant’Ambrogio, Opere poetiche e frammenti: Inni – Iscrizioni – Frammenti, Mailand/Rom 1994, 42–47. Der erste Vers ist ein Zitat aus 2. Makk 1,24. Augustin zitiert den Hymnus öfter; jeweils V. 1 in mus. 6,2; 6,23; 6,57; conf. 4,15; 10,52; 11,35 (s. unten S. 54); Vv. 1–8 in conf. 9,32 (s. unten S. 65f.); V. 32 in beata v. 35 (s. unten S. 67f.); vgl. auch conf. 2,12; 5,9; 6,5; 9,14 (s. unten S. 65f.), wo die Junktur deus creator omnium oder nur creator omnium als „eine Art Stoßgebet“ verwendet wird (so A. Franz, Tageslauf und Heilsgeschichte. Untersuchungen zum literarischen Text und liturgischen Kontext der Tageszeitenhymnen des Ambrosius von Mailand, St. Ottilien 1994, 19). Vgl. auch M. Klöckener, Hymnus, in: Augustinus-Lexikon 3 (2004–2010) 456–463, bes. 461; Berg, Spielwerk, 206–211.

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Therese Fuhrer „,Deus creator omnium (Gott, Schöpfer aller Dinge)‘: Dieser Vers des Hymnus besteht aus acht Silben, bei denen je eine kurze mit einer langen abwechselt. […] Messe ich etwa die lange Silbe, solange sie gegenwärtig ist, wo ich sie doch nur messen kann, wenn sie beendet ist? Ihr Ende ist aber ihr Vorübergegangensein. Was ist es also, was ich messe? Wo ist die kurze Silbe, mit der ich messe? Wo ist die lange, die ich messe? Beide sind erklungen, sind verflogen, sind vergangen; beide sind nicht mehr, und doch messe ich sie und sage zuversichtlich mit der Sicherheit eines geschulten Gehörs, die lange Silbe nehme den doppelten Zeitraum ein wie die kurze. Auch das kann ich nur, weil sie vergangen und beendet sind. Nicht also sie selbst, die nicht mehr sind, sondern irgendetwas in meinem Gedächtnis, das ihm eingeprägt bleibt, messe ich.“ „,Deus creator omnium‘ [Ambros. hymn. 4,1]: versus iste octo syllabarum brevibus et longis alternat syllabis. […] ipsamque longam num praesentem metior, quando nisi finitam non metior? eius autem finitio praeteritio est. quid ergo est, quod metior? ubi est qua metior brevis? ubi est longa, quam metior? ambae sonuerunt, avolaverunt, praeterierunt, iam non sunt: et ego metior fidenterque respondeo, quantum exercitato sensu fiditur, illam simplam esse, illam duplam, in spatio scilicet temporis. neque hoc possum, nisi quia praeterierunt et finitae sunt. non ergo ipsas, quae iam non sunt, sed aliquid in memoria mea metior, quod infixum manet.“ (Text: Skutella/Jürgens/Schaub 2009; Übersetzung: Flasch/Mojsisch 2005)

Am Beispiel des ersten Verses des ambrosianischen Hymnus zeigt Augustin, wie die Wahrnehmung von Zeit beim rhythmisch strukturierten Singen funktioniert. Dieser Vers ist im Gegensatz zu den anderen Versen völlig regelmäßig gebaut und eignet sich deshalb besonders gut für Augustins Argumentation.24 Es handelt sich um einen „Dimeter purus“, bestehend aus zwei reinen Iamben (∪ – ∪ – | ∪ – ∪ –).25 Die insgesamt acht Silben sind abwechslungsweise kurz und lang, und die Längen haben gemäß den Regeln der quantitierenden Metrik die Dauer von zwei Kürzen. Augustin geht also davon aus, dass die langen Silben beim Singen doppelt so viel Zeit in Anspruch nehmen wie die kurzen. Der Vers wird also nicht in acht Silben, sondern in vier Kürzen und vier Längen, die je

24 Hymn. 4 ist auch insgesamt der schlichteste der ambrosianischen Hymnen, da jeder Silbe eine Note zugewiesen werden kann und nur die letzen Silben jedes Verses gelängt sind; er kommt also fast ohne Melismen aus. Dazu Banterle, Sant’Ambrogio, 206. 25 Dagegen kann im iambischen Metrum die erste Silbe auch lang sein, wie dies in den folgenden Versen der Fall ist, wo auch Längen aufgelöst werden. S. die folgende Anm.

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doppelt gezählt werden, eingeteilt, also in zwölf Einheiten.26 So ergibt sich eine durch Zahlen gleichmäßig strukturierte Abfolge von Tönen, mit der Augustin seine Analyse der Wahrnehmung von Zeit empirisch zu begründen versucht. Dabei stellt er auch einen Zusammenhang zu der bereits in conf. 10 vorgestellten Memoria-Lehre her: Der menschliche Geist kann eine Silbe, einen Vers und in der Folge eine Strophe oder ein ganzes Lied mit Beginn, Anfang und Ende deswegen wahrnehmen, weil der Sänger im Augenblick des Singens die folgende Melodie bzw. den Rhythmus – der in diesem ambrosianischen Vers schlicht und eingängig ist – und die Worte im Gedächtnis hat, um sie laufend aufzurufen, sich also an sie erinnert, weil er sie früher gesungen hat. Daher kennt der menschliche Geist auch das, was sein wird, weil es erwartbar ist,27 und kann auch das messen, was eigentlich nicht mehr ist, also die Silben, die verklungen sind (iam non sunt).28 Das Lied als Ganzes ist im Gedächtnis wie in einem Raum gespeichert, in dem sich der Geist, der die Zeit misst, „erstreckt“.29 Singen, Denken und Erinnern werden in dieser zeittheoretischen Analyse 26 So auch in mus. 6,2 und 23. Allerdings ist kaum anzunehmen, dass metrisch gebaute Verse im ausgehenden vierten Jahrhundert quantitierend gesungen wurden, denn dann wäre jeder Vers rhythmisch anders strukturiert, da das iambische Metrum ja im ersten Element auch Längen und dort sowie auch an weiteren Stellen Auflösungen der Längen zulässt. Das ist in den folgenden Versen tatsächlich der Fall, wo Ambrosius sogar eine obligatorische Kürze in eine Doppelkürze auflöst (V. 4: Noctemque soporis gratia, – – ∪ ∪ – | – – ∪ –). Man geht heute davon aus, dass die Hymnen mit Iktus, also in akzentuierendem Rhythmus gesungen wurden (vgl. Fontaine et al., Ambroise de Milan, 85). Augustin trägt hier also zwar eine gemäß der antiken Metrik-Theorie korrekte Analyse vor, die aber der damaligen Praxis des Hymnengesangs wohl nicht gerecht wird. Keller, Augustinus, 129 sagt zu dem Problem nichts, auch nicht die Kommentare zu Confessiones 11 (J. J. O’Donnell, Augustine, Confessions, vol. 3: Commentary on Books 8–13, Oxford 1992, 293; K. Flasch, Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. Historisch-philosophische Studie, Frankfurt a. M. 1993, 384). Zur Frage, wie man sich den ambrosianischen Hymnengesang vorzustellen hat, vgl. Fontaine et al., Ambroise de Milan, 13 mit Anm. 4 und 82–92; Franz, Tageslauf, 15–17; J. Eberhardt, A. Franz, Musik II, in: RAC 24 (2012), 247–283, bes. 274; A. Zerfass, Mysterium mirabile. Poesie, Theologie und Liturgie in den Hymnen des Ambrosius von Mailand zu den Christusfesten des Kirchenjahres, Tübingen/Basel 2008, 1f. mit Anm. 4: „in einer Art freirhythmischer Verse“. 27 Vgl. conf. 11,38 (Zitat oben S. 52): quod erat futurum. Dazu Meijering, Augustin, 99f. 28 Vgl. dazu Meijering, Augustin, 96, mit Verweis auf mus. 6,2 und 23. 29 So Flasch, Zeit, 384. Vgl. M. B. Pranger, Time and the Integrity of Poetry: Ambrose and Augustine, in: W. Otten, K. Pollmann (Hg.), Poetry and Exegesis in Premodern Latin Christianity, Leiden/Boston 2003, 49–62, bes. 59–61, der den performativen Charakter des Singens und Betens und der confessio als Grundmuster in Augustins Zeitanalyse hervorhebt.

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enggeführt; ausgehend von der mnemotechnischen Funktion des Metrums,30 wird hier dem Singen eine wissensordnende und -konservierende Aufgabe zugeschrieben.

III. Musik und Religion – Musik und Kirchenpolitik Augustin war nicht allein an der theoretischen Durchdringung der Musik als Wissenschaftsdisziplin interessiert, sondern auch an der erlebten Musik, an der Hör-Erfahrung und am emotionalen Potenzial des Singens. Bereits im philosophischen Frühdialog De ordine lässt er den jungen Schüler Licentius bei der Morgentoilette fröhlich einen Psalmvers rezitieren: „Gott aller Kraft und Tugend, bekehre uns und zeige uns dein Antlitz; so sind wir gerettet“ (deus virtutum, converte nos et ostende faciem tuam, et salvi erimus).31 Die Melodie, die er neu gelernt hat, ist ihm wie ein Ohrwurm im Gedächtnis haften geblieben, und so singt er den Vers immer wieder, selbst auf dem Abort, worüber sich Augustins Mutter Monnica empört (ord. 1,22): „Als er am Tage vorher nach Tisch wegen eines natürlichen Bedürfnisses nach draußen gegangen war, hatte er das nämliche Wort so laut gesungen, dass meine Mutter ‹es hörte und› nicht ertragen konnte, dass solches an jenem Ort unaufhörlich gesungen wurde.“ „Quod pridie post cenam cum ad requisita naturae foras exisset, paulo clarius cecinit, quam ut mater nostra ferre posset, quod illo loco talia continuo repetita canerentur.” (Text: Green 1970; Übersetzung: Mühlenberg 1972)

In der Funktion des Lehrers des Licentius versucht Augustin zwischen den beiden Positionen zu vermitteln, indem er die vorangegangene Nacht, den dunklen Abort und Licentius’ Singen des Psalmverses als Ausdruck der Situation deutet, in der sich die Gesprächsteilnehmer in ihrem Bestreben, Einsicht in die Weltordnung zu erlangen, befinden: Sie leben gewissermaßen im „Kot und Schmutz des Körpers“ und in der „Finsternis“ des „Irrtums“ und bemühen sich darum, dass Gott sie durch die Hinwendung („Bekehrung“) zu ihm und zur Tugend und Besonnenheit von den Lastern befreit (ord. 1,23): 30 Vgl. dazu Th. Fuhrer, A. Juckel, Lehrdichtung, in: RAC 22 (2008), 1034–1090, bes. 1042f. 31 Ord. 1,22f., Ps 79,8 LXX = 80,8.

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„Denn ich sehe, dass jener Gesang sowohl zu dem Ort, durch den jene Frau sich beleidigt fühlte, als auch zur Nacht eine Beziehung hat. Wir beten nämlich, dass wir zu Gott bekehrt werden und sein Antlitz schauen mögen: Wovon sollen wir wohl bekehrt werden, wenn nicht von einem gewissen Kot und Schmutz des Körpers und ebenso von der Finsternis, in die uns unser Irrtum eingehüllt hat?“ „Nam illi cantico et locum ipsum, quo illa offensa est, et noctem congruere video. a quibus enim rebus putas nos orare ut convertamur ad deum eiusque faciem videamus, nisi a quodam ceno corporis atque sordibus et item tenebris, quibus nos error involvit?“ (Text: Green 1970; Übersetzung: Mühlenberg 1972)

Das wiederholte laute Singen des „Ohrwurms“ und damit des Texts, der ein Gebet ist, wird als besonderer Kommunikationsmodus mit Gott gedeutet: Die Töne vermögen aus dem Abort herauszudringen, und dabei wird der Musik eine den Sänger über die Sinnenwelt erhebende und reinigende Kraft zugesprochen. Augustin finalisiert die Emotionen, die der junge Schüler offensichtlich beim Singen empfindet, indem er den gesungenen Text auf die Umgebung bezieht und den Gesang so zur religiösen Handlung erklärt.32 Interessant ist nun, dass Augustin in den Confessiones in der Erzählung eines Ereignisses, das der Abfassung von De ordine bzw. der darin inszenierten Begebenheit wenige Monate vorausgeht, dem religiösen Gesang eine ähnlich sinngeladene Bedeutung zuschreibt. Gemäß der Darstellung von conf. 9,7–13 zog sich Augustin im Herbst 386 von seiner Rhetorikprofessur am Kaiserhof in Mailand zurück und verfasste die vier Frühdialoge Contra Academicos, De beata vita, De ordine und die Soliloquia. Das Jahr 386, das dramatische Datum des Dialogs De ordine, hat auch in der Geschichte der Kirchenmusik und der Kirchengeschichte eine gewisse Wichtigkeit erlangt, dabei nicht zuletzt aufgrund einer kurzen Erzählsequenz in conf. 9,14–15. Die für die Analyse dieser beiden Kapitel wichtigsten Informationen zum historischen und politischen Kontext seien hier kurz zusammengefasst. Mailand ist die Stadt, die Augustin in seiner autobiographischen Erzählung in conf. 5–9 als den Ort identifiziert, an dem sein autobiographi-

32 Im Gegensatz zu den ambrosianischen Hymnen, in denen nicht-biblische Texte gesungen werden, wird hier ein Text aus dem Psalter vertont. Vgl. dazu auch unten S. 74.

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sches Ich im Jahr 386 den entscheidenden Schritt zum „katholischen“ Glauben, d. h. zum Glauben der römischen Staatskirche, vollzogen hat, den er als schreibender Autor, als Bischof der Kirche von Hippo, nun – mehr als 10 Jahre später – offiziell vertritt. Mailand war damals die Kaiserresidenz, mithin die politische Hauptstadt des römischen Reichs. In den Jahren 384 bis 386 regierte im Westen der junge Valentinian II., unterstützt von seiner Mutter Justina, die sich beide – wie die einflussreichen Goten am Mailänder Hof – zum von den kirchlichen Konzilen für häretisch erklärten homöischen („arianischen“) Glauben bekannten. Eine der zentralen Figuren in der Mailänder Politik war Ambrosius, der als „Vater der lateinischen Hymnen-Dichtung“33 gilt. Ambrosius hatte seit seiner Erhebung zum Bischof im Jahr 374 gegen die „arianische“ Kirche gekämpft, die in Mailand traditionell stark war. Im Laufe seines Episkopats gelang es ihm aber, die nizänische Staatskirche (die ecclesia catholica) auch gegen den Widerstand des Kaiserhofs zur dominierenden klerikalen Instanz zu machen. Der Kaiser und vor allem die Kaiserinmutter Justina zeigten sich jedoch nicht bereit, ihren Glauben marginalisieren zu lassen. Valentinian forderte im Sommer 385 Ambrosius auf, der „arianischen“ Gemeinde und ihrem Bischof Auxentius von Durostorum eine Kirche, die Basilica Portiana, zu überlassen, damit sie sich ebenfalls zum Gottesdienst und zum Taufritus versammeln konnten.34 In der Passionszeit 386 forderte der Kaiserhof für die „arianische“ Gemeinde eine weitere Kirche, die Basilica Nova, die sich innerhalb der Stadtmauern

33 So – nach Guido Maria Dreves (1893) – Franz, Tageslauf, 1f.; Fontaine et al., Ambroise de Milan, 11f. Diesen Titel hat Ambrosius zum einen seiner reichen Hymnen-Produktion und zum anderen ihrer enormen Nachwirkung zu verdanken. Im Corpus der überlieferten ambrosianischen Hymnentexte gelten vierzehn als echt. Dazu Franz, Tageslauf, 17–29; Zerfass, Mysterium, 2f. 34 Grundlage für die Rekonstruktion der Ereignisse der Jahre 385/6 sind Ambr. epist. 75 (an Valentinian II.); 75a (Contra Auxentium); 76 (an die Schwester Marcellina). Für eine Zusammenstellung der Daten und Quellen vgl. E. Dassmann, Ambrosius von Mailand. Leben und Werk, Stuttgart 2004, 92–108; J. H. W. G. Liebeschuetz, Ambrose of Milan. Political Letters and Speeches, transl. with introd. and notes by J. H. W. G. Liebeschuetz and C. Hill, Liverpool 2005, 124–136. Die Lage der Basilica Portiana ist unbekannt, sie wird gerne mit San Lorenzo identifiziert, so von N. McLynn, Ambrose of Milan: Church and Court in a Christian Capital, Berkeley/Los Angeles 1994, 176–179 und Dassmann, Ambrosius von Mailand, 124f.; nach A. Haug, Die Stadt als Lebensraum. Eine kulturhistorische Analyse zum spätantiken Stadtleben in Norditalien, Rahden/Westf. 2003, 435f., lässt sich S. Lorenzo jedoch frühestens an den Anfang des 5. Jh.s datieren.

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neben der Alten Basilika und dem Wohnhaus des Bischofs in der Nähe von Kapitol und Curia auf dem Forum befand.35 Die Aktion mobilisierte auf beiden Seiten jeweils große Menschenmengen, nämlich sowohl die („arianischen“) kaiserlichen Truppen als auch die nizänisch gesinnte Gemeinde, die Ambrosius um sich scharen konnte. Als in der Zeit vor Ostern 386 die Übergabe beider Basiliken mit militärischer Gewalt erzwungen werden sollte, scheiterte dies am Widerstand des Ambrosius und seiner Gemeinde, die mit ihm in der belagerten Bischofskirche ausharrte, und auch an den Soldaten, die sich zum Teil dem katholischen Bischof anschlossen. Die Versuche des „arianisch“ gesinnten Hofes, den katholischen Bischof mit legislatorischen und militärischen Mitteln zu vertreiben oder gar zu beseitigen, schlugen fehl. Ambrosius inszenierte den Sieg seiner Kirche mit der Auffindung der Gebeine der beiden Märtyrer Gervasius und Protasius, die er in der von ihm neu erbauten Basilica Martyrum (heute Sant’Ambrogio) neben seiner eigenen künftigen Grabstätte beisetzen ließ. Die Kirche war gemäß Ambrosius’ Aussagen in eben diesem Jahr 386 innerhalb kurzer Zeit fertiggestellt worden, somit rechtzeitig für die Inszenierung des Sieges gegen die „Häretiker“.36 Im selben Jahr wurde auch die kreuzförmige Basilica Apostolorum (heute San Nazaro) fertiggestellt, die an der von Valentinians Halbbruder Gratian monumental ausgebauten Kolonnaden- und Triumphalstraße lag.37 Inzwischen hatte sich Augustin von seinem Rhetorenamt und damit auch aus dem städtischen Dienst und den Verpflichtungen am politisch instabil gewordenen Kaiserhof zurückgezogen und ließ sich an Ostern 387 von Ambrosius taufen.38 Dabei fällt auf, dass er im Rahmen des autobiographischen Narrativs der Confessiones das Taufereignis fast ausschließlich als musikalisches Erlebnis gestaltet; er beschreibt nicht den konkreten Raum der Kirche, sondern die dort erklingenden Hymnen und Cantica, die ihm die (nizänische) „Wahrheit“ gleichsam über die 35 Zur Topographie vgl. Haug, Stadt, 67 und 74f. 36 Epist. 77,1f. Zu Ambrosius’ martyrologischen Aktivitäten vgl. Dassmann, Ambrosius von Mailand, 150–160. 37 Die Kreuzform richtete sich offenbar nach dem Vorbild der Basilica Apostolorum in Konstantinopel; dazu McLynn, Ambrose of Milan, 226–235; Haug, Stadt, 71, 75. – Zu dieser baulichen und auch martyrologischen Demonstration der Macht der nizänischen Kirche vgl. McLynn, Ambrose of Milan, 209–219, 226–237; Dassmann, Ambrosius von Mailand, 128–133. 38 Die Testimonien zu Augustins Taufe stellt O’Donnell, Augustine, 107 zusammen.

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Ohren vermittelten (9,14).39 Die Erzählung von dieser musikalischen Erfahrung nimmt Augustin zum Anlass, die ein Jahr zurückliegenden Ereignisse des Mailänder Kirchenstreits von 386 in Erinnerung zu rufen, die er bisher nicht erwähnt hat (9,15): „Es war noch nicht lange her, dass die Mailänder Kirche begonnen hatte, diese Art von Tröstung und Ermahnung zu feiern; die Brüder wirkten mit Herz und Stimme sehr eifrig dabei zusammen. Denn vor gut einem Jahr verfolgte Justina, die Mutter des jugendlichen Kaisers Valentinian, deinen Mann Ambrosius; sie tat es wegen ihrer Häresie, zu der sie die Arianer verführt hatten. Das gläubige Volk verbrachte, zum Sterben bereit, mit seinem Bischof, deinem Diener, die Nacht in der Kirche. Dort lebte meine Mutter, deine Magd, um zu beten, denn sie nahm als eine der ersten Anteil an dieser angsterfüllten Nachtwache. Uns ließ das kalt; die Flamme deines Geistes hatte uns noch nicht erfasst.“ „Non longe coeperat Mediolanensis ecclesia genus hoc consolationis et exhortationis celebrare magno studio fratrum concinentium vocibus et cordibus. nimirum annus erat aut non multo amplius, cum Iustina, Valentiniani regis pueri mater, hominem tuum Ambrosium persequeretur haeresis suae causa, qua fuerat seducta ab Arrianis. excubabat pia plebs in ecclesia mori parata cum episcopo suo, servo tuo. ibi mea mater, ancilla tua, sollicitudinis et vigiliarum primas tenens, orationibus vivebat. nos adhuc frigidi a calore spiritus tui.“ (Text: Skutella/Jürgens/Schaub 2009; Übersetzung: Flasch/Mojsisch 2005)

Wir erfahren hier im Nachhinein, dass Augustins Mutter Monnica „vor gut einem Jahr“ in der von den kaiserlichen Truppen belagerten Basilika anwesend war und zusammen mit der pia plebs die Nacht in der Kirche verbrachte. Augustin selbst sagt von sich, dass ihn die „Wärme des [Heiligen] Geistes“ noch nicht erfasst habe (nos adhuc frigidi a calore spiritus tui).40 In der Fortsetzung des autobiographischen Narrativs spricht sich Augustin immerhin, wenn auch kurz und knapp, eine erregte Anteil-

39 Die Stelle ist unten S. 65 zitiert. 40 Als Hofrhetor musste er ja doch Ambrosius’ Erfolge und die Misserfolge des Kaiserhofes nicht allein durch die räumliche Nähe zu den Schauplätzen, sondern auch durch sein berufliches Engagement und seine Verpflichtungen am Hof in ihrer ganzen Dramatik miterlebt haben. Dazu Th. Fuhrer, „Denkräume“. Konstellationen von Texten, Personen und Gebäuden im spätantiken Mailand, in: dies. (Hg.), Rom und Mailand in der Spätantike. Repräsentationen städtischen Raums in Literatur, Architektur und Kunst, Berlin/Boston 2012, 357– 377, bes. 364f.

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nahme zu, und diese Aussage verbindet er mit einer für die Musikgeschichte wichtigen Anmerkung (conf. 9,15): „Freilich war die ganze Stadt bestürzt und aufgewühlt, und das erregte auch uns. In dieser Situation entstand der Brauch, wie im Orient üblich, Hymnen und Psalmen zu singen, damit das Volk sich nicht vor Schmerz und Überdruss verzehre. Dies behielt man dann bis zum heutigen Tag bei; viele, ja fast alle deine Gemeinden haben es über den Erdkreis hin nachgeahmt.“ „Excitabamur tamen civitate attonita atque turbata. tunc hymni et psalmi ut canerentur secundum morem orientalium partium, ne populus maeroris taedio contabesceret, institutum est: ex illo in hodiernum retentum multis iam ac paene omnibus gregibus tuis et per cetera orbis imitantibus.“ (Text: Skutella/Jürgens/Schaub 2009; Übersetzung: Flasch/Mojsisch 2005)

Hier wird gesagt, dass damals der Gesang von „Hymnen und Psalmen“ „wie im Orient üblich“ als Brauch institutionalisiert worden sei. Die Lieder seien gesungen worden, damit das Kirchenvolk nicht von Schmerz und Trauer müde würde. Diese Institution des Gemeinde- oder Kirchengesangs habe sich „bis zum heutigen Tag“, also bis in die Gegenwart des schreibenden Autors, des Bischofs von Hippo, gehalten. Die Textstelle wird in der Liturgie- und Musikgeschichte immer wieder als wichtiges Testimonium dafür angeführt, dass Ambrosius bei offiziellen Versammlungen in der Mailänder Kirche eine neue Art des Singens eingeführt habe. Neu war möglicherweise die „Beteiligung der Gläubigen am liturgischen Gesang“, wie sie in der Ostkirche offenbar üblich war, oder aber Ambrosius hat das Singen neuer, nicht auf biblischen Texten basierender Lieder eingeführt und sich dabei an östliche Tradition gehalten.41 Die kir41 So J. Schmitz, Gottesdienst im altchristlichen Mailand. Eine liturgiewissenschaftliche Untersuchung über Initiation und Messfeier während des Jahres zur Zeit des Bischofs Ambrosius, Köln/Bonn 1975, 304–306 (Zitat S. 304); Franz, Tageslauf, 1–9; Eberhardt/Franz, Musik II, 275f., gegen die ältere Forschung, in der die Ansicht vertreten wird, dass damit die Einführung des antiphonalen Gesangs gemeint sei (vgl. auch F. van der Meer, Augustinus der Seelsorger. Leben und Wirken eines Kirchenvaters, Köln 31958, 343; G. Wille, Musica Romana. Die Bedeutung der Musik im Leben der Römer, Amsterdam 1967, 377f.; McLynn, Ambrose of Milan, 195). Das Konzil von Laodicea hatte die nichtbiblischen Hymnen verboten, diese konnten aber im Osten nie völlig verdrängt werden; dazu Eberhardt, Franz, Musik II, 279f. Dass Augustin von hymni et psalmi spricht, steht dazu nicht im Widerspruch, da der Begriff psalmus (wie canticum) nicht auf die biblischen Psalmen beschränkt ist; dazu Klöckener, Hymnus, 457f.; Eberhardt, Franz, Musik II, 273.

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chenpolitische Krise und die Situation der Belagerung der Kirche durch die kaiserlichen Truppen in jener Nacht werden so zum ursprünglichen Anlass für die Institutionalisierung des Kirchgemeindegesangs in Mailand. Von diesem Ereignis berichtet auch Ambrosius selbst in einer gegen den „arianischen“ Bischof Auxentius von Durostorum gerichteten Predigt, die er im Frühjahr des besagten Jahres 386 öffentlich gehalten hatte, daraufhin dem Kaiser übermittelte und später in seiner Briefsammlung publizierte (ep. 75a [21a = Sermo contra Auxentium], 34): „Es wird gesagt, dass das Volk durch den Gesang meiner Hymnen getäuscht worden sei. Das will ich nicht ganz abstreiten. Dies ist ein großartiges Lied, und es gibt nichts Kraftvolleres. Was ist nämlich kraftvoller als das Bekenntnis der Trinität, die täglich mit der Stimme des ganzen Volkes verherrlicht wird? Im Wettgesang streben alle danach, ihren Glauben zu bekennen, und sie können so den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist in Versen preisen. Alle sind so zu Lehrern geworden, die eben noch kaum Schüler sein konnten.“ „Hymnorum quoque meorum carminibus deceptum populum ferunt. Plane nec hoc abnuo. Grande carmen istud est, quo nihil potentius. Quid enim potentius quam confessio Trinitatis, quae quotidie totius populi ore celebratur? Certatim omnes student fidem fateri, Patrem et Filium et Spiritum sanctum norunt versibus praedicare. Facti sunt igitur omnes magistri, qui vix poterant esse discipuli.“ (Text: Zelzer 1982, Übersetzung: Fuhrer)

Ambrosius nimmt Bezug auf einen Vorwurf, den man offenbar gegen ihn erhoben hatte, nämlich dass er mit seinen Hymnen das Volk getäuscht habe. Dies streitet er zwar explizit nicht ab (plane nec hoc abnuo), er verweist aber auf die Wirkung des täglichen Singens des nizänischen Glaubensbekenntnisses, das er als confessio trinitatis bezeichnet: Der gesungene Vortrag hatte ein starkes und spontanes Engagement der Gemeinde in der Rezeption und Wiedergabe (praedicare) der Lehre zur Folge. So werden aus eben erst Lernenden (discipuli) sogleich Lehrende (magistri). Von der „Hingabe“ (devotio) des Kirchenvolkes beim Gemeindegesang berichtet später auch Ambrosius’ Biograph Paulinus von Mailand, der – im Jahr 422 – ebenfalls auf die Wirkmächtigkeit dieser Einrichtung „bis zum heutigen Tag“ verweist (Vita Ambrosii 13):

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„In dieser Zeit begann man zum ersten Mal damit, Antiphone, Hymnen und Tageszeitenlieder in der Mailänder Kirche aufzuführen; die Hingabe bei ihrer Aufführung dauert bis zum heutigen Tag fort, nicht nur in jener Kirche, sondern in fast allen Provinzen des Westens.“ „Hoc in tempore primum antiphonae, hymnia, ac vigiliae in ecclesia Mediolanensi celebrari coeperunt; cuius celebritatis devotio usque in hodiernum diem non solum in eadem ecclesia verum per omnes paene occidentis provincias manet.” (Text: Pellegrino 1961; Übersetzung: Fuhrer)

Aus diesen literarischen Zeugnissen lässt sich schließen, dass Ambrosius offenbar versuchte, seine dogmatische und (kirchen-)politische Position auch mit akustischen Mitteln, konkret dem Gesang von Texten, in denen das nizänische Glaubensbekenntnis ausgeführt wird, zu stärken.42 In beiden Texten wird die Musik als Medium der Vermittlung der catholica fides dargestellt.43 Zur baupolitischen kommt also auch die musikalische Inszenierung der Rechtgläubigkeit hinzu, die gemäß dem ambrosianischen und augustinischen und in der Folge dem paulinischen Zeugnis ihre (intendierte) emotionale Wirkung nicht verfehlte. Ambrosius markierte eine gewissermaßen synästhetische Präsenz der „katholischen“ (nizänischen) Kirche.44 Augustin, der für den „arianischen“ Kaiserhof tätig war und somit ex officio zu den Gegnern des Bischofs gehörte, wird die Sinnfälligkeit sakraler Gebäude und Räume und deren politische und symbolische Bedeutung wahrgenommen und entsprechend gedeutet haben. Im Spätsommer 386 entschied er sich dann aber doch für das nizänische Glaubensbekenntnis. Möglicherweise waren es neben den visuellen aber auch die akustischen Zeichen, mithin das Angebot des erfolgreichen nizänischen Bischofs, in der Gemeinschaft der von staatlicher Seite als „rechtgläubig“ definierten Christen dem Hymnengesang zuzuhören oder seine Hymnen 42 Dazu Schmitz, Gottesdienst, 307f. und Franz, Tageslauf, 9–11, die beide dafür plädieren, dass mit antiphonae nicht-biblische Kehrverse, also keine responsoriale Singweise gemeint sei, dass also kein Widerspruch zu Augustins Zeugnis in conf. 9,15 bestehe. 43 Die ambrosianischen Hymnen können aber nicht als „anti–arianische Kampflieder“ gelten, wie Franz, Tageslauf, 14f. betont. 44 Vgl. McLynn, Ambrose of Milan, 225: „[Ambrose’s] church was an idea, whose power rested ultimately in the force with which it was impressed upon people’s minds. […] One of the most potent spells the bishop wove around his community was the congregational singing of psalms and hymns, which endured long after the emergency of 386 had ended to become a trademark of Milanese Christianity“.

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mitzusingen und die Sakramente zu empfangen, die Augustin zu dem Schritt bewegten, durch den er später zum Bischof und Kirchenvater wurde.

IV. Musik, Emotion und Erkenntnis Der Ort von Augustins Taufe war mit großer Wahrscheinlichkeit das von Ambrosius erbaute achteckige Baptisterium (heute San Giovanni alle Fonti) neben der Basilica Nova (Santa Tecla). Allerdings erwähnt Augustin weder die auffällige Form des Raums noch die mit der Zahl Acht verbundene Symbolik der Erlösung.45 Er verweist zwar in dem nachgeschobenen Bericht über den Mailänder Kirchenstreit des Vorjahres auf die Bedeutung, die den Kirchenräumen in der Verteidigung der Rechtgläubigkeit zugekommen sei. Doch das Taufereignis lokalisiert er in einem anonymen Klangraum, in dem „Hymnen und Gesänge“ ertönen, auf die er mit starken Emotionen reagiert (conf. 9,14): „Wie weinte ich bei deinen Hymnen und Gesängen, heftig bewegt vom Wohllaut der Lieder deiner Kirche! Diese Stimmen drangen in mein Ohr, und die Wahrheit floss in mein Herz. Leidenschaftliche Frömmigkeit wallte auf. Die Tränen flossen, und mir war wohl dabei.“ „Quantum flevi in hymnis et canticis tuis suave sonantis ecclesiae tuae vocibus commotus acriter! voces illae influebant auribus meis et eliquabatur veritas in cor meum et exaestuabat inde affectus pietatis, et currebant lacrimae, et bene mihi erat cum eis.“ (Text: Skutella/Jürgens/Schaub 2009; Übersetzung: Flasch/ Mojsisch 2005).

Den Vorgang des Ergriffenwerdens beschreibt Augustin als Reaktion auf das Einströmen der Stimmen in die Ohren, und den Effekt deutet er als Wahrheitserkenntnis, die in ihm eine „leidenschaftliche Frömmigkeit“ (affectus pietatis) sowie Tränen auslöste und ihm ein Gefühl des Wohlseins vermittelte. Hier wird nicht gesagt, dass im Taufgottesdienst Hymnen aus der Feder des Ambrosius gesungen wurden – Augustin spricht allein von Hymnen und Cantica –, doch legt die unmittelbar danach ein45 Die Symbolik des Oktogons hat Ambrosius in einem an dem Gebäude angebrachten Epigramm erklärt und damit auch manifest gemacht; sie verweist auf die Auferstehung Christi am achten Tag (Inscriptiones Latinae Christianae Veteres 1841). Dazu Schmitz, Gottesdienst, 11–14; O’Donnell, Augustine, 106f.; Haug, Stadt, 74f. und 428f.

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geschobene Erzählung vom Ursprung des Gemeindegesangs im vorangegangenen Jahr diesen Schluss nahe (conf. 9,15).46 Wenig später in der autobiographischen Erzählung hebt Augustin erneut die starke emotionale Wirkung des ambrosianischen Kirchengesangs hervor, nämlich bei der Schilderung seiner Reaktion auf Monnicas Tod in Ostia im selben Jahr 387 (conf. 9,32): „Ich weinte auch nicht während der Bittgebete. Aber den ganzen Tag lang war ich im geheimen tieftraurig […] Danach schlief ich ein. Als ich wieder aufwachte, fand ich meinen Schmerz zu einem guten Teil gemildert. Ich lag allein in meinem Bett und bedachte, wie wahr doch die Verse deines Ambrosius sind, denn du bist [Ambrosius, hymn. 4,1–8] ,Gott, der Schöpfer aller Dinge, du lenkst den Himmel und kleidest den Tag mit gefälligem Licht und die Nacht mit schlafbringender Anmut, dass die Ruhe die eingezwängten Glieder löse und sie zur Arbeit wieder tauglich mache, die bedrückten Geister erhebe und die Ängstlichen befreie von Trauer‘“. „Nec in eis ergo precibus flevi, sed toto die graviter in occulto maestus eram … deinde dormivi et evigilavi et non parva ex parte mitigatum inveni dolorem meum atque, ut eram in lecto meo solus, recordatus sum veridicos versus Ambrosii tui: tu es enim [Ambrosius, hymn. 4,1–8] ,deus, creator omnium polique rector vestiens diem decoro lumine, noctem sopora gratia, artus solutos ut quies reddat laboris usui mentesque fessas allevet luctuque solvat anxios‘“. (Text: Skutella/Jürgens/Schaub 2009; Übersetzung: Flasch/Mojsisch 2005).

Hier beschreibt Augustin, wie er nach einer Phase der intensiven Trauer und Schlaflosigkeit erkannt habe, dass im Hymnus Deus creator omnium genau der Prozess des Zur-Ruhe-Findens beschrieben wird. Er zitiert die beiden ersten Strophen und damit den Teil, in dem die Erlösung von Be46 S. oben S. 61.

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drückung und Angst besungen und auf den Schöpfergott zurückgeführt wird.47 Der Hymnus ist ein Abendlied,48 möglicherweise auch eines der Lieder, das Ambrosius die Gemeinde in der von den kaiserlichen Truppen belagerten Basilika in jener Nacht während des Mailänder Kirchenstreits hat singen lassen,49 das die Mutter also gehört und mitgesungen haben kann. Das Hymnenzitat kann so als historisches Element des literarischen Nachrufs auf Monnica verstanden werden. In De beata vita, einer Schrift aus dem Jahr 386, also zehn Jahre vor der Abfassung der Confessiones, lässt Augustin die – damals noch lebende – Mutter als Teilnehmerin in einer philosophischen Diskussion auftreten und legt ihr nicht allein eine confessio trinitatis, sondern auch den Schlussvers desselben Hymnus in den Mund (beata v. 35): „[Augustin:] ,Dem Einsichtigen zeigen diese drei Erkenntnisse einen Gott und eine einzige Substanz‘ […] Hier fielen der Mutter Worte ein, die tief in ihrem Gedächtnis verhaftet waren, und als wache sie inmitten ihres Glaubens auf, kam voll Freude jener Vers unseres Bischofs von den Lippen: ,Den Betern hilf, Dreieinigkeit!‘ [Ambros. hymn. 4,32] Und sie fügte hinzu: ,Das ist zweifellos das Glück, das ist vollkommenes Leben! Ihm eilen wir entgegen, und wir erwarten mit Recht, dorthin gelangen zu können, in festem Glauben, freudiger Hoffnung und flammender Liebe.‘“ „[Augustinus:] ,Quae tria unum deum intellegentibus unamque substantiam‘ […] ostendunt. – hic mater recognitis verbis, quae suae memoriae penitus inhaerebant, et quasi evigilans in fidem suam versum illum sacerdotis nostri: ,fove precantes, trinitas‘ [Ambros. hymn. 4,32] laeta effudit atque subiecit: ,haec est nullo ambigente beata vita, quae vita perfecta est, ad quam nos festinantes posse perduci solida fide alacri spe flagranti caritate praesumendum est.‘” (Text: Green 1970; Übersetzung: Schwarz-Kirchenbauer/Schwarz 1972)

47 Zur Szene vgl. Fontaine et al., Ambroise de Milan, 39f., die den Vorgang der recordatio als ruminatio bezeichnen und damit mit der jüdisch-christlichen Praxis des Psalmengesangs in Krisensituationen vergleichen. Die bei Augustin beschriebene Erinnerung an den ambrosianischen Hymnus ist jedoch spezifisch mit Monnica verbunden (s.u.). Aus der Erinnerung zitiert Augustin in einer Weihnachtspredigt (Sermo 372,3) die fünfte und sechste Strophe von Ambrosius’ Hymnus 5 (Intende qui regis Israel). Dazu van der Meer, Augustinus, 348. 48 Dazu Fontaine et al., Ambroise de Milan, 231f.; Franz, Tageslauf, 139–146. 49 Darauf deutet immerhin die Junktur creator omnium hin, die Augustin in der Erzählung in conf. 9,14 als „Stoßgebet“ (s. oben Anm. 23) einfügt.

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Der Dialog De beata vita, der wie De ordine nach Augustins Rückzug aus dem Rhetorenamt und vor der Taufe entstanden ist, endet mit dieser Szene. In dem Moment, wo Augustin das „glückselige Leben“ mit der Erkenntnis des dreieinigen Gottes gleichsetzt, erinnert sich die Mutter an den Vers fove precantes trinitas: Die Worte seien „tief in ihrem Gedächtnis verhaftet“ gewesen. Es soll also der Eindruck entstehen, dass sie das Lied infolge des häufigen Singens auswendig kannte, und dies passt zu der historischen Situation im Kirchenstreit, in dem gemäß Ambrosius’ Aussage eben die confessio trinitatis verhandelt und im Gemeindegesang ausgesprochen wurde.50 Ob Ambrosius’ Gemeinde in jener Nacht tatsächlich den Hymnus Deus creator omnium gesungen hat und Augustin in diesem philosophischen Dialog nicht nur seiner Mutter, sondern auch Ambrosius und seinem Sieg im Mailänder Kirchenstreit ein literarisches Denkmal setzt, sei dahingestellt. Hier interessiert vielmehr die Frage, welchen Stellenwert Augustin dem gesungenen Text in der Erörterung der uralten philosophischen Frage nach dem Wesen und der Erreichbarkeit der Eudaimonie einräumt. Indem er der Mutter diesen Vers in den Mund legt und sie ihre Definition der beata vita als Trias von Glaube, Liebe und Hoffnung vortragen lässt, enthebt er sie der Pflicht zu argumentieren. Mit dem ambrosianischen und somit rechtgläubigen Text, der sich durch die rhythmische Strukturierung und die Melodie in ihrem Gedächtnis festgesetzt hat, verfügt die Mutter über einen direkten Zugang zur dogmatischen Wahrheit. Damit schreibt Augustin der gesungenen Vortragsform eine mediale Funktion zu, ähnlich wie er im gleichzeitig entstandenen Dialog De ordine den Psalmengesang auf dem Abort als Modus der Kommunikation mit Gott deutet. Im Bericht über seine Reaktion nach dem Tod seiner Mutter in conf. 9,32 bezeichnet er die Verse des ambrosianischen Hymnus als „wahr“ (versus veridici),51 da sie nicht allein eine theologische Wahrheit enthalten, sondern auch in einer konkreten Situation der Trauer um die tote Mutter auf die Erlösung durch den Schöpfer, den deus creator omnium, verweisen. In der Darstellung seines musikalisch umrahmten Tauferlebnisses sagt Augustin von sich: Mit den Stimmen „floss die Wahrheit in mein Herz“ (conf. 9,14: eliquabatur veritas in cor meum): Die Musik ist das Medium, das der „Wahrheit“ den Zugang zum 50 S. oben S. 62f. 51 S. das vollständige Zitat oben S. 65f.

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„Herzen“ auf direktem Weg erschließt. In jedem dieser vier Texte wird dem gesungenen Wort ein spontaner Zugriff auf die intelligible Sphäre und göttliche Wahrheit zugeschrieben. Der musikalische Vortrag bestärkt die in den Liedern besungenen Inhalte und befördert die Erkenntnis der darin enthaltenen Wahrheit. Die Textbezogenheit des Gesangs scheint Augustin spätestens in den Confessiones zu einem zentralen Kriterium in der Frage nach der Bedeutung der Musik erhoben zu haben. Im Kontext seiner Kritik der Sinnesgenüsse um ihrer selbst willen in conf. 1052 beobachtet er an sich selbst eine bisweilen zu große Skepsis gegenüber der Freude am sinnlich Schönen und führt dies am Beispiel des geistlichen Gesangs aus (conf. 10,49): „Auch heute, ich gebe es zu, höre ich die Klänge, die dein Wort lebendig macht, mit ein wenig Wohlbehagen, wenn eine angenehme und ausgebildete Stimme sie singt. Nicht, dass ich bei ihnen stehenbleibe, ich lasse mich von ihnen erheben, wenn ich will. […] Manchmal kommt es mir vor, als ließe ich ihnen mehr Ehre zukommen als ihnen gebührt, wenn ich die Empfindung habe, die heiligen Worte entflammten, wenn sie so gesungen werden, frommer und glühender unseren Geist zur Gottesverehrung, als wenn sie nicht so gesungen werden.“ „Nunc in sonis, quos animant eloquia tua, cum suavi et artificiosa voce cantantur, fateor, aliquantulum adquiesco, non tamen ut haeream, sed ut surgam. […] aliquando enim plus mihi videor honoris eis tribuere, quam decet, dum ipsis sanctis dictis religiosius et ardentius sentio moveri animos nostros in flammam pietatis, cum ita cantatur, quam si non ita cantatur.” (Text: Skutella/Jürgens/ Schaub 2009; Übersetzung: Flasch/Mojsisch 2005)

Das „Gotteswort“ „beseelt“ die Klänge (quos [sonos] animant eloquia tua) und das dadurch qualitativ hochwertiger gewordene Singen (cum ita cantatur) erzeugt zusammen „mit den heiligen Worten“ (ipsis sanctis dictis) im Geist der Hörer ein stärkeres und leidenschaftlicheres Gefühl der Gottesverehrung als das nicht „beseelte“ Singen. Augustin beschreibt hier die Wechselwirkung zwischen dem sakralen Text – biblischen Psalmen oder nicht-biblischen religiösen Texten – und dem Gesang: Einerseits steigern die heiligen Inhalte des Liedtexts die Wirkung der Musik 52 Conf. 10,41: Die Begierdentrias (triplex cupiditas) des Fleisches, der Augen (dabei auch der weiteren Wahrnehmungssinne) und des auf die Welt gerichteten Ehrgeizes (nach 1. Joh 2,16), mit denen der Mensch nur mit der Hilfe und Gnade Gottes „richtig“ umgehen kann.

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und andererseits fördert die durch die „heiligen Worte“ gesteigerte Qualität des Gesangs die Gefühle der Frömmigkeit. In der Folge klagt sich Augustin jedoch an, dass seine Freude am Gesang oft mehr durch die sinnliche Wahrnehmung der schönen Klänge erzeugt wird, als dass der Geist den Inhalt der Worte reflektiert. Dieser reine Hörgenuss ist insofern ein Fehlverhalten (eine „Sünde“), als er nicht auf den Inhalt des gesungenen Wortes und damit auf Gott hin ausgerichtet ist.53 Das Gleichgewicht im Zusammenwirken zwischen dem Inhalt des gesungenen Texts und der ästhetischen und emotionalen Wirkung der Musik und der Stimmen ist also fragil, da der Mensch – von der Erbsünde geschlagen – geneigt ist, dem Sinnesgenuss den Vortritt vor der Reflexion über den gesungenen Text zu geben. Augustin wägt in der Folge ab zwischen dem frömmigkeitsfördernden Nutzen des geistlichen Gesangs und der Gefahr der Freude um ihrer selbst willen, und zieht daraus die folgende Bilanz (conf. 10,50): „Zuweilen aber will ich diesen Trug zu energisch vermeiden und fehle durch zu große Strenge. Das geht so weit, dass ich manchmal allen Wohllaut der süßen Gesänge, mit denen wir die Psalmen Davids begleiten, von meinen Ohren lieber fernhalten will, auch von denen der Gemeinde. […] Erinnere ich mich aber der Tränen, die ich damals in der Anfangszeit, als ich meinen Glauben wiedergewann, beim Anhören der Kirchengesänge vergossen habe, und wie mich auch heute zwar nicht der Gesang selbst, wohl aber sein Inhalt bewegt, so muss ich wiederum den großen Nutzen dieser Einrichtung anerkennen, vorausgesetzt, man singt diese Lieder mit klarer Stimme und passender Melodieführung. So schwanke ich hin und her zwischen der Gefahr wollüstigen Genusses und der Erfahrung ihrer Heilswirkung, aber ich komme doch immer mehr dahin – ohne eine endgültige Ansicht vorzutragen –, die Gewohnheit, in den Kirchen zu singen, gutzuheißen: Ein schwächerer Geist mag sich auf dem Weg über den Genuss der Ohren zu einer warmen Frömmigkeit erheben. Wenn es mir aber geschieht, dass mich doch mehr der Gesang als sein Inhalt bewegt, dann bekenne ich, dass ich sündige und Strafe verdiene; dann möchte ich den Sänger lieber nicht hören.“ „Aliquando autem hanc ipsam fallaciam immoderatius cavens erro nimia severitate, sed valde interdum, ut melos omne cantilenarum suavium, quibus Davidicum psalterium frequentatur, ab auribus meis removeri velim atque ipsius ecclesiae, … 53 Conf. 10,49: „So sündige ich in diesen Dingen, ohne es zu merken; später erst kommt es mir zu Bewusstsein“ (ita in his pecco non sentiens et postea sentio). Vgl. auch die letzten Worte des folgenden Zitats von conf. 10,50.

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Therese Fuhrer verum tamen cum reminiscor lacrimas meas, quas fudi ad cantus ecclesiae in primordiis recuperatae fidei meae, et nunc ipsum cum moveor non cantu, sed rebus quae cantantur, cum liquida voce et convenientissima modulatione cantantur, magnam instituti huius utilitatem rursus agnosco. ita fluctuo inter periculum voluptatis et experimentum salubritatis magisque adducor non quidem inretractabilem sententiam proferens cantandi consuetudinem approbare in ecclesia, ut per oblectamenta aurium infirmior animus in affectum pietatis adsurgat. tamen cum mihi accidit, ut me amplius cantus quam res, quae canitur, moveat, poenaliter me peccare confiteor et tunc mallem non audire cantantem.“ (Text: Skutella/Jürgens/Schaub 2009; Übersetzung: Flasch/Mojsisch 2005)

Augustin ruft nochmals die Tränen in Erinnerung, die er bei seiner Taufe beim Gesang vergossen habe.54 Gleichzeitig betont er, dass es nicht der Gesang selbst, also nicht die Musik allein, sondern der Inhalt sei, der ihm in der Erinnerung geblieben ist und ihn noch immer „bewegt“ (moveor non cantu, sed rebus). Er bezeichnet diese erinnerte Hör-Erfahrung und in der Folge die Institution des Kirchengesangs insofern als „nützlich“ (instituti huius utilitas), als mittels der klaren Stimme und der „passenden Melodienführung“ (convenientissima modulatio) der Inhalt des Liedes eingängig vermittelt wurde.55 Er benennt explizit die Gefahr der Sinnesfreude, das periculum voluptatis („die Gefahr wollüstigen Genusses“), die dann eintritt, wenn die Melodie mehr ist als ein neutraler Textträger. „Dann möchte ich den Sänger lieber nicht hören“, sagt er (tunc mallem non audire cantantem). Der Gehörsinn darf nicht bei sich selbst bleiben,

54 Conf. 9,14; s. oben S. 65. 55 Vgl. auch doctr. chr. 2,18,28: „Trotzdem müssen wir nicht wegen des Aberglaubens der Heiden die Musik vermeiden, wenn wir von dort etwas Nützliches für das Verständnis der Hl. Schrift entnehmen können“ (nos tamen non propter superstitionem profanorum debemus musicam fugere, si quid inde utile ad intellegendas sanctas scripturas rapere potuerimus; Text: Martin 1962; Übersetzung: Pollmann 2002); auch ep. 55,34f.; De civitate dei 17,14. Öfter spricht Augustin von der „tröstenden, mahnenden und aufbauenden Wirkung des Singens“ (op. mon. 2; vgl. en. Ps. 39,4); dazu Klöckener, Hymnus, 460f. – Die utilitas hymnorum ist Thema einer Predigt mit gleichlautendem Titel des Nicetas, des Bischofs von Remesiana (um 335 bis 441), der sich explizit mit den Gegnern des Singens in der Kirche auseinandersetzt, die mit Bezug auf Eph 5,19 nur das spirituelle Singen erlauben wollten; dazu Wille, Musica, 374f.

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sondern muss der Vermittlung und Reflexion des gesungenen Inhalts dienen; die Melodie darf ihre mediale Funktion nicht verlieren.56 Die Musik wird nun deutlich anders funktionalisiert als in De musica: Hier interessiert nicht allein ihr Verweischarakter durch die Zahlhaftigkeit. Zwar gilt diese weiterhin als grundlegendes Strukturmerkmal der Musik, worauf Augustin auch im Rahmen der Zeitanalyse in Buch 11 der Confessiones rekurriert.57 Im Zentrum steht aber ihre Fähigkeit, Freude und ästhetischen Genuss hervorzurufen, die allerdings nur dann positiv konnotiert werden – einen „Nutzen“ haben – kann, wenn sie der Frömmigkeit (pietas) und der Vermittlung der christlichen Lehre (res) zuträglich sind: „Wenn es mir aber geschieht, dass mich doch mehr der Gesang als sein Inhalt bewegt, dann bekenne ich, dass ich sündige und Strafe verdiene.“ „cum mihi accidit, ut me amplius cantus quam res, quae canitur, moveat, poenaliter me peccare confiteor.”58

Damit lässt Augustin einerseits eine Skepsis erkennen, die im frühen Christentum generell gegenüber der Musik und insbesondere gegenüber dem Singen nicht-biblischer Texte geäußert wurde.59 Andererseits räumt er der gesungenen Musik eine wichtige, nämlich erkenntnisfördernde Funktion ein, die sie allerdings nur dann hat, wenn sie bzw. die durch sie hervorgerufenen Emotionen durch die Ausrichtung auf Gott „richtig“ finalisiert werden.60 56 Dasselbe gilt für die weiteren Sinne, also auch die „Augenlust“ (conf. 10,51: voluptas oculorum), für die Augustin die Freude an der Schönheit der Schöpfung anführt, die als Verweis auf Gott den Schöpfer gelesen werden soll. In conf. 10,52 zitiert Augustin nach der Warnung vor der inlecebrosa ac periculosa dulcedo erneut den ambrosianischen Vers Deus creator omnium, der, da in ihm das Lob des Schöpfers ausgesprochen werde, der „Süße“ der Schöpfung Rechnung trage und vor dem nicht finalisierten Genuss schütze (adsumunt eam [= dulcedinem] in hymno tuo, non absumuntur ab ea in somno suo: sic esse cupio). 57 S. oben S. 51–56. 58 Vgl. dazu van der Meer, Augustinus, 349–351 (mit einem Verweis auf Nietzsches spöttischen Kommentar zu der Textstelle), bes. 351: „Aber was Augustin für sich selbst fürchtete, betrachtete er für seine Gläubigen offenbar nicht als Gefahr“. 59 Dazu O’Donnell, Augustine, 218. S. auch oben Anm. 55 (zur Begründung mit Bezug auf Eph 5,19). 60 Vgl. auch en. Ps. 18,2,1; 26,2,1; 102,28; dazu O’Donnell, Augustine, 218; Klöckener, Hymnus, 460.

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Dieses emotionale und kognitive Potential des musikalischen Vortrags hat Augustin offensichtlich auch selbst für klerikale Belange genutzt. Noch als Priester, wenige Jahre vor der Niederschrift der Confessiones, verfasste er den Psalmus contra partem Donati („Psalm gegen die Partei Donats“), einen antihäretischen Text, den seine Gemeinde in Hippo im Gottesdienst singen sollte. Das Lied besteht aus 267 nicht streng metrisch gebauten Versen, die durchgängig auf den Reimvokal -ae/-e enden; es ist in 20 Strophen eingeteilt, die der Reihe nach mit den Buchstaben A bis V beginnen, ist also ein Abecedarius.61 Der Psalm sollte laut Augustins Aussage dazu dienen, die Gemeinde von Hippo gegen die donatistische Häresie zu wappnen.62 Wie Augustin in einem wenig später verfassten Brief schreibt, kritisierten die Donatisten den Gottesdienst der ‚katholischen‘ Kirche, weil dort allein biblische Psalmen gesungen würden, während sie selbst für ihren Gottesdienst eigene liturgische Lieder dichteten.63 Augustin nimmt also die Tradition seiner Gegner auf und nutzt, wie er selbst sagt, die Möglichkeiten, die der abecedarische und durch den Reim und den Rhythmus gleichmäßig komponierte Gesang bietet: Die Lehre der Donatisten und ihre Widerlegung werden der Gemeinde zur Kenntnis gebracht und ihrem Gedächtnis eingeprägt.64 Er macht sich damit die Qualitäten des Gesangs zunutze, die er gemäß der Erzählung von De ordine beim Schüler Licentius oder in De beata vita bei seiner Mutter beobachtet und die er in den Confessiones im Kontext des Mailänder Kirchenstreits und im Rahmen seiner Zeittheorie beschreibt:65 Melodie und Rhythmus setzen sich zusammen mit dem Text im Gedächtnis fest, prägen den Sängern und Sängerinnen eine dogmatische ‚Wahrheit‘ ein und machen sie – mit Ambrosius gesprochen – aus Lernenden zu Leh-

61 Dazu Fuhrer, Juckel, Lehrdichtung, 1074–1076; zur Gesangs- und Aufführungstechnik vgl. V. Hunink, Singing Together in Church: Augustine’s Psalm Against the Donatists, in: A. P. M. H. Lardinois et al. (Hg.), Sacred Words: Orality, Literacy and Religion, Leiden/Boston 2011, 389–403. 62 Retr. 1, 20; vgl. ps. c. Don. Vv. 268–297 (Epilog). 63 Ep. 55,34 (an einen sonst unbekannten Ianuarius). Der Brief ist um 400 zu datieren. Den Brief bespricht van der Meer, Augustinus, 342f. 64 Retr. 1,20: et eorum … inhaerere memoriae. 65 Die Vermutung liegt nahe, dass der Autor Augustin sich an die Wirkung des Mailänder Kirchengesangs erinnerte; vgl. O’Donnell, Augustine, 112 (mit Verweis auf André Mandouze).

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renden.66 Das Singen im Chor in der Kirche verbindet die zu vermittelnde Botschaft mit der Erinnerung an ein Gemeinschaftserlebnis und erhält damit auch eine erkenntnisvermittelnde Funktion. Dieser praktische Nutzen – der Aspekt der utilitas (nach conf. 10,50) – von Musik und Gesang spielt in Augustins frühen Reflexionen über die Zahlhaftigkeit und den Verweischarakter der Musik keine Rolle. Da die Frühschrift De musica nur den Teil über den Rhythmus umfasst und Augustin seinen Plan, auch den Teil über die Harmonielehre und damit die Art und Wirkung von Melodien zu schreiben, nicht verwirklicht hat, sind seine Überlegungen zur psychagogischen Wirkung und Funktion des Kirchengesangs ohne theoretische Fundierung geblieben.67

V. Musik, Zeit und Ewigkeit Die Relation von gesungenen Melodien und göttlicher Sphäre reflektiert Augustin in einer Predigt, die er nach einem Konzil gegen die Donatisten in Karthago gehalten hatte, in der er der Gemeinde deutlich machen will, dass die Donatisten den Unterschied zwischen Schöpfer und Schöpfung verkennen würden:68 Er lässt die Engel und Seligen „in den himmlischen Gefilden“ gemäß biblischer Vorstellung unaufhörlich Hymnen singen (en. Ps. 32,2,2,6):69 „Gewiss, Brüder, […] jene himmlischen Gefilde sind uns, die wir uns auf Erden abmühen, unbekannt, […] es übersteigt unsere Kräfte herauszufinden, wie dort der eine und einzige Hymnus, der unaufhörlich von allen gesungen wird, Gott preist, doch bemühen wir uns dennoch, dorthin zu gelangen. Dort ist nämlich unsere Heimat, die wir vielleicht auf unserer 66 S. oben S. 62f. Zu dieser Funktionalisierung der Hymnen vgl. Fontaine et al., Ambroise de Milan, 28 („un moyen de propagande“) und 32–36. Zur Rolle der Sänger des Psalmus contra partem Donati als Lehrende, die sich aus der Ich-Rede und der Anrede an die donatistischen Gegner ergibt, vgl. Fuhrer, Juckel, Lehrdichtung, 1075. 67 Wie Berg, Spielwerk, 169–172 mit Bezug auf Augustins Korrespondenz aus den Jahren 408/9 (ep. 101,3) anmerkt, hatte Augustin nicht allein den Plan, sondern auch die Kompetenz, den Teil De melo noch zu schreiben; die Bücher 1–6 von De musica sind nach Augustins Aussage nur ein „Vorspiel“; vgl. dazu auch von Albrecht, Musik, 94–96. 68 Zum Kontext und zur Datierung (403?) vgl. H. Müller, M. Fiedrowicz, Enarrationes in Psalmos, in: Augustinus-Lexikon 2 (1996–2002), 804–858, bes. 812. 69 Vgl. auch en. Ps. 148,17 und Sermo Dolbeau 21,15; dazu Klöckener, Hymnus, 460. Zur biblischen Vorstellung der singenden (jubilierenden) Engel vgl. J. Michl, Engel, in: RAC 5 (1962), 54–258, bes. 70 (jüdisch) und 123 und 162 (christlich).

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Therese Fuhrer langen Pilgerschaft vergessen haben. Denn so erklingt unsere Stimme in jenem Psalm: Weh mir, dass meine Pilgerschaft lang geworden ist!“ [Ps 120,5] „Sane, fratres, […] illis caelis superioribus ignotis nobis in terra laborantibus, […] quomodo ibi unus quidam hymnus indeficiens concinens ab omnibus praedicet deum, multum est ad nos invenire, satagimus tamen pervenire. ibi est enim patria nostra, quam longa fortasse peregrinatione obliti sumus. vox enim nostra est in illo Psalmo: heu me, quoniam peregrinatio mea longinqua facta est!“ [Ps 119,5] (Text: Dekkers/Fraipoint 1956; Übersetzung: Fuhrer)

Diese himmlischen Hymnen sind dadurch, dass sie der Zeitlichkeit und Endlichkeit enthoben sind, ontologisch derart verschieden von dem, was die Menschen verlauten lassen, dass diese deren Qualität nicht erfassen können. Den Menschen bleibt immerhin die Möglichkeit, ihre Stimme im Psalmengesang erklingen zu lassen, mit dem sie beklagen können, dass sie ihre Heimat, das Paradies bzw. die himmlischen Gefilde, möglicherweise vergessen haben. Doch gemäß Augustins musiktheoretischen Überlegungen von De musica muss auch dieses Klagelied in seiner Zahlhaftigkeit Spuren (vestigia) enthalten, die über den menschlichen Gesang hinaus auf den einen Gott verweisen; eine Spur des Engelsgesangs ist demnach auch in dem Psalm – wie in jedem Lied? – enthalten.

Verzeichnis der abgekürzten Werktitel: an. quant. beata v. conf. doctr. chr. en. Ps. ep. hymn. mus. op. mon. ord. ps. c. Don. retr. vera rel.

De animae quantitate De beata vita Confessiones De doctrina christiana Enarrationes in Psalmos Epistula Hymnus De musica De opere monachorum De ordine Psalmus contra partem Donati Retractationes De vera religione

Nizar Romdhane

Wer hat die schönen Dinge Gottes verboten, die Er für seine Diener hervorgebracht hat?1 Ein Beitrag zur Musik im Islam Ist Musik im Islam verboten? Oder zählt Musik zu den schönen Dingen, die der Mensch gemäß des oben zitierten Koranverses nicht eigenmächtig verbieten soll? Diese Frage wurde in der islamischen Geistesgeschichte kontrovers diskutiert und sehr unterschiedlich beantwortet. Die Auseinandersetzung hierüber hält bis heute an. Ein Musikverbot im Islam steht jedenfalls in einem diametralen Gegensatz zur lebendigen Musikkultur und Musikgeschichte der muslimischen Gesellschaften. Der Mittlere und Nahe Osten ist alles andere als klangfrei. Dass Musik für die Bildung von kultureller, nationaler und auch religiöser Identität in der Geschichte und Gegenwart der islamischen Welt immer eine große Rolle gespielt hat, ist vielfach belegt. So entwickelte sich beispielsweise das Maʾlūf2 zur Nationalmusik Tunesiens. Dieser Musikstil entstammt einer Musiktradition, die ihren Ursprung in Andalusien hat, sich nach der Reconquista in Nordafrika ausbreitete, mit den Musikstilen der Berber vermischte und erneuerte. Im Kontext kolonialer Erfahrungen und postkolonialer Staatenbildung entwickelte sich dieser Musikstil zu einem bedeutenden soziokulturellen Faktor. Die Unabhängigkeitsbewegung um den späteren ersten tunesischen Staatspräsidenten Habib Bourguiba machte sich das identitätsstiftende Potential des Maʾlūf zu nutze. Das Maʾlūf etablierte sich als ein Symbol der nationalen Einheit des tunesischen Volkes. Hierfür wurden die bis dahin regional unterschiedlichen Maʾlūf-Stile homogenisiert und formalisiert. Mit diesem 1 Koran 7,32. Die Übersetzungen von Koranversen folgen T.-A. Khoury, Der Koran. Arabisch – Deutsch, Gütersloh 2004. Da Übersetzungen immer auch Interpretationen sind und in einigen Fällen es notwendig war spezifische Bedeutungsinhalte freizulegen, wurde in einigen Fällen, wie hier bei Vers 32 aus Sure 7, von Khourys Übersetzung abgewichen. 2 Begriffe und Eigennamen werden nur transkribiert, wenn diese nicht in der deutschen Sprache geläufig sind. Die Transkription folgt den Regeln der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG).

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Prozess ging auch ein Verlust der religiösen Dimension des Maʾlūf einher.3 Über Tunesien hinaus spielt die andalusische Musiktradition auch in den anderen Ländern des Maghreb eine bedeutende kulturelle und gesellschaftliche Rolle. Gleichfalls prägten die Musiktraditionen der islamischen Mystik die Kultur und das Alltagsleben des Maghreb mit. Auch in Süd-Asien haben mystische Strömungen die Musiktraditionen mitgestaltet. Das in Nordindien und Pakistan populäre Qawwālī hat seinen Ursprung in persischen Qaul-Gesängen4, die von islamischen Mystikern in Indien verbreitet wurden und eine neue Musiktradition ausbildeten bzw. bestehende indische Musiktraditionen um persische und arabische Elemente erweiterten. Säkularisierte Formen des Qawwālī haben Elemente der Popmusik und andere zeitgenössische Musikstile adaptiert und sind in das Repertoire der Weltmusik eingegangen. Der weltweit bekannteste zeitgenössische Interpret des Qawwālī ist der 1997 verstorbene Nusrat Fateh Ali Khan.5 Musiktraditionen wie das Maʾlūf und das Qawwālī stehen in enger Verbindung zur religiösen Tradition. Die Grenzen zwischen islamischer Musik und Musik im Islam sind häufig nicht klar zu ziehen. Hochzeitsmusik, Musiktherapie aber auch klassische arabische, persische, türkische und indische Musik haben zum Teil islamisch religiöse Inhalte oder haben eine islamische Entwicklungsgeschichte. Die arabischen Qasiden sind beispielsweise mehrzeilige Gedichte, die in der Regel aus zwei halbzeiligen Versen bestehen und als Gesang vorgetragen werden. Vorislamische Qasiden hatten das schwere Leben der Beduinen zum Thema. Tugenden und Ideale, wie Mut, Tapferkeit und Gastfreundschaft der Araber wurden besungen. Mit dem Aufkommen des Islam kamen neue Ideale hinzu: die Gottesfurcht, die Allmacht Gottes, die Pflicht zur Barmherzigkeit gegenüber Bedürftigen. Ab dem 8. Jahrhundert hielten die Liebe und Erotik immer mehr Einzug in die Qasiden, wobei Liebe und Trennung bereits in den vorislamischen Qasiden thematisiert wurden. Durch mystische Sufiorden fanden wiederum die Motive der Gottesliebe und Gottesnähe Eingang in die arabischen Qasiden. Islamische 3 R. Davis, Ma‘lūf. Reflections on the Arab-Andalusian Music of Tunisia, Lanham (USA) 2004. 4 Der Begriff Qaul ist arabischen Ursprungs und bedeutet „Ausspruch“. Die ursprünglichen Qaul-Gesänge beinhalteten die Aussprüche des Propheten Muhammad. 5 Vgl.: M. Bremer, Der letzte Prophet. Online: http://de.qantara.de/Der-letzteProphet/19825c21165i0p/index.html [18.10.13]

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Mystiker besangen die Hinwendung zum Pfad Gottes, die Lobpreisung Gottes und die Segenswünsche für den Propheten Muhammad. Umm Kulthum, die Stimme der arabisch-islamischen Renaissance – der Wiedererweckung der arabisch-islamischen Kultur –, sang Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts arabische Qasiden. Neben Liebesliedern gehörten religiöse Qasiden, wie wulida l-hudā (die Rechtleitung wurde geboren), zu den beliebtesten Werken ihres Publikums.6 Islamische Musik, in der Gott gepriesen wird, Lobeshymnen auf den Propheten und die Vorzüge des Muslim-Seins, der Frömmigkeit und des Almosengebens besungen werden, wird als Našīd bezeichnet. Našīd wird anlässlich des Geburtstags des Propheten, in den Nächten des Fastenmonats Ramadan, zu Hochzeitsfeiern, Beschneidungsfesten oder auch zum Dank für Regen und Ernten gespielt und gesungen. Die musikalischen Traditionen unterscheiden sich regional. Našīd wird in manchen islamischen Gemeinschaften oder Regionen mit Begleitung von Instrumenten, andernorts als Percussion oder als Vokalgesang vorgetragen. Um den göttlichen Charakter des Koran zu wahren und von allem Weltlichen abzugrenzen, wird die Vortragskunst der Koranrezitation und des Gebetsrufes von islamischen Gelehrten und Muslimen explizit nicht als Musik bezeichnet. Muhammad Abduh, der zu den bedeutendsten islamischen Theologen des zwanzigsten Jahrhunderts zu zählen ist, sah die legitime Grenze der Koranrezitation dort überschritten, wo die ästhetische Gestaltung des Vortrages den Inhalt des Textes zu dominieren beginnt. Die Ermahnung, der Aufruf zum Guten und zur Sittsamkeit, soll im Vordergrund stehen und nicht die Erregung des Herzens.7 Es gibt auch eine Vielfalt von weltlicher Musik, die von gläubigen Muslimen produziert und konsumiert wird. Kultur im Islam ist nicht zwingend deckungsgleich mit islamischer Kultur. Die Frage, ob Musik mit dem Islam vereinbar ist, betrifft sowohl die eben benannte islamische Musik (Našīd) als auch weltliche Musik. Die Postionen im zeitgenössischen Islam lassen sich folgendermaßen schematisch skizzieren: Fundamentalistische Strömungen tendieren zu einem weitreichenden Musikverbot. Ein striktes Musikverbot, auch durch Einsatz von Gewalt, versucht die Taliban-Bewegung seit den neunziger Jahren des 20. Jahr6 S. Gsell, Umm Kulthum, Berlin 1998. 7 Vgl.: N. Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 2000, 194.

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hunderts in Afghanistan und zum Teil in Pakistan durchzusetzen. Übergriffe auf Musikschaffende und Teilnehmer/innen von Musikveranstaltungen in muslimischen Gemeinschaften sind zahlreich dokumentiert. In einigen islamischen Staaten, in denen das islamische Recht wichtige Quelle des Staatsrechtes ist und sich fundamentalistische Lesarten des Islam durchgesetzt haben, werden das Musizieren und Musikveranstaltungen eingeschränkt. Strikte Verbote ließen sich trotz Sanktionsmöglichkeiten nicht durchsetzen. Die islamische Tradition sieht in der Musik einen legitimen Ausdruck menschlicher Kultur, die aber Regeln unterworfen ist. Diese Position kann als islamischer Mainstream bezeichnet werden. Wie weitreichend die Regeln sind, wird sehr unterschiedlich bewertet. In den meisten Richtungen der islamischen Mystik wurden Musik und Tanz in den Ritus integriert. Der Islamismus setzt Musik als gesellschaftspolitisches Mittel ein, um für eine islamische Gesellschaftsordnung und eine islamische Lebensführung zu werben und tendiert ebenfalls zu einer Normierung von Musik, die im Einklang mit der islamischen Sittenlehre, nach je eigenem Verständnis, steht. Dass fundamentalistische Strömungen zu einem Verbot von Musik tendieren, lässt sich nicht mit einer wortwörtlichen Interpretation der heiligen Quellen des Islam erklären. Der Koran äußert sich zu einigen Fragen der angemessenen Lebensführung, jedoch wird Musik nicht explizit thematisiert. Die Prophetentradition gibt hier zwar mehr Auskünfte – diese sind aber alles andere als eindeutig. Dieser Artikel wird den innerislamischen Diskurs über die Zulässigkeit von Musik im Islam beleuchten. Obgleich puritanische Bewegungen versuchen ihr Islamverständnis mit Gewalt und Drohungen durchzusetzen, in denen kein Platz für islamische Musiktraditionen oder Musiktraditionen im Islam sind, gilt es die zugrunde liegenden Argumente nachzuvollziehen. Insbesondere weil dieses Islamverständnis in der Gegenwart an Attraktivität unter gläubigen Muslimen zu gewinnen scheint. Ausgehend von einer Einheit des Islam und einem Grundkonsens der islamischen Glaubenslehre, werden im Folgenden die wichtigsten Strömungen im zeitgenössischen Islam dargestellt. Anhand der Differenzen in der Deutung der Glaubenslehre und den Vorstellungen zur richtigen Lebensführung wird dann die Pluralität der Positionen zur Musik ver-

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gegenwärtigt. Hier wird untersucht werden, inwieweit sich die unterschiedlichen Positionen zur Musik auf theologische Deutungen des Menschenbildes im Islam zurückführen lassen.

I. Der Islam und seine Menschenbilder 1. Der Islam. Ein Überblick Die Begriffe „Islam“ und „Muslime“ leiten sich von dem arabischen Verb aslama ab und haben die semitischen Wurzelkonsonanten sīn lām mīm (s-l-m). Hiervon leiten sich das arabische und das hebräische Wort für Frieden – Salām bzw. Schalom – ab. Grundbedeutungen des arabischen Verbalsubstantivs „Islam (Islām)“ sind „sich hingeben“ und „sich ergeben“. Verstehen Muslime Islam primär im Sinne von „sich Gott hingeben“, werden den spirituellen Aspekten häufig Vorrang vor den gesetzlichen Aspekten der Religion gegeben. Dann steht die Gotteserfahrung und Gottesliebe im Zentrum des islamischen Glaubens. Muslime, die den gesetzlichen Aspekten des Islam den Vorrang geben, verstehen „Islam“ primär im Sinne von „sich dem Willen Gottes unterwerfen“. Hierin steckt ursprünglich die Vorstellung, dass dem „sich ergeben“ notwendig die Unterwerfung folgen muss. Die Unterwerfung unter den Willen des Siegers gewährleistet die Wiederherstellung des Frieden. Frieden (Salām) durch Unterwerfung (Islam). Beide Deutungen sind philologisch vertretbar, mit den Lehren des Islam vereinbar und auch in der islamischen Tradition vertreten worden. Der Islam gründet auf heilige Texte. Die Hauptquelle ist die Offenbarung Gottes, der Koran. Er gilt Muslimen als das unverfälschte Wort Gottes, das dem Propheten Muhammad im 7. Jahrhundert offenbart wurde. Die zweite Quelle ist die Prophetentradition, die Sunna. Die Kanonisierung der Prophetentradition hatte ihren Höhepunkt im 9. Jahrhundert. Die Autorität des Propheten und die Gehorsamspflicht ihm gegenüber ergeben sich für Muslime aus der Offenbarung. „Ihr habt im Gesandten Gottes ein schönes Vorbild […]“8 heißt es in Sure 33,21 und Sure 24,52

8 T.-A. Khoury, Koran, 533.

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verkündet: „Diejenigen, die Gott und seinen Gesandten gehorchen und Gott fürchten und sich vor Ihm hüten, das sind die Erfolgreichen.“9 Für die Ausformung des Islam war es von großer Bedeutung, was der Prophet zu Glaubensfragen, Ritus und Lebensführung äußerte und wie er den Glauben praktizierte und lebte. Er ist nicht nur Sprachrohr Gottes, sondern zugleich der wahre Interpret: „[…] Er befiehlt ihnen das Rechte und verbietet ihnen das Verwerfliche, […]“10 Die Glaubenslehre des Islam, der Ritus und die Anweisungen zur islamischen Lebensführung sind im Koran angelegt. Doch ergaben sich aus den Offenbarungen selbst und den hinzukommenden spezifischen lokalen, gesellschaftlichen und historischen Bedingungen zwangsläufig Fragen. Wie soll das Gebet verrichtet werden und wie oft? Wie ist eine rituelle Reinheit zu erlangen, wenn für die Waschung kein Wasser zur Verfügung steht? Schon Fragen zum Gebet lassen sich unendlich fortführen. Solange der Prophet Muhammad lebte, konnten die Muslime ihn fragen. Mit dem Tod des Propheten und dem Versiegen der Quelle der Offenbarung waren die Muslime nun gezwungen ihre Religion selbst auszuformen. In erster Linie sind die Gefährten des Propheten an diesem Prozess beteiligt gewesen. Der Textkorpus des Koran wurde zusammengestellt, vereinheitlicht und redigiert. In der Folge bildeten sich erste Gruppen von religiösen Experten aus, die Auskunft zu Glaubensfragen und Fragen der richtigen Lebensführung gaben. Es bildeten sich im Laufe der Jahrhunderte Gruppen von Religionsexperten aus, die sich in der Nachfolge des Propheten sahen und sich berufen fühlten, die Lehren des Islam zu hüten. Im Zentrum dieser Ausformung stehen die gesetzesspezifischen Aspekte des Islam. Regeln der Lebensführung sollen den Alltag der Gläubigen bestimmen und werden neben dem islamischen Ritus und den fünf Säulen des Islam11 als unerlässlich erachtet. Die religiöse Lebensführung ist demnach von Geboten und Verboten geprägt und unterliegt dem Grundsatz, das Anerkannte zu gebieten und das Verwerfliche zu verbieten. Der Islam ist aber mehr als eine Gesetzesreligion. Spirituelle und mystische Aspekte des Islam prägten ebenfalls die Entwicklung und Ent9 Ebd., 461. 10 Koran 7,157, T.-A. Khoury, Koran, 121. 11 Die religiösen Grundpflichten des Islam: Das Glaubensbekenntnis, das Gebet, das Fasten im Monat Ramadan, die Almosen Abgabe und die Pilgerfahrt nach Mekka.

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faltung der islamischen Tradition. Für fromme Gläubige stand und steht nicht der gesetzgebende Charakter der Offenbarung im Vordergrund, sondern die spirituelle Erfahrung: die Gotteserfahrung, Gottesfurcht und Gottesliebe. Die spirituellen Aspekte des Islam haben ebenso Einzug in die islamische Gelehrsamkeit gehalten wie die gesetzgebenden. Hier ist nicht von einem Gegensatz auszugehen. Der Schwerpunkt der islamischen Gelehrsamkeit liegt jedoch in der Regel in der Betonung des Gesetzescharakters des Islam. Die islamische Tradition gründet auf beiden Stützen, auf der einen Seite der spirituellen und mystischen Dimension und auf der anderen Seite den umfassenden Regelungen der sozialen Ordnung. Beide Pfeiler sind ineinander verschränkt und gerieten in der Geschichte des Islam immer wieder in Konflikt miteinander. Die Frage, inwieweit Musik die soziale Ordnung gefährdet, gehört zu solchen Konfliktpunkten. Insbesondere die Alltagspraktiken des sich seit dem 9. Jahrhundert entwickelnden Sufismus und seine starke Betonung der mystischen Dimension wurden als unvereinbar mit dem gesetzeskonformen Islam erachtet. Aber auch die islamische Tradition, die im Weiteren als Traditionalismus bezeichnet wird, da auch die anderen Richtungen des Islam zur einen gemeinsamen Tradition zu zählen sind, wurde im Laufe der islamischen Geschichte als nicht konform mit dem „wahren Islam“ gesehen. Denn auch die lokalen, historischen und gesellschaftlichen Bedingungen beeinflussten unweigerlich sowohl die islamischen Gesetze als auch die Lebenspraktiken der Muslime. Der Traditionalismus bildete unterschiedliche Schulen und Lehrmeinungen aus, die auch den unterschiedlichen regionalen Herausforderungen Rechnung trugen. Unzählige pragmatische Lösungen waren notwendig und lokale und gesellschaftliche Praktiken hielten Einzug in die islamische Lebensführung. Dies führte in der Geschichte des Islam immer wieder zum Aufkommen von fundamentalistischen Strömungen, die den Islam von den nichtkonformen Praktiken und unislamischen Gesetzen zu bereinigen suchten und zur Rückkehr zum „wahren Islam“ riefen. Islamischer Fundamentalismus stellt also keine besondere Auseinandersetzung mit der Moderne dar. Hingegen kann der Islamismus als genuines Produkt der Moderne bezeichnet werden. Der Islamismus beklagt die spirituelle Verarmung der modernen Welt und prangert die Anmaßung der westlichen Aufklä-

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rung an, die den menschlichen Verstand über den Willen Gottes stellt. Eine westlich hegemoniale Weltordnung steht häufig im Widerspruch zu dem islamistischen Sendungsbewusstsein, Gottes Gesetze auf Erden durchzusetzen. Ob dies global, lokal oder auf staatlichem Territorium zu geschehen hat und wie eine islamische Ordnung aussehen soll, wird von den verschiedenen islamistischen Bewegungen und Akteuren unterschiedlich beantwortet. Die Errungenschaften der Moderne werden nicht pauschal abgelehnt und die Vereinbarkeit von islamischer Ordnung, Demokratie und allgemeinen Menschenrechten ist nicht auszuschließen.12 2. Menschenbilder Der Koran beschreibt den Menschen auf der einen Seite als ein vernunftbegabtes Wesen, das in der Lage ist, zwischen gut und böse zu unterscheiden. Was gutes Handeln ist, kann er durch seinen Verstand erkennen aber auch seine Instinkte bieten ihm zuverlässige Hinweise.13 Andererseits wird der Mensch als schwach beschrieben, als leicht zu verführen und zu Fehlverhalten neigend. Seine Hauptschwäche aber sind seine Begierden, seine Leidenschaften. Der Mensch hat mit dem Teufel, Šaiṭān oder Iblīs von Anbeginn einen Feind. Iblīs, der sich weigerte, sich vor Adam niederzuwerfen, verführte Adam und seine Frau, von den Früchten des verbotenen Baumes zu kosten. Hierfür wurden alle drei aus dem Paradies verstoßen. Adam und seine Frau erkannten das begangene Unrecht an und zeigten Reue. Gott verzieh ihnen und setzte Adam und seine Nachfahren als Kalifen, als Stellvertreter auf Erden,14 ein und bevor-

12 Es ist darauf hinzuweisen, dass der Islam zwei große Traditionen ausgebildet hat. Die islamische Gemeinschaft spaltete sich ab dem 8. Jahrhundert in die Gemeinschaft der Sunniten und die der Schiiten. Machtpolitische Interessen, aber auch gesellschaftliche Spannungen in Folge der Expansion des islamischen Reiches, sind mitunter Auslöser dieser Spaltung gewesen. Die Ereignisse und Entwicklungen führten dazu, dass sich zwei unterschiedliche theologische und rechtliche Traditionen entwickelten, was sich auch auf Glaubenslehre, Lebensführung und Ritus auswirkte. Ebenfalls bildeten beide Haupttraditionen jeweils unterschiedliche islamistische, fundamentalistische und mystische bzw. philosophische Strömungen aus. Da die Sunniten die Mehrheitsströmung im Islam stellen, wird im Folgenden der Fokus auf den sunnitischen Traditionsstrang gelegt. 13 Vgl. Koran 5,100. 14 Vgl. Koran 2,30.

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zugte den Menschen vor allen anderen seiner Geschöpfe. Iblīs hingegen schwor, die Menschen bis zum Tag der Auferstehung zu verführen. Nach der Vertreibung aus dem Paradies und der göttlichen Vergebung verspricht Gott dem Menschen Rechtleitung (hudā).15 Diese enthüllt sich dem Menschen in der Offenbarung. Der Koran spricht von der Rechtleitung, die Gott in der Tora und dem Evangelium darlegte und seinen Propheten gab. In Sure 2,2 wird der Koran als Rechtleitung für die Gottesfürchtigen und in Sure 2,185 als Rechtleitung für den Menschen bezeichnet. Die Rechtleitung manifestiert sich für den Menschen als Weg, als gerader Weg (aṣ-ṣirāṭ l-musṭaqīm), als Gottes Weg (sabīl Allāh) und als Scharia.16 Sure 42,52 betont, dass Gott denjenigen rechtleitet, den Er rechtleiten will, und dass sein Prophet den geraden Weg zeigt. Ungläubigen und Frevlern kann Gott den rechten Weg nicht weisen. Ihnen wird der Weg zur Hölle gewiesen.17 Dem geraden Weg soll der Mensch im irdischen Leben folgen. Es ist der Pfad, der Menschen Orientierung im Diesseits bietet und das Wohlergehen im Jenseits verheißt sowie zurück zur Gottesnähe führt. Die vier benannten Strömungen Traditionalismus, Mystik, Fundamentalismus und Islamismus ziehen aus dem aufgezeigten Menschenbild im Koran unterschiedliche Lehren. Die Unterschiede sind zum Teil nur nuanciert, haben aber Konsequenzen für die Beurteilung der richtigen Lebensführung. 2.1 Traditionalismus Der Traditionalismus betont, dass der Mensch nicht nach eigenem Belieben das eigene Leben gestalten darf. Der Mensch verfügt nicht selbst über sein Leben, sondern Gott. Der Mensch hat sich am islamischen Weg, der Scharia, zu orientieren. Folgt man nicht dem islamischen Weg, ist es nicht möglich seinen Begierden und den ewigen Verführungen des Teufels zu widerstehen. Nur wer diesem Weg im irdischen Leben folgt, kehrt zurück ins Paradies.18 Was der islamische Weg ist, obliegt in der 15 Vgl. Koran 2,38. 16 Der Begriff Scharia kommt im Koran nur in Sure 45,18 vor und hat ebenfalls die Grundbedeutung Weg. 17 Vgl. Koran 4,168. 18 Koran 3,185.

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islamischen Tradition zunächst den islamischen Gelehrten bzw. Rechtsgelehrten. Hierbei gilt der Grundsatz, dass Kultur und Bräuche, die nicht dem Islam widersprechen, in die islamische Lebensführung integriert werden können. Die Grenzen der richtigen Lebensführung sind somit nicht starr, sondern beweglich und manifestieren sich in unterschiedlichen historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhängen unterschiedlich. Dies betrifft unter anderem Kleidungsvorschriften, Rechtsvorschriften, gesellschaftliche und kulturelle Praktiken und Bräuche. 2.2 Mystik In der islamischen Mystik ist die Unterwerfung der menschlichen Begierden, die die Seele fortwährend zum Bösen treiben, von zentraler Bedeutung. Sure 12,53 besagt, dass die Seele nach dem Bösen trachtet und Sure 89,26–28 spricht von der ruhigen Seele, die zu Gott zurückkehren wird. Diese Diskrepanz zwischen den zwei Seelenzuständen ist in der islamischen Mystik zentral. Die unerlässliche Aufgabe eines islamischen Mystikers ist die Umwandlung der eigenen Triebseele zur ruhigen Seele. In die islamische Tradition ist die Läuterung der Seele als Großer Dschihad eingegangen. In der frühen Entwicklungsstufe der islamischen Mystik stand die Gottesfurcht im Zentrum. Der Furcht vor dem Höllenfeuer wurde durch Askese, Meditation, Einhaltung der islamischen Rituale und dem Nacheifern der Lebensgewohnheiten des Propheten Muhammads begegnet. Ab dem neunten Jahrhundert war für mehrere Jahrhunderte nicht mehr die Gottesfurcht im Zentrum der islamischen Mystik sondern die Gottesliebe. Die Legende von Rabia von Basra verdeutlicht diese Entwicklungsstufe. Der Legende nach wurde Rabia in den Straßen von Basra mit einem Eimer Wasser in der einen Hand und einer Fackel in der anderen Hand gesichtet. Nach dem Sinn ihres Handelns befragt, antwortete sie: „Ich will Wasser in die Hölle gießen und Feuer ans Paradies legen, damit diese beiden Schleier verschwinden und niemand mehr Gott aus Furcht

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vor der Hölle oder in Hoffnung aufs Paradies anbete, sondern nur noch um Seiner ewigen Schönheit willen.”19

Im folgenden Entwicklungsschritt wurde die Gottesnähe zentral für den mystischen Islam. Diese Entwicklung ist eng verbunden mit der Erschließung der griechischen Philosophie und der antiken Wissenschaften. Insbesondere die Auseinandersetzung mit dem Neuplatonismus beförderte diese Entwicklung. Während für den Großteil der islamischen Gelehrten die Gottesnähe erst im jenseitigen Leben zu erlangen ist, indem der Mensch der Rechtleitung für das diesseitige Leben bedingungslos folgt, ist die Gottesnähe in der islamischen Mystik bereits im Diesseits zu erlangen. Denn alle Existenz ist nur ein Schatten der einzig wahren Existenz – Gott. Ziel des Mystikers ist die Auflösung der eigenen Seele in Gott und das Aufgehen im göttlichen Sein.20 Dies erlangt der Mensch durch die Erkenntnis, dass es nichts und niemanden gibt, das bzw. der nicht mit Gott verbunden ist. Alles emaniert aus dieser einzigen Existenz. 2.3 Der islamische Fundamentalismus Der Salafismus ist in der Gegenwart die bekannteste Erscheinungsform des islamischen Fundamentalismus. Der Begriff Salafismus lehnt sich an den Begriff as-salaf aṣ-ṣāliḥ an, was „die frommen Ahnen“ bedeutet. Hiermit werden die primären Bezugsquellen der Auslegung des Islam bezeichnet. Dies sind die Gefährten des Propheten und die Folgegeneration. Nach dieser Auslegung sind die Ideale der wirkungsmächtigen Frühzeit des Islam im Laufe der islamischen Geschichte nahezu vollständig verloren gegangen. Den „wahren Islam“ gilt es freizulegen und von all den Erneuerungen und Hinzufügungen durch das islamische Recht, die Mystik, den Volksglauben, den Aberglauben und das Schiitentum zu bereinigen. Der Mensch entgeht nur dem Höllenfeuer und führt nur dann ein würdiges Leben, wenn die vom Propheten Muhammad gelebten Sitten bis ins kleinste Detail befolgt werden.

19 Zitiert nach A. Schimmel, Sufismus. Eine Einführung in die islamische Mystik, München 2000, 16. 20 Vgl.: Koran 33,26.

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3. Islamismus Der Islamismus ist eine politische Religion. Ziel ist die Islamisierung der öffentlichen und privaten Sphären, die durch Erlangung der politischen Herrschaft oder durch die Islamisierung des Alltagslebens der Muslime erreicht werden soll. Islamistische Theoretiker betonen die religiöse und gesellschaftliche Verantwortung des Individuums als Stellvertreter Gottes auf Erden. Aus der Sicht des Islamismus ist die zentrale Aufgabe des Muslims im diesseitigen Leben, die Gesellschaft durch gesellschaftliches und politisches Engagement dahingehend zu verändern, dass die von Gott offenbarten Gebote durchgesetzt werden.

II. Der islamische Diskurs über die Zulässigkeit von Musik im Islam Der im Titel auszugsweise zitierte Koranvers 7,32 wird häufig als zentrales Argument für die Vereinbarkeit von Musik und Islam angebracht. Der Vers steht in folgendem Gesamtkontext: „O Kinder Adams, tragt die schönen Dinge in jede Gebetsstätte mit, und esst und trinkt, aber seid nicht maßlos! Er liebt die Maßlosen nicht. Sprich: Wer hat die schönen Dinge Gottes verboten, die Er für seine Diener hervorgebracht hat und die guten Dinge zur Versorgung? Sprich: Sie sind im diesseitigen Leben für die bestimmt, die glauben und im Besonderen für den Tag der Auferstehung. So verdeutlichen Wir die Zeichen für Menschen, die Bescheid wissen. Sprich: Wahrlich, mein Herr hat nur die schändlichen Taten verboten, seien sie offensichtlich oder verborgen, sowie die Sünde und die Gewaltanwendung ohne Recht, als auch, dass ihr Gott etwas zur Seite setzt, wozu Er keine Befugnis herabgesandt hat und dass ihr über Gott das sagt, was ihr nicht wisst.“21

Das Argument, dass sich die Zulässigkeit von Musik im Islam aus diesem Vers ableiten lässt, ist angreifbar. Die hier als schöne Dinge und gute Dinge übersetzten Begriffe lauten im arabischen zīna und ṭayyibāt, werden aber in der arabischen Sprache in der Regel als gute und schöne Dinge verstanden, die in irgendeiner Form eine Materie besitzen. Demnach übersetzt Khoury frei aber folgerichtig: 21 Koran 7,31–33.

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„O Kinder Adams, legt euren Schmuck bei jeder Moschee an, und eßt und trinkt, aber seid nicht maßlos. Er liebt ja die Maßlosen nicht. Sprich: Wer hat denn den Schmuck verboten, den Gott für seine Diener hervorgebracht hat, und auch die köstlichen Dinge des Lebensunterhalts?“

Das bekannteste und umfangreichste Wörterbuch der arabischen Sprache ist der Lisān al-ʿArab von Ibn Manẓūr aus dem 13. Jahrhundert. Ibn Manẓūr zählt eine Reihe von Anwendungen des Begriffs zīna auf. Unter anderem wird die Verwendung des Begriffs an einem Fragment aus einem Prophetenausspruch erläutert. Es lautet wie folgt: Zayyanū l-Qurʾān bi-aṣwātikum. Sinngemäß übersetzt bedeutet dieser Satz: „Verschönert die Koranrezitation durch eure Stimme.“ Dass dieser Ausspruch korrekt ist, wird aber von denjenigen bezweifelt, die Musik und Gesang ablehnen. Sie behaupten der Ausspruch müsste korrekt lauten: Zayyanū aṣwātikum bi-l-Qurʾān. Dies bedeutet sinngemäß: „Verschönert euer Sprechen, indem ihr den Koran zitiert.“ Die zweite Deutung hat sich in der islamischen Welt durchgesetzt. So finden sich diverse Redewendungen, die ihren Ursprung im Koran haben, in der Alltagssprache der Muslime wieder und werden in den verschiedensten Alltagssituationen verwendet. Geläufige Redewendungen sind in šāʾa Allāh (so Gott will), al-ḥamdu li-llāh (gelobt sei Gott) und bi-smi l-lāh (im Namen Gottes). Im arabischen Sprachraum werden diese Redewendungen auch von Juden und Christen gebraucht. Hingegen ist die Verknüpfung von Musik und Koranrezitation, wie am Beispiel des islamischen Theologen Muhammad Abduh dargelegt, in der islamischen Welt verpönt. Die Zulässigkeit von Musik im Islam ist mit Koranvers 7,32 nicht eindeutig zu belegen. Im Folgenden werden die verschiedenen Auslegungen der zeitgenössischen Strömungen zum Verhältnis Islam zur Musik vorgestellt. 1. Traditionalismus Zu den bedeutendsten religiösen Institutionen, die sich dem Traditionalismus in der arabischen und islamischen Welt verpflichtet fühlen, zählen das dār al-iftāʾal-miṣrīya (die Oberste Behörde für Rechtsgutachten Ägyptens) und die al-Azhar Universität in Kairo. Der Großmufti steht

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dem dār al-iftāʾ und der Großscheich22 steht der al-Azhar Universität vor. Vertreter des Traditionalismus, Hüter der islamischen Tradition und Kultur, verweisen häufig auf die Bedeutung der Scharia, des islamischen Wegs. Scheich Alī Ğād al-Ḥaqq, der von 1978 bis 1982 das Amt des Großmuftis23 in Ägypten inne hatte und im Jahr 1982 zum Großscheich der al-Azhar Universität ernannt wurde, argumentierte, in seiner Funktion als Großmufti, in einem Rechtsgutachten aus dem Jahr 1981 zur Zulässigkeit von Musik im Islam wie folgt: „Gott hat den Menschen mit Instinkten und Begierden ausgestattet, deshalb neigt er zu Vergnügen. Die Scharia wurde nicht offenbart, um die natürlichen Triebe zu vernichten. Sie vernichtet nicht die natürlichen Triebe, sondern bringt diese in eine Ordnung. In eine neutrale Position. Die natürlichen Triebe werden in eine Bahn gelenkt, in der sie keinen Schaden oder Unheil anrichten.“24

In seiner Fatwa kommt er zu dem Ergebnis, dass das Hören von Musik, das Erlernen und Spielen von jeglichen Instrumenten als auch der Besuch von Konzerten erlaubt sei. Musik, so sein Urteil, wird wie das Sitzen an der Straße betrachtet. Diese etwas befremdlich anmutende Erklärung stützt sich auf folgenden Prophetenausspruch: „Der Prophet sagte: ,Hütet euch davor an der Straße zu sitzen‘. Sie fragten: ,O, Gesandter Gottes, wir haben immer unseren Platz gehabt, wo wir uns miteinander unterhalten haben.‘ Daraufhin antwortete er: ,Wenn ihr unbedingt sitzen wollt, dann gebt der Straße ihr Recht.‘ Sie erwiderten: ,O, Gesandter Gottes was für ein Recht hat die Straße?‘ Daraufhin antwortete er: ,Die Blicke senken, Schaden zu vermeiden, den Gruß zu erwidern und das Gute zu gebieten und das Verwerfliche zu untersagen.‘„25

Die Analogie zwischen „an der Straße sitzen“ und Musikhören ist, dass beides nach islamischer Lehre erlaubt ist, insofern die beteiligten Personen sich weder schamlos noch unsittlich verhalten. Der Ausdruck „die 22 Der Großscheich der al-Azhar ist die oberste religiöse Autorität des sunnitischen Islam. 23 Der Großmufti ist die höchste Autorität in der Erlassung von Rechtsgutachten. Islamische Rechtsgutachten, Fatwas, sind nicht bindend für Muslime. 24 http://www.dar-alifta.org/ViewFatwa.aspx?ID=3280 [18.10.2013] 25 Ebd.

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Blicke senken“ ist ein zentraler Ausdruck des Korans auf den sich die islamische Sittenlehre begründet.26 Scheich Ğād al-Ḥaqq sieht im Musikhören und Musizieren eine Neigung, die weder schlecht noch gut ist. Erst in Verbindung mit einer Absicht kann beurteilt werden, ob dies dem islamischen Pfad widerspricht. Hört man Musik, um Gott zu dienen, dann ist das gottgefällig. Hört man Musik, um eine Sünde zu begehen oder vernachlässigt dabei die Pflichtgebete, so steht dies im Widerspruch zur Scharia. Hört man Musik zur Entspannung, dann dient dies dem legitimen Bedürfnis der Erholung. Dient die Musik der Unzucht oder steht sie in Verbindung mit Schändlichem, dann ist dies verboten. Dies gilt sowohl für die Textinhalte als auch für den Rahmen der Musikveranstaltung. Demnach ist Musik in Verbindung mit Alkohol und gemischt-geschlechtlichem Tanz verboten. 2. Islamische Mystik Obgleich es puritanisch mystische Strömungen im Islam gibt, die Musik als verboten erachten, sehen islamische Mystiker mehrheitlich die Vereinbarkeit von Musik und Islam als gegeben. Dies gründet auf der Vorstellung, dass alle Phänomene der Natur das Antlitz Gottes in sich tragen. Dementsprechend sind Klänge, Laute und Stimmen göttliche Phänomene und Musik ist die menschliche Nachahmung dieser göttlichen Klänge. Die Imitation dieser Klänge durch den Bau von Instrumenten oder durch die Ausbildung der menschlichen Stimme wird als im Einklang mit den Lehren des Islam befindlich erachtet. Da alles mit Gott verbunden ist, ist auch die menschliche Seele mit den göttlichen Klängen verbunden. Islamische Mystiker sehen in Musik ein Vehikel, die Triebseele in die ruhige Seele zu verwandeln und die Gottesnähe zu erfahren. 3. Islamismus Zu den bedeutendsten Vertretern des Islamismus zählt zweifellos der prominenteste islamische Gelehrte der Gegenwart Yūsuf al-Qaraḍāwī. Er ist Autor von ca. 120 Monographien. Zu seinen wichtigsten Werken zählt 26 Koran 24,30.

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Das Erlaubte und das Verbotene im Islam aus dem Jahr 1960. Dieses Werk richtet sich an Muslime in der Diaspora und bietet Muslimen eine Richtschnur für das gute Leben und gute Handeln aus islamischer Perspektive. Für Yūsuf al-Qaraḍāwī ist der Islam die Lösung aller gesellschaftlichen Probleme. Sein politisches Ziel ist die Islamisierung der Moderne. Ein zentrales Element hierbei ist die Daʿwa, die Missionierung zum Islam. Vorrangiges Ziel ist nicht die Missionierung von Nichtmuslimen, sondern formelle Muslime zum islamischen Leben zu bewegen. Dies soll durch eine stufenweise Heranführung zum Islam geschehen. Nach eigener Aussage basieren seine Rechtsgutachten auf dem islamischen Prinzip der Mitte. Demnach werden neben den normativen Quellen des Islam und den Bewertungen aller islamischen Rechtsschulen auch die Erkenntnisse der Wissenschaft und der logische Verstand in die Bewertung einer Sachfrage miteinbezogen. In der Abhandlung Das islamische Rechtsverständnis zu Gesang und Musik im Lichte des Korans und der Sunna27 hat al-Qaraḍāwī seine Position zur Musik zusammengefasst. In der Einleitung ist zu lesen: „Der Islam ist eine Botschaft an die ganze Welt und ist für alle Zeiten gültig. Der Islam ist weder auf eine bestimmte Region noch auf eine Ethnie noch eine Generation beschränkt. Er ist nicht die Hervorhebung eines bestimmten Aspektes der Glaubenslehre. Er fokussiert sich auch nicht auf eine bestimmte Gruppe. Wäre dies der Fall, würde aus dem Blick geraten, dass in Afrika nicht auf Gesang und Tanz verzichtet wird. Gleiches gilt für die westliche Zivilisation. Insbesondere bestimmte Formen der Musik werden dort als Weg zur Erbauung der Seele und des Geistes erachtet. Dies soll freilich nicht heißen, dass wir unsere Religion verändern sollten, um irgendjemanden zufrieden zu stellen. Gott bewahre! Es bedeutet nur, dass mit Menschen alle Menschen gemeint sind.“28

Der Islam ist für al-Qaraḍāwī eine universelle Religion, die sich nicht nur an die Menschen des Nahen Osten richtet. Als Universalreligion muss der Islam alle Menschen ansprechen. Eine islamische Tradition wie in den islamischen Kernländern kann dies nicht leisten. 27 Y. Al-Qaraḍāwī, Fiqh al-ġināʾ wa-l-mūsīqā fī ḍaūʾ al-Qurʾān wa-s-Sunna, Bairūt (Beirut/Libanon) 2007. 28 Ebd., 8f.

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Nachdem al-Qaraḍāwī in seinem Werk die Koranverse und die Prophetenaussprüche vorstellt, die von islamischen Rechtsgelehrten für und gegen ein Musikverbot vorgetragen wurden und die Positionen, Aussagen und Kommentare der Autoritäten des Frühislams und der islamischen Geistesgeschichte darlegt, kommt er zu folgendem Urteil: „Musik ist erlaubt, denn Musik gehört zur menschlichen Natur. Aus islamischer Perspektive ist Musik aber nur eingeschränkt erlaubt. Musik, in der die Schönheit der Religion und der Natur gepriesen wird, ist erlaubt. Instrumentalmusik, wie die klassisch-europäische Musik, sowie instrumentale Musiktherapie, sind erlaubt. Instrumentalmusik ist verboten, wenn sie zu sexueller Erregung führt und zu gemischt-geschlechtlichten Tanz betört. Liedtexte, die Gewalt oder Sexualität zum Thema haben, sind verboten.“29

4. Der islamische Fundamentalismus Die Argumentation fundamentalistischer Autoren stützt sich auf die Autorität der frommen Ahnen. Koranverse und Prophetentraditionen werden von den Zeitgenossen des Propheten erläutert und durch Kommentare der wichtigsten Quellen des fundamentalistischen Islam ergänzt. Dies sind vorwiegend Ibn Taimīya (1263–1328), Ibn Qaiyim al-Ǧauzīya (1292–1350) und Ibn Kaṯīr (1300–1373). Die Menge fundamentalistischer Darlegungen zum Musikverbot im Internet ist schier unendlich. Jedoch wiederholt sich das Grundmuster der Argumentation. Im Folgenden werden die immer wieder angebrachten Kernargumente fundamentalistischer Autoren für ein weitreichendes Verbot von Musik im Islam dargelegt.30 Die Argumentationskette baut häufig auf Sure 31,6 auf:

29 Ebd., 231. 30 Wer ursprünglicher Autor der Argumentationskette ist, ist leider nicht bekannt. Auf folgenden Webseiten sind die Argumentationsketten in deutscher und englischer Sprache nachzuverfolgen: http://islam-qa.com/en/ref/5000/music%20and%20dancing, http://xsploder.pf-control.de/wpress/2012/12/18/das-urteil-uber-musik-gesang-und-tanz/, http://www.fataawa.de/Fatawaas/4.Fiqh/4.Sitten%20&%20Tradition/5.Sonstiges/0084.pdf [09.01.2013]

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Nizar Romdhane „Unter den Menschen gibt es manch einen, der leichte Unterhaltung austauscht, um die Menschen vom Weg Gottes abirren zu lassen und die Offenbarung zum Gegenstand des Spottes zu nehmen, dabei haben sie kein Wissen. Jene haben eine erniedrigende Strafe zu erwarten.“

Der Ausdruck „leichte Unterhaltung“ wird als Musik interpretiert. Dies wird zweifach abgesichert. Zunächst wird eine Erklärung Ibn Abbas angeführt, dass mit diesem Ausdruck Gesang gemeint sei. Ibn Abbas ist der Neffe des Propheten Muhammad und eine der wichtigsten Quellen der Prophetentradition. Seine Autorität ist in der islamischen Welt unumstritten. In einem zweiten Schritt wird der Korankommentar von Ibn Kaṯīr herangezogen. Dort wird der Ausdruck als Singen und Flötenspiel gedeutet. Diese Fährte wird weiterverfolgt. Es wird auf Sure 17 und 38 verwiesen, in denen die Verbannung Iblīs aus dem Paradies beschrieben ist. Gott kündigt an, Iblīs mit einem Fluch zu belegen, dieser erbittet und erhält Aufschub bis zum Tag der Auferstehung. Iblīs schwört, die Menschen in die Irre zu führen. Es folgt ein Zitat aus Sure 17,64, dort erteilt Gott Iblīs folgende Erlaubnis: „Und schrecke mit deiner Stimme auf, wen von ihnen du vermagst, und biete gegen sie deine Pferde und dein Fußvolk auf […].“

Ibn Qaiyim al-Ǧauzīya zitierend, wird die Stimme Satans als Gesang und das Fußvolk als diejenigen, die verbotene Musikinstrumente spielen, gedeutet. Die verbotenen Musikinstrumente sind die Flöte und das Tamburin mit Schellenkranz. Das Verbot von Musik wird abschließend durch den vielfach herangezogenen Ausspruch des Propheten Muhammad belegt: „Es werden Leute aus meiner Umma31 auftauchen, die nicht-ehelichen Verkehr, Seide, Alkohol und Musikinstrumente für erlaubt erklären“

Da es aber Prophetenaussprüche gibt, die belegen, dass Musik auch im Frühislam praktiziert wurde und dies mit der ausdrücklichen Zustimmung des Propheten Muhammad, wird das Musikverbot auch in fun31 Umma bedeutet im Kontext des Islam die islamische Gemeinschaft oder Gemeinschaft der Gläubigen.

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damentalistischen Auslegungen in der Regel ein wenig relativiert.32 Demnach zählt das Tamburin ohne Schellen zu den erlaubten Musikinstrumenten und darf von Frauen an Festtagen gespielt werden. Viele fundamentalistische Autoren lehnen allerdings den Našīd, islamische Musik, ab, da es sich hierbei um eine Erneuerung durch die islamische Mystik handelt. Musik, die rein der Unterhaltung dient, wird in der Regel als verboten erachtet. Dies gilt insbesondere für Musik, die von Frauen vorgetragen wird. Einige radikal fundamentalistische Autoren wiederum erklären Musik zur Motivation der Kämpfer als erlaubt.

III. Diskurs und Realität Die Nachfrage nach islamkonformer Musik ist in den letzten Jahren stetig gestiegen. Hierdurch ist ein Musikmarkt entstanden, der zugleich ein lukratives Geschäft darstellt. Die größten Geldgeber kommen aus SaudiArabien und finanzieren unter anderem den ägyptischen Musiksender 4shabab – für Jugendliche. Die Musikclips, die gezeigt werden, sind vereinbar mit der hier vorgestellten islamistischen und traditionalistischen Position zur Musik, überschreiten aber fundamentalistische Vorgaben für legitime Musik. Aus diesem Grund werden diese Produktionen auch nicht in Saudi-Arabien ausgestrahlt. Al-Qaraḍāwīs vorgestellte Position zur Musik deckt sich mit den Vorstellungen der städtischen muslimischen Jugend in den Metropolen Europas. Mit der westlichen Moderne aufgewachsen, wollen die Jugendlichen an ihr partizipieren und dabei ihre religiöse Identität öffentlich leben, d. h. eine islamische Lebensweise pflegen. Dies beinhaltet das Befolgen von Kleidungs- und Speisevorschriften aber auch das Hören von Musik, die islamischen Normen entspricht. Ein musikalisches Idol dieser Jugend ist Sami Yussuf. Seine Musik ist islamische Popmusik, die als Daʿwa Musik zu klassifizieren ist. In dieser Musik und den Videoclips wird die islamische Frömmigkeit angepriesen, werden islamische Werte gepredigt und wird aufgezeigt, dass islamische Frömmigkeit und islamische Werte nicht im Widerspruch zum

32 Ob die Prophetenaussprüche aus historischer Perspektive authentisch sind, spielt hierbei keine Rolle. Sie sind authentisch und wahr, weil Muslime sie für wahr halten und sich dazu verhalten, in Kontext setzen oder sich dazu positionieren.

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Leben in der Moderne und einer globalisierten Welt stehen.33 Mit Blick auf al-Qaraḍāwīs Daʿwa Konzept, kann diese Form der islamischen Popmusik als Heranführung an den Islam verstanden werden. Dem Fundamentalismus gilt eine islamische Musik wie sie Sami Yussuf produziert als Neuerung. Sie widerspricht nach seiner Lesart dem Geist des Islam und wird entschieden zurückgewiesen. Daʿwa Musik, die eine Variante des Islam konstruiert, die mit den Vorstellungen einer westlichen Moderne vereinbar ist, erscheint Fundamentalisten als eine Farce. Es gibt nur einen Islam und der fordert die Regeln und Sitten zu befolgen, wie der Prophet Muhammad sie gelebt hat. Diesen einzigen islamischen Weg aufzuzeigen und zu dieser Lebensform aufzufordern ist Daʿwa (islamische Missionierung). Die fundamentalistische Lesart des Islam scheint insbesondere bei Konvertiten sehr beliebt zu sein. Der berühmteste Konvertit im Musikgeschäft ist Cat Stevens. 1977 konvertierte er zum Islam und nennt sich seitdem Yusuf Islam. Er beendete seine aktive Karriere als Musiker 1979. Im Jahre 1995 begann er wieder Našīd zu spielen, zunächst noch gemäß dem fundamentalistischen Verständnis, nur vom Tamburin begleitet. Heute gibt er wieder weltweit Konzerte, spielt seine alten Hits und Našīd, beides instrumental begleitet. In der Süddeutschen Zeitung gab er 2011 ein Interview und erklärte darin: „Ich habe ja selbst jahrelang einer sehr starken konservativen Strömung im Islam gehorcht, die besagte, dass Musik verboten ist. Aber dann habe ich mich schlau gemacht und realisiert, dass die Wirklichkeit ganz anders ist. Es war ja auch das islamische Spanien, über das mit der Gitarre das Instrument nach Europa kam, auf dem heute die Rockmusik basiert. Nein, eine der großen Naturschönheiten in Gottes Universum ist nun mal die Musik.“34

33 Auf der Webseite von Youtube sind eine große Anzahl an Musikclips Sami Yusufs zu sehen. Z.B.: https://www.youtube.com/watch?v=0BvqkOjrC4c [09.01.13] 34 http://www.sueddeutsche.de/kultur/yusuf-islam-im-gespraech-die-beatles-waren-schuld1.1080423 [09.01.13]

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Fazit Bei eindeutigen Bestimmungen des Korans, wie dem Fastengebot, die Almosenabgabe oder dem Verbot des Verzehrs von Schweinefleisch, dreht sich der islamische Diskurs darum, wie diese Bestimmungen umgesetzt werden sollen. Das Verhältnis des Islam zur Musik ist eher von der Frage bestimmt, ob es hierzu eine Bestimmung gibt. Die normativen Quellen des Islam lassen kein Urteil zu, ob Musik mit dem Islam vereinbar ist oder nicht. Dies obliegt dem Urteil der Muslime, ihrer Lesart dieser Quellen, den methodischen Zugängen und dem hieraus abgeleiteten Menschenbild. Die spirituellen Aspekte des Islam führen zur Erkenntnis, dass Musik und Kunst gottgewollte Ausdrucksformen der menschlichen Existenz sind und somit mit den Lehren des Islam vereinbar sind. Andererseits fordert der Islam als Gesetzesreligion Regeln, die die soziale Ordnung herstellen, aufrechterhalten und die Einheit des Islam garantieren. Nach dem Urteil der meisten Muslime stellt Musik keine Bedrohung für die soziale Ordnung dar, insofern die Regeln der islamischen Sittsamkeit eingehalten werden. Wo die Grenzen zwischen sittsamen und nicht sittsamen Handeln liegen, wird diskursiv ausgehandelt. Die Grenzen sind nicht starr und werden von gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und historischen Bedingungen beeinflusst. Wird dieser Diskurs zurückgewiesen und die Pluralität der Lebensweisen abgelehnt, ist die soziale Ordnung tatsächlich gefährdet. An dem gegenwärtigen diskursiven Prozess über die Zulässigkeit von Musik im Islam sind nicht allein islamische Gelehrte beteiligt. Muslime, die Zugang zu Medien haben, überprüfen die Vorgaben und Lesarten der islamischen Gelehrten und hinterfragen, ob beispielsweise Fatwas, die Musik verbieten oder den Gesang von Frauen einschränken, mit der modernen Welt vereinbar sind. Hier ist, zumindest von Muslimen in den Metropolen der islamischen Welt und in der westlichen Welt, eine weitreichende Forderung nach größtmöglicher Rationalität zu erkennen. Fatwas, die beispielsweise die E-Gitarre oder das Fußballspielen, die englische Sprache u.v.m. als unislamisch deklarieren, da der Prophet Muhammad diese nicht nutzte, werden von den meisten Muslimen, die an der Moderne partizipieren, zurückgewiesen.

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Hier zeigt sich, dass die zeitgenössische islamrechtliche Auseinandersetzung zugleich auch ein Diskurs über das Verhältnis des Islam zur Moderne ist. Gefragt wird, wie Identität und Authentizität gewahrt werden können, wo die Grenzen einer authentischen islamischen Lebensweise liegen. Als eine mögliche Antwort hierauf kann Sami Yussufs islamische Musik verstanden werden, die den Einklang zwischen islamkonformer Lebensführung und modernen Herausforderungen herstellt.

Stefan Klöckner

Laeti bibamus … Über die nüchterne Trunkenheit des Gregorianischen Chorals1 Zu Beginn … Am Ufer des Baches, den der lebendige Glaube unserer Tage für viele langsam hinunter geht, stehen neuerdings wieder so einige, misstrauisch auf jeden Rest von Brücke schauend – und froh um jeden Pfeiler, der dem rückwärts fließenden Strom nicht mehr standhält. Zugleich darauf wartend, dass die vielen dürren Äste vom Kirchenbaum endlich abfallen – auf dass sichtbar werde, wie wenige es doch sind, die wahrhaft glauben: „Wir müssen wieder ganz wenige werden …“ Und wollen die Äste nicht von selber fallen, rüttelt man mit einem Stab … Krisenstab, Arbeitsstab, Stabsstelle für Hirtenstäbe … Dieses Rütteln ist aber keine Bewegung mehr, sondern eine der letzten Zuckungen …

Kirchliches Plusquamperfekt … Wandlitz auf katholisch? Angesichts der aktuellen liturgischen Entwicklungen packt und schüttelt mich das Unbehagen darüber, dass es mit Sieben-Meilen-Stiefeln rückwärts (statt vorwärts) zu gehen hat, und dass dies nicht nur von oben verordnet, sondern von einer wachsenden Zahl unten auch begeistert 1 Der Vortragsstil wurde bewusst beibehalten. Der Text greift in weiten Passagen auf folgende Veröffentlichungen des vortragenden Autors zurück: S. Klöckner, Nur der der römischen Liturgie eigene Gesang? Gregorianischer Choral in Kirche, Liturgie und Kultur – Versuch einer aktuellen Standortbestimmung, in: Kirchenmusikalische Mitteilungen der Diözese Rottenburg-Stuttgart Nr. 129 (Dezember 2010), Rottenburg 2010, 2–14; S. Klöckner, Gegenwelt im „Retro“-Look – Droht eine Perpetuierung des liturgischen Plusquamperfekts?, in: Herder Korrespondenz 60/3, Freiburg i. Br. 2012, 132–137; S. Klöckner, Fleischgewordener λογος – klanggewordenes Wort. Inkarnation als Parameter einer Spiritualität des Gregorianischen Chorals, in: H. Schoenauer (Hg.), Spiritualität und innovative Unternehmensführung, Stuttgart 2012, 124–141.

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gewünscht wird – die Last der Freiheit, ist sie fünfzig Jahre nach Eröffnung des letzten Konzils zu schwer geworden? Derzeit gibt es viele Ecken, die gefüllt werden mit Requisiten vergangener Jahrhunderte – liturgisch, musikalisch und theologisch. Und dass dieser Vorgang uns präsentiert wird als ein „gesunder Korrekturprozess“ – Korrektur der letzten liturgischen Reform, die bekanntermaßen sehr stark von Orientierung an urkirchlichen Vorbildern, Entschlackung und Reduktion auf das Wesentliche geprägt war – das macht eine zunehmende Zahl von Christenmenschen unserer Tage unruhig, ja: zornig. Wer sich heutzutage Gedanken macht über Aktualität und Zeitgenossenschaft im liturgischen Bereich, steht in Spannung zu den entgegengesetzten Tendenzen, die mit der gezielten Wiederzulassung der vorkonziliaren Liturgie offensichtlich reziproke ästhetische und theologische Modelle präferieren. Es erstaunt den Aufmerksamen inzwischen nicht mehr, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der aktuellen kirchlichen Auseinandersetzungen auf dem Feld der Liturgie und der Kirchenmusik ausgetragen werden. Das war eigentlich zu allen Zeiten in der Kirchengeschichte so – bis hin zum II. Vatikanischen Konzil. Genauso evident wie diese Tatsache ist allerdings das Faktum, dass es sich hierbei zu allermeist um „Stellvertreter-Kriege“ gehandelt hat (und auch in unseren Tagen wieder handelt), dass also die Ursachen auf anderen Feldern der Theologie und des kirchlichen Selbstverständnisses zu finden sind. Das ist nur natürlich – denn die Liturgie ist (wie die in ihr beheimatete Kirchenmusik auch) ein zutiefst genuiner und äußerst sensibler Bereich, an dem sich sehr genau ablesen lässt, welches Verständnis von Kirche und Welt, Hierarchie und Laien, Überzeitlichkeit und Aktualität bei wem vorherrscht. Wenn wir uns also der Spiritualität des Gregorianischen Chorals zuwenden, so muss hier zuerst eine Bestandsaufnahme stattfinden. In ihr werden wir Tendenzen, Symptomen, Problemen und Spannungen begegnen, die ihre Ursache im aktuellen kirchlichen Selbstverständnis haben; und dieses befindet sich in einem Umbruch, der gleichermaßen signifikant wie schwerwiegend ist. Warum ist das so? Vielleicht hilft uns der Titel des Vortrags, die spannungsreiche Lage zu verstehen.

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„Christusque nobis sit cibus, potusque noster sit fides; laeti bibamus sobriam ebrietatem Spiritus“.

„Und Christus werde unser Brot, und unser Glaube sei uns Trank. In Freude werde uns zuteil des Geistes klare Trunkenheit“ – so lautet die offizielle Übersetzung in unserem Stundenbuch. „sobria ebrietas“ – eigentlich wäre das die nüchterne Besoffenheit. Und damit sind wir nach wenigen Worten bereits im Kern der Spiritualität des Gregorianischen Chorals angelangt: Wie die römische Liturgie in ihren Wurzeln, so ist auch der römische Liturgiegesang nüchtern in der Form, sparsam und klar in der Wahl seiner äußeren Mittel … zugleich aber ist er trunken, ja „besoffen“ vom Inhalt des Gesagten, Gesungenen und Gefeierten. Das bezeichnet seine existentielle Wort-Verbundenheit – zugleich aber müssen alle Versuche, ihn seiner äußeren Form wegen zu protegieren (so als mystischer Sound, als klangliche Behübschung der Liturgie oder als triumphalistische Fanfare einer Kirche von vorgestern), genau an dieser elementaren Verbundenheit mit dem lebendigen erklingenden Wort scheitern.

„Notwendige Rückbesinnung“ oder doch eher ein „salto mortale“ zurück in vergangene Zeiten? Im Jahr 2007 veröffentlichte Papst Benedikt XVI. in relativ knapper Abfolge zwei Verlautbarungen, deren Inhalte durch die Presse auf signifikante Weise durcheinandergewirbelt und miteinander verquickt wurden: Während das postsynodale Schreiben „Sacramentum caritatis“, in dem der Papst vor allem unter dem Aspekt der weltumspannenden Katholizität für eine intensivere Pflege der lateinischen Sprache und des Gregorianischen Chorals eintrat, noch wenig rezipiert wurde, so wühlte das päpstliche Motuproprio „Summorum Pontificum“, das die prinzipielle Zulassung des tridentinischen Ritus als „forma extraordinaria“ der katholischen Messfeier aussprach, die Gemüter des linken wie rechten Spektrums explosionsartig auf. Die Presse – gerade diejenige, die ihre Arbeit nicht allzu sehr mit störendem sachlichen Differenzierungswillen

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und -vermögen belastet – machte flugs aus beiden Schreiben einen Sachverhalt, was u. a. der hier Vortragende zu spüren bekam: Zeitungen, aber auch Rundfunk- oder (öffentlich-rechtliche) Fernsehsender meldeten sich mit der Bitte um Stellungnahme zur Frage: „Was sagen Sie dazu, dass der Papst nun wieder die alte lateinische Messe zugelassen und den Gregorianischen Choral dafür vorgeschrieben hat?“ Dass das II. Vatikanische Konzil 1963 die lateinische Sprache nach wie vor als erste Sprache der Liturgie angesehen und die Muttersprache lediglich „ermöglicht“ hatte, dass der Gregorianische Choral in der Liturgiekonstitution dieser letzten großen Kirchenversammlung als der „der römischen Liturgie eigene Gesang“ bezeichnet worden war, schien kaum jemand mehr zu wissen und vor allem heute niemanden zu interessieren! Angesichts einer jahrzehntelangen Entwicklung in den Kirchengemeinden, die offensichtlich weitflächig anders verlaufen war – was Wunder! Nicht wenigen erscheinen diese päpstlichen Dokumente als eine Kurskorrektur – von welchem Kurs jedoch, und vor allem: Wohin soll es nun gehen? Es dürfte inzwischen deutlich geworden sein, dass es nicht mehr nur um die „Folgen des Konzils“ geht, die ein Kardinal Ratzinger noch korrigiert wissen wollte – es geht heute um Positionen des Konzils selber, die augenfällig mittels einer fragwürdigen Auffassung von Kontinuität und Tradition zur Disposition gestellt werden. Offensichtlich war die Leitungsebene der katholischen Kirche (und das nicht nur in Rom!) noch nie in den letzten 50 Jahren programmatisch so rückwärtsgewandt; und selten wurde ein derart zentralistischer Habitus an den Tag gelegt wie derzeit – was wieder einmal deutlich an Liturgie und Kirchenmusik zu merken ist. In einem „kritischen Rückblick zum Priesterjahr“2 sprach der Freiburger Dogmatiker Gisbert Greshake von „derzeitigen Lächerlichkeiten“3 im Zusammenhang mit der kirchlichen Betonung des Priestertums. Dazu zählten die barocke „Verfeinerung“4 liturgischer Gewänder (ich sage dazu immer „Spitze bis zur Zitze“), die „neuerliche ‚Verkultung‘ der Liturgie und ihrer Sprache“5 sowie eine ständige Einschränkung von Laien in 2 G. Greshake, Was hat es gebracht? Ein kritischer Rückblick zum Priesterjahr, in: HK 64 (2010), 375-377. 3 Ebd., 377 4 Ebd. 5 Ebd.

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kirchlichen Diensten durch römische Anweisungen.6 Greshake nannte auch die Wiedereinführung der so genannten Cappa Magna, eines hermelinbesetzten Umhangs, durch einige Kardinäle.7 Angesichts dieser augenfälligen Wiederbelebung klerikaler Museumsstücke, die man längst beruhigt den päpstlichen Motten überantwortet glaubte, erscheint auch das eigentlich zuerst äußerst erfreuliche päpstliche Plädoyer, dem Gregorianischen Choral mehr Wertschätzung entgegenzubringen und ihn mehr als bisher in der Liturgie einzusetzen, unter Umständen in einem anderen Licht: Wer den Gregorianischen Choral zum Bestandteil einer breit angelegten tridentinischen TraditionalismusKampagne machen will, wird scheitern müssen – denn hierfür reicht zum einen seine Tradition viel zu weit hinter Trient zurück – und zum anderen entzieht er sich in seiner existenziellen Lebendigkeit allen Postulaten einer objektiven, kühlen und emotionsarmen Liturgie. Natürlich ist die Kritik an den Entwicklungen, die nach dem II. Vatikanum in Liturgie und Kirchenmusik stattgefunden haben, zu einem guten Stück nachvollziehbar. Diejenigen dynamisch-progressiven Geistlichen, die aus ignorantia crassa Latein, Gregorianischen Choral und die Kirchenmusik der letzten Jahrhunderte mit 1970 für obsolet ansahen, dürften inzwischen gemerkt haben, dass diese zurückgelassenen Altäre nicht kalt geworden sind: Andere haben sich ihrer bemächtigt – der CD-Markt und seine Wirtschaft, die Wellness-Industrie und eben fundamentalistische und traditionalistische Kräfte aller Couleur, die wie Rattenfänger durch Kirche und Gesellschaft tanzen, das Lied der „Verheißung“ auf den Lippen, dass sich allein mit einer radikalen Wendung in frühere Zeiten alle Probleme der Gegenwart lösen ließen. Dass man die Messe auch in der vom II. Vatikanum erneuerten Form auf Latein feiern und dazu Gregorianischen Choral singen kann, war vielen offenbar nicht einsichtig – mit den heute spürbaren Konsequenzen!

6 Ebd. 7 Ebd.

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Die vielfach gesplitterte Realität des Gregorianischen Chorals Das kirchenmusikalische Gemeindeleben hat sich inzwischen jedoch noch einmal ganz anders entwickelt: Als man vor einigen Jahren daran ging, für die katholische Kirche Deutschlands und Österreichs ein neues Gesangbuch in der Nachfolge des 1975 erschienenen GOTTESLOB zu erarbeiten, führten die Zuständigen zuerst eine Akzeptanzerhebung durch, welche – und das war ein kluges und für ein liturgisches Buch außergewöhnliches Vorgehen – die Rezeption des bisher benutzten Einheitsgesangbuches ins Licht heben sollte. Sehr detailliert wurde z. B. nach Liedern und Gesängen, liturgischen Formen und dem Verhältnis von Tradition und Aktualität gefragt. Auch der Gregorianische Choral kam hierbei auf den Prüfstand. Das Ergebnis war für alle Liebhaber und Verfechter des lateinischen Liturgiegesangs einigermaßen ernüchternd, wenn nicht gar deprimierend: Man wünschte künftig eher weniger gregorianische Stücke im neuen Gesangbuch (obwohl einige bis dato fehlende Gesänge konkret als „zu ergänzen“ benannt wurden wie der Introitus der Totenmesse und einige Marianische Antiphonen …); am besten sollten die gregorianischen Gesänge alle in einem separaten Teil des Buches zusammengestellt sein – womit sie freilich dem Benutzer „aus den Augen“ gekommen wären (was wohl auch durchaus so intendiert war). Was war der Grund für ein solches pastorales Anathem? Fragte man nach, so gab es eher vage Antworten: „zu abstrakt“ seien diese Gesänge, zu wenig „emotional und mit der Lebenswirklichkeit der feiernden Gemeinde“ verbunden. Offensichtlich umweht diese Musik ein „AltHerren-Odium“: eine Alt-Herren-Schola singt in einem Gottesdienst, der von alten Herren zelebriert und (im Zuge der Gleichstellung) von vornehmlich alten Damen besucht wird – und den auch nur alte Leute „schön“ finden, weil so sehr an „früher“ erinnert, als die alten Damen und Herren noch jung waren. Würde man also nur die institutionalisierte pastorale Praxis zum Maßstab des Inhaltes eines neuen Gesangbuches machen, der Gregorianische Choral fiele als offensichtlicher Repräsentant eines kirchenmusikalischen Plusquamperfekts weitgehend heraus. Dem diametral gegenüber steht ein anderer Befund. Seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat sich im anglophonen Bereich, aber auch in Deutschland, Österreich und der deutschsprachigen

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Schweiz eine institutionell sehr offene „Gregorianik-Szene“ herausgebildet: Nationale und internationale Kurse, die sich der Theorie und Praxis des Gregorianischen Chorals widmeten (und heute noch widmen), hatten und haben einen ungeahnten, bis heute ungebrochenen Zulauf. Kirchenmusikalische Andachten und Konzerte mit mittelalterlicher Musik und Gregorianischem Choral erfreuten und erfreuen sich – genau wie einschlägige Publikationen und Tonträger – großer Beliebtheit. Wie war diese Entwicklung angesichts der antigregorianischen Resistenz vieler Kirchengemeinden zu erklären? Für den, der das alles eher oberflächlich betrachtete, schien es natürlich vor allem jener Begeisterung für alles „Mittelalterliche“ geschuldet, die in Deutschland ungefähr ab 1980 mit einer großen „Hildegard-vonBingen“-Renaissance begann und sich zu einem nicht weiter definierbaren esoterischen Gemisch von Dinkelschleim-Rezepturen, MittelalterMärkten und mystischem Kirchensound verdichtete. Im synkretistisch gefärbten Toy-Shop „Religiöses für jedermann“ entfaltete die postmoderne Versplitterung der 80er und 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts auch kirchenmusikalisch ihre durchaus unfreiwillig amüsanten Seiten; und so war es nicht weiter verwunderlich, dass eine (qualitativ eher minderwertige) CD mit Gregorianischem Choral sogar den Weg in die Pop-Charts fand oder dass in hämmernden Popsongs plötzlich gregorianische Melodiesplitter auftauchten. All dies schien sich gut in eine Modeströmung einzupassen: „Mittelalter ist ‚en vogue‘“, titelte vor einiger Zeit ein Feuilleton – und zog daraus allerdings den Fehlschluss, hierin eine „beginnende Renaissance der religiösen Musik und des Gregorianischen Chorals“ ausmachen zu können. Dies so zu betrachten, wäre freilich zu kurz gegriffen. Eine sehr viel differenziertere Sichtweise scheint angezeigt, will man nicht dem kirchlichen Irrtum erliegen, eine diffuse religiöse Sehnsucht oder ein medienwirksamer Event habe etwas mit neuer Hinwendung zur christlichen Religion zu tun: Vom Benedetto-Bonus ließ sich nicht lange leben! Vor einiger Zeit litt ich unter starken Nackenverspannungen und ging zu einem mir bekannten Krankengymnasten – über der Tür stand auf einem neuen Schild „Wellness-Manager“. Er fragte mich: „Was möchten Sie bei der Massage hören: Walgesänge, buddhistische Mönche, Vogelgezwitscher oder Gregorianischen Choral?“ Ich sagte: „Danke – ich möchte meine Verspannungen loswerden und nicht neue bekommen …!“

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Wo Gregorianischer Choral – vom Text getrennt – als musikalisches Therapeutikum oder als liturgisches Sedativum gebraucht (um nicht zu sagen: missbraucht) wird, da darf man getrost den Blick auf die Nachhaltigkeit richten und braucht in der Regel nicht lange auf eine Erkenntnis zu warten; ein Sören Kierkegaard zugeschriebener Aphorismus lautet: „Wer sich mit dem Zeitgeist verheiratet, wird rasch zum Witwer!“ Allerdings gilt dies auch für den aktuellen kirchlichen Kulturästhetizismus und Traditionalismus, der genauso zeitgeistig verortet ist.

Romantische Rückbesinnungen – nicht allein im 19. Jahrhundert! Wie von selbst haben wir bei unserer Bestandsaufnahme zur Situation des Gregorianischen Chorals mit der Kultur begonnen, mit der Gesellschaft, die uns umgibt und deren Teil wir sind. Wie kommt es zu dieser Wirkung, die der Gregorianische Choral in unserer Gesellschaft entfaltet? Vor Jahren war im Katalog einer einflussreichen Buch- und CD-Vertriebs-Kette eine aufschlussreiche Werbung zu lesen; ich habe sie schon oft zitiert und tue es gerne auch heute – der Text lautete ungefähr so: „Unsere Edition ‚Klangwelt der Klöster‘ dokumentiert auf acht CDs die verschiedenen liturgischen Formen, die verschiedenen Repertoires und die unterschiedlichen Gesangsstile der einzelnen Klöster. Von dieser frühen Kirchenmusik geht eine Faszination aus, der man sich auch Jahre nach dem Kirchenaustritt nicht entziehen kann.“ Offensichtlich geht es hier nicht mehr um Religion in der mittelalterlichen Definition eines Anselm von Canterbury – fides quaerens intellectum („Glaube, der die Einsicht sucht“) –, sondern um ein „feeling“ von Religion, das den Verstandeskräften ablehnend gegenübersteht und sich eines antiaufklärerischen Affektes bedient. In dieser Hinsicht ist unsere Zeit eine zutiefst romantische. Lassen Sie mich bitte einen kleinen Ausflug in die Geschichte des Gregorianischen Chorals machen – und zwar in die Geschichte seiner Wiederbelebung im 19. Jahrhundert, die primär aus ideologischen (neutraler gesagt: ideengeschichtlich fassbaren) Gründen heraus geschah.

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In einem Brief an ihre Freundin Caroline Paulus schrieb Dorothea Schlegel am 23. Februar 1806 – kurz vor ihrer Konversion zum Katholizismus: „[…] Daß die Würzburger sich an den wieder hergestellten Heiligenbildern freuen, ist nicht allein verzeihlich, sondern auch natürlich! Warum hat man sie ihnen mit Gewalt genommen? Diese erzwungene Aufklärung kann keine bessern Folgen haben! […] Ich hasse diese Aufklärung unserer Zeit recht von Herzen; es ist noch nichts gutes, nein nichts von ihr hergekommen. Schon, weil er so uralt ist, zieh´ ich den Katholicismus vor. Alles Neue taugt nichts. […] Ob ich glaube, fragst Du, daß die Künste in Deutschland eine Folge des Katholicismus seien? Allerdings glaube ich das. Wenigstens sind sie mit dem Katholicismus versunken, so wie sie mit diesem geblüht haben. Alles ist schlechter seitdem, ja Deutschland selber ist darunter zu Grunde gegangen und keine Kraft und kein Wille mehr darin, als etwa noch in dem unglücklichen, unterdrückten und betrogenen Rest, wo auch noch ein kleiner Schimmer jenes alten Glaubens noch sparsam glimmt. Willst du mir das, wie billig, nicht auf´s Wort glauben, so lies die alten Geschichten.“8

Die religiöse Aufbruchstimmung im Kreis der Frühromantiker um 1798/1800 entstand aus dem Bewusstsein vom Ende der alten Zeit, das durch die Französische Revolution und den Zusammenbruch des alten Systems eingeleitet wurde, und vom Beginn eines neuen Zeitalters, das einer neuen Religion bedurfte, um ewige Harmonie und ewigen Frieden sicherzustellen (so Dülmen) – und diese „neue“ Religion war eine „alte“: die katholische, die nun mit aller Macht wieder hergestellt werden sollte; dazu gehörte auch eine Restauration ihrer Liturgie und ihrer Kirchenmusik. Um dies zu vertiefen, seien noch einige Zitate aus E.T.A Hofmanns Darlegungen über „Alte und neue Kirchenmusik“ („Serapionsbrüder“)9 angeführt: „Wo ist der strenge Kirchenstyl geblieben!“10 8 In: R. van Dülmen, Poesie des Lebens. Eine Kulturgeschichte der deutschen Romantik, Bd. 1: Lebenswelten, Köln 2002, 279f. 9 E. T. A. Hoffmann, Alte und neue Kirchenmusik, in: W. Segebrecht (Hg.), Die Serapionsbrüder (= E. T. A. Hoffmann, Sämtliche Werke, Bd. 4), Frankfurt a. M. 2001, 489–502. 10 Ebd., 489.

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Stefan Klöckner „Aber es gehört auch eine seltene Tiefe des Geistes, ein hoher Genius dazu, selbst bei der Anwendung des figuriertesten Gesanges, des ganzen Reichtum der Instrumente ernst und würdevoll, kurz, kirchenmäßig zu bleiben.“11 „Welch ein Meister ist Palestrina! – Ohne allen Schmuck, ohne melodischen Schwung folgen in seinem Werk meistens vollkommen konsonierende Akkorde aufeinander, von deren Stärke und Kühnheit das Gemüt mit unnennbarer Gewalt ergriffen und zum Höchsten erhoben wird.“12

Hoffmann ging wie selbstverständlich davon aus, dass Kirchenmusik in einem „großen weithallenden Gebäude“ erklinge und daher auf allen Schmuck irdischer Spitzfindigkeiten zu verzichten habe: „[…] da die Töne, je schneller sie aufeinander folgen desto mehr im Gebäude verhallen und das Ganze undeutlich und unverständlich machen. Daher zum Teil die große Wirkung des Chorals in der Kirche.“13

Prosper Guéranger, erster Abt der 1833 wiederbegründeten Abtei Solesmes (im 19./20. Jh. ein „Motor“ der Restitution des Gregorianischen Chorals) schrieb in den 60er Jahren des 19. Jh.: „Wir arbeiten zusammen, um ohne Aufhebens eine Miniatur unseres lieben Mittelalters wiederherzustellen; es wird der Tag kommen, wo wir die Frucht unserer Bemühungen ernten werden.“14

In den Schriften des 19. Jh. ist – wenn es um Gregorianischen Choral geht – von allem die Rede, nur nicht vom Text, der den Gesängen zugrunde liegt und dem sie seine Gestalt verdanken. Hier schließt sich der kleine historische Kreis, den ich gezogen habe, um der Choral-Renaissance unserer Tage auf die Spur zu kommen: So wie die Romantik auf das Gefühl des Scheiterns der Aufklärung reagiert, so reagiert auch unsere Zeit auf die Welle der Aufklärung, die in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts einsetzte. Nicht wenige erklären auch dieses Programm für gescheitert; die Bemühungen derer, die sich in der Kirche für 11 Ebd., 493. 12 Ebd., 494. 13 Ebd., 496f. 14 In einem Brief an Montalembert. Vgl. F. Rainoldi, Das Graduale Romanum von Dom Prosper Guéranger bis 1974, in: Beiträge zur Gregorianik 31, Regensburg 2001, 47.

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eine Reversion des Reformprozesses einsetzen, der mit dem II. Vatikanischen Konzil begann, nehmen an Intensität immer mehr zu. Wir merken in unseren Tagen mehr als deutlich, dass das „HeutigWerden des Glaubens“, wie man das von Papst Johannes XXIII. ausgegebene Motto zum Konzil „Aggiornamento“ übersetzen könnte, aus einem anti-modernen und anti-aufklärerischen Affekt heraus zu einem prinzipiellen Ende kommen soll. Mündigkeit und Zeitgenossenschaft einer Kirche sind anstrengend in Zeiten pluraler Lebensentwürfe. Da ist es in der Tat einfacher, einen feierlich geschmückten Raum mit nicht mehr entschlüsselbaren Symbolen und Riten zu füllen – und mit Gesängen, die archaisch, mystisch und erhebend klingen und die so herrlich beruhigen … Zulauf gibt es derzeit für ein solches Kirchenbild … wie lange, und um welchen Preis? Er wäre auf jeden Fall zu hoch.

Theologische und spirituelle Wurzeln des Gregorianischen Chorals Indem ich dieses Problem in seine positiven Seiten zu wenden versuche, komme ich zum zweiten Teil meines Vortrags: Annäherungen an das Wesen des Gregorianischen Chorals als erklingendes Wort der Heiligen Schrift, Gregorianischer Choral als Schule christlicher Spiritualität. Der Gedanke, dass Gregorianischer Choral nicht zuerst „Musik“ sei, sondern erklingender Text, ist nicht neu. Dass diese Gesänge „wortgezeugt“ sind, ist jedoch zu allererst in einem wirklich phonetisch-leibhaften Sinn zu verstehen, was durch einen historischen Anweg deutlich wird – und deswegen möchte ich Sie auf eine weitere kleine historische Reise mitnehmen. Zur (früh)mittelalterlichen Kultur gehört das Erlernen zentraler Texte über das halblaute oder laute Sprechen; das bereits in der Antike geübte akustische Lesen, bei dem legere zugleich audire bedeutet, führt zu einem Leib und Geist umfassenden Aneignungsprozess, der auch den spirituellen Umgang mit heiligen Texten zutiefst geprägt hat, so dass der Gebrauch der Worte legere und lectio eine Tätigkeit umschreibt, die „wie

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Singen und Schreiben den ganzen Körper und den ganzen Geist erfaßt.“15 Dieser Umgang mit dem Wort ist konstitutiv für das Entstehen monastischer Liturgie, die zuerst liturgia horarum, Stundengebet ist: gemeinsame Rezitation der Hymnen, Psalmen und Cantica. Für den Vater des abendländischen Mönchtums, Benedikt von Nursia, war es daher von größter Bedeutung, zuerst auf die Kenntnis der Heiligen Schrift und hierbei vor allem auf die Beherrschung des Psalters zurückgreifen zu können: „Ohne Zweifel ist dieser Unterricht zur Zeit des hl. Benedikt Elementarunterricht; es soll dem unmittelbar Notwendigen dienen: es kommt weniger darauf an, die großen Autoren zu lesen und in ihrem Stil zu schreiben, als die Bibel oder wenigstens den Psalter zu kennen, wenn möglich sogar auswendig. In der Merowingerzeit beschränkt sich dieser Unterricht fast ganz auf die Psalmen. Anstatt mit der grammatischen Analyse der Buchstaben, Silben, Wörter und schließlich der Sätze zu beginnen, legt man dem Schüler sofort den Psalter vor – zunächst bringt man ihm bei, Verse zu lesen, dann die ganzen Psalmen.“16

Das ganzheitliche Auswendiglernen wird über den Weg des ständigen halblauten Wiederholen der Texte zum Kern des christlichen meditari, für das die frühen Mönchsväter das aus dem Tierreich entlehnte Bild des Wiederkäuens gebrauchten (ruminatio). War das Wort der Heiligen Schrift verinnerlicht – physisch wie spirituell –, so half die Lektüre der Kirchenväter (und hier vor allem die Texte von Augustinus und Gregor dem Großen), das im heiligen Wort Ausgedrückte für die persönliche Gottsuche geistlich fruchtbar zu machen. Aus den Texten dieser Theologen sind somit viele Interpretamente abzuleiten, wie man die Texte der Psalmen zu jener Zeit gebetet und verinnerlicht hat, in der sich der Kern monastischer Liturgie und damit auch das erste Kernrepertoire des Gregorianischen Chorals herausbildete. Die Psalmenexegesen (besser Psalmpredigten) des Augustinus waren von der Ansicht durchdrungen, dass die Psalmen erst im intellectus Christi vollendet zu verstehen seien: Es geht Augustinus also darum, Christus in den Psalmen zu suchen und zu erkennen. Zugleich ist es 15 J. Leclerq, Wissenschaft und Gottverlangen. Zur Mönchstheologie des Mittelalters, Düsseldorf 1963, 23. 16 J. Leclerq, Wissenschaft, 27.

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notwendig, diese christologische Orientierung noch um die Dimension der Gebets- und Feiergemeinschaft der Kirche zu erweitern, denn im Verständnis Augustins bilden Christus und die Kirche zusammen den zentralen Inhalt der gesamten Heiligen Schrift.17 Für Augustinus erschloss sich erst durch diese umfassende Einordnung der Schriften des Alten Bundes in das Christus-Geschehen beim Beten der Psalmen der Vollsinn der Schrift – hin auf Erfüllung und Vollendung in Christus. Zugleich war im Psalmengebet der einzelne Beter unmittelbar auch von Christus angesprochen; jedes persönliche Schicksal, ja, jedes Geschehen im Leben des einzelnen Menschen wurde von den in den Psalmen durchbeteten Situationen umfangen, waren die Psalmen in der frühchristlichen Auffassung doch Gebet zu Christus (vox ad Christum), Gebet, das von Christus und seiner Kirche handelt (vox de Christo, vox de ecclesia) und Gebet Christi und seiner Kirche zu Gott (vox Christil, vox ecclesiae). Augustinus leistet so eine umfassende christologische Interpretation der Psalmen: Für ihn wendet sich Christus mit den Worten der Psalmen nicht nur im eigenen Namen an den Vater im Himmel; er betet auch im Namen aller Menschen. Diese Haltung der persönlichen Aneignung des heiligen Textes vertieft Gregor der Große, dessen Schriften (insbesondere seine Moralia) zu den meistgelesenen (bzw. vorgelesenen) des frühen und hohen Mittelalters gehört haben: Die Zahl der Abschriften seiner Werke ist unüberschaubar, immer wieder wurden Auszüge seiner Schriften neu zusammengestellt und von allen folgenden Autoren zitiert, so dass man mit Jean Leclerq sagen kann: „Tatsächlich hat jedermann ihn gelesen und von ihm gelebt.“18 Gregors Schriftauslegung liegt keine tiefe Philosophie zugrunde, sondern Theo-Logie im eigentlichen Sinn des Wortes: Er „entnimmt der Heiligen Schrift anschauliche Bilder, die es jedem gestatten, in diesen Erfahrungen sein eigenes Schicksal zu erkennen.“19 Nähert man sich nun auf dieser Basis dem Gregorianischen Choral, indem man über die Art und Weise seiner Verschriftung nachdenkt, dann kann sehr viel deutlich werden über die Verortung des Gregoriani17 Vgl. M. Fiedrowicz, Art. „Ennarationes in psalmos“, B. Theologische Aspekte, in: C. Mayer (Hg.), Augustinus-Lexikon, Bd. 2, Sp. 838–858; zum hier und im Folgenden entfalteten Sachverhalt s. Sp. 847ff. 18 J. Leclerq, Wissenschaft, 18. 19 Ebd.

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schen Chorals als text-musikalisches Geschehen in der Liturgie, das ohne die spirituellen Voraussetzungen der Meditation über das Wort und das Auswendig-Beherrschen der mit dem heiligen Wort verbundenen gregorianischen Gesänge überhaupt unvorstellbar bleibt. In welcher Weise begegnet uns der Gregorianische Choral erstmals schriftlich? Wir sehen hier (Abb. 1) das Bild aus einer Handschrift, die zu Ende des 9. Jahrhunderts als Sakramentar (Sammlung von Gebetstexten für die Eucharistie) wahrscheinlich in Corvey geschrieben worden ist – die Handschrift liegt heute in der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf. An den Rand hat eine spätere Hand einen weiteren Text mit einer zuerst sich nicht erschließenden Notation geschrieben. Passend zum liturgischen Umfeld der Orationen (1. Advent) wurde hier Abb. 1 der Text des Introitus vom 1. Advent („Ad te levavi“) notiert – dazu über den Text Zeichen, die die Melodie verdeutlichen sollen. Es handelt sich um bereits im Mittelalter so genannte Neumen – το νεῦμα (der Wink, die Geste) – also um die Niederschrift der gregorianischen Melodie mittels einer stilisierten und systematisierten Dirigierschrift. Der Begriff Neume (bzw. das entsprechende lateinische Wort nutus) taucht schon in der Rhetorik-Lehre des antiken Redners Comminianus auf, der hierunter ein Element des fünften Lehrstücks der Rhetorik, der sog. actio bzw. elocutio (der Ausschmückung des Textvortrages mit Gesten) versteht. Wer die gregorianische Melodie nicht kennt und sie mittels dieser Notation lernen will, ist aufgeschmissen. Gregorianische Gesänge wurden

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mündlich tradiert, und es bestand die Verpflichtung, sie auswendig zu beherrschen. Das gehörte wie selbstverständlich zur spirituellen Aneignung des Textes der Heiligen Schrift, so wie er für den Vortrag in der Liturgie vorgesehen war. Lange Zeit wurde fälschlicherweise angenommen, man habe die Musik nur so notieren können, weil zu diesem Zeitpunkt noch keine Notenschrift erfunden worden war – das ist aber falsch! Bereits im Jahr 890 schlägt der Musiktheoretiker Hucbald von St. Amandus eine Buchstabennotation zur genauen Fixierung der Gesänge vor – und die um 900 wohl im Kloster Werden erstmals niedergeschriebene Musica et scolica enchiriadis kennt eine punktgenaue Notation der Melodie mittels der sogenannten Daseia-Notation. Neumen als mnemotechnische Stütze (Erinnerungshilfe) sind also nur eine Art der musikalischen Notation; sie setzen das weitgehend auswendige Beherrschen der Gesänge voraus. Die Musica enchiriadis dient zum Erlernen der musikalischen Materie (Melodiebildung, Intervalle, Zusammenklänge) im Musikunterricht der Klosterschule. Das war damals strikt getrennt (was man auch daran sehen kann, dass die Musica enchiriadis keine direkt in die Liturgie zielenden Text- und Melodiebeispiele verwendet). Es geht beim Musikunterricht um das Durchdringen der kosmischen Dimension von Musik, die nach Maß und Zahl geordnet ist und daher im Bildungssystem der Septem Artes liberales unter die mathematischen Künste des Quadriviums gezählt wird. Fasst man diese Erörterungen zusammen, so ergibt sich folgendes Bild: Die monastische Kultur ist zutiefst geprägt vom Auswendiglernen und Verinnerlichen des Wortes der Heiligen Schrift, insbesondere der Psalmen. Dieser Prozess ist „leibhaft“: Die Seiten eines Buches haben eine „Stimme“ (man spricht in diesem Zusammenhang von den voces paginarum) – diese Stimme wird gehört, und es wird ihr nachgesprochen.20 Weitere Texte (z. B. von Augustinus und Gregor) stellen neue Kontexte her: Die Psalmen – das Gerüst des monastischen Stundengebets und damit des „täglichen Brotes“ monastischer Spiritualität – 20 J. Leclerq, Wissenschaft, 23.

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sind Christus-Lieder, bringen Christus zur Sprache und erzählen von ihm. Zugleich eignet sich der Beter die (auf Christus hin interpretierten) Bilder der Psalmen mit Blick auf sein persönliches Leben an: „Es war eine sehr lebensnahe Lehre, gegründet auf eine Erkenntnis des Menschen, so wie er ist, mit Leib und Seele, Fleisch und Geist; sie ist frei von Illusionen, kennt aber auch keine Verzweiflung, sie ist beseelt von einem gläubigen Aufblick zu Gott und einem wirklichen Vertrauen in den Menschen, dem Gott innewohnt und den er durch das Leiden umgestaltet.“21

Auf diesem Nährboden wächst der Gregorianische Choral, dessen Vertonungen nichts anderes sind als Niederschlag einer intensiven Betonung heiliger Texte, in denen sich Gottes Wirken und menschliche Wirklichkeit zum gemeinsamen Klang verbinden. So kann auf den Gregorianischen Choral angewendet werden, was als Wort dem hl. Augustinus zugeschrieben wird: „Omne verbum sonat, cum enim est scripto, non verbum, sed verbi signum est“22 – Jedes Wort klingt – wenn es denn aufgeschrieben ist, ist es kein Wort, sondern ein Wortzeichen! Erst die Stimme führt über die Ohren den Sinn in die Seele. Über die eigentlichen Entstehensprozesse der gregorianischen Gesänge wissen wir so gut wie nichts; kein Name eines Komponisten ist uns bekannt, und keine Schilderung, die sich mit dem Vorgang einer Komposition befassen würde, ist überliefert. Dazu liegen sowohl die historischen Umstände der Entstehung des Gregorianischen Chorals als auch das Verhältnis seiner Melodien zu den diversen Vorläuferrepertoires im Dunklen. Da also ein Blick in die Kompositionswerkstatt unmöglich ist, muss man sich auf verschiedenen analytischen Wegen dem nähern, was im Bereich des Gregorianischen Chorals „Komposition“ heißen könnte. Nach dem zuvor Dargelegten versteht es sich von selber, dass hierzu mit dem Text begonnen werden muss; schon dessen Auswahl und ggf. Kompilation ist ein erster Schritt des componere. Dass den gregorianischen Gesängen fast ausschließlich Textpassagen der Heiligen Schrift 21 J. Leclerq, Wissenschaft, 44. 22 Augustinus, De dialectica V, 7, 12 f.

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zugrunde liegen, ist so selbstverständlich wie bekannt. Weniger reflektiert ist jedoch, dass in zahlreichen Fällen die Texte gekürzt oder erweitert und umgestellt werden. Dies geschieht nicht willkürlich, sondern setzt offenbar die klare Vorstellung voraus, welche Aussage fokussiert werden soll, welche Passagen hierfür wichtig (und welche weniger wichtig) sind, und wie das Ganze zu „betonen“ ist – welcher melodische Verlauf sich also in welcher Rhythmisierung ergibt, um aus der Betonung des Textes eine entsprechende Vertonung erwachsen zu lassen. Betrachten wir also in einigen wenigen Einzelstudien folgende drei Schritte gregorianischer „Komposition“: 1. die Auswahl des Textes, 2. die Umkleidung des Textes mit einer Melodie 3. die rhythmische Ausgestaltung dieser Melodie durch agogische Nuancierungen wie Beschleunigung und Stau.

Die Gestalt des Textes In den letzten Tagen vor Weihnachten ist der Introitus „Veni et ostende nobis faciem tuam“ zu finden. Ihm liegt ein Ausschnitt aus dem Psalm 79 (80) zugrunde, der jedoch auf bezeichnende Weise neu geordnet wird:

Abb. 2

Der im Urtext nachgeordnete Ruf „Veni“ („Komm!“) wird an den Anfang des Introitus gestellt und öffnet den sehnsuchtvollen Blick auf die

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bevorstehende Weihnacht. Die Bitte um das Kommen des Herrn wird erweitert: „… und zeige uns dein Angesicht“. Ein Äquivalent für nobis („uns“) ist im Urtext des Psalms an dieser Stelle nicht zu finden. Wir begegnen einem weiteren Grundzug der frühmittelalterlichen Theologie, die geprägt ist vom meditativen Umgang mit der Heiligen Schrift als Ausdruck der Gottsuche des Betenden: Vor allem aus den Schriften des heiligen Papstes Gregor, die häufig zum nächtlichen Stundengebet oder zu den Mahlzeiten als Tischlesung vorgetragen wurden, lernten die Mönche, in den Worten der Bibel zugleich die Deutung ihres eigenen christlichen Lebensweges zu sehen. Gregor „bot diesen schlichten Menschen eine Beschreibung des christlichen Lebens, die Kraft spendete und allen zugänglich war.“23 Dabei ging er nicht analytisch abstrakt und mit philosophischer Begrifflichkeit vor, sondern entnahm „der Heiligen Schrift anschauliche Bilder, die es jedem gestatten, in diesen Erfahrungen sein eigenes Schicksal zu erkennen.“24 Was Wunder, dass gelegentlich Personalpronomina der 1. und 2. Person Singular und Plural in die Texte eingefügt oder dass – z. B. in Gesängen der Fastenzeit (der Zeit persönlicher Buße und Bekehrung) – diese Pronomina auffällig aufwendig vertont sind! Im Introitustext wird „Deus“ durch „Domine“ ersetzt, wodurch sich eine klare Christus-Orientierung ergibt: An ihn, der beim Vater ist und über den Cherubim thront, richtet sich diese Bitte. Durch die derart ausgedünnte Textauswahl wirkt der abschließende Satz als wichtigste Aussage: „… und heil werden wir (sein)“. Ein weiteres Beispiel ist dem Neuen Testament entnommen, und zwar dem Johannesevangelium. Es handelt sich um die Lazarus-Erzählung, die als Textgrundlage für den Communiogesang des 5. Fastensonntags dient. Während beim überwiegenden Teil der gregorianischen Messgesänge die Texte aus dem Alten Testament (und hier wiederum fast ausschließlich aus dem Buch der Psalmen) stammen, ist dies bei den Communio-Gesängen anders: Hier sind viele neutestamentliche Texte vertont, und nicht selten wird eine Passage aus dem aktuell am Tage gelesenen Evangelium genommen – so auch in diesem Fall. Die sakramentale Kommunion des Leibes soll zusammenfallen mit einer auditiven Kommunion: das Wort im Sakrament – und das Wort im Evangelium! Man 23 J. Leclerq, Wissenschaft, 19. 24 Ebd.

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kann also mit gutem liturgietheologischem Grund in beiden Erscheinungsformen von einer intendierten Verdichtung ausgehen. Umso interessanter ist nun zu sehen, wie aus der umfangreichen und mit johanneischer Theologie aufgeladenen Lazarus-Episode in der Communio eine Erzählung wird, die sich auf die aufregenden Fakten konzentriert und die menschlichen Gefühle, die Trauer und die große Erregung bei allen Beteiligten, in den Vordergrund stellt. Der Text der Vulgata lautet:25 11:33 Iesus ergo ut vidit eam plorantem et Iudaeos qui venerant cum ea plorantes fremuit spiritu et turbavit se ipsum 34 et dixit ubi posuistis eum dicunt ei Domine veni et vide 35 et lacrimatus est Iesus 36 dixerunt ergo Iudaei ecce quomodo amabat eum 37 quidam autem dixerunt ex ipsis non poterat hic qui aperuit oculos caeci facere ut et hic non moreretur 38 Iesus ergo rursum fremens in semet ipso venit ad monumentum erat autem spelunca et lapis superpositus erat ei 39 ait Iesus tollite lapidem dicit ei Martha soror eius qui mortuus fuerat Domine iam fetet quadriduanus enim est 40 dicit ei Iesus nonne dixi tibi quoniam si credideris videbis gloriam Dei 41 tulerunt ergo lapidem Iesus autem elevatis sursum oculis dixit Pater gratias ago tibi quoniam audisti me 42 ego autem sciebam quia semper me audis sed propter populum qui circumstat dixi ut credant quia tu me misisti 43 haec cum dixisset voce magna clamavit Lazare veni foras 44 et statim prodiit qui fuerat mortuus ligatus pedes et manus institis et facies illius sudario erat ligata dicit Iesus eis solvite eum et sinite abire.

Der Text (wie seine musikalische Realisierung auch) besteht nun aus lediglich zwei Teilen: der Reaktion Jesu auf die Trauer der Schwestern des Lazarus (sein Tränenausbruch und das Herausrufen des Lazarus aus dem Grab) – und Abb. 326 25 Biblia Sacra iuxta Vulgatam Versionem, Tomus II., 2. verb. Auflage, Stuttgart 1975, 1680. Hervorgehoben sind die Worte, die entweder exakt oder ungefähr in den Text der Communio übernommen wurden. 26 Grundlage: Graduale Triplex, Solesmes, 1979. Es wurden melodische Korrekturvorschläge eingetragen.

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der Schilderung, wie dieser herauskommt, gebunden an Händen und Füßen, der doch schon den vierten Tag tot war. Gerade die Emotionalität des ersten Teils erstaunt. Jesus wird uns als Mensch vor Augen gestellt, der in innerster Erregung über den Tod seines Freundes Lazarus trauert. Hier geht es nicht um die Schilderung objektiver hoher Theologie – hier scheinen die Textkompilatoren des 9. Jahrhunderts sich in den Menschen Jesus von Nazaret hineinversetzen zu wollen. Dass dies gerade in den Gesängen der Passions- und Kartage kein Einzelfall ist, zeigt das dritte Beispiel. Zum Stundengebet der feria V in Cena Domini (also des Hohen oder Gründonnerstag) gehört das Responsorium „In monte Oliveti“; alle zwölf im „Corpus Antiphonalium Officii“ synoptisch gegenübergestellten Handschriften weisen das Stück aus.27 Der Text orientiert sich am Geschehen am Ölberg (Mt 26,42–43 par) und lautet: „In monte Oliveti oravit ad Patrem: Pater, si fieri potest, transeat a me calix iste; spiritus quidem promptus est, caro autem infirma. Fiat voluntas tua. V. Verumtamen non sicut ego volo, sed sicut tu vis. Fiat voluntas tua.”

Erstaunlich, ja, irritierend ist die Kühnheit, stillschweigend zwei völlig getrennte Aussagen zu einem Gesang miteinander zu verbinden: An das Gebet Christi zum Vater, den Leidenskelch möglichst an ihm vorübergehen zu lassen, schließt sich nahtlos die Aussage an: „Der Geist ist gewisslich willig, aber das Fleisch ist schwach.“ Diesen Satz spricht Christus ursprünglich aber nicht als Schilderung seiner seelischen Verfassung, sondern als Mahnung an die schlafenden Jünger! Der biblische Kontext war offensichtlich für den Textkompilator des Responsoriums von nachgeordneter Bedeutung. Durch die neue Zusammenstellung der beiden Sätze wird der Beter in die tiefste Angst Jesu, die dieser am Ölberg angesichts seines Leidens auszustehen hat, einbezogen. Die verschärfte menschliche Wahrnehmung der Gefühlslage macht die Passion nicht geringer – im Gegenteil schafft sie eine tiefe emotionale Solidarität. Wir wären gemeinhin geneigt, eine derartige Vorgehensweise entweder mit der Mystik des späten Mittelalters oder mit modernen psychologischen An27 R.-J. Hesbert (Hg.), Corpus Antiphonalium Officii, Vol. IV: Responsoria, Versus, Hymni et Varia, Rom 1970, 231.

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sätzen der Theologie in Verbindung zu bringen. Dass sie uns schon im 9. Jahrhundert begegnet, lässt Platz für viel Fragen und Staunen.

Die Umkleidung des Textes mit einer Melodie Der Text erhält seine Umkleidung: entweder eine Typusmelodie, die aus formelhaften Bausteinen besteht – oder eine singuläre Vertonung, die es nur einmal gibt. Gerade bei den Gesängen der letzteren Kategorie lohnen sich genauere Analysen: Wo hebt, wo senkt sich die Melodie? Welches Wort wird also herausgehoben, und welches soll zurückgenommen werden? Durch welche melodische Formel wird eher eine Zäsur und durch welche ein Anschluss insinuiert? Eine entscheidende Rolle spielt hierbei die Nutzung des Tonraumes im Kontext der gewählten gregorianischen Tonarten, die jeweils durch einen Grundton (mit einem spezifischen tonalen Umfeld) und einen ungefähren Ambitus definiert sind. Und schließlich tauchen immer wieder kleine melodische Floskeln auf, die wie Zitate wirken und inhaltliche Brücken schlagen können zwischen unterschiedlichen Gesängen in sehr unterschiedlichen liturgischen Kontexten. Auch hier seien nur drei kurze Beobachtungen angeführt, die für ein ungleich größeres Phänomen stehen. Der weiter oben bereits betrachtete Introitus „Veni et ostende nobis faciem tuam“ beginnt mit dieser melodischen Floskel, die zu Beginn des Introitus vom Epiphaniasfest (6. Januar – Hl. drei Könige) wieder auftaucht:28

Abb. 4

Abb. 5

Was vor Weihnachten erfleht wurde („Komm und zeige uns dein Angesicht“), wird bestätigt mit dem Fest, das die Weihnachtszeit (nach alter 28 Graduale Triplex, Solesmes, 27 bzw. 56.

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liturgischer Tradition) beendet („Seht! Es kommt der Herr, der Herrscher …!“). Dies gilt umso mehr, wenn man sich vor Augen führt, dass das Fest der Epiphanie (der Erscheinung des Herrn) ursprünglich drei Festinhalte hatte, die alle das Offenbarwerden Christi vor der Welt zum Thema haben: Die Magier kommen und beten ihn an – bei der Taufe weist die Stimme Gottes auf Christus als Sohn und Vorbild hin – bei der Hochzeit zu Kana wirkt Christus das erste Wunder vor seinen Jünger. So ist es sicherlich kein Zufall, dass für beide Introiten der gleiche Tonraum und der gleiche melodische Einstieg gewählt wurde. Auch in zwei anderen Gesängen, die ebenfalls das Weihnachtsfest umrahmen, ist eine Entsprechung zu finden. Die beiden Communiogesänge „Revelabitur“29 und „Viderunt“30 stehen direkt vor bzw. am Ende der Weihnachtsmessen. Sie enden nicht nur jeweils mit demselben Text, sondern dieser Text ist auch noch identisch vertont. Was damit bewirkt werden soll, liegt auf der Hand: Die im Futur I formulierte Verheißung „Es wird sich offenbaren die Herrlichkeit des Herrn, und alles Fleisch wird schauen das Heil unseres Gottes“ hat im Weihnachtsfest ihre Erfüllung gefunden. Daher erklingt in der Communio der III. Weihnachtsmesse „Alle Enden der Erde haben geschaut das Heil unseres Gottes.“ Revelabitur gloria Domini: et videbit omnis caro

Viderunt omnes fines terrae

salutare Dei nostri. Ein anders gelagertes Beispiel ist der Introitus zum Osterfest „Resurrexi, et adhuc tecum sum“.31 Ihn betrachten wir mit Blick auf die gewählte Tonart und auf die Stimmung, in der der vertont ist.

29 Ebd., 40. 30 Ebd., 50. 31 Ebd., 196.

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Es ist auffällig, dass für den Eröffnungsgesang zum höchsten aller christlichen Feste eine derart „gedrückte“ und vom Ambitus her reduzierte Tonsprache gewählt wird. Dass die Verwendung der Vokabel „Resurrexi“ (was im Kontext des Psalms 139 ursprünglich das Aufstehen vom Schlaf meint) zu der Herauslösung und Verselbstständigung des Abschnitts führt, ist nur ein Aspekt. Wichtiger ist die Frage nach dem Verständnis des Abb. 6 gesamten Psalms in christologischer Deutung, wie sie Augustinus mit seinen Ennarrationes in psalmos entwickelt hat. Die Psalmpredigten des Augustinus gehörten im 8. und 9. Jahrhundert (also auch zur Zeit der Entstehung des gregorianischen Repertoirekerns) zu den weit verbreiteten und viel gelesenen geistlichen Schriften. Deswegen darf man die Frage, wie man einen Psalm in der Karolingerzeit aufgefasst und interpretiert hat, durchaus mit Studien bei Augustinus beantworten. Über das Psalmengebet als „vox Christi“ schreibt Michael Fiedrowicz: „Augustinus deutet die Klage des Psalmisten über Verrat, Verfolgung und Bedrängnis, sein Hoffen auf göttlichen Beistand und seinen jubelnden Dank für die erfahrene Befreiung aus aller Drangsal als Gebet Christi ‚ex persona sua‘. Die Psalmen wurden so zu einer Selbstaussage Christi, die den mehr narrativen Charakter der Passions- und Auferstehungsberichte der Evangelien durch eine Innenschau aus der Perspektive Christi selbst

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Stefan Klöckner ergänzte und eine neue Wahrnehmung des Pascha-Mysteriums ermöglichte.“32

Der Psalm 139, von den Exegeten verstanden als individuelles Klagelied eines Menschen, der von ungerechter Behandlung und Verleumdung handelt, „schildert in der augustinischen Deutung das Gebet des in dieser Welt bedrängten Leibes Christi. Wer hierzu gehört, vermag in jenen Worten seine eigene Stimme zu erkennen.“33

Diesem Psalm sind die Verse entnommen, aus denen der Introitus der Ostermesse gefügt ist. Die gregorianische Vertonung greift dieses Verständnis auf: Hier betet der auferstandene Christus zum Vater „Auferstanden bin ich, und von nun an bin ich für immer bei dir … du hast deine Hand über mich gehalten … wunderbar ist dein Wissen um mich“.

Dafür bietet sich gerade mit Blick auf die zurückliegende Leidensgeschichte kein triumphalistischer Tonfall an, der vorschnell in österlichen Jubel ausbricht; zu unfassbar ist das Geschehen, zu „intim“ der Dialog zwischen Vater und Sohn, wie er sich in den gregorianischen Tonfarben widerspiegelt. Die Melodie erhebt sich kaum aus dem Bereich des Grundtons; immer wieder wird er umkreist. Zudem fordert er durch sein tonales Umfeld zu behutsamer Stimmgebung auf und vermittelt einen eher „fragilen“ als feierlichen Eindruck. Das ist kein Ostern mit Pauken, Trompeten und Orgelplenum! Auch das nächste Beispiel hat mit dem österlichen Festgeheimnis zu tun. Die Sonntage der Fastenzeit werden zumindest im evangelischen Bereich heute noch nach den gregorianischen Introitusanfängen benannt. Am ersten Fastensonntag (Invocabit)34 erklingt zu Beginn ein Ausschnitt 32 M. Fiedrowicz, Psalmus vox totius Christi. Studien zu Augustins ‚Ennarrationes in Psalmos‘, Freiburg i. Br. u.a. 1997, 337. 33 Ebd. 34 Graduale Triplex, Solesmes, 71.

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aus dem 91. Psalm: „Invocabit me, et ego exaudiam eum: eripiam eum, et glorificabo eum: longitudine dierum adimplebo eum.“ („Er wird mich anrufen, und ich will/werde ihn erhören; ich will/werde ihn herausreißen, und ich will/werde ihn verherrlichen. Mit der Länge (Menge) an Tagen will/werde ich ihn erfüllen“). Auffällig ist das Wort „glorificabo“ vertont, denn hier wird – sowohl hinsichtlich der Tonfolge als auch mit Blick auf die rhythmische Gestalt – eine musikalische Wendung benutzt, die zum festen Formelschatz der Antwortgesänge in der Osternacht gehört.35

Abb. 7

Abb. 8

Abb. 936

Will man versuchen, diese „klingende Brücke“ zwischen dem Beginn der österlichen Bußzeit und der Osternacht zu erklären, so bieten sich zwei Wege an: Verstünde man die Komposition des Introitus als Erzählung über Christus (augustinisch gesprochen Vox de Christo), so wäre hier die Zusage des Vaters zu finden, seinen Sohn nicht im Tode zu lassen, sondern ihn herauszureißen aus der Grube des Grauens und ihn zu verherrlichen, wie er es ihm vor aller Zeit verheißen hat. Wie in einem Brennglas wäre somit die Passions- und Auferstehungsgeschichte in diesem Introitus zusammengefasst: beginnend mit dem 35 Die Antwortgesänge für die (heute) sieben Lesungen der Osternacht sind der Form nach Tracten, d. h. sie werden „tractim“ – in einem Zug – ohne Wiederholungen durchgesungen. Es sind Typusmelodien: Alle Gesänge bestehen aus denselben Melodieformeln, die den unterschiedlichen Texten sehr kunstvoll adaptiert werden. Die Tracten der Osternacht entstammen unterschiedlichen liturgischen Schichten: Die römische Liturgie der frühen Kirche kannte nur vier Lesungen mit vier Antwortgesängen. Das letzte Beispiel – der Tractus „Sicut cervus“ – wurde ursprünglich zur Taufe in der Osternacht gesungen. 36 Graduale Triplex, Solesmes, 186 und 188.

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flehentlichen Gebet unter Blut und Schweißtropfen am Ölberg (Invocabit) über die Auferstehung (exaudiam, eripiam, glorificabo) bis zum Sitzen an der rechten Seite Gottes (longitudine dierum). Aber auch eine liturgiehistorische Brücke verbindet den ersten Fastensonntag mit der Osternacht. Der gestufte Katechumenat, der im Kontext der Vorbereitung Erwachsener auf die Taufe schon in der frühen Kirche gebildet worden war, setzte in seinen späteren Entwicklungsstadien den Beginn der letzten Phase mit der Zulassung der electi durch den Bischof mit der Fastenzeit an. Offensichtlich fand dieser Gottesdienst schon sehr früh im direkten Umfeld des 1. Fastensonntags statt, oftmals (wie heute auch) an diesem Tag selber. So wird der Text des Introitus von Christus den Katechumenen zugesprochen, die durch die Taufe neu geboren und zur Herrlichkeit der Kinder Gottes „herausgerissen“ werden. Dem würde gewissermaßen spiegelbildlich genau entsprechen, dass sich alle Introiten der Osterwoche (in der die Neugetauften in weißen Kleidern gehen – bis zum 2. Ostersonntag, der deswegen Dominica in albis, „weißer“ Sonntag, heißt) an die neuen Christen wenden und ihnen ihr Schicksal, ihre neue Würde, gleichsam zusingen. Dies geschieht vor allem in Bildern der Exodusthematik (also des Auszugs aus der Gefangenschaft, des Durchgangs durch das Rote Meer und der Inbesitznahme des verheißenen Landes), die theologisch und rituell mit der christlichen Taufe korrespondiert:37 feria secunda (Montag): „Introduxit vos Dominus in terram fluentem lac et mel …“ (Der Herr hat euch hineingeführt in das Land, in dem Milch und Honig fließen …) feria tertia (Dienstag): „Aqua sapientiae potavit eos …“ (Mit dem Wasser der Weisheit hat er sie getränkt …) feria quarta (Mittwoch): „Venite benedicti Patris mei, percipe regnum …“ (Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters, nehmt das Reich in Besitz …) feria quinta (Donnerstag): „Victricem manum tuam, Domine, laudaverunt pariter …“ (Deine siegreiche Hand lobten sie vereint …) feria sexta (Freitag): „Eduxit eos Dominus in spe …“ (Der Herr führte sie hinaus in Hoffnung …)

37 Graduale Triplex, Solesmes, 200–216.

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Sabbato (Samstag): „Eduxit Dominus populum suum in exsultatione …“ (Der Herr führte sein Volk hinaus in Jubel …) Dominica secunda (Zweiter Sonntag der Osterzeit): „Quasimodo geniti infantes …“ (Wie neugeborene Kinder, voll Einsicht, ohne Hinterlist, verlangt nach Milch).

Agogische Nuancierungen Die ersten handschriftlichen Bezeugungen des Gregorianischen Chorals stammen aus dem Ende des 9. bzw. Anfang des 10. Jahrhunderts und folgen einer ungewöhnlichen Notationssystematik: Die Melodien werden nicht in ihrem exakten Tonhöhenverlauf aufgezeichnet (obwohl man dazu in dieser Zeit bereits in der Lage gewesen wäre); man wählt für die Niederschrift systematisierte Dirigierzeichen. Diesen Zeichen ist der melodische Verlauf nur ungefähr abzulesen. Dafür geben sie auf äußerst differenzierte Weise die rhythmisch-agogischen Details wieder – ein Vorzug, den schon frühe karolingische Musiktheoretiker wie Hucbald von St. Amandus (um 890) erwähnen: „Jene traditionellen Zeichen darf man aber nicht für völlig nutzlos halten, sondern (im Gegenteil) für sehr hilfreich erachten, da sie ja die Langsamkeit oder Geschwindigkeit der Melodie (anzeigen), und wo der Ton eine ‚zitternde Stimme‘ enthalten soll, oder wie die Töne miteinander verbunden oder voneinander abgesetzt werden.“38

Diese Art der Notation hat also eine rein mnemotechnische Funktion: Sie soll erinnern helfen, was durch die mündliche Überlieferung gelernt worden ist. Denn die gregorianischen Gesänge wurden durch das Vorund Nachsingen erlernt, weil sie als erklingendes Wort der Heiligen Schrift nicht vom praktischen Vollzug zu trennen waren. Wer also eine Handschrift wie die folgende39 sieht und die Melodie nicht kennt, dem nützt die Notation nichts; wer aber mit der Melodie 38 „Hae autem consuetudinariae notae non omnino habentur non necessariae; quippe cum et tarditatem cantilenae, et ubi tremulam sonus contineat vocem, vel qualiter ipsi soni iungantur in unum, vel distinguantur ab invicem […]“. Hucbald, De harmonica institutione, hg. u. übers. von A. Traub (= Beiträge zur Gregorianik 7), Regensburg 1989, 63. 39 Codex 121 der Stiftsbibliothek von Einsiedeln, geschrieben um 960. Hier ein Ausschnitt aus pag. 24.

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vertraut ist, findet in den handschriftlichen Zeichen neben der Erinnevertraut in den handschriftlichen Zeichen neben der Erinnerung an ist, denfindet melodischen Verlauf den Niederschlag der Betonung des rung an den melodischen Verlauf den Niederschlag der Betonung des Textes, denn das Dirigierzeichen wurde zum Schriftzeichen. Textes, denn das Dirigierzeichen wurde zum Schriftzeichen.

Abb. 10 Abb. 10

Da aber nach der Niederschrift einem Zeichen nicht mehr angesehen Da aber kann, nach der Niederschrift einem Zeichen nichtgemalt mehr angesehen werden ob es langsam oder rasch in die Luft wurde, modiwerden kann, ob es langsam oderz.rasch in dieeigene Luft gemalt wurde, modifiziert der Schreiber die Graphie; B. stehen Zeichen jeweils für fiziert der Schreiber die Graphie; z. B. stehen eigene Zeichen jeweils für eine rasche Zweitonbewegung aufwärts (Abb. 11), für eine verlangsamte eine rasche Zweitonbewegung aufwärts (Abb. 11), für eine verlangsamte aufwärts (Abb. 12), für eine rasch zu singende Zweitongruppe abwärts aufwärts 12), fürverlangsamt eine rasch zuzu singende Zweitongruppe (Abb. 13) (Abb. und für eine singende abwärts (Abb. abwärts 14). (Abb. 13) und für eine verlangsamt zu singende abwärts (Abb. 14).

Abb. 11, 12, 13 und 14 Abb. 11, 12, 13 und 14

Im Licht dieser Befunde fällt im oben wiedergegebenen Introitus der ersIm dieser Befunde fällt im oben Introitus der ersten Licht Weihnachtsmesse ein Punkt auf: wiedergegebenen Über „meus“ stehen Zeichen, die ten Weihnachtsmesse ein Punkt auf: Über „meus“ stehen Zeichen, die eine deutliche Verlangsamung das agogischen Flusses intendieren. Der eine daslaut agogischen Flusses intendieren. Der Text –deutliche aus der Verlangsamung Sicht der Neumen gesprochen – würde dann lauten: Text – aus der Sicht der Neumen laut gesprochen – würde dann lauten: „Der Herr sprach zu mir: Mein Sohn bist du …“ Das wird liturgisch an „Der Sohn bist …“ Das wirdim liturgisch an einer Herr Stellesprach hörbar,zuanmir: derMein die Geburt desdu kleinen Kindes ärmlichen einervon Stelle hörbar, an der die Geburt des kleinen Kindes im ärmlichen Stall Bethlehem gefeiert wird. Stall von Bethlehem gefeiert wird. Diese rhythmisch-agogische Differenzierung ist kein Spezifikum der Diese rhythmisch-agogische ist kein Spezifikum der Handschrift 121 von Einsiedeln Differenzierung – hierfür ein weiteres Beispiel. Handschrift 121 von Einsiedeln – hierfür ein weiteres Beispiel.

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Ca. 30 Jahre vor diesem Codex entstand die Handschrift, aus der das folgende Beispiel entnommen ist:40

Abb. 15

Auch diese Handschrift kennt eine sehr ausgefeilte Systematik in der Darstellung rhythmischer Details. Ihr Einzeltonzeichen kann entweder sehr klein oder aber sehr groß ausfallen, womit die Wertigkeit der darunter stehenden Silbe verdeutlicht wird: Je geringer der graphische Aufwand ist, umso geringer soll auch der intendierte rhythmischagogische Aufwand sein. Soll ein sehr rascher Ton gesungen werden, wird nur ein Punctum geschrieben. Der gewählte Ausschnitt gibt den Anfang des Graduale „Christus factus est“41 wieder, das heute am Palmsonntag steht. Der Text ist dem Philipperbrief entnommen, und zwar aus dem sogenannten Canticum (Phil 2,5-11). Es fällt sofort auf, dass über „Christus factus est“ ein großes Zeichen steht, das der betreffenden Silbe mehr rhythmisches Gewicht verleiht. Auf diese Weise entsteht ein agogischer Stau auf das folgende „pro nobis“, und das ist aus zwei Gründen erstaunlich und bemerkenswert: Zum einen fehlt im griechischen Originaltext des Philippercanticums ein Äquivalent für „pro nobis“ – den lat. Text in seiner (fast) originalen Gestalt findet man im Introitus „In nomine Domini“:42 „… quia Dominus factus oboediens usque ad mortem, mortem autem crucis.“ Das pro nobis („für uns“) wurde zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt lange nach der christlichen Antike in den Text eingefügt; und es war scheinbar so wichtig, das Leiden und Sterben Christi mit dem eigenen Leben in Kontakt zu bringen, dass die Vertoner des Gregorianischen Chorals die-

40 Codex 239 der Stadtbibliothek von Laon, geschrieben um 930. 41 Graduale Triplex, Solesmes, 148. 42 Graduale Triplex, Solesmes, 155.

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se se Worte Worte durch durch einen einen Stau Stau hervorgehoben hervorgehoben wissen wissen wollten: wollten: „Christus „Christus ist ist für uns gehorsam geworden bis zum Tod …“. für uns gehorsam geworden bis zum Tod …“. Ein Ein weiteres weiteres Beispiel Beispiel für für einen einen rhetorisch rhetorisch bedingten bedingten agogischen agogischen Stau Stau 43 ist in in der der Communio Communio „Hoc „Hoc corpus“ corpus“43 zu zu finden; finden; ihr ihr liegen liegen die ist die EinsetEinsetzungsworte zungsworte aus aus dem dem 1. 1. Korintherbrief Korintherbrief zugrunde zugrunde (1 (1 Kor Kor 11,24f.). 11,24f.). Der Der hishistorisch-biblische Kontext dieser Worte ist das Pascha-Mahl, das Jesus torisch-biblische Kontext dieser Worte ist das Pascha-Mahl, das Jesus zuzusammen mit mit seinen seinen Jüngern Jüngern feiert. feiert. Während Während des des Mahles Mahles nimmt nimmt er er das das sammen Brot Brot und und den den Wein Wein und und spricht spricht die die Deute-Worte, Deute-Worte, die die zu zu den den heutigen heutigen Einsetzungsworten geworden sind. Einsetzungsworten geworden sind. So ist ist denn denn auch auch das das große große graphische graphische Zeichen Zeichen über über „calix“ „calix“ als als BetoBetoSo nungshilfe zu verstehen: „Dies ist der Kelch eines neuen Bundes …“ nungshilfe zu verstehen: „Dies ist der Kelch eines neuen Bundes …“ –– ein ein Bund, Bund, der der auf auf dem dem Paschageschehen Paschageschehen aufruht, aufruht, es es zugleich zugleich übersteigt übersteigt und und öffnet hin hin auf auf die die ganze ganze Welt. Welt. Auch Auch die die beiden beiden Töne Töne über über „in „in meo meo sansanöffnet guine“ sollen verlangsamt werden: „Dies ist der Kelch eines neuen Bunguine“ sollen verlangsamt werden: „Dies ist der Kelch eines neuen Bundes des in in meinem meinem Blut!“. Blut!“. An An diesem diesem wahren wahren Osterfest Osterfest wird wird Christus Christus zum zum Opferlamm, und und sein sein Blut Blut wird wird zum zum „Blut „Blut des des Lammes, Lammes, das das die die Türen Türen Opferlamm, der der Gläubigen Gläubigen heiligt heiligt und und das das Volk Volk bewahrt bewahrt vor vor Tod Tod und und Verderben“, Verderben“, wie es im österlichen Lichtlob, dem Exsultet, heißt. wie es im österlichen Lichtlob, dem Exsultet, heißt.

Abb. Abb. 16 16

Resumee Resumee Wenn Wenn wir wir uns uns auf auf diesen diesen Wegen Wegen dem dem Gregorianischen Gregorianischen Choral Choral nähern nähern und seine existentielle Lebendigkeit ansatzweise begreifen, dann und seine existentielle Lebendigkeit ansatzweise begreifen, dann wird wird deutlich, deutlich, warum warum er er für für alle alle Menschen, Menschen, die die sich sich theologisch/geistlich/spitheologisch/geistlich/spirituell mit mit Heiliger Heiliger Schrift Schrift befassen, rituell befassen, zu zu einer einer Quelle Quelle der der Spiritualität Spiritualität und und zu einer geistlichen und auch intellektuellen Herausforderung werden zu einer geistlichen und auch intellektuellen Herausforderung werden kann. kann. Zugleich wird wird auch auch klar, klar, warum warum er er sich sich starren starren Fundamentalismen Fundamentalismen Zugleich und romantischen Verklärungen genauso entziehen und romantischen Verklärungen genauso entziehen muss muss wie wie einem einem esoterischen Synkretismus. esoterischen Synkretismus. Vor einigen einigen Jahren Jahren wurde wurde ich ich einmal einmal auf auf die die „Renaissance „Renaissance des des GregoGregoVor rianischen Chorals“ angesprochen und gefragt, ob ich dem denn rianischen Chorals“ angesprochen und gefragt, ob ich dem denn eine eine 43 43 Graduale Graduale Triplex, Triplex, Solesmes, Solesmes, 170. 170.

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nachhaltige Chance gäbe oder ob es sich nur um eine „Modeströmung“ handele. Der Gregorianische Choral hat nicht nur eine Chance, er ist eine Chance für unsere Kirche: wenn und insofern es sich bei all den Bemühungen um dieses kirchenmusikalische Repertoire nicht um ideologische Erkennungsmelodien für ewig Gestrige oder um bloßen Kulturästhetizismus handelt, sondern wenn das alles getragen ist von einer Rückbesinnung auf das lebendige Wort der Heiligen Schrift, das in den Menschen auch heute noch Klang werden und seine heilsame Wirkung entfalten will. Damit stünden wir auch wieder an den Wurzeln unserer Traditionen. Es stellt sich nur die Frage nach der Definition des Begriffes Tradition: Flamme hüten, nicht Asche aufbewahren! Oder mit George Bernhard Shaw gesagt: Tradition ist wie eine Straßenlaterne – dem Klugen leuchtet sie den Weg, der Dumme hält sich an ihr fest! Insofern (und auch nur insofern) – so bekenne ich frei – bin ich Traditionalist!

Silke Leopold

Wie klingt die Schöpfung? Die Entstehung der Welt als musikalische Erzählung1 „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde und die Erde war ohne Form und leer und Finsternis war auf der Fläche der Tiefe und der Geist Gottes schwebte auf der Fläche der Wasser und Gott sprach: ‚Es werde Licht‘ und es ward Licht.“ Unverkennbar handelt es sich bei diesen Worten um den Beginn des Alten Testaments, wenn auch mit einigen ungewohnten Formulierungen. Sie sind eine Rückübersetzung aus der englischen King’s Bible ins Deutsche; „wüst und leer“ heißt dort „without form and void“. Wie auch immer man den Beginn der Genesis lesen mag – diese Textstelle ist für die Musikgeschichte von ganz außerordentlicher Bedeutung. Denn wie hat man sich die Welt vor der Schöpfung vorzustellen? Der Text des Alten Testaments gab hierzu keinerlei Informationen; er begnügte sich mit den Begriffen „wüst und leer“ beziehungsweise „ohne Form und leer“ und ging dann zur Schilderung dessen über, was daraus entstand: Licht und Dunkel, Sonne, Mond und Sterne, Land und Wasser und so fort. Für die Künstler, die sich mit diesem Thema auseinandersetzten, stellte sich das Problem etwas anders dar und für einen Komponisten noch einmal anders als für einen Maler. Wie kann man ohne Form komponieren? Ist nicht auch das Formlose selbst eine Form? Und wie muss eine musikalische Form aussehen, die das Formlose beschreibt? Wie kann man einen Anfang komponieren, ohne zu beschreiben, wie es vor dem Anfang geklungen hat? Dazu kommt ein weiteres, musikspezifisches Problem: Musik ist eine Kunst, die sich in der Zeit vollzieht. Alles, was sie darstellen möchte, muss sie in einen wie auch immer gearteten Zeitverlauf übertragen. Und da ihr die visuelle Komponente fehlt, kann sie nur an die Fantasie, die 1 Bei diesem Text handelt es sich um das weitgehend unveränderte Manuskript eines Vortrags, den ich aus Anlass der Ringvorlesung „Vorgeschmack des Paradieses – Musik und Religion“ an der Freien Universität Berlin gehalten habe. Der lockere Vortragsstil wurde ebenso bewusst beibehalten wie auf Fußnoten verzichtet wurde; lediglich die Zitate werden nachgewiesen.

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Imagination, an die Bilder im Kopf appellieren. Sie kann bildliche Vorstellungen über das Hören allenfalls stimulieren. Das Problem mit der Zeit ist freilich auch einer der großen Vorzüge, die die Musik gegenüber anderen Künsten hat. Denn sie kann mit ihren ureigenen Mitteln Zeitverläufe strukturieren. Sie kann die Zeit beschleunigen oder stillstehen lassen. Dass diese Fähigkeit insbesondere für die Darstellung der Schöpfung von großer Wichtigkeit ist, lässt sich denken. Doch davon später. Gestatten Sie mir noch eine weitere eher grundsätzliche Vorüberlegung. Um sich ein Bild, und sei es ein Ton-Bild, von der Schöpfung zu machen, muss sich ein Komponist Rechenschaft darüber geben, worin die Schöpfung eigentlich besteht. Ist es ein Akt, der Ordnung in das Chaos bringt, oder ist es umgekehrt ein Akt, der den Frieden des Nichts stört beziehungsweise belebt, der aus der Ruhe Unruhe macht? Das sind zwei diametral entgegengesetzte Vorstellungen davon, was Schöpfung heißt. Und es ist kein musikspezifisches Problem: Die Diskussionen, die in der Physik, zumal in der theoretischen Astrophysik über den Urknall geführt werden, kreisen genau um diese beiden konträren Positionen. Die Komponisten, die sich mit der Schöpfung auseinandersetzten, mussten sich zu dieser Frage verhalten, sie mussten entscheiden, welcher dieser beiden Positionen sie, um im Bild zu bleiben, Leben einhauchen und eine musikalische Stimme geben wollten. Anhand von drei in jeder Hinsicht sehr weit auseinanderliegenden Beispielen soll diskutiert werden, wie die Musik den Schöpfungsakt symbolisieren kann. Bei dem Thema „Schöpfung und Musik“ denkt vermutlich jeder zuallererst an Joseph Haydn und sein Oratorium Die Schöpfung. Es wurde Ende April 1798 in Wien uraufgeführt und ist bis heute eines der bekanntesten und meist aufgeführten Oratorien überhaupt. Allerdings war Haydn keineswegs der erste, der sich intensiv mit der Frage beschäftigte, wie man die Welt vor dem Schöpfungsakt musikalisch beschreiben könne. Den Komponisten, die sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts mit diesem Thema auseinandersetzten, ging es freilich weniger um eine Darstellung des biblischen Schöpfungsaktes, als vielmehr um eine politische Allegorie. 1721 brachten die beiden Komponisten André Cardinal Destouches und Michel-Richard De Lalande in den Tuilerien ein Ballett mit dem Titel Les Élémens heraus. Darin ging es um die Entstehung der Welt, dargestellt an den vier Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde, die jeweils durch antike Götter wie Neptun oder Äolus personifiziert werden

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und die Ordnung der Welt repräsentieren. Diese aber, so die immergleiche Botschaft derartiger Hofballette, verdankte sich dem französischen König; nur er war in der Lage, das Chaos zu beseitigen und Ordnung in der Welt der Elemente zu schaffen. In ihrer Beschreibung der Handlung spielten die Autoren direkt darauf an, wenn sie am Ende auf den jungen Prinzen, den elfjährigen Ludwig XV. als Glücksbringer der Nation verwiesen. Destouches‘ Ballett begann mit einem Prolog in einer Szenerie, die der Librettist Pierre-Charles Roy so beschrieb: „Das Theater stellt das Chaos dar. Man sieht eine Anhäufung von Wellen und Felsen, unbewegliches, schwebendes Wasser und Feuer, das aus Vulkanen lugt. Das Schicksal thront in der Mitte der Bühne.“

Nach einer zeremoniellen, wohlgeordneten französischen Ouvertüre beginnt das Schicksal zu singen und die Handlung in Gang zu setzen. Les Élémens, einschließlich der politischen Botschaft, gehörte zu den erfolgreichsten Stücken der beiden Komponisten. Noch 1764, ein Menschenalter später, wurde es in Fontainebleau in Anwesenheit des Königspaares aufgeführt. Dabei hatte sich in der Zwischenzeit ein anderer Komponist mit der Frage beschäftigt, wie man das Chaos vor der Scheidung der Elemente nicht nur szenographisch, sondern auch musikalisch beschreiben könne. Seine Lösung war freilich so radikal, dass man sie bei Hofe wohl nicht schätzte, auch wenn die Ordnung, die daraus entstand, am Ende umso wunderbarer gewirkt hätte. Die Rede ist von Jean-Féry Rebel, dessen „Simphonie nouvelle“ Les Élémens 1737 ebenfalls als Ballettmusik konzipiert, dann aber mit einem rein instrumentalen Prolog versehen wurde, der alle musikalischen Regeln sprengte. In der Vorrede des Drucks, den Rebel Vittorio Amedeo, dem Prinzen von Carignano widmete, erläuterte er seine musikalischen Vorstellungen sehr detailliert: „Die Introduktion war der Natur nachempfunden. Sie stellte das Chaos dar, jene Konfusion, die unter den Elementen vor dem Moment der Schöpfung herrschte, worauf sie, den ehernen Gesetzen unterworfen, den

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Musikalisch wählte Rebel für die Elemente eher konventionelle Klänge. Die Erde beschrieb er mit langen, tiefen Noten in den Streicherbässen, die Luft mit Flötentrillern, das Wasser mit wellenförmigen Linien auf und ab, und das Feuer mit kurzen, gleichsam flackernden Sechzehntelmotiven. Wie Rebel diese Motive aber zusammensetzt, wie er darüber hinaus den Schöpfungsakt musikalisch beschreibt, ist in der Musikgeschichte ohne Vorbilder. Klangbeispiel 1: Jean-Féry Rebel, Les Élémens: 1. Satz Le cahos3

Wie klingt die Schöpfung bei Rebel, wie das Chaos vor dem Schöpfungsakt? Die Antwort ist eindeutig: Das Chaos ist die ultimative Dissonanz, beginnend mit einem Akkord, wie man ihn später als Cluster bezeichnet hat: sieben nebeneinanderliegende Töne, die fortissimo beginnen und dann sofort ins pianissimo verklingen. Aus diesem chaotischen Klang entwickelt sich zunächst der Rhythmus, und dann hört man, wie sich die einzelnen Elemente zu artikulieren beginnen: das Wasser mit seiner auf- und absteigenden, wellenförmigen Linie, die wir erst in der Flöte, später auch in den Streichern hören, das Feuer mit seinen nervösen Sechzehntelfiguren und den züngelnden Zweiunddreißigstel-Kaskaden hinauf und hinunter, die Luft mit ihrem charakteristischen Flötentriller in hoher Lage, und die Erde mit ihren repetierten tiefen Noten. Am Ende dieser Introduktion ist es den Elementen gelungen, sich voneinander zu trennen und die chaotischen Dissonanzen zu vertreiben. Der Schöpfungsakt besteht darin, Ordnung in das Chaos zu bringen, und das Chaos ist gleichsam die personifizierte Unordnung. Die Elemente sind bereits da, aber sie liegen im Haufen übereinander – wie in der Szenenbeschreibung des Balletts von Destouches und Delalande. Und wenn man die Partitur genau anschaut, so entdeckt man, dass Rebel Ansätze 2 Jean-Féry Rebel, Les Éléments. Simphonie nouvelle, Faksimile-Edition Paris o.J, „Avertissement” (unpaginiert). 3 Bedauerlicherweise können Texte keine Klangbeispiele enthalten, und die Partiturseiten der diskutierten Beispiele wären zu umfangreich, um sie in den Text zu integrieren. Deshalb sei hier nur auf den Ort verwiesen, an dem das jeweilige Beispiel im Vortrag erklang.

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zur Ordnung bereits in seinem chaotischen Akkord zu Beginn versteckt hatte. Die ersten Geigen, die zweiten Geigen und die Flöten reihen sich jeweils zu wohlklingenden Terzpaaren, die sich erst in der Gleichzeitigkeit zu dieser ohrenbetäubenden Dissonanz auftürmen. *** Als Rebel seine „Simphonie nouvelle“ Les Élémens komponierte, war Joseph Haydn gerade sieben Jahre alt. Er sollte später, zwei Generationen später, eine musikalische Idee von der Schöpfung entwickeln, die gänzlich anders gelagert war. In den 1790er Jahren, vor allem während seiner Aufenthalte in London, hatte Haydn sich intensiv mit naturwissenschaftlichen Fragen beschäftigt. Das hing vor allem mit seiner Bekanntschaft mit dem bedeutenden Astronomen William Herschel zusammen. Herschel, 1738 geboren und damit nur wenig jünger als Haydn, entstammte einer Musikerfamilie, spielte mehrere Instrumente und komponierte. Nach England war der gebürtige Hannoveraner als Musiker gekommen, hatte sein Geld als Organist in Bath und als Leiter von Oratorienaufführungen verdient. Die Astronomie, die ihn später berühmt machen sollte, war zunächst nur ein Hobby, aber eines, das mit Musik viel zu tun hatte. Denn die Ordnung der Welt, die Harmonie der Sphären, war, wie man seit der Antike wusste, eine musikalische Ordnung. Durch seine Konstruktion von riesigen Spiegelteleskopen gelang Herschel die Entdeckung eines neuen Planeten, des Uranus. Herschel und Haydn hatten also viel miteinander zu besprechen, als sich die beiden 1791 in Bath begegneten und Herschel dem berühmten Komponisten aus Wien einen Blick ins Weltall gestattete; leider ist nicht überliefert, was sich der Astronom und der Komponist über die Möglichkeiten, das Weltall in Musik zu fassen, zu erzählen hatten. Nur wenige Jahre später, 1796, begann Haydn dann, diese Ideen in die Tat umzusetzen, und wenn es die Gattung Oratorium war, in der er den Schöpfungsakt in Musik setzte, so verweist dies in mehrerlei Hinsicht auf die englische Kultur als Inspirationsquelle. Der Text für Haydns Oratorium stammt aus der Feder Gottfried van Swietens, jenes Diplomaten, Mäzens und Musikliebhabers, der die englische Literatur aus seinen Londoner Zeiten bestens kannte. Tatsächlich wissen wir nicht genau, von wem die Vorlage für sein Libretto tatsächlich stammt. Ursprünglich dürfte der Text, der aus

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John Miltons Paradise Lost hervorgegangen war, sogar für eine Vertonung durch Georg Friedrich Händel vorgesehen gewesen sein. Auf irgendeinem Wege gelangte er dann in van Swietens Hände, und dieser erkannte, dass Joseph Haydn der geeignetste Komponist für ein musikalisches Unterfangen war, das dem Erhabenen eine Stimme geben sollte. 1798 war es dann soweit; die Uraufführung wurde ein Triumph, und das Werk trat einen Siegeszug durch ganz Europa an. Wenigen nur gefiel Haydns Schöpfung nicht, darunter Friedrich Schiller, der sie am Neujahrstag 1801 hörte und in einem Brief als „charakterlosen Mischmasch“4 bezeichnete. Andere, wie Carl Friedrich Zelter, waren von dem Werk und speziell von seiner Ouvertüre begeistert. Mehrfach schrieb er darüber in Rezensionen und Analysen, so auch in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung im Jahre 1802: „Es sind hier fast alle gangbaren Instrumente als Stoff und Materialien beysammen, woraus ein ungeheures, fast unübersehbares Gewebe von Herrlichkeiten der Kunst zusammengesezt und geordnet worden ist. Die Einwendung, von der Unmöglichkeit eines Chaos durch harmonische, melodische und rhythmische Kunstmittel, zerfällt hier offenbar in eine subtile Verstandesprätension, womit sich allenfalls ein Komponist ausreden könnte, dem eine solche Aufgabe gemacht wäre, die er nicht lösen wollte.“5

Und in einem Brief an seinen Freund Johann Wolfgang von Goethe vom 25. Februar 1804 beschreibt er diese von Haydn als „Vorstellung des Chaos“ betitelte Ouvertüre als „das Wunderbarste aller Welt, indem durch ordentliche, methodische, ausgemachte Kunstmittel ein Chaos hervorgebracht ist, das die Empfindung einer bodenlosen Unordnung zu einer Empfindung des Vergnügens macht.“6

Das Wort von der „bodenlosen Unordnung“ könnte ebensogut auf JeanFéry Rebel verweisen. Haydn geht jedoch kompositorisch völlig anders 4 Zitiert nach Georg Feder, Joseph Haydn, Die Schöpfung, (Bärenreiter Werkeinführungen), Kassel 1999, 180. 5 Carl Friedrich Zelter, Recension. Die Schöpfung. Ein Oratorium, in: Allgemeine Musikalische Zeitung IV, Nr. 24, Leipzig 1802, Sp. 390 f. 6 Zitiert nach Feder, Haydn, 181.

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vor, um das Chaos zu beschreiben. Er hat einen gänzlich anderen Blick auf die Schöpfung und vor allem auf die Welt vor dem göttlichen Akt der Schöpfung. Es ging ihm nicht wie Rebel um ein wildes Durcheinander, sondern darum, die Formlosigkeit und die Leere in Musik zu fassen. Die Einleitung zu Haydns Schöpfung beginnt mit vollem Orchester, aber mit einem leeren Ton. Es ist der Ton c. Das gesamte Orchester spielt nur diesen Ton, in unterschiedlichen Lagen zwar, denn der Kontrabass kann ja nicht dasselbe c spielen, wie die Flöte. Aber: Es ist nur der Ton c ohne jede Harmonisierung ohne jeden Akkordton, der aus diesem c ein C-Dur oder ein c-moll machen würde. Auch der Ton selbst ist sehr geschickt gewählt, denn das c ist seinerseits ein leerer Ton: C-Dur hat keine Vorzeichen, und es galt in der Musikästhetik der Zeit als „reine“ Tonart. Mit diesem ersten Ton gelingt es Haydn, die „Leere“ hörbar zu machen. Wie aber die Formlosigkeit? Lassen wir Johann Friedrich Reichardt sprechen, den Berliner Komponisten und Musikschriftsteller, der von Haydns Einfällen überaus begeistert war und in einer Rezension aus dem Jahr 1801 schrieb: „Ein ungeheurer Unisonus aller Instrumente, gleich einem licht- und formlosen Klumpen, stellt sich der Imagination dar. Aus ihm gehen einzelne Töne hervor, die neue gebären. Es entspinnen sich Formen und Figuren ohne Faden und Ordnung, die wieder verschwinden, um in anderer Gestalt wieder zu erscheinen. Es entsteht Bewegung. Mächtige Massen reiben sich aneinander und bringen Gärung hervor, die sich hier und dort, wie von ohngefähr, in Harmonie auflöset und in neues Dunkel versinkt. Ein Schwimmen und Wallen unbekannter Kräfte, die sich nach und nach absondern und einige klare Lücken lassen, verkünden den nahen Ordner. Es ist Nacht.“7 Klangbeispiel 2: Joseph Haydn, Die Schöpfung. Einleitung: Die Vorstellung des Chaos

Wie gelingt es Haydn die Formlosigkeit vermittels der musikalischen Form darzustellen? Bleiben wir zunächst bei dem Ton c. Nachdem er einmal „leer“ erklungen ist, verdichtet er sich dann zu c-moll. C-moll aber ist eine Tonart, die eine lange Tradition als Tonart der Unterwelt, der Klage, der Düsternis hat. Mit ihrer kleinen Terz galt sie nach dem 7 Zitiert nach Feder, Haydn, 33.

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Verständnis der Zeit als besonders unrein. Und dann veranstaltet Haydn wie Rebel ein großes Chaos an dissonanten Klängen, die sich scheinbar regellos ergeben. Die Instrumente spielen vereinzelte Melodien, finden nicht zueinander, bilden seltsame Zusammenklänge. Und wie steht es mit der Tonart c-moll, die doch nun erst einmal die Haupttonart ist und auf die alles bezogen ist? Sie erklingt, obwohl sie die Grundtonart ist, überhaupt nur ganz selten und wenn, dann als Sextoder Quartsextakkord, also in Umkehrungen, niemals in ihrer Grundstellung. Mit all diesen kompositorischen Tricks, den melodischen, harmonischen und auch rhythmischen, gibt Haydn seiner musikalischen Form den Anschein der Formlosigkeit. Der Zeitraum vor der Schöpfung ist formlos und unordentlich und wenn dann Gottes Wirken eintritt, wenn er spricht „Es werde Licht und es ward Licht“, dann erklingt ein hymnisches, jubelndes C-Dur im vollen Orchester. Muss man sich so den Urknall vorstellen? Oder eine Supernova? Der jubelnde C-Dur-Akkord, dessen ausdifferenziertes Klangspektrum ein gleißendes Licht assoziiert, verweist in seiner orchestralen Vollstimmigkeit noch einmal auf den Anfangston des Oratoriums. Es sind exakt dieselben Instrumente, die hier erklingen. Doch welch ein Unterschied: Dort das leere, rhythmisch und harmonisch ungeformte c, hier nun das harmonisch strahlend aufgefüllte und rhythmisch fixierte C-Dur. Die Ordnung der Welt entwickelt sich nicht aus der Unordnung, sondern aus der Leere. Der Schöpfungsakt besteht, so Haydn, nicht im Aufräumen, sondern im Werden. Haydns Chaos ist die Leere, nicht die Unordnung. *** Das dritte Beispiel stammt wiederum aus einer anderen Zeit, diesmal aus dem frühen 20. Jahrhundert, und es fasst eine dritte Idee davon, wie die Welt entstanden sein könnte, in Töne. Es favorisiert die Vorstellung, dass die Welt vor der Schöpfung in einer Art Ursuppe friedlich vor sich hinschwappt und die Schöpfung zwar Leben, aber damit auch Unruhe und Unordnung in diese Harmonie des Urfriedens bringt. Ausgangspunkt dieser wieder anderen Vorstellung von Schöpfung ist auch in diesem Fall nicht die Bibel, sondern afrikanische Mythologie oder das, was man im Paris der 1920er Jahre dafür hielt. Die Rede ist von Darius Milhauds Ballett La Création du Monde, 1923 in Paris uraufgeführt, ein kur-

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zes, kaum 20-minütiges Ballett nach der Anthologie nègre, die in Frankreich zu dieser Zeit sehr populär war. 1921 hatte der schweizerisch-französische Schriftsteller Blaise Cendrars eine Sammlung mündlich überlieferter afrikanischer Geschichten veröffentlicht. Er bediente damit eine in ganz Europa, besonders aber in Frankreich grassierende Afrikamode, auf deren Erfolgswelle nur wenige Jahre später auch Josephine Baker in ihrem Bananenröckchen schwimmen sollte, als sie 1925 in der Revue Nègre in Paris debütierte. Diese Mode gründete auf dem Missverständnis von einer schwarzafrikanischen als einer primitiven, ursprünglichen Kultur, mit der nach der Barbarei des Ersten Weltkriegs ein kultureller Neuanfang möglich schien. Cendrars‘ Anthologie nègre beginnt mit einigen „Legendes cosmogoniques“, deren zweite mit „La Légende des origines“ – Die Legende von den Ursprüngen – betitelt ist. Da heißt es: „Am Anfang der Dinge, ganz am Anfang, als nichts existierte, keine Menschen, keine Tiere, keine Pflanzen, kein Himmel, keine Erde, nichts, nichts, nichts, gab es Gott und er hieß Nzamé. Und die drei, die Nzamé sind, nennen wir Nzamé, Mébère, Nkwa. Und am Anfang machte Nzamé den Himmel und die Erde, und bestimmte den Himmel für sich selbst. Dann hauchte er die Erde an, und durch seinen Atem entstanden Festland und Wasser, jedes an seinem Platz. Nzamé hat alles gemacht: den Himmel, die Sonne, den Mond, die Sterne, die Tiere, die Pflanzen, alles. Und als er fertig war, rief er Mébère und Nkwa und zeigte ihnen sein Werk.“8

Nzamé fragt nun nach ihrer Meinung, und sie empfehlen ihm weitere Schöpfungen, als deren Krone dann der Mensch entsteht. Als Darius Milhaud vom Schwedischen Ballett, einer der beiden großen konkurrierenden Balletttruppen in Paris, den Auftrag erhielt, diese Legende gemeinsam mit dem Bühnenbildner Fernand Léger auf die Bühne zu bringen, fügte er seinerseits etwas vermeintlich Afrikanisches hinzu. Kurz zuvor hatte Milhaud bei einer USA-Reise in Harlem den Jazz kennengelernt, der ihn ebenso faszinierte wie Cendrars die afrikanischen Erzählungen. Als einer der ersten europäischen Komponisten verwendete Milhaud Jazz-Elemente in seiner komponierten Musik, die typischen synkopischen Rhythmen des Jazz, die spezifische Klanglichkeit der Bläser, das ausdifferenzierte Schlagwerk, die Improvisation –

8 Blaise Cendrars, Anthologie nègre, Paris 1921, 3. Deutsche Übersetzung von mir.

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und das Ganze in La création du monde natürlich als musikalische Chiffre für die Schwarzen und damit für Afrika. Das Ballett besteht aus fünf Bildern, deren erstes Cendrars in der Inhaltsangabe des Programmbuches so beschrieb: „Der Vorhang öffnet sich langsam vor einer dunklen Bühne. Man nimmt in der Mitte der Bühne einen wirren Haufen durcheinander gewürfelter Körper wahr: das Chaos vor der Schöpfung. Drei riesige Gottheiten bewegen sich langsam um den Bühnenrand herum: Es sind Nzamé, Medere und N’kva, die Meister der Schöpfung. Sie halten Rat, umkreisen die ungeformte Masse, äußern magische Beschwörungen.“9

Milhaud ließ sich von dieser Szenenbeschreibung zu einer Musik inspirieren, die das Verhältnis von Chaos und Welt noch einmal anders beschreibt als Rebel oder Haydn. Er beginnt weder mit einer ohrenbetäubenden Dissonanz noch mit einem leeren Ton, sondern diesmal mit einer friedlichen Musik, die vor allem eines evoziert: Zeitlosigkeit. In scheinbar endlosen melodischen Schleifen schwappt die Musik so vor sich hin, entwickelt sich nicht, könnte endlos so weitergehen, im Frieden mit sich selber. Dann aber fängt es irgendwo in dieser Ursuppe an zu klumpen. Man hört einen synkopierten, vermeintlich afrikanischen Jazzartigen Rhythmus mit einer Synkope. Man hört falsche Intervalle, wie etwa den Tritonus, den „Diabolus in musica“, und man hört eine klagende Saxofonmelodie und dann immer häufiger im Verlauf dieser Ouvertüre solche Störungen. Klangbeispiel 3: Darius Milhaud, La Création du Monde: Anfang

Das Bild, das Milhaud hier von der Zeit oder besser von dem zeitlosen Zustand vor der Schöpfung entwirft, ist ein gänzlich anderes als das Rebels oder Haydns. Fast bedauernd schildert Milhaud den Akt der Schöpfung als etwas, das den friedlichen, zeitlosen, ereignislosen Urzustand stört und Unordnung in die Welt hineinbringt. Der musikalische Beginn korrespondiert mit der „schwarzen Bühne“, von der die Inhaltsangabe spricht. Wenn die drei Zauberer dann zu agieren beginnen, ist es mit 9 Programmbuch der Uraufführung vom 25. Oktober 1923. Zitiert nach Bengt Häger, Ballets Suedois (The Swedish Ballet), London und New York 1990, 190. Deutsche Übersetzung der englischen Übersetzung bei Häger von mir.

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dem Frieden endgültig vorbei. Plötzlich liegt ein unordentlicher Haufen Leiber da, das Chaos, aus dem die Zauberer dann die Welt formen. Doch Milhaud ging es zunächst einmal gar nicht um dieses Chaos, sondern sozusagen um den Zustand vor dem Chaos. Nach seiner musikalischen Interpretation ist das Chaos bereits die erste Störung in einer Welt, die ihren Ursprung im Nichts, in der Zeitlosigkeit, in der Ereignislosigkeit hat. Dabei ist dieser Urzustand ein gänzlich anderer als bei Haydn. Die dortige Leere ist eine defizitäre, ungeformte, eine, die gefüllt werden will, womit auch immer. Das leere c erzeugt Spannung, macht neugierig auf das, was daraus entstehen soll. Milhauds Urzustand ist geformt, stellt eine in sich ruhende, kreisende Bewegung dar, die paradiesischen Frieden verströmt, aber keine unbehagliche Leere. Sie enthält eine melodische und rhythmische Bewegung über einer spannungslosen Harmonik, wie ein musikalisches perpetuum mobile. *** Die drei Werke, an denen ich drei unterschiedliche Konzeptionen von Schöpfung erläutert habe, beziehen ihre Inspiration jeweils aus außermusikalischen Quellen – aus der antiken Philosophie, aus der Bibel, aus afrikanischen Mythen. Und sie setzen diese Themen in Werke um, die ohne außermusikalisches Narrativ nicht auszukommen scheinen – das Handlungsballett, das Oratorium. Wie aber sieht es in jener Musik aus, die man im 19. Jahrhundert als „absolute“ Musik, als Musik ohne außermusikalische Inspiration, als „tönend bewegte Form“ bezeichnet hat? Wie eng diese klanglichen Momente der Entstehung von Raum und Zeit mit einer der zentralen Fragen des Komponierens – dem Ereignis des Beginns – verbunden sind, soll an einem letzten Beispiel gezeigt werden. Auch ein Komponist stand ja bei jedem neuen Werk vor der Aufgabe, einen Schöpfungsakt zu vollziehen, einen Anfang zu finden. Der klassische Sonatensatz beginnt gleichsam mit dem Akt der Schöpfung selbst, indem er sein Material von Anfang an in perfekter Form präsentiert, um es dann im weiteren Verlauf des Satzes zu drehen und zu wenden. Joseph Haydn hat sich lange vor der Konzeption der Schöpfung in seinen späten Symphonien immer wieder Gedanken darüber gemacht, wie er das Hauptthema des ersten Satzes vorbereiten könne. Wenngleich nicht jede langsame Einleitung, nicht jede Hinführung auf das Allegro einer

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Sinfonie die Qualität eines musikalischen Schöpfungsaktes besitzt, sei hier doch ein Beispiel zur Diskussion gestellt, das Haydns Vorstellung des Chaos aus der Schöpfung konzeptionell in so frappanter Weise ähnelt, dass die Vermutung naheliegt, die beiden Werke bezögen sich aufeinander, obwohl es sich um zwei grundsätzlich unterschiedliche Gattungen handelt. Die Rede ist von der langsamen Einleitung aus Wolfgang Amadeus Mozarts sogenanntem Dissonanzenquartett KV 465. Es gehört zu den sechs Streichquartetten, die Mozart Joseph Haydn widmete, und entstand Ende 1784/Anfang 1785. Mozart trug es am 14. Januar 1785 in sein eigenhändiges Werkverzeichnis ein, und es gehörte zu denen, die im Hause Mozart vier Wochen später, am 12. Februar im Beisein von Joseph Haydn gespielt wurden. Über diese Begebenheit berichtete Leopold Mozart mit unverhülltem väterlichem Stolz in einem Brief an seine Tochter Nannerl: „Am Samstag war abends H: Joseph Haydn und die 2 Baron Tindi bey uns, es wurden die neuen quartetten gemacht […] H: Haydn sagte mir: Ich sage ihnen vor Gott, als ein ehrlicher Mann, ihr Sohn ist der größte Componist, den ich von Person und den Nahmen nach kenne: er hat geschmack und über das die größte Compositionswissenschaft.“10

Dass Mozart seine sechs in Wien zwischen 1782 und 1785 komponierten Streichquartette kurz darauf mit der Widmung an Haydn zum Druck gab, hängt auch damit zusammen, dass er sich in diesen Quartetten kompositorisch mit den 1782 gedruckten Quartetten von Haydn opus 33 auseinandersetzte. Zu den Besonderheiten seiner Quartette, für die es bei Haydn kein Modell gab, gehört die langsame Einleitung des letzten dieser Quartette. Sie war eine Erfindung Mozarts. Das Cello breitet mit repetierten Achteln einen Klangteppich aus, auf einem c (schon wieder das c), das sich nur sehr zögerlich und allmählich zu einem C-Moll Akkord formt, über dem aber dann die erste Violine mit einem vermeintlich falschen Ton einsetzt: nachdem nämlich in der Bratsche das leitereigene as erklungen war, hören wir nun ein a. Im 19. Jahrhundert, als dieses Quartett mehrfach gedruckt wurde, hat man diesen Ton dann auch korrigiert, 10 Brief vom 16. Februar 1785, in: Mozart, Briefe und Aufzeichnungen, Hg. von der Stiftung Mozarteum Salzburg. Gesammelt und erläutert von Wilhelm A. Bauer und Otto Erich Deutsch, Band III, Kassel 1963, 373.

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weil man ihn für einen Druckfehler hielt und sich nicht vorstellen konnte, dass Mozart so etwas Falsches komponiert haben könnte. Klangbeispiel 4: Wolfgang Amadeus Mozart, Streichquartett C-Dur KV 465: Beginn des 1. Satzes

Besonders ist diese Einleitung auch, weil sie sich polyphon linear entwickelt und nicht akkordisch, wie es in Mozarts Zeit üblich war. Sie folgt kompositorischen Gesetzen, die aus dem 16. Jahrhundert stammen, um dann in ein fröhliches Sonatenallegro zu münden. Das ist mehr als eine kompositorische Idee. Es ist eine künstlerische Positionsbestimmung, der eine lange kompositorische Krise vorausgegangen war. Durch Gottfried van Swieten, den späteren Librettisten von Haydns Schöpfung, hatte Mozart in Wien seit 1782 die Musik Händels und Bachs kennengelernt, eine strenge Polyphonie, die so ganz anders war als die Fugen, wie sie zur Ausbildung eines jeden Komponisten gehörten. Diese alte Musik irritierte Mozart zutiefst; aus keiner Phase seines kurzen Lebens sind so viele Fragment gebliebene Kompositionen überliefert wie aus den Jahren zwischen 1782 und 1785 – Kompositionen, in denen er sich bemühte, die alte Polyphonie in sein eigenes kompositorisches Idiom zu integrieren. Das prominenteste Beispiel dieser Fragmente ist sicherlich die c-MollMesse. Der erste Satz des Streichquartetts KV 465 wirkt wie ein persönliches Bekenntnis, wie ein Sieg über diese Krise, wie die Lösung eines quälenden Problems und schließlich wie ein Schöpfungsakt. Der klassische Satz, zu dessen Entwicklung Mozart so Entscheidendes beigetragen hat, erwächst aus der alten Polyphonie. Wir wissen nicht, wie Haydn seine Bemerkung über Mozarts Kompositionswissenschaft im Einzelfall begründet hätte. Die langsame Einleitung aber dürfte ein wichtiges Kriterium für dieses Urteil gewesen sein, denn sie war so besonders, so ungewohnt und so neu, dass sie Haydn in hohem Maße beeindruckt haben muss. Und so gehört es zwar in den Bereich der Spekulation zu vermuten, Haydn habe sich bei der Komposition seiner Vorstellung des Chaos von dieser langsamen Einleitung aus Mozarts Streichquartett inspirieren lassen. Bei aller Verschiedenheit ist die Grundidee, von einem „leeren“ Ton aus einen Gang durch ein harmonisches Labyrinth anzutreten und schließlich das Licht des heiteren C-Dur zu erreichen, aber doch so verblüffend ähnlich, dass die Vermutung, Mozarts Streichquartettsatz kön-

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ne Haydns Oratorienouvertüre angeregt haben, nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Und auch Ludwig van Beethoven ließ sich von Mozarts Dissonanzenquartett inspirieren, als er den letzten Satz seines sechsten Streichquartetts Opus 18 in B-Dur, veröffentlicht im Jahre 1801, also drei Jahre nach der Schöpfung, mit einer langsamen Einleitung eröffnete, die er mit „La Malinconia“ überschrieb und ein ähnliches harmonisches Labyrinth konstruierte wie Mozart und Haydn. Mit dem Titel gab Beethoven seiner Komposition allerdings einen ganz anderen Bezug: nicht einen kosmologischen, sondern einen affektiven. Bei Beethoven geht es um das Chaos der Seele, das durch den fröhlichen Schlusssatz geheilt wird – oder vielleicht doch nicht? Denn bei Beethoven kehrt die Melancholia zurück, durchbricht das Allegro, quasi Allegretto des Schlusssatzes noch zweimal, mischt sich in die ausgelassene Fröhlichkeit. Das Chaos der Seele, so scheint es, das Chaos in dieser Welt ist beharrlicher als das Chaos vor der Zeit, das durch den Schöpfungsakt beseitigt wurde. Dass dieser Vortrag nur drei musikalische Beispiele präsentierte, die sich explizit mit der Idee der Schöpfung auseinandersetzen, bedeutet nicht, dass diese die einzigen wären. Gerade im 20. Jahrhundert häufen sich musikalische Antworten auf die Frage, wie die Schöpfung wohl vonstattengegangen sei. Darunter finden sich große Symphonien wie William Wallaces cis-Moll Symphonie The Creation von 1898 und elektroakustische Experimente wie die der beiden bulgarischen Komponisten Vladimir Djambazov und Gonimira Popova aus dem Jahr 2000. Und so vielfältig die musikalischen Lösungen auch sein mögen, es eint sie doch das Bemühen, dem Unvorstellbaren eine Stimme, dem Chaos eine – und sei sie eine musikalische – Struktur zu geben, das Nichts zum Klingen zu bringen. Wovon man nicht sprechen kann, darüber kann man wenigstens Musik machen.

Meinrad Walter

„Erschallet, ihr Lieder, erklinget, ihr Saiten!“ Eine Bachkantate in der lutherischen Musiktradition Zum ersten Pfingsttag 1714 hat der Weimarer Organist und Konzertmeister Johann Sebastian Bach diese Kirchenkantate komponiert. In der dortigen Schlosskapelle, „Himmelsburg“ genannt, war die Uraufführung am 20. Mai 1714. Der Textdichter ist vermutlich der Weimarer Hofbeamte und Poet Salomon Franck, dessen Kantatenlibretti für Bach ideale Voraussetzungen boten: auf dem Boden der lutherischen Orthodoxie stehend und zugleich mystisch akzentuiert, durchweg biblisch inspiriert mit vielen Zitaten und Anklängen aus dem Alten und Neuen Testament, und zugleich musikalisch inspirierend mittels Bildhaftigkeit und Affektreichtum. All dies zeigt sich gleich im Wortlaut des Eingangschores: Erschallet, ihr Lieder, erklinget, ihr Saiten! O seligste Zeiten! Gott will sich die Seelen zu Tempeln bereiten.

Die Überschrift benennt das lutherisch akzentuierte Programm der Kirchenmusik: vokales und instrumentales Gotteslob in deutscher Sprache. So lautet das Grundprogramm nicht nur dieses Werkes, sondern der Kirchenmusik insgesamt. Hier fungiert die Aufforderung „Erschallet, ihr Lieder …“ als ‚Devise‘, auf die sogleich ein Hinweis auf die nähere, d. h. pfingstliche Thematik im De tempore (Jahreskreis) folgt: „Gott will sich die Seelen zu Tempeln bereiten.“ Damit ist die Anwendung auf das Pfingstfest gegeben, und zugleich werden die beiden Personen des musikalischen Glaubensdramas (Drama fidei per musica) eingeführt, auf dessen Entwicklung und ‚Inszenierung‘ wir achten wollen: Gott und die Seele.

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Meinrad Walter Meinrad Walter

Christian Richter: Weimar, Schlosskirche Innenraum mit Compenius-Orgel, Gouache, um Christian Richter: Weimar, Schlosskirche Innenraum mit Compenius-Orgel, Gouache, um 1600 – © Klassik Stiftung Weimar, Bestand Museen, Inventarnummer G 1230. 1600 – © Klassik Stiftung Weimar, Bestand Museen, Inventarnummer G 1230.

„Erschallet, ihr Lieder, erklinget, ihr Saiten!“

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Zuerst nehmen wir den Ort der Uraufführung (Abb. links) dieses Werkes in den Blick: die Weimarer Schlosskirche („Himmelsburg“) mit ihrem „architektonischen Dreiklang“ (Renate Steiger) von Altar, Kanzel und Orgel. Im Schlusschoral der Kantate „Erschallet, ihr Lieder!“ hören wir von einem ganz ähnlichen Dreiklang. Besungen wird „dein Wort, dein Geist, dein Leib und Blut“: Das Wort des Evangeliums, die UrKunde des Glaubens, soll in der Predigt und der Musik-Predigt als Canticum novum immer wieder neu zum lebendigen Wort werden. Leib und Blut begegnen den Glaubenden im gemeinschaftsstiftenden Mahl des Altarsakraments. Und die dritte Säule ist der Geist, der auch die Kirchenmusik als geistliche Musik prägt und inspiriert – und so bei ihr „mitspielt“. Salomon Franck (1659–1725), der Dichter der Kantate „Erschallet, ihr Lieder, erklinget, ihr Saiten!“, hatte in Jena Jurisprudenz und Theologie studiert und war am Weimarer Hof als Oberkonsistorialsekretär für die Herzogliche Bibliothek und das Münzkabinett zuständig. Obendrein beherrschte er das musico-poetische Metier meisterhaft. Seine Kantatentexte sind nicht nur theologisch durchdacht und poetisch gekonnt verfasst, sondern in ihrem Bilderreichtum und Affektspektrum auch kompositorisch überaus ergiebig. Zudem sind sie durchstimmt von einem mystischen Grundton, der Luthers Gedanke der Unio mystica mitsamt der mittelalterlichen Brautmystik aufgreift, wobei die liebende Vereinigung der gläubigen Seele mit Christus nicht nur ersehnt und erbeten, sondern bisweilen auch in Wort und Ton besungen und geradezu bejubelt wird. Zwischen Eingangschor und Schlusschoral erklingen, gemäß diesem Franck’schen Übergangstypus innerhalb der Gattung Kantate, ein Bibelwort-Rezitativ und drei unmittelbar aufeinander folgende Arien. Der Spannungsbogen der Kantate scheint so insgesamt den mystischen Weg der Vereinigung der Seele mit Gott musikalisch-symbolisch nachzuzeichnen. Auf die Eingangschor-Überschrift, welche die Kirchenmusik mitsamt dem Pfingstfest thematisiert, was zusammen-genommen eine Art Grundprogramm geistlicher Musik (vgl. Kol 3,16 und Eph 5,18–20) ergibt, folgt der vielfach vertonte Beginn des Pfingstevangeliums Joh 14,23:

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Meinrad Walter Wer mich liebet, der wird mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen.

Die drei Arien vollziehen sodann einen Dreischritt: Gott („Heiligste Dreieinigkeit“), Seele („O Seelenparadies“) und die mystische Vermählung beider in einem Liebesduett („Komm, lass mich nicht länger warten“) mit unterflochtener coloriert-ekstatischer Choralstrophe („Komm, heiliger Geist, Herre Gott“). Der Schlusschoral endlich, die Liedstrophe „Von Gott kömmt mir ein Freudenschein“ aus dem im „FrewdenSpiegel deß ewigen Lebens“ (1599) überlieferten Morgenstern-Lied von Philipp Nicolai (1556–1608), schließt die Kantate nicht nur ab, sondern öffnet sie mit der letzten Zeile „… auf dein Wort komm ich geladen“ zugleich in das liturgische Geschehen des Glaubens hinein, in welchem sie als „Musik-Sprache des Glaubens“ ihren Sitz im Leben hatte und hat. Für den Gesamtduktus der Kantate „Erschallet, ihr Lieder!“ entscheidend ist die dialogisch-mystische Begegnung der Seele mit Gott. Nach der Exposition des Eingangschores wird ebendieses Geschehen mit den zentralen biblischen Worten benannt und in Musik übersetzt (Rezitativ); sodann wird es auslegend ausgeführt: Gott („Heiligste Dreieinigkeit“) und die Seele („O Seelenparadies“) sowie ihre mystische Vereinigung (Liebesduett), um schließlich applikativ in den liturgischen Vollzug eingebunden zu werden (Schlusschoral). Bereits im textlichen Überblick wird erkennbar, dass diese thematischen Aspekte sich in ihrer Abfolge kaum randscharf unterscheiden lassen, sondern sich gegenseitig überlappen. Eine Akzentsetzung – Gotteslob und Pfingsten (Satz 1), Gott-Seele-Mystik (Sätze 2–5), Abendmahl (Satz 6) – scheint aber deutlich wahrnehmbar.

„Erschallet, ihr Lieder, erklinget, ihr Saiten!“ Dieser festliche Eingangschor ist zum einen ein früher Versuch Bachs mit dem gerade aus Italien bekannt gewordenen Konzert und zum anderen der Nachklang des älteren mehrchörigen Konzertierens. Bereits ein erster Blick in die Partitur lässt an ein Konzert denken, allerdings in dem bereits angedeuteten doppelten (typisch bachisch-intricaten) Sinn.

„Erschallet, ihr Lieder, erklinget, ihr Saiten!“

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Eingangschor „Erschallet, ihr Lieder, erklinget, ihr Saiten!“ (BWV 172,1). Die Anordnung der Partitur lässt (von oben nach unten) die Einteilung in drei Chöre erkennen: Bläser, Streicher und Vokalisten; darunter der Basso continuo.

In der horizontalen Blickrichtung, also von links nach rechts im Durchblättern der Partitur des Werkes, wird die moderne konzert-typische dreiteilige Da-capo-Form erkennbar, und in der vertikalen (Blick von oben nach unten in der Anordnung der ersten Partiturseite) die drei miteinander im älteren Sinne vokal-instrumental konzertierenden „Chöre“ der Bläser, der Streicher und der Vokalisten. Dieser Eingangssatz ist also ein Konzert im alten und im neuen Sinne, und zusätzlich mit einer intricat-dialektischen Verschränkung beider Bedeutungen. Horizontal ist der Satz dem neuen Konzert verpflichtet (A-B-A-Form), in seinem Mittelteil steht jedoch ein deutlich am alten polyphonen Stil orientierter motettischer Satz, dessen zwei komplementäre Abschnitte

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(Einsätze zunächst in aufsteigender, dann in absteigender Folge) durchaus von den Worten „Gott will sich die Seelen zu Tempeln bereiten“ inspiriert sein können. Vertikal ist der Satz noch von dem alten mehrchörigen Konzertieren geprägt, was die Partitur im Überblick erkennen lässt; im Detail ist dieses Konzertieren jedoch bereits von ritornellartiger Motivik überformt, wie sie wiederum für das neue Konzert charakteristisch ist. Drei Essentials prägen demnach diese Musik: erstens das „alte“ Konzertieren, zweitens das „neue“ Konzert und drittens die von Bach immer äußerst kreativ behandelte Wortgebundenheit. Deren Ermöglichung gründet bereits im Text, dessen Worte die Vokal- und die Instrumentalmusik direkt benennen (vgl. „Tönet, ihr Pauken, …“). Zu hören ist also nicht nur Kirchenmusik an Pfingsten, sondern Pfingstmusik (geistliche Musik), die die Kirchenmusik explizit zum Thema hat und die außerdem mit der Angabe der vokalen („Erschallet, ihr Lieder, …“) und instrumentalen Komponente („… erklinget, ihr Saiten!“) zugleich das hauptsächliche kompositorische Spannungsfeld dieses Werkes selbst benennt. Beim Vokaleinsatz, der nun näher betrachtet werden soll, treffen die Bereiche „instrumental“ und „vokal“ direkt aufeinander. Indirekt sind sie schon von Anfang an beisammen, weil Bach die instrumentale Einleitung nach dem Text komponiert hat – und zugleich für den Text, das heißt im Blick auf den möglichen Vokaleinbau. Es geht dabei um den Ausgleich zwischen instrumentaler Freiheit und vokaler Notwendigkeit: Nicht alles, was die Instrumente (etwa vom Ambitus und den Koloraturen her) können, vermögen auch die Singstimmen. Das anfängliche Ritornellmotiv (C-Dur, Auftakt, Dreiklang, fanfarenhaft, in sich abgerundet) wird beim Vokaleinsatz herangezogen und zugleich den vokalen Erfordernissen (Text, Möglichkeiten der Singstimmen) angepasst, ohne dass es in seiner Substanz geschmälert würde. Die energische Dreiklangs-Aufwärtsbewegung, die auf den das Werk eröffnenden Quartauftakt folgt, bleibt dabei gewahrt, sie erscheint jedoch nun in ihrer vokal-instrumentalen Fassung durch Atempausen verlängert (in welche die Instrumente wiederum das Initialthema hineinspielen) und neu rhythmisiert, so dass der Hochton der ersten beiden Abschnitte (Erschal-let / ihr Lie-der) jeweils auf die betonte Silbe fällt und die abschließende unbetonte Nebensilbe (im Unterschied zur instrumentalen Fassung der allerersten Takte) wiederum auf den Anfangston zurückführt.

„Erschallet, ihr Lieder, erklinget, ihr Saiten!“

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Eine noch deutlichere Wortgebundenheit im Sinne ganz direkter Wortgezeugtheit, die die Worte in den zeitlichen Ablauf der Musik übersetzt, indem sie sie nicht nur auslegt, sondern direkt ausführt, kann im Blick auf eine durchaus mögliche, sogar wahrscheinliche (wenngleich nicht beweisbare) Parodiebeziehung dieses Satzes zu einer weltlichen Vorlage angenommen werden. Bei dieser Vorlage lautet (nach Alfred Dürr) der von Bach vertonte Franck'sche Text „Erschallet nun wieder!“: weltlich:

geistlich:

Erschallet nun wieder, Glückwünschende Lieder! Ihr Helicons Glieder Tragt Opffer der Lippen und Sayten hier nieder.

Erschallet ihr Lieder, Erklinget, ihr Saiten! O seligste Zeiten! Gott will sich die Seelen zu Tempeln bereiten.

Das vokal-instrumentale Wechselspiel hieße somit ursprünglich: „Erschallet!“ (vokale Aufforderung – instrumentale Ausführung) „… nun wieder!“ (wiederholte vokale Aufforderung – nochmalige Ausführung). Falls das zutrifft, wäre auch hier, wie etwa am Beginn des ersten Teils des Weihnachtsoratoriums, die weltlich-ursprüngliche Wortgebundenheit der Vorlage noch direkter als die geistlich-nachträgliche, ohne dass jedoch die Grundstimmigkeit von Wort und Ton im zweiten Fall beeinträchtigt wäre. Bemerkenswert ist in diesem klangprächtigen Eingangssatz zudem die Hervorhebung des Wortes „selig“ (T. 53f, 59f) durch lang gehaltene Töne, die den rhythmischen Verlauf der Vokalstimmen gleichsam über jeweils zwei Takte hinweg anhalten, um den Ewigkeitsaspekt der Seligkeit bereits in der Zeit andeutungsweise zu vergegenwärtigen. Die letzte Zeile des Textes hat Bach für den kontrastierenden Mittelteil abgespalten, was vermutlich vom Librettisten nicht intendiert war. Damit kehrt sich jedoch die vokal-instrumentale Dominanz um: War der A-Teil instrumental dominiert, um von Anfang an das Innovative des italienischen Konzertes herauszustellen, in welches die Singstimmen eingepasst werden mussten, um dann aber gerade mit ihrem Wechselspiel (s.o.) intensiviert dem Text zu entsprechen, so dominieren im alten Konzertieren des Mittelteils die Vokalstimmen, und die Instrumente sind colla parte geführt.

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Alles in allem ist dieser Satz in einem dreifachen Sinne konzertante Kirchenmusik: Mit seinem festlichen Gesamtduktus reflektiert er nicht nur das alte, sondern bereits auch das neue Konzertieren, und er lotet deren jeweilige Möglichkeiten im Sinne intensiver Wortgebundenheit aus. Der dritte Aspekt soll nun anhand des Rezitativs „Wer mich liebet“ noch vertieft werden.

„Wer mich liebet, der wird mein Wort halten …“ Der mystische Grundton dieser Kantate wird im zweiten Satz biblisch begründet. Vertont ist der Beginn des Pfingstevangeliums, ein Vers aus den „Abschiedsreden“ Jesu nach dem Evangelisten Johannes (Joh 14,23): Wer mich liebet, der wird mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen.

Das von der Bass-Stimme – die im Seitenblick auf die Passionsmusik auch hier als Vox Christi zu deuten ist – vorzutragende Rezitativ spielt sämtliche Möglichkeiten rezitativischen Komponierens in planmäßiger Steigerung durch. Damit zeichnet es sich sowohl durch intensivste und subtilste Textdeutung aus als auch durch musikalisch-strukturelle Qualität auf höchstem Niveau – und beides wiederum in engster Verschränkung. Als singulär-individuelle Bachsche Invention gibt sich dieser Satz insbesondere am Schluss zu erkennen, weil hier eine Regelüberschreitung (licentia) den rezitativischen Möglichkeiten quasi-retrospektiv die Unmöglichkeit hinzufügt – um jedoch erst damit dem mystischen Textsinn voll gerecht zu werden.

„Erschallet, ihr Lieder, erklinget, ihr Saiten!“

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Bass-Rezitativ „Wer mich liebet“ (BWV 172,2) und Beginn der Bass-Arie „Heiligste Dreieinigkeit“ (BWV 172,3). Das Rezitativ verläuft als 1. Akkord, 2. Konsonanz der Singstimme, 3. Dissonanz (unaufgelöst), 4. Auflösung der Dissonanz, 5. Kadenz, 6. Übergang ins Arioso, 7. komplementäre Führung der Stimmen, 8. Parallelführung, 9. Licentia: Unisono als musikalisches Sinnbild der Unio mystica.

Das Rezitativ entspricht der monodischen Norm eines generalbassbegleiteten Sologesangs. Notiert sind zwei Stimmen, Singbass und Generalbass, wobei die gesungene Stimme Textträger und die gespielte Stimme Harmonieträger ist.

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Betrachten wir die Abschnitte im Einzelnen: Die vokale Bass-Stimme trägt den Text zunächst syllabisch vor, um dann auf das musikalisch inspirierende Schlusswort „machen“ zunächst in einen Halteton und sodann auf reiche Melismen überzugehen. Dadurch wird der verheißungsvolle Satzteil „und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen“ wiederholt. Die ersten beiden, durch eine Viertelpause voneinander getrennten Textglieder beschreiben einen melodischen Weg von Exposition über Spannung zu Auflösung. Die stärkste Dissonanz hören wir auf dem Wort „liebet“ (Leitton gegen Grundakkord; melodische Folge: c‘-gis-d). Auf „Halten“ löst sich die Spannung, so als wollte Bach damit verdeutlichen, dass sich die Spannung des „Liebens“ erst im „Halten“ der Gebote löst. Die Worte „und mein Vater …“ sind konsonanter gesetzt; auf das väterliche „Lieben“ erklingt als zweiter Akkord der Sextakkord der Tonika C-Dur. „Und wir werden zu ihm kommen …“ nimmt in seiner melodischen Dreiklangsgestalt bereits die Devise der Bass-Arie vorweg (dieses „wir“ ist ja die „Heiligste Dreieinigkeit“). Zwei Exclamationes betonen „wir“ und „kommen“. Eine eigentliche harmonische Entwicklung setzt – nach dem anfänglichen Pendeln zwischen a-Moll und C-Dur ohne gefestigte Tonart – erst in der Mitte des fünften Taktes zu dem zentralen Wort „kommen“ ein. Eigentlich ist damit das syllabische Rezitativ ausgereizt: Akkord; Singstimme in Konsonanz; Dissonanz und Auflösung; harmonische Entwicklung im Sinne einer Kadenz. Doch jetzt mündet das ausgespielte Rezitativ in ein Arioso als Wechselspiel zwischen Haltetönen und colorierten Passagen. „(Wohnung) machen“ erklingt so als gegenseitig-komplementäres Spiel im Sinne des „fröhlichen Wechsels“ (Martin Luther), wobei die virtuosen Koloraturen des Instrumentalparts bereits auf das spätere Liebesduett vorausdeuten. Was kann darauf noch folgen? Zunächst die Intensivierung des Dialogs zur Parallelführung der Stimmen, und schließlich zu den drei letzten Worten „bei ihm machen“ eine bestätigende Unisono-Abwärtsbewegung beider Stimmen in C-Dur, die sich in den tiefen Grundton einsenkt und ihn aushält. Mit diesem die Regeln überschreitenden Schluss gibt Bachs RezitativArioso den Blick auf seine Prämissen frei. Die im Unisono sich ereignende mystisch-symbolische Vereinigung der beiden Stimmen zeigt im Nach-

„Erschallet, ihr Lieder, erklinget, ihr Saiten!“

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hinein, wovon das Rezitativ generell lebt, nämlich aus dem Spiel der beiden verschiedenen Stimmen. Dieses Unisono ist ein musico-theologischer Höhepunkt in Bachs Werk: musikalisch die gezielt eingesetzte Regelüberschreitung als Zuspitzung, und theologisch ein musikalisches Sinnbild der Unio mystica.

„Heiligste Dreieinigkeit“ Nach der Vox Christi singt nun die Vox fidei: Heiligste Dreieinigkeit, Großer Gott der Ehren, Komm doch, in der Gnadenzeit Bei uns einzukehren; Komm doch in die Herzenshütten, Sind sie gleich gering und klein; Komm und lass dich doch erbitten, Komm und kehre bei uns ein!

Die Stimme des Glaubens besingt die Trinität mit einer Arie, die völlig in den C-DurDreiklang eingetaucht ist. Diese Dreiklangsgestalt ist das Klangzentrum, das in der Singstimme etwas zurückgenommen erklingt, um die Verzierungen im Bereich des Möglichen zu halten; in der ersten Trompete hingegen lässt Bach Stimme der ersten virtuos geführten ersten Trompete (Clarino der Virtuosität freien 1) aus dem von Johann Sebastian Bach zur Aufführung von BWV 172 hergestellten und in Weimer und Leipzig benutzten Raum. Notenmaterial.

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Vokaleinsatz (T. 5–8) der Bass-Arie „Heiligste Dreieinigkeit“ (BWV 172,3). Die Trinität erklingt als Dreiklang 1. in der vokalen Bass-Stimme, und zwar 2. in dreifacher Ausführung (a-b-c), 3. in den unisono spielenden drei Trompeten, 4. in der dreifachen Staffelung der Einsätze: Bass – Continuo – Trompeten.

Näherhin sei der Beginn der Singstimme betrachtet. Es erklingt ein tiefsinniges Spiel von Einheit und Dreiheit: Die (eine) Singstimme singt das Dreiklangsmotiv, jedoch wie mit einem Doppelpunkt versehen, der die musikalisch-rhetorische Auslegung zur trinitarischen Ausführung steigert. „Heiligste Dreieinigkeit: großer Gott (Vater), großer Gott (Sohn), großer Gott der Ehren (Geist).“ Dieser horizontal-sukzessiven Dreiheit innerhalb der vokalen Bass-Stimme entspricht – im Blick auf die Partitur – eine vertikal-simultane, denn das (eine) Dreiklangsmotiv wird doppelt imitiert: zunächst vom Generalbass und sodann von den drei Trompeten. Und dass drei Trompeter unisono spielen, ist eine letzte Drei-Einheit, die sogar noch das visuelle Moment miteinbezieht.

„Erschallet, ihr Lieder, erklinget, ihr Saiten!“

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Mir scheint, dass Bach sich hier, wie Renate Steiger zeigen konnte, durchaus von Predigtgedanken zu Pfingsten als dem „geistlichen Posaunen=Fest“ (Johann Arndt) hat inspirieren lassen, dass er aber zugleich versuchte, musikalisch in die innerste Tiefe des christlichen Grundmysteriums einzudringen: in das Geheimnis des dreieinigen Gottes. Und sogar der Dialog Gott-Seele wird bereits angedeutet, nämlich mittels der Harmonik: Die göttliche Phrase moduliert in die Dominante (T. 7f.: „großer Gott der Ehren“), die menschliche in die Subdominante (T. 15f.: „gering und klein“).

„O Seelenparadies“ Auch die Tenor-Arie der Bachkantate „Erschallet, ihr Lieder!“ vereint biblische und musikalische Inspiration. Biblisch inspiriert ist sie, weil sie an den Beginn der Bibel erinnert, an die Genesis-Erzählung vom Paradies. Was dort geschehen ist, das Ins-Leben-Rufen aller Schöpfung durch das Wehen des göttlichen Geistes – eben das geschieht im Glauben hier und jetzt, in jedem Einzelnen: damals im Paradies, heute im „SeelenParadies“. O Seelenparadies, Das Gottes Geist durchwehet, Der bei der Schöpfung blies, Der Geist, der nie vergehet. Auf, auf, bereite dich, Der Tröster nahet sich.

Auch dieser Gedanke entstammt der damaligen lutherischen Theologie. Wir begegnen ihm etwa in einer Predigt des von Salomon Franck wie von Bach besonders geschätzten Rostocker Theologen Heinrich Müller: „Siehe / so ist nun das Hertz einer gläubigen Seelen ein edles Paradies / das Haus Gottes selbst, weil Gott darin wohnet.“

Musikalisch inspirierend wird für Bach hier die Vorstellung des „Wehens“. Er übersetzt es in eine den Tonraum von oben bis unten durch-

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streifende melodische Figur, die den ganzen Satz – gleichsam als Skopus seiner Klangrede – „durchweht“.

Mittelteil (T. 73–86) der Tenor-Arie „O Seelenparadies“ (BWV 172,4). Das fanfarenhafte Motiv („auf, auf …“) erinnert an den Eingangschor und wird von der den gesamten Satz bestimmenden Figur des „Wehens“ im Basso continuo sowie von den Streichern kontrapunktiert.

Kompositorisch meisterhaft arbeitet Bach in diesem Triosatz mit seiner musikalischen Figur des Wehens. Nachdem sie am Beginn exponiert und auch von der Singstimme aufgenommen wurde, kontrapunktiert sie so-

„Erschallet, ihr Lieder, erklinget, ihr Saiten!“

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dann alle weiteren Abschnitte als Gegenstimme. Bach musste die Melodik der Tenor-Stimme also so gestalten, dass sie durchweg zur allgegenwärtigen Figur des Wehens passt und zugleich rhetorisch-auslegend auf die gerade erklingenden Worte eingeht – eine nicht ganz leichte Aufgabe! Doch gerade an diesem Detail wird deutlich, dass innermusikalische Qualität und tiefsinnige Textausdeutung für ihn keine Gegensätze sind. Beides greift ineinander, weil, ganz im Sinne Luthers, nicht erst die predigthafte Textvergegenwärtigung musikalische Theologie ist, sondern bereits das kunstvolle innere Spiel der Musik selbst. Die Antwort des Glaubens auf das Kommen des Geistes ist schließlich eine energische Aufforderung, mit der sich der in Moll gehaltene Satz nach Dur wendet. Dieser fanfarenhafte Umschwung, der das Tongeschlecht ebenso umkehrt wie die melodische Richtung, markiert das predigthafte Geschehen der vergegenwärtigenden Aneignung im Glauben: vom Damals (der Geist als Schöpfer) – zum Heute (der Geist als Tröster). Auch das Einander-Nahen von Geist und Seele erklingt im „fröhlichen Wechsel“ der musikalischen Inszenierung: Die Seele besingt den sich nahenden Tröster-Geist, indem sie sich zugleich das auffordernde „Auf, auf!“ melodisch-rhythmisch markant aneignet, wodurch sich im Übrigen ein Rückbezug zum fanfarenhaften Beginn des Eingangschors ergibt. Wenn dann auf die Worte „der Tröster nahet sich“ das instrumentale „Wehen“ aufs neue einsetzt, vermag das anzudeuten, dass die beiden Geist-Momente (Schöpfer und Tröster) eine innere Einheit bilden, was ja auch der Text bereits andeutet: Weil der Schöpfergeist (creator spiritus) „nie vergehet“, vermag er sich der Seele als Tröster (consolator et reformator) zu nahen.

„Komm, lass mich nicht länger warten“ Ein Duett zwischen dem Heiligen Geist und der Stimme des Glaubens ist der Höhepunkt der Bachkantate „Erschallet, ihr Lieder!“ Dieses Liebesduett könnte auch einer Barockoper zu virtuosem Glanz gereichen. Bach fügt jedoch eine weitere Stimme hinzu, die den geistlichen Charakter des Stückes betont: der von einem Soloregister der Orgel bzw. einer Oboe zu spielende Pfingstchoral „Komm, heiliger Geist, Herre Gott“. Mit diesem Choral hatte etwa zweihundert Jahre zuvor Martin Luther die gregorianische Vorlage „Veni Sancte spiritus“ zu einem deutschen Kirchenlied

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umgebildet. Dessen Melodie ist in Bachs Kantate allerdings kaum erkennbar unter den reichen Verzierungen. Selbst die Liedstrophe scheint vom Thema der Liebe „entzündet“, „entbrannt“ vom „ewigen Feuer der Liebe“ (BWV 34), wie es in einer anderen Bachkantate zum 1. Pfingsttag heißt. Und damit spiegelt sich die im damaligen Luthertum so beliebte Brautmystik – sie lehnt sich häufig an den Wortlaut des biblischalttestamentlichen Hohenliedes, des Canticum canticorum, an – hier nicht nur in den Worten, sondern auch unmittelbar in der Musik.

Duett (Sopran und Alt) „Komm, lass mich nicht länger warten“ mit colorierter Choralstrophe „Komm, heiliger Geist“ (BWV 172,5, T. 27–31).

„Erschallet, ihr Lieder, erklinget, ihr Saiten!“

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Die geradezu überbordenden Verzierungen musikalisieren – so Renate Steiger – „den Schmuck der Braut, die dem Bräutigam entgegenharrt“ (vgl. Offb 21,2), aber sie sind wohl zugleich auch eine musikalische Übersetzung mystischer Ekstase. Komm, lass mich nicht länger warten, Komm, du sanfter Himmelswind, Wehe durch den Herzensgarten! Ich erquicke dich, mein Kind.

[Anima]

Liebste Liebe, die so süße, Aller Wollust Überfluss! Ich vergeh, wenn ich dich misse. Nimm von mir den Gnadenkuss.

[Anima]

Sei im Glauben mir willkommen, Höchste Liebe, komm herein! Du hast mir das Herz genommen. Ich bin dein, und du bist mein!

[Anima]

[Spiritus Sanctus]

[Spiritus Sanctus]

[Spiritus Sanctus]

Ein Höhepunkt ist bei den Worten „Du hast mir das Herz genommen“ erreicht, welche die Liebesformel „Ich bin dein, und du bist mein“ (vgl. Hos 2,19f.) einleiten. Als musikalische Steigerung darf jedoch auch die imitatorische Stimmführung der beiden Singstimmen gelten, zumal in ihr das mystische Motiv des Einander-Nachjagens (Fuga) anklingt. In allen drei Abschnitten dieses Duetts beginnt die Seele, und der Geist antwortet ihr. Erst im dritten Abschnitt aber gelangen beide in einen gemeinsamen Schluss: verbal auf die den Skopus angebenden Dialogworte „komm herein – und du bist mein“, musikalisch als Einklang, der an den Unisono-Schluss des Rezitativs erinnert.

„Von Gott kömmt mir ein Freudenschein“ Mit der vierten Strophe von Philipp Nicolais mystisch getöntem Morgenstern-Lied (1599) aus dem „FrewdenSpiegel deß ewigen Lebens“, das ursprünglich die Überschrift „Ein geistlich Brautlied“ trägt, beschließen Salomon Franck und Johann Sebastian Bach die Kantate „Erschallet, ihr Lieder, erklinget, ihr Saiten!“

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Meinrad Walter Von Gott kömmt mir ein Freudenschein, Wenn du mit deinen Äugelein Mich freundlich tust anblicken. O Herr Jesu, mein trautes Gut, Dein Wort, dein Geist, dein Leib und Blut Mich innerlich erquicken. Nimm mich freundlich in dein Arme, Dass ich warme werd von Gnaden, Auf dein Wort komm ich geladen.

Der Stellenwert dieser gern auch im Bild eines Kelches dargestellten Strophe kann hier dreifach gedeutet werden: Erstens rundet der Schlusschoral das Werk stimmig ab, weil er dessen mystischen Grundgedanken nochmals zusammenfasst und dabei die Unio mystica in die Bilder des Sich-Anblickens, des Erquickens, des Umarmens und Erwärmens fasst („Von Gott kömmt mir ein Freudenschein …“); zweitens bindet die Schluss-Strophe den gesamten mystischen Verlauf in die Lehre ein (der mystische Blick entspricht dem erquickenden Abendmahl), indem sie den Bildern der Sinnlichkeit theologisch-lutherischen Sinn zuspricht; und drittens öffnet dieser Schluss-Satz die mystische Kantate mystagogisch in das Geschehen des Gottesdienstes hinein: „… auf dein Wort komm ich geladen“. Dies ist das Ziel der Kantate und zugleich die Brücke zum liturgischen Sitz im Leben des Werkes.

„Erschallet, ihr Lieder, erklinget, ihr Saiten!“

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Abgesang des Schlusschorals „Von Gott kömmt mir ein Freudenschein“ (BWV 172,6, T. 8– 15) mit der weit sich ausstreckenden Parallelführung von oberster und unterster Stimme (Violine und Bass).

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Etwas ausführlicher sei der Abgesang betrachtet, die letzten acht Takte. Wie so oft verbindet Bach die choraltypische Aufgabenstellung des Ausgleichs zwischen vertikaler Harmonik und horizontaler Stimmführung mit einer – für den Choral als stark standardisierter Form ungewöhnlichen – musikalischen Textdeutung. Ähnlich wie die Schlusschoräle anderer Weimarer Bachkantaten ist auch dieser Vokalsatz (mit duplizierenden Instrumenten) zusätzlich durch eine bewegt gestaltete Oberstimme (Violine) bereichert. Deren Grundwert ist der Achtelfluss einer von ausdrucksstarken Vorhaltsketten geprägten Melodik, im Unterschied zu den Viertelnoten des Chorals mit einigen Achteldurchgängen. Die Zeilen „nimm mich freundlich …“ erklingen in allen Vokalstimmen zunächst in den von der Melodie vorgegebenen gewichtigen Halbenoten. Zu den Worten „in dein Arme, dass ich warme werd von Gnaden …“ jedoch löst Bach den Bass aus dem rhythmischen Gefüge der Singstimmen heraus und gleicht ihn der Violine an, mit der er nun rhythmisch und melodisch parallel geführt ist. Während die Mittelstimmen des Chores ebenso wie die Melodie ausschließlich in engen Sekundintervallen fortschreiten, beschreiben die Außenstimmen im Abstand von zwei Oktaven und einer Terz eine konsonante, weiträumig bogenförmig geführte Auf- und Abwärtsbewegung. Dies mag ähnliche Assoziationen wecken wie die auf- und abwärts gestaffelten Einsätze im Mittelteil des Eingangschors. Von oben und unten erscheint der Schlusschoral hier melodisch „umfangend umfangen“, und zugleich sind damit zwei Stimmen einander zugehörig charakterisiert, was dem mystischen Duktus des gesamten Werkes eine letzte musikalische Gestalt verleiht, welche nicht nur dialogische Stimmigkeit (oben und unten) besagt, sondern zugleich Abrundung (Ausgang und Rückkehr) sowie Einheit in Unterschiedenheit (zwei Stimmen, eine Bewegung).

Bachs Impulse für die Kirchenmusik heute Für heute sind aus der Interpretation der Bachkantate „Erschallet, ihr Lieder, erklinget, ihr Saiten!“ in der Musiktradition Luthers vier Folgerungen zu ziehen:

„Erschallet, ihr Lieder, erklinget, ihr Saiten!“

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1. Die lutherische Musiktradition ist einem integrativen Verständnis von Musik verpflichtet. Nur deshalb vermag sie Tradition und Modernität so überzeugend zu vereinen. Obwohl der Choral zu ihren unaufgebbaren Bezugspunkten zählt, kennt sie – gerade auch in der Choralbearbeitung – keine Berührungsängste mit der (damals) modernen Musik. Nicht wenige herausragende Werke verdanken sich geradezu dem Versuch, Tradition und Modernität zu vereinen, so etwa Bachs Choralkantaten, die den alten Choral im höchst modernen musikalischen Gewand präsentieren. Solche Integrationen könnten auch heute unfruchtbare Polarisationen zwischen traditionell(-traditionalistisch) und modern(-modernistisch) entschärfen. 2. Kirchenmusik ist heute ökumenische Musik. Sowenig es eine starre Unterscheidung zwischen einem geistlichen und einem weltlichen Stil gibt, so wenig gibt es noch einen prinzipiellen konfessionellen Unterschied. Im ökumenischen Fortschreiten ist die Musik unserer Zeit voraus: Bachs Orgelwerke erklingen in katholischen Kirchen, Mozarts Messen hie und da im evangelischen Gottesdienst – und Bach selbst ist es ja gewesen, der seinem letzten vermächtnishaften Werk, der h-Moll-Messe, den „catholischen“ gregorianischen Choral einschrieb. Heute dürfen die Kirchen von ihrer Kirchenmusik das Praktizieren von Gemeinschaft lernen, und so dürfen auch Katholiken auf Bach hören, dessen musikalische Sprache des Glaubens am Leitfaden des Kirchenjahres aufzeigt, ja geradezu inszeniert, was Glauben heißt und wie Glauben geht. 3. Im Blick auf Pfingsten: Bachs Musik lässt erfahren, was Inspiration heißt. Seine Werke sind geistig und geistlich zugleich. So „fröhlich im Geist“ Martin Luther durch das Singen wurde, dessen er „schier nicht konnte satt und müde werden“ (Johann Walter), so fröhlich will Bachs Musik ihre Hörer auch heute stimmen. Sie vermittelt eine emotionale Freude des Hörens, die das rationale Mitdenken einschließt, um zugleich als musikalische Sprache des Glaubens in den religiösen Bereich vorzustoßen. Menschlich-künstlerische Inspiration wird zum Gleichnis der göttlichen, Einheit der Stimmen (das Unisono am Schluss des zweiten Satzes) zur musikalischen Übersetzung von Mystik, ekstatisches Duettieren zum Sinnbild irdisch-himmlischer Liebe. Dies alles ist ästhetisch wahrnehmbar und zugleich symbolisch bedeutsam, denn was Bach zu sagen hat – damals wie heute – steht nicht als verschlüsselte Sonderwelt neben oder gar hinter den Noten, sondern in seiner Musik. Deren ästhe-

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tischer Sinn wird im aufmerksamen Hören vernehmbar und verstehbar als religiöser Gehalt. 4. Gegenseitige Kompetenz von Musikern und Theologen verhindert falsche Konkurrenz. Es ist unabdingbar, dass Kirchenmusiker sich über die theologische und auch die seelsorgliche Bedeutung ihres Tuns im Klaren sind; und dass Theologen sich – ähnlich wie Augustinus und Luther – auch auf die Musik verstehen. „Was macht einen Theologen?“ wurde Luther einmal bei einer seiner Tischreden gefragt. Und seine Antwort gilt – unter veränderten Bedingungen freilich – bis heute: „Erstens die Gnade des Heiligen Geistes, zweitens die Versuchung, drittens die Erfahrung, viertens die Umstände, fünftens fleißiges Lesen, sechstens die Kenntnis der edlen Künste.“1

1 Kurt Aland (Hg.), Luther deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, Bd. 9 Tischreden, Göttingen 41984, 135.

Klaus Herrmann

Aufklärung, Emanzipation, Akkulturation und Zionismus Chanukka im Wandel der Zeiten oder wie aus Händels Judas Maccabaeus ein israelisches Kinderlied wurde „Chanukka – Weihnukka – Weihnachten“ oder das Durcheinander im deutschen Judentum zu Beginn des 20. Jahrhunderts Gershom Scholem, einer der bedeutendsten deutsch-jüdischen Gelehrten des 20. Jahrhunderts, 1897 als Gerhard Scholem an der Friedrichsgracht in Berlin-Mitte geboren und 1981 in Jerusalem gestorben, schreibt in seinen Jugenderinnerungen „Von Berlin nach Jerusalem“ über die Weihnachtszeit in seinem jüdischen Berliner Elternhaus: „Es war schon so, dass vieles in dieser Lebensform der assimilierten Juden, in der ich aufgewachsen bin, durcheinander ging. So kam ich etwa auf sonderbare Weise zu dem Bild Theodor Herzls, des Begründers der zionistischen Bewegung, das viele Jahre in meinem Zimmer in Berlin und München hing. In unserer Familie wurde schon seit den Tagen der Großeltern, in denen dies Durcheinander einsetzte, Weihnachten gefeiert, mit Hasen- oder Gänsebraten, behangenem Weihnachtsbaum, den meine Mutter am Weihnachtsmarkt an der Petrikirche kaufte, und der grossen ,Bescherung‘ für die Dienstboten, Verwandte und Freunde … Eine Tante, die Klavier spielte, produzierte für die Köchin und das Zimmermädchen ,Stille Nacht, heilige Nacht‘. Als Kind ging mir das ein, aber 1911, als ich gerade begonnen hatte, Hebräisch zu lernen, nahm ich das letzte Mal an diesem Fest teil. Unter dem Weihnachtsbaum stand das Herzl-Bild in schwarzem Rahmen. Meine Mutter sagte: ,Weil du dich doch so für Zionismus interessierst, haben wir dir das Bild ausgesucht‘“.1

Die Ironie, die in diesen Worten von Gershom Scholem steckt, könnte in der Tat kaum größer sein: Ganz selbstverständlich wird Weihnachten in 1 G. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, Frankfurt a. M. 1994, 32ff.

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dem weithin assimilierten jüdischen Elternhaus der Scholems in Berlin gefeiert. Zu diesem Weihnachtsfest gehören Weihnachtsbaum, Hasenoder Gänsebraten ebenso wie Singen von christlichen Weihnachtsliedern. Dass dieses Singen nur für das christliche Dienstpersonal stattgefunden habe, ist natürlich eine „fromme Lüge“, die in vielen Lebenserinnerungen dieser Zeit zu finden ist. Bisweilen ist gar zu lesen, die ganze Weihnachtsfeier sei nur für das nichtjüdische Dienstpersonal, das Kinderfräulein, die Köchin und das Dienstmädchen, in Szene gesetzt worden. Hier zeigt sich die im Nachhinein empfundene Verlegenheit der Autoren gegenüber der Selbstverständlichkeit, mit der in einem jüdischen Haushalt das Weihnachtsfest gefeiert wurde, wie es bei Scholems Eltern der Fall war. Und da sich der Sohn Gerhard so sehr für den Zionismus, die von Theodor Herzl (1860–1904) begründete nationaljüdische Bewegung interessierte, schenkten ihm seine Eltern ein Bild des Gründers und ersten Präsidenten der zionistischen Bewegung. Diese Ironie erscheint uns vielleicht gar nicht mal so groß – oder sollte man genau umgekehrt sagen: umso größer? – wenn wir uns einen Tagebucheintrag Theodor Herzls vom 24. Dezember 1895, d. h. aus dem Jahr vor dem Erscheinen seiner grundlegenden zionistischen Schrift Der Judenstaat, anschauen: „Eben zündete ich meinen Kindern den Weihnachtsbaum an, als Güdemann kam. Er schien durch den ,christlichen‘ Brauch verstimmt. Na, drücken laß ich mich nicht! Aber meinetwegen soll's der Chanukabaum heißen – oder die Sonnenwende des Winters?“2

Offenbar war Scholem nicht bekannt, mit welcher Selbstverständlichkeit auch bei Theodor Herzl und seiner Familie in ihrer Wiener Wohnung Weihnachten gefeiert wurde. Diese Selbstverständlichkeit rief jedenfalls bei seinem jüdischen Besucher Moritz Güdemann, dem damaligen Oberrabbiner von Wien, einiges Befremden hervor, wie wir aus Güdemanns eigenen Erinnerungen erfahren: „So ging ich am 24. Dezember zu ihm in die Pelikangasse, ich glaube Nr. 16, wo er wohnte. Ich wurde in ein großes Empfangszimmer eingelassen und fand dort – man stelle sich meine Überraschung vor – einen großen

2 Th. Herzl, Tagebücher, Erster Band, Berlin 1922, 328.

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Christbaum. Bald trat Herzl ein … Die Unterhaltung – in Gegenwart des Christbaums – war schleppend, und ich empfahl mich bald.“3

Natürlich fehlt es nicht an schroffer Polemik gegen diese Form der Assimilation im damaligen Judentum. Sehr treffend bringt eine Karikatur aus dem Jahre 1919 in dem zionistischen Satiremagzin Schlemiel die von Scholem in seinem Elternhaus gemachten Erfahrungen zum Ausdruck: Hier erhält ein jüdischer Junge, adrett vor dem Weihnachtsbaum posierend und zwar in der Uniform des zionistischen Wanderbundes „BlauWeiß“, dem übrigens auch Scholem zeitweise angehörte, einen Chanukkaleuchter als „Weihnachtsgeschenk“4. Dieser Leuchter ist das wichtigste Symbol des traditionellen jüdischen Chanukka-Festes, das immer in die Weihnachtszeit fällt, und das an acht Tagen, beginnend mit dem 25. Kislev des jüdischen Kalenders, zur Erinnerung an die Wiedereinweihung des Jerusalemer Tempels nach dem erfolgreichen Kampf der Makkabäer im Jahre 164 v. Chr. gefeiert wird: Daher der Name Chanukka, der „Einweihung“ bedeutet. Während der acht Tage wird jeden Tag ein weiteres Licht an der Chanukkia, dem Chanukkaleuchter, mit dem sog. „Diener“, also einer neunten und beweglichen Kerze, angezündet. Schon anderthalb Jahrzehnte zuvor fand sich im Schlemiel eine ähnliche Karikatur, die diese Form eines schleichenden Assimilationsprozesses im damaligen Judentum unter der Überschrift „Darwinistisches“ in vier Bildsequenzen als sukzessive Verwandlung eines Chanukkaleuchters in einen Weihnachtsbaum darstellt. Mit der Anspielung auf Charles Darwin (1809–1882), den Begründer der seinerzeit höchst umstrittenen Evolutionstheorie, wird dieser Assimilationsprozess als ein vermeintlich unausweichlicher Vorgang in der Geschichte des modernen Judentums karikiert.5 Im Falle von Gerhard Scholem müssen wir diese Karikatur jedoch wie die hebräische Schrift von rechts nach links, d. h. rückwärts lesen. Scholem wollte schon als Jugendlicher diesen „Evolutionsprozess“ umkehren und den Weihnachtsbaum in einen Chanukkaleuchter rück3 Zitiert nach H. Loewy, Chanukka, Weihnachten, Weihnukka, Berlin 2006, 8. 4 Zum Wanderbund „Blau-Weiß“ s. I. Meybohm, Erziehung zum Zionismus. Der Jüdische Wanderbund Blau-Weiß als Versuch einer praktischen Umsetzung des Programms der Jüdischen Renaissance, Frankfurt a. M. 2009. 5 Diese Karikatur ist heute sehr beliebt als Motiv auf Kugelschreibern, Mousepads, Linealen, Lampenschirmen für (Chanukka-)Kerzen u.a. und vor allem in den Shops jüdischer Museen zu erwerben.

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verwandeln, aus Gerhard Scholem wird ein Gershom Scholem, wie dann sein hebräischer Name lautete. Mit dem elterlichen Weihnachtsfest hatte er fortan nichts mehr im Sinn: „Von da an ging ich Weihnachten aus dem Haus“, so schreibt Scholem lapidar am Ende dieser Episode. Scholem zog es vor in diesen Tagen seinen in der zionistischen Sportbewegung sehr aktiven Onkel Theobald zu besuchen, da bei ihm noch das traditionelle Chanukkafest gefeiert wurde: „Bei meinem Onkel wurde Weihnachten natürlich nicht gefeiert, dafür aber das jüdische Lichterfest Chanukka, aus dem die Kirche das Weihnachtsfest entlehnt hat. Das Fest, das seinen Ursprung dem Sieg der Makkabäer im Aufstand gegen die Hellenisierungsversuche des Königs von Syrien … und der Reinigung des Tempels von Jerusalem von hellenistischen Götterbildern verdankte, wurde von der Zionistischen Bewegung erst richtig hochgespielt … Als ich in den Kriegsjahren (d. h. während des ersten Weltkrieges) einmal Chanukka zu meinem Onkel kam und die Töchter fragte, woher sie denn all die schönen Geschenke bekommen hätten, sagten sie: das hat uns der liebe Chanukkamann gebracht.“6

Auch hier ist Scholems Ironie nicht zu überhören. Selbst dort, wo man das traditionelle Chanukka-Fest zu feiern vorgibt, darf der Chanukkamann nicht fehlen. Genau darum soll es im Folgenden gehen: Chanukka zwischen Assimilation und Zionismus, die Verwandlung des Chanukkaleuchters zum Weihnachtsbaum als Ausdruck eines weithin der Umweltkultur angeglichenen Chanukkafestes wie auch seine Rückverwandlung vom Weihnachtsbaum zum Chanukkaleuchter als Symbol des national-jüdischen Makkabi-Festes in der zionistischen Bewegung, und zwischen diesen Extremen halb verwandelte Weihnachtsbäume bzw. Chanukkaleuchter als Ausdruck eines „Weihnukkafestes“, kurzum Chanukka als Ausdruck jüdischen Lebens in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert.

6 G. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 34.

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„Chanukka – Weihnukka – Weihnachten“ oder ein musikalisches Vorspiel aus drei Jahrhunderten Musikalisch gesehen gibt es für dieses von Scholem beschriebene „Durcheinander“ wohl kein besseres Lied als das, das in der christlichen Weihnachtskultur als Adventslied Tochter Zion, freue Dich und in der jüdischen Welt, vor allem auch in Israel, als Chanukkalied mit dem hebräischen Text Hawa narima, d. h. „Wohlan, lasst uns erheben“ erklingt. Die Musik stammt von Georg Friedrich Händel (1685–1759), doch bevor hier auf die musikalischen und inhaltlichen Besonderheiten eingegangen wird, soll das Weihnachts- bzw. genauer das Adventslied Tochter Zion wiedergegeben werden; das hebräische Hawa narima wird dann diesen Beitrag beschließen. Friedrich Heinrich Ranke (1798–1876), „Tochter Zion“ um 1820 1. Tochter Zion, freue dich! Jauchze, laut, Jerusalem! Sieh, dein König kommt zu dir! Ja er kommt, der Friedefürst. Tochter Zion, freue dich! Jauchze, laut, Jerusalem! 2. Hosianna, Davids Sohn, Sei gesegnet deinem Volk! Gründe nun dein ewig' Reich, Hosianna in der Höh! Hosianna, Davids Sohn, Sei gesegnet deinem Volk! 3. Hosianna, Davids Sohn, Sei gegrüßet, König mild! Ewig steht dein Friedensthron, Du, des ew'gen Vaters Kind. Hosianna, Davids Sohn, Sei gegrüßet, König mild!

Der Text dieses Adventsliedes stammt von Friedrich Heinrich Ranke, dem jüngeren Bruder des berühmten Historikers Leopold von Ranke, der dieses Lied um das Jahr 1820 geschrieben hat. Ursprünglich enthielt

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das Lied eine weitere Strophe: „Sieh! er kömmt demüthiglich, Reitet auf dem Eselein, Tochter Zion freue dich! Hol ihn jubelnd zu dir ein“; die vier Strophen wurden 1826 erstmals in der in Hamburg herausgegebenen Sammlung Christliche, liebliche Lieder, unter der Überschrift „Am Palmsonntag“ veröffentlicht,7 was darauf verweist, dass dieses Lied auch an Ostern und – da in der evangelischen Kirche der Einzug Jesu in Jerusalem (Mt 21,1–9) auch am ersten Adventssonntag als Evangelium gelesen wird – zugleich auch als Adventslied gesungen wurde. Jedenfalls ist die Melodie von Händel in englischsprachigen Ländern sowie in Holland und Norwegen heute als Osterlied bekannt.8 Wer ist eigentlich die Tochter Zion in Rankes Lied? Der Text beruht auf der prophetischen Verheißung im neunten Kapitel des biblischen Buches Sacharja, wo es heißt (V. 9): „Du Tochter Zion, freue dich sehr, und du Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin“, ein Text, der von den Christen traditionell als Verheißung auf Jesus Christus gedeutet wurde. Also ein andächtig-freudiges Oster- bzw. Adventslied?! Die Musik von Georg Friedrich Händel und die politischen Umstände seiner Entstehung könnten indes in eine andere Richtung weisen. Die Melodie stammt, wie erwähnt, aus Händels Oratorium Judas Maccabäus, ist also dem Helden des Chanukkafestes gewidmet.9 Der Anlass für Händel seinen Judas Maccabäus zu komponieren, zu dem Thomas Morell (1703–1784) das Libretto schrieb, war natürlich nicht das jüdische Chanukkafest selbst, sondern ein patriotisches Ereignis in der Zeitgeschichte des englischen Empire: 1746 siegte der englische Herzog Wilhelm August von Cumberland (1721–1765) gegen die weit nach England eingefallenen schottischen Truppen unter Charles 7 Gesammelt und herausgegeben von L. Reichardt, Hamburg o.J., 12. S. auch A. Gidion: „Tochter Zion, freue dich - EG 13“, in: Jochen Arnold und Klaus-Martin Bresgott (Hg.), Kirche klingt. 77 Lieder für das Kirchenjahr, Gemeinsam Gottesdienst gestalten, Bd. 19, Hannover 2011, 291–293. 8 Thine is/be the glory, risen, conqu’ring Son bzw. Deg være ære bzw. U zij de Glorie. Der zunächst französisch geschriebene Text (À toi la gloire, O Ressuscité!) von E. Louis Budry wurde im Jahre 1885 in Chants Évangeliques in Lausanne veröffentlicht, 1923 von R. B. Hoyle ins Englische und 1947 von A. Fjelberg ins Norwegische übertragen. 9 Zwischen dem vierstimmigen Chorsatz aus Händels Judas Maccabäus und dem Lied Rankes bestehen einige wenige Unterschiede; s. dazu die ausführliche musikalische Analyse von J. Stalmann, „Tochter Zion, freue dich“, in: G. Hahn, J. Henkys und H.-C. Drömann, Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch V, Göttingen 2002, 17–21.

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Edward (1720–1788) in der sehr blutigen Schlacht beim Culloden Moor (bei der Charles Edward im Gegensatz zu den meisten seiner Kämpfer entkommen konnte). Diesem politischen Ereignis ist Händels Oratorium Judas Maccabäus gewidmet, bei dessen Uraufführung am 1. April 1747 im Theatre Royal in Covent Garden jedoch der weltberühmte Siegeshymnus „See, the conqu'ring hero comes!“ („Seht den Siegeshelden kommen!“), der die Melodie für das Adventslied Tochter Zion abgibt, noch fehlte. Dieser Hymnus erlebte sein Debüt bei der Uraufführung von Händels Oratorium Joshua am 9. März 1748 im Theatre Royal in Covent Garden, zu dem wiederum Thomas Morell das Libretto verfasste. Der Erfolg seines Judas Maccabäus veranlasste Händel, den Siegeshymnus aus dem Joshua vom Jahre 1750 an in eben dieses Oratorium einzufügen; von daher wird diese Melodie heute fast ausschließlich mit dem Judas Maccabäus identifiziert.10 Die Melodie avancierte dann im Lauf der Zeit zu einem der beliebtesten patriotischen Gesänge in England und darf daher heutzutage nicht in der Last Night of the Proms fehlen.11 Georg Friedrich Händel (1685–1759) (Libretto: Thomas Morell), Joshua 1748, Judas Maccabaeus, 1750 CHORUS OF YOUTHS

CHOR DER JÜNGLINGE

See, the conqu’ring hero comes! Sound the trumpets, beat the drums. Sports prepare, the laurel bring, Songs of triumph to him sing.

Seht den Siegeshelden kommen! Schallt, Trompeten, Pauken, tönt! Feste feiert, Lorbeer streut, Triumpfgesänge stimmet an.

CHORUS OF VIRGINS

CHOR DER JUNGFRAUEN

See the godlike youth advance! Breathe the flutes, and lead the dance; Myrtle wreaths, and roses twine, To deck the hero’s brow divine.

Seht den gottgleichen Jüngling kommen! Blast die Flöten, führt den Tanz; Myrthenkränze, Rosen flechtet, Des Helden göttlich Haupt bekränzt.

10 S. dazu D. Höink und J. Heidrich (Hg.), Gewalt - Bedrohung – Krieg. Georg Friedrich Händels "Judas Maccabaeus". Interdisziplinäre Studien, Göttingen 2010. 11 S. beispielsweise das YouTube Video der Veranstaltung von 2012, aufzurufen unter http://www.youtube.com/watch?v=YUXBrek5N9g (letzter Aufruf im August 2013).

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CHORUS OF YOUTHS

CHOR DER JÜNGLINGE

See, the conqu’ring hero comes! Sound the trumpets, beat the drums. Sports prepare, the laurel bring, Songs of triumph to him sing.

Seht den Siegeshelden kommen! Schallt, Trompeten, Pauken, tönt! Feste feiert, Lorbeer streut, Triumphgesänge stimmet an.

Der Siegeshymnus aus dem Judas Maccabaeus, wurde jedenfalls schon während der französischen Revolution als Freiheitslied aufgefasst und bildete die Grundlage der Kantate „Der vierzehnte Julius 1790“ von Christoph Daniel Ebeling (1741–1817). Hierbei handelt es sich um eine in Hamburg anlässlich des Jahrestags des Bastille-Sturms aufgeführte Kantate, die unmittelbar an Händels Siegeshymnus anknüpft: Christoph Daniel Ebeling (1741–1817), „Der vierzehnte Julius 1790“ Eine Kantate CHOR DER GALLIER Jauchzet, Nazionen, diesem Tage! Gott stand auf, sein Volk zu retten: Ha! nun heben wir das freie Haupt empor! Frohlockt, da liegen sie, der Frevler Ketten! Wechsel-Gesang deutscher Jünglinge und Mädchen. JÜNGLINGE Seht, sie glänzt mit Preis gekrönt, die den Kampf der Freiheit rang. Hoch zu allen Sphären tönt Der Befreiten Siegesgesang. MÄDCHEN Seht, den hehren Thron umringt Hochgesang und Jubeltanz, Mirtenzweig‘ und Rosen schlingt In der Heldin Lorbeerkranz.

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BEIDE Wie sie strahlt in hoher Pracht Die der Herschsucht Fesseln brach! Singt Ihr, denen Freiheit lacht; Unterdrückte, ahmt ihr nach! DUETT O Freiheit, reich an Fried‘ und Heil!

Dieser Kantate, erstmals 1790 in den Hamburgischen Addreß-Comtoir Nachrichten veröffentlicht12, hat Ebeling folgenden kommentierenden Text beigegeben: „Diese Kantate ist zu einigen der vorzüglichsten Händelschen Komposizionen verfertigt worden. Nur muß ein Musikverständiger die genaupassende Unterlegung mit Geschmack machen. Das erste Chor ist eines der prachtvollesten von Händel, Kings shall be & c. aus seiner Krönungsmusik. Der Wechselgesang ist das berühmte Triumphlied See, he comes, the Hero comes, aus Judas Makkabäus; aus welchem auch das Duett, die Arie, nebst dem sehr feierlichen Schluß-Chore, Halleluja &c. sind.“13

Über die genauen Umstände, unter denen diese Kantate aufgeführt wurde, sind wir bestens informiert.14 Im liberalen Hamburg fand im Jahre 1790 ein Freiheitsfest „Zu Ehren der französischen Revolution“ statt, das in dieser Form in Preußen, Sachsen und Österreich, wo die Zensur zumal in jenen revolutionären Zeiten extrem streng gehandhabt wurde, gewiss undenkbar gewesen wäre. Vor dem Dammtor in einer nach dem vormaligen Kloster genannten Gaststube Harvestehude trafen sich auf Initiative des erfolgreichen Kaufmanns Georg Heinrich Sieveking (1751– 12 Hamburgische Addreß-Comtoir Nachrichten 1790, 44f. Die Kantate wurde zudem in spätere Anthologien aufgenommen; s. z.B. die Sammlung Freiheitsgedichte, Paris auf Kosten der Republik 5, 167–169, und (anonym) Lieder für Freie, Trier: Brumaire VIII. Jahrs. 89–91. S. auch die Wiedergabe des Textes bei G. McNett Stewart, The Literary Contributions of Christoph Daniel Ebeling, Amsterdam 1978, 162. 13 Ebd. 14 Zum Folgenden s. vor allem H.-W. Engels, „,Freye Deutsche! singt die Stunde …‘. Am 14. Juli 1790 feiert Hamburgs Elite ein Freiheitsfest. Ein Beitrag zur norddeutschen Aufklärung“, in: Rüdiger Schütt (Hg.), „Ein Mann von Feuer und Talenten“: Leben und Werk von Carl Friedrich Cramer, Göttingen 2005, 245–270.

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1799) und seines Freundes Caspar Voght (1752–1839) rund 80 Gäste zur Feier des ersten Jahrestages des Sturms auf die Bastille. Zu einem der Höhepunkte der Veranstaltung gehörte gewiss die Rezitation von zwei Revolutionsoden von Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803). Die Atmosphäre dieser Feier mit ihrem Freiheitspathos spiegelt sich gewiss auch sehr schön in der an Händels Oratorien angelehnten Kantate von Ebeling, wobei Gordon McNett Stewart die Grundaussage dieser Komposition sehr treffend wie folgt zusammengefasst hat: „Freedom, as portrayed in Ebeling’s cantata, is largely secularized. God is depicted in the opening ‚Chor der Gallier‘ as a divine catalyst, but thereafter all references to god are omitted. Ebeling is explicit in the cantata about his understanding of freedom: social and political freedom. The exuberance and rejoicing here is not in honor of God, as it was in Händel’s oratorio, but in approval of and (!) homage to the deeds of the French people.”15

Vier Jahre später, im Jahre 1794, komponierte Ludwig van Beethoven (1770–1827) Zwölf Variationen über ein Thema aus Händels Oratorium „Judas Maccabäus“ für Klavier und Violoncello (WoO 45), also über den Siegeshymnus aus Händels Judas Maccabäus, die 1797 publiziert wurden. Es ist davon auszugehen, dass Beethoven von dem für seine geistige Entwicklung außerordentlich einflussreichen Bonner Lehrer Christian Gottlob Neefe (1748–1798), einem begeisterten Anhänger der Französischen Revolution, auf das Hamburger Freiheitslied von Ebeling hingewiesen worden war.16 Gerade dieses Freiheitspathos in Ebelings Kantate passt sehr gut zu Beethovens eigener Begeisterung für die Ideale der französischen Revolution, wenngleich man ihn insgesamt als einen ebenso leidenschaftlichen wie widersprüchlichen Aufklärer bezeichnen muss.17 Je15 Stewart, Literary Contributions, 98. 16 Dazu S. Brandenburg, Beethovens politische Erfahrungen in Bonn, in: H. Lühning, S. Brandenburg (Hg.), Beethoven. Zwischen Revolution und Restauration, Bonn 1989, 3–50, und die ältere Studie von Th. von Frimmel, Beethoven-Handbuch, Leipzig 1926 (Nachdruck Hildesheim 1968), 452–461. 17 Zur Frage nach Beethovens Stellung zur französischen Revolution und späterhin Napoleon liegen zahlreiche Studien vor; s. dazu S. Hiemke, Beethoven-Handbuch, Kassel und Stuttgart 2009, 2–5: „Jugend und erste Erfolge (1770-1801): Im Spannungsfeld von Katholizismus, Absolutismus, Aufklärung und Französischer Revolution“, sowie die Studien von M. Geck und P. Schleuning, „Geschrieben auf Bonaparte“. Beethovens „Eroica“. Revolution, Reaktion, Rezeption, Reinbek 1989, sowie von J. Caeyers, Beethoven. Der einsame Revolutionär. Eine Biographie, München 2012.

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denfalls war für Beethoven im Jahre 1792, da er als 22jähriger Bonn verließ und auf Einladung Joseph Haydns nach Wien kam, neben dem musikalischen Fortkommen doch auch zugleich ein Aufgeben der relativen politischen Freiheit in Bonn verbunden; als Sympathisant der französischen Revolution hätte Beethoven wohl kaum in Wien einen Lehrer gefunden. Sollte Beethoven dann mit Kompositionen wie vor allem dem „Kriegslied der Österreicher“ von 1797 seine „patriotische“ Gesinnung nach außen hin zeigen, so ist damit gewiss keine grundlegende Abkehr von seinen politischen Idealen im Sinne der Aufklärung und der französischen Revolution gegeben wie auch seine anfängliche, vor allem dann auch musikalisch ausgedrückte Bewunderung für Napoleon Bonaparte zeigt.18 Und genau in dieser für Beethoven gewiss auch „prekären“ Situation sind die wortlosen Variationen für Klavier und Violoncello über das später als Tochter Zion, freue Dich bekannte musikalische Thema aus Händels Oratorien und Ebelings Kantate „Der vierzehnte Julius 1790“ gewiss auch als ein Indiz für sein politisches Bekenntnis zu den Idealen der Aufklärung in dem konservativen Österreich anzusehen. Könnte also die Verwendung gerade dieses musikalischen Themas, um auf das Adventslied Tochter Zion zurückzukommen, auch auf ein verstecktes musikalisch-politisches Credo des Textdichters Ranke hinweisen? Bedenken wir, dass Ranke in dieser Zeit an der nationalen Begeisterung der deutschen Studenten teilhatte und in den Burschenschaften aktiv war, ja dass er nach einem Badeunfall, bei dem er beinahe ertrunken wäre, sich der Turnbewegung Friedrich Ludwig Jahns (1778– 1852) anschloss und ein begeisterter Schwimmer wurde, so ist die Verwendung des musikalischen Motivs in diesem Kontext wohl nicht von der Hand zu weisen.19 Wichtig ist hier auch der Hinweis, dass Ranke dieses Lied für den Erlangener musikalischen Salon von Karl Georg von Raumer (1783–1865), 1813/14 als Kriegsfreiwilliger und Adjutant unter General August Neidhardt von Gneisenau (1760–1831) in den Befreiungskriegen, schrieb (dessen Schwägerin Louise Reichardt (1769–1826) es später veröffentlichte; s. oben), der aufgrund seiner Unterstützung der Alten Breslauer Burschenschaft der Raczeks in Konflikt mit seinem Vorgesetzten geriet und daher einige berufliche Schwierigkeiten in Kauf zu 18 Worauf im Kontext dieser Studie nicht näher eingegangen werden kann. 19 Zu Leben und Wirken von Friedrich Heinrich Ranke s. U. Schwab, Art. Ranke, Philipp Friedrich Heinrich, in: BBKL, Bd.VII 1994, Sp. 1355–1356.

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nehmen hatte. Steht demnach die Tochter Zion bei Ranke gar etwa für die Germania, müssen wir dieses Lied möglicherweise mit ganz anderen als mit andächtig–weihnachtlich gestimmten Ohren hören?20 Dies wäre wohl übertrieben. Doch ist festzuhalten, dass Ranke zeitweise polizeilich observiert wurde und daher zunächst eine Stellung als Lehrer nicht antreten konnte, bevor er viele Jahre später seine Karriere als ein ausgesprochen konservativer protestantischer Oberkonsistorialrat in München beendete. Damals gehörte jedenfalls sein Adventslied noch zu keinem der offiziellen protestantischen Gesangbücher, zunächst fand es offenbar an evangelischen Schulen Verbreitung, wie wir aus einer zeitgenössischen Quelle, den Memoiren eines Musiklehrers und Kollegen von Ranke erfahren.21 Man wird also kaum von der Hand weisen können, dass die Tochter Zion ihrem Ursprung nach auch politische Implikationen, zumindest im wahrsten Sinne des Wortes: Untertöne enthielt, die heute weithin vergessen sind – im Judentum hingegen verläuft die Rezeption dieser Melodie, wie wir noch sehen werden, genau umgekehrt: von einem synagogalen Chanukkalied zu einem zionistischen Kinderlied.

Die Makkabäer – ein historischer Rückblick22 Wie bereits erwähnt, hat Händel das Oratorium Judas Makkabäus als historisches Modell für den Sieg der Engländer über die Schotten gewählt, Ebeling und Beethoven Händels Melodie als Freiheitslieder bzw. musikalische Bekenntnisse zu den Idealen der Aufklärung verstanden, wo20 So die klassische Interpreation des Liedes wie sie etwa auch von Stalmann, „Tocher Zion“, 21, vertreten wird: „Wenn der Vergleich erlaubt ist: Indem Ranke Händels Triumphchor neu textierte und vom Alten ins Neue Testament versetzte, hat er musikalische Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet“. 21 Es handelt sich um Johann Valentin Strebe (1801–1883), der zusammen mit Ranke in Nürnberg unterrichtete: „Hier wurde der schöne Triumphchor aus Judas Maccabäus: ,Seht, er kommt mit Preis gekrönt‘ mit Freuden gesungen und empfing durch den damaligen Lehrer (Friedrich) Heinrich Ranke, später Professor der Theologie in Erlangen und noch später Oberconsistorialrath in München die Textesworte: ,Tochter Zion, freue dich!‘ mit denen es sich nun in Deutschlands evangelischen Schulen eingebürgert hat“; zitiert nach J. V. Strebels posthum veröffentlichtem Manuskript, Ein musikalisches Pfarrhaus, Basel 1886, 21–23. S. auch den Literaturhinweis in Anm. 9. 22 Zum Folgenden s. vor allem P. Schäfer, Geschichte der Juden in der Antike, Tübingen 22010, 56–66.

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hingegen bei Ranke das nationale Pathos der Freiheitskriege mitzuklingen scheint. Jedenfalls hätten die historischen Makkabäer gegen diese Vergleiche mit Sicherheit einiges einzuwenden gehabt. Ihr Kampf steht im Zusammenhang mit der zunehmenden Hellenisierung des Vorderen Orients, die nach dem historischen Sieg Alexanders des Großen über die Perser im Jahre 333 bei Issos einsetzte: d. h. der Vordere Orient kam mehr und mehr unter den Einfluss der griechischen Sprache, der griechischen Kultur und der griechischen Religion. Das folgende Jahrhundert ist geprägt von der Rivalität zwischen den drei Machtzentren, den sog. Diadochenreichen, die sich nach dem Tode Alexanders als Nachfolgestaaten herausgebildet hatten. Zunächst stand Israel (Juda) unter ptolemäischer Herrschaft, deren Zentrum in Ägypten lag, doch vom 2. vorchristlichen Jahrhundert an erlangten die Seleukiden, die Syrer, die Herrschaft über Palästina. Unter dem syrischen Herrscher Antiochus IV. mit dem Beinamen Epiphanes wurde der Hellenisierungsprozess stark forciert. Offenbar gab es damals eine jüdische Hellenistenpartei in Jerusalem, die diesen Prozess vorantrieb: sie wollten den griechischen way of life, nicht den jüdischen. Im ersten Makkabäerbuch, unserer wichtigsten Quelle zu diesen Ereignissen, wird von der Errichtung eines Gymnasions und Ephebeions in der Nähe des Jerusalemer Tempels berichtet. Beide Institutionen sind für die Epoche des Hellenismus grundlegend und markieren die damals einsetzende Umwandlung Jerusalems in eine Polis nach griechischem Vorbild. Nach dem Bericht der Makkabäerbücher sollen es sogar die Priester vorgezogen haben, statt im Jerusalemer Tempel den Altardienst zu versehen, sich an den Kampfspielen im Gymnasion zu beteiligen.23 Dass die Kampfspiele nackt ausgetragen wurden (unser Gymnasium kommt von dem griechischen Wort gymnos = nackt), führte dazu, dass sich manche jüdische Epheben für eine operative Wiederherstellung der Vorhaut entschieden, den sog. Epispasmos.24

23 II Makk 4,12: „Infolgedessen waren die Priester nicht mehr besorgt um die Altardienste; sondern ganz von den neuen Gedanken eingenommen, vernachlässigten sie die Opfer und beeilten sich, an dem ungesetzlichen Spiel auf dem Sportplatz teilzunehmen, wenn das Scheibenwerfen angekündigt war“. 24 Dazu P. Schäfer, The Bar Kokhba Revolt and Circumcision. Historical Evidence and Modern Apologetics, in: Aaron Oppenheimer (Hg.), Jüdische Geschichte in hellenistisch-römischer Zeit, München 1999, 119–132.

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Dieser Hellenisierungsprozess sollte sich jedoch schon bald radikalisieren und erreichte seinen Höhepunkt mit dem von Antiochus Epiphanes verschickten Erlass für Jerusalem und Judäa, der die freie Ausübung der jüdischen Religion per Dekret verbot. Wer fortan seine Kinder beschnitt oder die Tora befolgte und heimlich den Sabbat beging wurde mit dem Tode bestraft. Den Höhepunkt erreichten die Maßnahmen mit der Weihung des Jerusalemer Tempels an den Zeus Olympios, den olympischen Zeus. Damit war natürlich der Lebensnerv des Judentums getroffen und der Widerstand der Kreise, die die schleichende Hellenisierung Jerusalems ablehnten, weitete sich zum offenen Kampf aus, als der Priester Mattathias aus dem Dorf Modiin (der Ort liegt zwischen Tel Aviv und Jerusalem) mit seinen fünf Söhnen (Elazar, Johannes, Jonathan, Juda und Simon) sich dem Befehl zum Götzenopfer widersetzte und dabei einen opferwilligen Juden sowie einen königlichen Beamten tötete und den heidnischen Altar zerstörte. Zentrale Figur wurde Juda, der den Beinamen Makkabi, d. h. der „Hämmerer“ erhielt, womit auf sein militärisches Geschick als Anführer in den kriegerischen Unternehmungen angespielt wird. Am 25. Kislew des Jahres 164 v. Chr. konnte dann der Tempelkult wiederhergestellt werden. Hier also liegt der historische Ort des heutigen Chanukkafestes. Mit der Etablierung der Makkabäerfamilie als der neuen politischen Kraft, die nun auch das Amt des Hohepriesters für sich beanspruchte, waren jedoch nicht alle einverstanden. Dabei agierten die Makkabäer politisch sehr erfolgreich und erlangten seit 142 v. Chr. die volle politische Souveränität. Gerade die Makkabäer (man nennt sie nun auch Hasmonäer), die gegen die Hellenisierung Jerusalems gekämpft hatten, zeigten in dem Moment, da sie die politische Verantwortung trugen, ihrerseits starke hellenistische Tendenzen. Hier liegt vermutlich auch einer der Gründe dafür, dass die wichtigsten historischen Quellen, die beiden Makkabäerbücher, nicht in den Kanon der hebräischen Bibel aufgenommen wurden. Beide Bücher sind also allein durch die christliche Tradition auf uns gekommen. Bei dem zweiten Buch, das nicht die Fortsetzung des ersten darstellt, sondern die Ereignisse der Makkabäerzeit unter einem etwas anderen Gesichtspunkt ein weiteres Mal schildert, liegt dies unmittelbar auf der Hand: Dieses Buch wurde ursprünglich erst gar nicht auf Hebräisch, sondern gleich auf Griechisch verfasst. Doch macht das Sinn? Haben sich die Makkabäer nicht gegen die grie-

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chische Kultur erhoben und nun lassen Makkabäer ihre Propagandaschriften gleich auf Griechisch abfassen? Jedenfalls gab es im damaligen Judentum Parteien, die mit diesem pragmatischen Kurs keineswegs einverstanden waren. Hier dürften auch die Anfänge der QumranEssener liegen, deren Ruinenstätte Chirbet Qumran am Toten Meer vor allem aufgrund der sensationellen Textfunde um die Mitte des 20. Jahrhunderts weltweit berühmt geworden ist. Die Qumran-Essener, die diese Texte verfasst haben, verstanden sich als „Austrittsgemeinde“ – sie zogen sich in die Wüste zurück und warteten auf bessere Zeiten, da der makkabäische „Lügenpriester“ in Jerusalem durch einen Hohenpriester aus der Qumrangemeinde ersetzt werden würde.

Das Chanukka der Neuzeit oder die Einweihung der „modernen Tempel“ Dieser kurze Rückblick auf die makkabäische Erhebung und ihre Folgen lässt sich ohne Schwierigkeiten auf die Moderne übertragen. Im Grunde genommen ging es ja auch damals um eine sehr moderne Frage: Wieweit darf, wieweit muss die Akkulturation, die Angleichung an die Umweltkultur gehen? Wie wir gesehen haben, wurde diese Frage in der Antike vom völligen Aufgehen in der hellenistischen Umweltkultur bis hin zum völligen Rückzug aus ihr beantwortet, wobei es zwischen den Extremen zahlreiche vermittelnde Positionen gab, wie sie etwa auch von den Sadduzäern und Pharisäern eingenommen wurden. Diese Frage stellt sich in der Moderne auf ganz ähnliche Weise von neuem. Doch diesmal ist nicht die Hellenisierung der Anlass, sondern Aufklärung, Revolution und Emanzipation. Aufklärung, Revolution und Emanzipation markieren in der Moderne eine historische Wende, die gerade auch für die Geschichte der Juden fundamentale Veränderungen mit sich gebracht hat und eine ganz ähnliche Herausforderung darstellt wie der Hellenisierungsprozess in der Makkabäerzeit. Wie wir sehen werden, haben dabei sehr verschiedene Strömungen im modernen Judentum für sich in Anspruch genommen, die Makkabäer der eigenen Zeit zu sein. Im Jahre 1791 erhalten die Juden in Frankreich erstmals die volle bürgerliche Gleichstellung. Durch das Eingreifen Napoleons im Westen Deutschlands verbesserte sich auch hier die Rechtslage der Juden. Im Jahre 1812 wurde dann auch in Preußen unter dem Staatskanzler Karl

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August von Hardenberg (1750–1822) ein Edikt erlassen, dass die Juden Preußens „zu Einländern und preußischen Staatsbürgern“ erklärt (es folgten dann im Gesetz auch wieder Einschränkungen, die die neuen Freiheiten beschnitten – etwa der Zugang zum Staatsdienst – bzw. die Möglichkeit zu späteren Repressionen boten). Dadurch, dass das Judentum aus der Isolierung des Ghettos in die europäischen Gesellschaften eintrat, suchte man nun im Judentum zu einer Harmonisierung zwischen der traditionellen Religion und der Umweltkultur zu gelangen. So entstehen in Deutschland reformierte Gottesdienste, die sich in ihrer Ausgestaltung an der Umweltkultur, vor allem am Protestantismus, orientieren. Zuerst 1810 in dem kleinen Städtchen Seesen im Harz unter Israel Jacobson (1768–1828) und 1815 in Berlin, wo Jacobson sein Reformwerk fortzusetzen hoffte. Diese Gottesdienste fanden in Berlin in dem Haus des jüdischen Bankiers Jacob Herz Beer (1769–1825), Vater des berühmten Komponisten Giaccomo Meyerbeer, statt; nebenbei bemerkt: Giaccomo Meyerbeer (1791–1864) komponierte gleich zur Eröffnung des neuen Gottesdienstes ein Halleluja. Zu einem der wichtigsten Neuerungen gehörte neben der Orgel die Einführung der regelmäßigen Predigt, die jetzt an die Stelle der traditionellen Derasha tritt, ja die Predigt war die Hauptattraktion des neuen Gottesdienstes. Aus dieser Berliner Zeit stammt die erste deutschsprachige Chanukkapredigt, die ich habe ausfindig machen können. Prediger ist Eduard Kley (1789–1867), der zusammen mit Siegfried Günzburg (1784–1860) auch das erste jüdische Reformgebetbuch herausgegeben hat und zwar mit dem vielsagenden Titel: „Die Deutsche Synagoge“. Ging es in der Makkabäerzeit um die griechische Sprache und Kultur, so jetzt um die deutsche. Im Vorwort zu diesem Gebetbuch wird denn auch ein hohes Lied auf das Deutsche angestimmt: „Heilig ist die Sprache, in welcher Gott einst unseren Vätern das Gesetz gab … Aber siebenfach noch heiliger ist die Sprache uns, die der Gegenwart gehöret und dem Boden, welchem wir entsproßen sind, deren Töne uns mit jedem Luftzug, den wir athmen, süß entzücken; die Sprache, in welcher die Mutter ihr neugeborenes Kind zuerst begrüßt, in welcher sich das erste Lächeln ihres Säuglings, das stumme Lallen seiner Zunge auflöst.“25

25 Die Deutsche Synagoge, Berlin 1817, XIf.

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In der ersten deutschen Chanukkapredigt, 1815 gehalten und in der Zeitschrift Sulamith, einem der wichtigsten Publikationsorgane der jüdischen Aufklärer publiziert, beschreibt Kley die dunkeln und die hellen Seiten der jüdischen Geschichte, beginnend mit dem babylonischen Exil. Auf die Deportation der Juden nach Babylon folgte schon nach wenigen Jahrzehnten die Erlaubnis zur Rückkehr nach Jerusalem und zum Wiederaufbau des Tempels unter dem Perserkönig Kyros. Die hebräische Bibel nennt daher den Perserkönig Gottes Gesalbten, Messias von hebr. Maschiach. Zu den Schattenseiten der jüdischen Geschichte gehört natürlich auch der syrische Herrscher Antiochus Epiphanes, doch die Makkabäer wenden Israels Geschick wieder zum Guten. Zu den dunkelsten Kapiteln gehören die Verfolgungen des christlichen Mittelalters – und die Neuzeit, die Zeit des Predigers Kley? Hören wir in seine Chanukkapredigt: „Israel ward durch Gott gerettet durch eine ewige Hülfe! Welche frohe Rückerinnerung müssen diese Worte heut in uns erwecken, in uns besonders wecken, die wir in unseren Tagen dieselbe ewige Hülfe unseres Gottes erfahren haben, wie unsere Väter einst zu Cyrus Zeiten; – welche Dankgefühle müssen unser Herz durchströmen, die wir in Friedrich Wilhelm, den Gerechten, den Menschenfreund, unseren Wohlthäter, unseren Cyrus ehren … Israel ward durch Gott gerettet durch eine ewige Hülfe! So rief Jeschajah [Kley bezieht sich hier auf das Prophetenbuch Jesaja, Kapitel 45, Vers 17: ,Israel wird gerettet durch den Ewigen mit ewiger Rettung, ihr werdet nicht beschämt und nicht zu Schanden bis in alle Ewigkeit‘], begeistert von dem Erlösungswerk durch Cyrus. – Israel ward gerettet durch die ewige Hülfe Gottes! unter Friedrich Wilhelm dem Dritten! So rufen wir im Hochgefühl unserer Dankbarkeit und der freudigen Rückerinnerung. – … Was Gott, der Herr, durch Ischajah dem Cyrus hat verkündigt, bewährte er so schön an Friedrich Wilhelm, seinen Gesalbten … Ihr werdet nicht zu Spott und nicht zu Schanden werden bis in Ewigkeit! – O, meine andächtigen Freunde und Zuhörer! Zu welchen frohen Hoffnungen für die Zukunft berechtigen uns diese Worte des Propheten; – mit welcher angenehmen Zuversicht können wir den kommenden Tagen des Friedens und der Ruhe entgegen sehen.“26 26 E. Kley, Predigt. Am Sabbath des Chanuckah-Festes, den 30 Dezember 1815, vor einer Versammlung von Israeliten gehalten, in: Sulamith IV, Band 2, 1812–1815, 331–349, hier 344f. Der vollständige Titel der Zeitschrift lautet: Sulamith. Eine Zeitschrift zur Beförderung der Kultur und Humanität unter den Israeliten. Herausgegeben von David Fränkel, Konsistorialrath und Schuldirektor; diese Zeitschrift war das erste deutschsprachige Organ der jüdischen Aufklärung.

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Der Grundgedanke dieser Predigt, die Lobeshymne auf den preußischen König Friedrich Wilhelm III. (1770–1840), die zugleich die großen Hoffnungen und hohen Erwartungen der deutschen Juden an ihre Zukunft in Preußen zum Ausdruck bringt, findet sich auch in dem ersten deutschen Chanukkalied wieder, das schon in der Seesener Zeit angestimmt wurde und auch in das bereits erwähnte Berliner Gebetbuch „Die Deutsche Synagoge“ aufgenommen wurde.27 Zunächst werden die Taten der Makkabäer beschrieben und danach wendet sich der Gesang der Gegenwart zu28: Du liebst, o Gott, wenn in des Tempels Hallen, sich froh vereinen deines Kinder Schaar, Wenn tausend Lobgesänge zu dir schallen Und bringen dir der Lieder Opfer dar. Hat auch zuweilen deiner Wohnung Stätte ein grenzenloser Glaubenshaß entweiht, Verstummen gleich Gesänge und Gebete, sie ist vorüber die Tyrannenzeit. Und schrecken nicht der Heiden wilde Heere Und kein Antiochus durch Roß und Schwert; Kein Götzenbild befleckt mehr die Altäre, Kein selbstgeformter Gott wird hier verehrt. Einst kröntest du mit Kraft und seltnem Ruhme Des Juda Makkabäer Heldenhand, Er warf aus dem entweihten Heiligthume Die Götzen, die an deiner Statt er fand. Jetzt darf nichts deiner Diener Andacht stören, uns schützen Fürsten voll Gerechtigkeit, Wir können Dich anbeten und verehren Des Tempels Hallen werden nicht entweiht. O möchtest Du, o Gott, zu allen Zeiten, Durch edle Fürsten jedes Land erfreun,

27 Ebd., 95. Das Lied stammt von Jeremias Heinemann (1778–1855) und wurde in seinem im Jahre 1816 in Kassel gedruckten Gesangbuch Religiöse Gesänge für Israeliten, insbesondere das weibliche Geschlecht und die Jugend erstmals veröffentlicht (30f.). 28 Als Melodie wird das Kirchenlied „Sie ist verstummt usw.“ angegeben.

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Die ihre Völker nur mit Duldung leiten; Dann wird auch Israel recht glücklich sein.

Die großen Hoffnungen der Berliner Juden, die bemüht waren, den historischen Makkabäeraufstand auf ihre eigene Situation umzudeuten, wurden jedoch schon bald enttäuscht. Im September 1823 schloss die preußische Regierung den Beerschen Tempel – der von Kley als der Messias der Moderne gepriesene preußische Monarch verordnete, dass allein Gottesdienste „ohne die geringste Neuerung in der Sprache und in der Ceremonie, Gebete und Gesänge, ganz nach dem alten Herkommen“ abgehalten werden durften.29 Offensichtlich trägt diese Verordnung auch die Handschrift der orthodoxen jüdischen Kreise Berlins. Die Hoffnungen der Berliner reformfreudigen Juden, wie sie in der Chanukkapredigt von Kley klar ausgesprochen sind, waren damit zunächst einmal begraben. An anderen Orten in Deutschland konnte die Reform hingegen sogleich Wurzeln schlagen, so vor allem in der Freistadt Hamburg, da es den Hamburger Senat anders als den preußischen Monarchen nicht bekümmerte, wie die Juden ihr Judentum praktizieren wollten. Keine Frage: Auch die Hamburger Reformer beanspruchten nun, die Makkabäer der Moderne zu sein. Wie einst die historischen Makkabäer den Jerusalemer Tempel von einem morschen Heidentum und seinem unmoralischen Kult gereinigt haben, so sei es nun die Aufgabe der Gegenwart, das Judentum von überkommenen Vorstellungen und Bräuchen zu befreien und einen modernen, auf Andacht und Erbauung abzielenden Gottesdienst einzurichten.30 In Europa stritten die Juden für Emanzipation und Integration in die Gesellschaften; die messianischen Hoffnungen werden auf die Gegenwart übertragen – Hoffnungen, die der traditionellen Hoffnung auf die Rückkehr in das Land der Väter widersprechen. Dieses Selbstverständnis des Hamburger Tempelvereins kommt sehr gut in einer Chanukkapredigt aus dem Jahre 1826 von Gott29 S. dazu M. Meyer, „Ganz nach dem alten Herkommen“? The Spiritual Life of Berlin Jewry Following the Edict of 1823, in: M. Averbuch und S. Jersch-Wenzel, Bild und Selbstbild der Juden Berlins zwischen Aufklärung und Romantik, Berlin 1992, 229–243. 30 S. dazu M. Meyer, Antwort auf die Moderne. Geschichte der Reformbewegung im Judentum, Wien u.a., 2000 (Die englische Originalausgabe: Response to Modernity. A History of the Reform Movement in Judaism, erschien 1988 in New York), 89ff., und A. Brämer, Judentum und religiöse Reform. Der Hamburger Tempel 1817–1938, Hamburg 2000.

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hold Salomon (1784–1862) zum Ausdruck, der neben Eduard Kley, inzwischen von Berlin nach Hamburg übergesiedelt, die zweite Predigerstelle bekleidete. Der Hinweis auf die Tochter Zion aus dem Prophetenbuch Sacharja lässt die Hörer natürlich auch an die Verwendung dieses biblischen Bildes in der christlichen Umweltkultur denken – in dem Jahr, in dem Salomon seinen Predigtband veröffentlichte, ist vermutlich auch Rankes Tochter Zion erstmals publiziert worden: „Es solle aber der Glaube an den Ewig Einzigen Gott, der hoch thront und tief schaut, der den Menschen liebt und zu seinem Bilde erkoren und zur Tugend und Ewigkeit berufen hat – dieser Glaube, sage ich, sollte nicht nur für uns, Israeliten, sondern für alle Geschlechter der Erde erhalten, gerettet werden: das war der große Zweck der damaligen Heldenseelen (der Makkabäer)! Indem ich euch nun diesen Zug im Bilde sehen lasse: fordere ich euch … zur Freude auf und zum Danke: frohlocke und jauchze, Tochter Zion, der Heilige Israels, der, dem Du und die Völker der Erde das Knie beuget.“31

Und etwas später kommt Salomon auf die Tempelreinigung der Gegenwart zu sprechen: „Es ist bei Israels religiöser Umbildung freilich viel, sehr viel zu thun; hier weiß man nichts mehr vom Gesetz überhaupt; dort hat aufgehört Sabbath und Festtag; da irren sie umher wie die Schafe, und jeglicher tut, was ihm gut dünkt … wo anfangen! Wo anfangen in dieser Verwirrung? Hier – hier; ,Kommt, laßt uns hinaufziehen und das Heiligthum wieder erbauen und reinigen!‘ Die Gemeinde, die Stadt, wo ein geläutertes Heiligtum steht, da ist der Mittelpunkt der Frömmigkeit … Wehe, wo man es für gering erachtet, einen gotteswürdigen, vernunftwürdigen, israelitenwürdigen, menschenwürdigen Gottesdienst einzurichten! Und mag man sich auch mit äußerster Frömmigkeit noch so sehr brüsten: es ist keine Gottesfurcht an solchem Orte, denn es fehlt an einem Zion, aus welchem die Lehre, an einem Jerusalem, aus welchem das Wort Gottes ausgehen kann und soll.“32

Die Makkabäer der Moderne sind also die Reformer in Hamburg. Wie einst die historischen Makkabäer Jerusalem von einem morschen Hei31 Sammlung der neuesten Predigten, gehalten in dem neuen Israelitischen Tempel zu Hamburg, Hamburg 1826, 167. 32 Ebd., 167f.

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dentum und seinem unmoralischen Kult gereinigt haben, so ist es nun die Aufgabe der Gegenwart, das Judentum von überkommenen Vorstellungen und Bräuchen zu befreien und einen modernen, auf Andacht und Erbauung abzielenden Gottesdienst einzurichten. Die Weihe der Hamburger Reformsynagoge, die nun ganz bewusst Tempel genannt wird, entspricht der Weihe des Jerusalemer Tempels durch die Makkabäer, wie Gotthold Salomon in seiner Chanukkapredigt ausführt. Und dann stellt Salomon ganz direkt die Frage: Wer waren die wahren Helden der Makkabäerzeit? Und seine Antwort klingt erstaunlich modern: „Es waren die Frauen“. Natürlich ist das Frauenbild von Salomon nicht an unserer heutigen Genderperspektive zu messen, es fügt sich jedoch sehr gut in eine Umweltkultur ein, in der die Frauen vor allem in ihrer Verantwortlichkeit für die sorgfältige Erziehung der Kinder gesehen werden. Da in dieser neuen bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr der durch die Geburt erworbene Stand die wesentliche Voraussetzung für materiellen Erfolg war, sondern die persönliche, in eigener Verantwortung erbrachte Leistung, kam der Erziehung und Ausbildung der Kinder eine besondere Bedeutung zu. Die Kinder stehen dadurch auch mehr und mehr im Mittelpunkt des wichtigsten Festes der bürgerlichen Gesellschaft: des Weihnachtsfestes. Und diese Grundhaltung spiegelt sich auch in der Chanukkapredigt von Gotthold Salomon wieder. Die Reform in Deutschland konnte noch sehr viel radikalere Formen annehmen. Im Jahre 1845 trat in Berlin, 22 Jahre nach der Schließung des Beerschen Tempels, die „Genossenschaft für Reform im Judenthum“ zusammen, die bis in die Nazizeit hinein existierte. Einen guten Einblick in das Leben dieser Gemeinde gibt uns der Frankfurter Rabbiner Leopold Stein (1810–1882) nach seinem Besuch in Berlin: „Diese Gemeinde geht in den gottesdienstlichen Reformen unter allen am weitesten. Die Gebete finden nahezu ausschließlich in deutscher Sprache statt; der Gottesdienst wird – es ist dies bisher die einzige Gemeinde der Judenheit, wo solches der Fall ist – mit unbedecktem Haupte abgehalten (d. h. ohne Kippa) … dem sabbatlichen Gebete ist als solchem, da der Gottesdienst allwöchentlich nur einmal und zwar am Sonntag abgehalten wird, kein Ausdruck gegeben … Dagegen ruhen die deutschen Gebete, welche sich fast durchgehends als Uebersetzungen, resp. freie Bearbeitun-

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Klaus Hermann gen dem Hebräischen anschließen, auf wahrhaft jüdischer Basis; ein innig frommer Sinn und warme Liebe zum Judenthum durchwehet dieselben.“33

Der erste Prediger und Rabbiner dieser Gemeinde war Salomon Holdheim (1806–1860), dessen Namen insgesamt für den radikalen Flügel der Reform im Judentum steht. Seine Chanukka-Predigten zielen darauf ab – wie könnte es auch anders sein – die Berliner Reformer als die Makkabäer der eigenen Zeit darzustellen: „(W)ie es in der Bestimmung des jüdischen Volkes lag, die wichtigsten Gedanken des Rechts und der Freiheit für die Menschheit zuerst in sich selber zur volksthümlichen Anschauung und Anerkennung zu bringen und durch Jahresfeste und religiöse Denkmale zu verewigen, so gereicht es gewiß dem Judenthum zur Ehre, daß es vor allen anderen Nationen und Religionen dem Gedanken der Religions- und Gewissensfreiheit eines seiner schönsten Feste geweihet und gewidmet hat: das Chanukkahfest … Uns, meine Freunde, unserem Gottesdienst und dem mit uns für Reform strebenden Gemeinden Israels gebührt die Ehre, dieses schöne Fest des Judenthums zu seiner ursprünglichen würdevollen Bedeutung zurückgeführt und dem religiösen Gedanken der Glaubensfreiheit eine Festfeier neugeschaffen zu haben.“34

Holdheims Gedanken zum Chanukkafest kommen auch deutlich in dem Gebetbuch der Berliner Reformgemeinde zum Ausdruck, in dem zunächst unverhohlen ausgesprochen wird, dass alle Institutionen, für die die Makkabäer aus der Sicht der Berliner Reformgemeinde nur vordergründig gekämpft haben, vor allem natürlich der Tempel samt dem Opferdienst – fast könnte man sagen: Gott sei's gedankt – inzwischen untergegangen sind. Um so mehr komme es nun darauf an, den tieferen Sinn dieses Festes zu erkennen und darin liege die eigentliche Bedeutung von Chanukka für die Gegenwart: „Längst verloren sind die köstlichsten Güter, um die unsere Väter so mutig kämpften; längst gefallen ist das Reich, dessen Macht sie wieder herstellten durch ihren Sieg; weithin zerstreut ist das Volk, dessen Freiheit sie errungen haben durch ihren Kampf, in Trümmer und Asche fiel die Stadt, 33 Bericht über das neue Gebetbuch für die neue Hauptsynagoge zu Frankfurt/M., in: Der Israelitische Volkslehrer 5, Frankfurt a. M. 1855, S 165ff., hier 166f. 34 Neue Sammlung jüdischer Predigten, worunter über alle Feste des Jahres, gehalten im Gotteshause der jüdischen Reform-Gemeinde zu Berlin, Berlin 1852, 219ff.

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in die sie eingezogen in jubelndem Triumphe, und der Tempel Deiner Anbetung, den sie Dir wieder weiheten durch Dankgebet und Opfer, er schauet längst nicht mehr hernieder von den Höhen Zions. Und doch, o Gott, gedenken wir in ungetrübter Freude jenes ruhmvollen Tages. Denn ein köstlicheres Gut, als des Reiches Macht und des Volkes Ruhm, als Jerusalems Glanz und des Tempels Herrlichkeit, ein köstlicheres Gut ist die Lehre Deiner ewigen Wahrheit … sie allein wird bleiben bis zu den letzten Tagen der Menschheit.“35

Die universalistische Deutung des Chanukkafestes wird hier geradezu auf die Spitze getrieben und jedweder nationale Charakter diesem Fest – ganz bewusst – abgesprochen. In dieser Tradition steht nun auch die Deutung des Siegeshymus aus Händels Judas Maccabaeus durch die Wahl des deutschen Textes des hebräischen Gebets „Adon Olam“, d. h. „Herr der Welt“, in dem Gottes Einzigkeit und Größe gepriesen wird – und nicht etwa die Heldentaten der Makkabäer. Wir besitzen von diesem Chanukkalied eine Originalaufnahme, die Ende der 1920er Jahre in Berlin unter Leitung des damaligen Musikdirektors der Reformgemeinde, Dr. Hermann Schildberger (1899–1974), aufgenommen wurde. Schildberger, der 1922 nach dem Studium der Rechtswissenschaften, Philosophie und Musikwissenschaften an den Universitäten Berlin, Frankfurt am Main, Würzburg und Greifswald das erste juristische Staatsexamen erfolgreich abgelegt hatte, wurde 1927 von der Jüdischen Reformgemeinde zum Chordirigenten berufen. In ihrem Auftrag erstellte er in den Jahren 1928 und 1929 eine musikalische Liturgie der Reformgemeinde, die er, finanziert durch den Verleger Hans LachmannMosse (1885–1944), mit prominenten Künstlern wie Gertrud Baumann, Paula Lindberg (1897–2000), Frederick Lechner (1904–1984), Hermann Schey (1885–1981) und, vor allem, Joseph Schmidt (1904–1942) auf Schallplatten aufnehmen ließ; im Jahre 1997 konnten diese Aufnahmen vom Beth Hatefutsoth, dem Nahum Goldmann Museum of the Jewish Diaspora in Tel Aviv, nach umfangreichen digitalen Editionsarbeiten veröffentlicht werden.36 Im März 1939 emigrierte Schildberger mit seiner 35 Gebetbuch für jüdische Reformgemeinden. Erster Theil: Allwöchentliche Gebete, Berlin 1852, 161 (erstmals veröffentlicht in der Ausgabe von 1848). 36 Die Musiktradition der Jüdischen Reformgemeinde zu Berlin, Tel Aviv 1997 (Lieder der jüdischen Reformgemeinde zu Berlin aus der Zeit bis zur Vernichtung ihrer Menschen durch die Nationalsozialisten in den 1930er-Jahren. 2 CDs mit einem umfangreichen Begleitbuch

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Frau Ilse (geb. Wolff) und seinem Sohn Michael nach England, wo ihm eine Stelle als Musikdirektor einer liberalen Synagoge in Australien angeboten wurde. Nach seiner Übersiedlung nach Melbourne übernahm Schildberger diese Stelle am Temple Beth Israel in St. Kilda, die er bis zu seinem Tod im Jahre 1974 bekleidete. Herr der Welt – Adon Olam Chor:

Amen!

Herr der Welt, Er hat regiert Von der Zeiten Anbeginn. Seit die Schöpfung ward vollführt, Wandelt sie nach Seinem Sinn. Wenn das All in Nichts vergeht, Seine Allmacht bleibt allein. Wie Er war in Majestät, Ist und wird Er ewig sein. Anfang, Ende hat Er nicht, Sein ist Macht und Herrlichkeit. Er ist der Erlösung Licht, Fels und Schutz in Prüfungszeit. Wenn mein Mund Ihn flehend preist, Ist Er heil mir, Strahl des Lichts. Ihm befehl' ich Leib und Geist. Gott mit mir, ich fürchte nichts.37

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts begannen sich Grundstrukturen eines liberalen Gottesdienstes herauszubilden, der sich immer weniger von der protestantischen Umweltkultur beeinflusst zeigte. Auch in der synagogalen Musik spiegelt sich diese Entwicklung wieder. Im musikalischen Bereich war der Einfluss dieser Umweltkultur zu Beginn der jüdischen Reformbewegung besonders stark zu spüren; späterhin sollte dann auch die radikale Reformgemeinde in der Johannisstraße dieser musikalischen Neuorientierung mehr und mehr folgen. Diesen nun stattfindenden Paradigmenwechsel umschreibt der seit 1866 an der Neuen Synagoge zu in Deutsch, Englisch und Hebräisch); s. vor allem die historische Einführung in dem Begleitbuch zu den beiden CDs, 4f. 37 Ebd., 65.

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Berlin wirkende Komponist Louis Lewandowski (1821–1894), der die musikalische Ausgestaltung des modernen jüdischen Gottesdienstes bis in die Gegenwart nachhaltig beeinflusst hat, im Vorwort zu seinem musikalischen Werk Kol Rinah U-t'ffilah. Ein- und zweistimmige Gesänge für den israelitischen Gottesdienst wie folgt: „Die grossen christlichen Meister auf dem Gebiete der Kirchenmusik, Bach und Händel haben den Versuch nicht gemacht, neue GemeindeChoralmelodien zu erfinden. Jene Herren hingegen haben mit einer beispiellosen Schamlosigkeit und Leichtfertigkeit, ohne jede Begabung und ohne musikalische Kenntnisse, die Gemeinden durch ihre trivialsten Weisen beglückt, und es gehört schon jetzt von Seiten derjenigen Vorbeter und Gemeinden, die durch ein redliches Streben bemüht sind, den israelitischen Gottesdienst von allem Gemeinen zu befreien, alle Energie dazu, diese Melodien für alle Zeit aus dem Gotteshause zu entfernen.“38

Gewiss ein sehr polemisches Statement gegen die kritiklose Übernahme protestantischer Gottesdienstästhetik in der frühen Phase der Reformbewegung, der Lewandowski den traditionellen rezitativischen Synagogengesang in seinem eigenen Schaffen – vergleichbar dem von Bach und Händel im Bereich der Kirchenmusik39 – entgegensetzte. Ein schönes Beispiel für Lewandowskis Rückbesinnung auf traditionelle Synagogenmelodien sind gewiss auch seine Vertonungen des sog. Hallel-Gebetes, d. h. der liturgischen Verwendung von Psalm 113–118 an den großen Feiertagen im Synagogengottesdienst.40 Auch an Chanukka wird das vollständige Hallel-Gebet morgens beim Gottesdienst gesungen. Wer nun dieses Hallel in einer Aufnahme mit dem weltberühmten Berliner Kantor Estrongo Nachama (1918–2000) und dem RIAS Kommerchor hört,41 wird erstaunt feststellen, dass die Vertonung der Verse von Ps 38 Berlin 1871, Vorwort (o.S.). Zu Louis Lewandowski s. S. Nemtsov, H. Simon (Hg.), Louis Lewandowski. „Liebe macht das Lied unsterblich“, Berlin 2011. 39 Diesen Eindruck vermittelt zumindest obiges Zitat von Lewandowski. 40 S. Lewandowski, Todah U‘simrah. Vierstimmige Chöre und Soli für den israelitischen Gottesdienst mit und ohne Begleitung der Orgel. Zweiter Theil: Festgesänge, Berlin 1876, 51–55 (No. 26–29). 41 „Es tönt von der Erde zum Himmel empor.“ Gebetsgesänge für die Neue Synagoge. Oberkantor Estrongo Nachama und der RIAS Kammerchor unter der Leitung von Uwe Gronostay; Orgel Harry Foss, Bestell Nr. CD 66.2118. Estrongo Nachama stammte aus Thessaloniki in Nordgriechenland; er wurde 1943 von dort nach Auschwitz deportiert und Anfang 1945 auf einem der Todesmärsche von der Sowjetarmee befreit.

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118,17-24 „Lo omuss, ki echjeh“ („Ich werde nicht sterben, sondern leben“; hier nach der aschkenasischen Aussprache wiedergegeben wie sie sich bei Lewandowski findet) mit der bekannten Melodie des Siegeshymnus aus Händels Judas Maccabäus (See, the conqu’ring hero comes! bzw. Tochter Zion, freue dich) unterlegt ist und zwar ab Vers 21: „Od’cho ki anissoni“ („Ich danke dir, dass du mich erhört hast“). Estrongo Nachamas Interpretation folgt genau Lewandowskis Todah W’simrah bis zu eben diesem Vers,42 danach Händels Siegeshymnus. Der Übergang von No. 27 „Se haschschaar la-donoj“ („Das ist das Tor des Herrn“) passt sehr gut zu diesem Wechsel, das Händel-Stück ist aber offenkundig erst später in Lewandowskis Hallel eingefügt worden. Bisher konnte ich nicht eruieren, wann und wo dies geschehen ist. Es spricht jedoch vieles dafür, dass es sich hier um eine Berliner Tradition handelt, die möglicherweise mit dem katholischen Organisten Artur Zepke (1892–1973) im Zusammenhang steht, der vor der Shoa an der Neuen Synagoge (von 1924 bis 1935) und dann nach 1945 an der Synagoge Pestalozzistraße den Synagogen-Gottesdienst als Organist und Chorleiter begleitet und eben damals bis zum Jahre 1971 intensiv mit Estrongo Nachama zusammengearbeitet hat.43 Die Bearbeitung spiegelt auf jeden Fall die Popularität von Händels Siegeshymnus bzw. von Rankes Tochter Zion in der christlich geprägten Umweltkultur wieder, die dann auch auf die musikalische Gestaltung des Synagogen-Gottesdienstes ausgestrahlt hat. Gewiss ist diese Bearbeitung von Lewandowskis Hallel ein schönes Beispiel für die seiner Musik selbst innewohnenden Interkonfessionalität, wie Andreas Nachama sehr treffend formuliert hat: „Und noch heute, für uns Nachgeborene, hat Lewandowskis Kunst eine Brückenfunktion: Sie bereichert einerseits die traditionelle jüdisch-religiöse Musik durch abendländische Formen, Figuren und Besetzungen, und auf der anderen Seite befördert sie durch ihre Arrangements tradierter jüdischer Themen eine Popularisierung des jüdischen Gesanges auch in den Umgebungsgesell-

42 D. h. bis No. 27 in Lewandowskis Todah W’simrah; ab No. 28 (S. 52) folgt dann der Siegeshymnus. 43 Ich danke Professor Sascha Nemstov vom Institut für Musikwissenschaft der Weimarer Musikhochschule und der Friedrich-Schiller-Universität Jena für seine hilfreichen Hinweise in dieser Frage. S. auch T. Frühauf, Orgel und Orgelmusik in deutsch-jüdischer Kultur, Hildesheim 2005, 57, 96–98; zur Biographie von Artur Zepke s. 309f.

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schaften. Wenn es je eine deutsch-jüdische Symbiose gegeben haben sollte, was träfe auf sie besser zu als Lewandowskis Musik?“44

Chanukka in orthodoxer Sicht oder ein Plädoyer für ein traditionelles Fest Selbstverständlich ist die Vereinnahmung der Makkabäer durch die jüdischen Reformer unterschiedlichster Couleur für ihre eigenen Ziele und Ideen sowie die zunehmende Beeinflussung des Chanukkafestes durch das christliche Weihnachtsfest von orthodoxer Seite schon bald heftig kritisiert worden. Nun taucht auch der „Weihnukka“-Begriff immer häufiger auf, bei dem natürlich ein ironischer Unterton mitschwingt. Die Behauptung der Reformer, die modernen Erben der Makkabäer zu sein, konnte man nur als Verdrehung der historischen Tatsachen bewerten, hatten sich doch gerade die antiken Makkabäer gegen die Hellenisierung des Judentums und damit gegen den damaligen Akkulturationsprozess gestellt. So wird auf orthodoxer Seite immer wieder der Vorwurf erhoben, die Reformer selbst seien die Hellenisten der Moderne, die das Judentum zugunsten zeitgenössischer Ideen nur allzu gerne aufzuopfern bereit wären. Und dagegen müsse man wie zu Zeiten von Judas Makkabäus kämpfen. Diesen Standpunkt vertrat in Berlin Michael Sachs (1808–1864), der an der Berliner Hauptsynagoge in der Heidereutergasse und nicht etwa an einer „modernen“ Orgelsynagoge tätig war. Anders als die Reformrabbiner sah sich Sachs nicht vor die Notwendigkeit gestellt, zu beweisen, wer die wahren „modernen Makkabäer“ sind. Um so wichtiger war es für ihn, gerade im Blick auf die Reformbestrebungen in Deutschland, seine Gemeinde an die traditionelle Pflichterfüllung zu erinnern, wozu auch das Anzünden der Chanukkalichter gehört. In einer in Berlin gehaltenen Predigt weist Sachs auf den Babylonischen Talmud hin, in dem die Weisen Israels die Frage stellen: „Was ist Chanukka?“ So ist bei Sachs der traditionelle Segensspruch beim Anzünden der Kerzen der Ausgangspunkt seiner Predigt:

44 So im Booklet zu der in Anm. 41 geannten CD von Estrongo Nachama (o.S.).

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Das Anzünden der Chanukkalichter ist dann auch der Zielpunkt der Predigt, wobei dieser Brauch auf die traditionelle Gebotserfüllung insgesamt hinweise: „Und auch wir, indem wir alljährlich der Väter Brauch ehren und befolgen, mahnen uns selber an die Pflicht, die Helle und den Glanz der Erkenntnis und Überzeugung uns zu gewinnen, in dem Heiligthum des Herrn Licht und Wahrheit zu gründen, in den Gemüthern der Jugend den Gottesfunken der Liebe und Treue für die Lehre Israels zu entzünden! [es folgt ein Zitat aus dem wichtigsten Talmudtext zu Chanukka, der zunächst auf Hebräisch vorgetragen und danach übersetzt wird] ,Wer auf die Lichte am Chanukka hält, deß Kinder werden Weise und Gesetzeskundige‘ (Shabb.23b)“.46

Diese traditionelle Auffassung von Chanukka, an die Sachs in seiner Predigt erinnert, ist natürlich weit entfernt von den hochfliegenden Visionen der Reformer. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass Sachs blind für die Probleme der eigenen Zeit gewesen wäre. Ganz im Gegenteil. Sehr kritisch sieht er in dieser Chanukkapredigt die gegenwärtige Situation der Juden in Preußen und warnt davor, den gegenwärtigen Antisemitismus zu unterschätzen: „Die Stellung Israels ist denn doch immer die der Zurückgesetzten, mit scheelem Blicke Angesehenen; es ist noch immer das alte Vorurtheil und der alte Bruderzwist, der ungesühnt und ungestillt hier und da auftaucht, da und dort noch gar nicht entschwunden ist! Ihr habt es selbst noch erfahren und lernen können, daß der Wahn des Mittelalters, von der ihrer Erleuchtung sich rühmenden Welt nicht ganz sei abgethan; ihr habt es zu 45 M. Sachs, Predigten. Aus dessen schriftlichen Nachlaß herausgegeben von Dr. David Rosin, Bd. I, Berlin 1867, 152. 46 Ebd., 157.

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eurem eignen Erstaunen erlebt, daß hie und da die neue Zeit sich nicht schämt, von der alten, vergangenen – bodenlose Lügen und niederträchtige Verleumdungen auf Borg zu nehmen und, so lange sie brauchbar sind und tauglich, sie gelten zu lassen. Ihr habt es nicht vergessen, – denn ihr könnt es nicht vergessen, ihr werdet täglich daran erinnert, – daß es noch lange währen wird, eh' die Sonne des Heils überall wird aufgegangen sein ... Das lernet von der Vergangenheit; dafür seien uns die Hasmonäer (die Makkabäer) erhellende, leuchtende Vorbilder, – Vorbilder edlen, heiligen Wollens und ernsten Ringens! Sie setzten sich selber ein, um ihren Brüdern Alles zu gewinnen; darum waren sie siegreich und kräftig.“47

Die bei Sachs positive Deutung des traditionellen Chanukkafestes wird nun in orthodoxen und konservativen Publikationsorganen mehr und mehr mit Polemiken gegen die zunehmende Assimilierung verbunden, in der man vor allem eine Sinnentleerung des eigentlichen Festes sah. Parallel zur Säkularisierung der modernen europäischen Gesellschaften wurden jüdische Feste in vielen Berliner jüdischen Familien nur noch marginal oder gar nicht mehr gefeiert oder, wie im Falle von Chanukka, durch das Weihnachtsfest ersetzt.

Weihnachten und Chanukka als deutsch-nationale Feste Schon die erste erhaltene Chanukkapredigt in deutscher Sprache von Eduard Kley hat starke patriotische Gefühle erkennen lassen. Nationale Deutungen sollten seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts verstärkt das Chanukkafest beeinflussen. Infolge des deutsch-französischen Krieges und der Reichsgründung von 1871 zeigte sich eine zunehmende nationale Deutung und Inanspruchnahme des Weihnachtsfestes, das nunmehr weniger als ein christliches Familienfest dafür jedoch umso mehr als ein deutsch-nationales Fest verstanden wurde. Zum signifikantesten Symbol der deutschen Weihnacht wurde der Weihnachtsbaum. Diese politische Instrumentalisierung des Weihnachtsfestes hat sich unmittelbar auf das Selbstverständnis der deutschen Jüdinnen und Juden ausgewirkt. Die deutschen Juden verstanden sich als Deutsche wie ihre nichtjüdischen Mitbürger und als solche nahmen sie auch an einer „Deutschen Weihnacht“, einem Fest scheinbar jenseits sozialer, religiöser oder regionaler Differenzen, teil. Je mehr das Weihnachtsfest als deutsch47 Ebd., 155–157.

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nationales Fest verstanden wurde, desto mehr wurde Chanukka von Juden, die genauso deutsch-national dachten wie ihre nichtjüdischen Mitbürger, in diesem Sinne umgedeutet oder ganz durch das Weihnachtsfest ersetzt. Für die deutsch-nationale und patriotische Deutung des Chanukkafestes lassen sich dann vor allem Beispiele aus der Zeit des ersten Weltkrieges finden. Victor Klemperer (1881–1960) hat den HurraPatriotismus, der fast die gesamte deutsche Bevölkerung zu Kriegsbeginn erfasst hatte, in seinem Curriculum Vitae mit feiner Ironie auf den Punkt gebracht und zwar dort, wo er aus dem Leben der jüdischen Berliner Reformgemeinde, in der sein Vater Wilhelm Klemperer (1839–1912) als Prediger gewirkt hat, berichtet. Ein Kollege seines Vaters, Moritz Levin (1843–1914), von Victor Klemperer als ein „großer, prälatenhaft schwerer Mann“ charakterisiert, in seinen Predigten durch und durch Moralist, im privaten Leben als angehender Fünfziger in zweiter Ehe mit einem „ganz jungen Mädchen“ und zweijährigem Sohn, hatte die gewiss ehrenvolle Aufgabe im ersten Kriegswinter 1914 zu Chanukka zu predigen: „Er hatte die kämpfenden Deutschen den Makkabäern verglichen und um so leidenschaftlicher gesprochen, als überviele Söhne der kleinen Reformgemeinde im Felde standen. [Ihre Ehrentafel der Gefallenen verzeichnete später dreiundsechzig Namen] Levin wurde mitten im Satz vom Schlag getroffen und rollte tot von der Kanzel. Es gab eine Panik und mehrere Ohnmachten. Das Ganze paßte gar nicht zu dem rationalen und kultivierten Wesen der Reformgemeinde, auch gar nicht zu Dr. Levins ziviler und außeramtlicher Verhaltensweise.“48

Entspricht der patriotische Predigtton der allgemeinen Stimmungslage im deutschen Kaiserreich zu Beginn des ersten Weltkrieges, so lassen sich bei den „deutsch-nationalen“ Makkabäern zudem besondere Untertöne und zwar besonders optimistische heraushören. Angesichts der gemeinsamen Aufgabe aller Deutschen sah man endlich alle Stolpersteine auf dem Weg zu einer vollständigen Integration der deutschen Juden aus dem Wege geräumt verbunden mit der Hoffnung, der Antisemitismus werde nun deutlich nachlassen. Schließlich hatte sich der Kaiser höchstpersönlich zu Kriegsbeginn in seiner berühmten Balkonrede antisemitische Ausfälle verbeten und sich das Militär vollends jüdischen Kandi48 Curriculum Vitae. Erinnerungen 1881–1918, Bd. 1, Hg. von W. Nowojski, Berlin 1996, 116.

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daten geöffnet. Der weitere Verlauf des ersten Weltkrieges sollte jedoch schon bald genau das Gegenteil bewirken. Der Stellungskrieg mit all seinem Elend verlangte nach einem Sündenbock und dieser war schnell gefunden: Die im Jahre 1916 durchgeführte sogenannte Judenzählung sollte „jüdische Drückebergerei“ ans Licht bringen, doch genau das Gegenteil kam bei der Zählung heraus. Dieses für die deutschen Juden sehr positive Ergebnis wurde jedoch nicht veröffentlicht, worauf eine neue Welle der antisemitischen Agitation einsetzte.

Die sportbegeisterten Makkabäer der Moderne War mit der Reichsgründung im Jahre 1871 die rechtliche Gleichstellung der Juden in Deutschland vollzogen, zumindest auf dem Papier, so sah doch die Wirklichkeit ganz anders aus. Gerade das zweite Reich, das deutsche Kaiserreich, steht für einen immer virulenter werdenden Antisemitismus. Bei vielen Juden machte sich daher ein Gefühl des Nichtdazugehörens breit, das sich mehr und mehr in einer inneren Unsicherheit niederschlug. Damit zusammen ging ein neu erwachtes jüdisches Nationalbewusstsein, das auf der Idee des nationalen Zusammenhalts aufgrund gemeinsamer Sprache und Geschichte, Religion und Institutionen beruht. In diesem Kontext werden die Makkabäer nun zu den Hoffnungsträgern des Judentums in einer judenfeindlichen Umweltkultur. Diese Atmosphäre spiegelt sehr gut Theodor Herzls Reflexionen über das Chanukkafest aus dem Jahre 1897 wieder, aus dem Jahr des ersten Zionistenkongresses in Basel und zwei Jahre nach seinem eingangs zitierten Tagebucheintrag über das Anzünden des Weihnachtsbaumes am 24. Dezember in seiner Wiener Wohnung: „Es war ein Mann [es handelt sich hier um eine autobiographische Skizze von Herzl], … der hatte das Fest, welches die wunderbare Erscheinung der Makkabäer durch so viele Jahrhunderte mit dem Glanze kleiner Lichter bestrahlte, vorübergehen lassen, ohne es zu feiern. Nun aber benützte er diesen Anlaß, um seinen Kindern eine schöne Erinnerung für kommende Tage vorzubereiten. In diese jungen Seelen sollte früh die Anhänglichkeit an das alte Volkstum gepflanzt werden. Eine Menorah (d. h. ein Chanukkaleuchter) wurde angeschafft, und als er diesen neunarmigen Leuchter zum erstenmal in der Hand hielt, wurde ihm eigentümlich zu Mute … Die erste Kerze wurde angebrannt und dazu die Herkunft des

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Herzls Reflexionen über das Chanukkafest weisen deutlich auf die Bedeutung hin, die die Makkabäer im Zionismus dann ganz allgemein spielen sollten, denn jetzt nehmen die Zionisten für sich in Anspruch, die wahren Makkabäer der Moderne zu sein. So werden sehr verschiedene Aktivitäten der zionistischen Bewegung mit den Makkabäern verbunden, organisatorische, publizistische und, vor allem, sportliche. Der erste jüdische Berliner Sportverein trägt zwar den Namen eines anderen Nationalhelden: Bar Kochba (heute heißt der jüdische Sportclub in Berlin Makkabi), doch schon die erste Turnerzeitschrift wird „Der Makkabi“ genannt und auch der jüdische Pfadfinderbund trägt den Namen des antiken Helden. In der Folgezeit legten sich zahlreiche jüdische Sportvereine den Namen „Makkabi“ zu. Im Jahre 1921 auf dem XII. Zionistenkongress in Karlsbad wurde dann der Makkabi-Weltverband gegründet, der als Dachorganisation der jüdischen Turnvereine fungierte. 1932 fand in Tel Aviv die erste jüdische Olympiade statt, die Makkabiade, und diese Tradition lebt bis heute fort.50 Doch macht das alles Sinn? Waren die historischen Makkabäer nicht entschiedene Gegner des olympischen Zeus und jetzt wird die jüdische Olympiade nach ihnen benannt? Natürlich wurde von orthodoxer Seite diese jüdisch-säkulare Kultur sehr 49 Th. Herzl, Die Menorah, zuerst erschienen in: Die Welt, 1897, Nr. 31, 1ff. 50 S. dazu M. Brenner, R. Gideon (Hg.), Emanzipation durch Muskelkraft. Juden und Sport in Europa, Göttingen 2006 sowie die Monographie von E. Friedler, Makkabi chai – Makkabi lebt. Die jüdische Sportbewegung in Deutschland 1898–1998, Wien 1998. Zur Rolle der Frauen in der zionistischen Sportbewegung s. T. Or, Vorkämpferinnen und Mütter des Zionismus. Die deutsch-zionistischen Frauenorganisationen (1897–1938), Frankfurt a. M. 2009, besonders Kapitel 3: „Bewegungsräume von Frauen – die Erfindung der ‚Muskeljüdin‘”, 95ff.

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kritisch gesehen, zumal ja tatsächlich – wie etwa im Bereich des Sports – Wertvorstellungen aufgenommen wurden, die schon mit der Hellenisierung zur Zeit des Zweiten Tempels verbunden waren und nun im Kontext des modernen europäischen Griechenideals von neuem Eingang ins Judentum fanden. Und ausgerechnet die Makkabäer, die gegen die Kultur des hellenistischen Gymnasiums gekämpft hatten, mussten nun für das Ideal körperlicher Stärke einer durchtrainierten jüdischen Jugend herhalten.

Chanukka in der Nazizeit Das im Zionismus neu entstehende Makkabäerbild eines selbstbewussten, stolzen und wehrhaften Judentums sollte dann vor allem in der Nazizeit eine wichtige Rolle spielen. Der nun einsetzenden politischen und physischen Bedrohung sowie erneuten Ghettoisierung des Judentums werden die Makkabäer als Widerstandskämpfer und Hoffnungsträger für die Zukunft entgegengesetzt. In Alfred Auerbachs (1873–1954) Bühnenspiele für jüdische Feierstunden aus dem Jahre 1936, zu denen auch Makkabäerspiele gehören, wird angesichts der äußeren Bedrohung das humanitäre Erbe des Judentums entgegengesetzt. Schon im Vorspann zu einem Makkabäerspiel heißt es: „Dieses Spiel erfaßt die alten Berichte von den Makkabäern, es geht zu den Taten stiller Helden des Mittelalters über und erreicht die Leidträger unserer Zeit und die jüdischen Wegweiser, die den inneren Tempel wiederaufrichteten, den des Glaubens an uns und unsere Sendung“51. Auerbach war bis 1933 Intendant am Stuttgarter Theater; infolge der nationalsozialistischen Gesetzgebung wurde er entlassen. Der Berliner Rabbiner Manfred Swarsensky (1906–1981) legte seinem Chanukka-Buch, das 1939 als Dankgabe an die Spender der Jüdischen Winterhilfe Berlin verteilt wurde, vor allem eine tröstende und ermutigende Intention zugrunde. Die Zeichnungen zu diesem Bändchen stammen von Otto Geismar (1873–1956), der von 1904 bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1936 an der Knabenschule der Berliner Jüdischen Gemeinde in der Großen Hamburger Straße als Zeichenlehrer wirkte. Diese Zeichnungen nehmen unmittelbar auf das aktuelle Geschehen Bezug. Hier tritt der Syrerkönig 51 Bühnenspiele für jüdische Feierstunden, Frankfurt a. M. 1936, 22–29, hier 22.

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Antiochus Epiphanes mit dem römischen Gruß auf und ordnet die Plünderung des Tempels an. Für jüdische Kinder war dies ein direkter Hinweis auf die schrecklichen Ereignisse vom November 1938 und die Zerstörung der Synagogen in der Reichspogromnacht. Aus dieser Zeit stammen auch zahlreiche zionistische Schriften, die für das Leben und die Aufbauarbeit in Palästina werben und deutsche jüdische Jugendliche auf die Übersiedlung vorbereiten wollen. So lässt Salo Böhm in seinem 1935 in Berlin erschienenen Buch Helden der Kwuzah, d. h. „Helden des Kollektivs“, seine Helden bei einem ihrer Streifzüge in der Nähe einer neu gegründeten landwirtschaftlichen Siedlung in einem unterirdischen Labyrinth ein historisches Waffenlager der Makkabäer entdecken – die Makkabäer fungieren hier als die historischen Vorbilder für die jungen jüdischen Pioniere der Gegenwart.52 Hoffnung und Optimismus in einer Zeit der Verfolgung und Ghettoisierung werden in einem 1940, nicht mehr in Deutschland, sondern in der Schweiz veröffentlichten Chanukka-Büchlein auf die Formel gebracht: „Ein Volk, das solche Makkabäer hervorbrachte, kann nie untergehen“. Für uns haben all diese Worte heute eine sehr beklemmende Wirkung, da wir wissen, dass die Hoffnung auf ein „Chanukka-Wunder“ durch Vertreibung, Verschleppung und systematische Vernichtung der Juden in Europa ein jähes Ende gefunden hat. Selbstverständlich hat der Holocaust, die Shoa und dann die Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 zu einem radikalen Überdenken der als Ohnmacht empfundenen Situation der Juden in der Nazizeit geführt, und zwar in allen Strömungen und Richtungen des modernen Judentums, ganz gleich ob orthodox, konservativ, liberal oder säkular. Vor diesem Hintergrund ist es nur allzu verständlich, dass heute die Makkabäer im Judentum und ganz besonders im modernen Staat Israel eine wichtige und identitätsstiftende Rolle spielen und für Prinzipien wie Selbstachtung, Selbstbewusstsein, Solidarität und Selbstverteidigung stehen. So bringen heute Sportler in Israel zu Beginn des Chanukkafestes das Licht aus Modiin, der Heimat der Makkabäer, an öffentliche Plätze des Landes, vor allem auch zum Präsidentenpalast in Jerusalem wie überhaupt die wichtigen öffentlichen Gebäude in Israel mit einer Chanukkia, einem Chanukkaleuchter, geschmückt sind. Mehrere der wichtigsten israelischen Fußballclubs tragen 52 Helden der Kwuzah. Ein jüdisches Jugendbuch mit vielen Bildern von Heinz Wallenberg, Berlin 1935, 24ff., hier 26.

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den Namen des antiken Helden (und nebenbei bemerkt auch das bekannteste israelische Bier), so Maccabi Tel Aviv, Maccabi Haifa, Maccabi Petach-Tikva oder Maccabi Netanya – und ihre Meisterschaftsspiele finden – für die Orthodoxen seit je ein besonderer Stein des Anstoßes – am Sabbat, dem jüdischen Ruhetag, statt. In den Makkabäerbüchern heißt es hingegen, dass sich die Frommen anfangs am Sabbat eher töten ließen als den Hellenisten Widerstand zu leisten, um nur nicht die Sabbatruhe zu verletzen.53 Die historischen Makkabäer hätten daher einiges gegen die Verwendung ihres Namens beim Fußballspiel am Sabbat zu sagen gehabt – jedenfalls dürften sie dagegen nicht weniger einzuwenden gehabt haben als gegen ihre Inanspruchnahme für ein weithin assimiliertes deutsches Judentum mit Weihnachtsbaum, das die Makkabäer zu den Vorkämpfern der Ideale der Aufklärung und Emanzipation oder auch zu deutsch-nationalen Patrioten hochstilisiert hat. Die Frage, wer zu Recht oder zu Unrecht die Makkabäer für sich beansprucht hat, ist für unseren Zusammenhang natürlich irrelevant. Für uns heute ist die Inanspruchnahme der Makkabäer durch sehr verschiedene Richtungen des deutschen Judentums, die alle ihre modernen Erben zu sein behaupteten, Ausdruck eines einzigartig reichen jüdischen Lebens in Deutschland, das durch den Nazi-Terror ein jähes Ende gefunden hat. Das moderne, zionistisch geprägte Verständnis von Chanukka lässt sich musikalisch sehr schön an der Adaption von Händels Siegeshymnus aus dem Judas Maccabäus seitens des bekannten israelischen Kinderbuchautors Levin Kipnis zeigen. Levin Kipnis wurde 1894 in der Ukraine geboren und wanderte bereits im Jahre 1913 nach Palästina aus. Anfang der 20er Jahre hielt er sich zu Studienzwecken in Berlin auf; seine frühen Kinderbücher und Liedsammlungen wurden damals teilweise auch von deutsch-jüdischen Verlagen gedruckt.54 Kipnis starb 1990 im biblischen Alter von 96 Jahren. Im Jahre 1936, also noch vor der Staatsgründung Is53 Eine gute Einführung in die unterschiedlichen modernen Adaptionen von Chanukka mit vielen aktuellen Bezügen und sehr anschaulichem Bildmaterial bietet der von C. Kugelmann herausgegebene Katalog zur Ausstellung Weihnukka. Geschichten von Weihnachten und Chanukka, Berlin 2005, die vom Oktober 2005 bis zum Januar 2006 im Jüdischen Museum Berlin stattfand. 54 Hingewiesen sei auf seine 1923 im Frankfurter Omanut-Verlag erschienene Liedsammlung ‫הספר‬-‫הילדים ולבית‬-‫ זמירות ומשחקים לגן‬:‫מחרזת‬, in der sich das heute sehr bekannte KinderChanukkalied zum Dreidlspiel Sewiwon sow sow sow findet; Hawa narima ist hier noch nicht enthalten.

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raels und zu einer Zeit, da die Verfolgung der deutschen Juden immer offenkundiger wurde, verfasste er das zionistische Kinderlied Hawa narima, das heute im Judentum weltweit zu Chanukka gesungen wird, verbunden mit der Hoffnung auf eine friedvolle und sichere Zukunft.55 Gerade in diesen Jahren vor der israelischen Staatsgründung wurden viele bekannte Melodien seitens israelischer Liederschreiber und -texter adaptiert: „Classical melodies were frequently used in the early Hebrew song repertoire (until the 1940s), especially since the number of original Israeli melodies was small“.56 Levin Kipnis (1894–1990), Hawa narima Wohlan, lasst uns erheben Fackel und Banner Gemeinsam lasst uns singen Das Chanukkalied.

Hawa narima Nes wa'awuka Jachad po naschira Schir ha'chanukka

‫הבה נרימה‬ ‫נס ואבוקה‬ ‫יחד פה נשירה‬ !‫שיר החנכה‬

Makkabäer sind wir Wir haben die Fahne hoch gehisst Gegen die Griechen kämpften wir Und unser war der Sieg!

Makabim anachnu Diglenu ram nachon Ba'jewanim nilchamnu Welanu ha'nizchon

‫מכבים אנחנו‬ ‫ נכון‬,‫דגלנו רם‬ ‫ביונים נלחמנו‬ !‫ולנו הנצחון‬

Blume an Blume Einen großen Kranz lasst uns binden Für das Haupt des Siegers Makkabi, den Helden.

Perach el perach Zer gadol nischsor Le'rosch ha'menazeach Makabi gibor

‫פרח אל פרח‬ ‫זר גדול נשזור‬ ‫לראש המנצח‬ !‫מכבי גבור‬

55 S. dazu das Internetprotal Zemereshet (http://www.zemereshet.co.il/song.asp?id=363; Aufruf am 22.08.2013); hier lässt sich auch eine Version von Hawa narima aus den 70er Jahren anhören und downloaden. 56 Y. Goldenberg, „Classical Music and the Hebrew Song Repertoire“, zitiert nach der Internet-Ausgabe http://www.academia.edu/623283/Classical_Music_and_the_Hebrew_ Song_Repertoire_English_version (Aufruf am 22.08.2013), 2, mit Hinweis auf Kipnis‘ Hawa narima (Anm. 5).

Daniel Jütte

Musik als Kunstreligion im deutschen Judentum (1750–1900)1 Das ebenso facettenreiche wie wechselvolle Verhältnis von Musik und Religion im Judentum ist in den vergangenen Jahren verstärkt in den Blickpunkt auch der deutschsprachigen Musikwissenschaft gerückt.2 Gleichzeitig gibt es bei der Erforschung der musikalischen Praxis im Judentum, die nicht nur mehr als dreitausend Jahre zurückreicht, sondern sich auch auf mehreren Kontinenten in unterschiedlichen lokalen Traditionen ausgeprägt hat, noch zahlreiche offene Fragen. Eine Gesamtschau auf die Thematik von Musik und Religion im Judentum bildet also eine Herausforderung, die – es sei vorab gesagt – weit über das hinausgehen würde, was die nachstehenden Überlegungen zu bieten vermögen. Eine weitere Einschränkung ist voranzustellen: Der Verfasser ist weder Judaist noch Liturgiewissenschaftler, sondern Historiker mit einem besonderen Interesse für die deutsch-jüdische Geschichte. Der Schwerpunkt des vorliegenden Beitrags liegt daher auf einem Ausschnitt, genauer gesagt auf einem Kapitel aus der Kulturgeschichte des deutschen Judentums im bürgerlichen Zeitalter – ein Kapitel freilich, das unmittelbar in einige Kernfragen der Forschung zur deutsch-jüdischen Geschichte, aber auch der Musikgeschichte des langen 19. Jahrhunderts hineinführt. Der Titel deutet es an: Im Mittelpunkt steht nicht so sehr die Rolle der Musik in der Religion als vielmehr die Idee der Musik als Religion. Diese Idee von Musik als Religion kann im Deutschen mit einem Wort bezeichnet werden, das sich in vielen Sprachen als unübersetzbar erweist und daher nicht selten im Original wiedergegeben wird. Gemeint ist der 1 Der Vortragsstil wurde für die Veröffentlichung weitgehend beibehalten. Die Anmerkungen sind daher nicht als erschöpfende Literaturliste zu verstehen, sondern als Hinweise zur weiteren Lektüre. Einige Abschnitte beruhen auf Überlegungen, die ich bereits an anderer Stelle publiziert habe. 2 Siehe v. a. H. Zimmermann, Tora und Shira. Untersuchungen zur Musikauffassung des rabbinischen Judentums, Frankfurt a. M. 2000. Vgl. ebenfalls K. E. Grözinger, Musik und Gesang in der Theologie der frühen jüdischen Literatur. Talmud – Midrasch – Mystik, Tübingen 1982; R. Flender, Der biblische Sprechgesang und seine mündliche Überlieferung in Synagoge und griechischer Kirche, Wilhelmshaven 1988.

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Begriff der Kunstreligion. Wohlgemerkt bezieht sich der Begriff der Kunstreligion, der um 1800 geprägt und popularisiert wurde, nicht allein auf die Musik, sondern auf die Gesamtheit der Künste.3 Der Begriff selbst findet sich erstmals bei dem bedeutenden protestantischen Theologen Friedrich Schleiermacher (1768–1834), der damit allerdings keineswegs einer quasi-religiösen Verehrung der Kunst oder gar einer Suche des Göttlichen in der Kunst das Wort redete, sondern lediglich Analogien zwischen religiösem und ästhetischem Empfinden aufzeigte – und dies teilweise in durchaus kritischer Absicht. Die positive Umdeutung des Begriffs hin zur Bezeichnung für eine religiöse Züge tragende Verehrung der Kunst hat der Begriff erst durch die Frühromantiker erfahren, und eine der vielleicht berühmtesten Stellen, in denen gewissermaßen das Glaubensbekenntnis dieser neuen romantischen Auffassung von Kunst als Religion zu Tage tritt, finden wir in den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders aus der Feder der Schriftsteller Wilhelm Heinrich Wackenroder (1773–1798) und Ludwig Tieck (1773–1853), hier in Berlin im Jahre 1796 erstmals erschienen. Dort heißt es an einer Stelle, die sich im engeren Sinne auf die Malerei bezieht, programmatisch: „Ich vergleiche den Genuss der edleren Kunstwerke dem Gebet.“4 Und von der Musik im Besonderen heißt es bei Wackenroder und Tieck drei Jahre später an anderer Stelle, sie sei „das letzte Geheimniß des Glaubens, die Mystik, die durchaus geoffenbarte Religion.“5 Der „kunstliebende Klosterbruder“, der bei den beiden Frühromantikern zum Prediger kunstreligiösen Empfindens wurde, war freilich eine fiktive Figur. In der Realität waren es in der Tat keine Klosterbrüder, unter denen im 19. Jahrhundert eine quasi-religiöse oder ersatzreligiöse für die Sphäre der Kunst am ausgeprägtesten war. Zwar hat es zahlreiche Katholiken wie auch Protestanten gegeben, die der Idee der Kunstreligion huldigten. Aber was die Musik betrifft, so ließe sich behaupten, dass diese Idee unter einer Religionsgruppe im Europa des 19. Jahrhunderts einen ganz besonderen Zuspruch fand, nämlich unter Juden. 3 Meine Ausführungen hier insb. nach B. Auerochs, Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 2006; E. A. Kramer, The Idea of Kunstreligion in German Musical Aesthetics of the Early Nineteenth Century, Ph.D. thesis, University of North Carolina at Chapel Hill 2005. 4 W. H. Wackenroder, Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von S. Vietta und R. Littlejohns, Bd. 1, Heidelberg 1991, 106. 5 Phantasien über die Kunst, für Freunde der Kunst, ebd. Bd, 1, 241.

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Allemal gilt dies für den deutschsprachigen Raum, wo die Rolle jüdischer Musiker in der bürgerlichen Musikkultur im 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert eminent war. Hier in Berlin liegt es nahe, beispielsweise auf den aus einer jüdischen Familie dieser Stadt stammenden Komponisten Giacomo Meyerbeer (1791–1864) zu verweisen, dessen Opern auf europäischen Bühnen im 19. Jahrhundert zu den populärsten überhaupt gehörten. Dass Meyerbeers Opern hierzulande heute kaum mehr bekannt sind, hat nicht nur mit gewandeltem Musikgeschmack zu tun, sondern in hohem Maße auch mit der Tatsache, dass seine Werke zwischen 1933 und 1945 komplett aus den Spielplänen verschwanden und nach dem Krieg nur schwerlich den Weg ins Repertoire zurückfanden. Im 19. Jahrhundert indes war die Zahl von Meyerbeers Bewunderern ebenso lang wie prominent. Hierzu zählte auch der junge Heinrich Heine, der über den ihm persönlich bekannten Meyerbeer schrieb: „Die eigentliche Religion Meyerbeers ist die Religion Mozarts, Glucks, Beethovens, es ist die Musik; nur an diese glaubt er, nur in diesem Glauben findet er seine Seligkeit“6

Ja, Heine ging noch weiter und nannte Meyerbeer einen „Apostel dieser Religion.“7 Hier ist die Idee der Musik als Kunstreligion prägnant zum Ausdruck gebracht, auch wenn diese Zeilen über den jungen Heine und dessen Musikbegeisterung ebenso, wenn nicht sogar mehr aussagen als über den historischen Meyerbeer. In der Tat finden sich die jüdischen Anhänger dieser Vorstellung von Musik mitnichten lediglich unter Berufsmusikern oder gar Komponisten. Die Musikbegeisterung erfasste vielmehr alle Schichten des deutschen Judentums: Wie wir in zeitgenössischen Berichten immer wieder lesen, begannen in den Synagogen viele Kantoren, ihren liturgischen Gesang mit Melodien aus zeitgenössischen Opern zu schmücken. So hieß es in der vielgelesenen Allgemeinen Zeitung des Judentums in den 1840er Jahren über das jüdische Gemeindeleben in den großen Städten:

6 H. Heine, Über die französische Bühne, in: Werke und Briefe in zehn Bänden, hg. von H. Kaufmann, Berlin 1972, Bd. 6, 68. 7 Ebd., 69.

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Wir haben es freilich nicht nur mit einem urbanen Phänomen zu tun. Vielmehr finden wir eine ähnliche Kunst- und speziell Musikbegeisterung interessanterweise auch unter Juden, die abseits der großen Städte lebten, namentlich unter den sogenannten Landjuden. In der Autobiographie der in der württembergischen Kleinstadt Aldingen aufgewachsenen Jüdin Lina Elsas liest man über ihren Vater Moses (1814– 1817), der in der Mitte des 19. Jahrhunderts lebte: „Unter großen persönlichen Opfern konnte er sich den Besuch des Stuttgarter Hoftheaters erlauben. Zu Fuß legte er den weiten, stundenlangen Weg zurück, seine Begeisterung war so groß, daß er die Anstrengung überwand und die Nacht hindurch wieder heimwärts wanderte.“9

Dass die Musik im kunstreligiösen Empfinden deutscher Juden eine besondere Rolle spielte, wird auch im Vergleich mit der Bildenden Kunst deutlich, die als Berufsfeld keine vergleichbare Anzugskraft auf das deutsche Judentum ausübte. So sind beispielsweise jüdische Maler im 19. Jahrhundert und sogar in der frühen Moderne weitaus geringer an der Zahl als jüdische Musiker. Historiker haben die Vermutung geäußert, dass dieses Phänomen mit dem traditionellen Bilderverbot im Judentum zusammenhängen könnte. Aber dies allein kann keine hinreichende Erklärung sein. Denn über Jahrhunderte schied die Synagoge eben nicht nur als Ort künstlerischer, sondern auch musikalischer Betätigung aus. Zwar gab es von jeher die Tradition, bestimmte Gebete im Gottesdienst zu singen; aber was das Herzstück des jüdischen Gottesdienstes – die Lesung aus der Tora – betrifft, so wird hierbei nicht im eigentlichen Sinne gesungen, sondern vielmehr – um den musikwissenschaftlichen Terminus zu benutzen – kantilliert. Vor allem aber: Im Unterschied zur christlichen Kirche wurden in vormodernen Synagogen – von vereinzelten Ausnahmen abgesehen – keine Orgeln, keine Instrumentalmusik 8 Akibon [sic!], Privatmittheilung [Mannheim], in: Allgemeine Zeitung des Judentums, 4.12.1843, 722f. 9 L. Elsas, Erinnerungen, zitiert nach dem Abdruck bei J. Hahn, Jüdisches Leben in Ludwigsburg. Geschichte, Quellen und Dokumentation, Karlsruhe 1998, 314ff.

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und auch kein Chorgesang geduldet. Als Begründung verwiesen die Rabbiner in diesem Zusammenhang traditionell nicht zuletzt auf die Trauer über die Zerstörung des Tempels, wenngleich in der Praxis wohl auch die Absicht eine Rolle spielte, Distanz zur musikalischen und liturgischen Praxis der Kirche zu wahren. Weniger Vorbehalte hatten die rabbinischen Autoritäten hingegen mit Blick auf musikalische Praxis im Alltag – im Gegenteil: Bei einer Reihe von Zeremonien und rites de passages des jüdischen Alltagslebens spielte und spielt Musik – im Unterschied zur bildenden Kunst – eine wichtige Rolle, und speziell gilt dies für jüdische Hochzeiten, wo Musik und Tanz bis heute unverzichtbar sind, um den freudigen Anlass zu feiern. Hieraus erwuchs auch ein ständiger Bedarf an Spielleuten und Musikanten – und aus dieser Tradition ist zu einem guten Teil letztlich auch jenes Phänomen hervorgegangen, das wir heute als Klesmer bezeichnen, wenngleich es in seinen heutigen Manifestationen oftmals nicht mehr allzu viel mit seinen ursprünglichen historischen Erscheinungsformen zu tun hat. Die sogenannten Klesmorim, also die jüdischen Spielleute, lassen sich kontinuierlich durch die ganze Vormoderne hindurch an vielen Orten in Mittel- und Osteuropa nachweisen. Obwohl das Sozialprestige dieser Spielleute in den allermeisten Fällen gering war und sie nebenher weitere Berufe ausübten, schafften einige von ihnen auch den Sprung zum vollberuflichen Berufsmusiker. Dies brachte oftmals mit sich, dass ihre Dienste auch von der christlichen Umwelt in Anspruch genommen wurden. Bereits im Spätmittelalter und in der Renaissance hatten jüdische Musiker und Tanzmeister an einer Reihe von europäischen Höfen gewirkt und dabei oftmals hohes Ansehen genossen.10 Es bestanden also außerhalb der Synagoge keine grundsätzlichen religiösen Bedenken, höchstens eingeschränkte Verdienstmöglichkeiten, wenn Juden in der Vormoderne einen musikalischen Beruf ergreifen wollten. Aber reicht der Verweis auf diese Tatsache aus, um zu erklären, weshalb Juden seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in bis dahin ungekannter Zahl musikalische Berufe ergriffen? Greifen wir eine Berufssparte heraus, in der letzteres Phänomen in besonders augenfälliger Weise zutage tritt: die Geiger. Die Zahl der berühmten Violinvirtuosen jüdi10 Siehe demnächst: D. Jütte, The Place of Music in Early Modern Jewish Culture, in: R. Davis (Hg.), Musical Exodus. Al-Andalus and its Jewish Diasporas (in Vorbereitung zum Druck).

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scher Herkunft ist im 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert Legion. Zu nennen wäre hier allen voran Joseph Joachim (1831–1907), der in späten Jahren übrigens maßgeblich an der Gründung der Berliner Musikhochschule, also dem Vorläufer der heutigen Universität der Künste, beteiligt war. Von den weiteren berühmten jüdischen Violinvirtuosen der damaligen Zeit nenne ich hier nur diejenigen, deren Karrieren in nennenswerter Weise mit dem deutschsprachigen Raum verbunden sind: Leopold Auer (1845–1930), Ferdinand David (1810–1873), Heinrich Wilhelm Ernst (1814–1865), Jakob Grün (1837–1916), Ferdinand Laub (1832–1875), Eduard Reményi (1828–1898) und Edmund Singer (1830– 1912). Einige dieser Namen sind heute in Vergessenheit geraten, damals aber handelte es sich um die erste Garde der international konzertierenden Violinisten. Ein vergleichbares Bild ergäbe sich unschwer auch für Pianisten, es genüge hier nur der Hinweis auf Charles Valentin Alkan (1813–1888), Alexander Dreyschock (1818–1869), Henri Herz (1803–1888), Ignaz Moscheles (1794–1870), Anton Rubinstein (1829–1894), Nikolai Rubinstein (1835–1881) und Carl Tausig (1841–1871). Und dass sich hinter diesen prominenten Namen die Geschichte von hunderten von jüdischen Musikern verbirgt, die es nicht zu Berühmtheit brachten, muss kaum hervorgehoben werden. „Juden (Virtuosen)“, notierte sich Friedrich Nietzsche in einem nachgelassenen Fragment – und ging damit so weit zu behaupten, dass die Begriffe letztlich gleichbedeutend seien.11 Sicherlich hatte die genannte Entwicklung zum Teil sozioökonomische Gründe, das heißt, sie hing mit gestiegenen Erwerbsmöglichkeiten für jüdische Musiker im sich zunehmend diversifizierenden Musikbetrieb zusammen. Die Gründung von privatwirtschaftlich betriebenen Opernhäusern, Konzertsälen und Orchestern spielt in diesem Zusammenhang ebenso sehr eine Rolle wie die zunehmende Öffnung der Hoftheater für jüdische Instrumentalisten und Sänger.12 Aber es würde meines Erachtens zu kurz greifen, die unter damaligen Juden so augenfällige Faszination für die Musik nur auf solche sozioökonomischen Faktoren zu redu11 F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885/1886, in: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin 1974, Abt. VIII, Bd. 1, 120. 12 Vgl. D. Jütte, Wie ‚höfisch’ war die Verbürgerlichung der deutschen Juden? Zur Bedeutung des höfischen Musikbetriebs und der Hoftheater in der deutsch-jüdischen Geschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 36 (2010), 5–36.

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zieren – zumal sich nicht jeder musikbegeisterte Jude notwendigerweise für einen musikalischen Beruf entschied. Es muss bei der Untersuchung dieses Phänomens daher auch berücksichtigt werden, dass die Musik in nicht wenigen Fällen zu einer Ersatzreligion wurde – eine Ersatzreligion, die jenes Vakuum füllte, das der Prozess von Akkulturation und Säkularisierung, den das deutsche Judentum innerhalb weniger Jahrzehnte durchlief, hinterließ. Was genau aber war es an der Musik, das sich für eine solche Rolle als Ersatzreligion anbot? Ich glaube, es müssen hierbei zwei Phasen unterschieden werden. Die erste Phase ist in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts anzusiedeln. Damals begann sich, so meine These, ein instrumentenübergreifendes und kunstreligiös aufgeladenes Ideal der Virtuosität unter den deutschen Juden auszuformen. Selbst in rabbinischen Predigten – also Texten für religiöse Anlässe – begegnet uns zu dieser Zeit der explizit im musikalischen Sinn verwendete Begriff Virtuosität, und er wird dort als Leittugend beim Streben nach Selbstvervollkommnung und Bildung propagiert. So fragte ein Hamburger Rabbiner aus den 1840er Jahren in seiner Synagogenpredigt: „Sollten die Geschäfte des Berufes gar keiner Verbesserung, gar keiner Vervollkommnung fähig sein? Sollte sich das Handwerk nicht zu einer Kunst steigern lassen? Sollte man es in der Kunst nicht zur Meisterschaft, zur Virtuosität bringen können.“13

Bezeichnend sind in diesem Zusammenhang auch die rabbinischen Reaktionen auf den Erfolg des streng-orthodoxen „Holz- und Strohfiedlers“ Michael Józef Gusikow (1806–1837), ein Virtuose auf einer frühen Form des Xylophon, der in den 1830er Jahren im Kaftan auf allen großen Bühnen Europas auftrat. Sowohl der Wiener Rabbiner Sigmund Schlesinger als auch sein Rabbinerkollege Salomon Plessner gaben ihre Bewunderung für diesen durchaus exotischen Virtuosen in Veröffentlichungen kund. Plessner dichtete sogar eine „Ode an den berühmten Virtuosen“.14 13 G. Salomon, Der Berg des Herrn. Kanzel-Vorträge über den Decalog, Hamburg 1846, zitiert nach S. Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004, 314. 14 S. Plessner, Ode an den berühmten Virtuosen Hrn. Jos. Gusikow, Berlin 1836. Die Angaben zu diesem Rarissimum nach J. Fürst, Bibliotheca Judaica, Leipzig 1863, 107; S. Schlesinger, Josef

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Ein solch idealisiertes Konzept von Virtuosität als Sinnbild selbstloser Perfektionierung findet sich auch noch in den im 19. Jahrhundert sehr beliebten und mehrfach aufgelegten Erzählungen aus dem jüdischen Familienleben des deutsch-jüdischen Schriftstellers Salomon Hermann Mosenthal (1821–1877).15 So kreist etwa die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts angesiedelte Geschichte Raschelchen um den Aufstieg der Heldin Reinchen, eines jüdischen Mädchens aus ärmlichen Verhältnissen, zu einer allseits bewunderten Violinvirtuosin und Schülerin des berühmten Louis Spohr. Bei ihrem ersten Vorspiel im Hause Spohr gleicht das junge Mädchen, das sich „mit jedem Virtuosen messen“ könne, einem „Dürer’schen Engel“ (man beachte auch hier die religiös aufgeladene Bildsprache!).16 Es sind einzig der Aberglaube und die Sühnegedanken der orthodoxen Mutter, die eine musikalische Karriere des Mädchens durchkreuzen. Die Mutter repräsentiert in der Geschichte, die von Mosenthal unverkennbar auch als Porträt des deutschen Judentums in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts angelegt ist, die Welt des bereits auf dem Rückmarsch befindlichen, traditionellen Judentums, dem der Autor, ein von den Zeitgenossen gefeierter deutsch-jüdischer Schriftsteller, wenig Empathie entgegenbringt. Es sind bezeichnenderweise die der Akkulturation zugewandten Frauen der Gemeinde, die eine Ausbildung des Wunderkindes zu einer Virtuosin unterstützen, den Frauenverein zur Förderung gewinnen und den Kontakt zu Spohr herstellen. Als die strenggläubige Mutter verhindern will, dass Reinchen am jüdischen Pessach-Fest in einer Kirche konzertiert, tritt die angesehenste Mäzenatin der Gemeinde als Fürsprecherin des Mädchens auf den Plan. Sie überhöht das virtuose Musizieren zu einer „Ehre der ganzen Gemeinde“ und legitimiert es damit sogar als Ersatz von Religionsausübung: Reinchen darf und soll demnach also das Konzert geben anstatt Pessach zu feiern!17 Diese emphatische Einstellung zur Musik und speziell zur Virtuosität, die in Mosenthals Erzählung mit den progressiven Kräften im Judentum in Verbindung gebracht wird, war keineswegs ohne Vorbild in Gusikow und dessen Holz- und Strohinstrument. Ein biographisch-artistischer Beitrag zur richtigen Würdigung dieser ausserordentlichen Erscheinung, Wien 1836. 15 Die Erzählungen sind jüngst wieder in einer modernen Ausgabe greifbar. Vgl. S. H. Mosenthal, Erzählungen aus dem jüdischen Familienleben, hg. von R. Klüger, Göttingen 2001. 16 Ebd., 167. 17 Ebd., 174.

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der Realität. So erinnerte sich beispielsweise der bei Mosenthal in die Handlung aufgenommene Louis Spohr in der Tat noch im Alter an ein Konzert des 13jährigen Giacomo Meyerbeer im elterlichen Haus, bei dem „der talentvolle Knabe […] durch seine Virtuosität auf dem Pianoforte solches Aufsehen [erregte], daß seine Verwandten und Glaubensgenossen nur mit Stolz auf ihn blickten“.18

In der historischen Forschung ist jüngst darauf hingewiesen geworden, dass der oft als ‚Akkulturation’ bezeichnete Prozess, der im 19. Jahrhundert unter Juden zu beobachten ist, in seiner Anfangsphase durchaus keine pauschale ‚Konversion zum Deutschtum’ darstellte. Vielmehr erscheint im frühen 19. Jahrhundert die angestrebte bürgerliche Gleichstellung und Akkulturation vor allem als ein „überwiegend sozial und kulturell definiertes Phänomen.“19 Insgesamt sei „die Aneignung von kulturellem Kapital für die deutschen Juden der Emanzipationszeit ein tendenziell kollektives Phänomen, das auch die untersten Sozialgruppen tangiert“ habe.20 Wenn die Vermutung zutrifft, dass gerade die Akkumulation von „kulturellem Kapital“ für die deutschen Juden eine vielversprechende Chance zur ‚Verbürgerlichung’ bot, dann kann die Faszination für Musik im Allgemeinen und für musikalische Virtuosität im besonderen kaum verwundern. Was freilich Berufsmusiker betrifft, so ist unbestreitbar, dass die Ausbildung zur Virtuosität in hohem Maße auch die Möglichkeit zur konkreten Aneignung von „ökonomischem Kapital“ bot. Eine Karriere als Virtuose versprach für jüdische wie natürlich auch christliche Musiker aus bescheidenen, wenn nicht sogar unterbürgerlichen Verhältnissen oft einen beträchtlichen sozialen Aufstieg. Zugespitzt ließe sich sogar sagen, dass die Vielzahl neuer Möglichkeiten, mit Kunst und speziell Musik im bürgerlichen Zeitalter Geld zu verdienen (und dies in erheblichem Maße), par excellence von der Figur des Virtuosen verkörpert wurde. Damit freilich ist genau jenes Phänomen angedeutet, das im 19. Jahrhundert zunehmend zum wunden Punkt der Virtuosität und – in diesem Zu18 L. Spohr, Lebenserinnerungen, hg. von F. Göthel, Tutzing 1968, Bd. 1, 84. Hervorhebung D. J. 19 Lässig, Wege, 75. 20 Ebd., 583.

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sammenhang – auch jüdischer Musiker werden sollte. Denn der Konnex zwischen Geld und Kunst, zu dessen Inbegriff die Figur des Virtuosen im musikästhetischen Diskurs zunehmend mutieren sollte, rief im deutschsprachigen Raum eine Vielzahl von Kritikern auf den Plan, die sich zur Verteidigung einer ‚reinen’ Kunst in der Pflicht sahen. Die Kritik am Virtuosentum verbreitete sich spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts kontinuierlich in weiten Teilen der zeitgenössischen Musikpublizistik im deutschsprachigen Raum. Bezeichnend ist beispielsweise die Rede von einer im Musikbetrieb zu beobachtenden „‚Oligarchie’ […], die die Musik dem Virtuosentum geopfert habe“.21 Auch der berühmte Musikkritiker Eduard Hanslick sprach von der Virtuosität als einem „Geschäftszweig“.22 In den 1850er Jahren prangerte Franz Brendel, der einflussreiche Herausgeber der Neuen Zeitschrift für Musik, die „flache Salonwirtschaft des Virtuosentums“ an.23 Mitunter wurde Virtuosen sogar eine „Ausbeutung des Instruments“ vorgeworfen.24 Gemessen am pauschalen Charakter solcher Urteile wäre es nur konsequent gewesen, wenn sowohl christliche wie auch jüdische Virtuosen gleichermaßen Zielscheibe der Kritik geworden wären. Doch dies war insgesamt nicht der Fall. Zwar wurden prominente nichtjüdische Interpreten wie Paganini und Liszt, die dem Phänomen der Virtuosität europaweit entscheidend zum Durchbruch verholfen hatten, durchaus mit Kritik bedacht. Überwiegend aber war die Ansicht verbreitet, dass erst durch das verstärkte Auftreten jüdischer Musiker das Phänomen der Virtuosität gewissermaßen pervertiert worden, ja aus der edlen Musik ein schnödes Geschäft geworden sei. So warf der judenfeindliche Publizist, Theologe und einstige Junghegelianer Bruno Bauer in einem Lexikonbeitrag 1862 den jüdischen Musikern vor, 21 Zitiert nach F. Hentschel, Bürgerliche Ideologie und Musik. Politik der Musikgeschichtsschreibung in Deutschland 1776–1871, Frankfurt a. M. 2006, 95. 22 E. Hanslick, Aus dem Concertsaal. Kritiken und Schilderungen aus den letzten 20 Jahren des Wiener Musiklebens, Wien 1870, 189. 23 Zitiert nach B. Sponheuer, Musik als Kunst und Nicht-Kunst. Untersuchungen zur Dichotomie von ‚hoher’ und ‚niederer’ Musik im musikästhetischen Denken zwischen Kant und Hanslick, Kassel 1987, 180. 24 Vgl. T. Fuchs, „Man glaubt nicht, einen Pianisten Dreyschock, sondern drei Schock Pianisten zu hören“, in: Der jüdische Beitrag zur Musikgeschichte Böhmens und Mährens, hg. von ders., I. Hader, K.-P. Koch, Regensburg 1994, 99–108, hier 105.

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„die alten Kunstinstrumente in die Hand zu nehmen, die gegebenen Kunstgriffe zu üben und zur Virtuosität zu steigern und die entleerte Form spaßhaft zu zerquetschen […]“.25

Im Unterschied zu Bauer vermied es die Zeitgenossin Clara Schumann, explizit Unterschiede zwischen den Religionen zu machen, wenn sie pauschal das „ganze mechanische Virtuosentum“ anprangerte.26 Freilich ist in dieser Äußerung der Gebrauch eines Topos augenfällig, der im 19. Jahrhundert latent antisemitisch war. Als entscheidendes Codewort in Clara Schumanns Kritik fungierte jedenfalls das Attribut „mechanisch“. Solche der industriellen Lebenswelt entnommenen Codewörter verbanden sich im zeitgenössischen ästhetischen Diskurs mit impliziten Assoziationen. Sie stellten einen Konnex zwischen Virtuosität und den konkreten Erscheinungsformen, aber auch Symbolen des sich formierenden industriellen Kapitalismus dar. Schon bei Karl Marx begegnet die Verwendung des eindeutig aus der Musik entlehnten Begriffs der Virtuosität für die Bezeichnung von Merkmalen des industriellen Wirtschaftslebens. Marx sieht die Wurzeln der ins Extreme getriebenen „Virtuosität des Detailarbeiters“ bereits im Manufaktursystem, das ihm als „charakteristische Form des kapitalistischen Produktionsprozesses“ vor dem industriellen Zeitalter galt.27 In diesem Kontext wurden jüdische Interpreten par excellence zu Sündenböcken für die zunehmende Ökonomisierung des Musikbetriebs. Die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge dieser Ökonomisierung wurden dabei geflissentlich übersehen. Der Eintritt der Juden in die musikalischen Berufe galt entsprechend als bedenkliches Symptom und nicht etwa als konsequentes Resultat eines gesamtgesellschaftlichen Transformations- und Emanzipationsprozesses, der auch das Musikleben erfasst hatte. Hans von Bülows Rede vom jüdischen Virtuosen Alexander Dreyschock als „Mensch gewordene Maschine“28 fügt sich in diesen Zusammenhang ebenso wie Wagners Räsonnieren über musikalische 25 B. Bauer, Art. Das Judenthum in der Fremde, in: Staats- und Gesellschafts-Lexikon, hg. von H. Wagener, Bd. 10, Berlin 1862, 614–671, hier 629. Hervorhebung im Original. 26 Zitiert nach A. Witeschnik, „Für Kunst und Seele ein mörderisch Vergnügen“ oder: Virtuosen in der Anekdote, Wien 1981, hier 64. 27 K. Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, in: K. Marx, F. Engels, Werke, Berlin 1973, Bd. 23, 356–358. 28 Zitiert nach A. Witeschnik, Virtuosen, 58.

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„Kunstindustrielle“, zu denen er auch und vor allem die jüdischen Virtuosen zählte.29 Vor diesem Hintergrund lässt sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unter jüdischen Virtuosen zunehmend die Abgrenzung von jener Rolle beobachten, die ihnen den Weg zum europaweiten Ruhm geebnet hatte. Innerhalb weniger Jahrzehnte kam es in Deutschland unter jüdischen Musikern zu einem Prozess, bei dem zwar nicht die eigentliche musikalische Virtuosität – also die hierfür notwendigen technischen Fertigkeiten – aufgegeben wurde, aber zunehmend der Anschein vermieden wurde, ein Virtuose zu sein. Diese Reaktion auf diskursive Entwicklungen in der Mehrheitsgesellschaft lässt sich nicht nur bei Berufsmusikern und Musikpublizisten nachweisen. Anzuführen ist beispielsweise, dass nun auch in den Synagogen der Begriff der Virtuosität nicht mehr unter positiven Vorzeichen begegnet. So versuchten sich beispielsweise die Befürworter der Reform der synagogalen Musik im deutschsprachigen Judentum explizit von einer mit angeblich schnöder, nun als „ostjüdisch“ bezeichneter Virtuosität konnotierten Ästhetik abzugrenzen. Ausdrücklich ist die Abgrenzung in einem Memorandum Salomon Sulzers aus den 1870er Jahren ausgesprochen. Darin wandte sich der berühmte Wiener Kantor gegen die „Gesangsschnörkel, wie die Provincialcantoren sie in mißbräuchlichster Weise versuchen, oder jene larmoyante polnische Virtuosität, welche die jüngere zumeist musikalisch gebildete Generation zur Flucht aus dem Gotteshaus treibt.“30

Das bisher Gesagte bedeutet wie angemerkt nicht, dass es im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert keine jüdischen Virtuosen mehr gegeben hat. In den Biographien prominenter jüdischer Musiker, die in Deutschland Karriere machten, ist jedoch verstärkt zu beobachten, dass im späten 19. Jahrhundert die Virtuosität keineswegs mehr das entscheidende Kriterium für die Verwirklichung als Künstler galt, vielmehr vom Interpreten selbst eher als ein Durchgangsstadium gesehen wurde. Für jüdische Mu29 J. M. Fischer, Richard Wagners „Das Judentum in der Musik“. Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus, Frankfurt a. M. 2000. Für zahlreiche weitere Belege aus den Schriften Wagners vgl. B. Sponheuer, Musik, v.a. 179. 30 S. Sulzer, Memorandum zur gottesdienstlichen Reform [ca. 1871], zitiert nach T. Frühauf, Orgel und Orgelmusik in deutsch-jüdischer Kultur, Hildesheim 2005, 53f. Hervorhebung D. J.

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siker war das Ideal bald kaum mehr der „Virtuose“. Im Zeichen der zunehmenden Nationalisierung der Musik war es nun vielmehr die Rolle des „deutschen Musikers“, die zunehmend zum Leitbild wurde.31 Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert hingegen waren Juden zu Jüngern der Musik, zu Anhängern der Kunstreligion geworden, weil sie sich von ihr – wie wir am Beispiel der Virtuosität gesehen haben – eine Selbstperfektionierung als Menschen und Bürger erhofften. Die Faszination hing dabei auch mit der Hoffnung zusammen, dass in den Sphären der Musik religiöse Schranken und gesellschaftliche Diskriminierung aufgehoben werden könnten. „Meiner Ansicht nach sollten Religionsspalten keinen Einfluß auf die edle Kunst, Musik, nehmen“, schrieb noch 1861 ein jüdischer Musiker der älteren Generation in einem Leserbrief an die Neue Zeitschrift für Musik.32 Neben dem romantischen Konzept von der Musik als universaler, schrankenloser Sprache, dürfte hierbei auch die Nachwirkung des deutschen Idealismus, namentlich der Ästhetik Kants, eine erhebliche Rolle gespielt haben. Dies gilt vor allem für die Lehre des Königsberger Philosophen, wonach durch die Kunst Gefühle angesprochen werden, „die im Prinzip für alle Menschen die gleichen sind, und die in der Distanz des ‚interesselosen Wohlgefallens’ auch von allen Menschen (über alle Kulturdifferenzen hinweg) in gleicher Weise“33 empfunden werden können. Die religiös aufgeladene Faszination der deutschen Juden für die Musik als Universalsprache wird beispielsweise in einer Äußerung des Gießener Rabbiners Benedikt Levi (1806–1899) deutlich. Die Musik sei – so erklärte er – „Stütze des religiösen Gefühl und […] eine auch über die Grenzen der Religionsgemeinden hinweg verständliche Sprache der Seele.“34 Es stellte sich allerdings im 19. Jahrhundert zunehmend heraus, dass der Glaube an die Universalität von Musik im Konflikt mit der gesellschaftlichen Realität stand. Es ist für diesen Paradigmenwechsel viel31 Ausführlicher dazu: D. Jütte, Juden als Virtuosen. Eine Studie zur Sozialgeschichte der Musik sowie zur Wirkmächtigkeit einer Denkfigur des 19. Jahrhunderts, in: Archiv für Musikwissenschaft 66 (2009), 127–154. 32 Leserbrief R. K., in: Neue Zeitschrift für Musik, 25.1.1861, 48. 33 W. L. Bühl, Musiksoziologie, Bern 2004, 158. 34 Zitiert nach C. Wilke, Humanität als Priesterschaft. Der Gießener Rabbiner Dr. Benedikt Levi (1806–1899), in: Aschkenas, Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 16 (2006), 37– 75, hier 46.

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leicht bezeichnend, dass der Sohn des soeben zitierten Rabbiners Benedikt Levi, den Glauben an die Universalität der Musik bereits verloren oder zumindest aufgegeben hatte. Dieser Sohn, für den nunmehr die deutsche Musik an der Spitze der musikalischen Hierarchie stand, war kein Geringerer als Hermann Levi (1839–1900), der Dirigent der Bayreuther Uraufführung von Wagners Bühnenweihfestspiel Parsifal. Eben dieses Kapitel in der Geschichte der Familie Levi ist in gewisser Weise auch ein eindrückliches Zeugnis für eine Tragik im von Enthusiasmus geprägten Verhältnis deutscher Juden zur Musik. Denn die Geschichte der antisemitischen Demütigungen, die der Dirigent Levi vonseiten Wagners und überhaupt im Bayreuther Kreis erdulden musste, ist verschiedentlich erzählt worden. Es sei dahingestellt, ob Levi – wie manche Forscher behauptet haben – als Beispiel für jüdischen Selbsthass gelten kann. Drastisch genug ist jedenfalls ein Brief Levis, in dem er auf einen Kommentar zu einer französischen Grand Opéra verzichtete, da er die „Beurtheilung solcher undeutscher, romanisch-jüdischer Producte“ ablehne.35 Diese aus heutiger Sicht paradoxe antisemitische Argumentation durch den Rabbinersohn Levi war kein briefliches ‚Versehen’. Seinem deutsch-jüdischen Korrespondenzpartner empfahl er in einem nachfolgenden Brief ausdrücklich die Lektüre einer Schrift des Antisemiten Houston Stewart Chamberlain, das „Alles in Allem […] anregendste Buch“, das er auf diesem Gebiet kenne.36 Levi ist eine tragische Figur insofern er verkannte, dass die Kapitulation vor dem völkisch-rassischen Denken und gar dessen Übernahme weder die Diffamierung und Diskriminierung von Juden in der Gesellschaft und im Musikbetrieb umkehren, noch Antisemiten zur Vernunft bekehren konnte. Denn auch eine Hyperakkulturation änderte nichts an der Tatsache, dass jüdischen Musikern im späten 19. Jahrhundert die Befähigung zur Musikalität im Sinne der normativen Musikästhetik zunehmend abgesprochen wurde, und zwar längst nicht nur von verbohrten Antisemiten. Von nicht unerheblicher Bedeutung für diesen Prozess war die zunehmende Analogiebildung zwischen Volk und Musik, wie sie ur35 An P. Heyse, 20.6.1899. In: Heyse-Archiv VI, Levi, Bayerische Staatsbibliothek München, Handschriftenabteilung. 36 An P. Heyse, o. D. [ca. 1900]. In: Heyse-Archiv VI, Levi, Bayerische Staatsbibliothek München, Handschriftenabteilung.

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sprünglich auf Herder zurückgeht, die aber erst von national-völkischen und antisemitischen Musikschriftstellern gezielt dazu benützt wurde, um Juden die Möglichkeit zur Einfühlung in die „deutsche“ Musik und damit zur künstlerischen Mitwirkung abzusprechen.37 Die wichtigste Rolle spielte dabei Richard Wagner, der in seinem berüchtigten Pamphlet Das Judentum in der Musik (1850/1869) nicht nur über das „bisher von den Deutschen so ruhmvoll eingenommene[…] Gebiete der Musik“ sinnierte, sondern auch behauptete, dass die europäische und speziell die deutsche Musiksprache „für den Juden eine fremde Sprache geblieben ist; denn, wie an der Ausbildung dieser, hat er auch an der Entwickelung jener nicht theilgenommen, sondern kalt, ja feindselig hat der Unglückliche, Heimathlose ihr höchstens nur zugesehen. In dieser Sprache, dieser Kunst kann der Jude nur nachsprechen, nachkünsteln, nicht wirklich redend dichten oder Kunstwerke schaffen.“38

Die Stilisierung der Musik zur „deutschesten der Künste“ (so Johann Gustav Droysen bereits 1846) basierte – und dies in zunehmendem Maße – auf einer scharfen Kontrastierung mit einem vermeintlichen „Musikjudentum“. Wagners Pamphlet Das Judentum in der Musik hatte am Popularisierungsschub solcher Diskurse nachhaltigen Einfluss und wurde in der Tat oftmals in den antisemitischen Ausfällen der Presse gegen jüdische Musiker explizit angeführt. Fassen wir zusammen: In der Faszination deutscher Juden für die Musik finden sich durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch immer wieder quasi-religiöse Züge. Die Parameter dieses Glaubens aber verschoben sich mit der Zeit gravierend. Während die erste Generation jüdischer Musikschaffender an die Musik als religionsübergreifende Universalsprache glaubte und die Virtuosität als Verkörperung dieses Ideals betrachtete, so wurde von jüdischen Interpreten vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert immer öfter eine Konversion zu einer nationalen Musikästhetik verlangt, ein unbedingtes Bekenntnis zur Musik als „deutschesten der Künste“. Viele jüdische Musiker waren bereit zu die37 A. Dahm, Der Topos der Juden. Studien zur Geschichte des Antisemitismus im deutschsprachigen Musikschrifttum, Göttingen 2007, 75. 38 Fischer, Wagners, 150.

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ser Konversion und mussten doch die Erfahrung machen, dass sie Gläubige ohne volle Anerkennung blieben, ja dass ihre grundsätzliche Befähigung zur Einfühlung in die deutsche Musik immer wieder bestritten wurde. Erst wenn dieser größere Kontext berücksichtigt wird, fällt neues Licht auch auf die Tatsache, dass es ein jüdischer Komponist war, der sich der Überwindung der traditionellen Musikästhetik des 19. Jahrhunderts und mithin der Tonalität verschrieb. Gemeint ist hier natürlich Arnold Schönberg (1874–1951), der Begründer der Zwölftontechnik. Es ist von Musikwissenschaftlern verschiedentlich auf die auffällige Koinzidenz hingewiesen worden, dass Schönberg die Zwölftontechnik im gleichen Jahr (1921) entwickelte, als er Opfer einer antisemitischen Kampagne wurde. Für den Komponisten war diese Kampagne eine einschneidende autobiographische Erfahrung, die für die Rückbesinnung auf seine jüdischen Wurzeln eine beträchtliche Rolle spielen sollte. Die Zwölftontechnik, die er im selben Jahr entwickelte, sollte, so Schönbergs in diesem Zusammenhang auf den ersten Blick paradoxes Diktum, der genuine Versuch sein, „der deutschen Musik die Vorherrschaft für die nächsten hundert Jahre […]“ zu sichern. Wie passt dies zusammen? Die Bedeutung dieser berühmten Aussage wird meines Erachtens erst verständlich, wenn man annimmt, dass Schönberg damit nicht jene deutsche Musikästhetik meinte, aus der Juden mit rassisch-völkischen Argumenten ausgegrenzt wurden und deren Anhänger jüdischen Musikern – in Wagners Worten – unterstellten, nur „nachäffen, nachkünsteln“ zu können. Schönberg verstand hier unter deutscher Musik nicht eine bestimmte nationale Musiksprache, sondern die einstige, in Deutschland geprägte Idee einer universalen Musiksprache, in der sich im Sinne Kants und in Goethes Worten „vernünftige Menschen untereinander unterhalten“ können. Für Schönberg galt es, die zunehmend von Nationalismus und Antisemitismus durchdrungene Musikästhetik des 19. Jahrhunderts zu überwinden und an ihrer Stelle eine Musik zu etablieren, in der es keine richtigen und falschen ‚Dialekte’ mehr gab, sondern in der die radikale Gleichberechtigung aller zwölf Töne zum System, ja – ich benutze absichtlich den religiösen Begriff – zum Dogma erhoben war. Schönbergs Übergang zur Atonalität war die vielleicht kühnste Revolution der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts, aber in gewisser Weise – so sei hier zu bedenken gegeben – war sie auch ein Re-

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kurs auf eine verschütt gegangene Tradition, nämlich auf die Tradition der Musik als schrankenloser Kunstreligion. Es ist vielleicht bezeichnend, dass Schönberg in einem berühmten Plädoyer von der Neuen Musik als dem Bezirk einer „Glauben[s]“-gemeinschaft sprach.39

39 A. Schönberg, Vorwort, in: A. Webern, 6 Bagatellen für Streichquartett (op. 9), Wien 1924, o. S.

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Kreuzwege Neue Musik und Religion „Geistliche Musik als solche […] wäre […] erst eine, in der sich gewissermaßen der Messias ereignete“1: Radikaler kann der Anspruch an eine neue, zugleich von biblischen Impulsen durchdrungene und beunruhigte Musik kaum gefasst werden. Dieter Schnebels 1967 publizierter Aufsatz Geistliche Musik heute erscheint als Plädoyer für eine ganz ins Gegenwärtige überführte, vom Geist in Bewegung versetzte Musik, die sich nicht an das Wort anlehnt2, sondern vielmehr selber, in der spezifischen Struktur ihres Erklingens, „Momente des Messianischen“3 zeitigen soll. Den Ausgangspunkt eines solchen Konzepts bildet eine Analogie: Sowohl im Wirken des Geistes als auch im geschichtlichen Werden der Musik nimmt Schnebel ein umfassend Dynamisches wahr, einen „Zug zur Welt“4, der alles Festgefügte aufbricht. Geist und Musik suchten ständige Erneuerung, um sich in je gegenwärtiger Sprache mitteilen zu können5; eine avancierte, dem Experiment gegenüber offene geistliche Musik erhält dadurch eine theologische Legitimation. Inhaltliche Orientierung gewähre die Bibel, indem sie befreiende Anstöße gibt, auf ein „messianische[s] Außer-Kraft-Setzen knechtender Ordnung“6 zielt; gleichzeitig weise sie den Menschen „an die Ohnmacht und das Leiden Gottes“7, weshalb sich geistliche Musik zu einer musica crucis verdichten möge.8 Solch einem Anspruch kommt die neue Musik – von ihren spezifischen Möglichkeiten und Bedingungen her – freilich selbst schon entge1 D. Schnebel, Geistliche Musik heute, in: Ders., Denkbare Musik, Köln 1972, 420–430, 427. 2 Ebd., 428f.; vgl. Cl. Gottwald, Neue Musik als spekulative Theologie. Religion und Avantgarde im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2003, 14. 3 Schnebel, Geistliche Musik heute, 427. 4 Ebd., 422. 5 Ebd., 422ff. und 426f. 6 Ebd., 424. 7 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von E. Bethge, Gütersloh 202010, 192; vgl. Schnebel, Geistliche Musik heute, 425. 8 Schnebel, Geistliche Musik heute, 428.

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gen. Innerhalb der Geschichte europäischer Musik markiert sie, um 1910, die vielleicht schärfste Zäsur, geprägt durch ein Preisgeben der überkommenen Tonalität und die „Emanzipation der Dissonanz“9. Was in Prozessen kompositorischen Suchens sich bildete – gleichsam als ein Lauschen im offenen Raum –, war eine Musik jenseits verbürgter, allgemein verbindlicher Bezugssysteme. Doch bewirkt dieses Geschehen, das zumindest vordergründig als ein Kontinuitätsbruch wahrgenommen werden kann10, nun primär, dass die neue Musik quasi ins Abseitige gerät und damit zugleich den Maßstab des Humanen verliert? Oder gelingt gerade umgekehrt ein Vorstoß, der es ermöglicht, „Wahrheit, Wesentlichkeit und Freiheit“11 in vorher ungeahnter Weise zu artikulieren? Wirkmächtige Reflexionen modernen Komponierens enthält Theodor W. Adornos Philosophie der neuen Musik (1949). Entfaltet wird der Gedanke, dass insbesondere Schönbergs frei atonalen, gegen Schein und Spiel aufbegehrenden Werken die Fähigkeit zuwächst, „das unverklärte Leid des Menschen“12 zum Ausdruck zu bringen, ja es zu erkennen; genau darin ist nach Adorno der Wahrheitsgehalt neuer Musik aufzufinden.13 Hiermit verknüpft sich die Auffassung, dass Form und Inhalt sich in eins bilden. Indem sich in die musikalischen Formen eine Geschichte einsenkt, die wesentlich als Leidensgeschichte erscheint14, können solche neuen, Konventionen abschüttelnden Formen Erinnerungsräume freilegen: Die kompositorische Gestalt verweist, wie absichtslos, auf die Vorstellung einer memoria passionis.15 Ein Streben nach Autonomie ist neuer Musik zu eigen, so vielgestaltig sie sich auch darstellen mag. Nur ihren je immanenten Tendenzen – der Logik ihres geschichtlich geprägten Materials – sucht sie zu gehorchen, sie duldet nichts fremd, von außen Auferlegtes, so dass sie sich auch aus liturgischen Bindungen löst. Um so bemerkenswerter, wenn Schlüssel9 A. Schönberg, Komposition mit zwölf Tönen, in: Ders., Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik (= Gesammelte Schriften 1, hg. von I. Vojtěch), Frankfurt a. M. 1976, 73. 10 Vgl. H. Küng, Musik und Religion. Mozart – Wagner – Bruckner, München 42010, 187–195. 11 H. H. Eggebrecht, Musik im Abendland. Prozesse und Stationen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 21998, 758. 12 Th. W. Adorno, Philosophie der neuen Musik (= Gesammelte Schriften, Bd. 12), Frankfurt a. M. 2003, 47. 13 Ebd., 44–47. 14 Ebd., 47f. 15 Zu dieser Vorstellung vgl. grundlegend J. B. Metz, Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg i. Br. 42011.

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werke modernen Komponierens religiöse Gehalte und Fragestellungen in sich aufnehmen. Exemplarisch hierfür ist bereits das Œuvre Schönbergs. Dessen Spätwerk A Survivor from Warsaw (1947), das die Vorstellung eines imaginären Dramas hervorruft, bildet gleichsam einen „Durchbruch“16. Zur Peripetie des musikalisch-dramatischen Prozesses, den eine hochexpressive, zugleich dicht-zwölftönige Klanggebung bestimmt, wird jener Augenblick gesteigerter Präsenz, in dem die dem Tode Preisgegebenen plötzlich in befreienden Gesang, den des jüdischen Glaubensbekenntnisses, ausbrechen. Unmittelbar sinnfällig wird, dass gerade die Rückbindung an eine schon verschüttet geglaubte Tradition zur „wiederholenden ,Erinnerung nach vorn’“17 werden kann. Wechselwirkungen scheinen sich auszuprägen: Wie einerseits existentielle Erfahrungen wie Ausgesetztsein, Leiden und Tod zur musikalischen Gestaltung drängen, so dass jene Sphäre des Dunklen, gleichsam Verschatteten ins Zentrum kompositorischen Suchens rückt, so ist es andererseits die gewandelte Materialebene, die als dissonanzgeladene, atonikale die Darstellung speziell solcher Gehalte nahelegt. Drei Werke sollen im Folgenden auf ihren religiösen Bezug hin befragt werden; sie erhellen zugleich, im Horizont der Moderne, exemplarische Möglichkeiten der Strukturgebung: Bernd Alois Zimmermanns Ekklesiastische Aktion als ein Werk, das Schönbergs zwölftöniges Konzept fortdenkt und insbesondere den Ausdrucksqualitäten seriellen Komponierens nachspürt, Giacinto Scelsis Streicherstück Elohim als Ausprägung einer Klangkomposition und zuletzt Tenebrae, das Schluss-Stück aus Wolfgang Rihms Deus passus – eine Musik, die, hindurchgegangen durch die Erfahrungen von Moderne und Postmoderne, die Erinnerung an Tonales behutsam wieder in sich einlässt.

I Bernd Alois Zimmermann: Ekklesiastische Aktion Die Entstehung an einer existentiellen Schwelle mag Zimmermanns letztem Werk „Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne“ (1970) anzuhören sein. Hierauf verweist ein kompositorischer 16 R. Brinkmann, Arnold Schönberg und der Engel der Geschichte, Wien 2002, 54. 17 J. B. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz 51992, 181; vgl. V. Lenzen, Jüdisches Leben und Sterben im Namen Gottes. Studien über die Heiligung des göttlichen Namens (Kiddusch HaSchem), München 1995, 178.

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Gestus, der sich in der Polarität von zorniger Anklage und verzweifelter Klage ausspannt. Gleichzeitig ist Entgrenzung intendiert, was schon der Untertitel Ekklesiastische Aktion ankündigt. In einer Handlung, worin Sprache, Musik und szenische Elemente sich durchdringen und wechselseitige Impulse geben, scheinen die Grenzen zwischen den Kunstmedien aufgehoben. Indem dieses Geschehen sich ekklesiastisch vollzieht – im eindringlichen Ton des Predigens und zugleich die Kirche als geschichtlichen Raum evozierend18 –, rückt Kunst darüber hinaus in die Nähe religiöser Praxis. Dass das Verhältnis von Musik und Sprache zum Gegenstand kompositorischer Reflexion geworden ist, bildet ein Signum der Moderne. Fragwürdig erscheinen zumal Konzepte, die – in Anlehnung an überkommene Vorstellungen – Bilder und affektive Gehalte des Textes musikalisch möglichst unmittelbar darzustellen suchen. Demgegenüber tritt nun der Gedanke hervor, Musik und Sprache als gleichsam gegenläufige, je autonome Schichten zu entfalten, um so die Möglichkeit wechselseitiger Subversion und Infragestellung zu eröffnen.19 Radikaler noch mutet das Vorhaben an, Sprache ganz auf ihr Elementares zu reduzieren, indem sie selber zum phonetischen Material wird, das einer rein musikalischen Konstruktion unterworfen werden kann.20 In der Ekklesiastischen Aktion bleibt die Sprachgestalt zunächst unangetastet, um dann in einen Sog der Verdichtung hineingerissen zu werden. Ausschnitte aus dem Buch Kohelet (Koh 4) und Dostojewskis Großinquisitorlegende bilden zwei Textebenen, welche sich inhaltlich in der Artikulation einer fundamental negativen Erfahrung und Weltsicht berühren. So 18 Vgl. O. Korte, Die Ekklesiastische Aktion von Bernd Alois Zimmermann. Untersuchungen zu einer Poetik des Scheiterns, Sinzig 2003, 147f. 19 Vgl. hierzu etwa die Ausführungen M. Spahlingers: „In dem Moment, in dem auch eine unausgesprochene Figurenlehre die Komponisten nicht länger beschäftigen kann und wo es hauptsächlich unter dem Innovationsdruck […] darauf ankommt, immer wieder andere Modifikationen von Ausdrucksmitteln zu finden, gibt es keine Adäquanz mehr. Damit ist jeder Versuch, direkt auf dem Text zu sein, ein bisschen lächerlich […]. Je mehr die Musik ihren Eigencharakter behält und je mehr der Text eine Eigengesetzlichkeit ausbildet, desto reizvoller ist es, beide miteinander in Verbindung zu bringen, und desto eher ist es möglich, dass Musik Text adäquat interpretiert.“ In: H.-K. Metzger, R. Riehn (Hg.), Geschichte der Musik als Gegenwart. Hans Heinrich Eggebrecht und Mathias Spahlinger im Gespräch, Musik-Konzepte (Sonderband), München 2000, 46. 20 Vgl. Schnebel, Geistliche Musik heute, 428f.; W. Gieseler, Komposition im 20. Jahrhundert. Details – Zusammenhänge, Celle 1975, 115–127.

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vollzieht sich in den Kohelet-Versen – im Zuge einer polemischen Auseinandersetzung mit der alttestamentlichen Weisheitstradition21 – ein erinnerndes Vergegenwärtigen allseitigen Leidens: Das Ich spricht rückblickend die universal ungerechten Verhältnisse an, nennt die trostlose Situation der Unterdrückten, preist, quasi paradoxal, das Nichtsein und erkennt die Vergeblichkeit menschlicher Mühe; dies presst sich in einer Weheklage über das Alleinsein zusammen. Dostojewskis Großinquisitorlegende umkreist den Gedanken, dass die Lehre Jesu, auf Freiheit und Selbstbestimmung zielend, in den Augen der Macht gefährlich sei: die herrschende Ordnung nur störe, nur Aufruhr und Unglück bringe; die Parusie selbst wird so zur Schreckensvorstellung, die eine heftige Abwehr provoziert. Mehr und mehr ineinandergreifend, steigern und erhellen sich beide Erzählebenen, je einem Sprecher zugewiesen, gegenseitig. Dadurch aber, dass dieser Prozess so weit zugespitzt wird, dass nur mehr einzelne Wörter oder Wortfetzen, aggressiv hervorgestoßen, zwischen den Sprechern hin und her jagen, dann kaleidoskopisch durcheinandergewirbelt werden, schließlich gar ins rein Lautliche, Kreatürliche sich auflösen, schlägt das Geschehen einer – wenn auch negativ bestimmten – Sinnstiftung in Destruktion um: ein Vorgang, der bereits auf der Ebene bloßer Sprachkomposition expressiv wirkt. Zweischichtig schon in sich, als Sprechvortrag und als Gesang, ist der Kohelet-Text gestaltet. Dadurch wird einerseits der begrifflichsemantische Gehalt hervorgekehrt (und womöglich eine Hörhaltung abgewehrt, die primär auf ästhetischen Genuss gerichtet ist), andererseits erscheint Sprache, wenn sie sich den expressiven und konstruktiven Qualitäten der Musik überlässt, transzendiert.22 Die Zeiterfahrung wandelt sich zugleich, denn der Gesang entfaltet sich in der Zeit, oder genauer: er stiftet eine andere, dem gesprochenen Wort gegenüber sich weitende Zeit23, was gerade im unmittelbaren Zueinander der Darstellungsebenen sinnfällig wird. Ganz ins Innere des musikalischen Gefüges weist es, dass der Gesang als solcher bereits eine spannungsgeladene Konstellation ausprägt: Im gezackten Gestus des solistischen Basses artikuliert sich eine ungemilderte, ungeschützte Emotionalität, die jedoch

21 H. D. Preuß, Einführung in die alttestamentliche Weisheitsliteratur, Stuttgart 1987, 122–126. 22 Vgl. Korte, Ekklesiastische Aktion, 63. 23 Vgl. H. H. Eggebrecht, Musik als Zeit, Wilhelmshaven 2001, 20–26.

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gleichzeitig eine Rückbindung an eine strenge, zahlhaft-konstruktive Ordnung erfährt. Elementar prozesshaft wirkt die zugrundeliegende Zwölftonreihe, indem sie sich, ein Kontinuum der Entfaltung bildend, von dem Zentralton a in beide Richtungen hin dehnt; alle Tonqualitäten und Intervalle umfassend, fügt sie sich der Vorstellung des Universalen (Notenbeispiel 1). Die konkrete Ausformung zeigt indes sogleich Einschlüsse transformierter Reihensegmente, so dass sich bestimmte Intervallkonstellationen verdichten oder ausfalten können (Notenbeispiel 2).24 In entfernter Analogie zur Tonhöhenreihe fächert sich eine Dauernreihe auf, welche die Silbenlängen reguliert. Im Sinne jener für die Moderne prägenden Idee, dass Musik und Sprache gerade als sozusagen autonome Ebenen spannungsvoll aufeinander bezogen werden können, entkoppelt sich die zahlhaft bestimmte Strukturgebung von der semantischen Qualität der Silben.25 Expressiv erscheint vielmehr schon die Konstruktion selbst: Ihr Hermetisches verweist gleichnishaft auf die Erfahrung des Ausweglosen, die, jedenfalls in der Lesart Zimmermanns, das Ich der KoheletVerse mitteilt. Während aber strikt serielle Konzepte eine möglichst vollständige rationale Organisation des gesamten musikalischen Verlaufs anstreben, bildet die Ekklesiastische Aktion auch die Subversion einer solchen Ordnung – zunächst nur keimhaft (etwa in der variablen, spontan anmutenden Gestaltung der zwölftönigen Reihe), dann bis zu fast völliger Auflösung hin. Dieser Prozess der Destruktion kann, als ein Ausdruck wachsender Verzweiflung, wiederum zeichenhafte Bedeutung erlangen.26 Sinnfälliger wirkt jedoch eine spezifische melodische Gestik. Sie ist weitgespannt und nimmt dadurch den Charakter äußerster Erregung – den des Zorns, der Empörung, der Anklage – an; sie kennt andererseits engräumig-melismatische Modelle (wie vibrierende Triller- oder markante Vorschlagsfiguren), die den melodisch ausgreifenden Bögen 24 Die viertönige Ausgangskonstellation a-b-as-h wird – vom Schnittpunkt h aus – ganztönig transponiert und um zwei Töne erweitert (h-c-b-cis-a-d); der Reihenton g rückt innerhalb der folgenden Viertongruppe nach hinten (g-c-fis-cis → c-fis-g-cis), was eine direkte Wiederkehr des Tritonus-Intervalls ermöglicht. 25 Gemäß der Logik der dem Anfang zugrundeliegenden Dauernreihe (1-3-5-7-2-4-6 Halbe) kann etwa eine unbetonte Silbe wie [wand-]te einen vergleichsweise langen Wert erhalten (5 Halbe); siehe Notenbeispiel 2. 26 Zur seriellen Disposition des gesamten Stücks und zur Analyse des ersten Abschnittes vgl. ausführlich Korte, Ekklesiastische Aktion, 48–75.

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Prägnanz verleihen und ihnen darüber hinaus eine archaische Färbung geben. Daher kann der Gesang zugleich als präsentisch und zeitenthoben empfunden werden. Mehr noch, ein solcher Gestus scheint das einzulösen, was Schnebel in seiner programmatischen Skizze einer neuen geistlichen Musik aufgab: zum „Anstoß“ zu werden, dem theologischen Textgehalt „sein Bestürzendes“ zurückzugewinnen.27 Notenbeispiel 1

Notenbeispiel 2

Mit freundlicher Genehmigung von SCHOTT MUSIC, Mainz.

Zimmermanns kompositorisches Konzept weist eine latente Spannung, quasi eine unterschwellige Gegenbewegung auf: Der Entgrenzung hin zum Theatralen, zur Aktion, welche die Kluft zwischen Kunst und Leben zu überbrücken trachtet, begegnet eine Tendenz radikaler Reduktion. Elementare Setzungen, die einer übergreifenden Syntax und Entwicklung widerstreben, charakterisieren daher das Klangkonzept. So markiert ein lang gehaltener Ton, das a der im Raum verteilten Posaunen, den Anfang. Zeichenhaft wirkt dieser Ton, indem er als „archaischer Ruf 27 Schnebel, Geistliche Musik heute, 427.

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zu einer rituellen Handlung“28 wahrgenommen werden kann; konkreter noch verbindet sich ein solcher klanglicher Topos mit den Vorstellungen von Gericht und Endzeit. Ein elementares Interagieren zeigt sich, wenn die Gesangsstimme diesen lang gedehnten Ton direkt übernimmt; dadurch erscheint sie sogleich in die von ihm beschworene Atmosphäre eingerückt. Ebenso deuten die sparsam eingesetzten Gongs nicht nur ein liturgisches Geschehen an, sondern werfen gewissermaßen Klangschatten, verlängern strukturell wichtige Töne oder Tonfolgen in den Raum. Dass darin gleichwohl stets die Neigung zur Sprödigkeit, zur Reduktion klanglicher Mittel und Ereignisse spürbar bleibt, verweist wiederum auf Schnebels Vorstellungen von einer neuen geistlichen Musik; denn im asketischen Klangbild tritt eine kompositorische Haltung hervor, die sich dem vordergründig Schönen und damit dem Genuss gegenüber sperrt.29 Der Gestus der Zurücknahme kennzeichnet zugleich den kompositorischen Prozess insgesamt. Ein musikalisches Geschehen, das sich – im Sinne jener zornig anklagenden Haltung – immer aggressiver darstellt und zu chaotisch anmutenden Ballungen hindrängt, schlägt schließlich in ein nacktes, haltloses Klagen um. So mündet das Stück in eine ausgreifende Lamentation, die sowohl sprachlich als auch musikalisch improvisatorisch-aufgelöste Züge trägt. Nur noch tastend entfaltet sich – auf der Grundlage einer fließenden, Dauernwerte bloß approximativ mitteilenden Rhythmik – der Keim der kleinen Sekunde. Den Gesang prägen insistierende, variabel artikulierte Wiederholungen von Tönen oder Intervallkonstellationen, so dass die musikalische Zeit sich zu stauen scheint; eine viertönige Folge etwa, die als fließende Achtelgruppe eingeführt wird, erfährt eine wie zerdehnte Wiederkehr (Notenbeispiel 3). Stets wieder anders wird, in bogenförmigem Spannungsverlauf, der Spitzenton e1 angesteuert, um sich zu einem es1 einzudunkeln; so wahrt noch eine solche Steigerung den Charakter des Hermetischen, ausweglos in sich Kreisenden.30 Dieser Charakter dominiert ganz, wenn die Melodiebewegung sich derart wieder zusammenzieht, dass der Schlusston der Lamentation dem Anfangston korrespondiert, nur eben zeitlich weit gedehnt, durch engräumige Trillerbewegung labil wirkend und, gleichsam als ein 28 Korte, Ekklesiastische Aktion, 62. 29 Vgl. Schnebel, Geistliche Musik heute, 427. 30 Zum Fortgang der Lamentation vgl. die Partitur Zimmermanns (Schott Music, Mainz, ED 6330, 52).

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tonsymbolischer Fingerzeig, das anfängliche fis in ein schattenhaftes ges verwandelnd.31 Notenbeispiel 3

Mit freundlicher Genehmigung von SCHOTT MUSIC, Mainz.

Hierauf folgen nur mehr der Beginn des Bach-Chorals Es ist genug als harter, strahlender, objektiv anmutender Blechbläsersatz32 und eine knappe, brutale, den tonalen Bezug zerfetzende Geste der Streicher, Posaunen und Pauken. Die Spannung wirkt unauflöslich: Einerseits bleibt im chorischen, wortlosen, aber das Wort virtuell in sich hüllenden Gesang der Blechbläser – einem historischen Zitat, das an dieser Position gleichwohl als radikal präsentisch, als hereinbrechend erfahren werden kann – ein Gottesbezug gewahrt (der mitzuhörende Text lautet: Es ist genug, / Herr, wenn es Dir gefällt, / so spanne mich doch aus!), andererseits scheint die den Bach-Choral jäh abschneidende Schlussgeste jede Möglichkeit von Versöhnung abzuweisen. Musik und Religion erscheinen in diesem Werk nicht länger als Medien von Hoffnung oder Tröstung; einzig in der Möglichkeit, Schmerz, Aufbegehren und Verzweiflung überhaupt noch, quasi als einen „Notschrei“33, artikulieren zu können, mag

31 Vgl. Korte, Ekklesiastische Aktion, 135–138. 32 Ebd., 138. – Anders vergegenwärtigt sich dieser Choral im Violinkonzert Alban Bergs: unmerklich in die Struktur integriert und zugleich wie aus der Erinnerung aufgerufen. Im Kontext der Ekklesiastischen Aktion wird er dagegen zum „Fremdkörper“ (ebd., 138), auch wenn er hintergründig-strukturell auf die Reihe bezogen werden kann (vgl. insbesondere den Anfang der Unter- und Oberstimme). 33 A. Schönberg, Aphorismus, in: Die Musik IX/21 (1909/1910), 159.

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etwas wie Trost aufzufinden sein und sich die vage Möglichkeit eröffnen, Identität noch an der Schwelle des Todes zu behaupten.

II Giacinto Scelsi: Elohim Innerhalb der Musik des 20. Jahrhunderts war der römische Aristokrat Giacinto Scelsi (1905–1988) ein Außenseiter, der gewissermaßen im Verborgenen einen kompositorischen Gegenentwurf zu Konzepten der Schönberg-Tradition verwirklichte. Nicht mehr regulieren zwölftönige Reihen die musikalischen Verläufe, stattdessen erfolgt ein radikaler Rückgang: Ton und Klang werden als elementare, für sich seiende, einem geschichtlichen Prozess gleichsam noch nicht unterworfene Phänomene neu entdeckt. Dem entspricht die Vorstellung, dass Musik ein fließend-energetisches Geschehen sei, das, bis in mikrotonale Regionen vordringend, zugleich das überkommene Tonsystem transzendiert.34 Insofern berühren sich die Ideen Scelsis mit jenen Entwürfen einer Klangkomposition, wie sie innerhalb der neuen Musik der 1960er Jahre generell bedeutsam geworden sind.35 Gestaltbildend wirkt nun nicht erst die Fortschreitung von Tönen oder Akkorden innerhalb eines übergreifenden, sei’s tonal zentrierten oder zwölftönigen Systems, sondern der Klang als solcher, als ein holistisches Phänomen, das nur mehr in sich eine Artikulation erfährt.36 Der Einzelton selber kann dann als eine primär klangliche Erscheinung aufgefasst werden: als Auflichtung, als etwas, das aus dem Kontinuum eines dichten Klanggeschehens hervorgeblendet wird. Hiermit verknüpfen sich spezifische Zeit- und Raumvorstellungen; so wird Zeit nicht mehr primär als etwas linear Fortschreitendes wahrgenommen, sondern als in sich kreisend, räumlich-komplex oder stillgestellt. Indem traditionelle Gestaltungsmerkmale, wie Melodie, 34 Vgl. G. Resch, „Südlich von Rom beginnt der Orient …“. Kulturelle Einflüsse in Giacinto Scelsis späten Orchesterwerken, in: Kontinent Scelsi (Programmheft Salzburger Festspiele 2007), 22–28, 23f. 35 Vgl. Gieseler, Komposition im 20. Jahrhundert, 99–114. 36 Exemplarisch zeigen sich die neuen Möglichkeiten der Klangkomposition im orchestralen Werk Isang Yuns; vgl. J. Maehder, Konvergenzen des musikalischen Strukturdenkens. Zur Geschichte und Klassifizierung der Klangfelder in den Partituren Isang Yuns, in: Musiktheorie 7 (1992), 151–166. – Zur Vorstellung des Holistischen vgl. P. Revers, Hauptton – Holon. Zu einer Basiskategorie der Kompositionen Yuns, in: H.-W. Heister, W.-W. Sparrer (Hg.), Der Komponist Isang Yun, München 1987, 81–94.

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Harmonie oder Rhythmus, im klangorientierten Denken ganz zurückgedrängt erscheinen, vermag eine solche Musik Archaisches, Frühes und Fernes zu beschwören; das Moment des Atmosphärischen tritt so hervor.37 Dieses neue Konzept des imaginär Klangräumlichen prägt Scelsis um 1965 entstandene Komposition Elohim, ein knappes, kompakt gestaltetes Stück für zehn Streicher, die, in drei Gruppen im Raum postiert, zugleich drei strukturell verschiedene Klangschichten ausbilden, so dass das unmittelbar Sinnfällige, die Ausfaltung im realen Raum, quasi von innen her ausgefüllt wird.38 – Die fundamentale Schicht ist ganz durch einen siebentönigen, dicht gefügten und dunkel gefärbten Akkord bestimmt, gleichsam durch eine Klangchiffre, welche die strukturelle Basis der gesamten Komposition darstellt. Schon in sich prägt dieser Akkord ein spannungsreiches Zueinander aus: Wiederkehrend und dadurch statisch, wie beharrend anmutend, gliedert und verstrebt er den klanglichen Prozess; andererseits trägt er, stets wieder plötzlich hervorgeblendet, den Charakter des Impulsgebenden und Dynamischen, was die Suggestion erwecken kann, dass er virtuell immerwährend sei. Vielgestaltig – als ein Prozess der Entfaltung, Verdichtung und Auflösung – vergegenwärtigt sich dagegen das Geschehen der zentralen Schicht; doch bleibt es, Transpositionen bildend, strukturell streng auf den Basisklang bezogen. Im fortissimo einsetzend, zeigt dieses Geschehen sogleich intensitätsgeladene Präsenz: den Gestus des Hereinbrechenden. Darüber ein nur zweistimmiges, zart-aufgelöstes Gespinst, das durch mikrotonale Schwebungen charakterisiert ist.39 Immer wieder unmerklich erscheinend und sich echoartig entziehend, legt es sich wie ein Schleier über das Erklingende, die Aura von Ferne erzeugend (Notenbeispiel 4).

37 Dieses Moment benennt eine Referenzkomposition der 1960er Jahre bereits in ihrem Titel: György Ligetis Orchesterstück Atmosphères (1961). 38 Zum Phänomen musikalischer Verräumlichung vgl. grundlegend Chr. M. Schmidt, Brennpunkte der Neuen Musik. Historisch-Systematisches zu wesentlichen Aspekten, Köln 1977, 70–97. 39 Indem der Ton e3 diese Höhenschicht eröffnet, spannt sich – im Verhältnis zum Basston E – ein weiter Oktavraum auf; als natürliches Flageolett erklingend, bildet dieses e3 zugleich den Ausgangston mikrotonaler, das temperierte System ins Schwanken bringender Abweichungen.

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Notenbeispiel 4

© Fondazione Isabella Scelsi, Rom.

In freier Analogie zur Gestaltung dieser Schichten vollzieht sich der übergreifende Prozess, indem er sich zur Mitte hin wellenförmig steigert, um am Schluss in eine imaginäre Ferne zu gleiten. So kommt es im Zentrum des Stücks zu heftigen Ballungen, die jäh in leuchtende, sich glissandierend verbreiternde Unisoni umschlagen, bevor sich die Spannung in skalisch flutender Bewegung entlädt.40 Dadurch entsteht etwas wie eine Dialektik im Spannungsfeld zwischen Klang und Ton: Einzelne Töne treten plastisch aus dem klanglichen Kontinuum hervor, was als elementar formbildendes, gleichsam vor-motivisches – und eben darum unmittelbar sinnfälliges – Ereignis empfunden wird. Dass die Vorstellung von Transzendenz musikalisch-strukturelle Entsprechungen sucht, erhellt der fragmentarisch wirkende Schluss. Er bildet bloß scheinbar ein Abschließen, denn das klangliche Geschehen wird in eine modal schwebende, nur zart angedeutete Melodie überführt (Notenbeispiel 5). Klang verwandelt sich in ein Anderes, so dass der musikalische Prozess über sich selbst hinauszuweisen, ins Offene fortzuklingen scheint.

40 Vgl. Elohim, T. 21–50. – Der Fondazione Isabella Scelsi danke ich sehr herzlich für die mir gewährte Möglichkeit, diese (offiziell noch nicht publizierte) Partitur einzusehen.

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Notenbeispiel 5

© Fondazione Isabella Scelsi, Rom.

Doch lässt sich ein religiöser Gehalt allein durch eine solche musikalische Gestaltgebung artikulieren oder – wie auch immer in Andeutung – darstellen? Vorsichtiger gefragt: Vermag Musik, indem sie analoge Strukturen hervorzubringen trachtet oder eine bestimmte Aura verströmt, auf religiöse Gehalte zumindest hinzuweisen? Wie Instrumentalmusik wahrzunehmen und zu deuten sei, war stets schon strittig; galt sie Kant oder noch Hegel als ein flüchtiges, tendenziell inhaltsleeres Phänomen, so wagte die romantische Musikästhetik die Gegenthese, dass das Unsagbare, ins Metaphysische Weisende sich nur in reinen, vom Wort sich lösenden Tönen zum Ausdruck bringen lasse.41 In jüngerer Zeit wiederum hat Hans Heinrich Eggebrecht die skeptische Auskunft erteilt, dass es das Geistliche, Gottbezogene musikimmanent nicht gebe; denn Musik als solche sei einzig durch ihre strukturellen und expressiven Qualitäten bestimmt.42 Um sie als eine spezifisch geistliche auffassen zu können, sei daher stets ein „Akt der Bezugsetzung“43 erfor41 Vgl. C. Dahlhaus, Musikästhetik, Laaber 41986, 42–47. 42 H. H. Eggebrecht, Geistliche Musik – was ist das?, in: Ders., Die Musik und das Schöne, München 1997, 130–143, 131f. 43 Ebd., 132; vgl. R. Willmann, Die Musik und die Herrlichkeit. Ein ästhetisch-analytischer Versuch, in: R. Kampling (Hg.), Herrlichkeit. Zur Deutung einer theologischen Kategorie, Paderborn 2008, 297–322, 312.

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derlich. Fraglich indes, ob sich Musik überhaupt von ihren Entstehungsprozessen sowie den ihr zugewachsenen Assoziationsräumen loslösen lässt. Insbesondere die europäische Kunstmusik ist in ihrer geschichtlichen Entfaltung, d. h. gerade in der Ausbildung ihrer konstruktiven wie auch expressiven Eigenschaften und Möglichkeiten, wesentlich mit religiösen Vorstellungen und Inhalten verknüpft.44 Das erlaubt es, Schnebels These, dass die geistliche Musik in ihrem geschichtlichen Werden einen „Zug zur Welt“ aufweise45, gleichsam zu wenden: Wie Musik als sakrale immer wieder Weltliches in sich hineinnimmt, so erscheint ihr umgekehrt auch dort, wo sie Autonomie beansprucht (d. h. rein weltlich sich darbietet), ihre geistliche Herkunft inhärent. Was nun Scelsis Komposition betrifft, erfolgt eine direkte Bezugnahme im Sinne Eggebrechts einzig durch den Titel Elohim: eine Benennung des Gottes Israels, welche vor allem dessen schöpferische Kraft hervorhebt. Enthält dieser Titel zunächst nur einen Hinweis auf Scelsis subjektive Imagination – auf dasjenige, was für ihn anregend und impulsgebend gewesen sein mag –, so stellt sich doch zugleich die Frage, ob und inwieweit sich eine solche Vorstellung im musikalischen Gebilde zu objektivieren vermochte. Geht man mit Albrecht Wellmer davon aus, dass Musik nicht nur eine sich selbst genügende Struktur, ein in der Sphäre des Erklingenden sich bewegendes „Spiel von Identität und Differenz“46 darstellt, sondern ihr gleichzeitig ein Verweischarakter zu eigen ist47 – so dass sie gerade in ihrer spezifischen Struktur und Klanggestalt Deutungsversuchen schon entgegenkommt –, dann lässt sich vielleicht doch der geistlich-religiöse Gehalt dieser Komposition, über Eggebrecht hinaus, ansprechen. Was implizit bereits in der Art der analytischen Beschreibung angedeutet ist, soll daher noch einmal thesenartig zugespitzt werden: (1) Das Klanggeschehen in Scelsis Elohim bildet ein spannungsreiches Zueinander von Präsenz und Entzogenheit und entspricht damit, als musikalische Chiffre, einem zentralen Moment religiöser Erfahrung. (2) Als ein elementarer Prozess, worin Ordnung nicht präformiert erscheint, sondern überhaupt erst entsteht – im Akt der Klangwerdung sozusagen erst hervorgebracht wird – kann der musikalische Verlauf gleichnishaft auf 44 Vgl. Gottwald, Neue Musik, 9–14. 45 Vgl. Anm. 4. 46 A. Wellmer, Versuch über Musik und Sprache, München 2009, 12. 47 Vgl. ausführlich ebd., 15–52.

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das Schöpfungsgeschehen verweisen. (3) Musikalische Zeit vermittelt sich in dieser Komposition nicht als etwas linear Fortschreitendes, sondern – in der dynamischen Verwandlung eines in sich Gleichen – als ein quasi schon Aufgehobenes; insofern kann die Musik vielleicht schon den Vorschein einer anderen, erfüllten Zeit geben. (4) Spürbar wird darüber hinaus eine musikalische Gestik, die das Überwältigende und Unverfügbare, vielleicht auch das Erschreckende und Verstörende genuiner religiöser Erfahrung48 mitteilt. (5) Als einer in Klang übersetzten Vision wächst dieser Musik ein Geheimnischarakter zu, der sich insbesondere in der musikalischen Artikulation von Stille verdichtet. Freilich bleibt eine solche Deutung, auch wenn sie durch analytische Funde eventuell begründet werden kann, immer an das je wahrnehmende Subjekt gebunden. Dies alles kann so oder auch ganz anders erfahren werden, denn so sehr ein Werk wie Elohim bestimmte Deutungen hervorrufen mag, so sehr widerstrebt es zugleich dem Versuch, es hinsichtlich seines Gehalts fixieren zu wollen. Dass ein musikalisches Kunstwerk wesentlich vieldeutig ist und so stets wieder neue Frageimpulse gibt, enthüllt vielmehr dessen spezifische Qualität, die wiederum in die Räume religiöser Erfahrung und theologischer Reflexion weist.49 Dem korrespondiert ein Hören, das – sich in Freiheit vollziehend – selber eine Kunst darstellt; so rückt die Musik, wie Peter Bubmann im Anschluss an Luther betont, nicht primär deshalb in eine Nähe zur Theologie, weil sie sich mit biblischen oder liturgischen Texten verknüpft, sondern – elementarer noch – dadurch, dass sie eine „wirkkräftige Hörkunst“ bildet: dass sie die menschliche Wahrnehmung überhaupt zu öffnen vermag.50

III Wolfgang Rihm: Tenebrae Schon in ihrem Untertitel Passions-Stücke nach Lukas auf einen fragmentarischen Charakter hindeutend, mündet Rihms Komposition Deus passus (2000) in einen zarten, sich nur mehr wie zögernd entfaltenden Schluss-

48 Vgl. hierzu grundlegend M. Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt a. M. 1990. 49 Vgl. Gottwald, Neue Musik, 12; Schnebel, Geistliche Musik heute, 423. 50 P. Bubmann, Musik – Religion – Kirche. Studien zur Musik aus theologischer Perspektive, Leipzig 2009, 62.

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Satz, der Paul Celans Gedicht Tenebrae behutsam in Musik überführt.51 Das kollektive Subjekt, das im Gedicht spricht – oder vielleicht genauer: einen imaginären Prozess der Sprachfindung vollzieht –, sind die schon Verstummten: die Opfer des Holocausts. Ihr Ausgesetztsein, Leiden und Sterben werden mit der Passion Jesu enggeführt, was wechselseitige Verweisungen ermöglicht. An die Gebetstradition der Psalmen anknüpfend, kommt es zugleich zu einer provozierend anmutenden Umkehr der Perspektive, indem der Herr selbst aufgefordert erscheint, zu uns, jenem Kollektiv der Leidenden und Sterbenden, zu beten.52 Es bezeichnet eine kompositorische Leitidee Rihms, „Musik da aufzuschreiben, zu fangen, wo sie ohne Hülle, allein und sie selbst ist“53; ihr Expressives kann sich dann wie ungeschützt mitteilen. Die Erfahrung traditioneller und moderner Musik in sich einlassend, wendet sich sein Komponieren gegen alle Verbindlichkeit anstrebenden Systeme, gegen das zwölftönige oder serielle ebenso wie gegen ein überkommenes, tonal geprägtes Denken, das klingende Phänomene, Gesten oder Ereignisse zu wiederholbaren Motiven verfestigt; gerade in der Aufhebung solcher Fixierungen soll der kompositorische Akt zu sich selber gelangen. Eine Artikulation musikalischer Gebilde soll daher möglichst unmittelbar, im Prozess ihres Entstehens erfolgen, sei’s als schroffe parataktische Setzung oder als ein Stiften fließender Zusammenhänge. Indem die Verwirklichung musikalischer Freiheit, als ein Vorgriff auf Freiheit überhaupt, zur Zielvorstellung wird54, verwandelt sich Geschichte – speziel51 Der vollständige Text des Gedichts, das dem Band Sprachgitter (1959) angehört, lautet: Nah sind wir, Herr, / nahe und greifbar. / Gegriffen schon, Herr, / ineinander verkrallt, als wär / der Leib eines jeden von uns / dein Leib, Herr. / Bete, Herr, / bete zu uns, / wir sind nah. / Windschief gingen wir hin, / gingen wir hin, uns zu bücken / nach Mulde und Maar. / Zur Tränke gingen wir, Herr. / Es war Blut, es war, / was du vergossen, Herr. / Es glänzte. / Es warf uns dein Bild in die Augen, Herr. / Augen und Mund stehn so offen und leer, Herr. / Wir haben getrunken, Herr. / Das Blut und das Bild, das im Blut war, Herr. / Bete, Herr. / Wir sind nah. – P. Celan, Sprachgitter. Die Niemandsrose. Gedichte, Frankfurt a. M. 31986, 25f. 52 Vgl. ausführlich L. Riehl, Neue Wege zur Passion. Die Passion Christi in der Musik der Gegenwart am Beispiel des Projektes Passion, Marburg 2000, 59–72. – Nach Riehl kann der Chiasmus der Rahmenverse als Sinnbild des Kreuzes Jesu aufgefasst werden, so dass das im Gedicht Artikulierte „sozusagen von einem, von dem Kreuz umrahmt [wird]“ (ebd., 67). 53 W. Rihm, Anschauung. Zur Psychologie des kompositorischen Arbeitens, in: Ders., ausgesprochen. Schriften und Gespräche, Bd. 1 (hg. von U. Mosch), Winterthur/Schweiz 1997, 81–89, 87. 54 Vgl. W. Rihm, Musikalische Freiheit, in: Ders., ausgesprochen, 23–39.

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ler: die musikalische Tradition – in einen offenen Raum, der gleichsam unwillkürliche Anknüpfungen erlaubt. Frühere Musik kann so primär als eine atmosphärische Qualität aufgerufen werden, etwa der Langsame Satz als Ort des Dunklen, Klagenden und Gebrochenen. Dem entspricht, dass der Beginn von Tenebrae – Nah sind wir, Herr, / nahe und greifbar – eine tastende, von Pausen durchbrochene, aus der Stille kommende Entfaltung bildet (Notenbeispiel 6). Eine subtile Paradoxie prägt sich aus, indem die musikalische Artikulation des Schlüsselworts Nah Ferne suggeriert; so weisen die zarten melodischen Gesten und das aus der Einstimmigkeit erwachsende harmonische Gefüge, welches das elementare Quint-Intervall und den Molldreiklang hervorkehrt, eine tonale Färbung auf, erinnern an frühere Musik. Doch bleiben solche Bezüge schwebend; denn die diatonischen Setzungen verhalten sich komplementär zueinander, sie vernetzen sich halbtönig in einem chromatisch ausgestuften, übergreifend atonikalen Raum. Der Idee der Ferne gehorchen ebenso intervallische Anschlüsse und Korrespondenzen, die sich nicht motivisch verhärten, sondern fließend, improvisationsnah und unscharf erscheinen.55 Herausgehoben – quasi als eine Interpolation – wirkt der vom Solisten-Ensemble gesungene Ruf Herr: ein schlichter, äußerst leise erklingender a-Moll-Sextakkord, der, ostinat wiederkehrend, das tastende Geschehen gliedert und gleichzeitig eine bestimmte semantische Qualität entbirgt, indem er einerseits wie fragend anmutet und einen zart klagenden Charakter annimmt, andererseits – im Kontext gleichsam abgeblendeter Klänge – als eine Aufhellung56 empfunden werden kann.

55 Solche Anschlüsse bildet etwa die frei sich fortzeugende kleine Septim (siehe Notenbeispiel 6); so erfährt der impulsgebende Aufschwung des solistischen Alts (gis-fis1, T. 1238f.) im Spitzenton des Rufs Herr eine Fortsetzung (e2, T. 1242), um als intervallische Farbe noch im rhythmisch in sich verschobenen Chor-Einsatz auf dem Wort na[-he] spürbar zu bleiben (d1, Alt → c2, Sopran; vgl. T. 1244f.). Melodische Gesten wie die Dreitonfolgen g1-c2-b1 oder c1-as-es1 (Sopran/Alt, Nah sind wir, T. 1239f.) schwingen – zu den Worten und greifbar – ebenso weiter (Sopran: d1-g1-f1, Alt: c1-e1-a, T. 1245f.). 56 Der lagenmäßigen Auflichtung entspricht die quintgeprägte Struktur: Die Achse as/es1 (T. 1240) verschiebt sich im solistisch bestimmten Ruf Herr halbtönig nach oben (a1/e2, T. 1242), in der chorischen Fortsetzung halbtönig nach unten (g/d1, T. 1244).

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Notenbeispiel

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Wolfgang Rihm „Tenebrae“ aus DEUS PASSUS / Passions-Stücke nach Lukas / für Soli, gemischten Chor und Orchester, © Copyright 2000 by Universal Edition A. G., Wien / UE 31536. „TENEBRAE“ von Paul Celan aus „Sprachgitter“, © Copyright S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M., 1959.

Das bildhaft-expressive Moment zeigt beispielhaft jener zunächst hinabgleitende, dann aufwärtsstrebende Klangzug, der die beiden Verse ineinander verkrallt, als wär / der Leib eines jeden von uns als eine stete Durchdringung und Ablösung der Stimmen artikuliert. Bedeutsam erscheint insbesondere die Dissonanzgestaltung: Zwischen einer traditionellen Vorhalts- und einer modernen Überblendungstechnik changierend, fügt sie sich der Vorstellung tastend-prozessierender Klanggebung (Notenbeispiel 7). Solches Dissonieren erlaubt in der Tradition der barocken Figurenlehre einen Ausdruck des Schmerzes und stiftet gleichzeitig, in seiner spezifisch gegenwärtigen Gestalt, jene raumbildende, Ferne evozierende, damit auch zeitlich zurückweisende Qualität: in ein Vergangenes weisend, das nicht vergangen ist. So kann gerade das strukturell Moderne, die fließende, tendenziell clusterartige Dissonanzbildung, einen als Aura zitierten geschichtlichen Raum eröffnen.

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Notenbeispiel 7

© siehe Notenbeispiel 6.

Im Zusammenspiel dieser Strukturmerkmale – des wie Zerbrochenen der Faktur, der zarten, mollgetönten Rufe, der schwebend-dissonierenden Bildungen – entsteht ein Klagegestus, der wie verschleiert wirkt. Expressiv wird die Musik in ihrer Zurückgenommenheit: darin, dass sie in die Stille führt. Dass speziell Generalpausen als Momente völligen Verstummens ein verdichtetes Zeiterleben ermöglichen, verdeutlicht Christian Hörmann. Als Unterbrechungen musikalischer Prozesse zeitigen sie eine subtile Dialektik von Klang und Nicht-Klang, eine Spur, die in gegensätzliche Richtungen weist, indem sich das Hören nachlauschend in der Zeit zurückstreckt und sich gleichzeitig auf ein Kommendes hin ausspannt. Entscheidendes, ein musikalisch hervorgerufener Kairos, ereignet sich quasi paradox gerade in einem Augenblick real abwesenden Klangs.57 Eine entfernte Analogie hierzu mag darin aufzufinden sein, dass Johann Baptist Metz Religion als „Unterbrechung“58 be57 Chr. Hörmann, Begegnung mit dem Unaussprechlichen. Musik-Erfahrung und kairologische Rationalität, Ostfildern 2010, 335f. 58 Metz, Glaube, 166.

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stimmt. Was antizipierend unterbrochen werden soll, ist – in Anknüpfung an apokalyptische Vorstellungen – eine katastrophische, als gnadenlos wahrgenommene Zeit. Dem korrespondiert ein vergegenwärtigendes Erinnern, das wesentlich den Opfern der Geschichte gilt.59 Der Erinnerungsraum indes, den die Komposition Tenebrae begründet, artikuliert sich sprachlich und musikalisch zugleich. Züge einer Reflexion trägt schon die Musik, was der von Adorno beschworenen Gefahr, dass das Leiden im Medium der Kunst eine Ästhetisierung erfährt60, entgegenzuwirken scheint. Das gleichsam Fragende, Ungewisse ergreift die Klanggestalt selbst: Der humane Ton dieser Musik mag sich eben darin erweisen. * Einer geschichtlich wirksamen Dynamik gehorchend, steigern sich Expression und Konstruktion in der Moderne gegenseitig: Der Ausdruck erscheint ungemilderter, das Konstruktive verdichtet. Daher kann die neue Musik zum privilegierten Träger einer memoria passionis werden und dennoch eine spezifische Schönheit ausstrahlen, die sich – in der Dichte musikalisch-zahlhafter Strukturgebung – als Gleichnis einer universalen Ordnung deuten lässt. Zeit verwandelt sich in ein nicht Lineares, so dass neue Musik vielleicht den Vorschein einer anderen, befreiten Zeit geben kann; auch darin mag ein „utopischer Glanz“61 sich erfahren lassen. Dies jedoch kommt erst ganz zu sich selbst, wenn die musikalische Artikulation einer zum Kairos zusammenschießenden Zeit die Erinnerung ans Negative, an das Leiden in sich bewahrt.62 Der Verweis- oder Darstellungscharakter von Musik konkretisiert sich darin, dass sie religiöse Erfahrungen, Vorstellungen und Gehalte zum Ausdruck bringen kann; andererseits jedoch widerstrebt sie, als ein autonomes, selbstbezügliches Geschehen oder Spiel, stets auch wieder dem Versuch religiöser Funktionsgebung, Deutung und Fundierung. Vielleicht ist es gerade die Erfahrung eines sich Entziehenden, in der musika59 Ebd., 165–174; vgl. Hörmann, Begegnung, 340ff. 60 Th. W. Adorno, Engagement, in: Ders., Noten zur Literatur, Frankfurt a. M. 51991, 409–430, 423f.; vgl. Lenzen, Jüdisches Leben, 111–129. 61 Schnebel, Geistliche Musik heute, 428. 62 Vgl. Hörmann, Begegnung, 240–258.

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lisches und religiöses Erleben letztlich konvergieren. In dieser Hinsicht und Fragerichtung entfaltet sich Hörmanns Konzept des Begegnungsgeschehens. Das Frageinteresse gilt einer möglichen Präsenz des Absoluten, sei’s auch als eines verhüllten, im Kontext musikalischer Erfahrung. Eben dadurch, dass bedeutende, vor allem auch neue Musik als Fremdheitserfahrung fundamental verstörend wirken kann: die „Fraglichkeit menschlichen Daseins“63 spüren lässt, kann sie gleichzeitig die Frage nach dem Absoluten provozieren und so einen Raum eröffnen, worin musikästhetische und theologische Reflexion einander berühren.64 Das weist auf Adornos Überlegungen zur Sprachähnlichkeit der Musik zurück, die mit Vorstellungen der jüdischen Namensmystik verwoben werden: „Gegenüber der meinenden Sprache ist Musik eine von ganz anderem Typus. In ihm liegt ihr theologischer Aspekt. Was sie sagt, ist als Erscheinendes bestimmt zugleich und verborgen. Ihre Idee ist die Gestalt des göttlichen Namens.“65 Bestimmt ist dies musikalisch Erscheinende, indem es eine in sich durchgebildete Struktur darstellt; verborgen ist es, weil Musik zwar das Absolute trifft, dieses sich jedoch sofort verdunkelt: „so wie überstarkes Licht das Auge blendet, welches das ganz Sichtbare nicht mehr zu sehen vermag.“66 Deshalb ist das Absolute – der Name – doch wieder nur vermittelt, in der musikalischen Form als der Gesamtheit des Geformten anwesend, weshalb kompositorische Werke stets auf Interpretation verwiesen bleiben.67 Das aber heißt zugleich, dass Musik erst in einem dialektischen Sinne, als Form und autonome Struktur, sprechend wird. Genau darin, dass ein musikalisches Kunstwerk in der Immanenz seiner Strukturbildung überhaupt einen Sinn stiftet, enthüllt es, so Adorno, eine theologische Qualität; hierdurch nämlich weist es auf die Möglichkeit universalen Sinns hin: „Das ästhetische Prinzip der Form ist an sich, durch Synthesis des Geformten, Setzung von Sinn, noch wo Sinn inhaltlich verworfen wird. Insofern bleibt Kunst, gleichgültig was sie will und sagt, Theologie; ihr Anspruch auf Wahrheit und ihre Affinität zum Unwahren sind eines.“68 Dass besonders die neue, 63 Ebd., 233. 64 Vgl. ausführlich ebd., 205–234. 65 Th. W. Adorno, Fragment über Musik und Sprache, in: Ders., Musikalische Schriften I-III (Gesammelte Schriften, Bd. 16), Frankfurt a. M. 1978, 251–256, 252. 66 Ebd., 254. 67 Vgl. Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 131993, 289. 68 Ebd., 403.

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selbstreflexiv gewordene Musik die Fraglichkeit solchen Sinns akzentuiert, findet wiederum eine Entsprechung in der gegenwärtigen, von Frageimpulsen durchdrungenen Theologie.69 Es ist wohl dies bleibend Anstößige, stets wieder Irritationen Auslösende, das – im Verflochtensein mit Religion und theologischer Reflexion – der Erfahrung neuer Musik eingeschrieben erscheint.

69 Vgl. Metz, Memoria passionis, 17–27.

Autorinnen- und Autorenverzeichnis Fuhrer, Therese, Dr. phil., Professorin für Lateinische Philologie der Antike an der Abteilung für Griechische und Lateinische Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Herrmann, Klaus, Dr. phil., Akademischer Rat am Institut für Judaistik der Freien Universität Berlin. Jütte, Daniel, Dr. Junior Fellow, Society of Fellows, Harvard University, Cambridge, Massachusetts. Kampling, Rainer, Dr. theol., Professor für Biblische Theologie/NT an der Freien Universität Berlin. Klöckner, Stefan, Dr. theol., Professor für Musikwissenschaft/Gregorianik und Geschichte der Kirchenmusik an der Folkwang Universität der Künste, Essen. Leopold, Silke, Dr. phil., Professorin und Direktorin des Musikwissenschaftlichen Seminars an der Ruprecht Karls Universität Heidelberg. Romdhane, Nizar, M. A., Lehrbeauftragter für Arabische Philologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, bis 2013 Mitarbeiter am Institut für Vergleichenden Ethik der Freien Universität Berlin. Staubli, Thomas, Dr. theol., Oberassistent für Altes Testament an der Universität Freiburg (Schweiz). Walter, Meinrad, Dr., Referent im Amt für Kirchenmusik der Erzdiözese Freiburg, Honorarprofessor und stellv. Leiter des Instituts für Kirchenmusik an der Hochschule für Musik Freiburg. Willmann, Roland, M. A., Lehrbeauftragter für Musiktheorie und Liturgische Musik am Seminar für Katholische Theologie der Freien Universität Berlin.

Apeliotes. Studien zur Kulturgeschichte und Theologie Herausgegeben von Rainer Kampling

Band 1

Rainer Kampling (Hrsg.): Eine seltsame Gefährtin. Katzen, Religion, Theologie und Theologen. 2007.

Band 2

Rainer Kampling: Erbauung. Vom Wort reden. 2007.

Band 3

Matthias Vollmer: Fortuna Diagrammatica. Das Rad der Fortuna als bildhafte Verschlüsselung der Schrift De Consolatione Philosophiae des Boethius. 2009.

Band 4

Rainer Kampling / Anja Middelbeck-Varwick (Hrsg.): Alter – Blicke auf das Bevorstehende. 2009.

Band 5

Rainer Kampling (Hrsg.): „Wie schön sind deine Zelte, Jakob, deine Wohnungen, Israel!“. Beiträge zur Geschichte jüdisch-europäischer Kultur. 2009.

Band 6

Anja Middelbeck-Varwick / Markus Thurau (Hrsg.): Mystikerinnen der Neuzeit und Gegenwart. 2009.

Band 7

Karin Gludovatz / Anja Middelbeck-Varwick (Hrsg.): Gender im Blick. Geschlechterforschung in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. 2010.

Band 8

Monika Schärtl: „Nicht das ganze Volk will, dass er sterbe.“ Die Pilatusakten als historische Quelle der Spätantike. Analyse und Interpretation. 2011.

Band 9

Anja Middelbeck-Varwick (Hrsg.): „So lauert die Sünde vor der Tür“ (Gen 4,17). Nachdenken über das Phänomen der Fehlbarkeit. 2011.

Band 10

Thomas Wabel / Michael Weichenhan (Hrsg.): Kommentare. Interdisziplinäre Perspektiven auf eine wissenschaftliche Praxis. 2011.

Band 11

Elisabeth Hackstein: Auf der Suche nach den jüdischen Wurzeln. Zur Kritik „christlicher Sederfeiern“. 2012.

Band 12

Andreas Hölscher / Anja Middelbeck-Varwick / Markus Thurau (Hrsg.): Kirche in Welt. Christentum im Zeichen kultureller Vielfalt. 2013.

Band 13

Rainer Kampling / Andreas Hölscher (Hrsg.): Musik in der religiösen Erfahrung. Historischtheologische Zugänge. 2014.

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